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German Pages 256 [258] Year 2012
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber / Editor: Christoph Markschies (Berlin) Martin Wallraff (Basel) Christian Wildberg (Princeton) Beirat / Advisory Board Peter Brown (Princeton) · Susanna Elm (Berkeley) Johannes Hahn (Münster) · Emanuela Prinzivalli (Rom) Jörg Rüpke (Erfurt)
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Adolf Martin Ritter
Studia Chrysostomica Aufsätze zu Weg, Werk und Wirkung des Johannes Chrysostomus (ca. 349–407)
Mohr Siebeck
Adolf Martin Ritter, geboren 1933; 1953–1958 Studium der ev. Theologie in Marburg, Heidelberg und Göttingen, 1958/59 postgraduate-Studium in Athen, 1959–1961 Assistentur in Bethel, 1961–1963 Vikariat, Ordination und Pfarramt in Kurhessen-Waldeck, 1962 Promotion in Heidelberg, 1963–1977 Assistent, Privat-, Universitätsdozent und Apl. Prof. in Göttingen, 1970 Habilitation ebd., 1978–1981 Professor für Kirchengeschichte in Marburg, 1981–1999 Ordinarius für Historische Theologie in Heidelberg, seit April 1999 emeritiert; 2000 Dr. h.c. Cluj-Napoca (Klausenburg); 2002 Dr. h.c. Oradea (Großwardein).
e-iSBN 978-3-16-152277-2 iISBN 978-3-16-152035-8 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / /dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Laupp + Goebel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Inhaltsverzeichnis Geleitwort von Christoph Markschies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort – oder Zur Bedeutung der Chrysostomosforschungen Adolf Martin Ritters für die orthodoxe Tradition, von Daniel Buda . . . . . . . XI Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII I. Statt eines Vorworts: Evangelisches Heiligengedenken heute am Beispiel des Johannes Chrysostomos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
II. Ankündigung eines Arbeitsprojektes: „Charisma im Verständnis des Joannes Chrysostomos und seiner Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
III. Erwägungen zum Antisemitismus in der Alten Kirche: Joannes Chrysostomos’ „Acht Reden wider die Juden“ . . . . . . . . . . . . . 16 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
IV. Zwischen „Gottesherrschaft“ und „einfachem Leben“: Dio Chrysostomus, Johannes Chrysostomus und das Problem einer Humanisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Postscriptum 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
V. John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics . . . . . . . . . 68 Comment: Chrysostom and Pauline Social Ethics by Elisabeth A. Clark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Zusammenfassung und weitergehende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
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Inhaltsverzeichnis
VI. Seelsorglich Predigen bei Johannes Chrysostomus . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
VII. John Chrysostom and the Jews – a reconsideration . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
VIII. Charisma als gegenwärtige Wirklichkeit: Johannes Chrysostomos und die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
IX. Johannes Chrysostomus – ein Kurzporträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
X. Drei Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
XI. Johannes Chrysostomus und das Römische Reich im Gespräch mit neuerer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
XII. Das Chrysostomosbild in der Tradition des deutschen Luthertums bis Johann Albrecht Bengel (gest. 1752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
XIII. Situationsgerechtes kirchliches Handeln in der Spätantike und heute am Beispiel des Johannes Chrysostomos . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Geleitwort von Christoph Markschies Kann man sich über etwas freuen, das man gar nicht versteht? Mir ging es zu Weihnachten des Jahres 2011 so, als ich voller Freude aus dem Geschenkpapier ein „Studia Chrysostomica“ übertiteltes Buch auspackte, es ganz gespannt aufblätterte und mich von Herzen über die Widmung des Autors freute – bis ich leicht betrübt feststellte, dass es ausschließlich rumänische Beiträge enthielt. Ich verstehe bedauerlicherweise buchstäblich kein einziges Wort dieser Sprache, aber begriff doch bei der Erstlektüre des Inhaltsverzeichnisses so viel, dass mein verehrter Heidelberger Vorgänger – ganz nach seiner Gewohnheit in den voraufgehenden Aufsatzbänden – die in seinen wiederabgedruckten Aufsätzen begonnenen Debatten bis in die Gegenwart geführt und mit einer ausführlicheren Einleitung versehen hatte. Ich hatte also die Freude, 270 neue wie erneuerte Seiten aus der Feder Adolf Martin Ritters zu Johannes Chrysostomus (samt einigen ausführlicher zitierten Texten des Kirchenvaters selbst) in den Händen zu halten, und gleichzeitig das Pech, davon kein Wort verstehen zu können. Dabei tröstete die feste Gewissheit nur mäßig, dass es ein wunderschönes ökumenisches Zeichen ist, wenn den aktuellsten „Ritter“ nur die Kolleginnen und Kollegen aus Rumänien zu lesen bekommen (und die deutschsprachigen, die diese Sprache verstehen können). Denn viel zu sehr zwingen wir die osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen, wenn wir sie denn überhaupt genügend beachten, in das Korsett unserer beiden großen Wissenschaftssprachen Deutsch und Englisch und die damit verbundene Wissenschaftskultur – eine ganz selbstverständliche Form einer ach so vertrauten mitteleuropäischen Dominanz über scheinbar randständige Regionen. Also tröstete ich mich eine Weile mit dem Eindruck, gerade mein Nichtverstehen der Beiträge sei eine Folge einer bewegenden ökumenischen Geste und ein Ausdruck der engen Verbundenheit des Autors mit den orthodoxen Kirchen wie Fakultäten in Rumänien und anderswo. Dann aber schlug ich im Dankbrief für die Gabe, deren Bedeutung ich, wie gesagt, nur abschätzen konnte, die Publikation einer deutschen Fassung vor und bot nach Rücksprache mit meinen Kollegen in der Herausgeberschaft und dem Verlag die Veröffentlichung in den „Studien und Texte zu Antike und Christentum“ an. Der Autor überlegte eine Weile und sagte schließlich zu meiner Freude zu.
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Da in dem vorliegenden Band von der Ankündigung eines Arbeitsprojektes, das in die 1972 veröffentlichte Habilitationsschrift „Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos und seiner Zeit“ mündete, bis in die unmittelbare Gegenwart der Denkweg Adolf Martin Ritters zu Chrysostomos leicht nachvollzogen werden kann, versage ich mir zu begründen und zu erläutern, was offenkundig ist: Ritter hat in über vierzig Jahren Beschäftigung mit einem magistralen Theologen der antiken Christenheit von einzelnen Aspekten seines Lebens wie Werkes her zunehmend ein ganz charakteristisches Gesamtbild entworfen, das in diesem Band auch in einem für Studierende zur Examensvorbereitung geeigneten Lexikonartikel zusammengefasst ist. Die hier versammelten Beiträge verraten, dass die Einzelaspekte, aus denen der Autor sein Gesamtbild im Laufe der langen Beschäftigung mit Chrysostomos zusammengesetzt hat, von einem Forscher untersucht wurden, der seine Zeitgenossenschaft im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso wenig verleugnet wie seine Leidenschaft für Theologie und Kirche. Da ist sehr kritisch von der marxistischen Deutung der Anfänge des Christentums die Rede, vom Antisemitismus-Vorwurf gegen die antiken christlichen Theologen, von protestantischer Blindheit gegenüber dem Thema „Heiligenverehrung“ und den allgegenwärtigen Dekadenzmodellen über die griechische Theologie der Spätantike und byzantinischen Zeit als Abfall vom reinen, paulinisch grundierten Evangelium. Solche und andere Mythen wie Forschungslegenden werden ebenso munter wie kritisch aufgespießt. Ein solches deutlich ausgedrücktes „Vorverständnis“ berührt beim Lesen sympathisch, weil es den Forscher mit seinem Forschungsgegenstand verbindet und solcher Gleichklang den Zugang zu einer Gestalt aus längst vergangenen Tagen erleichtert. Ritter betreibt keine unkritische Chrysostomos-Hagiographie, schon deswegen nicht, weil er seinen Analysen ein reflektiertes Konzept des politischen Handelns der Kirche zugrundelegt und die Gaben „politischen Scharfblicks und taktischer Raffinesse“ nicht a priori für Werkzeuge des Teufels hält, sondern für ein besonderes „Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos“. Er spart das im Protestantismus notorisch schwierige Thema der Heiligenverehrung nicht aus, sondern beginnt seinen Band mit entsprechenden Bemerkungen. Es wird erkennbar, dass hier ein evangelischer Theologe und Schüler Hans Freiherr von Campenhausens schreibt, wann immer die Frage nach der Transformation biblischer Texte und insbesondere paulinischer Theologumena im Hintergrund der Analysen steht (bei dem Habilitationsprojekt beginnend, das in besonderer Weise an den verehrten Lehrer anknüpft, und natürlich im Aufsatz über das „seelsorgerliche Predigen“ mit seinen ausführlichen Zitaten), ohne dass eine Engführung der Kirchengeschichte auf eine reine Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift droht. Schließlich zeigt der Aufsatz „John Chrysostom and the Jews – a Reconsideration“, dass sein Autor immer wieder die früher vertretenen Positionen im Lichte der seitherigen Diskussion kritisch wägt und nach dem Muster des berühmten nordafrikanischen Kirchenvaters revidiert oder mit neu-
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en Argumenten bekräftigt. Adolf Martin Ritter ist ein Freund der leidenschaftlichen Forschungsdebatten, und auch das merkt man seinen dreizehn Aufsätzen zu Johannes Chrysostomos an. Ich freue mich sehr, dass mein verehrter Heidelberger Vorgänger einer nachweihnachtlichen Anregung so schnell gefolgt ist, dass wir uns nun – nicht nur zur Weihnachtszeit dieses Jahres – im deutschen Sprachraum ebenfalls freuen können, weil wir verstehen. Chrysostomos und seinen Heidelberger Interpreten. Berlin-Tiergarten, im Oktober 2012
Christoph Markschies
Vorwort oder Zur Bedeutung der Chrysostomosforschungen Adolf Martin Ritters für die orthodoxe Tradition von Daniel Buda Als sich im Jahre 2006 die ganze Christenheit anschickte, 2007 das Jubiläum aus Anlass der 1600. Wiederkehr des Todestages von Johannes Chrysostomos gebührend zu begehen, habe ich Professor A. M. Ritter vorgeschlagen, seine verschiedenenorts auf Deutsch und Englisch erschienenen Aufsätze über den Kirchenvater ins Rumänische zu übersetzen und sie in einem Band, betitelt Studia Chrysostomica1 (St. Chr.), zu veröffentlichen. Erwartungsgemäß hat Prof. Ritter zugesagt und mit viel Geduld meine nicht wenigen Fragen zu diesen Aufsätzen beantwortet, so dass dieses Übersetzungsprojekt verwirklicht werden konnte. Damit wollten alle Beteiligten an diesem Projekt – Autor, Verlag, Übersetzer usw. – den Heiligen Johannes Chrysostomos anlässlich seines 1600jährigen Jubiläums ehren und dem rumänischen Publikum Ritters Aufsätze über Chrysostomos in der Landsprache zugänglich machen. Nicht zuletzt versteht sich die Publikation der St. Chr. – zusammen mit einem zweiten Übersetzungsprojekt2 – auch als Abtragung einer Dankesschuld des „Lehrlings“ gegenüber einem seiner Mentoren. Denn als ich für fast vier Jahre in Heidelberg Kirchengeschichte studierte, war A. M. Ritter bereit, mir regelmäßig mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen und meine verschiedenen Forschungsprojekte zu betreuen. Die Veröffentlichung der St. Chr. in dem Verlag der rumänisch-orthodoxen Metropolie von Siebenbürgen ist zugleich ein Zeichen der Anerkennung jahrzehntelanger Bemühungen des Professors, das Niveau des theologisch-kirchengeschichtlichen und patristischen Studiums in Rumänien durch regelmäßige Gastvorlesungen und Seminare an verschiedenen theologischen Ausbildungsstätten Rumäniens, 1 Sibiu,
Verlag Andreiana, 2007 (de facto 2011). geht um die Publikation eines zweiten Sammelbandes mit Aufsätzen Prof. Ritters zur epochenübergreifenden Kirchengeschichte und zur Patrististik. Sein Titel auf Rumänisch lautet: Studii de Istorie bisericească și Patrologie, Sibiu, Andreana Verlag, 2011. Siehe auch die Besprechungen von Erzdiakon Dr. Constantin Voicu, in: Telegraful Román Nr. 41–44 (1/15 noiembrie 2011), 12, u. Dr. Ciprian Iulian Toroczkai in Revista Teologică 93 (2011), nr. 4, 331–334. Eine zweite erweiterte und mit einer Einführungsstudie versehene Auflage ist für die Veröffentlichung in demselben Verlag vorgesehen. 2 Es
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vor allem Siebenbürgens, heben zu helfen. Dadurch sind Freundschaften entstanden (wie etwa mit dem berühmten rumänischen Theologen Dumitru Stăniloae, dem Bukarester Patrologen Ioan G. Coman, dem Herrmanstädter Byzantinisten Teodor Bodogae und dem Kirchenhistoriker Aurel Jivi – um nur einige von denen, die inzwischen verstorben sind, zu erwähnen –; erst recht aber kam es zu sich stetig vertiefenden Verbindungen mit noch Lebenden: Constantin Voicu, Dorin Oancea, Ioan Vasile Leb, Ioan Mircea Ielciu und den beiden Daniels, D. Buda und D. Benga; die Begeisterung für patristisch-kirchengeschichtliche Studien wurde geweckt und am Leben erhalten; Stipendien wurden vermittelt; Schicksale beeinflusst. Es ist mir deshalb eine reine Freude, dass die in Rumänien entstandene Idee und Initiative zur Veröffentlichung der St. Chr. nun auch im deutschen Kontext auf fruchtbaren Boden gefallen ist und in der berühmten Reihe der STAC ihren würdigen Publikationsort gefunden hat.3 Die rumänische Ausgabe der St. Chr. wurde mit einer von mir verfassten Einführungsstudie, betitelt „Adolf Martin Ritter (A. M. R.) ca hrisostomolog (A. M. Ritter als Chrysostomosforscher)“, eingeleitet.4 Es folgten eine detaillierte BioBibliographie des Autors (XI–XIV u. LII–LXIII), eine Klassifizierung und kurze Analyse der aufgenommenen Aufsätze (XIV–XXXIV) sowie eine Vorstellung der (verständlicherweise hier nicht aufgenommenen) Monographie „Charisma im Verständnis des J. Chrysostomos und seiner Zeit. Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche“.5 An verschiedenen Stellen habe ich überdies Erläuterungen für die rumänische Leserschaft eingefügt und hervorgehoben, welchen Aspekten der Chrysostomosforschung Ritters besondere Bedeutung für den orthodoxen Kontext zukommt. Im vorliegenden Beitrag zur deutschen Fassung der St. Chr. will ich meine in der rumänischen verstreuten Hinweise auf die Bedeutung der Chrysostomosforschungen Ritters für den orthodoxen Kontext weiterentwickeln und in einigen Punkten präzisieren. Zuvor aber will ich die Klassifizierung der 13 Beiträge aus der rumänischen Fassung wiederholen, an der ich mich auch an dieser Stelle zu orientieren gedenke: 1. Studien zur Popularisierung des Hl. Johannes Chrysostomos, besonders in protestantischen Milieus (I, XII u. XIII); 2. Studien 3 Genau wie die rumänische Fassung enthält auch die deutsche 13 Aufsätze. Während in einigen Aufsätzen nur kleinere Änderungen vorgenommen worden sind [wie in den Aufsätzen I, II, III, VI (hier wurde u.a. der Titel verändert), VIII, IX, X, XI (Untertitel wurden eingefügt), wurde in andere stärker eingegriffen und ergänzt, um dem aktuellen Stand der Forschung zu entsprechen (wie Aufsatz IV, der mit einem „Postscriptum 2012“, oder Aufsatz VII, der mit einer „Selective bibliography since 1973“ (97–101) endet). In Aufsatz V ist ein Kommentar von Elisabeth A. Clark aus demselben Jahr wie die Erstveröffentlichung angefügt worden, samt Hinweisen zur Weiterführung der Diskussion. Schließlich wurden Aufsatz XII überarbeitet und ergänzt und Aufsatz XIII sogar „wesentlich“ erweitert, wie der Autor selbst jeweils in der ersten Fußnote vermerkt. 4 Wie Anm. 1, XI–LXIII. 5 Göttingen, 1972.
Vorwort
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zum Verhältnis des J. Chr. zum Judentum (III u. VII); 3. Studien zur Sozialethik des Kirchenvaters (IV u. V); 4. an eine weitere Leserschaft gerichtete Artikel (VI u. IX); 5. Auseinandersetzungen mit anderen Positionen in der Chrysostomosforschung (Teil II des Aufsatzes VII, sowie die Aufsätze IX u. XI); 6. Aufsätze über Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomus (II u. VIII). 1. Johannes Chrysostomos – ein „Heiliger“ für A. M. Ritter als lutherischen Theo‑ logen. Wie von Prof. Ritter vermerkt,6 wurde der erste Aufsatz der St. Chr. geschrieben als Antwort auf meine Frage, ob ich in der Übersetzung der St. Chr. ins Rumänische den „Heiligen“-Begriff in Verbindung mit dem Namen des Kirchenvaters verwenden dürfe. Ich habe um diese Erlaubnis gebeten, weil ich einerseits den Gewohnheiten meiner Kirche folgen7 und andererseits die Gefühle orthodoxer Leserinnen und Leser nicht verletzen wollte. Wie üblich, wollte Prof. Ritter seine Zusage8 mit einer theologischen Begründung begleiten. Dem orthodoxen Publikum, das überwiegend immer noch von dem Vorurteil geleitet ist, dass die Lutheraner keine Heiligen kennen und verehren, ist seine am Ende des Aufsatzes begegnende Aussage äußerst wichtig und beeindruckend: „So gesehen, ist für mich auch der große Prediger, Kirchenmann und Reformator aus der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert nach Christus, Johannes mit dem Beinamen ‚Goldmund‘, ohne jede Frage ein ‚Heiliger‘, wenn auch gewiss kein Ideal‑ oder Übermensch, demgegenüber sich jegliche Kritik verböte. Und es ist der beherrschende Eindruck, den ich aus zahlreichen Veranstaltungen an Universitäten und in Kirchengemeinden, aber auch aus dem Echo auf einschlägige Veröffentlichungen im letzten Chrysostomusjubiläumsjahr, anlässlich der 1600. Wiederkehr des Todestages des Heiligen am 14. September 2007, gewonnen habe, dass ich damit auf viel Verständnis gestoßen bin! – Warum sich mir in langen Berufsjahren als Universitätslehrer diese Überzeugung herausgebildet und gefestigt hat, lässt folgende Auswahl von Chrysostomosstudien, Vorträgen und Aufsätzen zu Weg, Wirken und Wirkung des ‚Goldmundes‘, wie ich denke, zur Genüge erkennen.“9
6 S.
die Einführungsnote, versehen mit einem *, auf S. 1 der St. Chr. geht hier eher um eine später entstandene Gewohnheit, immer vor den Namen der von der Kirche offiziell deklarierten Heiligen diese ihr Qualität zu erwähnen. Beleg dafür sind u.a. die patristischen Schriften selbst, wie z. B. die Catecheses Baptismales des Johannes Chrysostomos, in denen dieser Titel z. B. für den Apostel Paulus fehlt, oder genauer gesagt ist der Apostel „selig“ benannt (siehe dazu Johannes Chrysostomos, Taufkatechesen, übersetzt u. eingeleitet von Reiner Kaczynski, Freiburg, Basel u. a., 1992, Fontes Christiani 6/2, Taufkatechese 3/1, 1, S. 293; Taufkatechese 3/4, 21, S. 405; Taufkatechese 3/7, 10, S. 473, nur um ein Paar Beispiele zu geben). 8 Ich will hier meine Freude darüber ausdrücken, dass ich dieselbe Zusage von anderen zwei deutschen Patrologen bekommen habe, als ich einige von ihnen verfasste Aufsätze ins Rumänische übersetzt habe. Es geht um Christoph Markschies [Der Heilige (sic!) Chrysostomos und die „Halbchristen“, in: Revista Teologică 2, 2007,250–268] und Andreas Heiser (Goldmund und Dichter – Beobachtungen zur Paulusinszenierung des Johannes Chrysostomus, in: Revista Teologică 4, 2007,150–165; Basilius von Caesarea – Krankenpflege zwischen den Fronten, in: Revista Teologică 4, 2009, 54–74). 9 St. Chr., 9. 7 Es
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Daniel Buda
Ich habe dieses Zitat als Werbungstext für den Umschlag der rumänischen Fassung ausgewählt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die beeindruckende Aussage Ritters im Lichte seiner vorherigen Erklärungen über den Ort der Heiligen in der lutherischen Theologie zu verstehen ist. Das einleitende „So gesehen“ in dem Zitat lässt daran keinen Zweifel. Diese Aussage basiert auf solidem biblischem Boden (vor allem auf den sog. „Seligpreisungen“), aber auch auf Artikel XXI der Confessio Augustana. Hier muss allerdings betont werden, dass die Orthodoxe Kirche einen cultus sanctorum kennt, welcher der römisch-katholischen Tradition nähersteht als dem protestantischen Verständnis. Die Heiligen sind in der Tat exempla für uns Orthodoxe, sind aber auch als Gegenstand der Verehrung10 der Gläubigen und zugleich als Vermittler zwischen ihnen und Gott angesehen. Ich will aber an dieser Stelle lieber auf einen anderen Aspekt dieses Ansatzes zu sprechen kommen. Ich meine Ritters Beschreibung der spätmittelalterlichen Heiligenverehrung im Abendland mit ihrer „zunehmenden Intensivierung“ und „starken Privatisierung“, die „in vorreformatorischer Zeit“ sich als „übersteigerter religiöser Subjektivismus zusammen mit einem ausgesprochenen quantitativen Denken bemerkbar“ machte. „Das will besagen: Es wurde jetzt nicht nur für jede Not und jedes Gebrechen ein bestimmter Heiliger als besonders zuständig erachtet; sondern das eben angesprochene ‚quantitative‘ Denken, d. h. die Vorstellung, die Fürsprache eines Heiligen vermöge viel, diejenige vieler Heiligen aber viel mehr, hatte auch die ‚Anhäufung‘ von verehrungswürdigen Gestalten zur Folge.“11
Jeder Leser dieser Beschreibung, der mit bestimmten (Begleit‑)Erscheinungen der Heiligenverehrung im heutigen Rumänien, mindestens in einigen Teilen des Landes, vertraut ist, wird sofort den Eindruck gewinnen, Prof. Ritter habe in seinem Aufsatz unseren Kontext vor Augen, was aber, wie ich weiß, nicht der Fall war. Er wollte an der genannten Stelle ausschließlich den geschichtlichen Hintergrund für die unterschiedlichen Stellungnahmen aus dem reformatorischen Lager zum Problem der Heiligenverehrung umreißen. Gleichwohl gehört, wie angedeutet, die Heiligenverehrung zur orthodoxen Lehre und Spiritualität. Teil einer Kircheneinweihung ist auch die Absetzung eines kleinen Stücks einer Heiligenreliquie in der Vertiefung des Altars; im selben Einweihungsgottesdienst erhält das (neu) eingeweihte Kirchengebäude bzw. die dazugehörige Gemeinde ein Stück kostbaren Stoffs, worauf die Grabbeisetzung des Leichnams Christi dargestellt und in der Mitte ein kleines Stück einer Heiligenreliquie eingenäht
10 Johannes Chrysostomus selber bestätigt, dass in seiner Zeit die Heiligen (genauer gesagt: die Märtyrer) als exempla und Verehrungsgegenstand wahrgenommen und verehrt wurden. Siehe dazu seine Taufkatechesen (wie Anm. 7) 3/6, 3, S. 437 u. 17, S. 447. 11 St. Chr., 3.
Vorwort
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ist;12 ferner hat jede Kirche einen Schutzpatron (es kann die Heilige Dreifaltigkeit, unser Herr Jesus Christus, der Heilige Geist, die Muttergottes, ein Heiliger oder eine Heilige sein), dessen Fest zugleich das Fest der Kirchengemeinde ist; unsere Kinder sind oftmals mit Namen der Heiligen getauft und damit unter ihren Schutz gestellt. An ihren Festen werden die Heiligen und gegebenenfalls ihre Reliquien mit Prozessionen geehrt. Alle diese Elemente sind Teil unserer orthodoxen Spiritualität und ihrer Tradition. In den letzten Jahren aber ist in Rumänien eine Intensivierung von Prozessionen mit Reliquien zu beobachten. Die Art und Weise, wie sie geehrt werden, hat wenig mit der authentischen orthodoxen Spiritualität zu tun und steht dem Aberglauben viel näher. Die Heiligen werden angefleht, um „Glück“ zu bringen oder finanziellen Erfolg zu sichern. Dafür werden die Reliquien mit der persönlichen Geldtasche berührt. Der (Aber) glaube, je mehr Reliquien berührt würden, desto größer seien die Chancen für irdischen Erfolg, entspricht dem schon zitierten „quantitativen Denken.“ Dazu kommt die totale Unordnung, die die Menge von ungeduldigen Gläubigen verursacht. Die Polizei und andere Sicherheitskräfte sind oftmals anwesend, um Ordnung zu schaffen bzw. wiederherzustellen.13 Die Heilige Liturgie mit allem, was dazu gehört, ist während der Reliquienverehrung nahezu in Vergessenheit geraten. Es zählt nur eins: die Reliquien zu berühren. Dieses Geschehen könnte auf jeden Fall mit dem von Ritter zitierten katholischen Kirchenhistoriker Bernhard Kötting als eine „antitheologische Entwicklung“ definiert werden. Ich bin mir sicher, dass dieser Aufsatz, falls er von Verantwortlichen solcher Veranstaltungen gelesen würde, mindestens nachdenklich machen müsste. 2. Das Verständnis von Charisma in der Urkirche, in der Reichskirche und heute. Die Monographie „Charisma im Verständnis des Joannes Chrysostomos und seiner Zeit“ wurde als Habilitationsschrift an der Universität Göttingen im Wintersemester des Jahres 1970–1971 angenommen und blieb, meiner Meinung nach, die wichtigste Arbeit Ritters über Johannes Chrysostomos. In dieser Monographie mit dem Untertitel „Ein Beitrag zur Erforschung der griechischorientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche“ „geht es“ – so der Autor in einer Art „Autorezension“ – „darum festzustellen, inwieweit das paulinische Zeugnis von Kirche als dem aus mannigfaltigen und einander ergänzenden Charismen und Charismatikern bestehenden ‚Leib Christi‘ in der Vätertheologie verstanden und aufgenommen worden ist“.14 Ritter wählt vier Kirchenväter aus der Zeit der Reichskirche zur Analyse aus: drei Antiochener 12 Diese Sitte basiert auf der Tatsache, dass laut orthodoxer Tradition die ersten Liturgien der alten Kirche an oder auf den Gräbern der Märtyrer gefeiert wurden. 13 Die rumänische Presse beschreibt manchmal solche Szenen mit ironischer Kritik. Ich gebe hier als Beispiel den suggestiven Titel eines Artikels der überregionalen Zeitung „Gândul“ von 28.10.2008: „Românii s-au călcat în picioare la credinţă fast-food“ (Rumänen trampelten sich für Fast-Food Glauben“ (Autor: Florin Negruţiu). 14 St. Chr., 11.
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(Johannes Chrysostomos, Theodor von Mopsuestia und Theodoret von Kyros) und einen Alexandriner (Kyrill von Alexandria), aber – wie der Titel andeutet – der Schwerpunkt seiner Analyse ist Charisma bei Johannes Chrysostomos. Fast die Hälfte der Monographie beschäftigt sich mit diesem Thema.15 Diese Monographie zog in den Jahren nach ihrem Erscheinen eine erhebliche Aufmerksamkeit in der wissenschaftlich-theologischen Welt auf sich. Beleg dafür sind Rezensionen verfasst von prominenten Theologen, sowohl Protestanten als auch römischen Katholiken.16 In einer an mich gerichteten E-Mail drückte Prof. Ritter seine Enttäuschung darüber aus, dass seine Monographie von keinem orthodoxen Autor rezensiert wurde: „Ich finde betrüblich, dass ich jedenfalls von einer orthodoxen Kritik nichts gehört und gesehen habe.“ Es ist schade, dass diese Monographie in der Tat von Orthodoxen mindestens in den Jahren nach ihrem Erscheinen übersehen wurde; denn sie hätten besonders an den folgenden Errungenschaften dieses Buches interessiert sein können: (A) einer patristischen (vor allem chrysostomischen) Erklärung dafür, wie die Charismen, die in der Urkirche so reich sich manifestierten, allem Augenschein zum Trotz weiter in der Kirche präsent sind; (B) einer überzeugenden Argumentation, dass Johannes Chrysostomos kein Semipelagianer war. Ad A: Ich möchte auf diesen ersten, für die Orthodoxen besonders interessanten Punkt etwas ausführlicher eingehen. Ritter stellt dar, warum nach der Erklärung des „Goldmundes“ in dem etablierten Kirchentum seiner Zeit die Charismen nicht mehr so überwältigend und sichtbar präsent sind.17 Mit Hilfe paulinischer Zitate zeigt Chrysostomos, dass die Verkündigung des Wortes Gottes und die sittlichen Anstrengungen der Christen wichtiger sind als z. B. die Glossolalie. Doch die Tatsache, dass die Charismen nicht länger auf so „übernatürliche“ und Aufsehen erregende Weise auftreten, heißt für Chrysostomus nicht, dass sie etwa abwesend wären. Nach einer detaillierten Analyse verschiedener chrysostomischer Schriften stellt Ritter fest, dass im Verständnis des Johannes Chrysostomus Charisma etwas bedeutet, das mit den alltäglichen menschlichen Sachen nichts zu tun hat, sondern als „Gnadengabe“ verliehen wird, in Dankbarkeit zu empfangen ist und dennoch wunderhaft wirkt.18 Noch 15 Charisma
…, 19–124. Chadwick in: Journal of Theological Studies 24, 1973, 645; Rudolf Schieffer in: Historisches Jahrbuch 93, 1973, 496–497; Jürgen Ziemer in: Theologische Literaturzeitung 99, 1974, 518–519; Lars Thunberg in: Kyrkohidstorik Arsskrift 74, 1974, 260–262; Willy Rordorf in: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz 22, 1974, 347; Adalbert Hamman in: Theologische Zeitschrift 30, 1974, 178; Robert B. Eno in: The Catholic Historical Review, April 1974; André de Halleux in: Revue d’Histoire Ecclésiastique 69, 1974, 200; Peter Stockmeier in: Theologische Revue 71, 1975, 203–204; Margaret Schatkin in: Theological Studies 36, 1975, 348–351; Georges-Matthieu de Durand in: Recherches des Sciences Philosophique et Théologique 59, 1975, 460–464; Alfons Kemmer in: Erasmus, 27, 1977, 389–392. 17 Charisma …, 26–28. 18 Charisma …, 24–25. 16 Henry
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wichtiger ist die Betonnung, dass Charisma „eine gegenwärtige Wirklichkeit“ in der Kirche des Johannes Chrysostomus wie in unserer Kirche ist. „Charisma … meint für ihn (Chrysostomos) also zunächst die eine, allen Glaubenden zuteil werdende Gnade: die Sündenvergebung in der Taufe, die Rechtfertigung, die Versöhnung, die Heiligung und Gotteskindschaft, die in der Taufe ergehende Berufung zur Gemeinschaft des Eingeborenen Sohnes, die sich Gott ‚nicht gereuen‘ lässt (Röm. 11, 29), die Gabe des Geistes, wenn diese Gnade auch personhaft und ‚nicht nach einer Naturnotwendigkeit‘ uns zuteil wird, sondern ‚ein freier Willensentschluss sie uns zu eigen macht‘, und sie darum bewahrt und bewährt werden muss.“19
Es gibt eine Vielfalt der Charismen, die in der Kirche präsent sind: Charisma der Lehre, Charisma des Amtes (und sogar) Charisma des Mönchtums. Damit zeigt A. M. Ritter, dass es Chrysostomos „in einem überraschend weitgehenden Maß gelungen (ist), zumindest wesentliche Motive und Aspekte der paulinischen Charismenlehre zu Gesicht zu bekommen und für sein eigenes Kirchen‑ und Amtsverständnis fruchtbar zu machen.“20 Diese Schlussfolgerung hätte für die Orthodoxen, besonders in den 70er Jahren, als sie verfasst wurde, eine wichtige Bedeutung haben können. In dieser Zeit wurde nämlich das Vorurteil, dass die Charismen ein privilegium ecclesiae primitivae seien, innerhalb der orthodoxen Länder Osteuropas von verschiedenen pfingstlerischen Bewegungen genährt, mit der Ergänzung, dass die Charismen der Urkirche nun innerhalb der neuentstandenen pfingstlerischen Glaubensgemeinden wieder gegenwärtig seien. Diese Glaubensgemeinden wurden „Kirche des Heiligen Geistes“ genannt, wo besonders das Charisma der Glossolalie (Zungenrede) aufgelebt sei, während die sogenannten „historischen Kirchen“, darunter auch die Orthodoxie, logischerweise als Kirchen „ohne Geist“ zu gelten hätten. A. M. Ritter hat aber anhand der Werke des „Goldmundes“ überzeugend gezeigt, dass die Charismen der Urkirche in der „Reichskirche“ seiner Zeit – und das heißt für die Orthodoxen, dass das Gleiche auch für die Orthodoxe Kirche von heute gilt – als gegenwärtig geglaubt werden dürfen! Ad B. Es stellte sich auch innerhalb der rumänisch-orthodoxen Chrysostomosforschung die Frage, ob Johannes Semipelagianer war.21 Wer die Monographie von Ritter liest und versteht, kann nur seiner Konklusion zustimmen, dass Chrysostomus allenfalls als Vertreter eines a-meritorischen Synergismus angesehen werden kann, der dem paulinischen Verständnis der menschlichen „Leistungen“ nicht etwa als „Verdiensten“ (merita), sondern als „Gnadengaben“ einen tieferen Sinn abzugewinnen vermag.22 19 Charisma
…, 40–41. …, 124. 21 Siehe z. B. Nicolae Chiţescu, A fost Sfântul Ioan Hrisostom semipelagian? in Mitropolia Moldovei si Sucevei 41 (1965), nr. 3–4, 136–162. 22 Vgl. dazu Charisma …, 57–64. 20 Charisma
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3. Johannes Chrysostomos und der Antisemitismus ist das Thema, dem A. M. Ritter zwei Aufsätze (III und VII) gewidmet hat. Dieses Thema ist sensibel nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rumänien, wie ich später anzudeuten versuchen werde. Prof. Ritter hat in den 60er und 70er Jahren, als Antisemitismus noch für viele Kreise in Deutschland ein Tabu war, den Mut gehabt, es anhand einer der anstößigsten Traditionsstücke, der sog. „Judenreden“ des Johannes Chrysostomus, wissenschaftlich zu behandeln. Dabei spielen auch persönliche Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges, wie am Anfang des Aufsatzes VII aufgewiesen,23 eine gewisse Rolle. Doch der Hauptgrund seiner Initiative scheint mir in dem Sinne ein „apologetischer“ zu sein, als Johannes Chrysostomus oft – mit Unrecht, wie Ritter findet – als Judenhasser etikettiert wurde. Um diesen Vorwurf zu entkräften, spürt er zunächst dem generellen und danach dem „unmittelbaren Anlass“24 der chrysostomischen ‚Judenreden‘ nach. Es zeigt sich, dass Chrysostomos seine Predigten nicht „primär“ gegen die (antiochenischen) Juden, sondern gegen „judaisierende“ Christen gerichtet hat, die eine gewisse „synkretistische“ Strömung in Antiochien zur Zeit des Chrysostomos widerspiegelten. Danach sucht der Autor anhand von Parallelstellen im übrigen Corpus Chrysostomicum nachzuweisen, dass ihr Verfasser kein Judenhasser war. Das Ergebnis ist, dass die gegen die Synagoge und die Juden geschleuderten Anklagen weder „nur als rhetorische Stilübung zu betrachten“25 noch zu entschuldigen sind. Denn „hätte es Chrysostomos mit einem krawallsüchtigen, antisemitisch verhetzten Pöbel zu tun gehabt, so hätten seine Tiraden leicht“ als Aufruf zum Pogrom wirken können.26 Doch ist diese Voraussetzung ganz offensichtlich nicht gegeben gewesen. Und dass der „Goldmund“ kein Judenhasser war, davon hat mich die Lektüre der Aufsätze über die Frage des Antisemitismus bei Hl. Johannes Chrysostomos restlos überzeugt. Nun ein paar Worte über die Relevanz dieses Themas für den rumänischen Kontext: Während der deutsche Nationalismus in Gestalt des Nationalsozialismus mindestens zum Teil als eine Entfremdung gegenüber dem Christentum interpretiert werden kann, verstand und präsentierte sich der rumänische Nationalismus in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wie etwa die eiserne Garde oder die Legion des Hl. Erzengels Michael, als eine Bewegung, die besonderen Wert auf die rumänisch-orthodoxe Tradition legte und sie als Grundlage für die Erneuerung der rumänischen Nation ansah. Eingeschlossen in diese Tradition sind auch die Schriften der Kirchenväter. Ich habe keine Beweise, dass die rumänischen Rechtsradikalen für ihre Judenhetzen die sog. „Judenreden“ des Johannes Chrysostomos oder andere patristische Texte (miss)braucht haben – dieses Thema könnte den Gegenstand eines meiner zukünftigen Forschungsprojekte 23 St. Chr.,
105. 21 f. 25 St. Chr., 25. 26 St. Chr., 30. 24 St. Chr.,
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abgeben. Die Gefahr, dass das geschah, ist aber groß und ist nicht ausgestanden. Es ist zudem kein Geheimnis, dass es nationalistisch-antisemitische Tendenzen auch im heutigen Rumänien gibt (darunter auch in kirchlichen Kreisen). Die Lektüre von Aufsätzen Ritters könnte aber eine heilsame Wirkung entfalten. 4. Soziales Engagement der Kirche. Zwei Studien (IV u. V) unter den St. Chr. beschäftigen sich mit dem sozialen Engagement des Johannes Chrysostomos und der Kirche seiner Zeit, aus verschiedenen Perspektiven. Im Unterschied zur rumänischen Fassung, wurden die beiden Studien der deutschen Fassung substantiell ergänzt. Der Aufsatz IV erhielt ein längeres „Postscriptum 2012“, in dem neuere Literatur zum Thema Dio Chrysostomus und Johannes Chrysostomus sowie zum Problem einer Humanisierung der Gesellschaft besprochen wird. Der auf Englisch verfasste Aufsatz V, der sich mit Chrysostomus als Ausleger der paulinischen Sozialethik beschäftigt, wurde mit einem Kommentar der amerikanischen Patrologin Elisabeth A. Clark versehen. Es ist natürlich, dass alle Fragen, die in diesen Studien behandelt werden, eine Bedeutung für orthodoxe Theologen haben können. Denn es wird sonnenklar: Johannes Chrysostomus hat sich sozial engagiert und die Kirche seiner Zeit und jeden einzelnen Christen ermutigt, es ihm gleichzutun. Eben dieser Aspekt scheint mir von großem Interesse für Rumänien und andere ehemalige kommunistische Länder zu sein. Wie ich anderswo andeutete, hat „die kommunistische Regierung … der Kirche nicht erlaubt …, sich sozial und diakonisch zu engagieren.“27 Nach der Wende (1989/1990) hat die Kirche angefangen, ihre Sozial‑ und diakonische Arbeit wiederaufzunehmen, aus der festen Überzeugung, dass beide ein wesentlicher Teil ihrer eigenen Tradition sind. Doch dieser Wiederaufbau, der noch längere Zeit brauchen wird, stieß in einigen Kreisen auf Widerspruch. Er kam besonders von alten Klerikern, die der Meinung waren (und wohl noch immer sind), dass die Kirche nur innerhalb der Kirchenwände zu verkündigen und tätig zu sein habe. Diese Meinung „verdanken“ wir der kommunistischen Zeit! Ritters zwei Studien vermitteln ein leuchtendes Bild von Chrysostomos als einem Anwalt der Armen und hinterlassen eine ebenso klare Botschaft! Der Heilige kommt hier zu Wort und spricht die Orthodoxen mit einer hohen Autorität an, die nicht zu überhören ist. 27 Siehe D. Buda, Funktionalität und Habitualität – neuere rumänisch-orthodoxe Perspektiven auf das Amtsverständnis in: Berufen, beauftragt, gebildet – Pastorales Selbstverständnis im Gespräch, Markus Iff/Andreas Heiser (Hg.), Neukirchen-Vluyn, 2012, 195–216; hier 210. Diese Tatsache habe ich im oben zitierten Aufsatz mit einem Zitat aus dem programmatischen Buch des Patriarchen Justinian, der die Rumänisch-orthodoxe Kirche zw. 1948–1977 leitete, Apostolatul social, Bukarest, 1949, begründet. In einer Rede betitelt ‚Poporul îşi făureşte destinul – Das Volk schafft sein Schicksal‘ sagte er: „Der Staat (gemeint ist der kommunistische Staat Rumäniens) wird sich im Geiste der christlichen Philanthropie um die öffentliche Gesundheit kümmern und wird denjenigen helfen, die unverschuldet nicht arbeiten können“ (Apostolatul social, 95).
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5. Patristik – ein theologisches Fach, das uns einigt. Ökumene hat viele Ausgangspunkte, darunter sicherlich auch die Patristik. Diese Aussage ist einfach zu begründen: weil die Kirchenväter der Zeit der sogenannten „einen und ungeteilten Kirche“ des 1. Millenniums (war sie aber wirklich so „eins und ungeteilt“?) angehörten und darin wirkten. Sie sind grundsätzlich als Gut aller christlichen Traditionen anzusehen, und dementsprechend ist ihr Leben und Werk zu erforschen und gegebenenfalls als Argumentationsvorlage oder gar als Autorität in Anspruch zu nehmen. Aufsatz XII der St. Chr. beschäftigt sich mit dem Chrysostomosbild in der Tradition des deutschen Luthertums bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts und entwirft ein äußerst packendes Bild voller Dynamik. Ich muss gestehen, dass ich, wie wohl auch viele andere Leserinnen und Leser, selbst unter Protestanten, überrascht war, welche Bedeutung die Kirchenväter für die lutherischen Theologen dieser Periode hatten. Wichtig an diesem Aufsatz war mir zum anderen, dass am Anfang Ritter über Vorurteile spricht, die ausgeräumt werden müssen: so das Vorurteil, der Humanismus sei ein Aufstand gegen die christliche Vergangenheit Europas und Martin Luthers „Tischreden“ seien ein Beweis für seine unüberwindliche Abneigung gegen Johannes Chrysostomus und hätten eine negative Voreingenommenheit gegen ihn im Luthertum zur Folge gehabt. Dieser Aufsatz spricht zugleich andere unter Orthodoxen verbreitete Vorurteile bezüglich der Bedeutung der Kirchenväter in der protestantischen Tradition an und ist geeignet, sie auszuräumen oder mindestens in Frage zu stellen. Diese lauten: die Protestanten haben die Kirchenväter nur dann zitiert oder als Autoritäten angerufen, wenn sie ihnen Argumente gegen die Katholiken zu liefern versprachen; ein weiteres Vorurteil: die Beschäftigung mit der Patristik innerhalb der protestantischen Theologie bewegt sich auf rein wissenschaftlich-theologischer Ebene, ohne jegliche Resonanz im Leben der Kirche. Wenn sich gegen das ersterwähnte Vorurteil viele der in diesem Aufsatz enthaltenen exempla ins Feld führen lassen, ist das zweite Vorurteil durch das gesamte oeuvre A. M. Ritters in Frage gestellt. Das bedeutet freilich nicht, dass es innerhalb der heutigen lutherischen Theologie (wie auch in der orthodoxen) angesprochene Marginalisierungs-, Historisierungs‑ und Theoretisierungstendenzen im Hinblick auf das Kirchenvätererbe nicht gäbe. Mein Eindruck nach der Lektüre des Aufsatzes XII der St. Chr. aber ist, dass A. M. Ritter seine eigene Tradition einlädt, dem Beispiel der Alten zu folgen, die in ihren Werken die Kirchenväter großzügig rezipiert haben. Uns Orthodoxen, die wir unsere Kirche stolz als „Kirche der Väter“ bezeichnen, führt dieser Aufsatz einerseits vor Augen, dass die Kirchenväter bereits seit langer Zeit ein Schatz der ganzen Christenheit gewesen sind, und andererseits, dass sie, historisch gesehen, im 17. und 18. Jahrhundert, in der Zeit, als unsere orthodoxe Theologie – mit George Florovski zu reden – sich noch in der „Gefangenschaft“ der Scholastik befand, im protestantischen Westen, besonders im Luthertum, mehr und mehr bekannt waren. Wir müssen als Orthodoxe anerkennen, dass „die neopatristische Bewegung, die von Georges Florovsky (1893–1979) und
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anderen orthodoxen Theologen initiiert wurde, erfolgreich gewesen ist, auch und gerade, weil viele Werke der Kirchenväter den orthodoxen Theologen erst über protestantische (und katholische Editionen) zugänglich wurden.“28 *** In seinem Vorwort zur bald erscheinenden 2. verbesserten Auflage der „Studien zur Kirchengeschichte und zur Patristik“29 präsentiert sich A. M. Ritter als „lutherischen Theologe“, „der ein mehr als nur ‚historisches Interesse‘ an der vorreformatorischen, der altchristlichen wie mittelalterlichen Tradition“ hat. Ich finde diese Selbstdarstellung nachprüfbar und deshalb überzeugend. Prof. Ritter ist ein „lutherischer Theologe“, der seiner lutherischen Überzeugung in allem, was er in den St. Chr. geschrieben hat, treu bleibt, aber nicht unkritisch folgt. Die Aussage, dass sein Interesse an vorreformatorischer Tradition mehr als nur „historisch“ sei, verstehe ich folgendermaßen: er versucht, diese Tradition zu verlebendigen, so dass sie noch heute Christen, und zwar allen Christen, etwas zu sagen hat; er steht fest in und zu seiner Kirche und ist, auch als Professor, aktiver Pastor („Hüter“, der auf seinen „Bruder“ und seine „Schwester“ acht hat [vgl. Gen 4,9; Joh 10]]); er versucht mit anderen Worten, was er lehrt oder schreibt, auch im kirchlichen wie im eigenen Leben umzusetzen. Würde ich eines Tages mein eigenes De viris illustribus schreiben, so würde darin A. M. Ritter (wie andere protestantische Theologen) einen der vorderen Plätze einnehmen. Genf, am 20. Oktober 2012,Daniel Buda dem Fest der siebenbürgischen Heiligen in der rumänisch-orthodoxen Kirche
28 D. Buda, Wem gehört 2017? – Versuch einer orthodoxen Perspektive, in: Ökumenische Rundschau, 61 (2012), Nr. 1, 70–78; hier 73. Diese historisch bewiesene und weit anerkannte Tatsache ist in der letzten Zeit in einigen orthodoxen Kreisen in Frage gestellt oder mindestens übersehen worden. Aus kirchenpolitischen Gründen werde ich die wichtigsten Vertreter dieser Kreise hier nicht erwähnen. Das ist aber ein weiterer Beweis, dass die von Ritter auf S. 156 f. des Aufsatzes XII formulierte Warnung angesichts der Fundamentalisten, die in allen christlichen Konfessionen am Werke sind, auf Realität basiert. Leider fehlt die Warnung in der rumänischen Edition der St. Chr. und ist nur in der deutschen erweiterten Fassung zu finden. 29 Wie oben, Anm. 2.
Abkürzungsverzeichnis Zeitschriften, Reihen und Lexika werden stets abgekürzt zitiert nach Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 21993, Bibelstellen nach demselben (ausgenommen 1 Sam statt I Sam etc.) bzw. nach den landesüblichen Konventionen. Für antike Quellen, pagane wie christliche, gelten die Abkürzungsregeln von Liddell/Scott/Jones, A Greek-English Lexicon, Oxford 1983, bzw. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1987, von Glare, Oxford Latin Dictionary, Oxford 1982. Sekundärliteratur wird einzig im Falle des am häufigsten angeführten Buches des Verfassers und zweier seiner Aufsätze durchweg abgekürzt zitiert, und zwar so: Ritter, Charisma =
Adolf Martin Ritter, Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos und seiner Zeit. Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche, Göttingen 1972 (FKDG 25)
Ritter, Antisemitismus = Adolf Martin Ritter, Erwägungen zum Antisemitismus in der alten Kirche. Johannes Chrysostomus, Acht Reden wider die Juden, in: Bernd Moeller/Gerhard Ruhbach (Hg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien (Festschrift Hans von Campenhausen), Tübingen 1973, 71–91 Ritter, Gottesherrschaft = Adolf Martin Ritter, Zwischen „Gottesherrschaft“ und „Einfachem Leben“. Dio Chrysostomus, Johannes Chrysostomus und das Problem einer Humanisierung der Gesellschaft, JAC 31 (1988), 127–143
Die übrige Sekundärliteratur wird – zur Erleichterung des Lesens, für jedes Kapitel gesondert – beim ersten Nachweis vollständig zitiert, dann mittels Kurztitel (verbunden mit dem Hinweis, in welcher Anmerkung sich der vollständige Titel findet).
I. Statt eines Vorworts
Evangelisches Heiligengedenken heute am Beispiel des Johannes Chrysostomos* Nach einem noch immer verbreiteten Vorurteil kennen Evangelische keine Heiligen, abgesehen von der „Gemeinschaft der Heiligen“, die sie – was immer sie sich dabei denken mögen – in dem bei ihnen (jedenfalls hierzulande) normalerweise benutzten „Apostolischen Glaubensbekenntnis“ zu glauben bekennen, sooft sie sich zum Gottesdienst versammeln. Bevor ich darauf jedoch näher eingehe und Betrachtungen anstelle über den Begriff des „Heiligen“ und evangelisches Heiligengedenken, das es, wenn die Überschrift nicht irreführt, sogar noch heute gibt, bin ich meinen Leserinnen und Lesern wohl schuldig, mindestens in groben Zügen eine Vorstellung von der Heiligenauffassung und ‑verehrung im Abendland (kurz) vor der Reformation zu vermitteln. Anders ist die (allerdings recht unterschiedliche) Einstellung der Reformatoren zu der uns hier beschäftigenden Frage kaum verständlich zu machen. An dieser Einstellung aber kann und will ich, zur Orientierung, nicht einfach vorübergehen. Das frühe Christentum verehrte als „Heilige“ – außer Gestalten der biblischen „Heilsgeschichte“ – vorwiegend „Glaubenszeugen“, genauer: Blutzeugen des Glaubens (oder, um das Fremdwort zu benutzen, „Märtyrer“1), als Mahnung, * Der Text ist bislang in deutscher Sprache unveröffentlicht. Er entstand, als Dr. Daniel Buda die Auswahl von Chrysostomosaufsätzen aus meiner Feder in rumänischer Übersetzung vorbereitete. Er richtete an mich die Frage, ob im Buch, so, wie man es im orthodoxen Rumänien gewohnt sei, von „Sfântul Ioan Gură de Aur“ (dem „hl. Johannes Goldmund“) die Rede sein dürfe. Ich gab zur Antwort: Sehr gerne; nur möchte ich wenigstens in einem Vorwort kurz erläutern dürfen, warum, damit Leserinnen und Leser, die mich nicht kennen, keine falschen Schlüsse ziehen. Er war damit ganz einverstanden. 1 Einen Einblick in die Entstehung christlicher Märtyrerverehrung gewährt das Polykarpmartyrium aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts (über das genaue Todesdatum wird in der Wissenschaft nach wie vor diskutiert; am wahrscheinlichsten ist der 23. Febr. 163); nachdem der unmittelbar danach abgefasste Bericht erwähnt hat, dass der Leichnam Polykarps – sicherheitshalber – in die Mitte des Scheiterhaufens gerückt und verbrannt worden war (18,1), fährt er fort (18,2.3): „Auf diese Weise konnten wir (d. h. die smyrnäische Christengemeinde als Verfasserin oder doch wenigstens Absenderin des Berichtsbriefes) später seine Gebeine einsammeln, die kostbarer sind als Edelsteine und wertvoller als Gold, und sie an passender Stelle beisetzen. Dort wird uns der Herr vergönnen, wenn möglich uns in Jubel und Freude zu versammeln, um den Tag seines Martyriums als Geburtstag festlich zu begehen, zum Gedächtnis derer, die ausgekämpft haben, und zur Übung und Zurüstung der künftigen (Märtyrer).“
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I. Statt eines Vorworts
ihrem Vorbild zu folgen und – im Konfliktsfall – „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“ (Act 5,29), auch wenn es nicht unbedingt das eigene Leben koste, aber selbst dann! Verglichen damit ist für die mittelalterliche Heiligenverehrung im Abendland, besonders die des späten Mittelalters, eine zunehmende Intensivierung und zugleich eine außerordentlich starke Privatisierung kennzeichnend. – Das gilt es zweifellos kurz zu verdeutlichen. Am leichtesten lässt sich das Gemeinte an der Entfaltung des Patronatsgedan‑ kens ablesen. Schon seit dem frühen Mittelalter hatte jede Kirche im Abendland ihren eigenen „Schutzheiligen“ oder (himmlischen) „Patron“ und hieß demzufolge – beispielsweise – S. Albani-, S. Katharinen- (das ist ein deutscher Genitiv oder Wesfall), S. Petrikirche usw. „Überreste“ (oder, mit dem Fremdwort, „Reliquien“) des oder der Heiligen, seien es leibliche (wie einzelne Knochen, gegebenenfalls auch nur Knochensplitter) oder Reste von Gebrauchsgegenständen, mit denen ihre Leiber in Berührung gekommen waren, barg eine Vertiefung des Altars („Grab“ [sepulcrum] genannt), um den man sich zum Gottesdienst versammelte. Auch der sich im hohen und insbesondere im späten Mittelalter mehr und mehr einbürgernde Brauch, dem Täufling bei seiner Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft den Namen eines oder einer Heiligen (wie z. B. Martin, Elisabeth) zu geben, wollte dem Bedürfnis nach Schutz und Fürsprache Rechnung tragen. In dieser Zeit – es war zugleich die eigentliche Blütezeit der Zünfte und Gilden (wir würden heute sagen: Berufsgenossenschaften) – wurde es dann zur selbstverständlichen Gepflogenheit, dass sich jeder Stand und jede Berufsgruppe unter die Obhut eines bestimmten (himmlischen) „Patrons“ stellte. Die Auswahl dieser Standes‑ und Berufspatrone erfolgte häufig aufgrund rein äußerer, uns nicht selten kurios anmutender Anknüpfung an die historische Quelle (bzw. die [üppig blühende] legendarische Überlieferung). Als Beispiel diene uns Sankt Florian, von dem bis heute bei uns ein Spottvers die Runde macht: „O heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andre an“. Florian war ein Blutzeuge (also Märtyrer) der letzten reichsweiten Christenverfolgung im Römischen Reich unter Kaiser Diokletian. Wegen seines gewaltsamen Todes durch Ertränken hat man ihn nicht nur zum Schutzheiligen gegen Feuergefahr (darum der genannte Spottvers) und Wassersnöte (wie Überschwemmungen) erklärt, sondern auch zum Patron der Bierbrauer, der Fassbinder und der – Schornsteinfeger erkoren. Neben den alltäglichen Bedrängnissen waren es vor allem die großen Katastrophen der Zeit, also Seuchen (wie die entsetzliche Pest), Hungersnöte (oft genug aufgrund von Missernten über mehrere Jahre hinweg) und Kriege, die solche Zuweisung immer wieder neu nahelegten. Da an eine sozusagen ‚natürliche‘ Abwendung solcher Bedrängnisse und Katastrophen angesichts der verhältnismäßig niedrigen technischen und hygienischen Standards in jenen Zeiten kaum zu denken war, suchte sich die menschliche Ohnmacht begreiflicherweise der Gefährdungen des Lebens durch Inanspruchnahme heiliger, himmlischer Patrone und Fürbitter – das gehörte ja seit jeher zu den Hauptaufgaben von
Evangelisches Heiligengedenken heute
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Patronen: Fürsprache für Angehörige ihrer „Klientel“ einzulegen – zu erwehren. So stieg die Heiligenverehrung im „Herbst des Mittelalters“ (J. Huizinga), d. h. in unmittelbar vorreformatorischer Zeit, in steiler Kurve an. Gleichzeitig machte sich ein übersteigerter religiöser Subjektivismus zusammen mit einem ausgesprochen quantitativen Denken bemerkbar. Das will besagen: Es wurde jetzt nicht nur für jede Not und jedes Gebrechen ein bestimmter Heiliger als besonders zuständig erachtet. Sondern das eben angesprochene „quantitative“ Denken, die Vorstellung, die Fürsprache eines Heiligen vermöge viel, diejenige vieler Heiliger aber viel mehr, hatte auch die „Anhäufung“ von verehrungswürdigen Gestalten zur Folge. Der gerade im vorreformatorischen Altbayern und in Franken so beliebte Kult der „Vierzehn Nothelfer“ (mit einer eigenen Wallfahrt zum Kloster Vierzehnheiligen im Bistum Bamberg) – bis auf einen, den Mönch Ägidius, alles Märtyrerinnen und Märtyrer übrigens – ist für solche „Gruppenbildung“ ein besonders schlagender Beleg. Er macht darüber hinaus deutlich, dass jetzt die Heiligen vom gläubigen Volk in erster Linie nicht länger als Zeugen und Vorbilder für das eigene Leben angesehen wurden, sondern eben als „Nothelfer“ (lat. adiutores), und dementsprechend ihre „Nachahmung“ hinter ihre „Anrufung“ zurücktrat. Der verstorbene katholische Kirchenhistoriker Bernhard Kötting (zuletzt in Münster tätig) sah die spätmittelalterliche Heiligenverehrung in einer geradezu „antitheologischen Entwicklung“ begriffen2 und fand, dies habe sich zudem in einer kaum vorstellbaren Anhäufung von Reliquien, einem wahren Wettlauf zu den verschiedenen Wallfahrtsorten, die jetzt wie Pilze aus dem Boden schossen,3 im üppig blühenden Ablasswesen und in einer Wundersucht Ausdruck verschafft, die, wie es annähernd gleichzeitig in dem vielbenutzten protestantischen Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (dritte Auflage) hieß, nicht selten „dem Bereich des Magischen und des Aberglaubens mehr verhaftet war als dem Religiösen“.4 Gewiss, die spätmittelalterlichen Theologen, von denen man auch als Evangelischer nicht zu gering denken sollte, hatten die Anbetung Gottes und die Verehrung der Heiligen stets auseinandergehalten. Aber in der religiösen Praxis waren die Unterschiede wohl doch weitgehend verwischt. So musste gerade die Tatsache, dass das gläubige Volk die Heiligen über ihre Gebetsmittler-, ihre Fürbitterrolle hinaus gemeinhin als die unmittelbaren Spender der erbetenen Wohltaten erachtete, wie ja auch die vielen erhaltenen sog. ‚Votivtafeln‘ besagen und beweisen, auf denen bestimmten Heiligen für eine Hilfe in irgendeiner leiblichen oder seelischen Not, in oftmals rührend naiv-anschaulicher Weise, gedankt wird, zu einem Zentralpunkt der reformatorischen Kritik an der mittelalterlichen Heiligenverehrung werden. 2 S.
Handbuch Theologischer Grundbegriffe, I, München 1962, 637. Beispiel sei genannt der kleine brandenburgische Ort Wilsnack, der ab 1383 von einem unbedeutenden Dorf zu einem Wallfahrtszentrum von europäischem Rang aufstieg; im Mittelpunkt der Verehrung standen drei ‚blutende Hostien‘. 4 R. Klauser, Art. Heiligenverehrung, RGG 3III, Tübingen 1959, 174. 3 Als
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Es wurde gemeinreformatorische Überzeugung, was ein Jahrhundert später der Ostpreuße Georg Weißel (1590–1635) in den ersten beiden Strophen seines noch heute gern gesungenen Liedes so ausdrückte: Such, wer da will, ein ander(es) Ziel, die Seligkeit zu finden; mein Herz allein bedacht soll sein, auf Christus sich zu gründen. Sein Wort sind wahr, sein Werk sind klar, sein heilger Mund hat Kraft und Grund, all Feind zu überwinden. Such, wer da will, Nothelfer viel, die uns doch nichts erworben; hier ist der Mann, der helfen kann, bei dem nie was verdorben. Uns wird das Heil durch ihn zuteil, uns macht gerecht der treue Knecht, der für uns ist gestorben (EG 346,1.2).
„Christus allein“ (solus Christus), und „die Gnade allein“ (sola gratia). Davon waren sie alle, „Evangelische“ (= Lutheraner) wie „(nach Gottes Wort) Reformierte“, überzeugt.5 Dennoch hatte es seine guten Gründe, wenn im reformatorischen Gottesdienst, besonders im lutherischen, das Gedächtnis der Heiligen eben nicht aufgehört hat. Es wurde jetzt freilich konsequent zur Christusverkündigung in Beziehung gesetzt und diente zur persönlichen Veranschaulichung des Christusglaubens und zur Ermutigung in der Nachfolge Christi. Wenden wir uns vom Spätmittelalter und der Reformationszeit kurz der Gegenwart zu, so ist die Lage, vorsichtig gesprochen, – uneindeutig. Man gewinnt einerseits den Eindruck, als betone der gegenwärtige, ‚deutsche Papst‘ Benedikt XVI., (man denke nur an die von den Medien verbreiteten Bilder von seinem Besuch seiner bayerischen Heimat und speziell der Wallfahrtsstätte Altötting bald nach seiner Inthronisation) wie schon sein polnischer Vorgänger, Johannes 5 Zum Beleg sei lediglich die am weitesten verbreitete reformierte Bekenntnisschrift, der „Heidelberger Katechismus“, angeführt, dessen 450. Jubiläums im kommenden Jahr vielerorts in der Welt gedacht werden wird; einschlägig sind hier die Fragen 31 und 32 (zum Text s. EG Nr. 884).
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Paul II., erneut solche Seiten an katholischer Heiligenverehrung (zu der bekanntlich nicht zuletzt die Marienverehrung gehört), die evangelischem Verständnis nur schwer zugänglich sind. Ich kenne andererseits – etwa aus der ‚Feder‘ des Mainzer Bischofs und langjährigen Vorsitzenden der Deutschen (katholischen) Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann – (in der Tagespresse weit verbreitete) Äußerungen beispielsweise zum Festinhalt von „Allerheiligen“, die genau so gut von einem evangelischen Theologen hätten verfasst sein können, vorausgesetzt, es ist den Evangelischen ernst mit der Bindung an die reformatorischen Bekenntnisse. In deren in Deutschland meistverbreitetem, dem sog. Augsburger Bekenntnis, dargelegt 1530 vor den in Augsburg zum Reichstag versammelten Ständen des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, mit dem Kaiser an der Spitze, steht u. a. der Ratschlag zu lesen, dass „man der Heiligen gedenken soll, auf dass wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist“ (CA XXI). Die sog. „Apologie“ (oder Verteidigung) des Bekenntnisses durch Philipp Melanchthon entfaltet diese Aussagen und nennt drei Weisen, wie der „Dienst der Heiligen“ (wie Art. XXI des Augsburger Bekenntnisses im Deutschen überschrieben ist), der „Heiligenkult“ (cultus sanctorum; so der lat. Text der CA), geschehen solle: 1. durch den Dank an Gott für die „Beispiele“ (exempla) seiner Gnade; 2. durch Annahme der Glaubensstärkung im Beispiel der Heiligen; 3. durch die Nachfolge in Glaube, Liebe und Geduld nach dem Beispiel der Heiligen.6 Erfahrungsgemäß verstehen viele heutige Katholiken, ähnlich dem bischöflichen Verfasser der genannten, wie gesagt, in vielen Zeitungen verbreiteten Besinnung zum Allerheiligenfest, Kardinal Lehmann, Wesen und Funktion der Heiligen so sehr von ihren biblischen Grundlagen her, dass man sich schon gegen diese Grundlagen und Wurzeln stellen müsste, wenn man hier grundsätzlich widersprechen wollte! Nehmen wir als Beispiel jenen Text, der seit alters als Evangelienlesung dem Allerheiligenfest genau so wie dem Reformationsfest zugeordnet ist; er wird zudem in jeder „Göttlichen Liturgie des hl. Johannes Chrysostomos“ als der Normalform (byzantinisch‑)orthodoxen Gottesdienstes, vom Chor gesungen und von der Gemeinde in der Regel mit spürbarer Ergriffenheit aufgenommen, und steht dort an herausragender Stelle. Gemeint sind die sog. „Seligpreisungen“ (oder „Seligkeiten“, wie der alte katholische Ausdruck lautet). Μακάριοι 6 BSLK3, Göttingen 1956, 317 f. Ganz in diesem Sinne gebrauchen Luther und Melanchthon bereits in ihrem „Unterricht der Visitatoren“ (1528) den schönen Ausdruck, dass die Heiligen „zum spiegel der Göttlichen gnade und Barmhertzigkeit uns fürgestellet sind“ (WA 26,224). Vgl. zum Thema des Heiligengedenkens in ökumenischer Sicht auch etwa Georg Kretschmar und Alexej Ossipov, Die Heiligen als Zeichen der Erfüllung von Gottes Verheißung für die Menschen, in: ÖR.B 41, 1981, 96–136; Fairy von Lilienfeld, Die Bedeutung der Heiligenverehrung in der orthodoxen Theologie und Volksfrömmigkeit, (1986; wieder abgedruckt) in: dies., Sophia – Die Weisheit Gottes, hg. v. Karl Christian Felmy u. a., Erlangen 1997 (Oikonomia 36), 100–110.
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οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι, selig die „geistlich Armen“, so beginnt er in seiner matthäischen Fassung (nach der Übersetzung Luthers).7 Es klingt da – in meinen Ohren zumindest – ein Ton auf, der Reformationsfest (31. Okt.) und Allerheiligen (1. Nov.) – nicht nur kalendermäßig – eng aneinanderrücken läßt. Wären doch die „Seligpreisungen“ oder „Seligkeiten“ wohl gründlich missverstanden, wollte man sie als eine Art „christlicher Tugendtafel“ oder, was fast auf dasselbe hinausliefe, als eine Summe von „Einlassbedingungen“ für die Gottesherrschaft auffassen, wie das in der wissenschaftlichen Bibelauslegung eine Zeit lang hieß. Dieses Verständnis dürfte ja spätestens an der Seligpreisung der Trauernden („Selig sind, die da Leid tragen“), ferner der Hungernden, der Verfolgten scheitern; es wird vielmehr deutlich, dass weniger ein bestimmtes Verhalten als eine bestimmte Situation im Blick steht, in der sich die Angesprochenen befinden. So auch in der ersten, für den Sinn alles Weiteren in gewisser Weise wohl vorentscheidenden Seligpreisung, der der „geistlich Armen“ (wie Luther übersetzte), d. h. derer, die „arm sind vor Gott“ und es wissen; „denn ihnen gehört das Himmelreich“. Hier wird, meine ich immer noch,8 ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Situation der Armut und der Gottesherrschaft, dem „Himmelreich“, ausgesprochen. Worin besteht er? Wohl darin, dass „das Himmelreich“, die Gottesherrschaft, als Gegenstück der Armut gelten muß. Wo nämlich Gott herrscht, wo Er uneingeschränkt Gott und als solcher am Werke ist, dort ist er ganz Geber. Er kann nur geben, wenn er ungehindert Gott sein kann. Der Mensch aber kann nur nehmen, wenn er „arm“,9 „ein Bettler“ ist, wie Luther verschärfend auf dem bei seinem Tode in seinem Sterbezimmer hinterlassenen „Zettel“, seinem „Testament“ sozusagen, formulierte: „Wir seind pettler, hoc est verum (das ist wahr) …“.10 Weil das aber so ist, darum gehören Gott und der Arme zusammen. Die menschliche „Armut“ hat, wo sie wahrhaftig und nicht nur demütiges Gerede und Gehabe ist, „ihr Wesen darin, dass sie auf das Geben 7 Die, auch von meinem hochgeschätzten Exegetenfreund Uli Luz mit Verve vorgeschlagene, Übersetzung des μακάριος mit „glücklich“ halte ich, mit Verlaub, für recht unglücklich – man denke nur an den 2. Makarismus, der einem andernfalls im Halse stecken bliebe („Glücklich die Trauernden …“ ?); es geht doch wohl um eine andere Dimension und Perspektive als „happiness“, geschweige denn „wellness“, bzw. was man mit beidem normalerweise assoziiert! Kurz: Ich bin so frei, bei der Übersetzung „selig“ zu bleiben. 8 .Erneut im Dissens mit Uli Luz und dafür im Konsens mit einem anderen namhaften Schüler Eduard Schweizers, nämlich Hans Weder; vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 1 (EKK I/1), 5. völlig neubearbeitete Aufl. 2002, 251 ff., bes. 266–294; H. Weder, Die ‚Rede der Reden‘. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985. Im übrigen will und kann ich mich auf den Streit der Exegeten an dieser Stelle nicht weiter einlassen, erlaube mir aber den Hinweis, dass für die Bildung eines theologischen Urteils (wie für die Predigt) nicht allein der – oft genug nur vermutungsweise zu ermittelnde – „ursprüngliche“ Sinn eines biblischen Textes, der natürlich nicht einfach zu vernachlässigen ist, sondern auch seine Stellung im Kanon wie seine Wirkungsgeschichte wichtig sein dürfte, worin ich mir wiederum mit Uli Luz im Prinzip einig bin. 9 Weder (wie vorige Anm.), 49. 10 WA.TR 5, 317,11–318,3 (Nr. 5677).
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angewiesen ist. Der Reichtum Gottes hat, wo er sich ungehindert entfalten kann, sein Wesen im Ausgeteiltwerden. Mancher mag sich das Wesen des Reichtums so vorstellen, dass es im Haben bestehe. Der Reichtum Gottes aber hat seinen Bestand im Austeilen …“.11 Deshalb gehört die Gottesherrschaft den „Armen“, denen, die angewiesen sind auf Gottes Geben – und dies wissen und für sich wahr sein lassen. Selig darum die ganz auf Gott Angewiesenen, aber auch ganz auf Gott sich Werfenden, die alles, was sie sind und vermögen, sich zusprechen lassen, es somit empfangen und nicht selber „machen“ oder „vorstellen“. Wohl ihnen! Denn auf solche Menschen wartet Gott. In einer zweiten ‚Strophe‘ oder Gruppe von „Seligpreisungen“ geht es dann allerdings um ein bestimmtes Verhalten, ein Verhalten als aus Gott erwachsenes Leben: „Selig“ die Sanftmütigen, selig, die, „die keine Gewalt anwenden … Selig die verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit lieben“. – Was sind das für Leute, die „verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit lieben“? Es sind wohl diejenigen, deren gerechtes Verhalten vor Gott zur Verfolgung führt. Anders steht es also, wenn wir uns ungerecht verhalten und für unsere Bosheit oder Dummheit büßen müssen. So wir aber leiden für das, was vor Gott recht ist, tritt Er für uns ein. Das ist eine Erfahrung, die durch das gesamte Neue Testament geht – ja, wenn wir dem 11. Kapitel des Hebräerbriefes glauben und folgen dürfen, die auch schon das Alte Testament durchzieht –, und zwar nicht unter dem Vorzeichen des Jammerns, des Lamentierens und des Selbstmitleides, sondern eben der „Seligpreisung“. Ich erinnere nur an das eine Bekenntnis aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, … weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges … mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herren …“ (Röm 8,38 f.). Wie aber sieht es bei uns aus? Gilt da nicht viel eher die Meinung derer, die „mit dem Strom schwimmen“, nicht gegen ihn, derer, die „mit den Wölfen heulen“? Und gilt es umgekehrt nicht als Zeichen der Gottverlassenheit, ja des erwiesenen Irrtums und Unrechts, wenn einer oder eine einmal ganz auf sich allein gestellt und angewiesen ist? Dabei ist in der Kirchengeschichte wieder und wieder Entscheidendes durch einzelne geschehen, durch solche Männer und Frauen, die ein Gewissen hatten und sich ein Gewissen machten; die ruhig, aber bestimmt sagten: Das ist vor Gott nicht recht! Auch und gerade die Geschichte der „Heiligen“ bietet eine Überfülle von „Beispielen“ (exempla) dafür. Heiligenverehrung hat, ich deutete es schon an, innerhalb des Christentums nachweislich mit den Märtyrern, den „Blutzeugen“ des Glaubens, angefangen; und so legt es sich denn nahe, die Erinnerung an Blutzeugen in den Vordergrund zu stellen und bei ihr einzusetzen. Daran ist gerade auch das hinter uns liegende, 11 Weder
(wie Anm. 7).
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20. Jahrhundert überreich! Denn in diesem Jahrhundert hat das Christentum, was man nie vergessen sollte, nicht nur eine bis dahin unerreichte weltweite Ausbreitung erlangt. Sondern es hat auch, soweit wir wissen, noch niemals zuvor mehr Christinnen und Christen als in eben diesem Jahrhundert gegeben, die als Zeugen einer besseren Welt ihrem Gott, ihrem Glauben und sich selbst die Treue bewahrten, auch als es ihnen das Leben zu kosten drohte. Wir haben – in Deutschland wie in Rumänien – noch immer kaum damit begonnen, das zu realisieren, unerachtet der Tatsache, dass es dazu inzwischen wunderbare Möglichkeiten gibt.12 Allein, man sollte sich vor einer Engführung unbedingt hüten. Es ist vielmehr ratsam, die Frage nach den „Heiligen“, verallgemeinernd, so zu beantworten: Es sind in aller Regel keine zeitentrückten, auf Altären thronenden Ideal‑ oder Übermenschen. Es sind vielmehr, wie es der große evangelische Theologe Karl Barth einmal formuliert hat, „unüberwindlich gestörte Sünder“.13 Gemeint sind solche Leute, die sich nicht abfinden mit ihrer eigenen Qualität, mit ihrer eigenen Sünde, aber auch nicht mit der Beschaffenheit ihrer Welt und ihrer Kirche. Heilige sind Menschen, die sich durch niemanden und nichts davon abbringen lassen, nach einer neuen Beschaffenheit der Welt und des Lebens zu fragen, nach einem anderen, gerechteren Leben zu „hungern und zu dürsten“, und das aus völligem Vertrauen auf die Gegenwart Gottes und seines Reiches heraus. Heilige sind, für mich, mit anderen Worten Menschen, ohne die ich wenigstens im Grunde gar kein Christ sein könnte, Menschen, die mir das Glauben, das Hoffen, das Lieben leichter machen; Menschen ohne Falsch, ohne Mißtrauen, Menschen „reinen Herzens“, auch und gerade aber heilige Nonkonformisten, heilige Querdenker, heilige Einmischer, die andere – und so auch mich – aus eingefahrenen, liebgewordenen Bequemlichkeiten und Selbstverständlichkeiten aufzuscheuchen vermögen, weil diese nämlich anderer Lebensmöglichkeiten empfindlich einschnürten; Menschen, die anders sind, weil Gott anders ist.14 12 Zu weiterführender Literatur zur Verfolgungsgeschichte im 20. Jh. allgemein s. Andrea Riccardi, Salz der Erde, Licht der Welt: Glaubenszeugnis und Christenverfolgung im 20. Jahrhundert. Aus dem Italienischen übers. u. bearb.v. Ingrid Stampa, Freiburg u. a. 2002; zu Rumänien s. „Martiri pentru Hristos din România în perioada regimului comunist“, EIBMBOR, Bukarest 2002; für den deutschen Bereich s. Karl Joseph Hummel/Christoph Strohm, Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2000; Harald Schultze/Heinrich A. Kurschat (unter Mitarbeit von C. Bendick), „Ihr Ende schauet an …“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006. Mit die kostbarste Gabe an die Nachwelt aus dem deutschsprachigen Bereich ist der überwiegend erhaltene Briefwechsel von Helmuth James/ Freya von Moltke („Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel September 1944– Januar 1945“), hg. von Helmuth Caspar/ Ulrike von Moltke, München 2011. 13 Vgl. KD IV 2, Zürich 1955, 592 ff. 14 So hat einst, in dunkler Zeit (1940/41), in besonders erhellender Weise der große Niederländer Kornelis Heiko Miskotte das biblische „Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin“ (1 Petr 12,16; Lev 11,44 f. u. ö.) aufnehmen können (vgl. K. H. M., Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen [Baarn 1941; 4. Aufl. 1971]. Aus dem Holländischen übers. u. hg. v. Hinrich Stoevesandt, Neukirchen 1976; Kap. 10 „Heiligung“).
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So gesehen, ist für mich auch der große Prediger, Kirchenmann und Reformer aus der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert nach Christus, Johannes mit dem Beinamen „Goldmund“, ohne jede Frage ein „Heiliger“, wenn auch gewiss kein Ideal‑ oder Übermensch, demgegenüber sich jegliche Kritik verböte.15 Und es ist der beherrschende Eindruck, den ich aus zahlreichen Veranstaltungen an Universitäten und in Kirchengemeinden, aber auch aus dem Echo auf einschlägige Veröffentlichungen im letzten Chrysostomusjubiläumsjahr, anlässlich der 1600. Wiederkehr des Todestages des Heiligen am 14. September 2007,16 gewonnen habe, dass ich damit auf viel Verständnis gestoßen bin! Warum sich mir in langen Berufsjahren als Universitätslehrer diese Überzeugung herausgebildet und gefestigt hat, lässt folgende Auswahl von Chrysostomosstudien, Vorträgen und Aufsätzen zu Weg, Wirken und Wirkung des „Goldmundes“, wie ich denke, zur Genüge erkennen. Es ist mir eine ganz große Freude, dass als ein Echo auf meine zahlreichen Besuche bei theologischen Fakultäten in Rumänien, vor allem in Siebenbürgen, seit 1981 und die dabei gehaltenen Vorlesungen und Seminare, die Idee zu dieser Aufsatzsammlung geboren wurde, und zwar in der orthodoxen theologischen Fakultät zu Sibiu-Herrmannstadt, mit der mich unvergessliche Erinnerungen an christliche Gemeinschaft in dunkler Zeit auf immer verbinden. Der vormalige Dekan, Professor Dr. Dorin Oançea, spielt darin – neben dem Altrektor und ‑dekan Professor Dr. Konstantin Voicu – eine wesentliche Rolle. Ihnen und meinem „Schüler“, Dr. Daniel Buda, ist es hauptsächlich zu verdanken, dass der Plan gefasst und seine Verwirklichung energisch vorangetrieben wurde. Es hat Herrn Dr. Buda viel Zeit und Kraft gekostet, die Aufsätze mit ihren z. T. überbordenden (aber für den akademischen Gebrauch unentbehrlichen) Fußnoten 15 Das ist also ein deutlich anderes „Heiligen“-Verständnis, als es im Für und Wider der kontroversen Chrysostomusbilder in der frühesten Geschichtsschreibung im Schwange war; vgl. dazu Wendy Mayer, The Making of a Saint. John Chrysostom in Early Historiographie, in: M. Wallraff / R. Brändle (Hg.), Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters (AKG 105), Berlin 2008, 39–59. Es ist, wie die Verf.in gleich anfangs einräumt, des Kirchenhistorikers Sokrates „eher negatives Porträt“ des „Goldmundes“, das ihn, Sokrates, für sie so besonders interessant mache (40). Das lässt tief blicken, möchte man spontan einwenden. Folgenreicher indes als die Kontroversen der Anfangszeit war m. E., dass der „Goldmund“ in seinem eigenen Wort präsent und lebendig blieb, und zwar nicht auf das Studium in Klosterzellen und ‑refektorien beschränkt, sondern bis in die gottesdienstlichen Lesungen seiner Kirche hinein. Dem dürfte es auch, obwohl es in Frau Mayers Ursachenerforschung gar nicht auftaucht (50: „… the view of John that has prevailed is one that is based almost exclusively on the sympathetic picture promoted either by Johnites [sic!] themselves or by authors writing about John who were swayed by the latter’s [sic!] version of events“), hauptsächlich zuzuschreiben sein, dass sich das besonders von Sokrates vermittelte negative Bild auf Dauer nicht behauptete. Und an ihm, dem „Chrysostomusbild“, wie es aus dem Corpus seiner Schriften selbst zu gewinnen ist, dürften erst recht heute die Entscheidungen fallen (müssen). Vgl. zum Methodendisput mit W. M. auch das „Postscriptum 2012“ in Kap. IV (u. S. 59–66). 16 Wie etwa meinen Beitrag zum Pfarramtskalender 57 (2007), 9–25.
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ins Rumänische zu übersetzen. Hoffentlich werden viele Leserinnen und Leser in Rumänien seine Mühen zu schätzen wissen. Meinerseits kann ich ihm nur ein herzliches „Vergelt’s Gott!“ zurufen. Ob es freilich eine gute Idee war, dieselbe Auswahl von Aufsätzen, in durchgesehener und teilweise aktualisierter Fassung, auch in deutscher Sprache vorzulegen, müssen andere beurteilen. Ich gestehe aber offen, dass ich die diesbezügliche Anregung von Herrn Kollegen Markschies, der die Freundlichkeit besaß, auch ein Geleitwort zu diesen Studien beizusteuern, mit zunehmender Freude aufgenommen und in die Tat umgesetzt habe. Gedankt sei schließlich den beiden Mitherausgebern der STAC, den Herrn Kollegen Martin Wallraff (Basel) und Christian Wildberg (Princeton), dass sie der Aufnahme meiner Studien in diese angesehene Reihe zugestimmt, sowie dem Verlag, speziell Herrn Dr. Henning Ziebritzki, dass sie das Risiko der Veröffentlichung auf sich genommen haben. Heidelberg, Pfingsten 2012.
Adolf Martin Ritter
Abstract The reason to start this book, instead of a traditional preface, with some reflections on a protestant way of honouring or commemorating ‘saints’ (cultus sanc‑ torum) was a question of Daniel Buda, when preparing this collection of Chrysostom studies in his native language; he asked me if I would agree when he, the translator, would speak as he is used to do as an orthodox Roumanian, namely of “Sfântul Ioan Gură de Aur” (“Saint John Chrysostom”). I answered, yes, do it; it is important in my eyes, because it enables us to bring up that protestantism is much more than a series of deficits. But, I should have the chance to explain, quite briefly, why I accepted his linguistic usage, in order to avoid misunderstandings among those who don’t know me. It seems to be agreed that protestants – one of their ‘typical protestant’ defi‑ cits – don’t have and accept saints. But this is in my eyes, as a Lutheran, a – widely held – error; cf. Confessio Augustana, the most important Lutheran confessional writing, article XXI, which I am inclined to interpret in the light of the Matthean beatitudes (Matth.5). Saints are in my eyes primarily “helpers of ” our “joy” (cf. 2 Cor. 1,26), making it easier for us to believe, to hope, to love, persons like John Chrysostom, although he possibly was not – throughout and always, at least – a model, an ideal character and surely not a superman. “Wir seind pettler (we are beggars), hoc est verum (that’s the truth)” (M. Luther).17 17 Vide
supra, n. 10.
II.
Ankündigung eines Arbeitsprojektes: „Charisma im Verständnis des Joannes Chrysostomos und seiner Zeit“* Ich bin dabei, eine Arbeit fertigzustellen mit dem Thema: „Charisma im Verständnis des Ioannes Chrysostomos und seiner Zeit“. In Ergänzung zu einem Forschungsauftrag der Kommission für Laienfragen des Weltrates der Kirchen (Genf), dessen Ergebnis inzwischen publiziert worden ist,1 geht es in dieser neuen Arbeit darum festzustellen, inwieweit das paulinische Zeugnis von der Kirche als dem aus mannigfaltigen und einander ergänzenden Charismen und Charismatikern bestehenden „Leib Christi“ (s. bes. Röm 12 und 1 Kor 12) in der Vätertheologie verstanden und aufgenommen worden ist. Wie Sie wissen, ist die Ekklesiologie namentlich der griechischen Väter noch ein merkwürdig wenig erforschtes Gebiet. Ebenso ist in den bisherigen Arbeiten zum Paulusverständnis in der Alten Kirche (Eva Aleith2; Karl Hermann Schelkle3; Maurice F. Wiles4 u. a.) dies Thema zumeist völlig ausgespart worden. Diese Lücke ein Stück weit schließen zu helfen, ist die Absicht, die ich in meiner Arbeit verfolge. Zugleich bildet sie in gewisser Weise eine Fortsetzung der Monographie meines verehrten Lehrers Hans Freiherrn von Campenhausen über „Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten“.5 Soweit man sich bisher in der Forschung überhaupt mit dem Charismaverständnis in der Alten Kirche beschäftigt hat, ist man entweder – so vor allem in den Studien zur Charismatik im Mönchtum6 – von einem unpaulinischen * Die Ankündigung erfolgte, vor vielen Jahren, im Rahmen von Informationen über in Vorbereitung befindliche Arbeiten auf dem Gregor-von-Nyssa-Kolloquium in Chevetogne (1969) und ist veröffentlicht worden in dessen Akten („Écriture et culture philosophique dans la pensée de Grégoire de Nysse“), hg. v. Margueritte Harl, Leiden 1971, 81–84. 1 Adolf Martin Ritter, Amt und Gemeinde im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte, in : A. M. R. /Gottfried Leich, Wer ist die Kirche? Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in der Kirchengeschichte und heute, mit Geleitworten von Hans Ruedi Weber und Klaus von Bismarck, Göttingen 1968, 303 S. 2 Eva Aleith, Paulusverständnis in der alten Kirche, BZNW 18,1937. 3 Karl Hermann Sohelkle, Paulus, Lehrer der Väter, Düsseldorf 1956. 4 Maurice F. Wiles, The Divine Apostle, Cambridge 1967 5 Tübingen 1953; 2. Auf1. 1963. 6 S. vor allem Alfons Kemmer, CHARISMA MAXIMUM. Untersuchung zu Cassians Vollkommenheitslehre und seiner Stellung zum Messalianismus, Löwen-Rom 1938.
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Verständnis von Charisma ausgegangen, sofern man, der Tendenz der paulinischen Charismaaussagen stracks zuwider, das Schwergewicht auf das Moment des „Übernatürlichen“, sich auf Aufsehen erregende Weise Äußernden legte und den Charismabegriff fixierte auf den Sinn der wunderhaften, fremdartigen Manifestation des Geistes. Oder man hat sich mit einer knappen Bestandsaufnahme und Übersicht zufrieden gegeben und ist dabei unvermeidlicherweise allerlei vorschnellen [82] Generalisierungen verfallen.7 So gilt es etwa als ausgemacht, dass das paulinische Verständnis von Charisma in der Kirchengeschichte bald schon eine einschränkende Auslegung erfahren habe, dergestalt, dass das bis in unsere Zeit hineinreichende fatale Missverständnis der Charismen im Sinne von wunderwirkenden Geistesgaben schon in der Alten Kirche dominiere. Ferner seien die so verstandenen Charismen als privilegium ecclesiae primitivae, d. h. als nur der allerersten, sozusagen noch unausgereiften Epoche der Kirchengeschichte zugehörig betrachtet worden. Was aber an Geistesgaben noch fortlebte, dessen „Fettigkeit“ habe schließlich das institutionelle kirchliche Amt in sich verschlungen. M. a. W.: Charisma – als gegenwärtige Wirklichkeit! – sei seit dem ausgehenden vierten Jahrhundert durchweg als Amtscharisma verstanden worden. Um die Richtigkeit dieser Annahmen zu überprüfen, habe ich es vorgezogen, statt eines erneuten Längsschnitts durch die gesamte patristische Tradition einen sorgsamen Querschnitt durch das Opus eines Hauptzeugen aus der Zeit des ausgehenden vierten und beginnenden fünften Jahrhunderts zu legen und dabei nicht nur die Bedeutung des isolierten Einzelterminus χάρισμα zu registrieren und zu ordnen, sondern ihn auch in seiner Verflochtenheit mit den ihm benachbarten sprachlichen und begrifflich-sachlichen Vorstellungen als Glied eines geordneten Sprach‑ und Wirklichkeitsganzen in seiner damaligen lebendigen Bedeutung sichtbar zu machen. Als besonders „fündig“ erwies sich das Werk des großen Predigers Chrysostomos, das darum auch im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht, eines Mannes also, dessen theologie‑ und dogmengeschichtliche Bedeutung im allgemeinen nicht sonderlich hoch eingeschätzt wird. Als exemplarisch darf etwa das Urteil E. Preuschens in seinem Chrysostomosartikel in Herzog-Haucks „Realencyklopädie“8 gelten. Danach hätte die Dogmengeschichte „keinen Grund, Chrysostomus auch nur ein Kapitel zu widmen; in der Geschichte der praktischen Theologie“ hingegen verdiene er „ein ganzes Buch“! Allein, wenn Dogmengeschichte der alten Zeit nicht einfach gleichbedeutend ist mit Entwicklungsgeschichte besonders der beiden altkirchlichen Hauptdogmen, des trinitätstheologischen und des christologischen, sondern mit G. Ebeling verstanden werden darf oder gar muss als „Auslegungsgeschichte der Hl. Schrift“ im engeren wie weiteren Sinne, 7 S. vor allem Moritz Lauterburg, Der Begriff des Charisma und seine Bedeutung für die praktische Theologie, 1898, 40 ff.69 ff.; ferner etwa noch Urs von Balthasar in: Deutsche Thomasausgabe, Bd. 23, Heidelberg 1954, 253 ff. (Kommentar zu Thomas, S. Th. II 2, qu. 171 ff.). 8 Bd. IV, 1898, 109.
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so dass sie auch u. a. befasst wäre mit der Geschichte der Ekklesiologie, so wird man dies Urteil wohl revidieren oder doch wenigstens modifizieren müssen. Enthält doch das Schrifttum des Chrysostomos einen einzigartigen Reichtum an ekklesiologischen Aussagen. Auch hat er nicht bloß überall „eine kaum zu überbietende Hochschätzung des Apostels Paulus“9 bekundet, sondern sich auch den Inhalt des paulinischen Kerygmas in einem Maße zueigen gemacht wie kaum ein anderer griechischer Kirchenvater. Das aber heißt, dass seine Theologie in stärkerem Maße als die irgendeines seiner Zeitgenossen als eine „Theologie des Wortes“ zu charakterisieren ist. [83] Was nun den Charismabegriff anlangt, so schlägt zwar auch bei ihm das in der Tat in der Tradition seit langem angelegte wunderhaft – enthusiastische Missverständnis immer wieder durch. Gleichwohl gelangt er vor allem von dem paulinischen Gedanken des Ursprungs der Charismen im Geist als dem Lebensprinzip der Kirche her zu einer Bejahung des Charismatischen als einer auch noch gegenwärtigen Wirklichkeit und lässt von daher – entsprechend dem durch und durch aktiven Zug seiner Geistigkeit – seine Verkündigung wie sein Handeln entscheidend bestimmt sein. Auch kennt und anerkennt er selbstverständlich die Existenz eines besonderen, institutionellen und hierarchisch gegliederten kirchlichen Amtes. Aber weil er dieses Amt zutiefst von der Funktion der Wortverwaltung her versteht und seine Autorität im entscheidenden durch das dem Amtsträger zu treuen Händen anvertraute „Wort“ begründet und bedingt sieht, darum kann er es auch mit Paulus eingegliedert und eingebettet sein lassen in den Kosmos der der Kirche insgesamt wie ihren einzelnen Gliedern bestimmten „Gaben“, von denen ein jedes nach Chrysostomos zur οἰκοδομή der Kirche als des „Leibes Christi“ beiträgt, jedes zu deren Vollendung mithilft, ein jedes dient – und gerade auch am χάρισμα διδασκαλικόν, also an der „Lehrgabe“, seinen eigenen unverwechselbaren Anteil hat! Mit dem allen ist nun freilich Chrysostomos nicht einfach ein typischer Vertreter seiner Zeit und ihrer kirchlichen Ideale, als der er zumeist angesehen und immer wieder in Anspruch genommen wird. Dies wird hinlänglich klar durch einen Vergleich mit seinen Zeitgenossen Basileios von Kaisareia, Gregor von Nyssa, Theodor von Mopsuestia, Theodoret von Kyrrhos und Kyrill von Alexandreia, denen der zweite Hauptteil meiner Arbeit gewidmet sein soll. Ich will das nur noch kurz am Charismaverständnis Gregors von Nyssa aufzuzeigen versuchen, der in diesem Kreis wohl am meisten interessiert. Zwar passt Gregor ebenso schlecht wie die übrigen genannten Theologen in das oben skizzierte Schema, nach dem sich die ältere Forschung das Charismaverständnis in der Alten Kirche zurechtgelegt hat. Denn auch bei ihm ist der 9 Eva Hoffmann-Aleith, Das Paulusverständnis des Johannes Chrysostomos, ZNW 38, 1939, 181.
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II. Ankündigung eines Arbeitsprojektes
Charismabegriff keineswegs festgelegt auf den Bereich des Wunderhaften,10 sondern haftet – wie schon bei Origenes11 – ein ungleich stärkeres Interesse an den vergleichsweise nüchternen Charismen des λόγος γνώσεως und des λόγος σοφίας (1 Kor 12,8). Jedoch sind diese Besonderungen und Konkretionen der die Kirche durchwirkenden Geistgnade für ihn nicht etwas grundsätzlich durch die Gesamtheit der Kirchengliedschaft hin Vorkommendes, sondern ereignen sich κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς πίστεως (vgl. Röm 12,8).12 Und das heißt für ihn, dass sie „nach Maßgabe ernstlichen Willens (σπoυδή)“,13 „aufgrund eifriger Bemühung (μελέτη) und der Achtsamkeit (προσοχή)“14 zuteil werden, also, alles in allem, vermutlich nur wenigen vorbehalten sind. Allerdings sind sie für ihn auch nicht notwendig und ausschließlich an [84] das kirchliche Amt gebunden und etwa den charismatischen Kräften der ex opere operato wirkenden Priesterweihe zu verdanken, obwohl Gregor sie im Grunde für jeden Amtsträger als unentbehrlich ansieht, um wirklich „Mund“, „Auge“ und „Säule“ der Kirche sein zu können. Doch wird, wie er verschiedentlich feststellt, die Fülle der „Charismen des Geistes“ nur dem zuteil, der sich „müht“, der den „Aufstieg des Mose“ wagt und erst, nachdem er „in der Tugend erstarkt“ und so von einer Erkenntnis (γνῶσις) zur anderen gelangt ist, sich in den Dienst an den Brüdern begibt. So versteht sich wohl auch der Satz, „dass die Gnade (χάρις [= χάρισμα?]) des Priestertums von Gott (θεόθεν) gewährt wird, (und zwar) denen, die seiner würdig sind bzw. für würdig gehalten werden (τοῖς ἀξιουμένοις)“.15 Allerdings kann Gregor gelegentlich auch der Priesterweihe eine scheinbar magische Wirkung zuschreiben, indem er sagt: „Dieselbe Kraft des [Weihe‑ oder Einsetzungs‑]Wortes (λόγου δύναμις)“, die das Taufwasser heiligt, Brot und Wein zu Leib und Blut des Herrn werden läßt, „macht auch den Priester heilig und ehrwürdig, indem er durch die neue Segenshandlung (sc. nach der Taufe) aus der Gemeinschaft der Menge ausgesondert wird. Eben noch war er einer aus der Menge und aus dem Volk; nun aber wird er mit einem Male zum Wegweiser, Vorsteher, Lehrer (!) und Mystagogen verborgener Mysterien gemacht. Und obwohl er an seinem Leibe oder seinem Aussehen nach nicht weiter verändert, sondern äußerlich scheinbar derselbe ist, der er war, ist er doch nach seiner unsichtbaren Seele zum Besseren verwandelt (μεταμορφωθεὶς πρὸς τὸ βελτίον)“.16 Doch wird man diese vereinzelte Aussage nicht überfrachten und isoliert betrachten dürfen, wenn sie auch 10 Vgl
immerhin Vit Macr (GNO VIII, 1,414); in s ord (GNO IX, 1,337 f.).
11 S. c. Cels. III, 46 (GCS Orig. 1,242 f.); VI, 13 (GCS Orig. 2,83); hom in Ierem 8,5 (GCS Orig.
3,60); in ev Joh II, 24 (GCS Orig. 4,81); XIII, 53 (282); XX, 32 (369); de princ I, praef, 3 (GCS Orig. 5,9); 3,8 (61); in ev Mt XV, 37 (GCS Orig. 10,46). 12 Vit Macr (GNO VIII, 1,414). 13 In cant cant, or IX (GNO VI, 270). 14 Ebenda (268). 15 De vit Moys I (GNO VII, 1,30,14 f.). 16 In diem lum (GNO IX, 1,225 f.).
Charismaverständnisse
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einmal neu zu Bewußtsein bringt, welche Spannweite Gregors Denken aufweist, welche (scheinbaren oder wirklichen) Disparatheiten es aushält, Spannungen, die auch der Interpret Gregors zu respektieren und – stehen zu lassen hat. In eine ganz andere Richtung weist die im Verlauf dieses Kolloquiums schon mehrfach angesprochene Rede In suam ordinationem, die, ohne auf eine Amtsgnade oder dergleichen zu reflektieren, in die Bitte um den Geist als den Spender der Charismen mündet. Ich begnüge mich mit diesem Hinweis und verweise im übrigen auf die Analyse dieser Rede in meinem im vorigen Jahr erschienenen Aufsatz, auf den ich verschiedentlich angesprochen wurde.17 Von da aber ist es nur ein kleiner Schritt zu De instituto christiano, jener „Umschrift“ des „Großen Briefs“, in der sich der Verfasser u. a. die Ansicht zueigen macht, dass „eifervolles Beten (ἡ περὶ τὴν εὐχὴν σπουδή) große Gaben zuteil werden (μεγάλα χαρίζεται) und den Geist (als Spender der Charismen) selbst in den Herzen wohnen läßt“.18 Wie mir überhaupt – aus inhaltlichen Gründen – kein Anlaß zu bestehen scheint, diese Schrift Gregor abzusprechen. Doch ist diese in letzter Zeit vor allem von Jean Daniélou vertretene Hypothese keinesfalls a limine abzuweisen, sondern verlangt nach ernsthafter Prüfung.
Abstract This text announced, years ago, my post doctoral project on “Charisma as interpreted by John Chrysostom and his time”, finished in 1970 and published Göttingen 1972. To include it, nevertheless, into the present collection, although the announced study meanwhile has been published long ago, was – like the whole concept and composition of this book – Daniel Buda’s idea. It discloses that my post doc project originally also covered the ecclesiology of the so called “Great Cappadocians”, a plan given up because the results of the inquiry into Chrysostom’s works proved to be unexpectedly rich. The announcement took place in the course of informations on “works in progress” during the (first) International Gregory of Nyssa Colloquium in Chevetogne 1969 (vide: Écriture et culture philosophique dans la pensée de Grégoire de Nysse, ed. Marguérite Harl, Leiden 1971, 81–84). To present it here, too, has the great advantage for the audience that it possibly serves in a way as a locum tenens of the above mentioned monograph (Ritter, Charisma) and illustrates, to some extent at least, the starting point and background for a lot of discussions in these STUDIA CHRYSOSTOMICA as well as the ‘progress’ of my thinking during the last four decennies, referring the “golden mouth” and the chances and difficulties to understand him. 17 Adolf Martin Ritter, Gregor von Nyssa „In suam ordinationem“. Eine Quelle für die Geschichte des Konzils von Konstantinopel?, ZKG 79, 1968, 308–28; hier: 300 f. 18 De inst christ (GNO VIII 1,80).
III.
Erwägungen zum Antisemitismus in der Alten Kirche: Joannes Chrysostomos’ „Acht Reden wider die Juden“* Wenn ich Sie bitten möchte, mich im folgenden in eine ferne Vergangenheit zu begleiten, dann bin ich Ihnen dafür wohl eine Begründung schuldig. Gehört doch zu den Kennzeichen unserer Zeit auch jene vielbeschworene Geschichtsmüdigkeit, wie sie zwar ganz unterschiedlichen Erklärungen und Bewertungen zugänglich, als Tatsache aber von niemandem im Ernst zu bestreiten ist. So wäre es wohl auch für Sie von nur geringem Reiz, wenn es im folgenden lediglich darum ginge zu versuchen, irgendein Häuflein „Staub vom Staube“ zu leibhafter Gegenwart wiederzuerwecken. Ich will es mir versagen, zu diesem Phänomen der Geschichtsmüdigkeit, der zunehmenden „Distanzierung des Menschen von der historischen Sphäre“ oder wie immer man es umschreiben mag, an dieser Stelle urteilend Stellung zu nehmen; zu fragen, ob es etwa nur als Verfallserscheinung zu beklagen oder aber als in der Logik der gesellschaftlichen Dynamik liegend uneingeschränkt positiv zu bewerten oder doch wenigstens schlicht hinzunehmen sei.1 Statt dessen sei an eine andere, m. E. ebenso unbestreitbare, Tatsache erinnert, nämlich daran, dass es nach wie [72] vor ganz elementare Erfahrungen von Geschichtlichkeit gibt, die wie von selbst den Blick auch in die Vergangenheit lenken. Die stärksten Impulse zu solcher Rückfrage an geschehene Geschichte gehen wohl von negativen Er* Zuerst veröffentlicht in: Bernd Moeller/Gerhard Ruhbach (Hg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien (Festschrift für Hans von Campenhausen), Tübingen 1973, 71–91 (wonach hier zitiert wird); wieder abgedruckt in: Adolf Martin Ritter, Charisma und Caritas. Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche, hg. v. Angelika Dörfler-Dierken u. a., Göttingen 1993, 13–30. – Es handelt sich um die überarbeitete Fassung der Probevorlesung (vom 6. Nov. 1970) im Rahmen meines Göttinger Habilitationsverfahrens. Wenn ich sie nun innerhalb dieser Sammlung von Hans von Campenhausen gewidmeten Arbeiten veröffentliche, so in der Hoffnung, dass sie über ihre ursprüngliche Abzweckung hinaus geeignet sei, sowohl ein Zeichen der Dankbarkeit zu sein für das bei dem Heidelberger Lehrer Gelernte, als auch einen Beitrag zu leisten zu der die darin vereinigten Aufsätze zusammenhaltenden Frage nach dem „Bleibenden in der Kirchengeschichte“, die sich ja schwerlich völlig losgelöst betrachten lässt von der heutzutage vielfach mit Ungestüm in den Vordergrund drängenden Frage nach der „Realbilanz“ der Kirchengeschichte. 1 Vgl. dazu etwa die bei Reinhard Wittram, Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte. Sechs Vorlesungen zur Methodik der Geschichtswissenschaft und zur Ortsbestimmung der Historie, Göttingen 1969 (KVR 297/298/299), 7–24, zitierten und diskutierten Stimmen.
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fahrungen aus wie beispielsweise der politischen und moralischen Katastrophe, von der wir Deutsche herkommen. Hier stellte und stellt sich, 25 Jahre danach, noch immer die Frage, wie es zu diesem Zusammenbruch, wie es nicht zuletzt zu dem mörderischen Antisemitismus hat kommen können, der wohl die tiefste Schmach unserer Volksgeschichte ist. In die Nachfrage nach den geschichtlichen Wurzeln des Judenhasses ist längst auch die Geschichte des Christentums einbezogen worden; und das völlig zu Recht! Gewiß ist der Antisemitismus älter als das Christentum und ist der nationalsozialistische Rassenwahn mit dem Ziel einer planmäßigen Ausrottung des Judentums wohl nur auf dem Hintergrund der faktischen Entchristlichung des öffentlichen Lebens denkbar gewesen. Allein, dass mit der Erhebung des Christentums zur Reichsreligion in der Spätantike ein besonders dunkles Kapitel im Buch der jüdischen Leidensgeschichte aufgeschlagen wird, ja dass der „mörderische Totalitarismus moderner nationalistischer Ideologien und gerade auch des Nationalsozialismus … in gewisser Weise strukturell vorgebildet“ ist „in der zeitweiligen totalitären Einheit von christlicher Kirche und Staat“,2 das unterliegt leider nicht dem geringsten Zweifel. Damit aber wird das Rätsel des Antisemitismus im Grunde nur um so größer. Denn wie ist es zu verstehen, dass, um die Worte des berühmten, vielfach Papst Johannes XXIII. zugeschriebenen, Bußgebetes aufzunehmen, viele, viele Jahrhunderte der Blindheit die Augen der Christen bedeckten, so dass sie die Schönheit Seines auserwählten Volkes nicht mehr sahen und in dessen Gesicht nicht mehr die Züge ihres erstgeborenen Bruders wiedererkannten, dass sich vielmehr das Kainszeichen auf ihre Stirne heftete, dass jahrhundertelang Abel in ihrer Mitte darniederlag in Blut und Tränen, weil sie Seine Liebe vergaßen?3 Wie ist es zu verstehen, dass der antike Antisemitismus im Christentum, der „Religion der Nächstenliebe“, in „vollem Umfang übernommen“, ja sogar „durch christliche Motive noch verstärkt und im Mittelalter“ vollends „zu Orgien gesteigert“ werden konnte?4 Dieser Frage haben sich in jüngster Zeit auch allerlei „terribles simplifi[73] cateurs“ angenommen, die glauben machen möchten, dass das Problem des christlichen Antisemitismus nur auf den ersten Blick ein wirkliches Problem darstelle. Es kläre sich rasch auf, wenn man bedenke, „dass alles, was die neue Religion davor bewahrte, restlos im Heidentum aufzugehen, ja von den Juden 2 So Karl-Heinrich Rengstorf/S. von Kortzfleisch in der Einführung in das von ihnen herausgegebene Handbuch: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, 2 Bde., Stuttgart 1968/70, hier: Bd. I, 16. 3 Zum Wortlaut vgl. etwa den Vorspruch zu Friedrich Heer, Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler, München usw. 1967. 4 Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte von den Anfängen his zu Pius XII., Stuttgart (1962) 2. Aufl., 1964, 442 f.
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stammte, die sich von dem plötzlich christlichen Charakter ihres Glaubens begreiflicherweise nicht überzeugen ließen.“5? Oder man möchte eher „die ungeheuren … inneren, verdrängten Anstrengungen“ für die Ausbrüche christlichen Judenhasses verantwortlich machen, deren es bedurfte, „um an die Stelle des Menschen Jesus, des Juden Jesus, den Gott zu setzen“. M. a. W. seien es die verdrängten Zweifel der Orthodoxen an der Gottheit des Juden Jesus gewesen, die an seiner „ungläubigen“ Sippe, den Blutsverwandten des Mannes aus Nazareth bestraft werden mussten, ein Vorgang, der etwa in der Sozialpsychologie Th. W. Adornos als „Extrapunitivität“ bezeichnet wird. Dagegen habe der „menschliche“ Christus der Arianer sichtlich viel weniger Konfliktstoff in den Seelen gesammelt.6 – Nicht, um die Diskussion hierüber abzuwürgen, sondern im Gegenteil, um sie gerade offenzuhalten, sei hier die Gegenfrage gestellt, ob denn die Ratgeber des Konstantinssohnes Konstantius, der erste drakonische Maßnahmen auch gegen Juden ergriffen zu haben scheint,7 etwa Orthodoxe gewesen seien; ob der bedeutende ‚Arianer‘theologe Maximin nicht ebenso sein Adversus Iudaeos verfaßt habe wie seine ‚orthodoxen‘ Kollegen;8 ja, ob die besondere Affinität zwischen Arianern und Juden, auf die hier augenscheinlich abgehoben wird, nicht im wesentlichen eine Erfindung der orthodoxen Ketzerpolemik gewesen sei? [74] Schließlich wird, wie es heutzutage kaum anders sein kann, die „repressive“ christliche Sexualmoral als Erklärungsgrund aufgeboten. Das heißt, dass christlicher Judenhass nichts anderes als Geschlechtshass, als Sexualneid wäre. So verstehe es sich auch, wenn immer wieder gerade Mönche die bitterbösesten Feinde der „fleischlichen“, „lüsternen“ Juden und die Anführer der Judenpogrome gewesen seien.9 – Als ob fanatisierte Mönchshorden nicht an Krawallen aller Art 5 Deschner (wie Anm. 5), 443; ähnlich problemlos stellen sich die Dinge fur Joachim Kahl, Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott, Reinbek bei Hamburg 1968 (rororo aktuell 1093), 34 ff., dar. 6 Heer (wie Anm. 4), 66 f; vgl. auch 23 f. Ähnlich auch etwa James Parkes, Rome, Pagan and Christian, in: Herbert Loewe (Hg.), Judaism and Christianity, II: The Contact of Pharisaism with other Cultures, London 1937 (Nachdr. New York 1969), 113–144 (hier: 138 f). Vgl. dagegen u. a. Ernst Ludwig Ehrlich, Paulus und das Schuldproblem, erläutert an Römer 5 und 8, in: Willehad Paul Eckert/Nathan Peter Levinson/Martin Stöhr (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge, München 1967 (ACJD 2), 44–49, hier: 49: „Der in den Evangelien geschilderte Jude Jesus hat je und je, entzündet an der polemischen Darstellung in den Evangelien, zur Judenfeindschaft Anlass gegeben: Das Verwandte sollte gegen die Verwandten ausgespielt werden. Der von Paulus geglaubte hellenistische himmlische Christus hingegen, Quelle alles christlichen Heiles, bot zur Judenfeindschaft keinerlei Anlass. Diese Vorstellung hat, und das ist ein völlig legitimer Vorgang, zur eigentlichen Entfremdung zwischen Christen und Juden gefiihrt, weil hier der Bruch total ist, zwei verschiedene Religionen stehen sich gegenüber.“ 7 Vgl. Cod.Theod. XVI, 8,1.6; 9,2, und dazu Jean Gaudemet, L’église dans l’empire romain (IVe–Ve siècles), Paris 1958 (HDIEO 3), 623 ff. 8 Vgl. dazu Michel Meslin, Les Ariens d’Occident 335–430, Paris 1967 (PatSor 8), 365 ff. 9 Heer (wie Anm. 4), 68; vgl. aber auch etwa Marcel Simon, Verus Israel. Étude sur les
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führend beteiligt gewesen wären, von denen uns die alte und die mittelalterliche Kirchengeschichte berichten! Auch wäre, was die Vieldeutigkeit der angesprochenen Phänomene illustrieren mag, z. B. zu prüfen, ob nicht „der Hauptgrund, weshalb die antijüdische Leidenschaft … gerade von den Mönchen geschürt werden konnte“,10 weniger in deren asketischem Ideal als darin zu suchen sei, dass diese einstmals die Hauptträger der christlichen Mission waren, m. a. W., ob nicht eher als die sprichwörtlich „große Kinderfreudigkeit“ (Kötting) der Juden ihre Resistenz gegen christliche Bekehrungsversuche den Stein des Anstoßes bildete. In jedem Falle aber dürften Ereignis und Aussage noch immer der eigentliche Bereich geschichtlichen Lebens sein11 und am ehesten verlässliche Erkenntnis vermitteln. Dagegen lassen „Motivforschung“ und „entlarvende Psychologie“, zumal wenn sie so stümperhaft und grobschlächtig betrieben werden wie in einer gewissen eilfertigen Publizistik, aus der Welt der Geschichte nur zu leicht einen Tummelplatz von Neurotikern werden. Dann aber wird man auch bei der Nachfrage nach Motiven und Formen des christlichen Antisemitismus sich vor allem an die Aussagen der in Betracht kommenden geschichtlichen Gestalten selbst halten, diese Aussagen – so leidenschaftslos wie möglich – „aus ihren geschichtlichen Zusammenhängen in ihrer ganzen Breite zu erheben“ suchen „und in Verbindung damit in Rechnung“ stellen müssen, „wie weit solche“ scheinbar oder wirklich antisemitischen „Äußerungen an ihrem Ort vor allem für die eigene Gruppe bestimmt gewesen sind, und zwar zu ihrem Schutz gegen Verwirrung oder gar Abfall und zu ihrer Erhaltung und Festigung“.12[75] Wir richten diese Frage in der Folge an einen Mann der Alten Kirche, der gemeinhin, selbst bei so urteilsfähigen Leuten wie dem Althistoriker Joseph Vogt und dem um die Erforschung des spätantiken Judentums und seiner Beziehungen zum Christentum oder, besser, zu den verschiedenen Christentümern hochverdienten Straßburger Religionsgeschichtler Marcel Simon, als „der markanteste Repräsentant des kirchlichen Antisemitismus“13 gilt, in dessen „Reden wider die Juden“ „die Judenfeindschaft auf der Kanzel … einen Höhepunkt“ erreiche.14 relations entre chrétiens et juifs dans l’empire romain (135–425), 2. Aufl., Paris 1964, 251 f; Bernhard Kötting, Die Entwicklung im Osten bis Justinian, in: Kirche und Synagoge (wie Anm. 3), I, 136–174 (hier: 137). 10 Kötting (wie Anm. 10). 11 Vgl. Hermann Doerries, Konstantinische Wende und Glaubensfreiheit, in: ders., Wort und Stunde, I: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966, 1–117 (hier: 62, Anm. 103 a). 12 So das Nachwort der Herausgeber zu: Kirche und Synagoge (wie Anm. 3), II, 712. 13 Marcel Simon, T. 2, Kap. 5: Le judéo-christianisme, in: M. S./André Benoit, Le judaisme et le christianisme antique d’Antiochus Epiphane à Constantin, Paris 1968 (NC[C] 10), 272, Anm. 2; vgl. auch Ders., Verus Israel (wie Anm. 10), 256.262.488. 14 Joseph Vogt, Kaiser Julian und das Judentum. Studien zum Weltanschauungskampf der Spätantike, Leipzig 1939 (Morgenl. 30), 71.
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Auch hat er, woran für unsere Zwecke viel gelegen ist, neben diesen Reden ein für einen altkirchlichen Theologen ungewöhnlich reichhaltiges literarisches Erbe hinterlassen. Endlich verdient er darum unser besonderes Interesse, weil er nicht nur zu den anziehendsten Gestalten der Kirchengeschichte, sondern auch zu denen zählen dürfte, die am ehesten etwas davon begriffen haben, was eigentlich „Evangelium“ ist. Ich meine den großen altkirchlichen Prediger Joannes mit dem Beinamen „Chrysostomos“ (d. h. „Goldmund“): Mönch, später fast zwei Jahrzehnte lang Großstadtpfarrer in der zu seiner Zeit drittgrößten Stadt des Römischen Reiches, Antiochien am Orontes, schließlich sogar Residenzbischof von Konstantinopel, womit er also ins Zentrum der hohen, ja „allerhöchsten“ Kirchenpolitik geriet, ehe er als Verbannter elend zugrunde ging. Seine Lebenszeit umspannt die Jahre von ca. 349 bis 407. Was war der Anlaß der chrysostomischen „Judenreden“?15 Veranlaßt im weiteren Sinne sind sie durch die Existenz und religiöse Vitalität einer großen jüdischen Diaspora in Antiochien und seiner Umgebung. Man[76]chem unter Ihnen mag das beim ersten Anhören als befremdlich erscheinen. Entspricht doch dem durchschnittlichen geschichtlichen Bewusstsein die Annahme, dass das Judentum im Gefolge der beiden antirömischen Aufstände unter Vespasian und Hadrian in den Jahren 66 bis 70 und 132 bis 134 nach Chr. sowie des tumultus iu‑ daicus der Jahre 115/17 und deren brutaler Niederschlagung dezimiert worden, dass es fortan zu einem Kümmerdasein verurteilt gewesen und, um mit einer neueren, populärwissenschaftlichen Kirchengeschichtsdarstellung zu reden, „in der Form des Rabbinismus aus dem Kreis der großen Weltreligionen überhaupt“ ausgeschieden sei.16 Selbst die gängigen kirchen‑ und dogmengeschichtlichen Lehr‑ und Handbücher wissen über die Beziehungen zwischen Christentum und Judentum in nachneutestamentlicher Zeit in aller Regel so gut wie nichts mehr zu berichten, sondern betrachten den Weg der alten Kirche fast ausschließlich unter dem Aspekt des Verhältnisses zur griechisch-hellenistischen Kultur.17 In Wahrheit jedoch ist das synagogale Judentum bis weit ins vierte Jahrhundert hinein auch zahlenmäßig ein durchaus ernst zu nehmender Rivale der Kirche 15 Vgl. dazu Carl H. Kraeling, The Jewish Community of Antioch, JBL 51 (1932), 130–160; Marcel Simon, La polémique antijuive de saint Jean Chrysostome et le mouvement judaïsant d’Antioche, Annuaire de l’Institut de Philologie et d’Histoire Orientales et Slaves 4 (1936), 403–421 [Mélange Franz Cumont]; auch in: ders., Recherches d’histoire judéo-chrétienne, Paris usw. 1962 (Études Juives 6), 140–153 (danach zitiert); sowie etwa noch Chrysostomus Baur, Johannes Chrysostomus und seine Zeit, 2 Bde., München 1929/30, hier: I, 273 ff; Hans Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, 4 Bde., 2. Aufl., Berlin 1953, hier: IV, 105 ff; Parkes (wie Anm. 7), 140 ff; Vogt (wie Anm. 15), 69 ff; Glanville Downey, A History of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab Conquest, Princeton 1961, 447 ff. 16 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Urchristentum und alte Kirche. Das Christentum von seinen Anf ’angen bis zum Zerfall des Römischen Reiches, Gütersloh 1964 (EvEnz 3), 40. 17 Vgl. Robert Louis Wilken, Insignissima Religio, Certe Licita? Christianity and Judaism in the Fourth and Fifth Centuries, in: Jerald C. Brauer (Hg.), The Impact of the Church Upon Its Culture. Reappraisals of the History of Christianity, Chicago 1968 (EsDiv 2), 39–66, bes. 66.
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geblieben,18 gerade auch in Antiochien, das zusammen mit seinem syrischen Hinterland schon um die Zeitenwende wohl die stärkste Diaspora außerhalb Palästinas beherbergte. So nimmt es auch nicht wunder, wenn wir davon hören, dass unter Kaiser Julian dem „Abtrünnigen“ die Bemühungen um den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels gerade von hier aus ihren Ausgang nahmen.19 Doch auch deren Scheitern wie das Scheitern Julians überhaupt haben, soviel wir wissen, die Position des antiochenischen Judentums – zunächst wenigstens – nicht ernstlich zu erschüttern vermocht.20 [77] Unmittelbarer Anlaß war jedoch eine seltsame Erscheinung innerhalb der antiochenischen Christengemeinde selbst.21 Offenbar war es in Antiochien gegen Ende des vierten Jahrhunderts noch immer kaum gelungen, die Menge der Taufbewerber im Gefolge von Konstantins Machtübernahme auch im Osten des Reiches voll zu integrieren, zumal die großkirchliche Gemeinde Antiochiens von inneren Wirren zerrissen und während der Regentschaft des ‚arianisch‘ gesinnten Kaisers Valens überdies jahrelang ihrer Kirchen und ihres Bischofs beraubt war. So zählte sich zur Zeit des Chrysostomos wohl die Mehrheit der antiochenischen Bevölkerung nominell zur christlichen Kirche.22 Das aber bedeutete mitnichten, dass alle Christen Antiocheias die Brücken zu ihrer heidnischen Vergangenheit auch wirklich abgebrochen hätten. Wie vielmehr Zauber und Magie nach wie vor eine starke Anziehungskraft ausübten, so auffälligerweise gerade auch das würdevolle Gepränge jüdischer Feste, mit dem „die Kargheit christlicher Festgestaltung“ noch kaum konkurrieren konnte,23 die Ehrwürdigkeit jüdischer Gebräuche, die Heiligkeit der Synagoge als des Ortes, da der „eine Gott“ verehrt und Sein Gesetz proklamiert und aufbewahrt wurde,24 so, wie es bereits der jüdische Historiker Flavius Josephus (geb. 8 n. Chr.) von den heid18 Dies die Hauptthese des grundlegenden Werkes von Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), die sich zu Recht in der Forschung allgemein durchgesetzt hat; vgl. auch ders., Le Judaisme (wie Anm. 14), 212 f. 19 Vgl. dazu vor allem Vogt (wie Anm. 15), 46 ff. 20 Nur, dass sie anscheinend bald nach 363 die im Stadtteil Kerateion gelegene Synagoge, in der die als wundertätig geltenden Gebeine der Makkabäer aufbewahrt wurden, an die Christen haben abtreten müssen: s. Simon, Recherches (wie Anm. 16), 146 ff, sowie etwa noch Walther Eltester, Die Kirchen Antiochiens im 4. Jahrhundert, ZNW 36 (1937), 283 ff. Der Vorgang selbst liegt für uns im Dunkeln, so dass sich nicht mehr ausmachen lässt, ob dabei „primitives Vergeltungsdenken“ (Kötting [wie Anm. 10], 153) ausschlaggebend war oder ob es darum ging, die Hauptattraktion der jüdischen Gemeinde von Antiochien auszuschalten, d. h. das Grab der makkabäischen Märtyrer in den eigenen Besitz zu bringen (so Downey [wie Anm. 16], 445). 21 Vgl. or 1,1 (PG 48,844); 4,1 (871). Dass es sich dabei freilich nicht um ein isoliertes Phänomen, eine antiochenische Besonderheit handelte, hat vor allem Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), 277 ff, gezeigt! 22 Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, II, 4. Aufl., Leipzig 1924, 669; Eltester (wie Anm. 21), 271 mit Anm. 71. 23 Kötting (wie Anm. 10), 159. 24 Vgl. or 1,3 (PG 48,847).
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nischen Antiochenern seiner Zeit bezeugt.25 Ferner erfahren wir, dass auch Christen einen in der Synagoge mit den furchtbaren Verwünschungen der jüdischen Schwurformel geleisteten Eid für besonders unverbrüchlich hielten,26 dass – wie im Mittelalter – Juden als Ärzte gesucht waren und als Bedingung für den Erfolg des Heilverfahrens anscheinend nicht selten wenigstens zeitweilige Beachtung des jüdischen Ritus, speziell die Inkubation vor dem Thoraschrein in der Synagoge forderten.27 Schließlich sollen sich an den jüdischen Herbstfesten des Monats Thishri regelmäßig auch viele Christen beteiligt haben: am Schofarblasen des jüdischen Neu[78]jahrsfestes, an den nudipedalia des „großen Versöhnungstages“, wenn Juden „nackten Fußes“ auf Markt und Straßen zu tanzen pflegten – ursprünglich wohl eine Bußübung, die aber immer mehr den Charakter einer öffentlichen Lustbarkeit angenommen zu haben scheint, nicht nur für die „Außenstehenden“ –, endlich an „Laubhütten“ mit seinem Festjubel und seiner Ausgelassenheit. Auch lebte in Antiochien – trotz der Verbote der Synoden von Arles (314) und Nikaia (325) – der Brauch fort, am Passah der Juden, dem 14. Nisan, Ostern zu feiern und dementsprechend auch, gleichzeitig mit den Juden, die vorösterliche Fastenzeit zu halten.28 Es verging kein Jahr, bis Chrysostomos als neugebackener Presbyter und Hauptprediger der Stadt gegen diese vor allem wohl aus Neugierde und Aberglauben gespeiste „synkretistische“ Strömung29 öffentlich zu Felde zog. Ja, er unterbrach selbst einen angefangenen Predigtzyklus „Über die Unbegreiflichkeit Gottes“, eine Auseinandersetzung mit den sog. „Anhomoiern“, und ließ im folgenden Jahr an einem Märtyrerfest sogar den fälligen Panegyrikus ausfallen, weil der Monat Thishri vor der Türe stand und er es für dringend angezeigt hielt, rechtzeitig vor der Teilnahme an den jüdischen Herbstfesten zu warnen.30 Sein erklärtes Ziel ist es dabei, den „Judaisierern“ unter den antiochenischen Christen mit allem gebotenen Ernst und Nachdruck die für sein Verständnis alles andere als geringfügigen Unterschiede zwischen Christentum und Judentum zu Bewußtsein zu bringen und sie zu einer klaren Entscheidung zu bewegen: entweder Kirche oder Synagoge!31 Und in der Aufforderung an jeden einzelnen unter seinen Zuhörern, sich um die „irrenden Brüder“ zu kümmern, ihnen nachIudaicum II 20,2; VII 3,3. or 1,3 (PG 48,847 f). 27 Vgl. or 1,6 (PG 48,852); 1,8 (855); 8,5 (935). 28 Vgl. dazu vor allem die dritte Rede (PG 48,861–872). 29 So auch u. a. Lietzmann (wie Anm. 16). Kraeling dagegen sieht darin „the survival of a tendency which needs to be kept in mind continually if we would understand the development in the whole of the pre-Constantinian period“ (wie Anm. 16, 157). 30 Zur Datierung der Reden s. bes. Hermann Usener, Religionsgeschichtliche Untersuchungen, T.1: Das Weihnachtsfest, Kap. I–III, Bonn 21911,235 ff, mit den Ergänzungen und Korrekturen von Hans Lietzmann, ebd., 379 ff, sowie Eduard Schwartz, Christliche und jüdische Ostertafeln, Berlin 1905 (AGWG.PH, NF 8/6), 169 ff. 31 S. vor allem or 4,3.4 (PG 48,875 f). 25 Bellum 26 Vgl.
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zugehen, samt bemerkenswerten Ratschlägen, wie dies zu bewerkstelligen sei, klingt der ganze Predigtzyklus aus;32 er ist also gar nicht, wie der eingebürgerte Titel Ad[79]versus Iudaeos vermuten läßt, „gegen die Juden“, sondern gegen „judaisierede“ Christen gerichtet.33 Die Argumente, mit denen Chrysostomos dies „Entweder – Oder“ plausibel zu machen sucht, sind alles andere als originell. Sie entstammen so gut wie ausnahmslos dem Arsenal der traditionellen antijüdischen Apologetik, ob es sich nun um die These der Verwerfung Israels infolge seiner Ablehnung des Messias handelt oder um den „Tatsachenbeweis“ für eben diese Verwerfung aus dem seitherigen Schicksal der Juden, namentlich aus der Zerstörung Jerusalems und, wobei der Redner vor antiochenischem Publikum verständlicherweise besonders ausgiebig verweilt, aus dem gescheiterten Versuch eines Wiederaufbaus des Tempels, oder endlich um die Behauptung, dass – nach der im Alten Testament geforderten Kultzentralisation – mit dem Verlust der heiligen Stätten dem ganzen jüdischen Religionswesen der Boden entzogen sei.34 Doch das gehört eher in die Geschichte der christlichen Apologetik; antijüdische Apologetik aber und Antisemitismus oder Antijudaismus im eigentlichen Sinne haben, wie nicht zuletzt M. Simon eingeschärft hat,35 an sich nichts miteinander zu tun. So ist an dieser Stelle hierüber nicht im einzelnen zu handeln. Nun aber unterscheiden sich die „Judenreden“ des Chrysostomos – anders als sein wohl nur wenig älterer Traktat „Wider die Juden und Heiden, dass Christus Gott sei“,36 der sich völlig in traditionell-apologetischen Bahnen bewegt – von der älteren Apologetik nicht nur darin, dass es sich bei ihnen um wirklich gehaltene Gelegenheitsreden und nicht um mehr oder minder gelehrte Schreibtischarbeit handelt, was schon sprachlich, zumal bei einem so bewussten Stilisten wie Chrysostomos, seine Auswirkung haben musste. Vielmehr scheint der Redner in diesem [80] Falle auch der Macht des Argumentes kein übermäßiges Ver32 Or
8,4–9 (PG 48,932–942); vgl. auch bereits 4,7 (881 f); 5,12 (904); 7,6 (927 f). kann man auch kaum mit Schwartz (wie Anm. 31), 169.178 und vor ihm schon Usener (wie Anm. 31), 239, argumentieren, die dritte der Reden nach der Montfauconschen Zusammenstellung (PG 48,861–872) falle aus dem Rahmen und trage ihren Namen zu Unrecht, da sie nicht gegen die Juden, sondern gegen die sog. Protopaschiten polemisiere. 34 Zu diesem letzteren Argument s. auch beispielsweise bereits Euseb d. e. I 6,38 f (ed. Heikel, GCS 23, Leipzig 1913, 28). 35 S. vor allem Simon (Anm. 10), 165 ff im Vergleich mit 239 ff, und dazu das Postscriptum, 488 ff; vgl. ferner Wilhem Maurer, Kirche und Synagoge. Motive und Formen der Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Laufe der Geschichte, Stuttgart 1953, 21; Dieter Georgi, Der Kampf um die reine Lehre im Urchristentum als Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der an Israel ergangenen Offenbarung Gottes, in: Antijudaismus im Neuen Testament? (wie Anm. 7), 82–94 (hier: 91 ff); Helmut Gollwitzer, Außer Christus kein Heil? (Johannes 14,6), in: Antijudaismus im Neuen Testament? (wie Anm. 7), 171–194. 36 PG 48,813–838. Zur umstrittenen Echtheit und Datierung s. Johannes Quasten, Patrology, III: The Golden Age of Greek Patristic Literature from the Council of Nicaea to the Council of Chalcedon, Utrecht usw. 1966, 468 f, mit weiterer Literatur. 33 So
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trauen entgegengebracht zu haben. Er schätzte die Lage wohl als so gefährlich und die von den Festen und Gebräuchen der Synagoge ausgehende Faszination als so übermächtig ein, dass es ihm nicht genügte, den Verstand der Hörer anzusprechen und i. w. dogmatische Gründe ins Feld zu führen. Vielmehr schien es ihm auch des Appells an die Affekte zu bedürfen. Und je weniger reflektiert der „Synkretismus“ war, dem er sich gegenübersah,37 um so gröberes Geschütz war für ihn anscheinend hier am Platz. So steigert er sich denn in diesen Reden immer wieder zu einer Sprachgewalt nicht nur, sondern auch in einen Ingrimm hinein, wie wir sie sonst so nur noch aus seinem ebenso hartnäckigen wie erfolglosen Kampf gegen die Begeisterung seiner antiochenischen und später auch seiner konstantinopolitanischen Gemeindeglieder für das Theater und die Pferderennbahn, das Hippodrom, kennen, eine ‚Besessenheit‘, die ihn oft genug, selbst an hohen kirchlichen Feiertagen, vor fast leerer Kirche predigen und seiner fast völligen Ohnmacht innewerden ließ. Und in diesem Ingrimm läßt er sich Mal um Mal zu so schonungslosen Anwürfen und jedes erträgliche Maß weit übersteigenden Schmähungen der Juden hinreissen, dass er in der Tat „auch von den großen Judenhassern und Judenmördern des 20. Jahrhunderts wortmäßig wohl nicht, doch tatmäßig übertroffen werden konnte“.38 So schleudert er etwa der Synagoge jene vielzitierte Beschimpfung entgegen: „Nenne einer sie Hurenhaus, Lasterstätte, Teufelsasyl, Satansburg, Seelenverderb, jeden Unheils gähnenden Abgrund oder was immer, so wird er immer noch weniger sagen, als sie verdient hat.“39 Solche Äußerungen wird man nur dann einigermaßen verständlich, wenn auch kaum entschuldbar finden können, wenn man stets das eigentliche Ziel des Redners vor Augen hat; wenn man bedenkt, dass sie sich primär nicht gegen Juden, sondern gegen judaisierende Christen richten, und wenn man schließlich in Rechnung stellt, dass Chrysostomos durch die Schule der antiken Rhetorik gegangen ist. Sein Lehrer war (wohl) kein Geringerer als der berühmte Libanios. Aus dessen Progymnas‑ mata und den darin (Kap. 8 f.) dargebotenen Mustern für die als Unterrichtsgegenstand wohl besonders goutierte und gepflegte Lob‑ und Scheltrede (In[81] vektive) ist das rhetorische Instrumentarium ohne weiteres wiedererkennbar, dessen sich Chrysostomos in den „Judenreden“ unbedenklich bedient. Ich muß darauf verzichten, dies hier im einzelnen vorzuführen. Nur so viel sei gesagt, weil es mir zum Verständnis unbedingt erforderlich zu sein scheint: Chrysostomos, jedenfalls der Chrysostomos der „Judenreden“, teilt mit der Rhetorikschule, aus der er hervorging, die Ansicht, dass sich der, der für etwas zu werben oder vor etwas zu warnen, der etwas zu empfehlen oder von etwas 37 Seiner Darstellung zufolge sind es vor allem Frauen und ungebildeter Pöbel, unter denen dieses Übel grassiert: or 2,3 (PG 48,860 f.); 4,7 (881) – wohl ein Topos, nichts sonst! 38 Heer (wie Anm. 4), 63. 39 Or 6,7 (PG 48,915).
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abzuraten bestrebt ist, selbst um die beabsichtigte Wirkung bringt, wenn er sich zwischen Lob und Tadel allzusehr um Differenzierungen, Übergänge und Nuancierungen bemüht. Dementsprechend verfährt er – wie in anderen Werken seiner Frühzeit, besonders in seiner großangelegten Werbeschrift für die mönchische „Lebensweise“, die er geschickt als Verteidigung „Wider die Feinde des Mönchtums“ stilisiert, oder in seinem Lobpreis der freiwilligen Ehelosigkeit, dem Enkomion De virginitate – so auch hier. Damit soll nicht behauptet werden, dass wir die „Judenreden“ nur als rhetorische Stilübung zu betrachten und ihre Aussagen daher nicht sonderlich ernst zu nehmen hätten. Ganz im Gegenteil ist es Chrysostomos vermutlich bitterer Ernst gewesen mit seinem Kampf gegen Indifferenz und Lauheit als die gefährlichsten Feinde jeder tieferen christlichen Mission, mit seinem Bemühen um Stärkung des kirchlichen Bewusstseins, um „Selbstfindung“ der bislang höch stens oberflächlich christianisierten, „judaisierenden“ Geschwister. Aber ebenso sicher scheint es mir zu sein, dass aus diesen Reden nicht ohne weiteres Rückschlüsse gezogen werden dürfen auf seine Einstellung zum Judentum selbst. Genausowenig, wie es angängig wäre, aus seiner Protreptik für das Mönchtum seine Auffassung von den Möglichkeiten und Aufgaben des Christseins inmitten der „Welt“ oder aus seinem Enkomion der „Jungfräulichkeit“ sein Verständnis von Ehe und Sexualität abzuleiten. Verlangt doch die rhetorische Konvention, dass die Alternative zu der jeweils propagierten Entscheidung nach Kräften und allen Regeln der Kunst herabgewürdigt wird. Dass dem so ist, lehrt uns meines Erachtens ein Blick auf das übrige Schrifttum des Chrysostomos zur Genüge. Leider haben die vielen Berufenen und Unberufenen, die sich bisher zum angeblichen oder wirklichen Antisemitismus des Chrysostomos geäußert haben, auf eine solche Kontrolle der Richtigkeit ihrer Interpretation der „Judenreden“ weitgehend verzichtet. Wer so viel geschrieben hat wie Chrysostomos, der hat eben erfahrungsgemäß kaum eine Chance, wirklich gelesen zu werden! – Ma[82]chen wir uns dies an einigen Hauptpunkten klar und ziehen dann unsere Schlüsse: 1. Wenn sich Chrysostomos in den „Judenreden“ des – mehr als bedenklichen! – Verfahrens bedient, alles, was im Alten Testament an Tadel und Drohung enthalten ist, ausschließlich auf die Juden zu deuten, hingegen jede Einladung zur Umkehr und erst recht jedes Wort der Verheißung für die Christen zu reklamieren, so scheut er sich ansonsten keineswegs, etwa vom „Adel des Judentums“ ( Ἰoυδαϊκὴ εὐγένεια),40 seinem heilsgeschichtlichen Vorrang zu sprechen41 und, was noch schwerer wiegt, das paulinische Bekenntnis zu dem Gott zu wiederholen, der sich „seine Gnadengaben und seine Berufung nicht gereuen“ 5 in Hebr (PG 63,47 f). hom 69 al 70,1 in Mt (PG 58,647–650); hom 7 in II Cor (PG 61,444); hom 12 (11), 1 in Phil (PG 62,263–265); hom 6,1 in Eph (PG 62,43 f). 40 Hom 41 Vgl.
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läßt (Röm 11,29).42 Gewiss ist er diesem Bekenntnis sachlich schwerlich gerecht geworden. Hat er es doch eher ‚pädagogisch‘ verstanden wissen wollen, als dass er es dogmatisch auszubeuten vermocht hätte. Allein, wo in der Geschichte der christlichen Dogmatik ist Röm 11,29 im Blick auf Israel schon voll aufgenommen worden? Zudem entnimmt er ihm immerhin, dass die ganze Heilsgeschichte nicht auf die Verwerfung der Juden hinauslaufe, und trifft sicherlich das Richtige, wenn er abschließend sagt, es sei das Bekenntnis eines, der liebt, eines, der staunt, nicht eines, der das Ganze durchschaut! 2. Spricht er in den „Judenreden“ und nicht nur in ihnen wiederholt von den Juden als den „Christusmördern“, so lehrt vor allem seine Auslegung der Passionsgeschichte in den wohl nur wenige Jahre später gehaltenen Homilien zum Matthäusevangelium, dass daraus bei ihm kein antisemitisches Kapital geschlagen wird. Vielmehr scheint für ihn in dem Bericht über die Passion Christi eher das Rätsel des Unglaubens Israels auf und kann die Antwort des Hörers oder Lesers nur die Trauer, die Klage darüber sein, dass Israel das ihm angebotene Heil ausgeschlagen und unwirksam gemacht hat. Überdies lasse uns die Passionsgeschichte des unendlichen Abstandes von dem innewerden, dem wir nachfolgen sollen, auf dass wir [83] uns selbst das Urteil sprechen, wenn wir die anfeinden, für die Christus sein Leben hingegeben und denen er noch im Tode vergeben hat.43 3. heißt es zwar in der ersten der „Reden“, dass man die Synagoge und alle, die sich zu ihr halten, hassen müsse, weil sie dem Christuszeugnis Mosis und der Propheten keinen Glauben schenken,44 dass man ihnen gegenüber das Beispiel der Märtyrer nachahmen müsse, die die Juden hassten, weil sie Christus liebten. Denn wie könne einer das Opfer lieben, ohne die Mörder zu hassen?45 Dennoch wird man, meine ich, zumindest starke Bedenken tragen, mit der Chrysostomosliteratur dem „im übrigen so nobelen Patriarchen“ deswegen einen geradezu „furiosen Judenhass“ zuzuschreiben.46 Nicht nur deshalb, weil für ihn solcher Hass, wie wir eben sahen, dem Sinn der evangelischen Passionsgeschichte gerade zuwider wäre, sondern auch deshalb, weil er ebenso gut wie seine modernen 42 Vgl. laud Paul III 1 (PG 50,483 t); hom 17,1.2 in Rom (PG 60,563 ff); hom 35 al 36,4 in Mt (PG 57,411); hom 57 al 58,1 in Mt (PG 58,559) und dazu etwa David Flusser, Die Christenheit nach dem Apostelkonzil, in: Antijudaismus in Neuen Testament? (wie Anm. 7), 60–81, hier: 80: „Es scheint mir sogar, dass es Pauli Worte im Römerbrief waren, welche das Christentum davor bewahrt hahen, dass es nicht zu einer antijudaistischen Religion geworden ist …“. 43 Hom 79 al 80,3.4 in Mt (PG 58,721 f). Aber auch in den „Judenreden“ selbst dient der Hinweis auf die Kreuzigung Jesu durch die Juden außer zur Erklärung ihres seitherigen Schicksals vorab zur Begründung dafür, dass man sie nicht durch sein Verhalten ihnen gegenüber nachträglich ins Recht setzen und ihren Widerstand gegen die christliche Missionspredigt verstärken dürfe: or 1,5 (PG 48,851); 3,5 (870); 6 (871); vgl. auch 8,8 (941). 44 Or 1,5 (PG 48,850). 45 Or 6,1 (PG 48,905). 46 Anne J. Visser, Johannes Chrysostomus als anti-Joods polemicus, NAKG 40 (1954), 193–206 (hier: 193); vgl. auch oben Anm. 14 und 15.
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Kritiker weiß, ja nicht nur weiß, sondern auch immer wieder einschärft, dass der Christ zur Fürbitte für alle Menschen gehalten sei. Wie aber kann man für den beten, den man hasst? Und umgekehrt: wie kann man den hassen, für den man betet? Zu hassen seien niemals Heiden oder Juden, sondern allenfalls ihre „Lehren“ (δόγματα). Denn der Mensch ist Gottes Werk, der Irrtum aber das des Teufels.“47 Auch scheint es mir bemerkenswert zu sein, weil es schlecht zu dem Bild passt, das man sich auf Grund der „Judenreden“ von der Haltung des Chrysostomos gegenüber den Juden zu machen pflegt, dass er in einem Brief an den römischen Bischof Innozenz, in dem er über die skandalösen Vorgänge im Zusammenhang mit seiner vom alexandrinischen „Papst“ Theophilos betriebenen Absetzung als Bischof von Konstantinopel und seiner Vertreibung aus der Stadt und ihrer näheren Umgebung berichtet, unbefangen feststellen kann, dass „wegen des Übermaßes der [84] Frevel nicht nur die trauerten, welche darunter zu leiden hatten, sondern auch die mit uns trauerten, die nicht selbst betroffen waren, nicht die Rechtgläubigen allein, sondern auch … Juden“.48 Entsprechend heißt es in der kurzen Ansprache unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem ersten Exil überglücklich: „Gott sei gepriesen! Das galt damals, als ich von euch getrennt ward: das gilt jetzt, wo ich euch wiedergefunden habe. Denn das eine wie das andere verdanken wir Seiner liebevollen Vorsehung. Seht doch, was die Nachstellungen unserer Feinde zuwege gebracht haben! Sie haben eure Liebe zu mir nur gesteigert und … mir tausend Herzen hinzugewonnen. Vordem liebten mich nur die Meinen, jetzt aber ehren mich auch die Juden …“.49 D. h. doch wohl, dass Chrysostomos in der vieltausendköpfigen Menge, die sich in dem weiten Areal vom Markt bis zur Apostelkirche zusammengefunden hatte, um den Heimkehrer zu begrüßen – obwohl zur selben Stunde Pferderennen abgehalten wurden, wie sich der Redner nicht versagen kann, befriedigt festzustellen! – auch Juden wahrnahm. – Redet so ein Judenhasser? 4. Zu dem für unser Empfinden Unerträglichsten an den „Judenreden“ gehören die schonungslosen Anwürfe gegen die Lebensführung der Juden, ihre pauschale moralische Diffamierung. Der Redner verfährt dabei in der Regel so, dass er Vergleiche, Metaphern vor allem aus prophetischen Gerichtsreden unversehens in Wirklichkeitsurteile ummünzt und diesen dazu noch unumschränkte Gültigkeit zuerkennt.50 So, wenn er aus dem Wort des Propheten Jeremia: „Dein Aussehen war das einer Dirne; du warst schamlos gegenüber allen“ (Jer 3,3 in der 47 Hom 33 in I Cor (PG 61,281 f.); hom 6 in I Tim (PG 62,529–534); vgl. auch pan Phoc 2 (PG 50,700 f); incomprehens 1,6–7 (PG 48,707 f.). 48 Ep Innoc 1,3 (PG 52,533). 49 P redit 1,1 (PG 52,439). 50 So auch Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), 260 f. Dann aber scheint es mir nicht nötig zu sein, zur Erklärung der Beschuldigung der Immoralität das „répertoire antisémite antique“ (250) bzw. das „Reservoir des einfachen Volkes“ (Kötting [wie Anm. 10], 137) zu bemühen.
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Version der LXX) folgert, dass der Aufenthaltsort der von Jeremia Angeredeten, die Synagoge, ein „Hurenhaus“ sei. Ja nicht nur das. Sondern sie sei, demselben Propheten zufolge, auch eine Höhle unreiner Tiere (Jer 7,11), eine Einkehrstätte der Dämonen. Heiße es doch: „Ich habe mein Haus aufgegeben und mein Erbe verlassen“ (Jer 12,7). Wo aber Gott sein Haus aufgebe und sein Erbe verlasse, da werde dieser Ort zur Behausung der Dämonen.51 Ähnlich haarsträubend ist der „Schriftbeweis“ eigentlich nur noch in [85] manchen asketischen Frühschriften, was man sich leicht selbst ausmalen kann, wenn man bedenkt, welcher Rabbulistik und exegetischen Willkür es bedarf, um aus der Bibel Alten und Neuen, aber eben auch Alten Testamentes zu beweisen, dass das ehelose, das weltabgeschiedene Leben die einzig „anständige“ Möglichkeit für den Christen sei. Erst allmählich gewinnt bei Chrysostomos der Respekt vor „Geist und Buchstaben“ der Schrift die Oberhand über die gefährliche Neigung, auch deren Aussagen bedenkenlos rhetorischen Zwecken unterzuordnen. Doch kann das hier nicht vertieft werden. Wir fragen vielmehr: Handelt es sich bei den Ausfällen von Adversus Iudaeos wirklich um persönliche Verunglimpfung „der“ Juden im Stile des bereits aus vorchristlicher Zeit bezeugten vulgären Antisemitismus?52 Sind nicht vielmehr auch diese Schmähungen hier „nur“ Mittel zu dem Zweck, „jene verderbliche Meinung mit Stumpf und Stiel auszurotten“, als seien die Juden zu achten, als seien ihr Gottesdienst und ihr Brauchtum für ehrwürdig anzusehen,53 d. h. als sei zwischen Kirche und Synagoge ein religiöser Kompromiß möglich, denn darum geht es doch hier? Jedenfalls steht Chrysostomos ansonsten nicht an, coram publico rundheraus zu erklären, dass nach seinem Dafürhalten viele Christen in moralischer Hinsicht weit unter den Juden stünden und eigentlich viel schwerere Strafen verdienten als diese. Besäße man, heißt es beispielsweise in einer der Homilien zum Epheserbrief, die Fähigkeit eines Herzenskündigers und unterzöge etwa die festliche Versammlung, die zu Ostern die Kirche bis zum Bersten fülle, einschließlich der Schar der Neugetauften in ihren weißen Kleidern einer peinlichen Musterung, „es würden sich viele Sünden finden, schwerer als die der Juden“.54 Genauso, heißt es an anderer Stelle, wie die Geringschätzung der göttlichen „Berufung“ (κλῆσις) gegenüber nun wahrlich kein jüdisches Privileg sei!55 51 Or
1,3 (PG 48.847). dazu vor allem Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), 239 ff., sowie etwa noch Wilken (wie Anm. 18), 43 ff.63 ff. 53 Or 1,3 (PG 48,847); vgl. ebd. 5 (850); 6,7 (914). 54 Hom 6,4 in Eph (PG 62,47–50); vgl. auch hom 85 al 86,3 in Mt (PG 58,761 f); hom 88 al 89,4 (779–782); hom 10 (9), 4 in Phil (PG 62,250 f). Wie man sieht, bedarf es durchaus nicht des Ausweichens auf andere altkirchliche Autoren, um ein Korrektiv gegen die „virulenten Invektiven“ der chrysostomischen „Judenreden“ ausfindig zu machen (gegen Simon, Verus Israel [wie Anm. 10], 272). 55 Hom 69 al 70,2 in Mt (PG 58,650 f.). 52 Vgl.
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5. steht zwar in Adversus Iudaeos u. a. auch der erschreckende Satz, dass man sich von den Juden abzukehren, sie zu fliehen habe als einen „Schandfleck und eine Pest des gesamten Erdkreises“, als das odium ge[86]neris humani (vgl. 1 Thess 2,15).56 Und doch hätte man angesichts dieser und ähnlicher Äußerungen niemals auch nur in Erwägung ziehen sollen, ob damit etwa Front gemacht werde gegen das friedliche Zusammenleben von Christen und Juden an einem Ort,57 ob, wer so rede, auch nur über ein Mindestmaß an Liebe zu dem Volk, aus dem doch nach Joh 4,22 das „Heil“ gekommen ist, an „evangelistischem Geist“ oder missionarischem Eifer um dies Volk verfüge.58 Denn das müsste sich für den, der auch nur ein wenig mit dem Schrifttum des Chrysostomos vertraut ist, eigentlich von selbst beantworten. Dass das Liebesgebot wie der Missionsbefehl universale Gültigkeit besitzt und auch gegenüber den Juden keine Grenzen kennt, findet sich bei ihm so häufig und eindringlich bezeugt, dass seine Haltung in dieser Hinsicht über jeden Zweifel erhaben ist.59 Diese Stellen dürften zum Bewegendsten gehören, was es diesbezüglich in patristischer Literatur zu lesen gibt. Zwei Auszüge mögen für alle stehen: „ … wenn wir Licht, Sauerteig und … Salz sind (vgl. Mt 5,13.14 u. ö.), dann müssen wir erleuchten und nicht verfinstern, sammeln und nicht zerstreuen, die Ungläubigen an uns ziehen und nicht von uns stoßen. Warum verfolgst du die, die du gewinnen sollst?“ Im alten Bund war es wohl gestattet – gedacht ist wohl an die sog. „Rachepsalmen“ –, die Gottlosen zu hassen, „damit nicht der vertraute Umgang mit ihnen einen Anlass zur Übertretung des Gesetzes biete“ – eine recht treffende Deutung, wie man finden wird! – „… Nun aber, da uns Gott zu einer höheren Stufe der Philosophie hat gelangen lassen und wir über jene Gefahr erhaben sind, heißt er uns, uns zu ihnen zu halten und sie zu trösten; denn sie können uns nicht schaden, wohl aber können wir ihnen nützen …“.60 Und das zweite Zitat: Aus Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter „lernen wir, nicht nur für [87] die Glaubensgenossen Sorge zu tragen, sondern uns um alle zu kümmern. So mache auch Du es, wenn Du jemanden leiden siehst; und forsche nicht weiter nach. Denn er hat ein Recht auf Hilfe, weil er von Leid heimgesucht ist … Wer war ungerechter, sage mir, als die Juden? Gott hat sie (schon zur Zeit des alten Bundes) bestraft, und zwar mit 56 Or 1,6 (PG 48,852); vgl. dazu Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), 249.258, der als nächste Parallele den Brief des Claudius an die Alexandriner anführt, in welchem die Juden als „Pest des Universums“ (καθάπερ κοινήν τινa τῆς οἰκουμένης νόσον) bezeichnet werden. Zum Claudiusbrief s. Marcell Simon, A propos de la lettre de Claudius aux Alexandrins, Bulletin de la Faculté des Lettres de Strasbourg, 1943, 175–183; auch in: ders., Recherches (wie Anm. 16), 20–29. 57 Werner Keller, Und wurden zerstreut unter die Völker. Die nachbiblische Geschichte des jüdischen Volkes, München usw. 1966, 126.128. 58 Arthur Lukyn Williams, Adversus Judaeos. A Bird’s-eye View of Christian Apologiae Until the Renaissance, Cambridge 1935, 25.72; Ferdinand Murawski, Die Juden bei den Kirchenvätern und Scholastikern, München 1925, 52. 59 Vgl. Ritter, Charisma, 98 mit Anm. 38.39. 60 Hom 25 in 1 Cor (PG 61,208).
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vollem Recht. Gleichwohl nahm er sich derer an, die Mitleid mit ihnen hatten; die sie aber verhöhnten, züchtigte er …“.61 6. und letztens ist in der Literatur oftmals die Meinung vertreten worden, als sei von solchen Verunglimpfungen, wie sie in den „Judenreden“ des Chrysostomos laut werden, der Weg nicht weit gewesen bis zur Synagogenbrandstiftung, zum Judenpogrom.62 Gewiss, hätte es Chrysostomos mit einem krawallsüchtigen, antisemitisch verhetzten Pöbel zu tun gehabt,63 so hätten seine Tiraden leicht diese Wirkung haben können. Aber das ist offenbar gerade nicht der Fall gewesen! Im Gegenteil müssen auch unter seinen unmittelbaren Zuhörern nicht wenige die Synagoge keineswegs für so abscheulich gehalten haben, wie sie sich der Redner hinzustellen bemüht. Gibt es doch in diesen Reden genügend Anzeichen dafür, dass sie zwar ein wachsendes Publikum angezogen und als rhetorische Leistung wohl goutiert,64 aber auch von Unmutsäußerungen begleitet wurden, so dass sich Chrysostomos zur Verteidigung genötigt sah, darunter auch zu der Replik, man halte seine Behauptung, das Fasten der Juden sei „unrein“, anscheinend für eine Übertreibung und wundere sich darüber. Allein, so sei es nicht. Vielmehr sei dies eine unausweichliche Konsequenz. Denn was dem Willen Gottes nicht gemäß sei, das sei, ob es sich um Opfer handele oder um Fasten, eben „unrein“, ja das Unreinste von allem.65 Oder: niemand solle seine Feststellung, die Zelte, die jetzt, an Laubhütten, bei den Juden aufgeschlagen würden, seien nicht besser als die Her[88]bergen von Dirnen und Flötenspielerinnen, der Verwegenheit zeihen. Im Gegenteil sei es äußerste Verwegenheit und Gesetzwidrigkeit, nicht so darüber zu denken! Sei doch die Würde jenes einst so erhabenen Festes – des Laubhüttenfestes – dadurch aufgehoben, dass es gegen den Ratschluß Gottes weiterhin gefeiert werde. Die Christen seien es, die das Gottesgesetz am meisten ehren, indem sie es wie einen Greis ruhen lassen, den man mit seinen grauen Haaren ja auch nicht auf den Sportplatz zerre und zur Unzeit zu kämpfen zwinge!66 Aber mit solchen Erklärungen haben sich anscheinend nicht alle Zuhörer völlig zufrieden gegeben. 61 Hom 10 in Hebr (PG 63,88 f); vgl. auch laud Paul III 1 f. (PG 50,438 ff); hom 18,5 in Mt (PG 57,271); hom 79 al 80,3–5 (PG 58,721–724); hom 17,1–3 in Rom (PG 60,563–569). 62 Vgl. Karl Thieme, Spaltung und Spannung vom Apostelkonzil bis zu Abogard von Lyon, in: Wolf-Dieter Marsch/Karl Thieme (Hg.), Christen und Juden. Ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis heute, Mainz 1961, 38–66 (hier: 55), sowie etwa noch Vogt (wie Anm. 15), 72, der in den Ausfällen des Chrysostomos den Beweis dafür sieht, „dass die vorwärtsdrängenden Kräfte im Kampf gegen das Judentum des römischen Reiches nicht nur weltanschaulich, sondern auch organisatorisch von der christlichen Kirche ausgingen“. 63 So nimmt es anscheinend Baur (Anm. 16), 275 an, nach dem die „antiochenischen Zuhörer … begeisterten Beifall für diese Strafpredigt“, die „Judenreden“, spendeten. Allein, woraus ist dies zu erschließen? 64 Vgl. or 5,1 (PG 48,883). 65 Or 2,1 (PG 48,857). 66 Or 7,1 (PG 48,915 f); vgl. auch etwa noch 1,6 (852).
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Jedenfalls hat Chrysostomos das eigentliche „Übel“, das er mit seinen „Judenreden“ zu bekämpfen trachtete, nicht aus der Welt zu schaffen vermocht. Vielmehr sieht er sich selbst am Ende seiner langjährigen Wirksamkeit in Antiochien noch zu der Klage veranlaßt, es gebe immer noch – wie schon zur Zeit des Titusbriefes – Christen, die „jüdischen Fabeln“ anhangen (Tit 1,14), die mit den Juden zusammen fasten, den Sabbat halten und zu deren heiligen Stätten pilgern wie zur sog. „Grotte der Matrone“, der Gedenkstätte für die Mutter der Makkabäerbrüder in Daphne bei Antiochien.67 Erst recht ist uns nichts darüber bekannt, dass es zur Zeit des Chrysostomos in Antiochien etwa zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen wäre oder dass dieser mit dem Gedanken an Gewaltanwendung gegen „Ungläubige“, und sei es „nur“ in Form bürgerlich-rechtlicher Diskriminierung, auch nur gespielt hätte.68 Freilich ist für die Wirkungsgeschichte eines „Wortes“ die „Stunde“ oft genug nichts weniger als entscheidend gewesen, der es ursprünglich angehörte; ist geschichtliche Breitenwirkung immer wieder „gerade durch Simplifikation ermöglicht“ worden.69 Dass die chrysostomischen „Juden[89]reden“ viel zu wenig dagegen geschützt waren, in einer anderen Situation antisemitisch missbraucht zu werden, diesen Vorwurf wird man ihrem Verfasser gewiß nicht ersparen können!70 3 in Tit (PG 62,679). (wie Anm. 10), 152, und Simon, Verus Israel (wie Anm. 10), 267. Davon, dass Chrysostomus „eine andere Stellung bezogen“ habe, als der kaiserliche Gesetzgeber, der den Juden Rechtsschutz bot und Übergriffe untersagte (B. Kötting), ist ebenso wenig etwas bekannt, wie die Behauptung der Nachprüfung standhält, dass sich mit der Ankunft des Chrysostomos in Konstantinopel die kaiserliche Judengesetzgebung zusehends verschärft habe und Arkadius erst zu einer wohlwollenderen Haltung zurückgekehrt sei, sobald der Patriarch aus der Reichshauptstadt vertrieben war (Simon; ähnlich – gleichfalls ohne Belege! – Gaudemet [Anm. 8], 631). 69 Alfred Schindler, Kirchengeschichte – wozu? in: Helge Siemers/ Hans Richard Reuter (Hg.), Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft. Ein Heidelberger Experiment, Göttingen 1970, 140–155 (hier: 142). 70 Solcher Missbrauch liegt bei Ps.-Kaisarios wohl noch nicht vor, obwohl dessen Kompilation möglicherweise in Zusammenhang steht mit den gesetzgeberischen Maßnahmen Justinians, welche „die gesellschaftliche Bewegungsfreiheit und das religiöse Selbstbestimmungsrecht der Juden“ einschränkten (Kötting [wie Anm. 10], 166; vgl. dazu vor allem die Novella Iustiniani 146). Hat doch der Kompilator aus den chrysostomischen „Judenreden“ gerade die harmlosesten Stellen exzerpiert, apologetische Gemeinplätze, wie er sie fast von überall her hätte beziehen können (vgl. die Übersicht hei Rudolf Riedinger, Pseudo-Kaisarios. Überlieferungsgeschichte und Verfasserfrage, München 1969 [ByA 12], 373 ff.). Wohl aber könnte ein Zusammenhang zwischen der Übersetzung der chrysostomischen „Judenreden“ ins Kirchenslawische und den Spannungen zwischen der Kirche der Kiewer Rus und dem chazanischen Judentum bestanden haben, die unter Vladimir Monomach zum ersten uns aus der russischen Geschichte bekannten Pogrom führten (s. dazu Peter Hauptmann, Russische Christenheit und Ostjudentum in: Kirche und Synagoge (wie Anm. 3), II, 639–667 [hier: 640 ff., bes. 642]); zur antijüdischen Polemik in Byzanz s. Hans Georg Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1959,[2. Aufl. 1977], (HAW XII/2,1), 332 f. (mit weiterer Lit.). 67 Hom
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In seinem unmittelbaren Wirkbereich jedoch oder, richtiger, da, wo man auf ihn hörte, ist Chrysostomos, soweit ich zu urteilen vermag, nichts Wesentliches an evangelischer Weisung schuldig geblieben. Ihr allein aber könnte es gelingen, dass auch das Problem des jüdisch-christlichen Verhältnisses eine Lösung findet, die mehr ist als „Toleranz aus Indifferenz“, als schweigendes Gewährenlassen des anderen unter Ausklammerung der Wahrheitsfrage. Wohl ist Chrysostomos nach allem, was wir von ihm wissen, von humaner Achtung des Andersgläubigen stets weit entfernt gewesen und hat jede religiöse Gemeinschaft mit dem Judentum klar und unbedingt bestritten.71 Darin ist er, wie wir heute endlich gelernt zu haben glauben, schwerlich ein Vollhörer der Bibel gewesen! Allein, soll man ihn deswegen wirklich einen Antisemiten oder, wenn man lieber will, da rassische Motive für den jüdisch-christlichen Gegensatz bis in die Neuzeit hinein kaum eine Rolle spielten, einen Antijudaisten nennen? Fest steht in jedem Falle, dass die antijüdische Polemik des Chrysostomos, die gewiß den Anklang an vulgären Antisemitismus keineswegs immer vermieden hat, ausschließlich defensiven Charakter trägt, dass sie „vor allem anderen für die eigene Gruppe bestimmt gewesen“ ist, „zu ihrem Schutz gegen Verwirrung“, ja „Abfall und zu ihrer Erhaltung und Festi[90]gung“,72 und, was fast noch mehr ins Gewicht fällt, dass sich bei ihm mit der Schärfe des Verdikts gegen die Juden als Religionsbekenner der Antrieb verbindet, ihnen gleichwohl die geschuldete Liebe und Nächstenschaft, ja selbst die Hoffnung auf Gottes „unbereubare“ Heilsverheißung (Röm 11,29) nicht vorzuenthalten. Ferner kann Chrysostomos gelegentlich von den Christen zwar als den Siegern der Geschichte reden und keinen Zweifel daran lassen, dass sie es nun seien, die jedermann als „Retter, Beschützer, Vorsteher und Lehrmeister der Stadt“ zu respektieren habe.73 Doch was bedeutet solcher Sieg für den, der tiefer blickt? Nach Meinung des Chrysostomos sicher nicht, dass die Christen sich nun als Werkzeuge der strafenden Hand Gottes fühlen dürften, dass sie nun das Recht hätten, anderen Gewalt anzutun,74 auch nicht den vermeintlichen oder wirklichen „Gotteslästerern“. Deren Lästerungen bringen ja, wie wir in einer der Homilien über das Matthäusevangelium hören, „Gott keinen Schaden; seinetwegen brauchst du dich nicht zu erregen; der Lästerer verwundet nur sich selbst. Seufze vielmehr und weine. Der Tränen wert ist jene Leidenschaft … Sanftmut ist mächtiger als alle Gewalt. Sieh nur, wie der gelästerte Gott mit uns redete im Alten wie im Neuen Bund. Dort sagte er: ‚Mein Volk, was habe ich dir getan?‘ Hier aber: ‚Saulus, Saulus, was verfolgst du mich?‘ … Als die Jünger zu Christus kamen und ihn baten, er möge doch Feuer vom Himmel regnen lassen, da verwies er es ihnen mit Strenge und sagte: ‚Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr 71 Vgl.
Lietzmann (wie Anm. 16), IV, 106 f. Anm. 13. 73 Stat 1,12 (PG 49,32 f). 74 Vgl. hom 84 al 85,4 in Mt (PG 58,756). 72 S.
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seid?‘ … Wer sich nur aus Menschenfurcht gebessert hat, der wird sich gar leicht wieder zum Bösen kehren“.75 Dass das αὐτεξούσιον, die Selbstbestimmung des Menschen heilig und unantastbar sei, dass dem Glauben jeglicher Zwang fremd sei und sein Wesen verderbe, ist von Chrysostomos oft genug betont worden.76 Und von dieser Linie ist er – anders als sein großer Zeitgenosse Augustin – nie abgewichen! Den Gang der Geschichte hat das freilich kaum zu beeinflussen vermocht. Wie vielmehr schon die Religionspolitik Konstantins, die, wenn H. Dörries mit seiner Analyse recht hat,77 von ganz ähnlichen Prinzi[91]pien geleitet war, wie wir sie hinter der Judenpolemik des Chrysostomos wahrzunehmen glaubten, nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Reichskirche war, so ging erst recht am Ende des vierten Jahrhunderts die „fortschreitende Tendenz“ dahin, „in steigendem Maße den allgemeinen Rechtsschutz“ für die Andersgläubigen und so auch „für die Juden zu verringern, so dass sich für sie ein Sonderrechtsstatus herausbildete“.78 Und es unterliegt keinem Zweifel, dass die entscheidenden Antriebe dazu von kirchlichen Kreisen ausgingen; entstammte auch die Überzeugung, dass die Einheit und Wohlfahrt des Staates auch die Einheit des religiösen Kultes erfordere, ursprünglich wohl römischem Denken. Immerhin lässt sich an einer Gestalt wie Chrysostomos ablesen, „welche moralischen und geistlichen Kräfte“ im etablierten Christentum der theodosianischen Reichskirche „noch immer vorhanden waren“.79 Das gilt, wie ich gezeigt zu haben hoffe – trotz der rhetorischen Exzesse der „Judenreden“ –, auch von seiner Judenpolemik. Statt seine Theologie und damit letztlich auch das Evangelium selbst zu diskreditieren, weil es scheinbar auch seine größten Interpreten nicht an unbeherrschtem Judenhaß zu hindern vermochte, spiegelt sie eher etwas vom „Bleibenden in der Kirchengeschichte“, vom „Lauf des Wortes“ (cursus verbi) wider, auch wenn das Evangeliumsverständnis des Chrysostomos noch immer vor Schranken haltmachte, die wir endlich entschlossen durchbrechen wollen!
Abstract An abstract of this paper obviously is superfluous, because the reader, needing it, will find an English summary below, in chapter VII. This is a later text starting with a fairly exhausting résumé of the foregoing.80 29 al 30,3 in Mt (PG 57,361). dazu Ritter, Charisma, 29 f.49 f. 77 Doerries (wie Anm. 12), 65 ff. 78 Kötting (wie Anm. 10), 146. 79 Hans von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, Stuttgart (1955) 81993 (Urban-Tb 14), 152. 80 Zu einer deutschen Zusammenfassung s. u. Kap. XIII, S. 199 f., Anm. 61. 75 Hom 76 Vgl.
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Zwischen „Gottesherrschaft“ und „einfachem Leben“: Dio Chrysostomus, Johannes Chrysostomus und das Problem einer Humanisierung der Gesellschaft* Das Problem Wenn ich nicht irre, dann besteht unter heutigen Auslegern des Neuen Testaments ein weitgehender Konsens darüber, dass – entgegen der klassisch-marxistischen Theorie vom proletarischen Ursprung und revolutionären Charakter des Urchristentums – weder Jesu „Evangelium für die Armen“ und erst recht die paulinische und johanneische Verkündigung, noch auch die das lukanische Schrifttum und den Jakobusbrief in jeweils verschiedener Weise und Intensität bestimmende „Armenfrömmigkeit“ ein sozialrevolutionäres Programm enthält. Das ist schon durch die Naherwartung, die (durch Fremdherrschaft, soziale Mißstände und vielfältige Not gesteigerte) Erwartung einer baldigen Weltenwende so gut wie ausgeschlossen. Sie aber ist der Horizont und Rahmen, in welchem Jesus und das Urchristentum leben und denken. Das Maß ist voll; die „Zeit ist erfüllt und die Gottesherrschaft nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15). Jesus propagiert kein Programm.1 Wohl aber ermutigt er u. a. dazu, neue Möglichkeiten für ein situationsgerechtes, gemeinsames Handeln zu entdecken und zu erproben (man denke nur an die „Bergpredigt“: Mt 5–7 mit Parallelen). Diese erscheinen nur so * Festvortrag anlässlich der Jahrestagung des Vereins zur Förderung des F. J. Dölger‑Instituts am 26. 6. 1987 im Festsaal der Bonner Universität; zuerst veröffentlicht in: JAC 31 (1988), 127–143. Er stellt die stark erweiterte Fassung eines Referates über „Johannes Chrysostomus als Interpret des Paulus am Beispiel der Sozialethik“ dar, das, in englischer Sprache, auf einem internationalen Symposium über „Paul and the Legacies of Paul“ gehalten wurde und zusammen mit der Antwort („Comment“) von Elizabeth Clark in den Akten dieses Symposiums veröffentlicht worden ist [beides, mit freundlicher Genehmigung der Autorin wie des Verlages, jetzt nachzulesen im folgenden Kap. V]. Auf die Antwort von Frau Kollegin Clark wird auch bereits in den folgenden Fußnoten wiederholt Bezug genommen. 1 Vgl. dazu jetzt das schöne Buch von Gerd Theissen, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, München (1986) 61988, bes. Kap. 10 u. 18; ferner Douglas E. Oakman, Jesus and the Economic Questions of His Day, Lewiston u. a. 1986 (Studies in the Bible and Early Christianity 8), T. 2, sowie die Skizzen von Christoph Burchard, Jesus von Nazareth, in: Jürgen Becker u.a, Die Anfänge des Christentums, Stuttgart u. a. 1987, 12–58, und Karl Martin Fischer, Das Urchristentum, Berlin 1985 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen I, 1), Kap. 4.
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lange als unmöglich, ja als absurd, solange man von seinen bisherigen Lebenserfahrungen auch nicht einen Moment lang abzusehen gewillt ist. Dafür sind sie vielleicht geeignet, die Mechanismen von Hass und Vergeltung aufzubrechen! Und indem Jesus den „Armen“, Hungernden, Unglücklichen, vergebens ihr Recht Fordernden den nahegekommenen Gott verkündigt, sucht er nicht zuletzt glaubhaft zu machen, dass dieser Gott nicht vor dem Scheitern des Menschen kapituliert, sondern will, dass dies Scheitern nicht länger unausweichlich und irreparabel sei. So lädt denn auch Jesu Vertrauen auf Gottes „Zuvorkommenheit“ und Unermüdlichkeit gerade nicht zur Passivität ein. Vielmehr sucht es den, der sich darauf einläßt, angesichts unübersehbarer Widerstände, Misserfolge und Gebundenheiten, gerade auch dadurch zu befreien, dass es ihn vor verhängnisvoller Selbstüberschätzung zu bewahren hilft. Gottes Herrschaft kommt, und zwar „von selbst“ (αὐτομάτη), sagt Jesus darum, und das unscheinbar und „ganz anders“, als man denkt (Mk 4,26–29). Wer das in seinem Handeln einkalkuliert, der [128] ist in Jesu Augen davor geschützt, sich die übermenschliche Aufgabe einer Vollstreckung des göttlichen Gerichts an der ungerechten Welt aufzubürden. Er kann statt dessen seine – in jedem Falle begrenzte – Kraft darauf konzentrieren, der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich praktisch-„politischen“ Ausdruck zu verleihen (wenn anders „politisch“ heißt: auf die Gestaltung des Gemeinwesens, der res publica, der Gesellschaft bezogen). Ähnlich unprogrammatisch, ähnlich „dialektisch“ ist auch die paulinische Sicht. Für den Weltbegriff und das Weltverständnis des Paulus ist letzten Endes nicht der Schöpfungsglaube konstitutiv. Grundlegend ist vielmehr der Glaube an die im Christusgeschehen erfolgte Weltenwende, an den Anbruch einer „neuen Schöpfung“, in die der Glaubende durch die Taufe bereits eingegliedert ist (2 Kor 5,17). M. a. W. heißt κτίσις für Paulus zunächst „unerlöste Schöpfung“, erst „in Christus“ wieder als Schöpfung Gottes erkennbargewordene Welt; nicht ein sozusagen „neutrales“ Ordnungsgefüge, sondern „Epoche“ und Sphäre der „Weltlichkeit“, Zeit und Ort des Verfallenseins an die „Mächte“ und Elemente der „Welt“ oder doch der Anfechtung der Glaubenden durch sie.2 Diese komplexe Sicht hat u. a. zur Folge, dass die Ethik des Paulus (wie wohl des Neuen Testaments überhaupt) „primär ekklesiologischen Charakter“ hat. D. h. die Weisungen hinsichtlich des Verhaltens des einzelnen (in Kirche und Welt) „sind wesentlich auf den glaubenden Menschen zugeschnitten“.3 Dabei will allerdings bedacht werden, dass Kirche bei Paulus nicht als civitas Platonica, jenseits von Raum und Zeit, sondern als der Bereich der „Welt“ begriffen ist, in dem die Herrschaft Christi schon anerkannt, ausgerufen und im Glaubens2 S. dazu noch immer am ehesten Wolfgang Schrage, Die Stellung zur Welt bei Paulus, Epiktet und in der Apokalyptik, ZThK 21 (1964), 125–154 (mit weiterer Lit.). 3 Georg Strecker, Handlungsorientierter Glaube.Vorstudien zu einer Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart 1972, 46 [Hervorhebung von A. M. R.].
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gehorsam bezeugt wird.4 So verschlingen sich, bei Jesus wie bei Paulus, auf ganz eigentümliche Weise „konservative“ und „revolutionäre“ Impulse.5 Diese „revolutionären“ Impulse aber sind geeignet, auch die selbstgesetzten Schranken neutestamentlicher Ethik zu sprengen und über damals gefällte materialethische Urteile, z. B. über die Sklaverei, hinauszuweisen.6 „Revolutionäre“ Ungeduld, die eine Änderung der bestehenden Verhältnisse als solcher erstrebte und an eine Selbsthilfe der Unterdrückten dächte, ist nicht einmal dort im Spiel, wo eine radikale Eigentumskritik laut wird. So etwa in dem Drohwort Jak 5,1–6, welches deutlich an alttestamentlich-jüdische Weherufe über die Reichen erinnert: „Nun, wohlan, ihr Reichen, weinet und jammert ob der Drangsale, die über euch hereinbrechen …“ (vgl. auch 2,1–9). Es ist auch hier Gottes „Gerechtigkeit“, deren Durchbruch in Bälde erwartet wird und von der man sich das Ende aller Ungerechtigkeit und die Sühne allen Frevels verspricht. Im übrigen herrscht im Jakobusbrief wie in den anderen Dokumenten frühchristlicher „Armenfrömmigkeit“ die Überzeugung vor: Es sind die „Armen in dieser Welt“, für die Gott Partei ergriffen, die Gott „auserwählt“ hat, „dass sie Reiche im Glauben seien“ (Jak 2,5; vgl. auch Lk 1,45–55). Reichtum dagegen und Habsucht fesseln an die „Welt“. Entsprechend lautet im sog. „Hirten des Hermas“, einer als Apokalypse stilisierten Bußpredigt aus der Zeit um 130/140 n. Chr., die Konsequenz, dass alle, die „an dieser Welt Reichtum“ teilhaben, erst dann für Gott „brauchbar“ sein werden, wenn „ihr Reichtum, [129] der sie an sich fesselt, abgehauen wird“.7 Und in gleichem Sinne kann noch ein halbes Jahrhundert später der große Nordafrikaner Tertullian Gott einen „Verächter der Reichen“ und einen „Helfer der Bettelarmen“ nennen, welcher „immerfort die Armen für gerecht erklärt, die Reichen hingegen von vornherein verdammt“.8 4 Das ist stets besonders von Ernst Käsemann betont worden; vgl. nur ders., Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. I, Göttingen 1960, 109–134 (hier: 113 f). 5 So hatte es auf seine Weise auch schon Ernst Troeltsch gesehen und gesagt in seinen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (= Gesammelte Schriften, Bd. I), Tübingen 1922; 2. Neudr. Aalen 1965 [3. Neudr. 1977], 50.72 u. ö. 6 Strecker (wie Anm. 3), 35. 7 Herm. vis 3,5.6: vgl. aber etwa sim 2,1–10 („Ausgleichstheorie“; Almosen als gottwohlgefällige, sündentilgende Frömmigkeitsübung!). 8 Tert. adv Marc 4,15,8; patient 7. Das steht freilich in einer kaum auflösbaren Spannung zu der Aussage, dass es „Gott nicht unangemessen“ sei, „auch Reichtümer zu gewähren, durch welche auch die Reichen Trost und Hilfe finden und … viele Werke der Gerechtigkeit und Liebe geschehen mögen“ (adv Marc 4,15,8 Ende); man vergleiche auch die auf den ersten Blick reichlich verwirrende Gedankenführung in apol. 39, der wohl wichtigsten Stelle zum Problem „Christentum und Eigentum“ bei Tertullian. Gerade bei diesem Autor ist dringend davor zu warnen, Einzelaussagen aus ihrem Zusammenhang zu reißen und zu verabsolutieren, statt zu fragen, was Tertullian jeweils im Auge habe und worauf er hinauswolle. Immerhin: Dass die oben zitierten Äußerungen überhaupt – und zwar, was immer besonders beweiskräftig ist, ganz beiläufig, ohne anscheinend einer Begründung zu bedürfen – so fallen, wie sie fallen, setzt doch
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Johannes Chrysostomus – der Mann und sein Werk Blickt man von da aus zu Johannes Chrysostomus hinüber, so zeigt sich m. E., dass sich die Impulse zur Verwandlung statt zur Anpassung an das „Schema dieser Weltzeit“ (Röm 12,2) – in diesem Fall an die Lebensverhältnisse in der spätantiken Gesellschaft mit ihren z. T. eklatanten Mißständen und ihrem Massenelend – eher verstärkt als abgeschwächt haben. Doch ist das, wie ich ehrlich zugeben muss, in der Forschung heftig umstritten. Das ist auch der Grund, weshalb ich heute davon rede. Bevor das aber geschieht, ist es wohl am Platze, den Mann, um den es im folgenden vor allem gehen soll, kurz vorzustellen. Johannes mit dem Beinamen Chrysostomus („Goldmund“) wurde in Antiochia, der syrischen Metropole am Orontes und „dritten Stadt der Erde“ (Libanius) nach Rom und Alexandria, als Sohn eines hohen Militärs geboren. Nachdem er im Alter von 18 Jahren die Taufe empfangen hatte, soll er das elterliche Haus und seinen berühmten Rhetoriklehrer Libanius verlassen haben, um das Leben eines Einsiedlers zu führen, bis ihn seine schwache Konstitution schon bald zur Rückkehr in die „Welt“ zwang. Dass er gleichwohl seiner Gesinnung nach Mönch und Asket zu bleiben gedachte, geht daraus hervor, dass er sich – zur selben Zeit, wie er die Weihe zum Anagnosten, d. h. zum Lektor empfing – einem Kreis Gleichgesinnter, dem sog. Asketerion unter Leitung Diodors, des späteren Bischofs von Tarsus und ersten Hauptes der antiochenischen Exegetenschule, anschloß, in welchem er sich – in Gemeinschaft u. a. mit einem später so berühmten wie allerdings auch umstrittenen Mann wie Theodor von Mopsuestia – zugleich geistlich-asketischen Übungen wie strenger theologischer Arbeit unterzog. Wohlgerüstet wie sicherlich wenige Kleriker seiner Zeit übernahm er 386 nach seiner Presbyteratsweihe das Amt des Hauptpredigers von Antiochien. Zwölf Jahre wirkte er hier. Dann aber starb der Residenzbischof Nektarius von Konstantinopel. Am Ende eines langen und unwürdigen Ränkespiels um die Nachfolge, an dem wie immer der „Papst“ von Alexandrien führend beteiligt war, fiel die Wahl des Kaisers und seiner Ratgeber auf Chrysostomus, und zwar wohl deshalb, weil dieser nicht nur außerhalb des kirchenpolitischen Treibens stand, sondern auch bereits damals als Kanzelredner und geistlicher Schriftsteller weit über die Grenzen seiner Vaterstadt [130] hinaus berühmt war und so dem Repräsentationsbedürfnis von Hof und Hauptstadt Genüge zu tun vermochte. So stieg denn Chrysostomus zum höchsten Würdenträger der Kirche des Ostreichs auf. Allein, alsbald einsetzende Streitigkeiten mit dem Hof, der Kaiserin Eudoxia und ihrem allmächtigen Günstling, dem Eunuchen Eutropius, und nicht zuletzt auch mit mißgünstigen Bischofskollegen unter Anführung des Alexandriners (Theophilus) führten schließlich aufgrund eines geradezu tollen wohl das Fortwirken jener Tradition frühchristlicher „Armenfrömmigkeit“ voraus, um die es uns im Augenblick geht.
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Gemischs „von Verleumdung, kindischen oder gewolltem Mißverstehen und kirchenpolitisch-politischen Anklagen, deren Zweck von vornherein deutlich ist“,9 zu seiner Absetzung durch die „Eichensynode“, so genannt nach ihrem Tagungsort, dem Landgut Drys („Eiche“) bei Chalkedon. Sein Sturz rief in Konstantinopel ungeheuere Erregung hervor, die durch ein als Gottesurteil empfundenes Erdbeben noch gesteigert wurde. Schon nach wenigen Tagen wurde Chrysostomus zurückgerufen. Seine Rückkehr glich einem Triumphzug. Schon bald entstanden indessen neue Meinungsverschiedenheiten, so dass er ein Jahr später endgültig abgesetzt und nach Armenien verbannt wurde. Als jedoch, dem Hagiographen Palladios zufolge, die „gesamte Kirche von Antiochien“, seiner einstigen Wirkungsstätte, dorthin zu wallfahrten begann, um den unvergessenen Prediger zu hören,10 wurde auf kaiserlichen Befehl das am äußersten Winkel des Reichs gelegene Pityos am Schwarzen Meer Chrysostomus als Exilsort angewiesen. Obwohl bereits schwerkrank, trat er, und zwar zu Fuß, die Reise an, erlag aber bereits nach wenigen Tagen, am 14. September 407, den Schikanen seiner Bewacher. Gleichwohl – oder gerade deshalb – war sein Nachruhm unermesslich. Den Beinamen „Goldmund“, der u. W. zuerst dem Rhetor Dio von Prusa (geb. ca. 40, gest. nach 112 n. Chr.) beigelegt worden war, erhielt er noch lange nach seinem Tode.11 Doch auch heute noch können seine – in großem Umfang erhaltenen – Homilien „wohl als einzige aus dem ganzen griechischen Altertum“ z. T. noch „als christliche Predigten gelesen werden. Sie spiegeln etwas vom echten Leben des Neuen Testaments wider, gerade weil sie so sittlich, so einfach und so nüchtern sind“.12 Wer tiefer in das Verständnis seines Wesens und Wirkens einzudringen wünscht, wird sich der Tatsache zu erinnern haben, dass auch Chrysostomus den Weg vom Mönchtum zum Bischofsamt gegangen ist. Folglich haben auch wir zunächst seine Konzeption des Mönchtums im Verhältnis zur Kirche wenigstens in Grundzügen zu verdeutlichen, ehe wir uns seinen Vorstellungen über eine Humanisierung der Gesellschaft zuwenden. Prinzipieller Ausgangspunkt ist für Chrysostomus der „soziale Charakter“ des Christentums. Sieht er darin doch den entscheidenden „Maßstab vollkommensten Christentums“, darin dessen exakte Definition und höchste, durch nichts zu überbietende Verwirklichung: zu suchen, was dem Wohl der Gemeinschaft dient,13 zu wissen, dass das eigene Heil auf Gedeih und Verderb mit dem des 9 Hans
von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, Stuttgart u. a. (1956) 81993, 148. v Chrys 11,37 (ed. Coleman-Norton, Cambridge 1928, 65). 11 Vgl. dazu Chrysostome Baur, L’entrée littéraire de S. Jean Chrysostome dans le monde latin, RHE 8 (1907), 249–264. 12 Campenhausen (wie Anm. 9), 152. 13 Hom 25 in 1 Cor 3 (PG 61,208); vgl. auch ebd. hom 36,2 (310,25–28): „Siehst Du, was das Fundament (κρηπίς) und der Maßstab (κανών) des Christentums ist? Wie der Häuserbau das Geschäft des Handwerkers ist, so ist es das des Christen, dem Nächsten in allem nütze zu sein“. 10 Pall.
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Nächsten verknüpft ist14 oder, um (mit Rudolf Bultmann) im Sinne des Paulus und dessen Rückkoppelung des Imperativs an den [131] Heilsindikativ zu reden,15 dass es überhaupt nicht länger um „individuelle Vervollkommnung“ (προκοπή), sondern um „Auferbauung“ (οἰκοδομή) geht, eben weil der durch die „Barmherzigkeit Gottes“ auf eine neue Basis Gestellte, in seinen Handeln von der Sorge um sich selbst entlastet, die vom Nächsten ausgehende Forderung zum entscheidenden Motiv und Maßstab seines Handelns machen kann und soll (Röm 12,1.2). Dementsprechend sucht er in den durch den paulinischen Grundsatz des „Alles zum gemeinschaftlichen Nutzen“ (1 Kor 12,7) abgesteckten Rahmen auch das Mönchtum mit seiner besonderen Berufung und seinen besonderen Gaben und Möglichkeiten einzuordnen.16 Wie er selbst eine „viel zu aktive Natur“ war, „um in der reinen asketischen Vollkommenheit dauernd Genüge zu finden“,17 so verlangt er auch von den Mönchen insgesamt, höher als das Streben nach eigener Vervollkommnung das Heil des Nächsten zu stellen. Gerade ihnen hält er das Beispiel „jenes Bedauernswerten“ (Mt 25,24–30) vor, dem es „nichts geholfen“ habe, „dass er sein Talent nicht verminderte, sondern weil er es nicht vermehrte“, habe er es „vollständig eingebüßt“.18 Von daher sucht er die Mönche dazu zu gewinnen, sich nicht in die Einsamkeit der Berge und Wüsten zu flüchten, sondern inmitten oder wenigstens gleichsam in „Sichtweite“ der Städte und Dörfer, da, wo das alltägliche Leben gelebt wird und wo immer aufs neue die „Erfüllbarkeit“ der göttlichen Gebote wie der „Grund“ der christlichen „Hoffnung“ (1 Petr 3,15) in Frage steht, Pflanzstätten der „Tugend“ zu errichten19 entsprechend dem Gebot Christi: „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen“ (Mt 5,16), „nicht vor den Bergen“, wie Chrysostomus hinzufügt, „nicht in den Wüsteneien oder an unzugänglichen Orten“.20 Ob man ihm deshalb eine zunehmend „reservierte Haltung gegenüber dem Mönchtum“21 zuschreiben darf, ist mir mehr als fraglich. Falls damit gemeint ist, dass er sich je von den monastischen Idealen innerlich entfernt oder die hom 25,4 (211 f.); vgl. auch laud Paul 3,1 (SC 309,162: οὐδὲν οὕτω ποιεῖ τὴν μίμησιν ταύτην [δηλ. τοῦ Χριστοῦ] ὡς τὸ κοινωφελῶς ζῆν καὶ πρὸς τὸ τῷ παντὶ χρήσιμον ὁρᾶν). Doch ließen sich die Belege fast beliebig vermehren. 15 Rudolf Bultmann, Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924), 123–140 [auch in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. von Erich Dinkler, Tübingen 1967, 36–54] u.ö. 16 Vgl. dazu Ritter, Charisma, 90 (mit weiterer Lit.). 17 Campenhausen (wie Anm. 9), 139. 18 Sac VI 10 (PG 48,686). 19 Vgl. Ritter, Charisma, 90, Anm. 4 (mit zahlreichen Belegen). 20 Hom 27(26) in Rom (PG 60,644). 21 So Bernhard Lohse, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963 (FKDG 12), 41, Anm. 104, und neuerdings wieder Arnold Stötzel, Kirche als „Neue Gesellschaft“. Die humanisierende Wirkung des Christentums nach Johannes Chrysostomus, Münster/Westf. 1984 (MBTh 51), 23 im Vergleich mit 173.207 f.220 u. ö. 14 Ebd.
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Existenzberechtigung des Mönchtums überhaupt in Frage gestellt hätte, wird man das sogar rundheraus verneinen müssen. Hat er doch zeitlebens, selbst noch als Bischof von Konstantinopel, inmitten all des höfischen Getriebes und Prunks, an einer streng asketischen Lebensweise festgehalten – sehr zum Leidwesen vieler in seiner Umgebung22 – und darüber hinaus in Predigten und Briefen mit seiner Meinung über die positive Rolle und bleibende Bedeutung des Mönchtums nicht hinter dem Berge gehalten. Sie lässt sich wohl in Kürze am besten so umschreiben, dass für ihn die Mönche inmitten einer ständig von der Gefahr der Verweltlichung bedrohten, ständig mehr oder minder faule Kompromisse schließenden und mit den – vermeintlichen oder wirklichen – „Realitäten“ paktierenden Christenheit schon durch ihre bloße Existenz ein Moment der heilsamen Irritation und ein „Zeichen“ [132] sind: ein lebendiges Memento nämlich der Vorläufigkeit all dessen, was die „Welt“ fasziniert oder quält, eine ständige Erinnerung daran, dass Christen auf Erden „Fremdlinge“ und auf Pilgerschaft sind, und eine unaufhörliche Mahnung zu der von allen geforderten „Vollkommenheit“, die, wie ihr Beispiel lehrt, keine bloße Utopie ist.23 Wohl aber zielen seine an die Adresse der Mönche gerichteten kritischen Äußerungen darauf ab, dass das Mönchtum nicht ein totes Kapital im Haushalt der Kirche bleibe, dass es vielmehr nach Kräften für deren geistliche Erneuerung nutzbar gemacht werde. Das macht es allerdings erforderlich, energisch auch den Gefahren und Entartungserscheinungen im Mönchtum selbst entgegenzutreten und sich für die rechte Rangordnung innerhalb der Hierarchie der mönchischen Wert‑ und Zielvorstellungen, d. h. für ihre konsequente Ausrichtung an der „Auferbauung“ der Kirche als des „Leibes Christi“ einzusetzen, dafür, dass der Dienst an der Gemeinschaft unter die Motive der Askese selbst aufgenommen werde und dort – zusammen mit der ungeteilten Hingabe an Gott oder vielmehr als deren vorzüglichster Ausdruck – an erster Stelle rangiere.24 Diese Rolle kann aber dem Mönchtum überhaupt nur zugewiesen werden, weil es für Chrysostomus keine „doppelte Moral“, keine verschiedenen „Klassen“ von Christen gibt: Keine je verschiedene Ethik für Mönche und für „Weltleute“, 22 So lautet denn auch einer der Vorwürfe, die die auf der „Eichensynode“ versammelten Chrysostomusgegner gegen den vielerorts missliebig gewordenen Patriarchen erhoben, er esse allein und lebe „wie ein Zyklop“ (s. die Akten dieser Synode bei Phot. cod 59 [PG 103,105–113; SC 342,102–116]). 23 Vgl. dazu die bei André Jean Festugière, Antioche paienne et chrétienne. Libanius, Chrysostome et les moines de Syrie, Paris 1959 (BEFAR 144), 330–344, zusammengestellten Texte (vornehmlich aus den Mt-Homilien) mit meinem Kommentar (Ritter, Charisma, 92, Anm. 10, mit weiteren Literaturhinweisen). 24 Vgl. u. a. hom 77(78), 5.6 in Mt (PG 58,708–710); hom 25 in 1 Cor (PG 61,209–212); hom 6 in Tit (PG 62,698); zum Verhältnis Gottesliebe – Nächstenliebe vgl. z. B. hom 16,9 in Mt (PG 57,250 f.);27(28), 4 (358);71(72), 1 (PG 58,664 f.);77 (78), 6 (709); hom 88(87), 1 in Joh (PG 59,477–479); hom 1, vulgo argumentum in Rom (PG 60,394); 16 (15) (546 f.);30 (29) (658–660). – Davon, dass Chrysostomus der Askese schlichtweg abspräche, „dass sie eine christliche Form des Lebens“ sei (so Stötzel [wie Anm. 21], 23), kann schwerlich die Rede sein.
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für „vollkommene“ und für Durchschnittschristen. Vielmehr erklärt er rundheraus: „Wer in der Welt lebt, soll vor den Mönchen nichts voraushaben als allein dies, dass er mit einem Weibe zusammenleben darf; in dieser Hinsicht trifft er auf Nachsicht (συγγνώμη), in allem übrigen jedoch ist er zu demselben verpflichtet wie der Mönch. Auch sind die Seligpreisungen Christi nicht allein an die Mönche gerichtet. Andernfalls ginge ja die ganze Welt zugrunde, und wir müssten Gott, den „Stifter des Ehestandes“, „der Grausamkeit bezichtigen … Wie wäre sonst auch die Ehe (sc. mit dem Hebräerbrief [vgl. Hebr 13,3]) als ehrenhaft (τίμιος) zu bezeichnen, wenn sie für uns ein solches (Tugend‑) Hindernis wäre?“ Nein, „es ist möglich, durchaus möglich, auch im Ehestande der Tugend nachzujagen. Wenn wir nur wollen. Wie denn? Wenn die, die Frauen haben, sind, als hätten sie keine; wenn wir uns über irgendeinen Besitz nicht in Freude verlieren; wenn wir diese Welt brauchen, als gebrauchten wir sie nicht (vgl. 1 Kor 7,29–31) … Führe du nur die Ehe in angemessener Weise (μετὰ συμμετρίας), so wirst du der Erste im Himmelreich sein und alle Güter genießen“.25
Das Beispiel der Eigentumskritik Nun aber hat für Chrysostomus christliche „Vollkommenheit“ wesentlich auch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun! Für ihn besteht die Vorbildhaftigkeit der Klöster, so kann man sagen, nicht zuletzt darin, dass in ihnen die societas perfecta anschaubar wird, und zwar insofern, als es [133] in ihnen kein Privateigentum und keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, sondern nur noch wechselseitiges Sich-Unterordnen und freiwilligen Dienst.26 Entsprechend nimmt die soziale Frage in seinen Gemeindepredigten vor antiochenischem wie konstantinopolitanischem Publikum einen breiten Raum ein. Chrysostomus empfiehlt in diesem Zusammenhang von allem Anfang an den Verzicht auf Privateigentum und mahnt, alles den Armen zugute kommen zu lassen, deren Eigentum (!) jegliches Vermögen sei, möge es auch auf rechtlichem Wege erworben worden oder aber durch Erbschaft zugefallen sein.27 Er ist sich allerdings dessen voll bewusst, dass dieser Verzicht nicht erzwungen werden kann, dass er es mit Leuten zu tun hat, die „schon viel zu tun meinen, wenn sie von ihrem Vermögen auch nur ein wenig Almosen geben. Darum“ sollen seine Worte „nur den Vollkommenen gelten“; die „minder Vollkommenen“ aber werden beschworen, von ihren Gütern den Armen mitzuteilen.28 25 Hom 7 in Hebr (PG 63,67 0; vgl. auch ebd. hom 28 (201 f.); hom 23 in II Cor (PG 61,553 f); hom 7,7 in Mt (PG 57,81 f.); hom 1 in Eph (PG 62,9 f); oppugn 3,14 (PG 47,372 f). 26 S. oben Anm. 23. 27 Hom 77(78), 4.5 in Mt (PG 58,706–709); vgl. 45(46), 3 (474–476) u.ö. 28 Hom 15,6 in I Cor (PG 61,128–130).
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Gleichwohl bleibt für ihn die „Vollkommenheit“ das Ziel, dem es alle entgegenzuführen gilt.29 Sind doch für ihn (ähnlich wie für Basilius von Caesarea) Mönchsethik und Christenethik im Grunde identisch. Wenn man bei ihm überhaupt einen Anhaltspunkt für eine Unterscheidung zwischen „evangelischen Räten“ (consilia) und „Geboten“ (praecepta) zu entdecken vermag, dann wäre als einziger „evangelischer Rat“ über die für alle verbindlichen „Gebote“ hinaus der der freiwilligen Ehelosigkeit „um des Himmelreiches willen“ zu nennen.30 Die „Vollkommenheit“ bleibt also das Ziel. Das wird z. B. erkennbar aus einer Predigt über Psalm 48,17 („Über das Wort des Propheten David und über die Gastfreundschaft“)31, die vermutlich auf die Anfänge seiner Predigttätigkeit in Antiochien zurückgeht.32 Dem auszulegenden Bibeltext gemäß („So gräme dich nicht; wird einer reich, so mehrt er den Glanz seines Hauses“) geht es in dieser Predigt primär darum zu zeigen, dass man in der Tat keinen Anlass habe, sich über den Reichtum eines anderen zu grämen. Dabei erweist sich Chrysostomus so recht als ein Volksmann, der weiß, wie dem einfachen Menschen zumute ist, und der es auch unverblümt auszusprechen wagt (etwa so: „Diese prachtvollen Wohnpaläste sind unversöhnliche Ankläger, die noch, wenn der Besitzer längst tot ist, ihre anklagende Stimme erheben … Jeder Passant, der die Höhe und die weiten Ausmaße des Gebäudes sieht, wird sich oder seinem Nachbarn sagen: Wie viele Tränen hat der Bau dieses Hauses gekostet? Wie viele Waisen sind hier ausgeplündert worden? Wie vielen Witwen ist hier Unrecht geschehen? Wie viele Arbeiter sind hier um ihren vollen Lohn geprellt worden …“33). Doch das Wesentlichere für uns ist, dass Chrysostomus, obwohl dies vom Thema des Ganzen her nicht unbedingt zu erwarten war, schließlich gleichsam die Katze aus dem Sack lässt und seine Vorstellung darüber, wie das Problem von Armut und Reichtum zu lösen sei, deutlich zu erkennen gibt. Sie verdichtet sich im [134] Begriff der „Gleichheit des Rechts“ (ἰσονομία), einem Zentralbegriff der platonischen Sozialutopie also; der „gleichmäßigen Verteilung“ der irdischen Güter, so wie ja auch die „Natur“: Himmel, Sonne, Mond und Sterne, Luft und Meer, Feuer und Wasser, Leben, Wachstum, Altern und Kranksein usw., aber auch die „geistlichen Dinge“, nämlich der Tisch des Herrn, die Taufe als Bad der Wiedergeburt und Verheißung des Gottesreiches, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung mitsamt hom 21(22), 4 in Mt (PG 57,298–300). oben Anm. 25. 31 Hom 2 in Ps 48,17 oder: In illud: Ne timueritis hom 2 (PG 55,511–518). 32 Einer alten Überschrift zufolge ist diese Predigt „in Konstantinopel, in der großen Kirche“ gehalten, „nachdem ein anderer zuvor gesprochen hat“. Doch ist das letztere sicherlich falsch, da sich der Anfang der Predigt offensichtlich nicht auf einen Vorredner, sondern auf die Verlesung des auszulegenden Psalmworts bezieht. Und auch auf Konstantinopel deutet in der Predigt selbst nichts. 33 Ebd. 3 (PG 55,516 1); zu seiner Kritik an ausbeuterischen Praktiken s. auch etwa hom 61(62), 3 in Mt (PG 58,591 f); Laz 1,12 (PG 48,980–982). 29 Vgl. 30 S.
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den „unaussprechlichen“ eschatologischen Gütern, welche „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat“ (1 Kor 2,9), allen gemeinsam sind.34 Das ist das Ziel, nicht jedoch der Anfang; ein Ziel, auf das Chrysostomus mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, auch dem der Anpassung und der Wiederholung als der wirksamsten Instrumente der Propaganda, wie er sie bei Libanius bis zur Vollkommenheit zu beherrschen gelernt hatte, hinzuarbeiten gesonnen ist. Besonders eindrucksvoll ist bis heute, wie er sich immer wieder zum Anwalt und Bittsteller des „armen Christus“ macht (vgl. bes. Mt 25,31–45), um auf diese Weise die Verantwortung für die sozial Deklassierten bei seinen Hörern wachzurufen und wachzuhalten,35 so auch in unserer Predigt über Ps 48,17.36 Ein Anfang aber könnte es sein, so führt er in seiner Auslegung der Perikope vom „Reichen Jüngling“ in seinen Matthäushomilien aus, wenn einer mit der Loslösung vom Überfluss anfinge.37 Ein Anfang könnte es sein, wenn man wenigstens zwischen offensichtlich ungerechtermaßen erworbenem und missbräuchlich, weil selbstsüchtig verwendetem Reichtum und einem solchen Reichtum zu unterscheiden lernte, der ohne Beleidigung Gottes, ohne dass das Blut Unschuldiger an ihm klebt, erworben worden ist und auch Gottes Gebot entsprechend verwendet wird; eine Unterscheidung, die Chrysostomus schon im Blick auf die biblischen Vorbilder Abraham, Jakob und Hiob als notwendig erscheint. In diesem Zusammenhang gebraucht er allerdings nicht selten Formulierungen, die zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich und missverständlich sind. Und es ist keineswegs verwunderlich, dass er damit auch in der modernen Literatur einen vollendeten Wirrwarr angerichtet hat! Es wird jedoch dann m. E. alles einigermaßen klar, wenn man sein Verständnis von christlicher „Vollkommenheit“, das er ja oft genug zum Ausdruck gebracht hat, zum Ausgangspunkt und Leitfaden nimmt und im übrigen gebührend berücksichtigt, dass Chrysostomus weder hat verleugnen wollen noch können, dass er in seiner Jugend wohl den Rhetorikunterricht des Libanius genossen hat. Obwohl er als Prediger 2 in Ps 48,17,4 (PG 48,517 f.). dazu Rudolf Brändle, Matth. 25,31–46 im Werk des Johannes Chrysostomus. Ein Beitrag zur Auslegungsgeschichte und zur Erforschung der Ethik der griechischen Kirche um die Wende vom 4. zum 5. Jh., Tübingen 1979 (BGBE 22). 36 § 2 (PG 55,514 f.). 37 Hom 66(67), 3.4 in Mt (PG 58,629–631); vgl. auch 21(22), 4 (PG 57,298 f.) und 63(64), 3 (PG 58,606 f.). – Zu Unrecht ist mir m. E. von E. Clark, die von der „konservativen Natur des Denkens des Chrysostomus“ überzeugt ist, entgegengehalten worden, es gehe ihm nicht einfach um eine „Verachtung des Reichtums, sondern um dessen Nutzung zugunsten der Gemeinschaft“: das sei „in der Tat auch der ganze Witz (the whole point) der Auslegung der Perikope vom Reichen Jüngling durch Chrysostomus“ (Elizabeth Clark, Comment: Chrysostom and Pauline Social Ethics, in: William S. Babcock, Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 194 f.). Diese Beschreibung aber ist so allgemein gehalten, dass sie auf nahezu alle Auslegungen dieser Perikope in Geschichte und Gegenwart passt und der Eigenart der chrysostomischen Exegese schwerlich gerecht wird. 34 Hom 35 Vgl.
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und Schriftsteller mit seiner rhetorischen Bildung nirgends prunkt, bleibt er seinen Anfängen doch insoweit treu, als er den Gedanken, den er vorträgt, zu akzentuieren pflegt, und das nicht selten in einer Weise, dass er selbst fürchtete, missverstanden zu werden, indem man seine Worte nur als Hyperbeln auffasse!38 „Man muss sich nur vor Augen halten, zu wem“ Chrysostomus [135] „jeweils spricht … und was er erreichen will“, um sich „von rhetorischen Fragen und Übertreibungen nicht täuschen“ zu lassen.39 Eine Quelle für Missverständnisse ist u. a. immer wieder die 34. Homilie über den 1. Korintherbrief gewesen.40 In dieser Predigt, einer Auslegung von 1 Kor 13,8–13, geht Chrysostomus zunächst dem Sinn des als „Lobpreis der Liebe“ gedeuteten Paulustextes nach, um dann, wie fast immer, seiner homiletischen Auslegung eine praktische „Nutzanwendung“ anzufügen. Die Brücke bildet dabei der Gedanke, dass wir mit tausend Banden aneinander gekettet sind und einer des andern bedürfen. So bedürfen, fährt Chrysostomus fort, auch die Armen der Reichen und umgekehrt. Das veranschaulicht er mit dem Bild von den zwei Städten: der Stadt der Reichen und der Stadt der Armen. Allein, was heißt in diesem Zusammenhang „arm“ und „reich“? Arme (πέvητες) sind hier mit Arbeitern, Handwerkern, Leuten aus dem gemeinen Volk (δῆμος) gleichgesetzt. Und d. h.: es geht im Grunde gar nicht um den Gegensatz zwischen Reichtum und Armut in unserem Sinne, sondern um den zwischen Kapital und Arbeit.41 Man fühlt sich bei der Argumentation des Chrysostomus an dieser Stelle ganz von ferne an Gedankenreihen des „Kommunistischen Manifests“ („Die in der bürgerlichen Gesellschaft arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht“) oder auch an die Eingangsthese des „Gothaer Programms“ der SPD von 1875 erinnert („Die Arbeit ist die Quelle des Reichtums und aller Kultur“). Freilich ist ohne weiteres einzuräumen, dass Chrysostomus nicht die Folgerung gezogen hat, den Arbeitern als alleinigen Produzenten des Reichtums der Reichen gebühre die ausschließliche Kontrolle über das Arbeitsprodukt.42 Gleichwohl hat er mindestens dreimal in aller Öffentlichkeit den Versuch unternommen, dem Armutsproblem an die Wurzel zu gehen; das eine Mal in Antiochien und die beiden anderen Male in Konstantinopel. In der 66. seiner Matthäushomilien stellt er eine Untersuchung über die Vermögensverhältnisse in Antiochien an. Danach hat ein Zehntel der Bürger als reich, ein Zehntel dagegen als arm ohne irgendwelches Hab und Gut zu gelten, während sich der Rest 38 Compunct
1,2 (PG 47,395). auf der Maur, Mönchtum und Glaubensverkündigung in den Schriften des hl. Johannes Chrysostomus, Freiburg/Schweiz 1959 (Par. 14), 13. 40 PG 61,285–296. 41 So mit Recht bereits Theo Sommerlad, Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zur Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden Altertums, Leipzig 1903, 147 f. 42 Vgl. ebd., 148. 39 Ivo
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in „mittlerer Lage“ befinde. Die Kirche habe (sc. in Gestalt ihrer Stiftungen43) „nur die Einkünfte eines reichen und eines mittleren Vermögens“. Davon würden, der offiziellen Armenliste zufolge, täglich beinahe 3000 Witwen und Jungfrauen ernährt, nicht gerechnet die Gefangenen in den Kerkern, die Kranken in den Hospizen, Zugereiste, Krüppel, Kirchenbettler usw. Wenn nur zehn Reiche so viel aufwenden wollten wie die Kirche, dann wäre die Armut aus Antiochien verbannt!44 Scheint sich Chrysostomus hier die Lösung des sozialen Problems so vorzustellen, dass man die einzelnen Armen auf die einzelnen Reichen verteilt und also so etwas wie eine Gemeindearmenpflege mit ehrenamtlichem und individualistischem Charakter ins Leben ruft,45 so stößt er später, in seinen in Konstantinopel gehaltenen Homilien über die Apostelgeschichte, zu einer noch radikaleren gesellschaftlichen Utopie vor, zur Idee der Gütergemeinschaft, wie sie nach Lukas bereits in der Jerusalemer Urgemeinde praktiziert [136] wurde.46 Unzweifelhaft ist es dem bischöflichen Prediger vollständig ernst mit seinem Vorschlag, wiewohl er diesen anfangs bloß einem rasch hingeworfenen Gedanken vergleicht. Denn am Schluss fordert er seine Hörer dazu auf, mit dem kühnen Wagnis einen Versuch zu machen. Täte man das, so würde es sich herausstellen, dass es keine bloße Utopie wäre;47 ein Beweis, den Klöster – und Großfamilien – längst erbracht hätten! Überdies wird K. Farner wohl zuzustimmen sein, wenn er sagte, Chrysostomus habe sich nach Ausweis der Acta-Homilien – im Unterschied zu fast allen anderen Kirchenvätern – präzisere Vorstellungen von einer „kommunistischen“ Wirtschaftsweise gemacht. „Erstens haben wir es hier mit einem produktiven“, nicht nur mit einem „Kommunismus des Konsums“ zu tun; „zweitens treten nationalökonomische Gesichtspunkte auf (Arbeitsteilung und Kooperation als produktivitätssteigernd); drittens soziologische Gesichtspunkte (Eigentumsverhältnisse als soziale und individuelle Moral bedingend)“.48 – Wie aber ist das zu erklären? Ich kann es mir am besten so erklären, dass ein unbefangener, klarer Blick für die soziale Realität und die in Konstantinopel – trotz kaiserlicher Brotspenden für das kommunistischerseits sogenannte „Lumpenproletariat“ – hom 85 (86), 4 in Mt (PG 58,762–764). 66 (67), 3 in Mt (PG 58,629 f). 45 Vgl. Sommerlad (wie Anm. 41), 150 f. und dazu etwa noch hom 86(84), 4 in Mt (PG 58,762 f). 46 Hom 11,3 in Act (PG 60,97 f.). 47 So mit Recht u. a. auch Wolf Dieter Hauschild, Christentum und Eigentum. Zum Problem eines altchristlichen Sozialismus, ZEE 16 (1972), 34–49 (hier: 48); anders etwa Robert Μ. Grant, Christen als Bürger im Römischen Reich, Göttingen 1981 (Sammlung Vandenhoeck), 135. 48 Konrad Farner, Theologie des Kommunismus?, Frankfurt /Main 1969, 64; vgl. auch Grant (wie Anm. 47), 130, der von Chrysostomus als „ – man kann wohl sagen – hervorragendste(m) Okonom unter den Kirchenvätern“ spricht. 43 Vgl.
44 Hom
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möglicherweise noch drückender spürbare Not Chrysostomus schließlich davon überzeugt haben, dass mit den Mitteln bloß privaten Almosengebens kaum fühlbare Abhilfe zu schaffen sei. Aus dem gleichen Grund spricht er nun auch eine entschiedenere Sprache im Hinblick auf die Bewertung des Reichtums.49 Das lehrt z. B. die 12. Homilie über den 1. Timotheusbrief. Im Verfolg der Auslegung des dieser Predigt zugrunde liegenden Textes (1 Tim 4,1–10) kommt er auch auf die Frage zu sprechen, inwiefern auch der Reichtum ein Gut sei, wie „alles von Gott Erschaffene gut“ und „nichts verwerflich“ ist, „wenn es mit Danksagung empfangen wird“ (1 Tim 4,4). Seine Antwort lautet, dass darüber nicht allein die Weise seines Zustandekommens, sondern auch und vor allem sein Gebrauch entscheide, dies, dass nicht einer allein haben wolle, was dem Herrn gehöre, und nicht, was Gemeingut aller sei, allein zu genießen trachte; dass anerkannt werde, dass all unser Besitz Gott gehöre und damit auch unseren „Mitknechten“. Denn „was Gott dem Herrn gehört, ist alles Gemeingut“ (Τὰ γὰρ τοῦ Κυρίου πάντα κοινά)! Christlich betrachtet, genauer: im Lichte des Schöpfungsglaubens gesehen, ist also die Gütergemeinschaft in höherem Maße die angemessene Form unseres Zusammenlebens als der Privatbesitz. Ja, nicht nur christlich betrachtet wäre sie nach Chrysostomus die beste Lösung; sei sie doch schlichtweg „naturgemäß“ und einzig vernünftig. Denn „warum streitet kein Mensch vor Gericht um den Marktplatz? Darum nicht, weil er Gemeingut aller ist. Über Häuser dagegen oder über Geld sehen wir ewige Gerichtsprozesse im Gange …“.50
Zur Sklaven‑ und Frauenfrage Gewiss kann man geteilter Meinung sein, ob wirklich die Gütergemeinschaft die vernünftigste und effektivste Form der Güternutzung sei; schon Aristoteles hatte da [137] bekanntlich seine erheblichen Zweifel.51 Es lässt sich aber m. E. überhaupt nicht bestreiten, dass diese Idee für Chrysostomus kein bloßes pium desi‑ derium war, keine „gehätschelte Lieblingsidee“, von deren Undurchführbarkeit er „innerlich überzeugt“ gewesen wäre.52 Und wiewohl er in diesem Zusammen49 Gegen
Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale. Constantinople et ses institutions de 330 à 451, Paris 1974 (BByz.E 7), 509. 50 Hom 12,4 in I Tim (PG 62,562–564). 51 Arist. pol 2,1261 b 33–38; 1263 a 11. 52 So Ludwig Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Socialphilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart 1897; zit. bei Georg Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart, T. 1, Leipzig 1899 (Hand‑ und Lehrbuch der Staatswissenschaften I,3), 176 f., der es selbst allerdings nicht ausschließt, dass Chrysostomus „die Sache ernster“ genommen habe, als bei den Kirchenvätern üblich gewesen sei. Ähnlich wie Stein war Otto Schilling geneigt, „die eigentümlichen Aussagen“ des Chrysostomus als „oratorische Kraftstellen“ zu beurteilen; „es wird Hohes gefordert, um wenigstens
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hang Zwang stets kompromisslos abgelehnt53 und so auch eine Inanspruchnahme der Staatsgewalt niemals auch nur in Erwägung gezogen zu haben scheint,54 wird es der Eigenart seiner „praktischen“ Lösungsversuche des Armutsproblems schwerlich gerecht, wenn man urteilt, diese Versuche verblieben in den engen Grenzen „individueller Liebestätigkeit“; insofern seien seine Ratschläge für das tägliche Leben nicht mit allzu viel „utopischem Salz gewürzt“, trügen vielmehr einen durch und durch „konservativen“ Charakter.55 Es fragt sich ja immer, mit welchen Maßstäben man misst! Andere Beispiele dafür, wie sich Chrysostomus eine „Humanisierung der Gesellschaft“ denkt, ließen uns, wenn ich recht sehe, zu ähnlichen Ergebnissen gelangen, vorausgesetzt, wir gingen methodisch ähnlich vor wie eben bei der Erörterung der Eigentumsproblematik, statt Einzelaussagen von ihrem chrysostomischen Gesamtzusammenhang zu isolieren. Ich will das nur noch, ehe wir von Johannes zu Dio Chrysostomus übergehen, rasch im Blick auf die Sklaven‑ und die Frauenfrage mindestens andeuten. Chrysostomus hat gewiß kein Programm der allgemeinen Sklavenemanzipation aufgestellt; wohl aber hat er wiederholt die „Herrschaft des Menschen über Menschen“, wie wir heute sagen würden, unverblümt als Sünde oder vielmehr als Sündenfolge anprangern können, statt sie als „Schöpfungsordnung“ zu glorifizieren und damit im Grunde zu tabuisieren. Für ihn gibt es nur eine Form der Über‑ und Unterordnung, die nicht in menschlicher Sünde, sondern in der Naturordnung selbst begründet liegt, nämlich die „Herrschaft“ der Eltern über ihre Kinder. „Wie dich“ nämlich, führt er zur Begründung an, „die Eltern geboren haben, so kannst du sie nicht gebären“. Von der Sklaverei dagegen gelte, dass sie zu den „drei Arten von Knechtschaft“ gehöre, die „die Sünde eingeführt“ habe. Die beiden anderen „Knechtschaften“ sind die Unterjochung der Frau unter den Mann (anstelle der ihr ursprünglich zugedachten „Gehilfenschaft“) und die Zwangsherrschaft des ‚Staates‘, die Chrysostomus, was ein bezeichnendes Licht auf seine Auffassung von und seine Erfahrung mit der politischen Realität wirft, das Nötigste für die Armen seitens der hartherzigen Reichen zu erlangen“ (Otto Schilling, Reichtum und Eigentum in der altkirchlichen Literatur. Ein Beitrag zur sozialen Frage, Freiburg 1908, 30 f.38; zit. bei Stötzel [Anm. 21], 9, Anm. 24). 53 Vgl. hom 22(23), 5 in Mt (PG 57,305 f); hom 55 (56), 1 (PG 58,539–42); pan Bab 3 (PG 50,537); hom 15,4 in II Cor (PG 51,509); hom 4,5 in Is 6,1 (PG 56,126 f.). 54 Vgl. dazu Stephan Verosta, Johannes Chrysostomus. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe, Graz 1960, 238–257.341–350. – Grant (s. Anm. 47), 129 möchte anscheinend die Tatsache, dass sich auch bei Chrysostomus „nicht die geringste Befürwortung obligatorischer Gütergemeinschaft“ findet, damit erklären, dass seine Haltung „dem Privatbesitz gegenüber auf christliche Askese, auf heidnische Rhetorik und auf eine für die Oberschicht charakteristische Verachtung bloßen Reichtums zurückzuführen ist.“ Das mag wohl sein. Entscheidender scheint mir jedoch sein ausgeprägtes Freiheitspathos zu sein (s. o.), in dem für mein Verständnis auch zum guten Teil das Geheimnis seines angeblichen oder wirklichen „Konservativismus“ beschlossen liegt! 55 So Clark (wie Anm. 37), 195, in ihrer „Antwort“ auf meinen Dallaser Vortrag.
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in der er lebt, als die drückendste Knechtschaft empfindet.56 Darüber hinaus hat Chrysostomus gelegentlich [138] konkret dazu auffordern können, seine Sklaven, wenn anders man sie wirklich liebe „wie sich selbst“ (vgl. Lev 19,18 u. ö.), in eine handwerkliche Lehre zu geben oder ihnen eine andere Ausbildung zuteil werden zu lassen, die ihnen erlaube, auf eigenen Füßen zu stehen, und sie dann freizulassen.57 Entsprechend heißt es in den Acta-Homilien über seinen „utopischen“ Plan eines neuen „Liebeskommunismus“ nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde (s. o.), dass darin Sklaven „natürlich“ nicht vorgesehen seien; „denn derartiges gab es damals (bei den Christen) noch nicht, vielmehr scheint man sie (die Sklaven) freigelassen zu haben“.58 Eine „einschneidende Veränderung der sozialen Institution Sklaverei“ allerdings hat er sich nur von einer „innere(n) Wandlung von Herren und Sklaven in der Gemeinde zu Knechten Gottes“ zu versprechen vermocht, wie ja auch die Sklaverei eben „durch die innere Abwendung des Menschen von Gott entstanden“ sei.59 Allein, Chrysostomus vermochte in diesem Zusammenhang vom Verhältnis zwischen Freien und Unfreien in einer Weise zu reden, die man heute noch als „vielversprechend“ empfindet. Sie lässt es im Grunde auch als undenkbar erscheinen, dass von dem, was „in Christus“ gilt, der status quo von Macht‑ und Besitzverteilung auf die Dauer völlig unberührt bleiben könnte. Wie ja auch der Apostel Paulus bereits ganz selbstverständlich damit gerechnet zu haben scheint, dass christliche Bruderschaft sich „auch in den außergemeindlichen Gegebenheiten und Verhältnissen“60 (καὶ ἐν σαρκί: Phlm 16) zu bewähren bestrebt sein werde! Was schließlich die Frauenfrage anlangt, so sind im chrysostomischen Corpus zweifellos nicht wenige Äußerungen zu finden, die zu beweisen scheinen, dass 56 Vgl.
insbesondere aus den „9 Homilien über das Buch Genesis“ die 4. und 5. Predigt (PG 54,593–604) und dazu vor allem die Kieler theologische Dissertation von Wulf Jaeger, Die Sklaverei bei Johannes Chrysostomus, Diss. Kiel, 1974, die ebenso erschöpfend wie ausgewogen über diesen Gesamtkomplex berichtet. 57 Hom 40,5 in I Cor (PG 61,554). Dass diese Aufforderung keineswegs so isoliert bei Chrysostomus steht, wie Stötzel (Anm. 21), 91, meint, ist bei Jaeger (wie Anm. 56), 145, nachzulesen! 58 Hom 11,3 in Act (PG 60,97). 59 Jaeger (wie Anm. 56), 212. 60 Wolfgang Schrage, Barmen II und das Neue Testament. Einige neutestamentliche Beobachtungen im Blick auf Barmen II, in: Alfred Burgsmüller (Hg.), Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde, Gütersloh 1974, 163. – Im Gegensatz zu der oben skizzierten Deutung schreibt Clark (wie Anm. 37), 195 f., gerade im Hinblick auf die Stellung zur Sklaverei, Chrysostomus „zumindest ebenso konservative Ansichten wie Paulus“ zu, stellt aber immerhin einen „utopischen Zug im Denken des Chrysostomus über die Sklaverei“ nicht in Abrede (197). Mit letzterem unterscheidet sie sich von Peter Stuhlmacher, der in seinem auslegungs‑ und wirkungsgeschichtlichen Exkurs zum paulinischen Philemonbrief (Der Brief an Philemon, 2. Aufl. Einsiedeln usw. 1981 [EKK 18], 58–66) mit Chrysostomus eine „anti-emanzipatorische“ Auslegungslinie beginnen sieht. Diese Einschätzung basiert auf einer völligen Isolierung der Phlm-Homilien vom Gesamtwerk und einer, nicht zuletzt dadurch bedingten, viel zu eindimensionalen Interpretation derselben.
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er in dieser Frage einen noch weit „konservativeren“ Standpunkt vertrat als bereits Paulus,61 aber auch als die griechisch-römische Welt, zumal der frühen Kaiserzeit, in der, wie K. Thraede gezeigt hat, von einem durchgängigen Patriarchalismus schlechterdings nicht gesprochen werden kann.62 Man hüte sich indes, Chrysostomus unbewusst an unserem modernen Paulusverständnis zu messen! „Sein“ Paulus hat nicht nur die Gleichheit von Mann und Frau „in Christo“ proklamiert (Gal 3,27.28); er gilt ihm vielmehr – selbstverständlich – auch als Autor des mulier taceat (1 Kor 14,34.35) sowie der „Haustafeln“ des Kolosser‑ und des Epheserbriefes (Kol 3,18–4,1; Eph 5,22–33) und der „Ständetafeln“ der Pastoralbriefe (1 Tim 2,8–15; Tit 2,1–10). Es ist zudem zu bedenken, dass bereits in der Generation nach Paulus ein Prozess bemerkbar wird, menschliche Gemeinschaften verstärkt hierarchisch mit einem [139] „Monarchen“ an der Spitze zu organisieren. Das gilt für die Entwicklung des römischen Kaisertums (vom Prinzipat zum Dominat) ebenso wie für die des monarchischen Episkopats (oder Monepiskopats) in der Kirche und des Patriarchats im rabbinischen Judentum – alles annähernd gleichzeitige Vorgänge! – und führt u. a. zur Unterdrückung der Frau und zur (wieder) verstärkten Betonung der patria potestas. „Bis ums Jahr 100 nC., so darf man vermuten, hat es Frauen als Apostel, Propheten und Lehrer, die Reihe im alten lockeren Sinne verstanden, gegeben. Ihre Unterdrückung im Zuge der Ältestenverfassung wohl jüdischer Herkunft (das mussten Männer sein), daneben die Stützung des Kirchenbegriffs auf Naturordnung und militärische Hierarchie im 1. Clemensbrief …, die nachmalige Anlehnung des Monepiskopats an Kaiserideologie – das alles besagt: hier hat sich ein Großteil der Kirchen dem konservativen Widerspruch ihrer paganen Umwelt gegen die Errungenschaft z. B. des römischen Rechts für die Frau angeschlossen und theologisch sogar noch verschärft“.63 All das lag zur Zeit des Chrysostomus nahezu 300 Jahre zurück. Es ist daher alles andere als verwunderlich, wenn es auch bei ihm unübersehbare Spuren hinterlassen hat. Erstaunlich ist vielmehr allein, in welchem Umfang bei ihm gleichwohl Raum blieb für die (selbst nach unserem Verständnis echt) paulinische Sicht. Wie sehr, das ließe sich vor allem für den asketisch-monastischen Bereich zeigen. Hier galt Gal 3,27 f. uneingeschränkt.64 Allein, konnte es darauf beschränkt bleiben, wenn anders über das Verhältnis 61 So
außer Clark (wie Anm. 37), 196, anscheinend auch etwa Reiner Kaczynski, Das Wort Gottes in Liturgie und Alltag der Gemeinden des Johannes Chrysostomus, Freiburg usw. 1974 (FThSt 94), 363, Anm. 212. 62 Vgl. außer seinen großen Artikeln „Frau“ und „Gleichheit“ im RAC (Bd. VII, 1972, 197– 269; XI, 1981, 122–164) jetzt vor allem den Vortrag: Klaus Thraede, Der Mündigen Zähmung. Frauen im Urchristentum, in: Eckart Olshausen (Hg.), Die Frau in der Gesellschaft, Stuttgart 1987 (Humanistische Bildung 11), 93–121. 63 Thraede, Der Mündigen Zähmung (wie Anm. 62), 108 f. 64 Das ist auch von Elizabeth Clark klar erkannt und anerkannt worden in ihrem wichtigen Buch „Ascetic piety and Women’s Faith. Essays on Late Ancient Christianity“, Lewiston / Queenston 1986 (Studies in Women and Religion 20).
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Mönchtum – Kirche so zu denken war, wie es sich für Chrysostomus mehr und mehr nahelegte? Es ließe sich ferner aufzeigen am chrysostomischen Verständnis der Ehe,65 welches sich immer weiter wegbewegte von einer Missachtung der (Frau und der) Ehe als eines bloßen remedium concupiscentiae (des Mannes), an seinem (reich entwickelten) Konzept von Familienerziehung66 als dem wichtigsten Mittel zur Glaubensweitergabe, zur Christianisierung und damit auch zur ‚Humanisierung‘ der Gesellschaft oder endlich an seinen Aussagen über das Wirken und die Bezeugung des Wortes Gottes im Alltag der Gemeinde.67 Weil er das kirchliche „Amt“, wie bemerkt, primär von der Funktion der Wortverwaltung her verstand und seine Autorität entscheidend durch das dem Amtsträger nicht zueigene, sondern anvertraute „Wort“ begründet und bedingt sah, darum konnte er es auch mit dem Apostel Paulus eingegliedert und eingebettet sehen in den Kosmos der der Kirche im ganzen wie ihren einzelnen Gliedern bestimmten „Gaben“ (Charismen), von denen ein jedes zur „Auferbauung“ der Kirche als des „Leibes Christi“ beiträgt, ein jedes zu deren Vollendung mithilft, ein jedes dient – und gerade auch an dem χάρισμα διδασκαλικόν seinen eigenen, unverwechselbaren Anteil hat, die Frauen ausdrücklich eingeschlossen.68
Johannes Chrysostomus – Dio Chrysostomus Es ist – trotz allem – nicht verwunderlich, dass die Nachwelt Johannes in eine so nahe Beziehung zu jenem noch nach Jahrhunderten von nicht wenigen hochgeschätzten „Rhetor und Philosophen“ Dio aus Prusa in Bithynien brachte, dass sie ihm dessen Beinamen („Chrysostomus“) beilegte. – Wer war Dio? Und was verbindet den einen mit dem anderen „Goldmund“? Auch Dio, um 40 n. Chr. als Spross einer vornehmen Pruser Familie geboren, widmete sich zunächst, wohl um sich auf eine politische Karriere vorzubereiten, rhetorischen Studien. Er betätigte sich also, um den in der Zeit üblichen Ausdruck aufzugreifen, als „Sophist“. Doch scheint er sich noch während dieser Periode schließlich der Philosophie (hauptsächlich stoischer Prägung) genähert 65 Vgl. dazu Alfred Niebergall, Ehe und Eheschließung in der Bibel und in der Geschichte der Alten Kirche. Aus dem Nachlass hg. von Adolf Martin Ritter, Marburg 1985 (MThSt 8), 179–191 sowie die Erlanger theologische Habilitationsschrift von Martin George (Erlangen 1989), die diesem Thema gewidmet ist. 66 Vgl. dazu jetzt vor allem Michael Gärtner, Die Familienerziehung in der Alten Kirche. Eine Untersuchung über die ersten vier Jahrhunderte des Christentums mit einer Übersetzung und einem Kommentar zu der Schrift des Johannes Chrysostomus über Geltungssucht und Kindererziehung, Köln 1985 (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte 7). 67 Vgl. dazu Kaczynski (wie Anm. 61), bes. 310. 68 Vgl. dazu außer Ritter, Charisma, passim jetzt etwa auch den schönen Beitrag von André Méhat, L’exégèse des chapitres 12 et 14 de la première aux Corinthiens dans les homélies de saint Jean Chrysostome. Lectures anciennes de la Bible, Strasbourg 1987 (Cahiers de Biblia Patristica 1), 295–318.
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zu haben.69 Eine regelrechte „Bekehrung“ soll dann seine Verbannung (aus Bithynien und Italien) mit sich gebracht haben, zu der im Jahre 82 n. Chr. anscheinend freimütige Äusserungen über Kaiser Domitian sowie seine Freundschaft mit einem in politischen Verdacht geratenen hochgestellten Römer den Anlass boten.70 Dio führte fortan, insgesamt vierzehn Jahre lang, ein unstetes Wanderleben. Was ihn dabei zum philosophischen Wanderlehrer werden ließ, berichtet er selbst in seiner 13. Rede, betitelt: „In Athen. Von der Verbannung“.71 „Wer“ ihn „unterwegs sah“, heißt es darin, der nannte ihn bald einen Landstreicher, bald einen Bettler, „der eine oder andere aber auch einen Philosophen“. Viele kamen und fragten ihn nach seiner Ansicht über gut und böse. Das zwang ihn zum Nachdenken, um auf diese Fragen antworten zu können. So wurde er zum Seelenarzt, zum Prediger, und zwar zum kynisch-stoischen Prediger, bestrebt, die öffentlichen Zustände im Sinne seines philosophischen Ideals zu bessern. Konkret gesprochen ging es darum, jung und alt um sich zu versammeln, „bis sie weise und Liebhaber der Gerechtigkeit geworden“ wären, bis sie das „Gold und Silber verachten gelernt“ hätten „und es gering“ achteten, ebenso „die reiche Tafel, wohlriechende Salben und geschlechtliche Liebe“; denn dann lebten sie „als Herren über sich selbst und schließlich auch als Herren über die anderen Menschen“.72 So sind denn die Hauptthemen seiner Moralpredigt das Lob der Armut, die „in Wahrheit etwas Heiliges und Unantastbares“ sei;73 das Lob der Tugend, in welcher man alles Glück eingeschlossen zu denken habe, so dass jeder seines Glückes Schmied sei;74 und als Lohn der Tugend die vollkommene innere Freiheit, dank deren man nie in die Lage komme, das Glück anzuklagen,75 und selbst im Stande der Sklaverei sich glücklich fühle,76 da die einzige Sklaverei darin bestehe, nicht zu wissen, „was erlaubt ist und was nicht“;77 das Lob des „einfachen“, naturgemäßen Lebens, vorgebildet für den Kulturmenschen besonders im Leben der Tiere oder auch der Menschen der Vorzeit, in den Gebräuchen barbarischer Völker und nicht zuletzt der von städtischer Verfeinerung unberührten Landleute,78 deren Glück Dio vor allem in der berühmten „Dorfgeschichte“ seiner 7. Rede („Die euboiische Rede oder Der Jäger“)79 klassisch geschildert hat. or 31,122 (ed. von Arnim, Bd. I–II, Berlin 1893/96, hier: Bd. I, 254 f.). or 13,1 (179); 45,1 (Bd. II, 70 f.). 71 Or 13 (Bd. I, 179–189). 72 Or 13,33 (188). 73 Or 7,9 (Bd. I, 191); vgl. 46,11 (Bd. II, 79) u. ö. Zum Lob der Armut vgl. außer or 7 insgesamt etwa noch or 12 (Bd. I, 155–179). 74 Or 3,1 (Bd. I, 34); 23 (Bd. II, 273–276); 25,1 (278); 31,68 (Bd. I, 239); 65 (Bd. II, 156–160); 69 (174–177). 75 Or 65 (Bd. II, 156–160). 76 Or 14,9–24 (Bd. II, 229–232). 77 Or 14,18 (230 f.); 15 (232–241); 80,7 (224–226). 78 Or 1,51 (Bd. I, 9 f.); 30,35 (Bd. II, 300 f.). 79 Bd. 1,189–219. 69 Vgl.
70 Vgl.
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Oft genug hat man auch in Johannes Chrysostomus nur den „Moralisten“ in den Spuren der kynisch-stoischen Diatribe gesehen – und tut dies, wie die Münchner [141] katholisch-theologische Habilitationsschrift von Arnold Stötzel80 lehrt, bis zur Stunde; was Wunder auch, da „das Publikum unter seiner Kanzel kein wesentlich anderes“ gewesen sei als das der Popularphilosophen,81 z. B. Dios von Prusa? Wer seine Predigten liest, gewinnt tatsächlich leicht den Eindruck, als gehe es in ihnen hauptsächlich darum, die Laster zu geißeln und die Tugenden zu preisen.82 Und das Loblied auf das „einfache Leben“, der Preis der Tugend und der inneren Freiheit als ihres „Lohns“ findet auch in diesen Predigten einen reichen Widerhall, allerdings auch die Klage über die Wirkungslosigkeit aller solcher Appelle, wie sie auch bereits in Dios 72. Rede aufklingt.83 Bei genauerem Zusehen erweist sich dieser Eindruck jedoch, wie ich gezeigt zu haben hoffe, als zu vordergründig; nicht zuletzt deshalb, weil Johannes von Antiochien bzw. von Konstantinopel z. B. mit dem Hinweis auf den „sozialen“ Charakter des Christentums immer wieder auch die Grenze zur Popularphilosophie,84 wenn nicht zur Ethik der griechisch-römischen Antike überhaupt, zu ziehen weiß. Das muss freilich präzisiert werden! Wäre es doch ein völliger Irrtum anzunehmen, das „alles zum gemeinen Nutzen“ von 1 Kor 12,7 sei eine Erfindung des Apostels Paulus gewesen. Dieses „Prinzip“ ist vielmehr der Sache nach auch in griechischen und römischen (und erst recht natürlich in jüdischen) Quellen reichlich anzutreffen; jeder brauchbare Korintherkommentar belegt das, wenn man’s nicht ohnehin weiß. Das aber ändert nichts daran, dass alle Ethik, auch alle Sozialethik, bei Griechen und Römern, „so weitreichend ihre Forderungen … auch gehen mögen, … aus einer absoluten Wertschätzung des Individuums“ und seiner „Glückseligkeit“ abgeleitet ist,85 am konsequentesten in der Stoa und ihrer οἰκείωσις-Lehre, nach der sich sämtliche sittlichen Postulate „stufenweise aus dem ersten Naturtrieb aller Lebewesen, der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung“ ergeben.86 Zudem ist auffällig und der Erklärung bedürftig, dass sich 80 S.
oben Anm. 21. (wie Anm. 21), 218. 82 So hat Chrysostomus gelegentlich selbst Inhalt und Auftrag der Predigt umschreiben können: hom.23(22), 1 in Joh (PG 59,137 f.). 83 Vgl. D.Chr. or 72 (ed. von Arnim, Bd. II, 184–189) mit J.Chrys. stat 16,2 (PG 49,163 f.). 84 Vgl. die Kritik an Diogenes in seiner Rede auf den hl. Babylas (8: PG 50,545). 85 Albrecht Dihle, Art. Ethik, RAC, Bd. VI, 1966, 646–796 (hier: 656). 86 Ebd. 649. – Der Stoiker auf dem Kaiserthron, Marc Aurel, liefert mit seinen „Selbstbetrachtungen“ den schlagendsten Beleg dafür. Dass es etwa auf Hingabe, Verzicht auf den eigenen Wert und Anspruch ankommen könne, das wäre wohl auch diesem Mann, welcher so unvergleichlich oft und bewegend von den Verpflichtungen des Menschen als „Gemeinschaftswesen“ gesprochen hat, nie in den Sinn gekommen. Damit dürfte es auch zusammenhängen, dass wir in diesen „Selbstbetrachtungen“ sozialkritische oder gar sozialreformerische Gedanken völlig vermissen. Anders steht es mit Julian „Apostata“ (vgl. Jürgen Kabiersch, Untersuchungen zum Begriff der Philanthropia bei dem Kaiser Julian, Wiesbaden 1960 [KPS 21]). Dass 81 Stötzel
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vom Reichtum sozialethischer Ansätze, wie sie auf dem Boden des intensiven politischen Lebens der griechischen πόλεις in klassischer Zeit zutage traten, im Laufe der Kaiserzeit immer weniger erhalten hat.87 Ein Grund dürfte sein, dass schon die hellenistische Philosophie, „die sich in ihrer einseitig individualethischen Orientierung wohl zu Recht auf Sokrates berufen konnte“, diese [142] reichen Ansätze „gleichsam überholt“ hatte.88 Wenn das nun, wie ich überzeugt bin, bei Johannes Chrysostomus ein wenig anders aussieht, dann kann es für ihn auch nicht damit sein Bewenden haben, den einzelnen von seiner Habsucht, von der Bindung an die Dinge, zu befreien, ohne dass über die Weise der Verwendung des Besitzes gesprochen werden müsste. Und wie wir gesehen haben, hat Johannes es wieder und wieder zur Sprache gebracht. Doch blicken wir von ihm ein letztes Mal auf Dio Chrysostomus zurück. Für diesen hat das kynische Lebensideal, wie es scheint, nur in der Zeit seiner Verbannung im Mittelpunkt gestanden. Danach sehen wir, wie vor dem Exil, das Politische wieder in den Vordergrund treten, wofür aber der Stoizismus an positiver Theorie ergiebiger war als der Kynismus.89 So finden wir denn auch in seinen seither gehaltenen Reden einen reichen Niederschlag stoischer Reflexion. Wie er nach seiner Rückkehr in seine Vaterstadt alsbald hochfliegende Pläne zur Hebung und Verschönerung derselben fasst – was ja in einem bemerkenswerten Kontrast zu seinen kynischen Prinzipien steht und ihm auf die Dauer auch so viel Widerwärtigkeiten seitens seiner Mitbürger bereitet, dass er schließlich resigniert und Prusa von neuem verlassen zu haben scheint, diesmal freiwillig und endgültig –, so verkünden seine Reden seit dieser Zeit, dass es den Menschen naturgemäß sei, „sich im Dienste der Allgemeinheit zu betätigen, sich in die Politik einzumischen, das Vaterland zu ehren und zu lieben“.90 Ja, des Philosophen die Weise, wie er immer wieder „Ehrfurcht vor den Göttern“ und „Güte gegen die Menschen“ miteinander zu verkoppeln sucht, eher in seiner christlichen Erziehung als in den Traditionen begründet ist, auf die er sich ausdrücklich bezieht, wird an dem „Traditionsbeweis“ selbst manifest, der in diesem Falle äußerst dürftig ist, um es vorsichtig auszudrücken. 87 Man vergleiche nur die Reden des Dio von Prusa, in denen bereits Sätze wie die: Der rechte Mann (sc. der Philosoph) „bringt sein Leben bis ans Ende zu, denke ich, in der Sorge um den Menschen“ und „brennt geradezu darauf, nach Möglichkeit allen Menschen zu helfen“ (or 77/78,39 f. [ed. von Arnim, Bd. II, Berlin 1896, 218]), relativ isoliert dastehen, zumal in den Diatriben, mit der Weise, wie Synesius von Kyrene in seinem „Dion Chrysostomos oder Vom Leben nach seinem Vorbild“ (ed. K. Treu, Berlin 1959 [SQAW 6]) darauf rekurriert. Bei Synesius klingt nämlich nur noch die Botschaft vom Segen des „einfachen Lebens“ nach (vgl. Dion 2,2 f. [ed. K. Treu, a. a. O., 12–14], vor allem mit Dios von Prusa berühmter „Euboiischer Rede“ [s.oben]), während alles „Politische“ in der Tat aus der „Erziehung in den höchsten Wahrheiten“ ausgeklammert ist (ebd. 4,2 f. [K. Treu, 18]). 88 Dihle (wie Anm. 85), 657. 89 In beiderlei Hinsicht besteht keine besondere Affinität zum Neuen Testament, so dass die „Parallelen“, die G. Mussies gesammelt hat, meist völlig belanglos sind (Gerard Mussies, Dio Chrysostom and the New Testament, Leiden 1972 [SCHNT 2]). 90 Or 47,2–7 (ed. von Arnim, Bd. II, 81 f).
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eigentliche Lebensaufgabe bestehe darin, Harmonie im Staatswesen zu stiften91 und sich zum Herrscherberuf zu bilden.92 Auffällig ist der, vor allem der eigenen Polis geltende, ausgeprägte griechische Patriotismus Dios im Gegensatz zu dem bei Stoikern und Kynikern sonst üblichen Kosmopolitismus. All das ist nun bei Johannes Chrysostomus völlig anders! Man findet da wenig Spuren von Griechenstolz oder gar ‑arroganz, keine Abhandlung Περί βασιλείας, keine Vision eines Philosophenkönigs, keinen Herrscherpanegyrikos (wohl aber hie und da Schilderungen der inneren, skandalösen Verhältnisse am Kaiserhof93). Obwohl ein Stadtmensch, war Chrysostomus allem Anschein nach auch ohne wirklichen Sinn für urbanes Leben und urbane Zivilisation. Wenn er in dieser Hinsicht Träume hatte, dann – so lässt sich schon mit einem gewissen Recht sagen – träumte er eher davon, die Städte zu Klöstern werden zu lassen!
Fazit An eine zwangsweise Realisierung seiner „Träume“, eine zwangsweise Beseitigung des Privateigentums und der Sklaverei, eine zwangsweise Einführung des „Kommunismus“ und der Frauenemanzipation hat Chrysostomus – selbstverständlich! – ebenso wenig gedacht wie an eine Inanspruchnahme des ‚Staates‘ oder gar an eine Abwälzung aller Verantwortung auf diesen. Viel eher dachte er an eine „soziale Reform“ ganz aus den eigenen Kräften der Kirche.94 Der Kirche aber sind zu ihrem eigenen Besten Zwangsmittel nicht gegeben. Sie hat zur „Vollkommenheit“ zu rufen, hat Gottes unverbrüchlichen [143] Willen über diese Welt zu verkündigen, im übrigen aber es darauf ankommen zu lassen, wieweit sie gehört und verstanden wird. Der despotische Absolutismus des spätantiken römischen Reiches vermochte jedenfalls einem Mann wie Chrysostomus eher Schrecken einzujagen; und es spielte dabei, wie es den Anschein hat, überhaupt keine Rolle, dass dieser Staat inzwischen „christlich“ geworden war. Man könnte auch sagen: Obwohl Chrysostomus zweifellos mehr als andere Kirchenväter nicht nur ein Herz für die Armen, sondern auch ein erstaunliches Verständnis für ökonomische Sachverhalte besaß, sind es doch eher ethischreligiöse Erwägungen, eher „Mönchsgedanken“ gewesen, die ihn leiteten, als dass es ihm im Sinne von Genesis 2,15 um das „Bauen und Bewahren“ der dem Menschen anvertrauten „Welt“ als solcher gegangen wäre. Doch war der Welt‑ 91 Or
48,14 (92). 49,3–14 (5.94–97). 93 Vgl. hom 15,5 in Phil (PG 62,294 f.). 94 Sein „Optimismus“ scheint dabei nicht zuletzt darin zu wurzeln, dass er – stärker noch als etwa Dio von Prusa – auf die Gruppe als ethisches Subjekt rekurrieren konnte (Stötzel [wie Anm. 21], 40 scheint etwas Ähnliches gemeint zu haben, drückt sich aber etwas missverständlich aus). 92 Or
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aspekt und ‑bezug des Glaubens eine im Christentum wohl schon zu lange verschüttete Erkenntnis, wenn man nicht überhaupt – ehrlicherweise – sagen muss, dass sie sich erst neuzeitlichem Denken voll erschloss, als dass man ihm daraus billigerweise einen Vorwurf machen dürfte. Dafür hat sich, wie ich hoffe, gezeigt, dass die jesuanisch-paulinische Ethik und Eschatologie, was jedenfalls Chrysostomus betrifft, unbeschadet ihrer ursprünglichen Ausprägung im Horizont der Naherwartung, ihre kritische Kraft noch immer nicht eingebüßt und die völlige Auslieferung des „vernünftigen Gottesdienstes“ der Christen (Röm 12,1) an das Bestehende nicht zugelassen hat. Ja, man kann vielleicht sogar noch einen Schritt weitergehen und hier ein Stück weit sich bewahrheiten sehen, was ich eingangs sagte, dass nämlich die von der Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem und erst recht von der radikal verstandenen Agape ausgehenden „revolutionären“ Impulse neutestamentlicher Ethik und Eschatologie dahin tendierten, auch die selbstgesetzten Schranken zu sprengen und über anfangs getroffene materialethische Entscheidungen und Urteile hinauszuweisen. Schließlich ist mit alledem zugleich angedeutet, dass es meiner Auffassung nach im Buch der Geschichte der Utopie auch ein gewichtiges „christliches Kapitel“ gibt, und zwar ein Kapitel, in das nicht ausschließlich allerlei ‚Ketzer‘ oder Randfiguren wie das gnostische Wunderkind Epiphanes z. B.,95 sondern gerade auch ein Apostel Paulus und ein Johannes Chrysostomus hineingehören. Also hätten wir nun noch u. a. über eine christliche Rehabilitierung der Kategorie des Utopischen nachzudenken. Aber das führte – im Augenblick zumindest – sicherlich entschieden zu weit.96
95 Vgl. Adolf Martin Ritter, Christentum und Eigentum bei Clemens von Alexandrien auf dem Hintergrund der frühchristlichen „Armenfrömmigkeit“ und der Ethik der kaiserzeitlichen Stoa, ZKG 86 (1975), 1–25 (hier: 23 f.). 96 Vgl. dazu meinen Beitrag „Die altchristliche und die byzantinische Utopie“, der in den Akten des Salzburger Symposiums zur antiken Rechts‑ und Sozialphilosophie (22.–24. 10. 1986) erscheinen wird [jetzt in: Olof Gigon/ Michael W. Fischer (Hg.), Antike Rechts‑ und Sozialphilosophie, Frankfurt/Main usw. 1988 (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats‑ und Sozialphilosophie 6), 147–162]. Zum Schluss heißt es dort (unter Bezugnahme besonders auf das nach wie vor wichtige Kapitel „Kritik und Rechtfertigung der Utopie“ von Paul Tillich, Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker [1951], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VI: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1963, 157–210, hier: 198–210): „Wenn … christliche Theologie aus der Geschichte der Utopie etwas lernen kann, ja lernen muss, dann vornehmlich dieses, dass – wegen der augenfälligen Zweideutigkeit des utopischen Bewusstseins – heutzutage der Verzicht auf jeden Versuch seiner religiösen Überhöhung (nicht zuletzt wegen der darin schlummernden Totalitarismusgefahr) dringend geboten ist. Wird aber das utopische Bewusstsein mit seiner Tendenz auf zukunftsbezogene, konkrete Realität (im Wechselspiel von Nahziel und Fernziel) von der christlichen Hoffnung klar unterschieden, so kann es – als verantwortlich mobilisierbares, weil kritik‑ und gerichtsfähiges Potential – zur Wirksamkeit und, was nicht minder wichtig ist, zur Kommunikationsfähigkeit christlichen Handelns beitragen“ (157 f.).
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Postscriptum 2012 Seit der im voraufgehenden dokumentierte Festvortrag, zusammen mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat, im Druck erschien, ist auf dem Feld der Chrysostomusforschung sehr viel geschehen, auch was mit dem angeschnittenen Thema unmittelbar zu tun hat. Es ist jedoch gar nicht daran zu denken, auf all das an dieser Stelle in der erforderlichen Gründlichkeit einzugehen. Auf der anderen Seite hielte ich die unveränderte Wiedervorlage eines alten Textes in diesem Fall nachgerade für sinnlos, wenn nicht der Versuch gemacht würde, zumindest stellenweise den Anschluss an die aktuelle Diskussion zu gewinnen. Als besonders dringlich erscheint es mir, was a) zum Vergleich der beiden Chrysostomi und b) zur Armutsthematik in Denkwelt und Verkündigung des Johannes (mit allem, was damit unmittelbar zusammenhängt) von mir behauptet wurde, im Licht der neueren Forschung auf seine Haltbarkeit zu überprüfen. a) Johannes Chrysostomus – Dio Chrysostomus im Vergleich Zu letzterem sind inzwischen u. a. vier gehaltvolle SAPERE-Bände97 erschienen, die zwar zu einigen Sachpunkten mehr als nur eine Meinung transportieren,98 aber insgesamt bei mir keinen Zweifel daran hinterlassen haben, dass es ganz falsch wäre, wenn man aus meinen Darlegungen den Eindruck hätte gewinnen können, als stehe der eine der beiden „Goldmünder“, Johannes, für das „theokratische“, der andere, Dio, dagegen für das Ideal des „einfachen Lebens“. In Wahrheit stehen beide für beides und sind in gewisser Weise irgendwo dazwischen anzusiedeln. Für Johannes bedarf es keines umständlichen Nachweises, dass für ihn wie den Bereich, für den er sich in erster Linie verantwortlich weiß, „das Göttliche“, um es einmal so neutral auszudrücken, den „beherrschenden“ oder doch wenigstens „normgebenden“ Aspekt abgibt (Theokratie also verstanden im weiteren Sinne von Theonomie). Und gleichzeitig kann er, wie gesehen, sehr wohl (ein gutes Stück weit gemeinsam mit Stoikern und Kynikern) in den Lobpreis des „einfachen“, bedürfnislosen „Lebens“99 einstimmen, und zwar nicht nur 97 Hans-Joseph Klauck (Hg.), Dion von Prusa. Olympische Rede (SAPERE 2), Darmstadt 2000; Heinz-Günther Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung – Die Borysthenes-Rede (SAPERE 6), Darmstadt 2003; Heinz-Günther Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009; Armut –Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Gustav Adolf Lehmann u. a. (SAPERE 19), Tübingen 2012. 98 Vgl. bes. die recht gegensätzlichen, wenn auch gleichermaßen interessanten Beiträge von Eugenio Amato und Sotera Fornaro einerseits, Jacques Schamp andererseits zum SAPERE-Band 13 (wie vorige Anm. [3–69. 259–282]). 99 Vgl. dazu noch immer Rüdiger Vischer, Das Einfache Leben. Wort‑ und motivgeschichtliche Untersuchung zu einem Wertbegriff der antiken Literatur, Göttingen 1965.
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und erst, seit er selbst in das Elend der Verbannung gestürzt wurde – besonders die zweite, längste, war in der Tat ein reines Elend – und es auch die zu trösten galt, die um ihn in Sorge waren und / oder zum „Lohn“ für ihre Treue zu ihm Bedrückung und Verfolgung zu erleiden hatten.100 Doch auch der „Goldmund“ aus Prusa weiß wahrlich von göttlicher Ordnung in ihrer Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft zu reden, wie vor allem die „Borysthenes“-Rede (or 36; 19 von Arnim), nach der „Euböischen“ die bekannteste aus Dios Gesamtwerk, lehrt,101 deren längster, zweiter Hauptteil (Kap. 28–61) ausschließlich von der göttlichen Lenkung des Kosmos und den Weltperioden handelt.102 Das Thema des einfachen Lebens wird unbestreitbar, wie im Vortrag behauptet, wieder und wieder in den 80 erhaltenen Reden des Mannes aus Prusa angesprochen, besonders in dessen zahlreichen Diatriben. Allein, außer den vier Reden „Über die Königsherrschaft (Περὶ βασιλείας)“ enthalten auch die am meisten beachteten unter allen, der „Olympische“, „Borysthenische“ und „Euböische Logos“ (Ὀλύμπιος, Βορυσθενιτικός, Εὐβοϊκός Λόγος), eine klare politische Botschaft. Um das nur an dem letzteren (or 7; 13 von Arnim) aufzuzeigen: er entwickelt im Anschluss an die „Euböische Idylle“ (mit Beschreibung der „Lebensweise eines Bauern, eines Jägers und Hirten“ [§ 1–102]; Zitat: 103), für die man sich bislang am ehesten zu interessieren pflegte,103 ein „sozialethische(s) und ökonomische(s) Reformprogramm, mit dem die Lage der erwerbslosen Stadtarmut in den Zentren der Polisgemeinden grundlegend, mit den Mitteln einer fürsorglichen ‚Stadtpolitik‘, verbessert werden sollte“.104 Eine 100 Vgl. dazu die ausschließlich den beiden Exilen entstammende Korrespondenz, besonders die Briefe an die vornehme Freundin und Woltäterin Olympias, in der schönen Übersetzungsausgabe von Anne-Marie Malingrey (SC 13, Paris 1947), und den langen, traktatähnlichen Brief „An Olympias und alle Gläubigen“, bekannt unter dem Titel: Quod nemo laeditur nisi a seipso, ebenfalls von A.-M. M. und in derselben Reihe, diesmal aber zweisprachig herausgegeben (SC 103, Paris 1964). 101 Mit Recht trägt deshalb der ihr gewidmete SAPERE-Band 6 (wie Amn. 97) den Obertitel: „Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung“. 102 Vgl. dazu bes. den Beitrag von Maximilian Forschner, Philosophie und Politik: Dions philosophische Botschaft im Borysthenitikos, zum selben Band (128–156). – Wie schon Hans von Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898, bemerkte und Heinz-Günther Nesselrath in seiner Einführung zum genannten SAPERE-Band (22–25) i. w. bestätigte, kommt der Borysthenes-Rede in dieser engen Aufeinanderbeziehung von kosmischer Ordnung und menschlichem Zusammenleben am nächsten die erste Rede „Über das Königtum“ (or 1) und die Rede „Über die Eintracht mit den Bürgern von Apameia, vorgetragen in der Heimatstadt“ (or 40), was die starke Verankerung dieser Verknüpfung in Dios Denken unterstreicht. 103 Folgenreich war bes. Eduard Meyers Urteil, der der Idylle nur noch allerlei „moralisierende Betrachtungen“ folgen sah, welche man dem Autor „gern schenken“ möchte (E. M., Kleine Schriften, I, Halle 21924,168; zit. bei G. A. Lehmann in seinem Vorwort zum SAPERE-Band 19 (wie Anm. 97), VII. Von dieser Mehrheitssicht ließ sich auch meine Darstellung im Vortragstext von 1988 leiten. 104 So mit Recht Lehmann (wie vorige Anm.). Vgl. auch den Beitrag von Dorit Engster, Fiktion oder Realität? Dions Euboikos Logos in der althistorischen Forschungsdiskussion seit Eduard Meyer, in: SAPERE-Band 19 (wie Anm. 97), 143–165.
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wesentliche Voraussetzung für das Gelingen blieb freilich in des Redners Sicht, dass „Reiche“ wie „Arme“ lernen, im „Reichtum“ nicht unbedingt ein Glück und in der „Armut“ nicht unbedingt ein Übel, vielmehr die Chance zu einem selbstbestimmten, „würdigen“ Leben in Freiheit zu sehen (81.100–102.103.125 u. ö.). Dieser Überzeugung ist es wohl auch (mit) zuzuschreiben, dass der Redner nur vergleichsweise knapp und indirekt auf das Problem der Sklaverei eingeht.105 Bemerkenswert ist ferner, dass mit „Armut“ (πενία) in dieser Rede nicht die völlige Mittellosigkeit gemeint ist.Angesprochen sind vielmehr „freie und arbeitswillige Männer (ἄνδρες ἐλεύθεροι αὐτουργεῖν ἐθέλοντες)“ (103), die ihre „Armut“ durch – ehrliche! – Arbeit überwinden können und sollen. Der Kreis derer jedoch, an die Johannes z. B. in der 66. seiner Matthäushomilien beim Stichwort „Armut“ denkt,106 kommt in Dios „Reformprogramm“, mit einer einzigen Ausnahme, gar nicht vor, nämlich die mindestens in Großstädten wie Antiochien schätzungsweise zehn Prozent von der Gesamtbevölkerung ausmachenden „Armen (πένητες), welche rein gar nichts besitzen“ (οὐδὲν ὅλως ἔχοντες), d. h. „Witwen“ (χῆραι), „Jungfrauen“ (in erster Linie wohl solche Frauen, die ehelos zu leben gelobten [παρθένοι]), ferner „im Kerker Schmachtende“, „im Spital Darniederliegende“, „Fremde“ (ἀποδημοῦντες), „solche, die das Kirchenportal (oder: die Altarstufen) belagern und dort auf Nahrung und Kleidung warten (τῷ θυσιαστηρίῳ προσεδρεύοντες, καὶ τρoφῆς καὶ ἐνδυμάτων ἕνεκεν)“ sowie die kurzfristig in Not Geratenen, auf Bettel Angewiesenen; ausgenommen sind die „gesunden“ Habenichtse (ὑγιαίνοντες), die – ohne weitere Erläuterung – ebenfalls in des Johannes Armenliste auftauchen. Außer Zweifel steht, wie gesagt, dass Dio ein politisch interessierter und denkender Zeitgenosse gewesen ist und somit dem ansonsten in der kaiserzeitlichen Philosophie vorherrschenden Trend107 nicht entspricht. Bei ihm verbinden sich, so ist auch mir jetzt deutlicher zu sehen als zuvor, ganz ungezwungen Kosmopolitismus, Rombegeisterung108 und städtischer Patriotismus, wie ihn nicht zuletzt sein „Reformprogramm“ mit dem Ziel der Bekämpfung der „Stadtarmut“ durch Arbeit an den Tag legt.109 105 Vgl. Engster (wie vorige Anm.), 164. Zum Thema Sklaverei und Freiheit s. auch Dios orr 14.15.80 und dazu die (noch unveröffentlichte) Trierer Dissertation von I. Loffredo, Die Reden des Dion von Prusa über Sklaverei und Freiheit (Trier 2010), auf die die Betreuerin Elisabeth Herrmann-Otto, Armut, Arbeit und Prostitution in der römischen Kaiserzeit im (Spannungs‑)Verhältnis zur dionischen Menschenwürde, in: SAPERE 19 (wie Anm. 97), 213–233; hier: 227, Anm. 55, aufmerksam macht. 106 S. o. S. 44 f. 107 S. o. S. 52 f. 108 Jedenfalls seit Nervas Herrschaftsantritt, der auch das Ende seiner Verbannung (relegatio perpetua) mit sich brachte, und vor allem unter der Regentschaft Trajans, mit dem ihn ein von Jahr zu Jahr vertrauter werdender Umgang verband, wie die, diesem gewidmeten, vier „Königsreden“ beweisen. 109 Dass Dio mit seinem Euboikos Logos regelrecht Propaganda für das ähnlich gerichtete, agrarpolitische Reformprogramm Trajans zu machen beabsichtigte, ist in der Forschung mehr-
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Wieviel sich von diesem Programm realisieren ließ, ist unbekannt. Gut bezeugt ist dagegen, dass Dio sich auch in einem glanzvollen Bauwerk zu verewigen, also dem für einen antiken „Stadtpolitiker“ und Angehörigen der Oberschicht typischen „monumentalen Euergetismus“ zu frönen und dafür dauernden Ruhm zu ernten gedachte, damit freilich wohl Schiffbruch erlitt.110 Es war das eine Form von „Wohltätigkeit“, die noch zur Zeit des Johannes in Libanius einen überzeugten Fürsprecher fand, in Johannes dagegen einen ebenso überzeugten Kritiker.111 Kurzum: es gibt, fast 25 Jahre nach Veröffentlichung des Bonner Vortrags, genügend Anlass, den Vergleich zwischen den beiden Chrysostomi behutsamer anzugehen und differenzierter zu beurteilen als dort; aber es dürfte dabei bleiben, dass es zwischen beiden „Goldmündern“ nicht nur vielfältige Übereinstimmungen gibt, sondern auch keineswegs zu bagatellisierende Unterschiede, von andersartigen Motivationen ganz abgesehen; von denen aber war in den hier referierten Diskussionen nicht die Rede. b. Wie man patristische Texte über sozialethische Fragen zu lesen habe? Das Beispiel des Johannes Chrysostomus Zu „Armut und Reichtum“ in der Spätantike und verwandten Problemen, die unzweifelhaft eine große Rolle im Schrifttum des Johannes Chrysostomus spielen, gerade auch im Hinblick auf das im voraufgehenden behandelte Thema, gibt es in der Zwischenzeit, seit Abfassung meines Bonner Vortrages, eine kaum noch zu überblickende Sekundärliteratur.112 Ich würde jetzt natürlich die 4. völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage von Géza Alföldys „Römische(r) Sozialgeschichte“ (Stuttgart 2011) einarbeiten, mit dem ich bis zu seinem plötzlichen Tod ständig im Gespräch war, oder etwa auf die beiden Kapitel zur Wirtschafts‑ und Sozialgeschichte der Spätantike in dem von Noel Lensky herausgegebenen Band, The Cambridge Companion to the Age of Constantine, Cambridge (2006) 2. revised ed. 2012, verf. v. Caroline Humfress („Civil Law and Social Life“ [205–225]) und Georges Depeyrot („Econony and Society“ [226–252], jeweils ebenfalls mit weiterführenden Literaturangaben) hinweisen.
fach zur Diskussion gestellt worden, wie Engster (wie Anm. 104), 162 f., berichtet. Freilich wird bei Dio, wie gesehen, der agrarpolitische Rahmen weit überschritten. Erst recht gilt das von den Parallelen zum Reformprogramm des Euboikos, namentlich in den „bithynischen Reden“ (orr 40 ff.); vgl. dazu Lehmann (wie Anm. 97), 16–20.109, Anm. 124. 110 S. Lehmann (wie Anm. 97), 15–18. 111 Dazu auch unten, Kap. XIII, S. 200–202. 112 Kostproben bieten etwa die umfangreichen Bibliographien in den verschiedenen Beiträgen zu: Pauline Allen u. a. (Hg.), Preaching Poverty in Late Antiquity (AKThG 28), Leipzig 2009, angefangen mit der „Introduction“, verf. von der Hauptherausgeberin selbst und Silke Sitzler, 15–33; hier: 31/33, bis hin zum Schlusskapitel (6. „Conclusions“), verf. v. Browen Neil, 209–231; hier: 229/231.
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Unumgänglich aber wäre eine gründliche Auseinandersetzung mit mehreren Beiträgen der von Johan Leemans u. a. herausgegebenen Aufsatzsammlung „Reading Patristic Texts on Social Ethics“ (Washington D. C. 2011) und vor allem mit dem zwei Jahre zuvor erschienenen Buch „Preaching Poverty in Late Antiquity. Perceptions and Realities“, hg. v. Pauline Allen u. a.. Ich will und muss es hier jedoch mit einer kurzen Stellungnahme zu den direkt auf J. Chrysostomus bezogenen Beiträgen in beiden Veröffentlichungen sein Bewenden haben lassen. Sie entstammen jeweils der ‚Feder‘ der verdienten Chrysostomusforscherin und exzellenten ‑kennerin Wendy Mayer.113 Und da diese sich mehrfach auf Martin Illerts Dissertation über „Johannes Chrysostomus und das antiochenisch-syrische Mönchtum“114 beruft, muss auch sein Büchlein in die Betrachtung einbezogen werden. Beide Sammelwerke („Reading Patristic Texts“ und „Preaching Poverty“) sind, wie ihre Vorworte verraten, hervorgegangen aus jeweils mehrjährigen Forschungsprojekten, durchgeführt in Belgien und Australien jeweils unter internationaler Beteiligung. Ihre Beiträge haben also diverse Diskussionsprozesse durchlaufen; ihr Erkenntnisgewinn ist dementsprechend – insgesamt – beträchtlich. Und doch scheint mir die Diskussion noch nicht für beendet erklärt werden zu können, da sich nach wie vor gewichtige Fragen stellen. Auf einige von ihnen muss ich mich, aus Raumgründen, beschränken und will das so einfädeln: Während sich das am Zentrum für katholische Sozialethik der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität zu Leuven angesiedelte „belgische Projekt“, aus dem die erstgenannte Sammelveröffentlichung hervorgegangen ist, der Erforschung des Potentials für einen Dialog zwischen Kirchenvätern und heutiger katholischer Soziallehre widmete (VII) – mit, wie es scheint, nicht selten eher magerem Ertrag,115 war die Zielsetzung des „australischen Projekts“, mit Zentrum an der Australischen Katholischen Universität zu Brisbane, im Grunde die Überprüfung der Thesen Peter Browns im Kapitel „Poverty and power“ seiner Monographie „Power and Persuasion“ (Madison, Wis. 1992; deutsch u. d. T. „Macht und Rhetorik in der Spätantike“, München 1995) und dann vor allem in dem Buch „Poverty and Leadership in the Later Roman Empire“ (Hanover u. a. 2002), wonach bis zum Aufstieg des Christentums Armut und Arme in der Gesellschaft gar nicht zu Gesicht kamen und kein Gesicht besaßen und es erst 113 Es handelt sich um die Aufsätze: The Audience(s) for Patristic Social Teaching. A Case Study, in: Reading Patristic Texts (wie o., Text), 85–99 (zitiert: Mayer, Audience[s]), und: John Chrysostom on poverty, in: Preaching Poverty (wie Anm. 112), 69–118 (zitiert: Mayer, Poverty). Ich beziehe ein das von ihr mitverfasste methodologische Kap. 2 „Reading the texts: a methodology of approach to genre“ in: Preaching Poverty, 35–68 (zitiert: Mayer u. a., methodology) und verweise gelegentlich auch auf die von Pauline Allen / Silke Sitzler verfasste „Einleitung“ zu demselben Sammelwerk, 15–33 (zitiert: Allen/Sitzler, Introduction). 114 Im Druck erschienen ist die Kieler Dissertation von 1998 im Pano-Verlag Zürich/Freiburg i. Br. 2000. 115 Vgl. den matten Schlußsatz von Mayer, audience(s), 99.
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die Bischöfe der spätantiken Reichskirche waren, die ihre Partei ergriffen (ihre „Liebhaber“ [lover] waren) und zu ihren „Anwälten“ wurden.116 Dagegen lautet das ceterum censeo des australischen Teams, dass es Brown so gut wie durchweg an Umsicht und Unterscheidungsvermögen („caution and discernment“) habe fehlen lassen.117 Ich habe den Angegriffenen hier nicht zu verteidigen, will aber nicht verschweigen, dass mir das letzte Wort zu seinen Thesen noch keineswegs gesprochen zu sein scheint; schon der Vergleich zwischen Dio und Johannes Chrysostomus und ihrer (Nicht‑)Wahrnehmung der Bettelarmut (πτωχεία im Unterschied zu πενία) als Herausforderung an Politik und Sozialethik (s. o.) oder eine sorgfältige Analyse der Vorgänge um den Tumult in Antiochien anlässlich einer Steuererhöhung im Frühjahr 387118 dürften darauf hindeuten, dass den Brownschen Thesen zumindest ein Wahrheitskern schwerlich abzusprechen ist. Was ich einigen seiner Kritiker vorzuwerfen habe, ist, dass sie die von ihnen eingeforderte Umsicht und Unterscheidungskraft selbst oft genug haben vermissen lassen; das sei im folgenden einzig an Ausführungen W. Mayers (W. M.) zu J. Chrysostomus belegt. Chrysostomus’ Beglaubigungen als Mönch (seine „monastic credentials“), heißt es in dem von W. M. mitverantworteten Methodenkapitel (= Kap. 2) von „Preaching Poverty“ lapidar, „sind in der neueren Forschung durch Illert und Mayer als haltlos erwiesen worden“ („downplayed“).119 Da die Autorin nun, abgesehen von einem Selbstzitat aus einem mir nicht zugänglichen Vortrag,120 hauptsächlich auf Martin Illerts (M. I.s) Dissertation verweist121 und dieser mithin die wesentliche Beweislast auflädt, halte ich mich in erster Linie an diese und frage ohne Umschweife, ob sie denn das uneingeschränkte Vertrauen verdiene, welches W. M. und ihr Team ihr offensichtlich schenkten. Strittig sind zunächst die Anfänge der Karriere des Chrysostomus, über die uns die ältesten erhaltenen biographischen Zeugnisse unterschiedlich informieren.122 Während die beiden ältesten chrysostomusfreundlichen Zeugen (Palladius123 und Ps.-Martyrius124) davon berichten, dass ihr Held, bevor er in die Dienste der 116 Vgl. Brown, Poverty and Leadership, 111: „All over the empire, Christian bishops, clergymen and monks fostered a nonclassical image of society by the simple process of speaking as if society were, indee, divided primarily between the rich and the poor, the weak and the powerful, according to a Biblical, Near Eastern model“. 117 Allen/Sitzler, Introduction, 17–21; Mayer, Methodology, 63; vgl. im übrigen das Register s. n. Brown. Dass sie mit der Kritik an Brown nicht allein stehen, ist ihren Anmerkungsapparaten zu entnehmen. Ich kann davon hier jedoch nicht weiter Notiz nehmen. 118 Vgl. dazu unten, Kap. XIII, 209 f. 119 Mayer, Methodology, 60. 120 Ebenda, Anm. 120. 121 S. 60.78.96 f.109. 122 Illert, 2 f. u. ö. 123 Pall., vit Chrys 5, 16–33 (SC 341, 108/10). 124 Ps.-Mart., or fun §§ 6 f. (48/50 Wallraff/Ricci).
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antiochenischen Kirche als Lektor und dann als Diakon trat, einige Zeit in völliger Zurückgezogenheit auf dem Antiochien benachbarten Berg Silpios, unter Anleitung eines alten syrischen Mönchs, lebte und sich zusammen mit diesem asketischen Übungen sowie dem Studium der Hl. Schriften unterzog, weiß der älteste chrysostomusfeindliche Zeuge, der Kirchenhistoriker Sokrates,125 davon nichts; und auch im Schrifttum des Chrysostomus selbst hat sich bislang kein sicherer Hinweis126 auf dieses Detail finden lassen, aus welchen Gründen auch immer. Da nun aber die Verwendung eines argumentum e silentio stets heikel und überdies nicht einzusehen ist, was es für oder gegen den „Goldmund“ austrüge, ob die Nachricht der beiden Chrysostomusfreunde glaubhaft ist oder nicht, würde man sich normalerweise mit einem Non liquet begnügen, also beide Möglichkeiten ernsthaft ins Kalkül ziehen. Nicht so M. I. und W. M. Beide sind felsenfest überzeugt, mit der letzteren Worten (diesmal in ihrem originalen Englisch) zu reden, dass „ … the most confidently drawn and persuasive account of John’s life as a monk“, gemeint ist selbstverständlich die Chrysostomusvita des Palladius, „has no substance or foundation and must be withdrawn completely from our picture of his ascetical training, experiences, and motivations“.127 – Ist das nicht wenig „umsichtig“ („very uncautious“)? Bei M. I. s Einschätzung der chrysostomischen Anfänge spielt bereits eine große Rolle, dass er von einem durchgängigen, strukturellen Gegensatz zwischen ägyptischem und syrischem Mönchtum ausgeht; und da der aus Kleinasien (Galatien) stammende, stark von dem Kleinasiaten Evagrius Ponticus geprägte Palladius mehr als ein Jahrzehnt als Mönch in Ägypten lebte, wird er (muss er?) auch den Mönch Johannes nach seinem eigenen Bild geformt und entsprechend dargestellt haben. Doch diese Ausgangsbasis ist hochproblematisch.128 Wie in Ägypten bekanntermaßen von Beginn an (mindestens) zwei verschiedene monastische Gestaltungen des Mönchslebens einander gegenüberstanden, ohne sich zu befehden: Anachorese und klösterliche vita communis, repräsentiert durch Antonius den Großen einerseits, Pachomius andererseits, die annähernd Zeitgenossen waren und deren Blütezeit um mindestens ein halbes Jahrhundert den chrysostomischen Anfängen voraufging, so fehlte auch dem syrischen Mönchtum eine einheitliche Struktur, wie sie der M. I.sche binäre Schematismus129 voraussetzt. Das chrysostomische Schrifttum hingegen schließt ihn aus, wenn es – von der Abhandlung De compunctione an – sehr wohl auch h. e. VI, 3,1–3 (313 f. Hansen). etwa De compunct 1,6 (PG 47,403,25 ff.), geschrieben wohl vor den anderen zwischen Diakonatsweihe (381) und Übernahme des Presbyteramtes (386) verfassten ‚monastischen‘ Schriften, wie André Jean Festugière in seinem nach wie vor lesenswerten Buch „Antioche Païenne et Chrétienne“, Paris 1959, 329, annimmt. 127 Mayer, Methodology, 60 f., Anm. 120; dazu Illert, 95–105. 128 Gleichwohl wird sie von Mayer, Methodology, 60 f., kritiklos übernommen. 129 Man vergleiche dazu auch die schematische Aufteilung des chrysostomischen Schrifttums in „elitäre und populäre Schriften“ (35 u. ö.), die – auch nach Auffassung von Jutta Tloka, 125 Sokrates, 126 Außer
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klösterliche Ansiedlungen (gern als „Hütten der Mönche“ [σκηναὶ τῶν μοναχῶν] oder „Städte [πόλεις] der Tugend“ bezeichnet), und zwar im außerstädtischen Bereich, bezeugt. Chrysostomus kannte sie aus eigenem Erleben und benutzte sie in vielen seiner Gemeindepredigten als „Gegenpol“, um Verfehlungen zu geißeln und zu einem tugendhaften Leben, ja, zum Streben nach „Vollkommenheit“ (Mt 5,48 a; 19,21) zu ermuntern, verbunden mit eindrucksvollen, detaillierten Beschreibungen der vita communis und stabilitas loci der Mönche.130 Wieso trotzdem bei M. I. fortwährend von einem „protomonastisch-syrischen Hintergrund der Askese des Chrysostomus“ gesprochen werden kann,131 ist deshalb nur schwer nachzuvollziehen und bleibt sein Geheimnis. Dass er die Argumentation des „Goldmundes“ „scheinbar (gemeint: anscheinend?) von keiner systematischen Absicht getrübt“ sieht,132 liegt wohl in erster Linie daran, dass er nie danach gefragt hat, wie die Dinge in des Autors Sicht zusammenhängen möchten, in der – sicherlich irrigen – Meinung, „die Werke des Johannes Chrysostomus systematisch-theologisch zu betrachten“ (was heißt das, genau?), laufe darauf hinaus, „ihnen ein theologisches System entnehmen zu wollen“!133 Die Folge ist, da kein Zusammenhang sichtbar wird, weil gar nicht danach gesucht und gefragt wird, dass das Corpus Chrysostomicum zum Steinbruch wird, in dem man sich nach Belieben mit Material zum Bau selbst abenteuerlichster Hypothesen versorgen kann.134 Griechische Christen – Christliche Griechen (STAC 30), Tübingen 2005, 165–175 – schwerlich Sinn macht und nur gewaltsam durchführbar ist. 130 Anders Illert, 92. Es ist schlicht falsch zu behaupten, die Erfahrungsbasis des Chrysostomus beschränke sich auf „an urban-based ascetical school as typified in Syria“ (Mayer, Methodology, 60). Bei Festugière (wie Anm. 126), 330–346, ist nachzulesen, wie es sich in Wahrheit verhält. Ich präzisiere seine Stellenangaben wie folgt: In Mt hom 55 (56), 5.6 (PG 58,545,29–550,4); 68(69), 3–5(643,9–48,20); 69(70), 3 f. (651,45–54,61); 70(71), 3–5 (658,51– 662,20); 72(73), 3.4 (671,9–674,3); In ep I ad Tim hom 14 (PG 62,575,52–580,5) und füge hinzu, dass sie sich nahezu beliebig vermehren ließen! In De sacerdotio dagegen, besonders in Buch VI, steht der „Einsiedler“ (μονάζων) im vollen Sinn des Wortes im Blick, der, der „die Wüste (ἔρημος) bewohnt und der Stadt und dem Markt und dem dortigen Trubel entronnen“ ist (VI 2 [SC 272,306]). Selbst im Vergleich mit diesem sehe sich, so der Tenor des ganzen 6. Buches, der „Priester“ weit höheren Anforderungen gegenüber, weil ihm eine Tätigkeit zugemutet sei, die die Vollkommenheit eines Engels erfordere (ebd.). Darin und in ähnlichen Aussagen eine Veränderung in der Einstellung des Chrysostomus gegenüber dem Mönchtum zu sehen (so Illert, 39; vgl. auch 43–45), ist nur dann möglich, wenn man die „Wirkabsicht“ des Autors verkennt. Sie ist nicht auf „Karriereberatung der antiochenischen Aristokratie“ (Illert, 45) gerichtet, sondern darauf, möglichst „Unwürdige“ von einer Übernahme des kirchlichen Amtes fernzuhalten, für das selbst ein heiligmäßiges, mönchisches Leben allein nicht ausreichend qualifiziert. 131 Illert, 84.93.95.102 u. ö. 132 Illert, 45; vgl. auch 41 f. 133 Illert, 25 f. 134 Dafür nur zwei Beispiele: De sacerdotio verbindet für I. mit der früheren Schrift Adversus oppugnatores, und das sei „keine Übertreibung“, wie er versichert, dass beide „der Karriereberatung der antiochenischen Aristokratie dienen“ (45)! Man fragt sich, ob er De sac je gründlich gelesen hat und dabei auch auf den zentralen Satz gestoßen ist: Prüfstein, an dem sich die Eignung für das Hirtenamt erweise, sei das Apostelwort aus Röm 9,3: „Ich habe gebetet, ver-
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Bei W. M. lässt sich leider Ähnliches feststellen. Sie kennt und zitiert unglaublich viel Literatur. Doch wo jemand auf die (für sie anscheinend abwegige) Idee kommt, bei einem „Bibelmann“ wie Chrysostomus (so Harnack) auf theologische Aspekte nicht völlig verzichten zu sollen, entzieht sie sich abrupt dem Gespräch und wählt, ohne zu begründen, weshalb nur das zielführend sei, einen anderen Zugang.135 Es ist das, finde sicher nicht nur ich, ebenfalls kaum ein Zeichen von „caution and discernment“. Diesem Postulat hätte es dagegen entsprochen, wenn sie geprüft hätte, wieweit man auf dem einen oder anderen Wege komme, oder gezeigt, wo ihrer Meinung nach theologisches „Interesse“ nachweislich zu falscher „Erkenntnis“ führte und Quellen Gewalt antat; denn daran fallen die Entscheidungen. Meinerseits habe ich an W. M.s Textinterpretationen gelegentlich durchaus Kritik zu üben136 bannt zu sein von Christus für meine Brüder“; sei jemand imstande, dies Wort dem Apostel nachzusprechen und im innersten Herzen also zu beten, so mache er sich geradezu schuldig, wenn er dem Hirtendienst auswiche. – Ein anderes Beispiel für die Hypothesenfreudigkeit des Verf.s auf Kosten genauer Textinterpretation: dass er unbedingt das ihm teure „makarianische Schrifttum“ als Hintergrund für das des Chrysostomus ins Spiel bringen möchte (63–66 u. ö.), obwohl es dafür keinen einzigen zwingenden Anlass gibt. Freilich: denkbar, möglich ist vieles. Dazu aber zählt mit Sicherheit nicht eine Textinterpretation, wie sie etwa zu hom 21,4 in Mt (PG 57,298 f.) geliefert wird. I. schreibt gelegentlich Chrysostomus, ohne zureichende Begründung, eine „Zweistufenethik“ zu (31) und gibt als einzigen Beleg die genannte Stelle aus den Matthäushomilien an. Dort aber ist, mehrfach und so unmissverständlich wie nur möglich, von einer vorläufigen Konzession die Rede, dass man sich fragt, wie es noch deutlicher hätte gesagt werden können! Ich zitiere: „Es ist vorläufig genug für euch (ὑμῖν τέως ἀρκεῖ), gelernt zu haben, nicht länger habsüchtig zu sein … Wenn dir das gelingt, mein Lieber, wirst du rasch (ταχέως) auch zu jenem (sc. dem wahrhaft apostolischen Leben) fortschreiten. Für jetzt aber (Τέως τοίνυν) wollen wir den überflüssigen Luxus ablegen …“. 135 Mayer, Poverty, 100, Anm. 196 (Klasvogt, Tloka); vgl. Allen/Sitzler, Introduction, 29, Anm. 71 (Brändle, Plassmann). Ähnlich verfährt sie (Mayer, Audience[s], 89), wenn sie sich auf die Herausgeberin von Quod nemo laeditur in den „Sources Chrétiennes“ (SC 103 [Paris 1964]), A.-M. Malingrey, für die Auffassung beruft, dass sich in diesem Traktat „starke platonische, kynische und stoische Anklänge finden lassen“, aber einfach unterschlägt, dass die Herausgeberin in ihrer Einleitung nach einem Abschnitt über „Résonances païennes“ (19–26), auf den sie verweist, einen nicht minder interessanten und fast ebenso langen Abschnitt über „La part du christianisme“ (26–31) folgen lässt. Dazu passt schließlich, dass sie in ihrem Beitrag „The Making of a Saint“ in: Martin Wallraff/Rudolf Brändle (Hg.), Chrysostomosbilder in 1600 Jahren (AKG 105), Berlin u. a. 2008, 39–59, ohne nähere Begründung, erklärt, es sei des Kirchenhistorikers Sokrates „more negative portrayal of John …, that makes him of such keen interest“ (40), und entsprechend handelt, so als sei es ausgemacht, dass eine negative Einstellung in jedem Fall für die Wahrheitsfindung zielführender sei als eine positive. 136 Bes. zu den 100 f. mit Anm. 200–203 zitierten und interpretierten Stellen, wo eine eingehendere Kritik vonnöten wäre, oder auch zu Mayer, Methodology, 44, Anm. 32. Warum ist hier nicht Stellung genommen worden zu der chrysostomischen Aussage hom 66 in Mt (s. o. S. 58), dass es in Antiochien Bettelarme gab, die „das θυσιαστήριον belagern und dort nach Nahrung und Kleidung verlangen“, wobei unter θ. normalerweise der Altar zu verstehen ist, nicht aber der Vorhof der Kirche oder das Kirchenportal? Diese Deutung müsste doch wenigstens in Erwägung gezogen werden; auch das übrigens ein Beitrag zur Frage nach der „Sichtbarkeit der Armut“ in der Verkündigung des Chrysostomus (vgl. dazu ebd. 43 f.; Mayer, Poverty, 106 f., mit Allen/ Sitzler, Introduction, 29, Anm. 72), an der schon deshalb nicht zu zweifeln sein dürfte, weil
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und vermisse vor allem, genau so wie bei M. I., dass kein Zusammenhang sichtbar wird, weil gar nicht danach gesucht und gefragt wird, obwohl die Verf.in gelegentlich so etwas wie eine „zentrale These“ des „Goldmundes“ gesichtet zu haben behauptet, die es nicht gestatte, ihn als einen „Liebhaber der Armen“ zu charakterisieren!137 M. a. W. kommt für mich in ihrer Darstellung Chrysostomus in seiner Eigenart nicht wirklich zu Gesicht und hat kein Gesicht! Weil sie schließlich weder bei ihm noch bei den heidnischen oder christlichen Autoren, mit denen sie ihn vergleicht (Hermas z. B. oder Clemens Alexandrinus), nach dem Gedankenzusammenhang fragt, dem die einzelnen verglichenen Aussagen jeweils entstammen, auch nicht nach deren spezifischen Voraussetzungen und Konsequenzen, darum bleibt bei ihr alles Parallelensammeln an der Oberfläche haften und ist äußerste Skepsis angesagt, wenn es beispielsweise heißt: „Im Osten, bei Johannes Chrysostomus, finden wir vorwiegend stoische und kynische Denkstrukturen (frameworks), doch sind auch platonische, aristotelische und epikureische Elemente wahrnehmbar, in der Hauptsache kaum verschieden von denjenigen seiner heidnischen Pendants (counterparts), welche dieselbe philosophische Schulbildung wie er genossen“;138 oder: „sehr wenig von dem, was er zu sagen hat (sc. über Armut und Reichtum), wenn überhaupt etwas, ist neu“, was aber sogleich eingeschränkt zu werden scheint, wenn es wenige Sätze danach heißt: „Mit Ausnahme der spezifisch christlichen Elemente der chrysostomischen Lehren über soziale Werte (values)“ – was damit genau gemeint ist, worin vor allem das spezifisch Christliche bestehe, bleibt freilich ungesagt – „gibt es in Wahrheit nur einen geringen Unterschied zwischen des Chrysostomus Zugang zu den Problemen von Reichtum und Armut und demjenigen seines heidnischen Zeitgenossen Libanius“.139 Dass Chrysostomus, obwohl mit dem paganen wie dem christlichen Diskurs zu seiner Zeit sicher nicht schlechter vertraut als unsereins, das etwas anders sieht und jedenfalls niemanden im unklaren lässt, worin für ihn das „spezifisch Christliche“ bestehe,140 all das spielt bei der Verf.in leider nicht die geringste Rolle.
der Prediger im „Armen“, grundsätzlich in jedem einzelnen, Christus zu sehen lehrt. Da muss man doch genau hinschauen! Aber dafür, Bausteine zu liefern für die „Rekonstruktion einer objektiven sozialen oder historischen Realität“ (Mayer, Poverty, 106), war er in der Tat weder gerüstet noch verpflichtet. 137 Mayer, Poverty, 110. 138 Allen/Sitzler, Introduction, 24; vgl. Mayer, Poverty, 81 mit Anm. 71; 85 („the Stoic principle of wealth and poverty as indifferents is close to the surface of John’s discourse“); vgl. Mayer, Audience(s), 89 („basically Stoic framing“). 139 Mayer, Poverty, 110 f. 140 S. o. S. 38 f. u.ö.
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Bei aller Hochschätzung der australischen Kollegin und ihres bedeutenden Beitrags zur Chrysostomosforschung insgesamt141 sehe ich mich nach allem nicht veranlasst „zu bereuen und zu widerrufen“. Sie hat das auch gar nicht verlangt, sondern mich eher ignoriert, was ich ihr – allen Ernstes! – nicht verarge.142 Allein, wäre ihr in den Hauptsachen, die hier zumindest anzusprechen waren, recht zu geben, so müsste ich den Bonner Vortrag aus dem Verkehr ziehen und Widerruf leisten, womit ich kein Problem hätte; von M. I.s Thesen gilt das Gleiche. Bislang aber habe ich mich, offen gestanden, nicht davon überzeugen können, dass beide in ihren – hier allein zu besprechenden – Positionen im Recht sind.
Summary ‘Between “theocracy” and “simple life”: Dio Chrysostom, John Chrysostom and the problem of humanizing society’ Starting with a short restrospect on the New Testament where, as I see it, ‘conservative’ as well as ‘revolutionary’ impulses seemingly are to be detected, intertwining in a very distinctive way, for Jesus as much as for Paul, impulses also apt to break the self-established limits of NT ethics and to indicate the way how to exceed and ‘relativize’ ethical judgements (e. g. regarding slavery) made at that time, the paper continues with a biographical sketch of Chrysostom’s life and work, especially of his ascetical views (focused on the relation: monasticism – church), because, as I firmly am convinced, only on this basis, by positioning Chrysostom in exactly this framework, do his teachings on the issues, discussed in what follows, make sense. These topics are: Chrysostom’s critical judgement as to private possession, his attitude regarding slavery and women, a comparison between him and the other ‘Chrysostom’, Dio of Prusa, the famous ‘philosopher and sophist’ from the end of the first century A.D and the beginning of the second, who after his “perpetual relegation” by Domitian temporarily slipped into the skin of a Cynic itinerant teacher and preacher and behaved as a second Odysseus. 141 Ich denke vor allem an die große Leistung, die sie mit dem Grundlagenwerk zur Datierung und Herkunftsbestimmung der Chrysostomuspredigten („The Homilies of St John Chrysostom – Provenance. Reshaping the Foundations“ [OCA 273]), Rom 2005, vollbracht hat. 142 Wenn ich nichts übersehen habe, dann hat sie zweimal einen englischen Text von mir, ohne Anmerkungen, in jeweils ellenlangen Literaturübersichten aufgeführt, ist darauf aber, bis auf eine, mir allerdings unverständlich gebliebene, Ausnahme (101, Anm. 203), nie zurückgekommen; es handelt sich um: Adolf Martin Ritter, „Between ‘theocracy’ and ‘simple life’: Dio Chrysostom, John Chrysostom and the problem of humanizing society“, in: StP 22,1989, 170–180. Der Grund ist vermutlich derselbe wie bei anderen theologisch ansetzenden Chrysostomusinterpretationen, die sie zwar nennt, aber nicht diskutiert (s. o., Anm. 135).
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If the given analysis is – principally – sound, Chrysostom may be regarded as a witness that the ethics and eschatology of Jesus and Paul have not yet lost their critical power, despite Jesus’ and Paul’s pronounced expectation of an imminent παρουσία; nor did they allow the complete surrender of the λογικὴ λατρεία of the Christians (i. e. their reasonable service, their worship offered by mind and heart) to the established norms. Perhaps one can even go one step further and say what I suggested at the start will prove true: that the ‘revolutionary’ impulses of NT ethics and eschatology which proceed from the distinction between the ‘ultimate’ and the ‘penultimate’ (Dietrich Bonhoeffer) and, even more, from a radically interpreted ἀγάπη, tend to break through the self-made barriers and to go beyond the particular ethical decisions and judgements made at Christianity’s beginning. He likewise may serve as a hint that there is an important ‘Christian’ chapter within the historiography of Utopia: a chapter which doesn’t include solely all kinds of rather marginal figures (like the Gnostic infant prodigy Epiphanes), but likewise Paul and – John Chrysostom. In a Postscriptum 2012 the discussion with modern literature (since 1988) is continued; this time it is focussed on a) person and work of Dio of Prusa (in conversation with some authors of SAPERE-volumes 2, 6, 13 and 19 [vide n. 97]), b) on poverty in the later antiquity, as preached by John Chrysostom, including his conception of monasticism as an especially important and influential form of voluntary poverty (in conversation with P. Brown, W. Mayer, M. Illert).
V.
John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics* If I am not mistaken, there is a widespread agreement among New Testament exegetes today – against the classical Marxist theory of the proletarian origin and revolutionary character of earliest Christianity – that neither Jesus’ “gospel for the poor” (still less the Pauline and Johannine preaching) nor even the “piety of the poor” that characterizes the Lucan writings and the Epistle of James (although in different ways and to varying degrees) contains a social-revolutionary program. That possibility is as good as excluded by the immediate expectation (intensified by foreign rule, social grievances, and various forms of distress) of an immanent parousia. This expectation, however, defines the horizon and framework within which Jesus and earliest Christianity live and think. The measure is full; the “time is fulfilled, and the kingdom of God is at hand” (Mk. 1:15). Jesus propagates no program.1 But he does encourage people, among other things, to discover and to try out new possibilities for common action appropriate to the situation (one need only think of Mt. 5–7 and parallels). These seem impossible, indeed absurd, only so long as one is unwilling to look away, even for a moment, from one’s previous experience of life. For just this reason, however, these possibilities are – perhaps – adapted to break up the mechanisms of hate and retaliation! Jesus preaches the God who comes near; and he preaches this God to the “poor,” to the hungry, to the afflicted, to those who seek justice in vain. In doing so, he seeks to make it believable that this God does not give up in the face of human failing but rather desires that such failing no longer be inevitable and [184] irremediable. Thus Jesus’ trust in God’s “obligingness (forwardness)” and tirelessness is no invitation to passivity. Its aim is rather to liberate the person who takes up this attitude of trust in the face of incalculable oppositions, failures, and constraints; and one aspect of the liberation is precisely to guard the person against a disastrous overestimation of himself. God’s kingdom comes; and, Jesus says, it comes “of itself ” (αὐτομάτη), inconspicuously and “wholly otherwise” * First published in: William S. Babcock (ed.), Paul and the Legacies of Paul (Dallas 1990), 183–192.360–369. 1 In this regard, see Gerd Theissen’s fine book, Der Schatten des Galiläers (Munich, 1986), especially chaps. 10 and 18.
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(totaliter aliter) than one expects (Mk. 4:26–29). The person who acts with this in mind is, in Jesus’ view, protected against burdening himself with the morethan-human task of trying to execute divine justice in an unjust world. Instead he can concentrate his strength – which is limited, in any case – on giving practical“political” expression to the hope for God’s coming kingdom. The Pauline view is similarly unprogrammatic, similarly “dialectical.” Belief in creation is not, in the final analysis, constitutive for Paul’s concept and understanding of the world. What is fundamental is rather belief in the new epoch brought into effect in the Christ-event, belief in the dawn of a “new creation” into which the believer is already incorporated through baptism (2 Cor. 5:17). In other words, for Paul, κόσμος means first of all “unredeemed creation”, the world that only “in Christ” has again become recognizable as God’s creation. It is not, so to speak, a “neutral” system of order but an “epoch” and a realm of “worldliness”, a time and place of subjection to the “powers” and elements of the “world” or, at least, of assault on believers by these powers and elements.2 This complex view has the result, among other things, that the ethics of Paul (as of the New Testament generally) has a “primarily ecclesiological character.” That is, its instructions regarding the conduct of the individual (in church and in world) “are essentially designed for the believer.”3 In this regard, however, it should be kept in mind that Paul does not conceive the church as a civitas Pla‑ tonica, beyond space and time, but rather as that domain of the “world” in which the lordship of Christ is already recognized, proclaimed, and attested in the obedience of faith.4 Thus, for both Jesus and Paul, “conservative” and “revolutionary” impulses become intertwined in a quite distinctive way.5 The “revolutionary” impulses also have the potential, however, to [185] break through the self-imposed limits of New Testament ethics and to go beyond the particular ethical judgments reached at that time, for example, with regard to slavery.6 We ought now to consider the relevant texts in detail. The limits of space, however, prevent that. Instead I will confine myself to a single text and will simply indicate how and how far it offers support for the sketch I have given. The text is Romans 12:1–8, a particularly concise expression of “Christian ethics” in Paul’s view and, at the same time, a locus classicus for his understanding of the gifts and operations of the Spirit, the charismata. 2 Cf. Wolfgang Schrage, “Die Stellung zur Welt bei Paulus, Epiktet und in der Apokalyptik”, Zeitschrift für Theologie und Kirche 61 (1964): 125–54 (with additional bibliography). 3 Georg Strecker, Handlungsorientierter Glaube: Vorstudien zu einer Ethik des Neuen Testa‑ ments (Stuttgart, 1972), 46. 4 This point has often been stressed, especially by Ernst Käsemann; see, e. g., „Amt und Gemeinde im Neuen Testament“, in his Exegetische Versuche und Besinnungen, vol. 1 (Göttingen, 1960), 109–34, here especially 113 f. 5 Ernst Troeltsch had, in his own way, already seen this and stated it in his Soziallehren der christlichen Kirchen and Gruppen (Tübingen, 1922; reprint: Aalen, 1965), 50.72, and often 6 Strecker (as n. 2), 35.
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On what basis does Paul speak here? He makes his appeal “by [the evidences of] the mercy of God” (διὰ τῶν οἰκτιρμῶν τοῦ θεοῦ).7 That is the antecedent for everything else. There is no precondition in this regard. No prerequisite is stipulated that must first be met on the part of the addressees. Similarly, in the same letter Paul can say to the same addressees, to their face as it were, that they have received the Spirit as surely as they have received the gospel of Jesus Christ. What does Paul appeal for? The text’s exhortations can be summarized in three key words without doing violence to its sense: sacrifice, transformation, and com‑ munity. “Therefore I appeal to you, brethren … to present yourselves unreser vedly [bodily] as a sacrifice which is living, holy, pleasing to God. Let this be your reasonable worship.” That the believer may learn to exist wholly for God because God exists wholly for him (διὰ τῶν oἰκτιρμῶν τοῦ θεοῦ) is certainly the meaning of the “living cult,” the λογικὴ λατρεία, of which Paul speaks here (taking up a concept that had already been coined).8 Even where this process is only beginning, however, it has consequences. One of these consequences (the second key word: transformation), according to our text, is that one begins to distrust the rules and standards of this “age” and instead “proves” for oneself “what is God’s will”; in other words, one allows oneself to be “transformed” and makes a beginning in the renewal of the mind (ἀνακαίνωσις τοῦ νοός). The other consequence (the third key word: community) could perhaps be paraphrased this way: one begins to attach less importance to oneself; or, to put it in Paul’s own words, “let no one think more of himself than he [186] ought to think, but keep prudence in mind” – true to the principle of suum cuique! Then, in what follows, this is spelled out and made concrete regarding the membership in the “body of Christ,” which for Paul is made up purely of charismata and charismatics. But what is essential for our purposes has already come into view. It is implied, at bottom, in the way in which – as is entirely typical of Paul – the imperative is referred back to and is based on the indicative of salvation already bestowed.9 When one turns from Paul to John Chrysostom, it is evident that the impulses to transformation instead of accommodation to the σχῆμα of “this age” (in this case, 7 Ernst Käsemann, An die Römer, Handbuch zum Neuen Testament, vol. 8 a (Tübingen, 1973), 311: “with appeal to” or, better, “in the name of ”; on the meaning of οὖν and διά in Rom. 12:1, see also Victor P. Furnish, Theology and Ethics in Paul (Nashville and New York, 1968), 101 ff. 8 See Käsemann (as n. 7), 313 f. 9 See, e. g., Furnish (as n. 7), 224 ff. The element of release from a burden, which is contained in this view, is attractively formulated in Ernst Käsemann, “Liebe, die sich der Wahrheit freut” (Evangelische Theologie 33 [1973]: 455): “His freedom as the temporal expression of his sovereignty liberates us at the deepest level from concern for ourselves … and thereby opens us for our neighbor and the earth. The one who no longer needs to be concerned for himself has time, power, and interest for the other … This is just what Christian love signifies: freedom to work for the neighbor and the earth as the sphere of an open life”.
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to the living conditions that obtained in late antique society with its sometimes striking abuses and its mass distress) have seemingly become stronger rather than weaker. It is certainly true of Chrysostom, at any rate, that all through his years as presbyter in Antioch, the third largest city in the oikumene, and later as bishop in Constantinople, the imperial capital, he expressed his position on questions of social justice with a constancy, an urgency, and a fearlessness that are hardly matched by any other theologian of the early church, whether “orthodox” or “heretical.”10 Some people have wanted, on this account, to see him as a forerunner of socialistic ideas.11 And in fact, he could express his views on questions of property, quite regularly, as if he simply considered property equivalent to “theft”.12 Yet that is only the more spectacular side of his social engagement, the side most often noted in the literature – or at any rate in the older literature. The other side, and probably more characteristic for him, is that in his preaching, whenever the occasion arose, he made himself an advocate and petitioner on behalf of the “poor Christ” (Mt. 25:31–46). In this way, he tried to arouse and to keep alive among his hearers a sense of responsibility for the socially deprived.13 Nevertheless Chrysostom has often enough been seen only as a “moralist” in the tradition of the Cynic-Stoic diatribe – and this still happens, as Arnold Stötzel’s work shows. Nor is this surprising when “the public below his pulpit” is viewed as “not essentially different” from that of the popular philosophers.14 And in fact, anyone who reads Chrysostom’s sermons can easily [187] gain the im10 The notion that genuinely “socio-critical” tendencies were preserved almost exclusively among the heretics is actually a topos in the literature, and not only on the Marxist side! Anyone who speaks and writes to this effect, however, reveals at best a superficial reading, not only of Chrysostom but also, for example, of Ambrose of Milan and certainly of Basil of Caesarea. What G. E. M. de Ste. Croix calls “the most radical passage” in Pelagius’ De divitiis (now preserved only in fragments) – pauci divites pauperum causa sunt multorum – has, in any case, plenty of analogies among these “orthodox” writers (see Geoffrey Ernest Maurice de Ste. Croix, “Early Christian Attitudes to Property and Slavery,” in Church, Society and Politics, ed. Denis Baker, Studies in Church History 12 [Oxford, 1975], 34). 11 For the undoubtedly most important representative of this view, see Robert von Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage and des Sozialismus in der antiken Welt, 2 vols., 3 d ed. (Munich, 1925), 2:476 f., 484 ff. 12 See especially Hom 12 in 1 Tim (PG 62:561–64). Arnold Stötzel, Kirche als „neue Gesell‑ schaft“: Die humanisierende Wirkung des Christentums nach Johannes Chrysostomus (Münster, 1984) now provides a somewhat contradictory commentary on this. On the one hand, he says that the “etiology of private property” does not indicate for Chrysostom “the way to its abolition but [exposes] primarily and critically the roots of its human origin” (63, n. 146); on the other hand, he states that it is part of the “consequence of this etiology … to see in it the abolition of classes and to reestablish the κoινόν.” 13 See Rudolf Brändle, Matth. 25,31–46 im Werk des Johannes Chrysostomus, Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese 22 (Tübingen, 1979), especially 42 ff. 225 ff.326 ff. 14 Stötzel (as n. 12): 218; Stötzel lists Brändle’s work in his bibliography but, unless I have overlooked something, never comes to terms with it.
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pression that their chief business was to censure the vices and extol the virtues.15 In just the same way, centuries before, Cynic-Stoic itinerant and mendicant philosophers (people, for example, such as Dio of Prusa [ca. 40–112 C. E.], who also was nicknamed “Chrysostom”) tried to gather young and old to themselves “until they became wise and lovers of righteousness,” until they had “learned to despise gold and silver” and hold “it of little account,” as also “rich food, fragrant ointments and sexual love,” and so came to live “as masters of themselves and finally as masters also of others” (ἄρχοντες μάλιστα καὶ πpῶτov αὐτῶν, ἔπειτα καὶ τῶν ἄλλων ἀνθρώπων).16 On closer examination, however, this impression proves to be too superficial, at least in my judgment. It is important to note that Chrysostom also knows how to set limits – for example, with reference to the “social” character of Christianity – to this popular philosophy, if not to the ethics of Greco-Roman antiquity in general. For Chrysostom, whose competence in the ethical realm can hardly be questioned, the decisive “rule of the most perfect Christianity, its exact definition and highest summit,” is this: “to seek what serves the welfare of the community” (τοῦτο κανὼν χριστιανισμοῦ τοῦ τελειοτάτου, τοῦτο ὅρος ἠκριβωμένος, αὕτη ἡ κορυφὴ ἡ ἀνωτάτω, τὸ τὰ κοινῆ συμφέροντα ζητεῖν). It is to know that one’s own well-being is for better and for worse bound up with that of the neighbor.17 Or, to speak (with Rudolf Bultmann) in the sense of Paul and of his way of resting the imperative on the indicative of salvation,18 it is to know that the chief issue is no longer “individual progress to perfection” (προκοπή) but rather communal “edification” (οἰκοδομή) – and it is this precisely because the person who has been set on a new foundation by the οἰκτιρμοί of God, and is no longer burdened by care for himself in his action, can and should take the neighbor’s cry as the decisive motive and measure of his action. It should be no objection here that the πάντα πρὸς τὸ συμφέρον of 1 Corinthians 12:7 was not first discovered by Paul but is also quite common in Greek and Roman (and still more common, naturally, in Jewish) sources. Every useful commentary on Corinthians confirms this point, if confirmation is needed. But this does not alter the fact that, for Greeks and Romans, [188] every social ethic, “no matter how far-reaching its demands,” is derived “from an absolute valuation of the individual” and his “happiness.” This was worked out most consistently in 15 Chrysostom himself could occasionally describe the content and task of preaching exactly in this way: Hom 23 (22) in Ioh 1 (PG 59:137 f.). 16 Dio Chrysostom, Or 13.33. 17 On the “rule” of Christianity, see Hom 25 in 1 Cor 3 (PG 61:208); also Hom 36 in 1 Cor 3 (PG 61:310): “Do you see what is the foundation (κρηπίς) and rule (κανών) of Christianity? As the artisan’s (τεχνίτης) work (ἔργον) is to build, so the Christian’s is to profit the neighbor in all things (τoὺς πλησίον διὰ πάντων ὠφελεῖν).” On the connection of one’s own wellbeing with the neighbor’s, see Hom 25 in 1 Cor 4 (PG 61:211 f.). 18 Rudolf Bultmann, „Das Problem der Ethik bei Paulus,“ Zeitschrift für die neutesta‑ mentliche Wissenschaft 23 (1924): 265–81, and in many other works.
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Stoicism with its oἰκείωσις-doctrine, according to which all the moral postulates follow “step by step from the first instinct of all living beings, the instinct of self-preservation and self-realization”.19 Furthermore, given the wealth of socioethical approaches to emerge on the ground of the intense political life of the Greek πόλεις in classical times, it is striking (and in need of some explanation) that so many of these disappeared in the course of the imperial period.20 One reason may be that hellenistic philosophy – “which could appeal to Socrates, and probably with good reason, in support of its one-sidedly individual orientation in ethics” – had already “outdistanced, as it were” this rich variety of approaches.21 If, as I am convinced, matters have a somewhat different cast in Chrysostom’s case, then it can no longer be enough for him simply to free individuals from their greed, their bondage to things. Something must also be said about how possessions are to be used. And in fact, Chrysostom did repeatedly raise this point.
Excursus This matter is so important, and so controversial in the scholarly discussion, that I should like to review it more closely by way of an excursus. Just as for Chrysostom the exemplary character of the monastery rests not least in its representation of the societas perfecta, insofar as in it there is no more private property and no more domination of man over men but only mutual submission and voluntary service (see the texts collected in André-Jean Festugière, Antioche paienne et chrétienne: Libanius, Chrysostome et les moines en Syrie [Paris, 1959], 330–44, which could easily be multiplied!), so the social question takes a major place in his homilies before his congregations in Antioch and Constantinople. In this connection, Chrysostom recommends from the very beginning the relinquishing of private property and urges the transfer of everything to the poor, to whom belongs any wealth, whether acquired in a lawful way or received through inheritance (Hom 77 in Matt 5). He is, of course, fully aware that this relinquishing cannot be enforced, that he is dealing with people “who think they already do much when from their wealth they give Dihle, “Ethik”, Reallexikon für Antike und Christentum 6 (1966): 646–796, here 656 and 649. The Stoic emperor, Marcus Aurelius, provides the most salient evidence for this in his Meditations (τὰ εἰς ἑaυτόν). It would never have occurred to this man, who so often spoke of the duties of man as ζῶον κοινωνικόν, to think that it might be a question of surrendering or renouncing the value and claim of the individual. And that could have something to do with the fact that, in these “meditations,” we completely miss any thoughts of social criticism or even of social reform. 20 One need only compare the discourses of Dio of Prusa – in which such expressions as “the just man [i. e., the philosopher] spends his life, I think, in concern for human beings” (κηδόμενος ἀνθρώπων) and “is eager, so far as possible, to help all people” (βοηθεῖν ἅπασιν; Or 77/78.39.40) already stand in relative isolation, especially in the diatribes – with the way in which Synesius of Cyrene refers to them in his “Dion, or On My Own Way of Life”. In Synesius there sounds only the message of the blessing of “simple life” (compare Dion 2.2 ff. with, in particular, Dio Chrysostom’s celebrated “Euboean Discourse” [Or 7]), while everything “political” is in fact left out of “training in the highest truths” (ἀληθινωτάτη παιδεία: Dion 4.2 f.). 21 Dihle (as n. 19), 657. 19 Albrecht
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only a little in alms.” Thus his words should “apply only to the perfect”; the “less perfect,” however, are implored to give of their goods to the poor (Hom 15 in 1 Cor 6). Nevertheless, “perfection” remains for him the goal to which it is important that everything be compared (Hom 21 in Matt 4). For him (as for Basil), the monastic ethic and the Christian ethic are at root the same. If one wishes to find in him any basis at all for the distinction between consilia and praecepta, the only ‘evangelical counsel’ that could be mentioned beyond the “commandments” binding on all is voluntary celibacy “for the sake of the kingdom of heaven.” “Whoever lives in the world,” Chrysostom can say, “ought not to have any advantage over the monk except that he” may marry; “in all else however he bears the same obligations as the monk” (Hom 7 in Heb 11). “Perfection,” and with it the renunciation of property or, positively stated, the community of goods, remains the goal. That is evident, e. g., in a sermon on Ps. 48:17 (Hom 2 in Ps 48:17 [PG 55:512–18]), which dates from the beginning of his preaching activity in Antioch. In accordance with the biblical text to be interpreted (“Be not grieved; when a man grows rich, he increases the splendor of his house”), the primary concern of this sermon is to show that one in fact has no reason to grieve over the wealth of another. Chrysostom thereby shows himself as a man of the people, a man who knows how simple people feel and who expresses it clearly (Hom 2 in Ps 48:17,1 ad fin., 3 ad fin.; for his criticism of exploitive prices, see also, e. g., Hom 61 in Matt 8). But the more essential point for us is that in the end, although this was not particularly to be expected from the theme of the whole, Chrysostom lets the cat out of the bag, as it were, and clearly states his view of how the problem of property and wealth is to be solved. His solution centers on the “equality of rights” (ἰσονομία) – thus on a central concept of the Platonic social utopia – and on the “equitable distribution” of earthly goods, just as “nature” (heaven; sun, moon, and stars; air and sea, fire and water; life, growth, aging, and death, etc.) and also “spiritual things” (the table of the Lord, baptism as washing of regeneration and promise of the kingdom of God, righteousness, salvation, and redemption, together with the “inexpressible” eschatological goods that “eye has not seen and ear has not heard” [1 Cor 2:9]) are common to all. But that is the goal, not the beginning. And it is a goal for which Chrysostom was ready to work with all the means at his disposal, including accommodation and repetition, these most effective instruments of propaganda that he had learned from Libanius to employ to perfection. Especially impressive to this day is the way he repeatedly makes himself the advocate and petitioner for the “poor Christ” (see Mt 25:31–45) in order to arouse, in this way, and to keep alive among his hearers responsibility for the socially deprived, as also in the previously mentioned sermon on Ps. 48:17 (see Hom 2 in Ps 48:17,2). It could, however, be a beginning – as Chrysostom argues in his interpretation of the pericope about the “rich young man” in his Homilies on Matthew – if one was to start by getting rid of what is superfluous (Hom 63 in Mt 3; see also Hom 66,3.4). It could be a beginning if one learned at least to distinguish between wealth that is obviously obtained unjustly and is misused, that is, turned to selfish purposes, and wealth that is obtained without affront to God, without incurring the blood of the guiltless, and is employed according to the command of God – a distinction that already seems necessary to Chrysostom with reference to the biblical models in Abraham, Jacob, and Job (see Hom 34 in 1 Cor 6). In this connection, Chrysostom not infrequently employs formulations that, at least on first glance, are contradictory and misleading. And it is not at all surprising that he has thereby caused total confusion in the modern literature! Still, in my view, the whole matter becomes reasonably clear if one takes his understanding of Christian “perfection” as
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one’s starting point and, for the rest, duly keeps in mind that Chrysostom neither wanted to nor could deny that he had, in his youth, received rhetorical instruction from Libanius. Although he never flaunts his rhetorical training in his preaching and writing, he remains true to his origins insofar as he tends to accentuate the ideas that he presents and to do so, not infrequently, in such a way that he himself fears he will be misunderstood because people will take his words as no more than hyperboles (De compunct 1.2 [PG 47:395]). One must only keep in mind “to whom” Chrysostom “speaks in any given case … and what he wants to accomplish,” in order not to be “misled by rhetorical questions and exaggerations” (Ιvo auf der Maur, Mönchtum and Glaubensverkündigung in den Schriften des hl. Johannes Chrysostomus [Freiburg, 1959], 13). A continual source of misunderstandings has been the beginning of Homily 34 on 1 Corinthians. In this sermon, an interpretation of 1 Corinthians 13:8–13, Chrysostom first pursues the sense of the Pauline text as a “paean of love” and then, as almost always, adds to his homiletical interpretation a “practical application.” Here the bridge is formed by the thought that we are linked to one another by a thousand ties and that each needs the other. Thus the poor, he continues, need the rich and vice versa, as he illustrates with the image of the two cities: the city of the rich and the city of the poor. But what, in this connection, do poor and rich mean? The poor (πένητες) are here equated with workers, artisans, and people from the common folk (δῆμος). And this means that, at root, this is not a contrast between wealth and poverty in our sense, but rather between capital and labor (as Theo Sommerlad rightly observed in his Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters [Leipzig, 1903], 147 f.). One gets the feeling that in Chrysostom’s argumentation, there is a distant hint of the train of thought in the Communist Manifesto (“those in bourgeois society who work gain no profits; those who gain the profits do not work”) or even of the opening thesis of the SPD’s Gothaer Programm of 1875 (“Work is the source of wealth and of all culture”). In spite of that, it is quite clear that Chrysostom did not draw the conclusion that exclusive control over the product of labor belonged to the workers as the sole producers of the wealth of the rich (see Sommerlad [loc.cit.], 148). Still, Chrysostom did try at least twice in public to go to the root of the problem of poverty and thereby to reconcile the divergent interests of capital and labor. The first time was in Antioch, the other in Constantinople. In Homily 66 on Matthew, he undertakes an analysis of the economic conditions in Antioch. According to his picture, one-tenth of the residents are wealthy, one-tenth are poor, without possessions of any kind, and the rest occupy a “middle position.” The church only has “the income of one of the very rich and one of those of moderate means” (Hom 66 in Mt 3). From that, according to the official list of the poor, nearly three thousand widows and virgins are supported daily, not counting the prisoners in the prisons, the sick in the hospices, the transients, the cripples, the church beggars, etc. If only ten of the wealthy were willing to spend as much as the church, poverty would be banished from Antioch. If Chrysostom seems here to present the solution to the social problem in such a way that he assigns particular poor individuals to particular rich individuals and thus wants to call to life something like a community poor-relief system with an honorary and individualistic character (see Sommerlad, 150 f., and again, e. g., Hom 85 in Mt 4), he later moves toward an even more radical social utopia. In his homilies on acts, delivered in Constantinople, he takes up the idea of community of goods as it was priced, according to Luke, in the early Jerusalem community. There is no doubt that the bishop and preacher is entirely serious in his proposal, even though he likens it at first simply to an idea hastily
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thrown out. For at the end he calls for an attempt at the daring venture. If one was actually to do that, it would turn out that this was no mere utopian scheme – as the monasteries and extended families have long since proven! Moreover, Konrad Farner is no doubt quite right when he says that according to the evidence of Hom 11 in acts, Chrysostom had a more precise conception of a “communist” form of economy than almost any other church father. “First of all, we have to do here with a communism of production,” not just a communism of consumption; “second, national economic perspectives (division of labor and cooperation as enhancing productivity) are brought into play; third, sociological perspectives (circumstances with regard to ownership of property as conditioning social and individual morality)” (Theologie des Kommu‑ nismus? [Frankfurt am Main, 1969], 64). A sharp eye for social reality, along with the still starkly visible need in Constantinople (despite imperial distributions of bread to what the communists call the “Lumpenproletariat”), appears finally to have convinced Chrysostom that no real relief was to be obtained by means of private almsgiving. For the same reason, he now also speaks more decisively regarding the evaluation of wealth (contra Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale: Constantinople et ses institu‑ tions de 330 à 451 [Paris, 1974], 509). That is seen, e. g., in Homily 12 on 1 Timothy. In the course of interpreting the text on which this sermon is based (1 Tim. 4:1–10), he addresses the question as to what extent wealth is also a good, as “everything created by God is good” and “nothing is to be rejected if it is received with thanksgiving” (1 Tm. 4:4). His answer is that not only how one comes to have wealth but also, and above all, how one uses it determines this point, namely, that one does not wish to keep for oneself what belongs to the Lord and does not try to keep for oneself the benefit of what is the common property of all; that one recognizes that all our possessions belong to God and thus also to our fellow servants. For “all that belongs to God the Lord is common property” (τὰ γὰρ τoῦ Δεσπότου πάντα κοινά). Considered in a Christian fashion, seen in the light of belief in creation, community of goods is the more appropriate form for our life together than private ownership. Indeed, not only would this be the best solution from a Christian point of view, it is also plainly “natural” and uniquely reasonable. For “why is it that no one goes to court over the market place? No one does because it is common to all. Over houses and over money, in contrast, we see endless court proceedings” (Hom 12 in 1 Tim 4).
*** In my judgment, a sharp eye for social realities and an understanding of Christian “perfection” – according to which “perfection” also has essentially to do with social justice – led him, in the end, to the insight that the means of private almsgiving are hardly adequate, even if the aim is to address only the most grinding poverty. On the contrary, we must look in all earnestness for other possible solutions. Thus Chrysostom often, and this publicly, pushed toward a comprehensive “social utopia,” a utopia that would be based on the principle that “God did not in the beginning create one person rich and another poor … but left the same earth free to all.” Where there is no talk of “mine” and “yours,” he insisted, “no conflict or strife arises. Therefore community of goods is the more fitting form of life” – because it is clearly God’s intention for us – “than private property; and it conforms to our nature.” Furthermore, Chrysostom is convinced, this is the
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most effective form of the utilization of goods (a point on which Aristotle, as is well known, held precisely the opposite view).22 For Chrysostom, all this obviously was no pium desiderium, no “favorite pet idea,” he had “at heart [189] become convinced, that it was impracticable.”23 It is also more than doubtful, to my mind, whether one can really say that, “in hindsight,” his “solution to the social question” appears “naive.”24 This claim keeps in mind neither general economic perspectives – which in the compass of what was conceivable in Chrysostom’s time is certainly wrong – nor the concrete conditions that then obtained. Its point can only be that Chrysostom seems never even to have imagined making demands on the “Christian state” for a social policy along the lines of his (if you will pardon the expression) “religio-socialistic utopia.” The question is, however, whether such an attempt would have had even the slightest chance of success in the circumstances, circumstances about which we are also “in hindsight” fairly well informed. It may well be that the only “realistic” course, the only course in keeping with the conditions of the time, was to consider the church’s powers and its possibilities for effective action.25 It is quite true, of course, that much of the scholarly literature takes a very different approach to the whole question of how slavery was regarded in antiquity, although not always in such glaring colors as the following: In pre-Christian and non-Christian antiquity (but not in the Old Testament!), doubts about the lawfulness of slavery were expressed from time to time. A slave-free humanity could even be imagined in certain Greek social utopias; and, under the influence of Stoicism, the Roman slave laws were humanized and liberalized … [But] from the beginning, Christian preaching stabilized the practice of slavery.26
But what are the facts of the matter? So far as the Greek social utopias are concerned, such information as has come down to us is so fragmentary that there is no way to determine clearly how much “political” content they had.27 And what 12 in 1 Tim 4 (PG 62:562–64); Aristotle Pol. 2.1261 b33–38; 1263 a11. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, cited in Georg Adler, Ge‑ schichte des Sozialismus and Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart (Leipzig, 1899), 176 f., who certainly does not himself exclude the possibility that Chrysostom took “the matter more seriously” than was usual among the church fathers. 24 Wolf-Dieter Hauschild, “Christentum and Eigentum: Zum Problem eines altkirchlichen ‘Sozialismus,’” Zeitschrift für evangelische Ethik 16 (1972): 34–49, quotation on 38. 25 A remote parallel appears only in the reports about Plotinus’ plans regarding the founding of a city of philosophers (“Platonopolis”; see Porphyry, Vita Plot. 12) or about recollections of the group of like-minded persons as the locus of social-ethical praxis in Hermeticism (Corp. Herm. 13.9) and in Neopythagoreanism (Ocellus Lucanus, De univ.nat. 3.3 ff.6 ff.). Apparently no one – except in (commissioned) orations Περὶ βασιλείας – thought about the ‘state’. 26 Joachim Kahl, Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott (Hamburg, 1968), 20.23; similarly de Ste. Croix (as n. 10), 36. 27 The assessment of these materials has long been in dispute, primarily although by no means exclusively, between Marxist and non-Marxist interpreters. See, on the one side, Reimar Mül22 Hom
23 Ludwig
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the Stoics and Epicureans had to say about the slave problem – in the context of the Sophistic enlightenment – would, in any case, have been of greater consequence.28 In contrast to Aristotle’s teaching that human beings are by nature either slave or free and that it is both beneficial and just for the slaves that they are slaves,29 the Stoics laid down the principle of the equality of all men (as rational [190] beings) as a matter of natural law. From this principle, however, they drew no practical consequences at all regarding the social stratification that had become so pronounced in the imperial period. In their view, the human value of the individual remained the same in every situation. Thus they did not dispute the legitimacy of the institution of slavery as it was embodied in all ancient legal codes and, of course, in Roman law as well.30 From the appeal to “natural law” they derived, in the first instance, “only” the call for more humane treatment of slaves. Similarly the gradual humanization and liberalization of the Roman slave laws – above all, no doubt, a result of Stoic influence, but also a reaction to the increasingly difficult problem of the flight of slaves31 – was limited to removing some of the worst brutalities. When he became emperor, Constantine – who was also the first to enact a law protecting against the break-up of slave families32 – still had expressly to prohibit the punishment or torture of slaves by hanging, poisoning, slow incineration, deliberate dehydration, or allowing them to rot
ler, “Zur sozialen Utopie im Hellenismus,” in: Die Rolle der Volksmassen in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen, ed. Johannes Herrmann/Irmgard Sellnow (Berlin, 1975), 277–86; and, on the other side, Hellmut Flashar, Formen utopischen Denkens bei den Griechen (Innsbruck, 1974), 14. F.’s view is that it is rather a question of a literature for entertainment – to be evaluated in much the same way as the “Robinson Crusoe” stories of more recent times – than of social criticism. Against this idea, it seems, there are two things to be said: (1) to a certain degree, there had long been a massive critique of slavery, namely in the sophistic enlightenment (see the evidence compiled in Roland Gayer, Die Stellung der Sklaven in den paulinischen Gemeinden und bei Paulus [Bern and Frankfurt am Main, 1976], 26 ff.; see also Dihle [as n. 19], 667 f.) and (2) Aristonicus, the leader of the uprising against Rome in 133 B. C., proclaimed as his social program (see Michael Rοstovtzeff, Gesellschafts‑ und Wirtschaftsgeschichte der Hellenistischen Welt, 2 vols. [Darmstadt, 1955], 2:635) a social utopia very similar to Iambulus’ “city of the sun” (presumably) from the third century B. C. (see the reference in Diodorus Siculus 2.55–60) and called “the crowd of the poor and the slaves which he had gathered and called to freedom” ῾Hλιοπoλῖτaι (“citizens of the sun”; Strabo 14.1.38, cited in Gayer [as n. 28], 31). 28 Gayer (as n. 28), 36 ff.; see the examples on 26 ff. 29 Pol. 1.1259 b20–1260 b8; on this point, see, e. g., Hermann Strasburger, Zum antiken Gesellschaftsideal (Heidelberg, 1976), 49–51 (with additional bibliography). 30 See Max Kaser, Das römische Privatrecht, 2 vols. (Munich, 1955–59), 2:83 ff. 31 Heinz Bellen, Studien zur Sklavenflucht im römischen Kaiserreich, Forschungen zur anti‑ ken Sklaverei 4 (Wiesbaden, 1971). Dihle (as n. 19) is surely right to draw attention to the “great number of well educated slaves of Greek origin who were, among other things, tutors, philosophers, and secretaries, in the homes of Roman aristocrats” as an additional possible factor (668). 32 Cod.Theod. 2.25.1; Cod. Just. 3.38.11.
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in the flesh.33 Furthermore, the legal affairs of slaves continued to be regulated in the sphere of private law, and slaves were not considered “legal subjects” (personae) in the strict sense but were ranked with “things” (res ). The state did not pass verdict in their affairs as it did for other “persons”; rather, as a rule, their masters were also their judges.34 As objects of “international law” (ius gentium), despite their immense economic significance, slaves were never viewed as a state-supporting class. As a result, they never actively participated in the official state cult but instead followed a variety of unofficial cults (especially the mystery associations).35 Here, to our knowledge, the Christian world first introduced an overriding religious principle to which even the emperors themselves submitted in the end. “Apart from the manifold legislative measures [taken] for the mitigation of slavery,” the emperors raised “the promotion of liberty, the favor libertatis, to the level of a general and widely accepted legal principle.36 Here we have – to quote a witness who is above suspicion in this regard, given his highly critical stance toward the established Christianity of his own time – “the greatest upheaval which has ever occurred.” The phrase comes from the great historian Jacob Burckhardt.37 [191] To what extent was this principle already operative in the Christian communities at the beginning?38 Let us put this question to Paul. He credited it to the dynamic of the gospel that, under its impulse, master and slave discovered themselves as brothers (cf. Phlm. 16–20). From the equality of all “in Christ” (cf. 2 Cor. 5:17; Gal. 3:26–28), however, he did not go on to draw any direct conclusions in favor of legal change in the everyday realm. Nevertheless he also did not “simply piously ignore” the legal conditions of his time or “accept and sanction” them “in faith.”39 By and large, the church of subsequent centuries took a similar approach: “in Christ,” that is, in the community, individual slaves were accorded full recognition, respect, and “freedom.” But no program for the universal emancipation of slaves was set forth. And in this respect, as the example of Chrysostom shows, there was no fundamental change in the post-Constantinian period. Certainly Chrysostom was able repeatedly to denounce the “domination of man over men” 33 Cod.Theod.
9.12.1 (from 11.5.319). function within Roman criminal proceedings was similarly miserable and humiliating (see Jürgen Scheele, Zur Rolle der Unfreien in den römischen Christenprozessen [Phil. diss., Tübingen], Bochum 1970). 35 See Gayer (as n. 28), 56 ff. 36 Kaser (as n. 31), 2:84 (with additional bibliography). 37 J. B., Weltgeschichtliche Betrachtungen, ed. Rudolf Stadelmann (Tübingen, 1949), 149. 38 See Henneke Gülzow, Christentum und Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten (Bonn, 1969). 39 Thus Peter Stuhlmacher, in his, on the whole, very balanced commentary: Der Brief an Philemon, Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament 18 (Zurich, Einsiedeln, Cologne, and Neukirchen-Vluyn, 1981), 58; see also Gayer (as n. 28), 223 ff. 34 Their
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(as we would say today) simply as sin, or rather as the consequence of sin, instead of glorifying it as an “order of creation”.40 But he could anticipate a “decisive change of the social institution of slavery” only through an “inner transformation of masters and slaves, in the community, into servants of God,” inasmuch as slavery had itself arisen “through the inner alienation of man from God.” In this regard, it is true, he was capable of talking about the relation between free and unfree – in the context of a new evaluation of work and servitude, for instance! – in a way that still sounds ‘of great promise’ today and that makes it appear unthinkable that the status quo of the distribution of power and property could, in the long run, remain totally untouched by what it means to be “in Christ.”41 Paul too appears already to have reckoned it quite obvious that the Christian brotherhood would also strive to prove itself “in circumstances and conditions outside the church” (καὶ ἐν σαρκί, Phlm. 16).42 Here I must break off; I want only to make some concluding observations. In the first place, I must admit that I should also have discussed Chrysostom’s concept of monasticism in relation to the church. In his case, as in Basil’s of Caesarea, to my mind, a deeper insight into his life and work can be achieved only when [192] one tries to do justice to the fact that he made the journey from monasticism to ministry without abandoning the monastic ideal or even calling the raison d’être
40 For him, there is only one form of super‑ and subordination grounded in the order of nature rather than in human sin, namely, the “domination” of parents over their children. “As your parents gave birth to you,” he asserts in support, “you cannot give birth to them.” Of slavery, in contrast, it is true that it belongs to the “three kinds of servitude” that “sin introduced.” The other two “servitudes” are the subjection of the wife to her husband rather than the originally intended “partnership” and the compulsory rule of the ‘state’, which Chrysostom perceives as the most oppressive servitude – a fact that throws significant light on his concept and experience of the ‘state’ (see especially the fourth and fifth of the Sermones in Genesim [PG 54:593–604]; and above all, on this point, Wulf Jaeger, Sklaverei bei Johannes Chrysostomus [Theol. diss., Kiel 1974], which gives an account of this whole matter that is as thorough as it is even-handed). Beyond that, Chrysostom could occasionally demand concretely that, if one otherwise loved his slaves “as himself ” (see Lev. 19:18 et passim), he should train them in a craft or give them some other education that would allow them to stand on their own feet and then should set them free (Hom 40 in 1 Cor 5; from Jaeger, 145 ff., we learn that this demand is by no means as isolated in Chrysostom as Stötzel, 91, supposes). When, in his excursus on the history of the interpretation and influence of Paul’s letter to Philemon, Stuhlmacher, 58 ff., sees a line of “anti-emancipatory” interpretation that begins with Chrysostom, he bases this on a complete isolation of the homilies on Philemon from Chrysostom’s work as a whole and on an interpretation of these homilies – largely determined by this isolation – that is much too one-dimensional. To avoid misinterpretation, one must proceed methodically as sketched above (in n. 22) with regard to the problematic of property and ownership. 41 See Jaeger, 212 f., quotation on 212. 42 Wolfgang Schrage, „Barmen II und das Neue Testament“ in: Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde, ed. Alfred Burgsmüller (Gütersloh, 1974), 127–71, quotation on 165.
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of monasticism into question.43 Only in this framework does what I have tried to show in this study take its rightful place with Chrysostom – and perhaps also its plausibility. Even so, this study may still have shown that, so far as Chrysostom is concerned at any rate, the ethics and eschatology of Jesus and Paul – despite their pronounced expectation of an immediate parousia – have not lost their critical power or permitted a complete surrender of the “reasonable worship” (λογικὴ λατρεία) of Christians to the established system. Perhaps one can even go a step further and say that what I suggested at the start will prove true: that the ‘revolutionary’ impulses of New Testament ethics and eschatology, arising from the distinction between the “ultimate” and the “penultimate” (D. Bonhoeffer) and even more from a radically interpreted ἀγάπη, tend to break through the selfimposed limits and to go beyond the particular ethical decisions and judgments made at Christianity’s beginning. Finally, as this suggests, there is in my view an important “Christian chapter” in the book of the history of utopia, a chapter to which belong not only all kinds of marginal figures (e. g., the Gnostic infant prodigy Epiphanes) but also a Paul and a John Chrysostom. Therefore, one of the things to which we ought now to be giving consideration is a Christian rehabilitation of the category of utopia. But that would lead us too far beyond the scope of this study – at least at the moment.44
43 See Ritter, Charisma, 90 ff.; for a different view, see Stötzel, who wrongly asserts that Chrysostom goes so far as “to dispute that asceticism is a Christian form of life” (23; see also 173.200 [Chrysostom “wanted no monasteries”!], and often). 44 In this regard, see my essay “Die altchristliche and die byzantinische Utopie,” which is to appear in: Akten des Salzburger Symposiums zur antiken Rechts‑ and Sozialphilosophie (22–24 Oct. 1986). There, in conclusion, I state (with reference, in particular, to the chapter “Kritik und Rechtfertigung der Utopie” – no less important now than when it was written – in Paul Tillich, Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker [Berlin, 1951]; reprinted in Tillich’s Gesammelte Werke, vol. 6: Der Widerstreit von Raum and Zeit [Stuttgart, 1963], 157–210): “If … Christian theology can, and indeed must, learn something from the history of utopia, then it is primarily this: that, because of the evident ambiguity of the utopian consciousness, it is today urgently required that we renounce any attempt at raising it to the religious level (not least because of the danger of totalitarianism latent in it). But if the utopian consciousness, with its tendency toward concrete reality as related to the future (in the interplay of short-term and long-term goals), is clearly distinguished from the Christian hope, then it can contribute to the effectiveness and, no less important, to the communicability of Christian action. It holds a potential that can be mobilized responsibly because it can serve the purposes of criticism and judgment.”
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Comment: Chrysostom and Pauline Social Ethics by Elizabeth A. Clark* Ritter argues that Paul’s “unprogrammatic” and “dialectical” position on social issues such as poverty and slavery was theologically grounded in his understanding of the gift of God’s mercy, a mercy that should prompt Christians to “sacrifice, transformation, and community.” Ritter interprets Romans 12:1–8 to mean that since God exists entirely for the believer, the believer may learn to exist entirely for God. Paul’s “body of Christ” metaphor thus serves to remind his audience that they exist in community. According to Ritter, in John Chrysostom’s writings we find an impetus to social change intensified over that found in the teachings of Jesus and Paul. Some interpreters have even viewed Chrysostom as a proto-socialist.45 Ritter argues that Chrysostom’s concern for the poor stemmed not so much from the preaching of individual improvement that was characteristic of the Cynic-Stoic diatribe as from a Christian, specifically Pauline, focus on the edification of the neighbor, on the welfare of the whole community. For Chrysostom, it would not suffice simply to free people from greed: even the Greek philosophers cast away their wealth.46 Rather, the Christian must use his possessions to benefit the poor. According to Ritter, Chrysostom’s views here point beyond mere voluntary and private “solutions” to social problems and can even be called “utopian,” for example, his theory that private property was not God’s intention for the human race. Although Chrysostom thought that slavery was a result of human sin, “the domination of man over men,” his only recommendation was for an attitudinal change between master and slave. Ritter posits, [194] however, that any Christian writer who so strongly believes that being “in Christ” will alter our values must expect that these changed values will manifest themselves in the wider social world. Ritter concludes with the addendum that he should have set Chrysostom’s ascetic views as the backdrop for his study, since Chrysostom never abandoned * The inclusion also of Liz Clark’s ‘Comment’ on my paper in Dallas (March 1987) into this collection of Chrysostom studies has been kindly permitted by the author as well as by the director of Southern Methodist University Press (Dallas), possessing the copy-right for the acts of the Dallas conference. In the original publication E. Clark’s comment covers the pages 193–199 (text) and 369 f. (notes). It surely is a great advantage for our audience to have again paper and comment in their full length and with their full argumentative substratum before its eyes, so that an unlimited transparancy of our Dallas dispute is guaranteed. I should like, therefore, vicariously to thank, once more, Mrs. Clark and Keith Gregory from the publishing house for their generous permission! 45 In addition to the references in Ritter’s n. 11, see Aimée Puech, Saint John Chrysostom, 344–407, trans. Mildred Partridge, 2 d ed. (London, 1917), 63. 46 Hom 7 in acts.
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those monastic ideals even when he served as priest and bishop. According to Ritter, only by positioning Chrysostom in this monastic framework do his teachings on the above-mentioned issues make sense. My reading of Chrysostom differs in emphasis from Ritter’s. My comments will be addressed to the following three points. First, although Chrysostom’s corpus does indeed include a few utopian passages such as Ritter cites, the views Chrysostom customarily expresses do not tend in this direction. On some issues, Chrysostom adopts a more conservative stance than Paul: he sides with the “Paul” of the deutero-Pauline and pastoral Epistles rather than with the “Paul” we today accept. Moreover, Chrysostom all too often slides over the top of the Pauline verses – for example, Galatians 3:28 – that might have stirred him to explore a more socially liberal position. Second, Chrysostom’s “utopian” vision, limited as it is, rarely emerges from his reflection on Paul. Rather, it stems from his reflection on Genesis 1 and 2, and this as linked to the ancient philosophical discussion of “the natural.” Indeed, I remain uncertain whether any specifically New Testament passages contributed significantly to the utopian dimension of Chrysostom’s thought as Ritter has sketched it. Third, I agree with and shall press further Ritter’s point that monasticism is central as the frame for Chrysostom’s social thinking. For Chrysostom, the hope for a “utopia” realizable on earth finds its locus in the monastic community. On the first point, the conservative nature of Chrysostom’s thought emerges frequently in his discussion of property and slavery – two issues raised by Ritter – and also in his discussion of women and marriage, a third topic about which I shall briefly comment. Ritter rightly insists that for Chrysostom, it is not a matter simply of despising wealth but of using wealth for the benefit of the community. This indeed is the whole point of [195] Chrysostom’s exegesis of the gospel story of the rich young man. Moreover, Chrysostom argues, since it is not so much a matter of freeing the rich from their burden as it is of helping the impoverished, even people of the humble classes should be encouraged to give.47 As is well known, Chrysostom interprets the “oil” that the foolish virgins lacked (in the parable of the wise and foolish virgins) as almsgiving.48 Likewise, he gives a rigorous exegesis of Matthew 25:31–41 (the questions that will be asked us at the Last Judgment): although we do not have the ability to cure the sick or free the prisoners, we are obliged to do whatever is in our power to lend assistance to unfortunates.49 Given this approach, Chrysostom’s criticism of female adornment centers not so much on the sexual lure that fine clothes, jewelry, and makeup can constitute as on the help that could have been given to the poor if the money had 47 Hom 48 Hom
63 in Mt 2 (the rich young man); Hom 64 in Mt 1,5. 78 in Mt 2; see also Vidua eligatur 15, Hom 3 de poen 2, Hom 50 in Mt 5, Hom 6 in
2 Tim 3. 49 Hom 79 in Mt 1–2.
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been correctly used.50 Charity, Chrysostom concludes, is one of the few virtues we can rightly say humans share with God.51 Despite these emphases, Chrysostom’s practical solutions to poverty remain within the province of individual charity. Thus he complains that if individuals would give as they ought, priests would not have to spend time buying corn and wine for the poor relief – an activity that subjects them to ridicule – and could devote themselves more fully to their religious duties. If each of the approximately one hundred thousand Christians in Antioch gave one loaf to a poor person, all would have plenty to eat. Moreover, although Chrysostom admires the communal arrangements of the early Jerusalem church as described in Acts 4, he assures his readers, both rich and poor, that they should not “get excited” by his description of it: after all, he is neither demanding the renunciation of private property, on the one hand, nor inciting the poor to claim it as their own, on the other. Even when Chrysostom states that injustice is the original source of riches (as he does in Homily 12 on 1 Timothy, cited by Ritter), he softens his conclusion both by exonerating those with inherited wealth from the deeds of their forefathers and by claiming that wealth is not in itself evil, since it can be used to help the poor. Thus Chrysostom’s advice for daily living is not seasoned with much utopian salt.52 On the topic of slavery, Chrysostom’s most generally expressed views are also conservative, at least as conservative as [196] Paul’s. One message he derives from Paul’s letter to Philemon is that slaves should not withdraw their service from their masters. After all, Chrysostom argues, if the slave is excellent and serves his master’s household well, why “hide the candle under a bushel”?53 Significantly, Chrysostom reads 1 Corinthians 7:21 (usually now translated as “if you can gain your freedom, avail yourself of the opportunity”) as “rather, continue as a slave.”54 Thus Paul, according to Chrysostom, has not given permission for the slave to seek his freedom even if he can lawfully gain it. According to Chrysostom, Paul wrote these words in 1 Corinthians 7 to inform the slave that he gains nothing by being freed, that it is even an advantage for him to remain a slave. Besides, Chrysostom claims, even slaves can exhibit a noble freedom when they disdain the passions, suppress anger, and do not envy riches.55 Chrysostom’s comments on the slaves mentioned in the household codes are similar: servants are “free” if their souls are free; their servitude is “only” of a “fleshly” kind. They even gain a benefit from their servitude, for their lack of possessions prompts them to be
89 in Mt 4; see also Ad illuminandos catechesis 2,4. laud S Pauli 3. 52 Hom 85 in Mt 3–4 (on poor relief); Hom 11 in act 3 (on Acts 4:23 ff.); Hom 12 in 1 Tim 4. 53 Hom Philem argumentum. 54 Hom 19 in 1 Cor 5; Hom Philem argumentum. 55 Hom 19 in 1 Cor 5. 50 Hom 51 De
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“philosophers.” Chrysostom sharply reminds the slaves he addresses not to imagine that they are free in the legal and social sense.56 On the topic of women, Chrysostom again takes a more conservative stance than Paul. In part, this is because he reads the post-Pauline material as Pauline, thus crediting to Paul himself the injunctions that women be silent and submissive. To his credit, Chrysostom recognizes that the advice in what he thinks are Paul’s letters is not self-consistent: why should women be told that they will be saved through childbearing (1 Timothy 2:15) when in 1 Corinthians 7, virginity is held to be the higher state? And in any case, shouldn’t people be saved by their own virtue, not by that of their offspring?57 Chrysostom is likewise puzzled by Paul’s allowance of the rather free activity enjoyed by women in the early Christian communities. Chrysostom’s explanation for this allowance – something that he cannot imagine for his own day – rests on a theory of “decline” in moral virtue from the days of the early church. Women in the first decades of Christianity were “more spirited than lions”; they traveled with the male apostles and “also performed all other ministries.”58 In his own time, [197] Chrysostom sadly acknowledges, women are not of this virile cast: they can scarcely be restrained from wrongdoing by their watchful husbands and by being kept shut at home.59 Certainly they cannot aspire to the priesthood.60 Moreover, any “utopian” thoughts Chrysostom may have entertained about God’s original plan for the human race were severely compromised by his notion that a household is a miniature monarchy, of which there is only one king – or, if the wife may be called a “second king” to her husband, she cannot wear the diadem, as he does.61 At times, Chrysostom imagines this hierarchy to have been present from the moment of creation: only the male was made in the image of God, since “image” connotes authority. When God made “male and female one,” according to Chrysostom, he made one a ruler and the other a subject.62 And if we look at Chrysostom’s discussions of Galatians 3:28, we do not find him using
10 in Col 2; Hom 16 in 1 Tim 2 (on 1 Tm. 6:2); Hom 16 in 1 Tim 1 (on 1 Tm. 6:1). 9 in 1 Tim. Chrysostom asks, in writing about the household code in Colossians, “Why doesn’t Paul give these commands everywhere, not just in Ephesians, Timothy and Titus?” He tries “situational” answers: because these sorts of disruptions were known only in these particular cities to which Paul wrote or because Christians in those places were correct in other respects and needed advice only on these points (Hom 10 in Col 1 [on Col. 3:18–25]). 58 Hom 31 in Rom 1–2 (on Rom. 16:6). Chrysostom reads the text of Rom. 16:7 to refer to Junia, a woman, and notes that she is worthy to be called an apostle. 59 Quales ducendae sint uxores 7; see also Hom 20 in Eph; De virginitate 66. 60 De sacerd 3.9. 61 Hom 34 in 1 Cor 6; Hom. 22 in Eph. 2 (on Eph. 6:9). For discussion, see A. Moulard, Jean Chrysostome: Sa vie, son oeuvre (Paris, 1984), 176. 62 Serm 2 in Gen 2; Hom 12 in Col 5. 56 Hom. 57 Hom
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that verse to urge the liberalization of women’s position in his own day, except for women who adopt the ascetic life.63 On the second point, it is not Paul’s writings that lead Chrysostom to posit an original equality of humans so much as it is reflection on Genesis 1. Ritter cites the central passage, in Chrysostom’s Homilies on 1 Timothy, in which Chrysostom argues that at creation God did not make one person rich and another poor; the earth was to be free to all; the sun, moon, air, and so forth were to be shared in common by all, just as everyone received eyes, hands, and feet.64 Although this discussion occurs in a treatise devoted to a book that Chrysostom thought was Pauline, it is the moment of creation – that is, the Genesis accounts – that motivates him to posit a theory of an original equality among humans. The utopian strand in Chrysostom’s thinking about slavery also seems not to be motivated so much by his reflection on Paul as by that on the Genesis stories. According to Chrysostom in Homily 40 on 1 Corinthians, there was no slavery at the time of creation: if Adam had needed a slave, God would have supplied him with one. Rather, slavery is the penalty for sin.65 Chrysostom does not find any reference to slavery down through the generations to Noah. He argues that slavery began with “rebellion against [198] parents,” which apparently refers to the penalty placed on Ham and his descendants in Genesis 9. Abraham’s servants, according to Chrysostom, were not really slaves at all, so Abraham is exonerated from the charge of slaveholding. Although Chrysostom notes that Galatians 3:28 should be taken to mean that slavery is at an end, he immediately concedes that a man may have one or two slaves (not troops of them) if he needs assistance.66 Once again, we see Chrysostom “adjusting” his more radical position to the mores of the world around him. Likewise, Chrysostom’s brief consideration of the equality of women comes not from reflection on the Pauline verse we might expect but from thinking about Genesis – and even here he posits only an “equality of honor.”67 Yet these references to an “equality of honor” between Adam and Eve are likewise compromised by Chrysostom’s reflection on “female nature.” Although Chrysostom does not have an explicit biological theory concerning woman’s “nature” to back up his dominant subordinationist position (as, for example, Thomas Aquinas does),68 he appears to think that woman’s “nature” is inferior to man’s. Thus he refers many times to women as “weaker,” light-minded and easily led astray, and 63 Rather, Chrysostom uses it, e. g., to urge servant girls not to participate in night wedding ceremonies – thus they can show that they too exemplify the virtues of the freeborn (Hom 12 in 1 Cor 11–12). He can also apply the verse to devout women of the past and to contemporary women who adopt the ascetic life – but not to contemporary matrons (Hom 5 in 1 Thess ). 64 Hom 12 in 1 Tim 4. 65 Hom 40 in 1 Cor 6. 66 Hom 22 in Eph 2 (on Eph. 6:9); Hom 40 in 1 Cor 6. 67 E. g., Hom 26 in 1 Cor 3; Hom 17 in Gen 6,; Serm 2 in Gen 2; Hom 23 in Rom 1. 68 Summa Theologica I. 92.
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“naturally” more feeble and simple than men.69 None of this sounds either like the “equality” of the sexes or like Paul. On the third point, I would stress that the only “utopia” Chrysostom imagines for his own era lies in the monastery. Monasticism provides the closest parallels with both Eden before the Fall and the early Christian community in Jerusalem. Just as those early Christians lived without private property, distinctions between rich and poor, or slaves, so live the monks of Chrysostom’s own day. They have plenty of everything to go around, just as did the Jerusalem Christians; their life replicates the exemplary practices of the first Jerusalem Christians as Chrysostom imagines them.70 Monks of his own time live in a bliss that reminds him of Eden prior to sin. Like Adam in Paradise, they converse with God and have no worldly cares; a minimum of effort provides for their physical needs. Just as, in Eden, there was nothing to give rise to envy, jealousy, passions, and “diseases of the soul,” so nothing in monastic life should (theoretically) prompt such manifestations [199] of vice. The monastic life can be called “angelic,” an adjective Chrysostom uses to describe the monks’ sharing of everything in common.71 In these ways, I think, Chrysostom’s limited utopian vision was speedily compromised. Moreover, even that limited utopian vision was prompted by reflection on Genesis 1, not on Paul’s writings. Galatians 3:28 is interpreted to promote not genuine social change but only changes in attitude that make one’s servitude more “kingly.” The verse holds out no hope to men and women of Chrysostom’s day for any modification of legal or social structures. Thus Paul’s phrase “for freedom Christ has set us free” (Gal. 5:1) receives from Chrysostom little commendation as an exhortation toward social reform.
Zusammenfassung und weitergehende Fragen Eine deutsche Zusammenfassung meines englischen Textes ist deshalb unnötig, weil der im vorigen Kapitel (IV) dokumentierte Bonner Vortrag, wie erwähnt, eine erweiterte Fassung des in Dallas Vorgetragenen darstellt. Der Text von Frau Clark lässt sich umso leichter zusammenfassen, als sie mit einem Resümee des meinen beginnt (81 f.) und daran drei kritische Anfragen an das von mir Vorgetragene anschließt (82 f.): zum einen bestreite sie nicht, dass es im Corpus Chrysostomicum ein paar ‚utopische‘ Passagen gebe, die Mehrzahl seiner Aussagen indessen zielten in eine andere, ‚konservativere‘ Richtung; zweitens entzünde sich die ‚utopische‘ Vision des Chrysostomus weniger an Paulustexten 20 in Eph (on Eph. 5:33); Hom 37 in 1 Cor 1; Hom 16 in Gen 1. 11 in act 3 (on Acts 4:23 ff.). According to Chrysostom, God gave us hands and feet so that we could take care of our own needs (Hom 40 in 1 Cor 6). 71 Hom 68 in Mt 3; Adv oppug 2.11. 69 Hom 70 Hom
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als am Schöpfungsbericht Gen 1 und 2; drittens sei wohl der Bezug auf das Mönchtum wichtig und zentral für die sozialethischen Überlegungen des „Goldmundes“, doch seine Hoffnung auf ein irdisches „utopia“ ende eben auch an den Grenzen klösterlicher Gemeinschaft. Zum Verständnis des Kommentars von Frau Clark muss man in Rechnung stellen, dass sie bei dessen Abfassung lediglich meinen ursprünglichen Text, nicht die Anmerkungen (und den Exkurs!) kannte, genau so wie ich in den Anmerkungen des vorigen Kapitels nur auf ihren in Dallas vorgetragenen Text, nicht dessen Begründungen in Gestalt der „notes“ reagierte. Indem nun alles auf dem Tisch liegt, sind wunderbare Gesprächsmöglichkeiten herüber und hinüber, auch – beispielsweise – für seminaristische Methodendiskussionen gegeben.72 Schon deshalb möchte ich die Aufarbeitung des hier Vorgelegten und erst recht die Urteilsbildung gern unseren Leserinnen und Lesern überlassen und mich mit ein paar weitergehenden Fragen an Frau Clark bzw. die Leserschaft begnügen. a) Obwohl der Utopiebegriff eine große Rolle in ihrem Votum spielt, will ich nicht dabei einsetzen, sondern bei ihrer Bemerkung (83), wonach sich, wie sie findet, unser beider Chrysostomuslektüren durch abweichende Akzentuierung („emphasis“) unterscheiden. Das ist sehr nobel und rücksichtsvoll formuliert. Ich frage aber, ob der wesentliche Unterschied nicht eher im Bereich des Methodischen liege. Eine einstweilen offene Frage zwischen uns ist: Wie ist hermeneutisch mit einem Werk umzugehen, bei dem man angesichts der schieren Masse an Texten bald genug in Verzweifelung gerät und sich in einen ständigen Kampf verwickelt sieht mit allen möglichen, scheinbaren oder wirklichen, Ungereimtheiten und Widersprüchen? Lässt sich das Problem sozusagen statistisch lösen: wenige Aussagen versus viele? Gibt es einen anderen Weg, als nach dem zu fragen, was der große Gräzist Karl Reinhardt (1886–1958) einmal die „innere Form“ genannt hat, danach also, wie im Reden und Denken eines Autors alles innerlich zusammenhängt, und dementsprechend zu ordnen und zu gewichten? Dabei dürfte es zur Vermeidung von Willkür notwendig sein, sich die entscheidenden Hinweise vom Autor selbst geben zu lassen. Ich weiß nicht, wie Frau Clark auf 72 Ich erwähne das, weil sich mit Bestimmtheit sagen lässt, dass z. B. meine Kontroverse mit Ekkehard Mühlenberg über die „Gnadenlehre Gregors von Nyssa“ in kirchengeschichtlichen Seminaren (nicht meinen eigenen!) behandelt worden ist. Den Ausgangspunkt der Kontroverse bildete mein Vortrag vor dem Zweiten Internationalen Gregor-von-Nyssa-Kolloquium in Freckenhorst (Sept. 1972) über „Die Gnadenlehre Gregors von Nyssa nach seiner Schrift ‚Über das Leben des Mose‘“ (erschienen, mitsamt der anschließenden Diskussion, in: Gregor von Nyssa und die Philosophie, hg. v. Heinrich Dörrie u. a., Leiden 1976, 195–239); auf diese „clearcut-provocation“ antwortete Ekkehard Mühlenberg mit einem Aufsatz über „Synergism in Gregory of Nyssa“, in: ZNW 68 (1977), 93–122, inklusive eine „polemical appendix“, in der er sich explizit mit mir auseinandersetzte. Darauf reagierte ich noch einmal kurz am Schluss einer Geburtstagsgabe für C. Andresen in der von mir herausgegebenen Festschrift „Kerygma und Logos“, Göttingen 1979 („Zum homousios von Nizäa und Konstantinopel. Kritische Nachlese zu einigen neueren Diskussionen“ [404–423; hier: 421 ff.]).
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die Frage nach der „inneren Form“ antworten würde; sie spricht sich darüber nirgends aus. Aber: kann man sich eine Antwort ersparen? b) Vorausgesetzt, man begibt sich, mit der Reinhardtschen Frage im Kopf, auf Spurensuche und denkt sich, bei „dem wichtigsten patristischen Paulusausleger“,73 als der Chrysostomus gemeinhin gilt, sei man eben bei seiner Paulusauslegung, innerhalb wie außerhalb der dieser gewidmeten Reihenpredigten, vom Zentrum seines Denkens nicht allzu weit entfernt, so erhebt sich die Frage, was das bedeute und um „welchen Paulus“ es gehe. Ich verstehe nur zu gut, wenn Frau Clark den Eindruck gewonnen hat, die sozialethischen Überlegungen des Chrysostomus haben mit dem Völkerapostel selbst nicht sehr viel zu tun; sie steht damit auch keineswegs allein.74 Könnte es jedoch sein, dass sie sich ein wenig zu stark von unserem modernen, durch historisch-kritische Analyse und auf einer gegenüber Chrysostomus stark reduzierten Quellenbasis gewonnenen Paulusbild hat leiten lassen?75 Kann man zudem, von den chrysostomischen, nicht unseren Verständnisvoraussetzungen aus geurteilt, so stark wie sie Paulus und die Schöpfungsberichte in Gen 1 und 2 (und vice versa) gegeneinander ausspielen? c) Und nun zur Kategorie des „Utopischen“, über die Frau Clark und ich uns mindestens im Sinne eines „agreement to disagree“ müssten verständigen können.Wir sind wohl einfach von unterschiedlichen Vorstellungen davon ausgegangen, was mit „Utopie“ gemeint sei. Während ich in Dallas (und noch einige Zeit danach) unter dem Eindruck der tiefschürfenden Reflexionen Paul Tillichs stand,76 die in jener Zeit, nicht nur hierzulande, noch immer Hochkonjunktur hatten und den Hauptantrieb bildeten zu allerlei Versuchen einer theologischen 73 Margaret M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 40), Tübingen 2000, XXI. 74 In seiner – durchaus wohlwollenden – Besprechung der Kongressakten von Dallas und meines Beitrages (in: JThS.NS 46 [1995], 317–320) bemerkte P. M. Parvis, OP, ich spreche „of Paul and John rather than Paul in John“ (318), was auch Frau Clarks Eindruck gewesen zu sein scheint. 75 Wie anders als so, dass nicht deutlich genug unterschieden wird zwischen heutiger historisch-kritischer Exegese und einer Betrachtungsweise, die zunächst einmal von den Deutungsmöglichkeiten des geschichtlichen Gegenübers ausgeht, lässt es sich beispielsweise verstehen, wenn kritisch angemerkt wird, Chrysostomus nehme einen konservativeren Standpunkt ein als Paulus, indem er deuteropaulinisches Material als paulinisch lese (82)? Oder wenn kritisiert wird (84), er deute 1 Kor 7,21 (jetzt normalerweise übersetzt mit: „kannst du die Freilassung erlangen, so nutze deine Chance“ [μᾶλλον χρῆσαι]) „bezeichnenderweise“ in gegenteiligem Sinne (nämlich: „so bleibe [umso eher] Sklave“)? Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Chr. hier im Banne einer stabilen patristischen Auslegungstradition steht, die übrigens bis heute Anhänger findet. Wie sehr sie ihn blockiert, zeigt u. a. das Proömium (Ὑπόθεσις) der drei Philemonhomilien (PG 62,704,10–23), wo 1 Kor 7,21 Seit’ an Seite mit 1 Tim 6,2 zitiert und knapp interpretiert wird. Weil sich das so verhält und es normalerweise nicht des Chr. Sache ist, Widersprüche in der Bibel (wohl gar bei seinem geliebten Apostel Paulus) aufzuspüren und sie, wie Origenes, durch allegorische Deutung aufzulösen, fällt womöglich auch ein anderes Licht auf die Tatsache, dass er in der Tat seine ‚utopische‘ Vision von der Gleichheit aller Menschen mit Vorliebe aus Gen 1 und 2 entwickelt (82.85 u. ö.). 76 S. o., S. 55, Anm. 99; u. ö.
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Rehabilitation der Utopie, könnte ich mich inzwischen ohne weiteres auch mit einem Verständnis des Utopischen zufriedengeben, das sich „in jüngerer Zeit in eine Richtung“ entwickelte, welche „– im Sinne der Realutopie – jeden Gegensatz zu den real-existierenden Verhältnissen und damit auch Reformkonzepte und ‚Zukunftsentwürfe‘ mit einschließt“.77 So gesehen wären die Reformgedanken ‚unseres‘ Chrysostomus mit mindestens ebenso viel Recht als utopisch zu bezeichnen wie z. B. die des anderen, Dios. d) Ich verbinde damit eine letzte Frage: müsste man nicht viel stärker, als bisher geschehen, auf die aufschließende Bedeutung der Wirkungsgeschichte bei der Analyse von Texten, namentlich antiken, achten und sie in unser hermeneutisches Instrumentarium einbringen? Mir ist das inzwischen zunehmend gewiss geworden, gerade auch bei der Vorbereitung mehrerer Beiträge für das von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur herausgegebene „Handwörterbuch Antike Sklaverei“.78 Weil das im Disput mit E. Clark bisher noch keine Rolle spielte, muss ich vielleicht ein wenig weiter ausholen und kann, was ich meine, wohl am besten verdeutlichen, indem ich den Schluss meiner historischen Übersicht über das Verhältnis von Christentum und Sklaverei in der Antike (= „Christentum I“) im genannten Handwörterbuch (HAS) zitiere: Nach etwas mehr als einem Jahrtausend blickte Jean Bodin [1529/30–1596] auf das Erbe von Antike und Christentum zurück, als er die Frage stellte, „ob in einem wohlgeordneten Staat die Sklaverei zulässig“ sei und den Sklaven gar das Bürgerrecht zustehe.79 Dabei trat ihm ein anderes Bild vor Augen, als es oft aus modernen Darstellungen zu gewinnen ist. Aristoteles kommt darin eine große, aber keine entscheidende Autorität zu; man darf ihm getrost widersprechen. Unbegrenztes Vertrauen verdient dagegen das göttliche (sc. in der Bibel offenbarte) wie das natürliche Gesetz; Augustinus und seine Erbsündenlehre aber haben keinerlei Spuren hinterlassen. Beiden, dem Gesetz Gottes wie der natürlichen Vernunft, widerspreche nun die Sklaverei und müsse daher abgeschafft werden, wenn auch nicht „mit einem Schlage“.80 Sollte an dieser Sicht auch nur etwas Richtiges sein, so würde verständlich, wieso es nach augenblicklichem Kenntnisstand der von Antike, Judentum und Christentum geprägten europäischen Kultur zu verdanken ist, wenn es im Laufe des 19. Jhs. gelang, die Sklaverei (fast) weltweit abzuschaffen.81 Das wäre kaum zu erklären, falls jenen Autoren uneingeschränkt zuzustimmen wäre, die im Rückblick auf die Antike, was jedenfalls die gängigen diesseitsbezogenen Lebensmuster („broad patterns of secular life“) anbelangt, 77 S. die Diskussion bei Dorothee
Gall, Mythos, Utopie und Sozialprogramm, in: Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa (SAPERE 19), Tübingen 2012, 139, und unten Kap. XIII, 200–202. 78 Die Beiträge über „Christentum I. Historisch; II. Forschungsgeschichte“ sowie zwei Personenartikel über P. Allard und F. C. Overbeck werden demnächst wohl ins Internet gestellt und danach, irgendwann, auch in einem weiteren Sammelband im Druck vorliegen. 79 Vgl. Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, hg. v. P. C. Mayer-Tasch, München 1981, 139–157.547–570 = Les six livres de la République [1576], I,5; III,8, sowie zur Vorbereitung dieser Sicht Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, München 2009, 165 mit 158 f.163 f.). 80 Bodin (wie Anm. 79)141–143.156.547 f. 81 Flaig (wie Anm. 79), 199–219.231 f.
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keinerlei Wandel zu erkennen vermögen, welcher im Aufstieg des Christentums begründet läge, abgesehen von der negativen Einstellung zu Leib und Sexualität,82 oder die gar finden, dass sich aus der Perspektive der Sklaven ihre Lage unter dem Einfluss des Christentums eher noch verschlimmert habe.83 Unter dessen Einfluss sei nämlich zur äußeren eine psychologische Knechtung hinzugetreten. Und diese wiederum sei die Folge des verbreiteten „metaphorischen“ Gebrauchs des Sklavereibegriffs im Christentum, vom NT an.84 „Ein Wandel erübrigte sich, wenn es denn Sklavendienst war, welcher den Weg der Erlösung eröffnete, gleichgültig, welches Elend man bis dahin auch immer zu ertragen hatte“.85 Darin steckt zweifellos ein Wahrheitskern. Die metaphorische Rede von Sklaverei (der Glaubende als ‚Sklave Gottes‘) impliziert ihre grundsätzliche Akzeptanz.86 Nur darf man die Kehrseite nicht übersehen. Das Christentum „hat Herren und Sklaven in seinen Gemeinden im Gottesdienst zusammengeführt. Es hat in seiner religiösen Metaphorik die Freien zu Sklaven, die Sklaven zu Freien und alle zu Brüdern und Schwestern gemacht“.87 Aber eben: Als Institution hat es die Sklaverei nicht in Frage gestellt; am weitesten geht in deren Akzeptanz anscheinend ausgerechnet ein „Mönchstheologe“, ein „Antiochener“ zudem, nämlich Theodoret von Cyrus.88 Es hat auch keinen nachweisbaren Einfluss auf die kaiserliche Sklavengesetzgebung gewonnen,89 bei der vielmehr politische und sozioökonomische Erwägungen die Haupttriebkräfte gewesen sein dürften.90 Eine Ausnahme stellt allenfalls Justinians Novelle 5,2 dar, in der mit Berufung auf Gal 3,28 auch Sklaven prinzipiell der Eintritt in ein Kloster erlaubt wird. Allerdings ist diese Berufung speziell auf das Mönchtum bezogen. Punktuell erhobene „Freikaufs‑ und Freilassungsaufforderungen“, an denen es nicht fehlte, „zeigen …, dass das Wissen um die Last der Sklaverei … präsent ist“.91 Allein, weiter zu denken gelang nur denen, die Abstand zu gewinnen ver82 So
etwa Ramsey MacMullen, What difference did christianity make?, in: Historia 35 (1986), 322–343, bes. 342 f. 83 So etwa Keith Bradley, Slavery and Society at Rome, Cambridge 1994, 151–153, und Geoffrey E. M. De Ste. Croix, G.: Early Christian Attitudes to Property and Slavery. In: D. Baker (Ed.): Church Society and Politics. Oxford 1975, 1–38; hier: 35–38. 84 Vgl. dazu I. A. H. Combes, The Metaphor of Slavery in the Writings of the Early Church from the NT to the Beginning of the Fifth Century, Sheffield 1998, passim; Peter Garnsey, Ideas of Slavery from Aristotle to Augustine, Cambridge 1996, 16–19. 220–235; Gerd Theissen, Sklaverei im Urchristentum als Realität und als Metapher. Vortrag zum Gedenken an Henneke Gülzow. In: H. Gülzow: Kirche und Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten. Münster u. a. 1999, 213–243; hier: 236–239. 85 Bradley (wie Anm. 83), 152 f. 86 Heike Grieser, Sklaverei im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien (5.–7.Jh.), Stuttgart 1997, 223. 87 Theissen (wie Anm. 84), 240; vgl. Grieser (wie vorige Anm.), 217, mit einem schönen Zitat des Caesarius von Arles (sermo 43,3): „Siehe, den Gaben Gottes verdankst du es, dass du einen Sklaven besitzt, und dich besitzt Gott als Sklaven; wie du willst, dass dir dein Sklave diene, so musst auch du deinem Herrn dienen“. 88 Vgl. dazu den Personenartikel „Theodoretos“, verf. von dem kenntnisreichen Richard Klein (†), im genannten Handwörterbuch (HAS). 89 Vgl. MacMullen (wie Anm. 82), 337–339; Peter Garnsey, Ideas of Slavery from Aristotle to Augustine, Cambridge 1996, 100 f.; Elisabeth Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt. Hildesheim u. a. 2009, 219–225. 90 Géza Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 4., völlig überarb. u. aktualis. Aufl. Stuttgart 2011, 298 f. 91 Grieser (wie Anm. 86), 220.
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mochten zu den gegebenen Verhältnissen: so wie der einstige Sklave auf der römischen cathedra Calixt/Kallist92 mit seinem ‚revolutionären‘ Ehegesetz, so wie der Mönchsbischof Johannes Chrysostomos, in dessen Reformgedanken Kaiser und Römisches Reich überhaupt keine Rolle zu spielen scheinen, und erst recht Jean Bodin, die englischen Dissenters des 17. Jh. und der am Ende mit dem zaristischen Regime in Staat und Kirche Russlands zerfallene Tolstoi. Wäre nicht, bei aller Anpassung an die ‚Realitäten‘, auch ein subversives Element in der biblischen und patristischen Überlieferung wahrnehmbar gewesen, ein Funke, „der an einigen Stellen ein Licht der Freiheit angezündet hat“,93 es dürfte schwer fallen, eine plausible Antwort auf die Frage zu finden, welche „besondere kulturelle und“ dann auch „politische Dynamik“ den modernen Abolitionismus „ermöglicht“ habe.94
Ich vermute, dass Liz Clark meinen Hinweis auf die zentrale Bedeutung des Mönchtums (als Rahmen für des „Goldmunds“ sozialethisches Denken), den sie zutreffend fand, ja sogar noch weiterzutreiben („to press further“) versprach (78), nur ein wenig hätte entfalten müssen, erweitert vor allem um den Aspekt, der mir der wichtigste war, nämlich die Relation Mönchtum – Kirche, um mir zu konzedieren, dass die Würzkraft des „utopischen Salzes“ im chrysostomischen Denken – vielleicht – doch nicht gar so „gering“, so „begrenzt“ war, wie sie fürs erste annahm (83.85 f. u. ö.). Im übrigen hoffe und wünsche ich, dass möglichst viele Leserinnen und Leser die Vertiefung in ihren „Kommentar“ zu meinen seinerzeit in Dallas vorgetragenen Überlegungen als ebenso anregend und der Klärung dienlich erleben werden wie ich selbst.
Abstract The comment of Liz Clark on my original text, delivered in Dallas 1987, is, as I see it, undoubtedly stimulating and extremely helpful for further clarification. I hope very much that our audience will make the same experience, fortunately having now my paper and her comment in their full length and with their full argumentative substratum before its eyes. With regard to the desired process of reception I should like to make some additional suggestions. It could be helpful to consider a) how to see one’s way to handling a literal tradition like the Corpus Chrysostomicum, – on its face or in reality – full of absurdities and contradictions. Is it possible to make a simply statistical decision instead of asking: what is the “inner form” (Karl Reinhardt), the inner nexus of Chrysostom’s thinking, and only on the strength of it and cor92 S. dazu den Personenartikel „Calixtus I.“ von Heike Grieser im HAS, mit weiterer Literatur. 93 Theissen (wie Anm. 84), 241. 94 Flaig (wie Anm. 79), 11.
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respondingly to disentangle, to arrange and to emphasize or count the relevant material? b) Before it can be determined what is Pauline and what is not, it must be clarified what does it mean to be “Pauline” or, with other words, “which Paul” is under discussion. Chrysostom’s “Paul” was obviously also the author of the two pastoral Epistles as well as of the mulier taceat in ecclesia (1 Cor. 14:34 s.). And by all known odds he had no other option than to interpret the famous μᾶλλον χρῆσαι (1 Cor. 7:21 a), corresponding to a firm exegetical tradition: “(if you can gain your freedom) rather, continue as a slave”. Beyond that, as a member of the ‘Antiochene’ exegetical school Chrysostom had much more problems than Origen to overcome seeming or real contradictions in the Bible, because an allegorical interpretation was for him beyond question. So it could be seen in a different light when as a matter of fact he prefers to develop his ‘utopian’ vision of an original equality among humans in reflection on Genesis 1, not on Paul. c) As far as the conception of “Utopia” is concerned, it could be useful to make oneself familiar with modern discussions, just now inclining towards a direction which includes „– in the sense of the real utopia – any contrast to the really existing circumstances and therefore also reform concepts and projects for the future”.95 d) A last suggestion would be to integrate, more than it is usual until now, the “history of impact” (Wirkungsgeschichte) into the hermeneutical instruments. What could be achieved by such a widening of horizon and methodology I tried to demonstrate in several contributions to the “Handwörterbuch Antike Sklaverei”,96 accessible in the moment only via Internet, but, hopefully, fairly soon also in print, especially in the final section of my survey of Early Christianity and slavery, quoted above.
95 See the discussion in Dorothee Gall, Mythos, Utopie und Sozialprogramm (in: Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa [SAPERE 19], Tübingen 2012), 139, and infra chap. XIII, 200–202. 96 Vide supra n. 34.
VI.
Seelsorglich Predigen bei Johannes Chrysostomus* Biographie [Der Beitrag beginnt ursprünglich mit einer biographischen Skizze, die jedoch hier nicht wiederholt werden muss; vgl. dazu vielmehr den entsprechenden Abschnitt in Kap. IV, 37–41 oder in Kap. XIII, 185 f. Die Skizze mündet [157] in einen Vergleich der homiletischen Grundsätze Augustins nach De doctrina Christiana mit denjenigen des Chrysostomus, dem] wie bereits Origenes wohl bewusst war, dass es sich bei ὁμιλία [„Homilie“, Predigt] um einen Anklang an den Sprachgebrauch der Philosophenschulen handelte. Bezeichnete man damit doch die einfachen und familiären Gespräche, die Philosophen mit ihren Schülern zu führen gewohnt waren.1 Danach soll die Predigt in erster Linie „belehren“ und „zum Handeln bewegen“ … Damit kommt sie am ehesten in die Nähe des „symbouleutischen“ (beratenden) genus der antiken Rhetorik zu stehen. Augustin plädiert für die extemporierte, freie Predigt, die auf die Reaktion der Gemeinde wiederum unmittelbar reagieren kann, und nimmt ausdrücklich Platos Plädoyer für das mündliche Gespräch auf (unter Kritik an der Verschriftung). Die Belehrung muss so lange fortgesetzt werden, bis [158] das „Publikum“ zu erkennen gibt, dass es „verstanden“ hat. Den biblischen Text faßt Augustin primär als „Ermunterung“ … auf. Um des erstrebten unmittelbaren Austausches zwischen Prediger und Hörer willen empfiehlt er endlich nachdrücklich einen nicht-artifiziellen Sprachstil …, damit die „Einfältigeren“ … nicht auf der Strecke bleiben. All dies findet man bei Chrysostomus ohne Abstriche verwirklicht, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach von Augustin allenfalls gehört, aber von dem genannten Lehrbuch keine Kenntnis besessen hat. Diese Nähe ist um so leichter zu verstehen, als die altchristliche Predigt (in Ost wie West) viel stärker an die synagogale angeknüpft hat als etwa an die griechisch-römische Diatribe (zu der die altchristliche Predigt keine spezifische Affinität aufweist). *Aus: Christian Möller, Geschichte der Seelsorge im Einzelporträts, I, Göttingen 1994, 153–170. 1 Vgl. Xenophon, Memorabilien, 1,2,6.12.15.48; zum Ganzen den Artikel „Homilie“ von Maurice Sachot, RAC 16, 1991 ff., 148–175; ferner Klaus Berger, Antike Rhetorik und christliche Homiletik, in: Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions‑ und Geistesgeschichte, hg. v. Carsten Colpe u. a., Berlin 1992, 173–187. [Zu den Nachweisen für die folgende Skizze s. u., Kap. XIII, den Abschnitt „Theorie und Praxis der Predigt“, 191–193].
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Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n. Chr.) ist überall die Predigt zum festen Bestandteil des Synagogengottesdienstes an Sabbaten und Festtagen geworden, so sehr, dass „den Sabbat feiern“ und „am Sabbat eine Predigt halten oder hören“ zu Synonymen werden. Gerade das 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. gelten als das „goldene Zeitalter jüdischer Predigt“. Wichtig ist im Blick auf Chrysostomus (und nicht nur auf ihn) weiterhin, dass in der Synagoge (während der uns interessierenden Zeit der sog. „Amoräer“ und der Talmudim) die Predigt als nach dem Psalmengesang an die gottesdienstliche Versammlung gerichtete Ansprache ihren Ausgang von zwei unmittelbar zuvor gelesenen Bibeltexten (vgl. Act 17,2) nimmt, einem aus dem „Gesetz“ (der Torah) und einem aus den „Propheten“. Dabei ist es zunächst nicht ihre Aufgabe, den Bibeltext zu interpretieren, zu erklären oder zu deuten, obschon sie meist in solcher Form auftritt. „Im Verein mit der Hl. Schrift“ will die Predigt vielmehr „in demselben ‚transzendentalen Heute‘ vor allem verkündigen, dass das in der Schrift bezeugte Heute der Vergangenheit und das Heute der Gegenwart Heilsereignis sind“. Die Beziehung der Predigt „zum vorab gelesenen Bibeltext ist paradigmatischer Natur …: Nichts anderes sagen als die Hl. Schrift, doch mit anderen Worten, so dass ein u(nd) derselbe Sinn (bestimmt durch den Glauben, wie er in der liturgischen Feier zum Ausdruck kommt) dem, was die Schrift sagt, u(nd) dem, was jetzt zu sagen ist, innewohnt“.2 Daher ist die Predigt hinter die Schriftlesung gestellt und beginnt häufig mit einer Wiederholung eines Bibelverses. Deshalb zeigt sie eine paränetische Tendenz, geht über in den Ton der Ermahnung (bzw. Aufforderung), der Drohung oder des Trostes, weshalb sie auch gern als „Wort des Zuspruchs“ …3 bezeichnet wird, formuliert Verhaltensregeln und „erbaut“. [159] Es wäre ein Leichtes zu zeigen, wie aufschlußreich das alles als Hintergrund für des Chrysostomus seelsorgliches Predigen ist. Doch seien stattdessen einige Textbeispiele für „seelsorgliches Predigen“ nach Chrysostomus vorgeführt und anschließend kurz besprochen.
Exemplarische Texte 1. Seelsorge als ärztliches Tun a. Aus den Matthäushomilien, hom 29 (30), 3 (im Anschluß an die Geschichte von der Heilung des Gelähmten, bes. Mt 9,8: PG 57,362): „Wenn du … irgendwo einen Feind der Wahrheit siehst, so heile ihn, pflege ihn, leite ihn an zur Tugend, gib ihm das Beispiel (sittlich) bester Lebensführung, sei unverwerflich in der Rede, erweise ihm Hilfe und Fürsorge, laß nichts unver2 Sachot 3 Vgl.
(wie vorige Anm.), 148 f. Act 13,15.
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sucht, ihn auf den rechten Weg zu bringen, ahme die besten unter den Ärzten nach. Diese haben ja auch nicht bloß ein einziges Heilverfahren, sondern wenn sie sehen, dass eine Wunde mit dem ersten Mittel nicht zu heilen ist, so wählen sie ein zweites, und nachher ein drittes. Das eine Mal schneiden sie auseinander, ein anderes Mal binden sie zusammen. So sei auch du ein Arzt für die Seelen! Laß kein Heilmittel unversucht, entsprechend den Weisungen Christi, damit du nicht bloß den Lohn für deine eigene Rettung, sondern auch für das, was du anderen Gutes getan, empfängst. Und alles tue zur Ehre Gottes, durch die du dann auch selbst verherrlicht wirst. Denn, sagt der Herr: ‚Die mich ehren, die werde auch ich ehren; und die mich verachten, werde auch ich verachten!‘ (1 Sam 2,30). Tun wir also alles zu seiner Verherrlichung, damit diese Seligpreisung einst an uns sich bewahrheite; das möge uns allen zuteil werden durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht gebührt in alle Ewigkeit. Amen!“ b. Aus den Homilien über den Philipperbrief, hom 7 (6), 6 (PG 62,227): „Am liebsten würde auch ich von etwas anderem reden … Allein, was soll ich tun? Mit dem, der fiebert und sich in einer schlimmen Verfassung befindet, läßt sich ja auch nicht vom Himmelreich reden; da muß das Gespräch zuvor um die Herstellung der Gesundheit gehen. Mit dem, der der Strafe verfallen ist, läßt sich ja auch nicht von Auszeichnungen reden; da kommt es zunächst darauf an, dass er von Schuld und Strafe frei werde. Denn solange dies nicht erreicht ist, welchen Sinn könnte es da haben, auf jenes die Rede zu bringen? Deshalb spreche ich ununterbrochen von dem einen, damit wir rasch auf das andere übergehen mögen“. 2. Mit Zwang ist gar nichts auszurichten Aus den Matthäushomilien, hom 55 (56), 1 (im Anschluß an Jesu Einladungsruf Mt 16,24: PG 58,541,8–27): [160] „Beachte … wie sein Wort keinerlei Nötigung enthält. Denn er sagte nicht: Ob ihr wollt oder nicht, ihr müßt dies leiden, sondern: ‚Wenn mir jemand nachfolgen will‘. Ich zwinge nicht, ich nötige nicht, ich lasse jeden Herr seiner eigenen Entscheidung sein; deshalb sage ich: ‚Wenn jemand will‘. Ich lade ja zu etwas Gutem ein, nicht zu etwas Bösem oder Widerwärtigem, nicht zu Züchtigung und Strafe, so dass ich Zwang anwenden müßte. Die Natur der Sache selbst ist derart, dass sie hinlänglich zu locken vermag. Durch diese Worte übte er nur um so mehr Anziehungskraft aus. Wer Gewalt anwendet, stößt oftmals ab; wer aber den Zuhörer Herr seiner eigenen Entscheidung bleiben lässt, lockt ihn eher an. Pfleglicher Umgang wirkt stärker als Zwang. Deshalb sprach er: ‚Wenn jemand will‘. Er will damit sagen: Es sind große Güter, die ich euch anbiete, und sie sind derart, dass man gern danach strebt … Denn wenn dir die Sache selbst nicht
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Beine macht (μὴ … πείθει σὲ δραμεῖν), bist du es auch nicht wert, sie zu erlangen, und selbst wenn du sie erlangtest, würdest du sie kaum zu würdigen wissen. Das ist der Grund, weshalb Christus uns nicht nötigt, sondern um uns wirbt; er nimmt eben Rücksicht auf uns (schont unser [προτρέπει, φειδόμενος ὑμῶν])“. 3. Vom Segen des Bibelstudiums Aus den Matthäushomilien, hom 5,1 (PG 57,55 f.): „Vielfach höre ich Leute sagen: Solange wir (in der Kirche) anwesend sind und der Predigt lauschen, sind wir zerknirscht; kaum aber sind wir draußen, so werden wir anderen Sinnes und lassen das Feuer der Begeisterung verlöschen. Was ist dagegen zu tun? Gehen wir der Ursache auf den Grund! Woher kommt es denn, dass wir so unbeständig sind? Das kommt daher, dass wir nicht so leben, wie es sich gehört, und wir mit schlechten Menschen Umgang haben. Wenn wir aus dem Gottesdienst kommen, sollten wir uns eben nicht alsbald wieder in zum Gottesdienst nicht passende Geschäfte stürzen, vielmehr sollten wir, wenn wir nach Hause kommen, sogleich die Hl. Schrift zur Hand nehmen, Frau und Kinder zusammenrufen und mit ihnen, was in der Predigt gesagt wurde, wiederholen und dann erst den zeitlichen Geschäften nachgehen. Wenn du schon nicht gerne aus dem Bade unmittelbar dich auf den Markt begibst, um dir nicht deine Erholung durch geschäftliche Dinge zu verderben, so solltest du das um so weniger tun unmittelbar nach dem Gottesdienst. In der Tat tun wir gerade das Gegenteil, und damit verderben wir alles. Denn noch ehe der Nutzen, den wir aus der Predigt geschöpft, bei uns Wurzeln geschlagen hat, reißt und trägt schon der gewaltige Aufruhr dessen, was von außen her auf uns einstürmt, alles mit sich fort. Damit du dem also entgehst, halte bei deiner Rückkehr aus der Kirche nichts für notwendiger als die Wiederholung der Predigt. Denn es wäre doch äußerst unverständig, fünf oder sechs Tage den weltlichen Geschäften zu widmen, den geistlichen Dingen aber nicht einmal einen einzigen, ja kaum einen kleinen Teil auch nur eines Tages zu gönnen … Damit das also nicht geschehe, machen wir es uns selbst zum unabänderlichen Gesetz, mit unserer Frau und unseren Kindern einen Tag in der Woche, und zwar [161] einen ganzen, dem Anhören der Predigt und deren Wiederholung zu widmen. Auf diese Weise werden wir auch viel mehr Verständnis für die jeweilige Fortsetzung haben; es wird unsere Mühe geringer und unseren Gewinn größer machen, wenn wir das Frühere noch im Gedächtnis haben, während wir bereits das Folgende hören. Denn das hilft nicht wenig zum Verständnis des Gesagten, wenn ihr die Reihenfolge der Gedanken, die wir euch entwickelt haben, genau gegenwärtig habt. Da es nämlich unmöglich ist, sie alle in einem einzigen Tag vorzubringen, so müßt ihr das, was wir in vielen Tagen euch vorgelegt, im Geist zusammenfassen und gleichsam eine Kette daraus bilden, die ihr so um die Seele
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legt, dass die gesamte Hl. Schrift im Überblick euch vor Augen steht. Rufen wir uns also das Frühere nochmals ins Gedächtnis zurück, und gehen heute so zum Folgenden über …“. 4. Die Kraft der Auferstehung ist schon jetzt spürbar oder Vom Vorbild der Mönche Aus den Matthäushomilien, hom. 70 (71), 3 (im Anschluß an Mt 22,31–33: PG 58,658 f.): „Da es sich mit der Auferstehung so verhält, wohlan, so wollen wir alles tun, dass wir einen Siegespreis dabei erlangen. Und wenn es euch recht ist, will ich euch Leute vor Augen stellen, die schon hienieden, noch vor der Auferstehung, danach trachten und (bereits jetzt) die Früchte (solchen Trachtens) ernten. Wir brauchen nur wieder in die Wüste zu ziehen. Ich komme noch einmal auf dies Gesprächsthema zurück, weil ich sehe, dass ihr mit großer Freude davon reden hört. Wir wollen also auch heute jene geistlichen Feldlager (στρατόπεδα) betrachten und sehen, wie sie (die dort Lagernden) eine Freude genießen, frei von Furcht. Nicht wie Soldaten – hierbei brach ich jüngst meine Rede ab – mit Lanzen, Schilden und Panzern bewaffnet, haben sie ihr Lager bezogen; dennoch kannst du sehen, dass sie ohne Bewaffnung dergleichen verrichten, was Soldaten trotz ihrer Waffen nicht gelingt. Damit du es mit anschauen kannst, komm, reiche mir deine Hand; wir wollen miteinander in diesen Krieg ziehen, um ihren Kämpfen zuzuschauen.“ 5. Christus, im Armen gegenwärtig Aus den Matthäushomilien, hom 50 (51), 2 f. (im Anschluss an die Sturmstillungsgeschichte Mt 14,23–36: PG 58,507 f.): (2) „… Berühren auch wir also den Saum seines Kleides (Mt 14,36), oder vielmehr, wenn wir nur wollen, können wir ihn (Jesus) selbst ganz zueigen haben. Denn auch sein heiliger Leib liegt in diesem Augenblick (der Feier der Eucharistie) vor uns; nicht bloß sein Kleid, sondern auch sein Leib; und nicht, damit wir ihn bloß berühren, sondern ihn auch essen und uns mit ihm sättigen. Treten wir also im Glauben herzu, wer immer an einer Krankheit leidet. Wenn schon diejenigen, die nur den Saum seines Kleides [162] berührten, eine solche Kraft empfingen, um wieviel mehr dann jene, die ihn ganz besitzen? Das gläubige Herzutreten aber ist nicht gleichzusetzen dem schlichten Empfangen dessen, was vor uns liegt, sondern bedeutet, dass wir es auch mit reinem Herzen berühren und in solcher Verfassung sind, als träten wir zu Christus selbst herzu. Was macht es denn, wenn du auch seine Stimme nicht hörst? Du siehst ihn dafür vor dir liegen; ja du hörst sogar auch seine Stimme; spricht er doch durch die Evangelisten.
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(3) Glaubt also, dass es auch jetzt das gleiche Mahl ist, an dem er selber zugegen war. Denn jenes ist von diesem in nichts unterschieden. Es ist nicht etwa so, als werde dieses von einem Menschen bereitet, jenes aber von ihm selbst hergerichtet; vielmehr ist er selbst sowohl hier wie dort am Werk. Wenn du also siehst, wie der Priester dir (Leib und Blut) austeilt, so denke nicht, es sei der Priester, der dies tut, sondern Christi Hand werde dir entgegengestreckt. Wenn du getauft wirst, ist es ja auch nicht der Priester, der dich tauft, sondern Gott ist es, der mit unsichtbarer Macht dein Haupt hält; kein Engel und kein Erzengel noch sonst jemand wagt es, hinzuzutreten und dich zu berühren. Gerade so ist es auch hier … Hören wir es also, Priester und Laien (wörtl.: Untergebene), wessen wir gewürdigt worden sind; hören wir es und erschaudern wir! Christus hat uns verliehen, uns mit seinem heiligen Fleisch zu sättigen; sich selbst hat er als Schlachtopfer hingegeben! Wie können wir es also entschuldigen, wenn wir trotz dieser erhabenen Speise doch so viele und so schwere Sünden begehen? Wenn wir das Lamm essen und zu Wölfen werden? Wenn wir vom Lamm uns nähren und dann gleich Löwen zu rauben anfangen? Dies Geheimnis verlangt ja, dass wir uns nicht bloß von Raub, sondern auch von bloßer Feindschaft vollkommen freihalten. Dies Geheimnis ist eben ein Geheimnis des Friedens; es verträgt sich nicht damit, dass man (auf unrechte Weise) dem Reichtum nachjage. Wenn Christus selbst seiner um unseretwillen nicht schonte, was verdienen wir dann, wenn wir – auf unser Geld achten und um unsere Seele uns nicht kümmern, um derentwillen er seiner selbst nicht schonte? Den Juden hat Gott zur Erinnerung an die Wohltaten, die sie empfingen, ihre jährlichen Feste vorgeschrieben; dir hat er es sozusagen täglich durch diese Geheimnisse anbefohlen. Schäme dich also des Kreuzes nicht; das ist unsere Ehre, das unser Geheimnis; dieses Geschenk ist unser Schmuck und unsere Zierde. Wenn ich sage, Gott hat das Himmelszelt gespannt, hat die Erde und das Meer gebildet, hat die Propheten gesandt, so sage ich nichts, was dem gleich käme. Das ist eben die höchste aller Gaben, dass er seines eigenen Sohnes nicht schonte, seine verirrten Knechte zu retten. – Kein Judas möge also diesem Tisch sich nahen, kein Simon (Magus); diese sind ja beide wegen ihrer Geldgier (φιλαργυρία) zugrunde gegangen (vgl. Act 8,9–24). Fliehen wir also diesen Abgrund und glauben nicht, es genüge zu unserem Heil, einen goldenen, mit Edelsteinen besetzten Kelch für den Altar zu opfern, nachdem wir zuvor Witwen und Waisen beraubt haben. Wenn du das ehren willst, so opfere deine eigene Seele, um derentwillen (das Opferlamm) geschlachtet wurde; sie soll aus Gold sein. Wenn sie dagegen wertloser ist als Blei [163] und Scherben, während der Kelch (den du spendest) aus Gold ist, welchen Nutzen hast du dann davon? Achten wir also nicht bloß darauf, dass wir goldene Gefäße spenden, sondern dass wir sie auch mit rechtschaffen Erworbenem bezahlt haben. Das ist noch mehr wert als Gold, dass kein unrechtes Gut dabei im Spiel ist. Die Kirche ist ja kein Gold‑ oder Silberladen, sondern ein Ort, da Engel feiern (πανήγυρις ἀγγέλων). Um unsere Seelen geht es daher; denn nur der Seelen
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wegen nimmt Gott solche (goldenen) Gefäße überhaupt an. – Jener Tisch (beim Abendmahl) war ja damals auch nicht aus Silber und der Kelch nicht aus Gold, aus dem Christus seinen Jüngern sein eigenes Blut reichte; dennoch war alles kostbar und schauererregend, weil es eben voll des Hl. Geistes war. Willst du also Christi Leib ehren? Dann geh nicht achtlos an ihm vorüber, falls du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht (hier in der Kirche) mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn scherst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht! Derselbe, der da gesagt hat: ‚Dies ist mein Leib‘ (Mt 26,26), und durch das Wort die Tatsache bekräftigte, der hat auch gesagt: ‚Ihr habt mich hungern sehen und mich nicht genährt‘ (Mt 25,42), und: ‚Was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir auch nicht getan‘ (Mt 25,45). Dazu bedarf es ja keiner (seidenen) Decken, dafür einer reinen Seele; jenes dagegen (die Begegnung mit Christus im Armen) bedarf größter Sorgfalt. Lernen wir also, bedacht zu leben (φιλοσοφεῖν) und Christus so zu ehren, wie er selbst geehrt sein will. Dem Geehrten ist die Ehrenbezeugung am liebsten, die er selber wünscht, nicht die, die wir dafür halten. Auch Petrus glaubte ihn dadurch zu ehren, dass er ihn hindern wollte, seine Füße zu waschen (Joh 13,6–10); gleichwohl war es kein Ehrenerweis, was er tat, sondern das Gegenteil. So erweise auch du ihm die Ehre, die er selbst verlangt hat, und benutze deinen Reichtum zugunsten der Armen. Gott braucht keinen goldenen Hausrat (σκεύη), sondern goldene Seelen“. 6. Der Seelsorger als Liebender [S. dazu den Auszug aus den Römerbriefhomilien, hom 33 (32), 2–4 (PG 60,678– 682), der als letztes Textbeispiel diese Sammlung von Chrysostomusstudien be‑ schließt; s. u. Kap. XIII, 216–220].
Wirkung Es ist wohl aus dem einleitend Gesagten bereits deutlich geworden, dass bei Chrysostomus (wie weithin auch bereits in seiner Tradition) eine [167] Grundaffinität zwischen Predigt und Seelsorge besteht. Das geht so weit, dass, wie wir sahen, „Wort des Zuspruchs“ regelrecht als terminus technicus für Predigt überhaupt erscheint. Nicht zuletzt das Homiletische an den christlichen „Homilien“, ihr Gesprächscharakter, der sie mit dem einfachen und familiären „Umgang“ (das bedeutet ja das griechische Verbum ὁμιλεῖν, von dem das Substantiv „Homilie“ abgeleitet ist) in den Philosophenschulen, auch begrifflich, verbindet, steckt voller „seelsorglicher“ Möglichkeiten. Was aber heißt genauer „Seelsorge“ für und bei Chrysostomus? Man kann hier natürlich nicht das Stichwort selbst zum Leitfaden nehmen, da es, weil sehr viel
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jünger, in einem antiken Text noch gar nicht begegnen kann. Wohl aber finden sich bei Chrysostomus in Fülle ältere Entsprechungen wie: füreinander Sorge tragen, einander zum Hirten, Lehrer oder Arzt werden. Dazu liefert unser erster Text (la) ein Beispiel. Er entstammt den (wohl relativ frühen) Matthäushomilien des Chrysostomus, gehalten in seiner Zeit als antiochenischer Presbyter. Angeredet sind, wie man sogleich bemerkt, keineswegs nur berufsmäßige „Seelsorger“. Die Arztmetaphorik begegnet bei Chrysostomus immer wieder in unserem Zusammenhang. Es kann keine Rede davon sein, dass sich der Prediger darum risse, sozusagen die Ärmel hochzukrempeln und seine Hände mit Blut und Eiter zu bespritzen. Aber kann er sich dieser unangenehmen Aufgabe, anderen gelegentlich Schmerzen zuzufügen wie der Arzt bei der Operation, entziehen (Text Ib)? Chrysostomus ist sich dessen vollkommen bewußt, dass mit Gewalt und Zwang in der Seelsorge überhaupt nichts zu erreichen ist. Das kommt etwa in seiner (auch im Pietismus vielbeachteten) Schrift „Über das Priestertum“ (De sacerdotio), Buch VI, Kap. 3, zum Ausdruck. Nur Freiwilligkeit ist hier von Nutzen und Segen, wie Chrysostomus in unserem dritten Textbeispiel (2) eindrucksvoll klarzumachen versteht. Eines der Kernprobleme, mit dem wir Chrysostomus – vor allem in Antiochien – beharrlich ringen sehen, ist die Tatsache, dass es dort selbst gegen Ende des 4. Jahrhunderts noch immer kaum gelungen war, die Menge der Taufbewerber im Gefolge von Konstantins Machtübernahme auch im Osten des Reiches (im Jahre 324) zu integrieren, zumal die großkirchliche Gemeinde Antiochiens von inneren Wirren zerrissen und während der Regentschaft des ‚arianisch‘ gesinnten Kaisers Valens (378 im Kampf gegen die Goten gefallen) überdies jahrelang ihrer Kirchen und ihres Bischofs beraubt war. So zählte sich zur Zeit des Chrysostomus wohl die Mehrheit der antiochenischen Bevölkerung nominell zur christlichen Kirche. Das bedeutete aber mitnichten, dass alle Christen Antiochiens die Brücken zu ihrer Vergangenheit auch wirklich abgebrochen [168] und auch nur eine Ahnung davon besessen hätten, was das sein und heißen möchte: authentisches Christsein! Hier nun sehen wir Chrysostomus unermüdlich raten, warnen, locken. Sein Hauptinstrument ist es, die Bibel bekannt und lieb zu machen. Er ist, wie A. v. Harnack völlig zu Recht festgestellt hat, der eigentliche Bibelmann der Alten Kirche gewesen. Dem dienen ja auch seine zahlreichen Predigten. Dem dient zum andern sein Bemühen um häusliches Schriftstudium, um ein Hauspriestertum, wofür der nächste Text (3) nur ein Beleg unter vielen ist. Die zweite Hauptwaffe, besonders in seinem Ringen um die Antiochener, ist das Vorbild der Mönche, das er ihnen immer wieder vor Augen hält. Da Chrysostomus – ganz entsprechend den Ratschlägen Augustins (s. o.) – wohl über ein Konzept und eine Struktur für seine Predigt verfügte, im übrigen aber – in der Regel zumindest – frei gesprochen, also extemporiert haben wird, so dass er auf
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Zustimmung wie Kritik aus seiner Gemeinde sensibel zu reagieren vermochte (seine Stenographen haben das oft genug getreulich festgehalten!), darum ist es schon einigermaßen beweiskräftig, dass wir von Vorbehalten oder gar Unmut seitens der Hörerinnen und Hörer in dieser Hinsicht und in diesem Falle nie etwas hören. Im Gegenteil scheint es, als habe sich sein Predigtpublikum gar nicht oft genug darauf ansprechen lassen können (Text 4). Und das ist durchaus nicht völlig unverständlich. Denn einmal handelt es sich beim Aufblühen des Mönchtums zur Zeit des Chrysostomus um etwas noch relativ Ungewohntes, Neugierde Weckendes. Zum anderen wird seine eigentümliche Konzeption des Verhältnisses von Mönchtum und Kirche4 die Hörer nicht nur genervt, sondern ihnen auch wohlgetan haben, weil sie ihnen die Vision von Eindeutigkeit, von Verbindlichkeit, von Authentie vermittelte, ohne sie zwangsläufig zum Exodus aus der „Welt“ zu bewegen! Das andere Hauptproblem, mit dem Chrysostomus lebenslang als Presbyter, wie später als Bischof der Reichshauptstadt gerungen hat, war das der Polarisierung von Armut und Reichtum, die ihm völlig unerträglich war. Bis auf die Kanzel verfolgten ihn die oft fürchterlichen Bilder und Szenen, die sich ihm boten, sobald er das Kirchenportal durchschritt (wo sich anscheinend zur Gottesdienstzeit die Bettelarmut und das Elend zu konzentrieren pflegten). Diese Polarisierung hing wohl noch immer mit der vielerörterten „Krise des 3. Jahrhunderts“ n. Chr. zusammen, welche nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens beeinflußt hatte. In der Zwischenzeit konnte wohl hie und da von einer Erholung gesprochen werden. Aber diese Erholung führte, zumal in Städten wie Antiochien und Konstantinopel, wohl weniger zur Bekämpfung der schlimmsten Armut als – selbst unter getauften Christen – zum Wiederaufleben von Prunksucht und typisch antikem „monumentalem Euergetismus“ (im Sinne des Prinzips: Gutes tun und ja laut davon reden. Und was gäbe es für ein lauteres und [169] dauerhafteres Selbstlob als die Verewigung in Marmorbauten oder – nun gegenüber der „siegreichen“ Kirche – in Mosaikschmuck und kostbarem Altargerät!). Chrysostomus hat es meist im guten versucht, die Gemeindeglieder innerlich von der Habsucht zu lösen und zu einem „Almosen“, das diesen Namen verdient (A. kommt ja vom griechischen Wort für „Erbarmen“), willig zu machen. Sein wichtigstes und wirksamstes Argument war stets, dass wir im Armen – Christus begegnen (Text 5). Chrysostomus hat freilich gelegentlich auch ganz andere Töne anschlagen und beispielsweise reichen Konstantinopler Frauen, die nicht von ihrer unsinnigen Prunksucht lassen und auf ihr goldenes Nachtgeschirr und ihre Klunkern verzichten mochten, mit dem Ausschluß aus der Kirchengemeinschaft drohen können (Kolosserbriefhomilien, hom 7,5: PG 62,349–352). Das hat man ihm natürlich schwer verübelt. 4 S.
dazu etwa Ritter, Charisma, 90–98.
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Chrysostomus hat seinen Gemeindegliedern nichts geschenkt und vor Widerständen (und eigenen Insuffizienzgefühlen) nicht kapituliert. Gleichwohl haben ihn seine Gemeinden, soweit wir das noch feststellen können, – mehrheitlich zumindest – geliebt; davon ist eingangs bereits andeutungsweise die Rede gewesen. Fragt man, woran das liege, so fallen mir hauptsächlich drei Antworten ein: 1. Chrysostomus gehörte zu der Art von Predigern und Seelsorgern, denen man abspürte, dass sie nicht zuletzt sich selbst (Dativ!) predigten. 2. Die Antiochener haben ihm gewiss nie vergessen, wie er ihnen im Frühjahr 387 seelsorgerlichen Beistand leistete. Aus Anlass einer Steuererhöhung hatte das Volk von Antiochien in einem plötzlichen Tumult die kaiserlichen Bildsäulen gestürzt und geschändet, und eine furchtbare Strafe (des als jähzornig geltenden Kaisers Theodosius) stand zu erwarten. Die ganze Stadt, in der einzelne Hinrichtungen bereits begannen, „war von lähmendem Entsetzen gepackt und glich ‚einem verlassenen Bienenkorb‘ (hom de stat 2,1: PG 49,35). Chrysostomus besuchte die Gefangenen, ging persönlich zum Kommandanten und versuchte in seinen Predigten die Gemeinde auf alle Fälle zu rüsten und aufzurichten“ (H. v.Campenhausen), nicht zuletzt dadurch, dass er sie zu wahrer Bußgesinnung zu erwecken trachtete – in diesen Zusammenhang gehören seine berühmtesten Gelegenheitsreden, die 21 „Säulenhomilien an das Volk von Antiochien“ (PG 49,15–222). Der Konstantinopler Bevölkerung aber machte bleibenden Eindruck, dass sich Chrysostomus bei vielen Gelegenheiten weniger als „Hofbischof “ denn als echter „Mann des Volkes“ erwiesen hatte. 3. Chrysostomus, so scheint mir, war – weit über seine Lebenszeit hinaus – mehrheitlich so beliebt, weil er sich selbst als ein großer Liebender zu erkennen gab; das letzte Textbeispiel (6 [s. u. XIII, 216–220]) lehrt dies zur Genüge.
[170] Literatur Chr. Baur, Der heilige Johannes Chrysostomus und seine Zeit, Bd. I/ II, München 1929/1930. H. v. Campenhausen, Griechische Kirchenväter, 8. Aufl. Suttgart 1993, 11. Kapitel (hieraus stammen die Zitate). P. Rentinck, La cura pastorale in Antiochia nel IV seculo, Rom 1970 (vgl. dazu ZKG 84, 1973, 324 f.). Ritter, Charisma, passim Ritter, Gottesherrschaft, passim R. A. Krupp, Shepherding the Flock of God. The Pastoral Theology of John Chrysostom, New York usw. 1991 (= American University Studies, Ser. VII, 101).
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Abstract This chapter mainly offers excerpts from Chrysostom’s homilies on the gospel according to St. Matthew (hom 29[30], 3; 55 [56], 1; 5,1; 70 [71], 3; 50 [51], 2 f.;) and on the letter to the Philippians (hom 7 [6], 6), apt to illustrate his perception of preaching and pastoral care (cura animarum) and positioning him within the history of those activities, practised not exclusively by the clergy, but also by lay people.
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John Chrysostom and the Jews – a reconsideration* May I begin with a personal reminiscence? Born towards the end of 1933 in a German Protestant pastor’s house, I witnessed the final of the last World War, perfectly conscious of what happened; and I experienced it as a liberation on the one hand, a political and moral catastrophe on the other. This experience has determined the further course of my life and thinking, presumably more than any other factor. So I felt obliged to find an answer to how that catastrophe and especially that murderous anti-Semitism could be explained, which certainly is the deepest shame of the German national history. During my theological studies I recognized that the history of Christianity must be included if one proceeds to investigate the historical roots of anti-Semitism. For I soon understood that, even if anti-Semitism is older than Christianity and the racism of the Nazis, culminating in the effort to eradicate the Jewish people systematically, can only be explained against the background of a de facto de-Christianization of public life in Germany, nobody can earnestly deny that the promotion of Christianity to something like a ‘state religion’ of the Roman empire under Theodosius I opened an especially sad chapter within the book of Jewish Passion within history. To Chrysostom’s “Orations against the Jews” (Λόγοι κατὰ Ἰουδαίων), until then known to me only from quotations – seemingly needing no commentary! –, I gave therefore, for a long time, a wide berth; I simply felt ashamed of them. Only when I began to concern myself with the Corpus Chrysostomicum as a whole (in connection with my study on ‘Charisma’ in his perception)1, I gradually gained a widely divergent impression, even as to his relation to the Jews. So I now dared to read these λόγοι continuously; and, in a way, the scales fell from my eyes. The first opportunity to deliver the results of my reading to an interested public gave me the inaugural lecture completing my Göttingen habilitation procedure (i. e. the qualification as a university lecturer). The text of this lecture I subsequently submitted to two non-resident experts, namely Joseph Vogt, professor of Ancient History at the University of Tübingen, and Marcel Simon, the well known professor of History of Religions at the University of Strasbourg, asking them for comment. I was especially interested to hear if my paper could be felt to be too ‘apologetical’, which would have totally contradicted my intentions. As 1 Published
Göttingen 1972 (= Ritter, Charisma).
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soon as both experts signalized their agreement with my interpretation, I published the revised text in a collection of papers dedicated to my mentor (“Doktorvater”) H. von Campenhausen.2 In what follows I shall, first, present a résumé of my contribution of 1970 (1973); second, I shall comment, very briefly, on some relevant literature published since then and, third, end with a summary and an accentuation with regard to Georgia.
Résumé of my paper of 1970 (1973) John Chrysostom, so my introductory reflection, justly plays an important part whenever people are investigating certain motives and forms of Christian antiSemitism; for he is regarded, not without reason, as “the most prominent representative of religious (ecclesiastical) anti-Semitism” (Simon) whose orationes adv. Iudaeos “bring the anti-Semitism in the pulpit to the final push” (Vogt). He is also important from a historical point of view, because he left an extremely rich literary work behind, compared with other theologians of the Early Church, so that there is a lot of controlling material at our disposal. Last, but not least, he ranks with the most likeable figures of the history of the Church, for the sake of his marked sensibility as to the social distresses of this time, for instance, or his inflexibility vis-á-vis “thrones or dominions or principalities or powers” (cf. Col 1,16); he also ranks among those who, if anybody, realised the distinctiveness of the Gospel.3 What can be said, after all, regarding the ‘motive’ for Chrysostom’s Λόγοι? Well, one motive, in a wider, unspecific sense, was the existence and religious vitality of a remarkably big Jewish diaspora in Antioch and its surroundings. In the situation of my inaugural lecture, mentioned above, I found it necessary or, at least, advisable to underline this, because it was, at least in Germany, still common to take it for granted that the Jews, following the catastrophes during the time between 66 and 135 AD, had been condemned to a miserable existence and, to quote a popular history of ancient Christianity, had been eliminated, “in the shape of rabbinism, from the circle of the great world religions”.4 Even in the usual textbooks you could, at that time, normally find and learn really nothing about the relations between Jews and Christians; the development of Early Christianity was nearly exclusively discussed instead under the aspect of its relations to the Graeco-Roman culture. 2 Ritter,
Antisemitismus. this respect I am in full agreement with Rudolf Brändle; cf. my monograph (vide n. 1) with his study on “Matthäus 25,31–46 im Werk des Johannes Chrysostomos” (BGBE 22), Tübingen 1979. 4 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Urchristentum und Alte Kirche, Gütersloh 1964, 40. 3 In
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Taken in a stricter sense, Chrysostom’s orations in question were challenged by the fact, that Jewish liturgies and Jewish customs held a great fascination for the Christian community, which at that time was not yet consolidated in itself. To this community belonged, at least nominally, the majority of Antiochenes when Chrysostom became a priest there. According to the informations offered by him it was especially the solemn splendour of Jewish feasts. Compared to these feasts the meagreness of the Christian liturgical year could not yet impress many of them. It was the holiness of the synagogue as the place where the ‘One God’ was worshipped and his Torah was proclaimed (or 1,3: PG 48,847). An oath taken there under the awful imprecations of the Jewish oath formula was regarded as especially unswerving, even among Christians (ibid.: 847 s.). As in the Middle Ages there was, moreover, a great demand for Jewish doctors who seemingly used to insist, as a condition of their success, on an at least temporary observance of Jewish rites, especially on the incubation before the Torah shrine in the synagogue. Finally, many Christians are also said to have taken part in the Jewish autumn feasts of the month of Thishri. Irrespective of repeated synodical prohibitions the custom also survived to celebrate Easter on the same day as the Jewish Passover and, consequently, to observe Lent simultaneously with the Jews (s. esp. or 3: ibid., 861–872). Considering this situation, which he regarded as extremely dangerous, Chry sostom lost, as a new fledged presbyter and main preacher of the city, no time before he publicly campaigned against those ‘Judaizing’ tendencies. He even interrupted a series of homilies ‘On the incomprehensibility of God’ and, in the next year, cancelled the obligatory πανηγυρικός on the day’s saint, because the month of Thishri was near at hand and he felt obliged to warn, in time and urgently, against any participation in the Jewish autumn feasts. It is the preacher’s declared intention to make the ‘Judaizing’ groups among the Antiochene Christians realize the differences between Judaism and Christianity, which are in his eyes nothing less than marginal, and to motivate them to an unambiguous decision: either Church or Synagogue (see esp. or 4,3.4: ibid., 875 s.). The whole series ends with an exhortation to look after the ‘erring’ brothers and sisters and with a remarkable advice how to manage this (or 8,4–9: ibid., 932–942; cf. also 4,7; 5,12; 7,6: ibid., 881 s.904.927 s.). That means: the whole course of sermons is not addressed, as the generally adopted title makes us conjecture, to (or better against) Jews, but ‘Judaizing’ Christians. The arguments Chrysostom is using in order to make this alternative plausible are almost without exception borrowed from the arsenal of anti-Jewish apologe tics. Anti-Jewish apologetics, however, and anti-Semitism (or anti-Judaism in a stricter sense) are by no means to be confounded with each other, as M. Simon has often enough stressed.5 5 Marcel
Simon, Verus Israel (1948) 2 1964, 165 ss.; cf. 239 ss. and the postscriptum 488 ss.
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The so called Λόγοι κατὰ Ἰουδαίων of John Chrysostom differ, nevertheless, from traditional apologetics not only in that they were actually spoken (and not only more or less learned products from the writing table). The difference touches above all in emphasis. The orator apparently regarded the situation as so dangerous and the attraction, spread by the feasts and customs of the synagogue, as so overwhelming, that he regarded it not as sufficient to appeal simply to the judgement of his auditory or to operate mainly with doctrinal arguments, but he saw himself obliged to engage also the emotions. In any case, he worked himself up into such a rage, that he could be excelled, even by the great anti-Semites and murderers of Jews in the 20 th century, ‘only’ in deed, not in word!6 Such utterances can only be understood – not justified n. b. – if we don’t forget the primary intention of these orations and constantly bear in mind that they are directed not against Jews, but ‘Judaizing’ Christians. In addition, we should not forget, for the sake of historical justice, that Chrysostom is well trained in classical rhetoric. So it is fairly easy to detect all the rhetorical instruments, Chrysostom is using in his Λόγοι quite unhesitatingly, from the progymnasmata of his teacher Libanius.7 This does not mean, that we have to regard them only as rhetorical exercises. It does mean, however, that it is not appropriate or, what is more, not permissible to draw conclusions from these orations as to Chrysostom’s attitude to the Jews themselves without further ado. In the same way it would be misleading to conclude from his pamphlets for the benefit of monasticism his view regarding the chances and tasks of a Christian life amidst the ‘world’ or to conclude from his encomium of ‘virginity’ his view of marriage and sexuality. Because Chrysostom learnt from Libanius that rhetorical convention demands to degrade the alternative to the option, you are propagating, to the greatest degree possible. I became more and more convinced that by taking into account the rest of Chrysostom’s works this would be the correct and appropriate approach, whereas I discerned as a decisive lack of nearly all existing interpretations of Chrysostom that this indispensable control has largely been omitted. It is an old experience: if you write so much as Chrysostom – Thomas Aquinas or Karl Barth e. g. – you will normally have only a small chance of being read in toto! In my contribution of 1970 (1973) I tried to exemplify these points and afterwards to sum up the discussion: a) Whereas Chrysostom in his λόγοι uses the highly problematic method of reserving all threats and announcements of divine judgement for the Jews and, reversely, all invitations to conversion and, all the more, each word of promise 6 So
Friedrich Heer, Gottes erste Liebe, München et al. 1967, 63.
7 Esp. from chapters viii and ix, offering several models for an encomion and an invective, most
appreciated and cultivated, as it seems.
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for the Christians, he otherwise does not shrink from repeating Paul’s words by which the Apostle professes to that God “whose gifts and calling … are without repentance” (Rom. 11,29). Although one may find that Chrysostom did not perfectly meet the challenge, that he did not really master the task of an appropriate interpretation of Paul’s profession, he inferred from it at any rate that the whole divine οἰκονομία (i. e. the history of salvation) does not amount to the rejection of Israel. And Chrysostom is surely right when he finally remarks that Romans 11 is the confession of one who loves, one who marvels – and does not claim to see through the whole mystery! b) Whereas Chrysostom repeatedly speaks in his λόγοι – and not only there – of the Jews as “murderers of Christ”, the way in which he interprets for instance the Passion story in his homilies on the Gospel according to St Matthew (deli vered only few years later), makes it unmistakably clear that he is not willing to capitalize on this story in an anti-Semitic sense. Quite the contrary is true; for he discovers in this story rather the mystery, the riddle of Israel’s unbelief. And he is convinced that the true answer can only be the grief at Israel’s rejection of that salvation which was meant for God’s chosen people. Beyond that, Chrysostom explains, the story of the Passion makes us feel our infinite distance from that God-man whom we were obliged to follow. We condemn, therefore, ourselves, if we are hostile against those for whom Jesus Christ offered his life and whom he forgave, before he died (in ev Mt hom 79 [80], 3.4: PG 58,721 s.). c) Although we read in the Λόγoι that the synagogue, together with all its adherents, is to be hated, because it refused to believe Moses and the Prophets (1,5: PG 48,850; cf. 6,1:905), I would hesitate to ascribe to John an “almost furious anti-Semitism”.8 What makes me doubtful is Chrysostom’s conviction that such a hatred would be quite contrary to Jesus’ Passion and its basic idea. What makes me also doubtful is his persevering insistence on the principle that a Christian is obliged to pray for everybody. But how can you pray for those you hate? And vice-versa: how can you hate for whom you pray? (cf. i. a. in ep I ad Cor, hom 33:PG 61,281 s.). What makes me finally feel insecure, is the fact that Chrysostom mentions even “the Jews” among his Constantinopolitan allies, supporting him against his enemies who aspired to have him deposed from the patriarchal throne, and welcoming him, with great enthusiasm and in an endless stream, when he returned from his first (short) exile (ep ad Innoc 1,3: PG 52,533; or post red ab exsil hab: PG 52,439). In his address, delivered immediately after his return, he declared: “Look, what the persecutions of our enemies have accomplished? They have increased your love and … won for me thousands of hearts. Previously I only possessed the affection of my people, but now also the 8 See Anne J. Visser, Johannes Chrysostomos als anti-Joods polemicus, NAKG.NS 40,1954, 193–206, though conceding that Chrysostom was otherwise “so noble” (both quotations on page 193).
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Jews … hold me in high esteem.” This is, as I see it, quite unambiguous; and it is impossible that we have just heard the voice of an anti-Semite! d) Among the most intolerable things Chrysostom’s λόγοι include are the merciless attacks against the Jewish way of life, their moral defamation in the main. Chrysostom normally reaches this goal by falsifying prophetic announcements of a divine judgement into ‘realistic’ sentences and, moreover, by generalizing them.9 It is an open question, if we have to interpret these attacks in fact as personal and direct calumnies of “the Jews” (in the style of the – already existing – pre-Christian anti-Semitism). The alternative – which I find preferable – would be to interpret them as a rhetorical means to the end of cutting the ground from under the ‘error’ that a religious compromise between Church and Synagogue would be possible and tolerable. Otherwise Chrysostom does not shrink from conceding that many Christians are, in his opinion, morally inferior to the Jews and merit a much more painful punishment (cf. in ep ad Ep hom 6,4:PG 62,47–50;in ev Mt hom 85 al 86,3:PG 58,761 s.; hom 88 al 89,4:779–782; in ep ad Phil hom 10 [9], 4:PG 62,250 s.). He can especially express his great admiration for the Jewish attitude towards marriage (“They revere marriage and appreciate God’s creation”: Virg 8,2:PG 48,538; SC 125,114/6), as he conversely does not regard the contempt of the divine ‘calling’ as a Jewish privilege (in ev Mt, hom 69 [70], 2: PG 58,650 s.)! e) One can find in Chrysostom’s Λόγοι, it is true, instances such as the shameful sentence that you must turn away from the Jews as “the common disgrace and infection of the whole world” (1,6:852), the odium generis humani (cf. 1 Thess 2,15). It would be, however, a great mistake and misunderstanding to conclude that the command “Thou shalt love thy neighbour as thyself ” or “Go ye, therefore, and teach all nations” had ceased to be valid, at least as far as Jews are concerned. For quite the contrary is testified in Chrysostom’s works so often and so strikingly that his opinion in this respect is perfectly clear.10 f) In some modern articles and books you could meet the view that it is only a small step from such calumnies, as they are to be found in Chrysostom’s Λόγοι, to burning synagogues, to anti-Jewish pogroms. Surely, if Chrysostom’s auditory would have been a riotous, anti-Semitically incited mob, his Λόγοι could have had such an effect. But as far as we know, just the contrary was true. There are enough indications that these orations certainly attracted a continually growing audience, that they were appreciated as rhetorical masterpieces; they were, however, also accompanied by loud and clear utterances of displeasure, so that the orator felt obliged to vindicate himself (2,1:857; 7,1:915 s.). As a consequence, he obviously was unable to eradicate the real calamity he had tried to attack by means of these orations. There are also not the slightest hints that anti-Jewish riots happened in 9 So, 10 Cf.
correctly Simon (vide n. 5), 260 s. Ritter, Charisma, 98 with n. 38 s.
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Antioch and its environs during or immediately after Chrysostom’s lifetime or that in his imagination was room for the idea of force against (Jewish or pagan) ‘unbelievers’, even if restricted to civil legal discrimination.11 But of course, that Chrysostom’s Λόγoι were far too much exposed to be, under different circumstances, anti-Semitically misused, this reproach cannot be spared their author! My conclusion must therefore be that Chrysostom certainly was, after all we know from and about him, far from showing humane respect towards people of a different faith. Correspondingly he denied, quite clearly and wholeheartedly, any religious community between Jews and Christians. In this respect, so far as we believe to have learnt in the meantime, he hardly has been an unrestricted disciple of the Bible. But, should he be stigmatized therefore as an anti-Semite? What is unambiguously clear, at any rate, is that Chrysostom’s Λόγοι κατὰ Ἰουδαίων, although by no means avoiding any reminiscence of a vulgar antiSemitism, have an exclusively defensive character, primarily meant for his own group, for its protection against confusion or apostasy, for its consolidation and confirmation.12 And, what is probably of a still greater importance, Chrysostom’s clear rejection of Judaism as an independent religion of equal truth is combined with the impetus of preserving the love and neighbourliness we owe them, and, what is more, of keeping the hope of God’s ‘unrepentable’ promises!
Selective bibliography since 1973 As to the literature published since 1973, I should like to confine myself for the moment to a brief comment on N. de Lange’s, A.–M. Malingrey’s, W. Kinzig’s, R. L. Wilken’s and R. Brändle’s relevant books or articles. I start with the article of de Lange, a man to whom the investigation of the historical roots of anti-Semitism owes as much as the Jewish-Christian dialogue in Great Britain and Europe. Small wonder, therefore, that the editing board of the famous TRE asked him to contribute an important part of the article ‘Antisemitismus’.13 What is of interest here, before all, is its patristic section. It has, no doubt, the great merit of giving a lot of information and of offering a quite clear picture of all we know as to the development of an anti-Jewish ideology within the history of Early Christianity, as well as to the practical consequences of this Christian anti-Judaism; finally, it lets pass in review at least the main works of the Christian Adversus Iudaeos literature. When he finally remarks, however, 11 Simon
(vide n. 5), 267; Bernhard Kötting in: Karl Heinrich Rengstorff/Siegfried von Kortzfleisch, Kirche und Synagoge, I, Stuttgart 1968, 152. 12 So, correctly, the editors of “Kirche und Synagoge” (vide n. 11) in the postscriptum to vol. II, 1970, 712. 13 Nicholas R. M. de Lange, Art. Antisemitismus IV (Alte Kirche), in: TRE 3 (1978) 128–137.
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that the Early Christian literature is penetrated and marked by a consequent antiSemitism (131), this is in my eyes a little too unilateral and one-dimensional. I am also not entirely satisfied with his explanation that Christian anti-Semitism, throughout its history, must be regarded not so much as “the expression of a generally circulating hostility” (which is ‘in my eyes’ quite correct), but as “the artificial product of clerical excitement” (133) – an explanation I don’t know what to do with. Is it really believable that people like Chrysostom had no other concerns than to get excited, without any sound and weighty motive, and this under such extremely difficult and challenging circumstances and conditions of his pastoral work we mentioned above? But let us continue to review the remarks on Chrysostom’s Λόγοι κατὰ ᾿Ιουδαίων which de Lange refers to several times in his article. He calls them “the most hostile anti-Semitic tirades” we know (134), “a compendium of all possible attacks and defamations”, excelling, by their ignominious tastelessness, all of Christian literature had brought to light until then (135). Jews are charged with each imaginable sin, even with devil worship and cannibalism, as if all evil of this world were concentrated in them. With this fantastic catalogue of sins the Early Christian anti-Semitism absented itself mostly from the basis of reality and reason (131). – I don’t wish to criticize such judgments, because they are perfectly understandable. It is possible to handle texts in such a way since one considers it more important and decisive to discover how certain texts could have been understood and could have purposes other than that which the author may have intended. The historian, however, has also to ask precisely this last question – if it is not his primary duty – because it is an elementary human right (which even the dead do not forfeit) to be judged before all according to your own intentions, not to the effects which can be only conditionally influenced by yourself, if ever! My second objection is that the reader of de Lange’s impressing article is unable to understand why the author of the λόγοι in question should rank among those figures uniquely showing which moral and spiritual potencies still existed within the established Church of Theodosian times.14 How is it to be explained? That it gives no answer or at least no hint as to where an answer could be found causes one of my problems with this excellent and informative article. I pass over the extremely useful team work of W. Meeks and R. Wilken on “Jews and Christians in Antioch in the First Four Centuries of the Common Era”15 in order to touch briefly on the article of A.–M. Malingrey, the grand old dame of French Chrysostomian research and a colleague of immense merits, titled «La controverse antijudaique dans l’oeuvre de Jean Chrysostome d’après les discours 14 Cf.
Hans von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, Stuttgart (1955) 81993, 152. A. Meeks/Robert Louis Wilken in: SBibSt 13,1978; cf. my remarks in: Kirche und Israel 5 (1990) 117. 15 Wayne
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Adversus Iudaeos»16. This artivle, learned as ever, sympathetic towards the author of the Λόγοι κατὰ Ἰουδαίων and full of intuitional grasp as to his position, starts with a summary of the Λόγοι and tries thereafter to determine the value of their testimony. Although there is no want of playing down the problems, one can, nevertheless, willingly agree as to the general tendency of her interpretation and in any case subscribe to the final remark of the author: “The Orationes adv. Iu‑ daeos are a piece of passion, a product of the apostolate and of the struggle which even after fifteen centuries revive a sad moment of the history of the Church” (100). When she touches (in a footnote) also my article and criticizes that I had forgotten to mention the correctives concerning adv Iudaeos in other Chrysostomian works, especially in his commentary on the Epistle to the Romans (in ep ad Rom), and on the other hand, that whole passages of my article take a totally erroneous course by transposing the problem into our own time, I dare to reply that the first critique is based on an evident slip and the second possibly goes back to a methodological conflict. I did not, in fact, maintain that Chrysostom ignored Romans 11, but that he did not do justice to it! And as to the famous principle sine ira et studio, I frankly admit to being uncertain whether it is, unconditionally and under all imaginable circumstances, to be aspired to and favourable for historical knowledge. I prefer, instead, to think in this respect like J. Habermas who pleaded for the equality of rights regarding “Erkenntnis” and “Interesse” (‘knowledge and interest’)! To continue by commenting on more recently published literature, I come17 to W. Kinzig’s article on the – non-separating – “closeness and cooperation between Jews and Christians in the fourth century”.18 Kinzig wishes to show that the processes separating Christians and Jews have not at all been finished until the end of the fourth century and that it makes little sense to speak of the various groups within Early Christianity in terms of ‘orthodoxy’ and ‘heresy’. To justify these hypotheses Kinzig discusses two examples: the ‘Nazoreans’, described by Epiphanius, who created, as it seems, an independent church organisation outside the ‘Great Church’ (or catholica) and existed at least until the times of Epiphanius; the other example is the situation in Antioch, ten years after the publication of Epiphanius’ Panarion, when Chrysostom delivered his eight orations against the Jews (or better ‘the Judaizers’). I fully agree to the way Kinzig presents these two examples and discusses them. The main merit of this article is, as I see it, that it is suited to specifying the profile of those Jews or Judaeo-Christians as described 16 Anne-Marie
Malingrey, in: Valentin Nikiprowetzki (ed.), De l’Antijudaisme Antique à l’Antisémitisme Contemporain, Lille 1979, 87–104. 17 Passing over the book of Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-IudaeosTexte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), (1982) 2. überarb. Aufl. 1990. Cf. my remarks, loc cit (vide n. 15), 118 s. 18 Wolfram Kinzig, in: VigChr 45 (1991) 27–53.
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by Epiphanius and John Chrysostom and to underline their spiritual and intellectual weight. In this respect Kinzig’s intentions meet especially those of R. L. Wilken who will be my next interlocutor. My questions as to Kinzig’s article have to do more with his historical and theological presuppositions, his ideas as to the unity of the Church in pre-Constantinian times. But to discuss this would be here out of place. R. L. Wilken, to move on, wrote, in my opinion, the best book19 in the field under discussion, excellently styled and appropriate for a wider readership. After publishing a series of important articles and essays during the last decades, Wilken tries to justify his new enterprise by guessing that the time has come for a thorough study of Chrysostom’s Λόγoι κατὰ Ἰουδαίων within the context of late antiquity. Wilken’s intention is, for this time, however, not so much to analyse John Chrysostom’s ideas about the Jews as to use his homilies as a window on the fourth century through which to view relations between Jews and Christians in the later Roman Empire. At the end of a fascinating and stimulating reading, I would say that he largely achieved what he intended. It has been shown that the “Roman Empire in the fourth century was not the world of Byzantium or medieval Europe. The institutions of traditional Hellenic culture and society were still very much alive in John Chrysostom’s days. The Jews were a vital and visible presence in Antioch and elsewhere in the Roman Empire and they continued to be a formidable rival to the Christians. Judaizing Christians were widespread. Christianity was still in the process of establishing its place within the society and was undermined by internal strife and apathetic adherents. Without an appreciation of this setting, we cannot understand why John preached the homilies and why he responds to the Judaizers with such passion and fervor. The medieval image of the Jew should not be imposed on antiquity” (162). The notes to Wilken’s book reveal how far-reaching is the consensus between us. This consensus includes also his final remark: “For reasons discussed in this book, John could take seriously neither the way of life of the Jews nor the claims of the Judaizers among the Christians. He saw no way to acknowledge the ongoing reality of Israel without calling into question the truth of the Christian faith. That John’s view won out is significant for the later history of Christianity, for it has shaped all Christian thought about Judaism since his time; but that is no reason why it should be our own view” (163 s.). I close by commenting very briefly on an important article of R. Brändle20. For many years he has been engaged in the present Jewish-Christian dialogue as well 19 Robert Louis Wilken, John Chrysostom and the Jews: Rhetoric and Reality in the Late 4 th Century (The Transformation of the Classical Heritage 4), Berkely / Calif. 1983. 20 Rudolf Brändle, Christen und Juden in Antiochien in den Jahren 386/87. Ein Beitrag zur Geschichte altkirchlicher Judenfeindschaft, in: Judaica 43 (1987) 142–160. To the – likewise
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as in the history of the Jewish-Christian relations. As a concrete project he is preparing a German translation, together with a short commentary, of Chrysostom’s orationes adversus Iudaeos. As a first literary result of this project can be regarded the article in question, originally a paper given in view of a rather general, not strictly academic audience. The author describes a) the Antiochene situation before and during the years 386/87; b) the Judaizing movement; c) the reactions of John Chrysostom; d) the reactions of the audience as to Chrysostom’s attacks; and e) the hidden theological and psychological motives of these attacks and concludes with some reflections on possible steps in the Christian Jewish dialogue. The paper has the suitable character of a successful and effective synthesis. Minor objections are always possible, obviously also in this case. When, for example, Brändle tries to shed some light on the psychological background of Chrysostom’s attacks this attempt is to be regarded as thoroughly successful, if it has been undertaken soberly and responsibly enough. I disagree with Brändle when he maintains that Chrysostom “interprets Paul, whom he holds in high esteem, one-sidedly in an anti-Judaistic sense” (153), because the facts available don’t really confirm this interpretation, while others strongly contradict it. As for the rest this article shows and underlines the high degree of agreement reached meanwhile in the interpretation of Chrysostom’s Λόγοι.
What could be the relevance? I should like to put this question at the end of my contribution, but exclusively as far as the general subject of this symposium is concerned, and I try to give a twofold, though extremely short, answer. First, the situation in Antioch and in Palestine, from where the earliest impulses of proselytizing among Georgians seem to have proceeded, was fairly parallel, not only because Antioch was, for centuries, also the political centre for Palestine, but also as a result of the numerically strong Jewish community. The halakha, therefore, widely regards Syria up to Antioch (or, more correctly, as far as the Amanus) as the secondary zone of the Holy Land (e. g. Schebiit VI 5–6). The close interweaving with the motherland must be presumably considered as one of the reasons why the Antiochene Jewry, unlike that of Alexandria, hardly assumes a definite form as an independent cultural centre. In the course of the fourth century, too, rabbis often pass Antioch which, after the decline of Palmyra, had become the major point on the trip to and from Babylonia. relevant – book of Günther Stemberger, Juden und Christen im Heiligen Land: Palästina unter Konstantin und Theodosius, 1987, s. my presentation in: Jan van Amersfoort/Jan van Oort (Ed.), Juden und Christen in der Antike, Kampen 1990, 116–124, and my remarks in: Kirche und Israel (vide n. 15), 120 s.
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Second, as I recently learned from Tamila Mgaloblishvili,21 Eastern Georgia (Kartli) was not only one of the first countries to accept Christianity as a ‘state religion’ (which we already knew), but that there existed also within Georgian Christianity two trends or movements: one, older, Aramaic Judaeo-Christian and the other, younger, Hellenistic movement, influenced by Byzantium and inclining to that political (and later ecclesiastical) centre. The triumph of this latter movement became evident by its promotion to the rank of ‘state religion’. Thus we have contributed, at least indirectly, also to the elucidation of relations between the Early Church and Georgia by studying parallel movements and situations in Antioch.
Zusammenfassung Der Aufsatz setzt ein mit einem ausführlichen Resümee des Vortrags von 1970 bzw. 1973 über „Erwägungen zum Antisemitismus in der Alten Kirche. Johannes Chrysostomus, Acht Reden wider die Juden“ (= Kap. III dieser Sammlung), bietet im Anschluss eine kommentierte Übersicht über ausgewählte Literatur zum selben Thema aus der Zeit seither, und endet mit einem Fazit sowie einer Zuspitzung auf das Antiochien und seinem syrischen Umfeld „benachbarte“ und von ihm stärkstens geprägte Georgien; dieses stand ja im Fokus des Symposiums, für welches der Aufsatz ursprünglich bestimmt war. Kurz besprochen werden: Nicholas de Langes Artikel(teil) über „Antisemitismus (IV. Alte Kirche)“ in der TRE (3, 1978, 128–137); ein Aufsatz von A. M. Malingrey über „Die Auseinandersetzung mit dem Judentum im Werk des J. Chrysostomus nach den Reden Adversus Iudaeos“ (in französischer Sprache in: V. Nikiprowetzki [Hg.], De l’Antijudaisme Antique à l’Antisemitisme Contemporain, 1979, 87–104, erschienen), W. Kinzigs Aufsatz über – nicht separierende – „Nähe und Kooperation zwischen Juden und Christen im 4. Jahrhundert“ (auf Englisch in: VigChr 45 [1991] 27– 53, erschienen), die Monographie von R. L. Wilken über „J. Chrysostomus und die Juden: Rhetorik und Realität im späten 4. Jahrhundert“ (in Englisch 1983 erschienen) und endlich der Aufsatz von R. Brändle über „Christen und Juden in Antiochien in den Jahren 386/87: Ein Beitrag zur Geschichte altkirchlicher Judenfeindschaft“ (in: Judaica 1987, 142–160, erschienen). Vgl. zum Thema weiterhin die Besprechung der kommentierten Übersetzungsausgabe der chrysostomischen „Judenreden“, bearbeitet von R. Brändle und V. Jegher-Bucher in Kap. X, 132–137. 21 Listening to her paper on “Juden und Christen in Georgien in den ersten christlichen Jahrhunderten”, presented to the same meeting of the “Patristische Arbeitsgemeinschaft” in Utrecht (Jan. 1989) as my review of Stemberger and published in the same acts of this conference (“Juden und Christen”, vide n. 20), 94–100.
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Charisma als gegenwärtige Wirklichkeit: Johannes Chrysostomos und die Kirche* Biographie [Die der Einführung dienende biographische Skizze, zu der erneut auf den Beitrag Kap. IV, 37–41 sowie Kap. XIII, 185 f., verwiesen wird, mündet in diesem Fall in die Frage:] [111] … Wie hat der große altkirchliche Prediger, Paulusinterpret und Kirchenmann seine Aufgabe verstanden und ange[112]packt? Konkret: Wie hat er auf die paulinische „Lehre“ von der Kirche, der Gemeinde als aus vielen Charismen und Charismatikern erbautem „Leib Christi“ Bezug genommen und sie ekklesiologisch und pastoral fruchtbar gemacht? – Ich will in Beantwortung dieser Fragen so vorgehen, dass ich zunächst einige Textbeispiele vorführe und sie anschließend kurz bespreche.
Texte Die urchristlichen Charismen a. Aus der 1. Predigt „Über das hl. Pfingsten“, 4 (MG 50,459 f.): „… Warum … geschehen jetzt keine Wunder mehr? Nun, hört mir aufmerksam zu! Denn das bekomme ich von vielen zu hören, das ist eine beständige und immerwährende Frage: Warum redeten denn im Anfang alle Getauften ‚in Sprachen‘, jetzt aber nicht mehr? Zuerst wollen wir lernen, was es heiße, ‚in Sprachen (Zungen) zu reden‘, und dann auch die Ursache mitteilen. Was heißt nun in ‚Sprachen (oder Zungen) reden‘? Der Getaufte redete sogleich in der Sprache der Inder, Ägypter, Perser, Skythen und Thraker, und einer verstand viele Sprachen; und wären die, die jetzt leben, damals getauft worden, so hättest du sie gleich in verschiedenen Sprachen reden hören. Denn auch Paulus, heißt es, fand einst einige, die bloß mit der Taufe des Johannes getauft waren, und sagte zu ihnen: ‚Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, da ihr gläubig wurdet?‘ und sie * Aus: Peter Reifenberg u. a. (Hg.), Licht aus dem Ursprung: Kirchliche Gemeinschaft auf dem Weg ins 3. Jahrtausend, Würzburg 1998, 107–123.
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antworteten: ‚Nein, wir haben nicht einmal davon gehört, ob es einen Heiligen Geist gebe‘, und sogleich befahl er, ‚sie zu taufen, und da Paulus die Hände auf sie legte, kam der Heilige Geist über sie, und sie redeten alle in Zungen‘ (Act 19,2.6). Warum ist (uns) denn jetzt diese Gnade entzogen, warum ist denn jetzt diese Gnade den Menschen genommen? Nicht weil Gott uns weniger ehre, im Gegenteil, er ehrt uns noch mehr. Wie denn? Ich will es euch sagen. Die Menschen jener Zeit waren unverständiger, waren eben erst vom Götzendienst entfernt worden; ihr Geist war eher abgestumpft und noch nicht so empfänglich. Sie hingen nur am Irdischen und [113] haschten danach; sie hatten noch keine Einsicht in die geistigen Güter; die Gnade des Geistes, die bloß im Glauben geschaut wird, kannten sie nicht. Darum geschahen Wunder. Von den Gaben des Heiligen Geistes sind nämlich die einen unsichtbar und werden bloß durch den Glauben erfaßt; andere aber haben auch ein äußeres Zeichen, um die Ungläubigen zum Glauben zu bewegen … Ich bedarf nun der Wunder jetzt nicht. Warum? Weil ich gelernt habe, auch ohne Wunder an den Herrn zu glauben. Denn wer ungläubig ist, bedarf eines Pfandes, ich aber glaube und brauche weder Pfand noch Zeichen. Obgleich ich nicht in Sprachen rede, weiß ich doch, dass ich von den Sünden gereinigt bin. Jene aber würden damals nicht geglaubt haben, hätten sie nicht Zeichen erhalten. Darum wurden ihnen Zeichen gegeben als Unterpfand des Glaubens …“. Charisma als gegenwärtige Wirklichkeit b. Aus derselben Predigt, 3.4 (MG 50,457–459): „Wäre der Heilige Geist nicht in uns, wie hätten dann die, die in dieser heiligen Nacht die Taufe erhielten, von ihren Sünden gereinigt werden können? Denn ohne die Kraft des Heiligen Geistes kann man von den Sünden nicht gereinigt werden … (vgl. Tit 3,3–5; 1 Kor 6,9–11) … (4) … Gäbe es keinen Heiligen Geist, so könnten wir nicht sagen: Herr ist Jesus; ‚denn niemand kann sagen: Herr ist Jesus, außer im Heiligen Geiste‘ (1 Kor 2,3). Gäbe es keinen Heiligen Geist, so könnten wir Gläubige Gott nicht anrufen; denn wir sagen: ‚Vater unser, der du bist in dem Himmel‘. Wie wir also Jesus nicht als Herrn bezeichnen könnten, so könnten wir auch Gott nicht Vater nennen … (vgl. Gal 4,6). Wenn du also den Vater nennst, so bedenke, dass du ihm durch den Antrieb des Heiligen Geistes diesen Namen beilegen darfst. Gäbe es keinen Heiligen Geist, so wäre der Geist der Weisheit und Erkenntnis nicht in der Kirche; ‚denn dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit, dem andern das Wort der Erkenntnis gegeben‘ (1 Kor 12,8). Gäbe es keinen Heiligen Geist, so wären in der Kirche keine Hirten und Lehrer; denn auch diese setzt der Heilige Geist, wie gleichfalls Paulus sagt: ‚Über die euch der Heilige Geist zu Hirten und Bischöfen gesetzt [114] hat‘ (Act 20,28). Siehst du, dass auch dies durch den Geist geschieht? …“
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Die Vielfalt der Charismen c. Aus der 2. Predigt „Über das heilige Pfingsten“, 1 (MG 50,463): „Herrliche Gnadengaben, meine Lieben, Gaben, die jedes menschliche Sprachvermögen (λόγος) übersteigen, hat uns der menschenfreundliche Gott am heutigen Tage gespendet! … ‚Denn‘, heißt es, ‚wenn ich hingehe, so werde ich euch einen anderen Tröster senden und euch nicht verwaist zurücklassen‘ (Joh 16,6.7; 14,18). Seht ihr die Sorgfalt? Seht ihr die unaussprechliche Güte? … Heute begnadet er uns mit der Ankunft des Heiligen Geistes und spendet uns durch ihn die unzähligen Gnaden des Himmels. Denn sage mir, wurde nicht alles, was unser Seelenheil betrifft, durch den Heiligen Geist uns zuteil? Durch ihn werden wir der Knechtschaft entrissen, zur Freiheit berufen, zur Kindschaft (Gottes) geführt … Durch den Heiligen Geist sehen wir Chöre von Priestern, haben wir Reihen von Lehrern. Aus dieser Quelle fließen die Gaben der Offenbarungen, die Gnaden der Heilungen, und alles andere, wodurch die Kirche Gottes geschmückt zu sein pflegt, hat von daher seinen Ursprung. Und auch Paulus spricht es aus mit den Worten: ‚Dies alles bewirkt ein und derselbe Geist, der jedem austeilt, wie er will‘ (1 Kor 12,11); ‚Wie er will‘, heißt es, nicht: Wie ihm befohlen wird; er teilt aus und wird nicht ausgeteilt; er ist Herr und keiner Ohnmacht unterworfen. Denn die Gewalt, welche Paulus dem Vater beilegt, schreibt er ja auch dem Heiligen Geist zu, und wie er vom Vater sagt: ‚Gott ist es aber, der da alles in allem wirkt‘ (1 Kor 12,6), so sagt er auch vom Heiligen Geist: ‚Dies alles bewirkt der eine und derselbe Geist, der jedem austeilt, wie er will‘.“ Die Vielfalt des „Charismas der Lehre“ e. Aus den Homilien über das Matthäusevangelium, hom 78 al 79,3 (MG 58,714,48–715,): „(Auslegung des Gleichnisses von den ‚anvertrauten Pfunden‘ oder ‚Talenten‘). Unter den ‚Talenten‘ ist hier die Fähigkeit eines jeden zu verstehen, sei es zum Beistandleisten, zum [115] Almosengeben, zum Belehren oder zu irgend einem anderen derartigen Tun. Sage keiner: Ich habe (nur) ein Talent erhalten und kann deshalb nichts leisten. Auch mit einem Talent kannst du Gutes tun. Du bist gewiß nicht ärmer als jene Witwe (Mk 12,41–44), nicht ungebildeter als Petrus und Johannes, die einfache und ungebildete Leute waren und dennoch den Himmel gewannen, weil sie eben Bereitschaft (προθυμία) zeigten und alles, was in ihren Kräften stand, für das Wohl der Gemeinschaft einsetzten. Nichts ist Gott so er‑ wünscht wie ein Leben im Dienst der Gemeinschaft (τὸ κοινωφελῶς ζῆν). Dazu hat uns Gott Sprache, Hände und Füße, Leibeskraft, Vernunft und Verstand (νοῦν καὶ σύνεσιν) gegeben, damit wir alle diese Gaben sowohl zum eigenen Heil als auch zum Nutzen des Nächsten einsetzen sollen. Unsere Sprache dient uns
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nicht nur dazu, Hymnen zu singen und Dank zu sagen, sondern eignet sich auch zur Belehrung und Ermahnung. Gebrauchen wir sie zu diesem Zweck, so eifern wir dem Herrn nach, sonst aber dem Teufel (vgl. Mt 4,1–11). Darum wurde auch Petrus für sein Christusbekenntnis seliggepriesen (Mt 16,17), da er aussprach, was (im Sinne) des Vaters war; als er aber vom Kreuz(esweg des Herrn) ganz und gar nichts wissen wollte, wurde er heftig gescholten (Mt 16,23), weil er damit zum Ausdruck brachte, was (im Sinne) des Teufels.war.“ f. Aus den Homilien über den Hebräerbrief, hom 30,1–3 (MG 63,210,49–213,4): „(Textbezug: Hebr 12,15.16) … Siehst du, wie er (‚Paulus‘) allenthalben einem jeden das Heil der Gesamtheit (τὴν κοινὴν σωτηρίαν) in die Hände legt? ‚Ermahnt‘, heißt es, ‚einander alle Tage, solange es heute heißt‘ (Hebr 3,13). (2) Bürdet darum nicht alles den (amtlich bestallten) Lehrern, nicht alles den Vorstehern (ἡγούμενοι) auf; auch ihr, heißt es, vermögt einander zu erbauen (οἰκοδομεῖν) … Dazu ermuntern wir jetzt auch euch. Ihr könnt untereinander, wenn ihr (nur) wollt, sogar noch mehr ausrichten als wir (eure Vorsteher und Lehrer); denn ihr seid öfter beisammen und kennt einer des andern Verhältnisse besser als wir; auch bleiben euch die gegenseitigen Verfehlungen nicht unbekannt, und ihr besitzt auch mehr Freimut (παρρησία), mehr Liebe einer gegenüber dem anderen und seid einander mehr vertraut. Das aber sind wahrlich nicht gering zu schätzende Voraussetzungen für [116] eine (heilsame) Belehrung, sondern wichtige und geeignete Zugänge, und ihr seid daher besser als wir in der Lage, zu warnen und zu ermuntern. Und auch dies ist (noch) nicht alles; sondern ich stehe allein da, ihr aber zählt viele und könnt, soviele ihr seid, allesamt Lehrer sein. So ermahne ich euch denn: Vernachlässigt nicht dies Charisma (vgl. 1 Tim 4,14). Jeder hat ja entweder eine Frau oder einen Freund, einen Diener oder einen Nachbarn. Diesen vermahne er, jenen ermuntere er … Und zum besseren Verständnis wisse: Dem die fünf Talente anvertraut wurden, der ist der Lehrer, und der das eine empfing, der Schüler (wohl: der Laienchrist). Wenn nun der Schüler spräche: Ich bin Schüler und laufe keine Gefahr, und vergrübe (sein Talent, nämlich) das Redevermögen, das er von Gott erhielt, weil’s ihm gewöhnlich und zu nichts nütze dünkte, und ermunterte weder noch redete er frei heraus, überführte nicht und tadelte nicht, wo er könnte, sondern vergrübe es in der Erde – denn Erde und Asche ist in Wahrheit ein Herz, das Gottes Gnadengabe (Charisma) vergräbt (versteckt) –, sei es aus Faulheit oder Böswilligkeit, so hülfe ihm die Ausrede doch nichts: Ich habe nur ein Talent empfangen. Denn du besaßest ein Talent und solltest (wenigstens) eines dazugewinnen und es so verdoppeln. Hättest du (nur) eines hinzugewonnen, so träfe dich keine Schuld; denn zu dem, der zwei gewonnen hatte, sprach der Herr nicht: Warum hast du nicht fünf gewonnen? Vielmehr erhielt er denselben Lohn wie der, der fünf (Talente) hinzugewonnen hatte. Und warum? Weil er so viel gewann, wie er besaß. Und er wurde nicht
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darum, weil er weniger empfing als der, dem die fünf Talente anvertraut wurden, leichtsinnig und nahm nicht die geringere Zahl zum Anlaß, träge zu werden … Wenn dem, der Reichtümer besitzt und nicht davon mitteilt, Bestrafung droht, wie sollte nicht den, der in irgendeiner Weise (zum Guten) ermahnen könnte, es aber nicht tut, die (noch schlimmere, ja) schlimmste Strafe ereilen? Dort wird der Leib ernährt; hier aber die Seele. Dort wehrst du dem zeitlichen, hier aber dem ewigen Tod. (3) Aber ich habe keine Rede(gabe) (λόγος) erhalten, sagst du? Nun, es bedarf gar keiner (besonderen) Redegabe und keiner Zungenfertigkeit.“ … [Wichtig ist allein, dass wir Geduld miteinander haben, dem andern Freund und Bruder sind, ihm durchaus einmal auch entgegentreten, wenn er auf Abwegen ist, nie aber den ‚Vollkommenen‘ und Lehrmeister [117] spielen!] … „‚Einer trage des anderen Last‘, heißt es, ‚so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen‘ (Gal 6,2). So also können wir, indem wir einander zurechtweisen und tragen, die Erbauung (des Leibes Christi) vollführen. Uns (den kirchlichen Lehrern) werdet ihr auf diese Weise die Last leicht machen, indem ihr euch in allem unser annehmt und uns die Hand entgegenstreckt und Teilhaber und Genossen sowohl des Heils der andern als auch des eigenen Heiles werdet. Harren wir also aus und tragen wir einer des anderen Last und helfen einander zurecht …“. Charisma und Amt g. Aus „Über das Priestertum“ III 4 (MG 48,642): „Was das Priestertum betrifft, so wird es zwar auf Erden ausgeübt, reicht aber zum Range himmlischer Einrichtungen empor. Und das ganz mit Recht. Denn kein Mensch, kein Engel, kein Erzengel, keine andere geschaffene Macht, sondern der Tröster (Paraklet) selbst hat dieses Amt gestiftet und hat Menschen, die noch im Fleische leben, bevollmächtigt, den Dienst von Engeln zu verrichten. Darum muss der zum Priester Geweihte so rein sein, als ob er in den Himmeln selbst mitten unter jenen Engelmächten stünde … Denn wenn du den Herrn geopfert daliegen siehst und den (bischöflichen) Zelebranten vor dem Opfer dastehen und beten und alle (Kommunizierenden) mit Seinem kostbaren Blut gerötet werden, glaubst du da noch, unter Menschen zu sein und auf Erden zu weilen? Fühlst du dich da nicht vielmehr geradewegs in den Himmel entrückt? Wirfst du nicht jeden fleischlichen Gedanken der Seele von dir und schaust die himmlischen Dinge mit lauterem Herzen und reinem Gemüt? O des Wunders! O der Menschenliebe Gottes! Der mit dem Vater in der Höhe thront, wird in jener Stunde (des eucharistischen Opfers) von den Händen aller gefaßt und gibt sich selbst denen dar, die ihn umfassen und umfangen wollen“.
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h. Aus der 1. Predigt „Über das heilige Pfingsten“, 4 (MG 50,459): „(Der Zelebrant erfährt den Zuruf der Gemeinde: ‚Und mit deinem Geiste‘) nicht allein, wenn er seinen Thron [118] besteigt, wenn er zu euch spricht und für euch betet, sondern auch, wenn er an diesem heiligen Altare steht, um jenes schauervolle Opfer darzubringen – die in die Geheimnisse eingeweiht sind, wissen, wovon ich spreche –. Er rührt das, was auf dem Altar liegt, nicht eher an, als bis er euch die Gnade des Herrn zugesprochen und ihr ihm geantwortet habt: ‚Und mit deinem Geiste‘. Durch diesen Zuruf erinnert ihr euch, dass der, der da (am Altar) steht, nichts tue und dass die Gaben, die vor ihm liegen, nicht Verdienste eines Menschen seien, sondern dass die Gnade des Heiligen Geistes gegenwärtig sei und über alle herabkommend dies geheimnisvolle Opfer vollbringe. Es ist gewiss nur ein Mensch, der da amtiert (ὁ παρών), doch Gott ist es, der durch denselben wirkt. Achte also nicht auf die Natur dessen, den du vor Augen hast, sondern sei der unsichtbaren Gnade eingedenk! Auf diesem heiligen Altar (βῆμα) geschieht nichts, was Menschen inszenierten (Οὐδὲν ἀνθρώπινον τῶν γινομένων). Wäre der (Heilige) Geist nicht anwesend, bestünde die Kirche nicht; besteht diese (nun) aber, so ist die Gegenwart des Geistes augenscheinlich.“ i. Aus den Homilien über den 1. Korintherbrief, hom 8 (MG 61,69,5–35): (An sein Lieblingsbeispiel, die Geschichte von Bileam und seiner Eselin, Num 22–24, schließt Chrysostomus hier folgende Erwägung an:) „Auch durch Bileam wirkte Gott, wie er auch dem Pharao und Nebukadnezar eine Offenbarung des Künftigen zuteil werden ließ; und auch Kaiphas weissagte, obwohl er nicht wusste, was er sagte; endlich haben auch manch andere, die es nicht mit Jesus hielten, Dämonen ausgetrieben in seinem Namen; geschieht es doch nicht um derer willen, die es wirken, sondern um anderer willen. Oft ist dergleichen selbst durch Unwürdige geschehen. Was verwundert dich das auch, wenn das bei Unwürdigen, um anderer willen, geschieht, sofern es auch durch Heilige geschieht? Paulus sagt ja: ‚Alles ist euer, sei es Paulus, sei es Apollos, sei es Kephas, sei es Leben, sei es Tod‘ (1 Kor 3,22); und wiederum: ‚Derselbe bestellte einige zu Aposteln, andere zu Propheten, andere zu Hirten und Lehrern, damit die Heiligen zugerüstet würden zum Werk des Dienstes‘ (Eph 4,11.12). Wäre es nämlich nicht so, dann wären alle (längst) zugrunde gegangen, und nichts hätte es verhindert! … Weder dürfte es die Taufe, [119] noch den Leib Christi geben, noch durch jene (die Priester) die Opferdarbringung geschehen, wenn die Gnade allenthalben die Würdigkeit voraussetzte (ἐζήτει). Nun aber pflegt Gott auch durch Unwürdige zu wirken, und die Taufgnade nimmt nicht im geringsten durch die (unakzeptable) Lebensführung des Priesters (der sie spendet) Schaden … Ich sage dies, damit niemand unter den Anwesenden argwöhnisch den Lebenswandel des Priesters unter die Lupe nehme“ [und dann in seinem Glauben an die Heilswirksamkeit der
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Sakramente irre werde]. „Denn der Mensch trägt nichts bei zu dem, was hier vor sich geht (oder: vorgelegt, ausgeteilt worden ist [εἰς τὰ προκείμενα]); sondern das Ganze ist das Werk der Macht Gottes, und Er ist es, der euch in die Geheimnisse einweiht“. j. Aus den Homilien über den 2. Korintherbrief, hom 20,2.3 (MG 61,539,29–540,40): (Eucharistisches Opfer – Lebensgottesdienst der Christen) „Der Mildtätige ist zwar nicht wie einst der Hohepriester in lange Gewänder gehüllt …; aber er ist angetan mit dem Kleid der Milde, das heiliger ist als jedes heilige Gewand … (3) Willst du auch den Opferaltar (θυσιαστήριον) dieses Priesters sehen“, [des Barmherzigen nämlich, den die Liebe zum Nächsten zu priesterlicher Würde erhebt, angetan mit dem Mantel der Barmherzigkeit und gesalbt mit vom Hl. Geist selbst bereitetem Öl]? „Nicht Bezaleel hat ihn gebaut (vgl. Ex 35,30 f.) oder sonst ein Künstler, sondern Gott selbst, und zwar nicht aus Stein, sondern aus einem Stoff, der weit herrlicher ist als der Himmel: Aus vernunftbegabten Seelen (διὰ ψυχῶν λογικῶν). ‚Aber der Hohepriester‘, (wendest du cin), ‚geht doch ins Allerheiligste ein‘. Dir ist gestattet, etwas noch Schauervolleres zu betreten, wenn du dieses Opfer darbringst, wo niemand zugegen ist außer deinem Vater, der dich im Verborgenen sieht, da kein anderer dich erblickt … Dieser Altar besteht aus Christi Gliedern selbst, und des Herren Leib wird dir zum Opferaltar. Das soll dich mit (besonderer) Ehrfurcht erfüllen: über dem Fleisch des Herrn bringst du das Opfer dar. Dieser Altar ist schauererregender selbst als der, (an dem wir) jetzt (opfern), keineswegs nur als der des alten (Bundes). Wundert euch nicht darüber. Denn wenn unser gegenwärtiger Altar wunderbar ist wegen des Opfers, das auf ihn gelegt ist, so ist es der Altar [120] des Barmherzigen nicht bloß aus diesem Grunde, sondern auch deshalb, weil er aus dem Opfer selbst besteht, das dies bewirkt.1 … Folglich ist dieser (Altar), an dem du als Laie (ὁ λαϊκός) amtierst, schauererregender als jener (eucharistische Altar) … Diesen Altar kannst du überall errichtet finden, auf Straßen und Märkten; an ihm kannst du zu jeder Stunde opfern; in der Tat wird auch hier ein Opfer zelebriert. Und wie der Priester (am Altar) steht und den Geist herabfleht, so rufst auch du den Geist an, zwar nicht mit Worten, wohl aber mit Werken. Denn nichts erhellt und entfacht so sehr das Feuer des Geistes wie dieses Öl, wenn es nur reichlich ausgegossen wird (vgl. Mt 25,1–13).“ … [Endlich sind auch der „Rauch“ und der „Wohlgeruch“, der von diesem Opfer aufsteigt, Lobpreisung und Danksagung, und sie dringen weiter als bis zum Himmel]. „Denn deine Gebete und deine Almosen, heißt es, sind aufgestiegen vor das Angesicht Gottes“ (10,4). 1 Gemeint wohl: das Opfer ist identisch mit dem Priester und umgekehrt (ἐξ αὐτῆς σύγκειται τῆς θυσίας τῆς τοῦτο ποιούσης).
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Zur Deutung2 Wohl schlägt, so zeigten uns die Textbelege, auch bei Chrysostomos das in der Tradition seit langem angelegte wunderhaft-enthusiastische Missverständnis der Charismen im Sinne wunderwirkender Geistesgaben immer wieder durch. Dennoch gelangt Chrysostomos vor allem von dem paulinischen Gedanken des Ursprungs des Charismas im Geist als dem Lebensprinzip der Kirche her zu einer Bejahung des Charismatischen als einer auch noch gegenwärtigen Wirklichkeit; Charisma ist für Chrysostomos ersichtlich kein „Privileg der Urkirche“ (privilegium ecclesiae primitivae). Von dieser Einsicht her läßt er – entsprechend dem durch und durch aktiven Zug in seiner Geistigkeit – seine Verkündigung wie sein kirchliches Handeln bestimmt sein. Auch kennt und anerkennt er, wie bei einem Repräsentanten des „Reichskatholizismus“ (C. Andresen), nahezu ein Jahrhundert nach der „Konstantinischen Wende“, kaum anders zu erwarten, die Existenz eines besonderen, institutionellen und hierarchisch gegliederten kirchlichen Amtes. Allein, weil Chrysostomus [121] dieses Amt letzten Endes von der Funktion der Wortverwaltung her versteht und seine Autorität entscheidend durch das dem Amtsträger nicht zueigene, sondern anvertraute „Wort“ begründet und bedingt sieht, darum kann er es auch mit dem Apostel Paulus eingegliedert und eingebettet sein lassen in den Kosmos der der Kirche im ganzen wie ihren einzelnen Gliedern bestimmten „Gaben“ oder Charismen, von denen nach ihm ein jedes zur „Auferbauung“ (οἰκοδομή) der Kirche als des Leibes Christi« beiträgt, ein jedes zu deren Vollendung mithilft, ein jedes dient – und gerade auch an dem »Charisma der Lehre« (χάρισμα διδασκαλικόν) seinen eigenen, unverwechselbaren Anteil hat. Mit dem allen ist nun freilich Chrysostomos nicht einfach ein typischer Vertreter seiner Zeit und ihrer kirchlichen Ideale; als solcher ist er immer wieder verstanden und in Anspruch genommen worden. Zu Unrecht, wie ich denke. Das wird hinlänglich klar durch einen Vergleich mit Gestalten wie Theodor von Mopsuestia,3 Theodoret von Kyrrhos4 und Kyrill von Alexandreia,5 gleich ihm führenden Kirchenmännern und – bedeutenden Paulusexegeten aus der Frühzeit der griechischen Reichskirche. Bringt doch dieser – von uns jetzt freilich nur ganz skizzenhaft durchzuführende – Vergleich eine (in diesem Ausmaß zumindest schwerlich zu erwartende) Mannigfaltigkeit zutage. Gemeinsam ist den genannten vier Autoren, dass sich bei ihnen nicht bestätigte, was in der Forschung bislang als für das altkirchliche Charismaverständnis charakteristisch galt: weder trifft es auf sie zu, dass sie dem „enthusiastischen“ 2 Vgl.
zum Folgenden Ritter, Charisma, 19–124. ebd., 125–147. 4 Vgl. ebd., 147–170. 5 Vgl. ebd., 170–197. 3 Vgl.
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Mißverständnis der Charismen erlegen seien, obwohl dieses bereits von Paulus bekämpfte Missverständnis zweifellos bei ihnen nachwirkt; noch haben sie die Charismen als Privileg der Urkirche betrachtet; wie es auch zumindest ungenau wäre zu sagen, dass bei ihnen Charisma, als mindestens „spurenhaft“ bis zur Gegenwart fortdauernde Wirklichkeit, durchweg als „Amtscharisma“ verstanden worden sei. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft, bis auf die Tatsache, dass alle genannten Autoren von der überlieferten Rechtsordnung ausgegangen sind und keiner von ihnen zugunsten etwa einer unverkürzten Aufnahme der [122] paulinischen Charismenlehre eine Änderung der bestehenden Strukturen auch nur in Erwägung gezogen zu haben scheint; etwas anderes zu erwarten, wäre auch einigermaßen realitätsfremd. Ob jedoch und inwieweit diese vorgegebene Ordnung noch Raum lasse für das „pneumatische“ Element, für eine Aktualisierung der paulinischen Sicht der Kirche als Kosmos mannigfaltiger „Gaben“, darüber war offenbar noch nicht von vornherein entschieden. Jedenfalls lässt sich dies nur noch für jeden einzelnen von ihnen gesondert beantworten. Ähnlich wie Chrysostomos weiß auch Theodor von Mopsuestia um das der Gesamtheit der Kirchengliedschaft zugedachte Charisma (die Taufgnade, kurz gesagt). Doch ist, anders als bei jenem, in seinem Kirchenbild für „Versichtbarungen“ dieses Urcharismas außer im hierarchisch gegliederten kirchlichen Amt anscheinend kein Platz. Immerhin weiß Theodor seine Einsichten als dem buchstäblichen Sinn der Schrift zugewandter Ausleger der paulinischen Charismatexte wenigstens für sein Amtsverständnis fruchtbar zu machen, indem er den charismatischen Charakter des Amtes, namentlich seiner Funktion bei der Feier der „schauererregenden“ Mysterien betont. Theodoret von Kyrrhos dagegen, auch er ein Vertreter der antiochenischen Schule, weiß von einer derartigen Eingrenzung des Wirkbereichs des Charismatischen nichts, sondern sieht die Vielfalt der Charismen konkretisiert im Gegenüber von Mönchtum und Amtskirche, von institutionellem Amt und „freiem“ Charisma, also gewissermaßen in einer Präfiguration des späteren Gegenübers von „Popen“ und „Starzen“. Allerdings wird bei ihm im Blick auf das charismatisch begründete, mönchisch-asketische Tugendstreben die von Paulus her verpflichtende Ausrichtung auf die „Auferbauung“ der Gemeinde (1 Kor 14,26) weniger konsequent betont, die für ihn vielmehr das Proprium des priesterlichen Amtes ist. Dessen Träger versehen ihren Dienst zum allgemeinen Nutzen, dank des ihnen in der Ordination (Weihe) verliehenen und als „Amtsgnade“ verstandenen Charismas. Bei dem Alexandriner Kyrill endlich begegnet eine ganz andere Art theologisch-ekklesiologischen Denkens. Obwohl er am häufigsten und volltönend sten von allen vom Charismatischen in der Kirche redet, bedeutet Charisma für ihn zunächst lediglich die der Gesamtheit der Kirchengliedschaft [123] erschlos-
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VIII. Johannes Chrysostomos
sene Heilsgnade. Ihre Konkretisierung in besonderen „Gnadengaben“ dagegen sieht er i. w. auf die Träger des institutionellen kirchlichen Amtes beschränkt, ohne dass die Behauptung der Koinzidenz von (besonderem) Charisma und institutionellem Amt je eine plausible Begründung erführe. Tritt so, im Vergleich mit repräsentativen östlichen Zeitgenossen die Eigenart des Chrysostomos und seines Verständnisses der Kirche, ihrer „Ämter“ und Funktionen, deutlich zutage, so stellt sich zum Schluß die Frage, wie sie zu „erklären“ sei. Eine rein soziologische Betrachtungsweise dürfte kaum die gewünschte Erklärung liefern können; wie es wohl auch nicht genügen wird, im Sinne der Interrelation von „challenge and response“ (A. J. Toynbee) auf die „kerygmatische Situation“ am Ende des 4. Jahrhunderts zu verweisen; denn nach allem, was wir wissen, unterschied sich diese in Antiocheia und Konstantinopel, den Hauptwirkungsstätten des Chrysostomos, kaum wesentlich von derjenigen, die Kyrill in der ägyptischen Metropole Alexandreia vorfand; bei Theodor in seinem kilikischen Missionsgebiet verhielt es sich wohl etwas anders. Den Ausschlag dürfte vielmehr gegeben haben, dass Chrysostomos wie kaum ein anderer altkirchlicher Theologe ein „Bibelmann“ (A. von Harnack), ein „Theologe des Wortes“ und glühender Liebhaber des Paulus und doch bei allem ein unzweifelhaft loyales Glied seiner Kirche gewesen ist. Diese Kirche muß also für eine Rückbesinnung auf Paulus und sein charismatisches Kirchenverständnis zumindest offen gewesen sein, offener, als man zunächst erwarten durfte!
Abstract A series of excerpts (from Chrysostom’s two pentecostal sermons [De sancta pentecoste]), the homilies on the gospel of St. Matthew, the two letters to the Corinthians, to the Hebrews and the book “On the priesthood” [De sacerdotio]) illustrate his conviction that Charisma is not only a privilege of the apostolic times (privilegium ecclesiae primitivae), but also an actual ecclesiastical reality; they also clarify his exceptional position among representative Eastern contemporaries like Theodore of Mopsuestia, Cyril of Alexandria and Theodoret of Cyrus. The question arises how this peculiarity could be explained. An exclusively sociological approach should not be apt to offer a satisfying explanation we are looking for; it also shouldn’t be sufficient to refer, according to the interrelation of “challenge and response” (A. J. Toynbee), to the “kerygmatic situation” towards the end of the fourth century; because, after all we know, this situation did not differ so much between the main fields of activity of the four mentioned Eastern theologians. Although a monocausal explanation is very rarely possible on the historiographical field, it should, so my supposition, have been decisive that Chrysostom was a “bible man”, the true bible man of the ancient church (A.
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Harnack) and a fervent admirer of the apostle Paul. Nevertheless and simultaneously he was and remained an undoubtedly loyal member of his church. That means that this church must have been open and prepared to be reminded of Paul and his charismatic ecclesiology, more open than it could have been expected for the time being.
IX.
Johannes Chrysostomus – ein Kurzporträt* Geboren um 349 in Antiochien, gest. am 14.9.407 im pontischen Komana. Im 6. Jh. seiner einzigartigen Redegabe wegen mit dem Beinamen Chrysostomus („Goldmund“) bedacht, hat sich J(ohannes) dem geschichtlichen Gedächtnis als Lichtgestalt unter den Bischöfen seiner Zeit eingeprägt, als ein Kirchenmann, „der dem geistlichen Auftrag seines Amtes bis zum letzten treu bleibt und dem dabei jede Rücksichtnahme auf politische Umstände und die Großen dieser Welt als Verrat erschienen wäre“ (H. v. Campenhausen). Er hätte es wohl vorgezogen, bis zum Ende bei dem zu bleiben, was nicht nur seinem Wesen entsprach, sondern wozu er auch (u. a. bei dem heidnischen Rhetor Libanius und in einem Asketenzirkel um Diodor, den späteren Bischof von Tarsus) ausgebildet war und was er vor allem als antiochenischer Presbyter (seit 386) auch zu praktizieren vermochte: Bibelauslegung in der Form der Predigt, Erziehung seiner Gemeinde, Beistand der Hilfsbedürftigen. Doch dann beruft man ihn (397) in die Funktion eines „Hofbischofs“ in der Reichshauptstadt Konstantinopel, in der es, wie sich rasch zeigt, noch anderer Gaben bedarf, als sie ihm zu Gebote stehen: politischen Scharfblicks und taktischer Raffinesse vor allem. Weil er jedoch viel zu gewissenhaft und auch zu beharrlich ist, um die ihm mit seinem Amt auferlegten Leitungsaufgaben etwa nicht ernst zu nehmen, ist sein ‚Scheitern‘ vorprogrammiert. Seinem Ansehen bei der Nachwelt tut das freilich keinen Abbruch. Wie vielmehr seinen Gegnern nichts anderes übrig bleibt, als ihn postum wieder in die Kirchengemeinschaft aufzunehmen und seine Gebeine im Triumphzug nach Konstantinopel zu überführen (438), so trägt auch die byzantinische Hauptliturgie (Chrysostomus-Liturgie) auf die Dauer seinen Namen. Vor allem schlägt sich das hohe Ansehen in einer ungewöhnlich reichen handschriftlichen Überlieferung seines literarischen Oeuvres nieder, des umfangreichsten, das je ein griechischer Kirchenmann hinterlassen hat: rund 14 Abhandlungen, mehr als 820 sicher authentische Predigten (inklusive vier Kommentare zu biblischen Büchern) und etwa 240 Briefe.
* Aus: Markus Vinzent (Hg.), Theologen. 185 Porträts von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart-Weimar 2004, 152 f.
Kurzporträt
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Was macht nun J. zu einem bemerkenswerten christlichen Denker? Dogmatische Fragen spielen ja in seinem Lebenskampf kaum eine Rolle. Auch sucht man bei ihm vergebens nach ausgebreiteten und ‑gefeilten theoretischen Erwägungen, zur Schriftauslegung etwa, selbst wenn seine Predigtpra‑ xis, wie sich zeigt, auf soliden theoretischen Grundlagen aufruht. Dafür gelingt es ihm, den man den eigentlichen „Bibelmann“ der Alten Kirche genannt hat (A. Harnack), das wesentlich Christliche scharf zu erfassen und zu einer geschlossenen Sicht zu gelangen, in der auch das aufblühende Mönchtum mit seiner besonderen Berufung und seinen besonderen Gaben einen festen Platz hat. Er vermag zudem in seiner Schriftauslegung die Vision von Eindeutigkeit, von Verbindlichkeit, von Authentie zu vermitteln, ohne zwangsläufig aus der „Welt“ herauszuführen, und in diesem Zusammenhang Zentralgedanken der Bibel, wie dem der Begegnung mit Christus im Armen (Mt 25,31–46) oder die paulinische „Lehre“ von der Kirche als aus vielen Charismen und Charismatikern aufgebauten „Leib Christi“ ein klares Profil zu geben. So stößt er auch, selbst tief im Mönchtum verwurzelt, gelegentlich bis an die Grenze sozialkritischer Überlegungen zur Sklaverei oder zum Privateigentum vor und vergisst nicht, bei aller Nähe zur Popularphilosophie, die gar nicht zu leugnen ist, immer wieder auch den Unterschied zu betonen, z. B. mit dem Hinweis auf den – wesenhaft – „sozialen“ Charakter des Christentums.
Translation John Chrysostom – a portrait in brief* Born about 349 in Antioch / Syria, dead as an exile in Cumana / Pontus 407 (September 14). During the 6 th century surnamed as “Golden Mouth”, in virtue of his outstanding eloquence, John passed into the historical memory as an illuminating, positive figure among the bishops of his time, a prelate, “who remains true, to the utmost, as to the spiritual mission of his office and who would have regarded every consideration for political circumstances and the mighty of this world as a treason” (Hans von Campenhausen). Presumably he would have preferred to remain until his end what was not only in accordance with his nature but what he also was trained to be (under the guidance i. a. of the pagan rhetorician Libanius and in a ascetic circle in the surroundings of Diodor, the later bishop of Tarsus) and what he, especially as an Antiochene presbyter (since 386), was able to practise: bible exegesis by preaching, ‘education’ of his congregation, assistance for the needy. * From: Markus Vinzent (ed.), Theologen. 185 Porträts von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2004, 152 f.
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IX. Johannes Chrysostomus
But then, after eleven / twelve years, he received a call to serve as a “court bishop” in Constantinople, the capital of the Roman empire. Fairly soon it came to light, however, that in this function other gifts were needed than Chrysostom had at his disposal: political perspicacity and tactical cleverness before all. But, because he was a far too conscientious man and and also too persevering to take his duties as a bishop for a moment not seriously, his ‘failure’ was preprogrammed. For his reputation among future generations, nevertheless, this ‘failure’ had no negative consequences. Quite the contrary is correct. As his opponents had already no choice than to re-accept him, fairly soon after his death, into the ecclesiastical communion and to translate his relics in a triumphal process from the Black Sea to Constantinople (438), so the main byzantine liturgy bears, not without any justification, his name since more than one millennium. The high reputation of John Chrysostom is above all reflected in an incomparably rich manuscript tradition of his literary heritage, the most extensive a Greek theologian ever left behind: roughly fourteen treatises, 820 – surely authentic – homilies (including four commentaries) and 240 letters. But, what qualifies him as a remarkable Christian thinker? Dogmatic problems undoubtedly play a rather marginal rôle in his career. And for extended, filed theoretical reflections, regarding bible exegesis e. g., we are likewise looking in vain in his work, although his homiletic praxis proves to rest on firm theoretical fundaments. Chrysostom, whom A. Harnack called the true “bible man” of the ancient church, succeeded instead in sharply realizing what is “essentialy Christian” and in gaining a fairly consistent view in which the rising monasticism with its special calling and its special gifts could find an undisputed place, too. Chrysostom is furtheron able to offer in his bible exegesis a vision of what is unequivocal, binding and authentic, without urging his audiences to leave the “world”. In this connection he succeeded likeweise in giving a clear profile to central ideas of the bible, like our encountering Christ in the poor, just as we encounter him in the eucharist (Matthew 25:31–46) or the Pauline ‘doctrine’ of the church as the “body of Christ”, built up out of many charismata and charismatics. Thus he pushed forward several times, although never abandoning his monastic ideals, until the borders of socio-critical reflections on slavery and private possession e. g.; and he knew how to set limits – for example, with reference to the (essentially!) “social” character of Christianity – to the popular philosophy of his time, if not to the ethics of Greco-Roman antiquity in general, notwithstanding all his nearness to popular philosophy which nobody will fail to notice.
X.
Drei Rezensionen* Kertsch, Manfred: Exempla Chrysostomica. Zu Exegese, Stil und Bildersprache bei Johannes Chrysostomos. Graz: Eigenverlag des Instituts für Ökumenische Theologie und Patrologie 1995. 222 S. 8° = Grazer Theologische Studien, 18. Johannes Chrysostomus: Acht Reden gegen Juden. Eingeleitet und erläutert von Rudolf Brändle, übersetzt von Verena Jegher-Bucher. Stuttgart: Hiersemann 1995. XII. 316 S. 8° = Bibliothek der Griechischen Literatur, 41. Mitchell, Margaret M.: The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation. Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XXXIV. 564 S. 8° = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 40.
Die hier anzuzeigenden drei Monographien bilden nur einen Ausschnitt aus der regen Buchproduktion zu J. Chr. in den letzten Jahren, einem Kirchenvater, der aus gutem Grund schon lange auch das Interesse von Klassischen Philologen und Althistorikern auf sich gezogen hat; eine neue Entwicklung ist, dass er in Theologenkreisen, selbst protestantischen, nicht nur auslegungsgeschichtliche Beachtung findet – das ist eigentlich immer schon so gewesen und, sozusagen, unumgänglich –, sondern auch für das exegetische Geschäft selbst ernsthaft ins Kalkül gezogen zu werden beginnt. Die drei Monographien haben ganz unterschiedliche Zugänge gewählt und ganz verschiedene Themenfelder besetzt. Was sie – außer ihrem Gegenstand, dem Werk des J.Chr. – verbindet, ist, dass sie – in meinen Augen zumindest – jeweils ein besonderes Interesse verdienen und allesamt hohen, wenn nicht gar höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. a. Der Grazer Philologe Manfred Kertsch richtet sich in seiner Untersuchung zu „Exegese, Stil und Bildersprache bei Johannes Chrysostomos“, wie er selbst sagt, „vorrangig an Philologen, deren Interesse, die Grenzen des eigenen Betätigungsfeldes überschreitend, sich einem der hervorragendsten theologischen Schriftsteller und vielleicht größtem (sic!) Sprachkünstler griechischer Zunge unter ihnen … zuwendet“, glaubt aber ganz zu Recht, dass „auch der an der griechischen Patristik, insbesondere an deren ‚klassischer Epoche‘ … interessierte Theologe mit philologischen Ambitionen zu seinem Recht kommen“ werde (VII). Seine Absicht ist dabei, „gewisse sprachliche und stilistische Gepflogenheiten bzw. Eigentümlichkeiten des Johannes Chrysostomus (sic!) nicht (wie bisher vielfach geschehen) in generalisierender, wenig spezifischer Art bloß * Aus: ThLZ 128 (2003), 173–180.
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X. Chrysostomica
anzudeuten, sondern sie vielmehr in detaillierter, philologischer Darstellungsweise durch möglichst zahlreiche Beispiele und Parallelen konkret aufzuzeigen und festzuhalten“, so, dass einerseits „Paradigmen und dazu gehörende Parallelen dem umfangreichen Schrifttum des großen Predigers allein entnommen …, andererseits … solche Sprach‑ und Stilmodelle auch aus anderen Autoren, insbesondere aus Gregor von Nyssa (einem an sich ganz anders gearteten Kirchenschriftsteller), beigebracht werden, wodurch namentlich die Unterschiede zum ‚Goldmund‘, aber auch die Übereinstimmungen mit ihm deutlicher in Erscheinung treten“ (IX). Die ausgewählten Exempla sind: A. die Kommentierung der Scheltrede des Jesaja auf den „Hochmut“ der Töchter Zions (3,16–26) in der chrysostomischen Jesajaauslegung samt Parallelen in dessen Gesamtwerk wie in der antiken, christlichen und paganen, Literatur überhaupt (1–37); B. die chrysostomischen Äußerungen über die „Nichtigkeit irdischer Wertvorstellungen“ im Vergleich mit Gregor von Nyssa, besonders mit dessen Ekklesiasteskommentar (38–113); C. der Fortschrittsgedanke (im Sinne des sittlich-geistigen Vollkommenheitsstrebens) im Bild des zielstrebigen Läufers (114–133) – dass der Autor hier mit wenigen Seiten auskommt, begründet er überzeugend damit, dass es bereits eine ausführliche Literatur gebe, und zwar nicht allein im Hinblick auf den christlichen Fortschrittsgedanken (114)1; D. der Gebrauch der Bildersprache bei Johannes Chrysostomus am Beispiel des Baumes oder, allgemeiner, der Pflanze (134–173). Umrahmt wird dies corpus der Arbeit von einem Vorwort (VII), „Einleitende(n) Bemerkungen“ (IXff.), aus denen bereits zitiert wurde, einer relativ knappen Bibliographie (XIff.), einem Abkürzungsverzeichnis (XVI), endlich einigen Additamenta mit ergänzenden Materialien (173 ff.), einem Verzeichnis der Eigennamen (180) und einem vollständigen griech. Wortindex (181–221). Dank der Anlage des Ganzen und nicht zuletzt des Index verborum graecorum locupletissimus (inclusis quoque vocabulis in additamentis occurrentibus) verleitet das Buch dazu, lediglich als Steinbruch benutzt zu werden. Das ist schade, weil es so gut und kurzweilig geschrieben ist, dass man zum mindesten eines der vier Exempla Chrysostomica ganz durchstudieren sollte (bes. das zweite!); man wird mit Hilfe der hier gebotenen Sammlungen, Zusammen‑ und Gegenüberstellungen genügend interessante und relevante exegetische Aspekte, bei J. Chr. wie sonstwo, entdecken. b. „Chrysostomus und die Juden“ ist ein Thema, über das das Gespräch nicht zur Ruhe kommt. Und das ist gut so, deshalb, „weil die Sache so enorm wichtig und ernst ist; weil wir – gerade im Blick auf die ersten Jahrhunderte der gemein1 Vgl. dazu jetzt bes. W. Kinzig, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius, Göttingen 1994 (FKDG 58); ferner das klassische Sammelwerk: EPECTASIS. FS f. J. Daniélou, Paris 1972.
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samen christlich-jüdischen Geschichte – noch immer weit weniger wissen, als wir nicht wissen … und also guter Rat teuer ist … Was“ aber „ändert“ ein „(womöglich) bessere(s) Verständnis … an der Skandalgeschichte des christlichen Antijudaismus? Leider (fast) gar nichts; wir bleiben vielmehr aufgefordert, nach dessen Wurzeln zu suchen und ernsthaft zu prüfen, auf welche Weise und in welchem Maße er (sei es als Triebkraft, sei es zumindest als moralisches Opium, das Hemmschwellen überwinden half und Tabus beseitigte) mitbeteiligt war am modernen Antisemitismus und letzten Endes auch am Holocaust. Wohl aber kann einem die intensive Beschäftigung mit Chrysostomus im Zweifel bestärken, ob wirklich der Antijudaismus wesenhaft zum Christentum hinzugehört und nicht vielmehr mit die widersinnigste und widernatürlichste Konsequenz ist, die sich aus dem Evangelium ziehen lässt“.2 Von solchen und ähnlichen Gedanken geleitet, haben sich der Baseler Ordinarius für NT und Alte Kirchengeschichte Rudolf Brändle und seine gräzistisch-theologische Mitarbeiterin Verena Jegher-Bucher darangemacht, die berühmt-berüchtigten „Acht Reden gegen Juden“ erstmals wieder (nach mehr als 200 Jahren)3 in einer vollständigen, kommentierten Übersetzungsausgabe einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen und den patristischen Herausgeber der „Bibliothek der Griechischen Literatur“ des Stuttgarter Hiersemann-Verlages, W. Gessel, dafür zu gewinnen, ihr Werk in dieser nobelen Reihe zu publizieren. Bekannt sind – und immer wieder zitiert werden – aus diesen „Reden“ i. a. wenige aus dem Zusammenhang gerissene, besonders abscheuliche Sätze. Außer von Demagogen, bei denen wohl Hopfen und Malz verloren ist, wird man in Zukunft erwarten dürfen, dass der Zusammenhang der Zitate gebührende Beachtung findet, sofern man auf Seriosität Wert legt. Geschieht dies, so wird von vornherein und zweifelsfrei klar, dass diese Reden durchweg nicht „gegen Juden“, sondern „judaisierende“, in ihrer Identität höchst ungefestigte „Christen“ gerichtet sind; das entschuldigt zwar nichts, erklärt aber doch manches! Brändle und seine Mitarbeiterin haben sich die zu bewältigende Aufgabe so aufgeteilt, dass sie für die Übersetzung, er für die Einführung und Kommentierung (haupt‑)verantwortlich zeichnet. So sei denn auch im folgenden von Übersetzung und Kommentierung (im weitesten Sinne) getrennt die Rede. Die Übersetzung (die ich freilich eher stichprobenhaft, jedenfalls nicht Wort für Wort, am Urtext durchgeprüft habe) stellt zweifellos eine beachtliche Leis2 Adolf Martin Ritter, Chrysostomus und die Juden – neu überlegt, in: Kirche und Israel 5 (1990) 109–122; hier: 121. 3 Im 18. Jh. wurden – im Abstand von gut zwanzig Jahren – vollständige deutsche Übersetzungen von Johann Andreas Cramer (evangelisch) – von ihm stammt übrigens das vielgesungene, schöne Abendmahlslied EG 221! – und Vital Moesl (katholisch) vorgelegt, von denen Br. vermutet, dass es sich um „Reaktionen … auf das Phänomen“ handele, „das als Philosemitismus des Barock bezeichnet wird“ (41); eine nennenswerte Nachwirkung haben beide Übersetzungen anscheinend nicht gehabt.
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tung dar4. Sie ist, obwohl nicht immer besonders glanzvoll und so dem Rhetor Chrysostomus nicht in jeder Hinsicht kongenial5, i. a. ebenso gut zu lesen wie zuverlässig. Zwar gibt es einige problematische Lösungsvorschläge6 oder gar Missgriffe7, doch halten sich diese in erträglichen Grenzen. Was die Übersetzerin kann, zeigt sich wohl am eindrucksvollsten an ihrem einleuchtenden Konjekturvorschlag (dem einzigen, wenn ich nichts übersehen habe). Ich bin überzeugt: falls irgendwann einmal eine zureichende textkritische Ausgabe (auch) für die „Judenreden“ des Chrysostomus zur Verfügung stehen sollte, wird sich herausstellen, dass es einen breiten handschriftlichen Sukkurs für die von ihr konjezierte Lesart νομὰς (möglich wäre auch νομοὺς) statt des unsinnigen νόμους (PG 48,857) gibt. Die detaillierte Einführung und Kommentierung trägt überall die Handschrift des Fachmanns R. Brändle, der längst als einer der international führenden Chrysostomusforscher ausgewiesen8 ist. Diese Kompetenz trägt entscheidend zu dem hohen Rang dieser kommentierten Übersetzungsausgabe9 bei. Doch: nobody and nothing is perfect (ich weiß, wovon ich rede!). Bevor das jedoch am 4 Mehr noch als die fünf Jahre zuvor erschienene Übersetzung ins Englische durch Paul W. Harkins (Saint John Chrysostom. Discourses against Judaizing Christians, Washington D. C. 1990). 5 Ich verweise als einziges Beispiel auf die holperige Übersetzung von PG 48,915, Z. 9 ff. = 186, Ende des 1. Absatzes der Übersetzung; vgl. damit meinen Vorschlag: Ritter, Antisemitismus, in: Ders., Charisma und Caritas, Göttingen 1993, 21. 6 Ich begnüge mich auch hier mit wenigen Beispielen: 91, zweitletzter Absatz, ist das Ἐπιγινώσκετε ἀλλήλους der Liturgie zwar nicht falsch übersetzt, besser aber wäre wohl „Erkennt einander“ (als Traditionshintergrund für unser „Erkennt euch in dem Herrn, keiner sei wider den anderen …“); 103 (= col. 857, Z. 9/10 v. o.) wird unschöner‑ und unnötigerweise eine Alternative angeboten („Unzeitigkeit oder Deplaziertheit“) für ein und dasselbe griech. ἀκαιρία. Ich würde übersetzen: „Niemand soll die Rede bemäkeln, weil ich sie zur Unzeit, [nämlich] so viele Tage zuvor, gehalten habe“); sehr unschön ist das „egal“ auf S. 119 (Chrysostomus spricht, soweit ich sehe, nie Slang!) oder der Angli[zi]smus „die Seele von Paulus“ (the soul of Paul) auf S. 117 (das Deutsche hat eine andere Möglichkeit der Genitivbildung), endlich der vermurxte Anschluss 126 (= col. 873, Z. 4 v. o. (Besser als „Da es [was?] das nicht ist“ wäre „Da das nicht der Fall ist“). 7 Ein krasses Beispiel ist die Übersetzung von ἀναισθησία mit „Unkultiviertheit“ (103 = col. 857, Z. 25/24 v. u.); richtig wäre „Stumpfheit“, „Gefühllosigkeit“. Sehr unglücklich und nahezu unverständlich ist auch das „Dass nämlich Gott weder den Zeiten noch solcher Beachtung irgendeine Rechnung trug“ (119 = col. 868, Z. 24/23 v. u.). Warum nicht: „Dass sich Gott um ihren Festkalender (oder: ihre [religiösen] Termine) und solche (Gesetzes‑)Observanz nicht im geringsten schert“? 8 Zuletzt durch seinen voluminösen Personenartikel im RAC (Bd. 18, 1998, 426–503, mit einem Beitrag von Frau Jegher-Bucher zur rhetorischen Schulung des großen Predigers), einem wahren Kompendium der neueren Chrysostomusforschung, sein im selben Jahr erschienenes Bändchen „Johannes Chrysostomus. Bischof – Reformer – Märtyrer“ (Stuttgart 1998) und auch den ein Jahr später folgenden Aufsatzband „Studien zur Alten Kirche“ (Stuttgart 1999), der auch mehrere Chrysostomusbeiträge enthält, gerade auch zu den für den christlich-jüdischen Dialog relevanten Aspekten seines oeuvre. 9 Dieser ist zu Recht soeben auch von der renommierten Chrysostomusspezialistin Margaret A. Schatkin (JbAC 44 [2001] 210–214) hervorgehoben worden.
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vorliegenden opus verdeutlicht wird, sei Br. s Anteil daran genauer beschrieben. Dieser Anteil macht mehr als die Hälfte des Gesamtumfanges aus, abgesehen vom Quellen‑ und Literaturverzeichnis (257–273), von einer detaillierten Übersicht über die Chrysostomuswerke und ihre Übersetzungen (275–301) und einem Bibelstellen-, Personen‑ (Antike und Moderne) sowie Sach‑ und Begriffsregister (303–316), die ein Außenstehender natürlich nicht eindeutig zuzuordnen vermag. Und zwar folgt einem kurzen Vorwort beider Autoren (IX–XI) aus Br.s Feder eine gelungene Biographie des Chrysostomus mit allen erforderlichen Informationen (1–36) und eine noch etwas umfangreichere Einleitung in dessen „acht Reden gegen judaisierende Christen“ (36–79), in der außer über Ausgaben Texte und Übersetzungen der Reden über „Antiochien in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts“, ferner über die „Rhetorik der Reden“, d. h. ihre „Argumentationsstruktur“ und ihren „Ornatus“, ihre „Einordnung in die Adversus-Judaeos(sic!)-Literatur“ und ihre „Wirkungsgeschichte“ die Rede ist. Folgen endlich auf die Übersetzung fast dreißig engbedruckte Seiten mit Anmerkungen, auch, aber keineswegs nur zu Übersetzungsproblemen. Schon das zeigt, dass nichts unterlassen wurde, was zur Hilfestellung bei einer gründlichen Beschäftigung mit den „Reden“ hätte dienen können! Es stellen sich indes auch Fragen, nicht allzu viele, darunter aber doch ein paar gewichtigere; nur sie seien hier vorgebracht. Ich stoße mich etwa am (im Deutschen anders als im Englischen ganz) unüblichen Begriff „Judaismus“ (statt Judentum), der im Kommentar oft, in der Übersetzung meist, aber nicht regelmäßig für Ἰουδαϊσμός gebraucht wird, wofür in der Einleitung die (wenig einleuchtende) Begründung gegeben wird, es sei das „eine Wortbildung des griechischen Judentums, parallel zum Begriff Χριστιανισμός“10 (den ja auch kein Mensch mit „Christianismus“ wiedergibt!); ich frage mich zum andern, an welchen Leserkreis gedacht sei, wenn in der Einleitung in die „Rhetorik der Reden“ seitenweise (bes. 68 ff.) und en masse unerläuterte Fremdworte und termini technici sowie unübersetzte Zitate aus dem Lateinischen und Griechischen begegnen (einem Kapitel, nebenbei, zu dem erstaunlicherweise außer einer Patristikerin zwei Reformations‑ und Neuzeithistoriker, aber kein [weiterer] klassisch-philologischer Experte konsultiert wurden11); ich finde ferner, es hätte zur Bemerkung, in der „Sicht von (sic!) Johannes“ seien „Frauen und Sklaven besonders anfällig gegenüber der Anziehungskraft des Judentums (sic!)“12, ruhig hinzugefügt werden dürfen, dass das verdächtig nach einem altbekannten apologetisch-polemischen Topos aussieht; vor allem aber frage ich nach den Urteilskriterien, wenn Verf. das Scheitern des 10 Ebd.
42. ebd. 57, Anm. 411. 12 Ebd. 237, Anm. 115. 11 Vgl.
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Chrysostomus – in Konstantinopel wie (letztlich auch schon) in Antiochien – ganz im Einklang mit P. Brown – nicht zuletzt in Fehleinschätzungen des großen Predigers selbst begründet sieht. Seine „Hoffnung, dass die ostmediterrane Stadt ihre profanen Traditionen ablegen werde, indem sie zu kaum mehr als einer Anhäufung frommer christlicher Haushalte würde, bedeutete eine fatale Unterschätzung der Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft“13. Ich gebe dazu dreierlei zu bedenken: einmal, ob die ganz überwiegende Mehrheit der antiken Stadtbevölkerung, zumal der antiochenischen, über die „Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft“ genau so oder auch nur ähnlich enthusiastisch dachte wie der (die beiden?) moderne(n?) Historiker? Wenn das – besonders nach Rodney Starks „Neue(n) Erkenntnisse(n) aus soziologischer Sicht“14 – nicht eben wahrscheinlich ist, was wirft man Chrysostomus eigentlich vor, der sich bekanntlich bewusst als einen „Volksmann“ verstand? Was wirft man, zum andern, dem Prediger und Theologen Chrysostomus vor, wenn dieser als Theologe zu urteilen suchte und so primär danach fragte: nicht: „Was würde Jesus“ (so M. Niemöller), sondern: „Was würde (der geliebte Apostel) Paulus dazu sagen?“ und entsprechend – ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile – handelte? Dazu gleich mehr, im Zusammenhang der Besprechung des Buches von M. M. Mitchell. Eben: es geht um die Urteilskriterien. Mein drittes Bedenken: Ich halte die genannte chrysostomische Priorität nicht nur für theologisch naheliegend oder doch wenigstens nachvollziehbar, sondern auch – zumal in Übergangszeiten wie der seinen und der unseren – für politisch-gesellschaftlich äußerst nachdenkenswert, wenn nicht gar vorbildlich. Hat sie doch für Chrysostomus zur Konsequenz die Entdeckung des „ekklesialen“ Charakters christlicher Ethik, m. a. W. die Entdeckung der Gruppe als ethischen Subjekts.15 Also, bei allem Respekt vor dem großen P. Brown: man wird ihm auch widersprechen und das eigene theologische Urteil nicht einfach suspendieren dürfen, zumal es der Blick auf die Wirkungsgeschichte als sehr zweifelhaft erscheinen lässt, ob man wirklich von einem „Scheitern“ des Chrysostomus sprechen kann. War dieser doch nach allem, was wir wissen, jahrhundertelang – in Ost wie West – der wohl meistgefeierte und ‑gelesene unter den griechischen Kirchenvätern, trotz seiner Absetzung und Verbannung – oder gerade ihretwegen! Eine letzte kritische Bemerkung: Verf. hat einen seiner Vorgänger, P. W. Harkins, kritisiert, weil dieser seine englische Übersetzung der „Judenreden“ des Chrysostomus 13 Ebd. 35, mit einem Zitat aus Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München-Wien 1991, 328 f. 14 Vgl. dessen lehrreiches, wenn auch nicht unkritisch zu lesendes Buch „Der Aufstieg des Christentums“ (Weinheim 1997; das engl. Original erschien Princeton 1996 u. d. T. „The Rise of Christianity“), bes. dessen 7. Kap. („Chaos und Krise der Städte: Der Fall Antiochia“). 15 Vgl. dazu Adolf Martin Ritter, John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics, in: William S. Babcock (Hg.), Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 183–192.360– 369; Ritter, Gottesherrschaft, in: Ders., Charisma und Caritas (Ges.Aufs.), Göttingen 1993, 309–330.
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unter die Überschrift stellte „Discourses Against Judaizing Christians“16. Damit entfalle „der Anstoß, den allein schon der traditionelle Titel“ (Adversus Iudaeos) auslöse; gleichzeitig werde „aber auch die Stoßrichtung dieser acht Reden leicht abgebogen“. Da auch für Brändle indes darin „sicher in erster Linie judaisierende Christen“ angesprochen sind,17 ist seine Kritik schwerlich überzeugend und seine eigene Titelwahl („Acht Reden gegen Juden“) eher noch missverständlicher und interpretationsbedürftiger. Sie verfehlt nämlich nicht nur die Hauptzielrichtung dieser Reden, sondern lässt auch das Missverständnis zu, als sei die chrysostomische Judenpolemik nur an einige Juden adressiert. Dabei geht es an den – wenigen – Stellen, an denen sich der Prediger direkt an Juden richtet, wie in seiner dominanten Kritik an den judaisierenden Christen Antiochiens um die Bestreitung jeder religiösen Gemeinschaft mit dem Judentum, um ein Verdikt gegen die Juden als Religionsbekenner18, ein Verdikt, mit dem sich allerdings bei Chrysostomus, zieht man sein übriges Schrifttum mit in Betracht (was in diesem speziellen Fall in Brändles reichhaltigem Kommentar nur ganz unzureichend geschieht19), „der Antrieb verbindet, ihnen gleichwohl die geschuldete Liebe und Nächstenschaft, ja selbst die Hoffnung auf Gottes ‚unbereubare‘ Heilsverheißung (Röm 11,29) nicht vorzuenthalten“20. Mein letztes Wort sei jedoch ein Lob: kann ich auch, nach allem, nicht unbedingt unterschreiben, dass es sich bei dem Gemeinschaftswerk von R. Brändle und V. Jegher-Bucher um ein „flawless volume“21 handele, so fühlte ich mich doch missverstanden, hätte ich den Eindruck erweckt, meine kritischen Bemerkungen zögen den „hohen Rang“ der Publikation nachträglich wieder in Zweifel. Das ist nicht ihre Absicht. So betone ich denn zum Schluß, dass dieses Gemeinschaftswerk in meinen Augen einen bedeutsamen, in Zukunft unentbehrlichen Beitrag nicht nur zur Chrysostomusforschung, sondern auch zum christlich-jüdischen Dialog darstellt, für den man dem Autorenteam nur sehr dankbar sein kann. c. Das dritte hier zu besprechende Chrysostomicum, das Buch von Margaret M. Mitchell, zur Zeit (genauer: in dessen Erscheinungsjahr 2000) Associate Professor für Neues Testament an der Divinity School und dem Department für NT und Frühchristliche Literatur der Universität Chicago, bereitete mir, wie ich 16 Paul W. Harkins, Saint John Chrysostom. Discourses Against Judaizing Christians, Washington / DC 1990. 17 Brändle a. a. O., 41 f. 18 Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von Schatkin (wie Anm. 10), 212 f., zum Thema „Antisemitismus“ bzw. „Judenhass“ bei Chrysostomus. 19 Auf einer solchen synthetisierenden Betrachtungsweise lag im Unterschied dazu der Schwerpunkt meiner „Erwägungen“ (wie Anm. 5), 22–27. 20 Ebd., 29, mit den Nachweisen 26. 21 So Schatkin (wie Anm. 10), 214.
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gleich zu Beginn gestehe, – trotz seines beachtlichen Umfangs von nicht weniger als 564 Seiten – ein Lesevergnügen besonderer Art! Ehe ich ausführe, warum, seien Autorin und Buch vorgestellt: Frau Mitchell ist nicht nur „zufällig“ an einem Department für NT und Frühchristliche Literatur tätig. Beides sind vielmehr (einschließlich ihres geistesgeschichtlichen Hintergrundes, vor allem der antiken Rhetorik, Hermeneutik und Philosophie) seit vielen Jahren auch ihre wissenschaftlichen Schwerpunktgebiete. Ihre erste große Monographie war exegetischer Natur; sie galt der „Sprache und Komposition“ von 1 Kor und wies überzeugend den Nutzen einer rhetorischen Analyse für das Verständnis dieses paulinischen Briefes nach22. Auch das neue Buch ist in den Augen seiner Verf.in „vorwiegend eine Fallstudie in biblischer Hermeneutik“ (XIV); das ist es in der Tat, aber so, dass Chrysostomus – den sie für den „wichtigsten patristischen Paulusausleger“ hält (XXI) – volle historische Gerechtigkeit widerfährt. So handelt es sich denn bei diesem Buch um einen Brückenschlag zwischen Bibelwissenschaft und Auslegungs‑ bzw. Wirkungsgeschichte, für die selbst im protestantischen Bereich in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise eine zunehmende Aufgeschlossenheit zu konstatieren ist.23 Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die chrysostomischen Paulusporträts, wie sie sein ganzes exegetisch-homiletisches Werk durchziehen, in konzentriertester Form aber in den sieben „Lobreden“ auf Paulus begegnen. Diese Porträts sind, findet die Verf.in, kein Beiwerk, sondern ein Zentralstück seiner exegetischen Arbeit (384); und der Leser wird Zug um Zug von der Richtigkeit dieser Einschätzung überzeugt. Ihre Untersuchung ist so aufgebaut, dass in einem 1. Kap. (1–33) eine Einführung in die (chrysostomischen und außer chrysostomischen) Quellen und eine Einordnung der Untersuchung in die Forschungsgeschichte geboten wird; Kap. 2 (34–68) ordnet die Paulusporträts des Chrysostomus in ihren historisch-geistesgeschichtlichen Kontext ein, indem es „der christlichen literarischen Porträtkunst im griechischen Osten des 4. Jh.s nachfragt und dabei deren hermeneutische, rhetorische, ethische und künstlerische Dimensionen in Betracht zieht“ (34); Kap. 3–6 führen sodann die Galerie der chrysostomischen Paulusporträts im einzelnen vor, unterschieden nach „Miniaturen“ (Kap. 3 [69–93]) und „regelrechten Porträts“, angeordnet nach den Subkategorien des antiken Enkomiums: Körperporträts (Kap. 4 [94–134]), Seelenporträts (Kap. 5 [135–199]) und biographische Porträts (Kap. 6 [200–380]).
22 Margaret
M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians, Tübingen 1991 (HUTh 28); Nachdruck Louisville 1993. Vgl. die Rezension von Hans Hübner in dieser Zeitschrift (ThLZ 121 [1996], 53 f.). 23 Vgl. die entsprechenden Hinweise in Adolf Martin Ritter, Die Väter als Schriftausleger am Beispiel Gregors von Nyssa De beatitudinibus, in: ZNW 93,2002, 120–137, bes. 127 ff.
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Die beiden abschließenden Kapitel bieten ein Resümee der vorangegangenen Analysen und bringen die gewonnenen Ergebnisse in Beziehung einerseits zu dem historischen Kontext, in dem des „Goldmundes“ pastorales Wirken gesehen werden will (Kap. 7 [381–408]), andererseits zu der Paulusdeutung des späten vierten und des späten 20. Jh.s (Kap. 8 [409–439]), wobei insbesondere Augustin und die von ihm ausgehende Auslegungstradition das Gegenüber bildet. In einem Anhang beigefügt sind die vollständige, meisterhafte Übersetzung der sieben „Lobreden“ auf Paulus (Appendix I [440–487]), eine Beschreibung von Chrysostomus‑ (und Paulus‑)Darstellungen in der bildenden Kunst, zumeist in illuminierten Handschriften (Appendix II [488–499]), von denen einige anschließend im Mehrfarbendruck wiedergegeben werden (Tafel 1–6 [502–507), eine Bibliographie (509–528), ein Stellenregister (529–558), ein Verzeichnis moderner Autoren (559–563) und der im Buch gebotenen Bildbeschreibungen (564). Die Verf.in gesteht selbst in schöner Offenheit ein, als Wissenschaftlerin, die „von ihrem Temperament wie von der Kultur der“ aktuellen „neutestamentlichen Studien her geneigt“ sei, „jedem Beispiel zu jedem einzelnen Punkt nachzuspüren“, angesichts der schieren Masse von Chrysostomusschriften gelegentlich der Verzweifelung nahe gewesen zu sein und sich in einem ständigen Kampf befunden zu haben, ja nicht zu ausladend oder, umgekehrt, zu oberflächlich zu werden (XXIV) in ihrem Bemühen, das Denken des Chrysostomus und sein Paulusverständnis adäquat und korrekt wiederzugeben. Ich finde, ihr Bemühen war von Erfolg gekrönt. Mich hat die Lektüre des Buches trotz seines Umfangs nie verdrossen oder auch nur gelangweilt. Dem eiligeren Leser kann man aber empfehlen, sich die Zusammenfassungen, die zu jedem einzelnen Kapitel geboten werden, zunutze zu machen oder vielleicht überhaupt mit der Lektüre von Kap. 7 (und 8) zu beginnen, wo die gewonnenen Resultate insgesamt resümiert und auf die Hauptprobleme der Paulusinterpretation in Vergangenheit und Gegenwart bezogen werden. Den Chrysostomusliebhaber hat die Sympathie mit dem Exegeten aus weit zurückliegender Vergangenheit („Hermeneutik der Liebe“ lautet das Zauberwort [429]) und die Liebe zum Detail gerade gefreut, von denen die gesamte Untersuchung durchpulst ist. Dem Historiker hat stark imponiert der – m. E. gelungene – Versuch (in Kap. 7), ein „kohärentes Bild der sozialen, kirchlichen und politischen Funktionen der Paulusporträts in des Johannes pastoralem Wirken und seiner Vision einer christlichen Gesellschaft im Kontext des späten vierten Jh.s“ zu entwerfen (XXIII). Den Dogmengeschichtler hat die Gegenüberstellung von Chrysostomus und Augustin als Paulusinterpreten beeindruckt und nachdenklich gemacht, aber – noch – nicht davon überzeugt, dass es wirklich Sinn macht, Chrysostomus an die Seite des Pelagius oder doch wenigstens der „Semipelagianer“ (wenn dieser Anachronismus erlaubt ist) zu rücken, Augustin dagegen gleichsam als „Betriebsunfall“ der Paulusdeutung erscheinen zu lassen,
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bedingt durch psychische Probleme des späte(re)n Augustin.24 Das ist, gewiß, pointierter gesagt, als es Frau Mitchell selbst in ihrer vorbildlich zurückhaltenden, sachlich-vornehmen Art formulieren würde, gibt aber wohl die Richtung an. Hierüber muß diskutiert – zu Not auch gestritten – werden, und zwar sehr viel ausführlicher, als dies innerhalb einer Rezension möglich ist. Ich sage aber: die Diskussion mit Frau Mitchell lohnt sich, unbedingt; und ich stehe nicht an zu erklären, dass ihr Buch in meinen Augen von nun an zur Pflichtlektüre ebenso sehr für Exegeten wie Patristiker, zumal Chrysostomusforscher, aber auch für Systematische Theologen gehören sollte. Es ist endlich zu loben auch in literarischer Hinsicht, in seiner makellosen und schnörkellosen Wissenschaftsprosa ein Lesegenuß und mühelos zugänglich auch für solche Leserinnen und Leser, die des Englischen nicht als ihrer Muttersprache mächtig sind.25 Kurzum: von einem Meisterwerk war soeben die Rede!
Abstract The three monographs reviewed in the foregoing (vide supra) chose quite different approaches and occupied quite different thematic fields. What they have in common – besides their common subject, the work of John Chrysostom: that they merit – in my eyes, at least – in each case a special attention and interest and fulfil altogether high, if not highest academic claims.
24 Vgl.
6, Anm. 24; 19, Anm. 71; 332, Anm. 634; 400; 409–439. Zu einer abweichenden Sicht s. Ritter, Charisma. ein Buch, mit dem sich die Verf.in in ihren gelobten Monographie nicht auseinandergesetzt hat. 25 Dazu passt die sorgfältige Präsentation durch den Verlag; aufgefallen sind mir ganz wenige Schnitzer (s. 7, Anm. 26; 21, Anm. 76) und Druckfehler, selbst, wenn man das Griechische einbezieht (s. 207.213.246.327.337.375 f.).
XI.
Johannes Chrysostomus und das Römische Reich im Gespräch mit neuerer Literatur* Vor wenig mehr als 60 Jahren erschien (bei Benziger in Einsiedeln / Köln) Hugo Rahners berühmte Sammlung von „Dokumenten aus acht Jahrhunderten“ zum Thema (und unter dem Titel) „Abendländische Kirchenfreiheit“1. Sie ist in Deutschland einem breiteren Leserpublikum allerdings erst in der vom Autor selbst bearbeiteten Neuauflage aus dem Jahr 1961 bekannt geworden.2 Das Werk ist, wie es im Vorwort ausdrücklich heißt, auch in dieser Überarbeitung nach Anlage und Grundgedanken gleichgeblieben.3 Thema bleibt die Stellung der Kirche zum römischen Staat; deshalb sind ausschließlich Quellen christlicher Herkunft aufgenommen, und das in bewußter Auswahl. Deren Intention hat der alte Buchtitel eigentlich eher getroffen als der neue (nämlich „Kirche und Staat im frühen Christentum“), welcher Erwartungen weckt, die die Dokumentation selbst nur teilweise erfüllt. Inhaltlich berührt sich das Buch des deutschen Jesuiten Hugo Rahner aufs stärkste mit dem fast zur selben Zeit entstandenen, wenngleich erst bald nach Ende des 2. Weltkrieges erschienenen Buch des niederländischen reformierten Theologen Hendrik Berkhof über „Kirche und Kaiser“4. Und das ist kein Zufall, da beide, fast gleichzeitig entstandenen, Bücher denselben (nationalsozialistischen) Gegner vor Augen hatten: das eine, während der deutschen Besetzung der Niederlande, im Untergrund, das andere, nach der gewaltsamen Schließung der Innsbrucker Theologischen Fakultät, im schweizerischen Exil entstanden. In der Tat kann Rahners Buch weithin als Quellensammlung zu Berkhofs „Untersuchung zur Entstehung der byzantinischen und der theokratischen Staatsauffassung im vierten Jahrhundert“ (so der Untertitel von „Kirche und Kaiser“) gelesen werden5.
* Aus: Studia Ephem. Augustinianum 93/2,2005, 747–761. 1 Erschienen Einsiedeln-Köln 1943. 2 Kirche und Staat im frühen Christentum, erschienen München 1961. 3 Ebd., 11; die wesentlichste Änderung besteht in der Beigabe der griechischen und lateinischen Originaltexte, wodurch sich die Brauchbarkeit der Sammlung vor allem für Zwecke des akademischen Unterrichts natürlich bedeutend erhöhte. 4 Niederländisch: Amsterdam 1946; deutsch: Zürich 1947. 5 So mit Recht Georg Kretschmar, Der Weg zur Reichskirche, in: VuF 13, H. 1 (1968), 3–44; hier: 8.
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XI. Johannes Chrysostomus
Aus gutem Grund aber ist die [748] von beiden Autoren vertretene Position inzwischen z. T. massiver Kritik begegnet6, so dass auch bei einer neukonzipierten, wohl noch in diesem Jahr (bei Peter Lang in Bern) erscheinenden Dokumentation (unter dem Titel „‚Kirche und Staat‘ im Denken des frühen Christentums“7) – bei allem Respekt vor der von Rahner und Berkhof erbrachten Leistung – andere Wege einzuschlagen und andere Akzente zu setzen waren. Ein Problem ist das der Terminologie. Wollte man wie H. Rahner vom Verhältnis von „Kirche und Staat“ im frühen Christentum reden, so wäre damit im Grunde ein zentrales Problem der Moderne sachgemäß gekennzeichnet ist, ebenso wie „Staat“ ein moderner Begriff ist, der erstmals in der italienischen Renaissance begegnet. Schon für das Mittelalter ist die Formulierung nur bedingt verwendbar; und in ihrer Übertragung auf die Zeit des frühen Christentums bringt sie erst recht die Gefahr mit sich, Anachronismen einzutragen, die den Blick für die damals gestellten Aufgaben eher verstellen. Das Neue Testament8 rechnet mit der Existenz politischer Gewalten und enthält Weisungen, wie Christen sich gegenüber jüdischen und römischen Machthabern verhalten sollen. Die christliche Apokalyptik benutzt darüber hinaus die Kategorie des Gegensatzes zwischen Gottesvolk und gottfeindlicher Weltmacht. In dem einen Traditionsstrang vom Zinsgroschenwort Jesu (Mt 22) bis Röm 13 kommt zwar die weltliche Obrigkeit, genauer das römische Imperium, in den Blick, nicht aber die Kirche. In den verfolgten Knechten Gottes der Apokalypse kann man umgekehrt die Kirche wiederfinden, aber ihr Gegenüber ist nicht eigentlich der „Staat“ als politisches Ordnungsgefüge, auch nicht das Römische Reich, sondern eben die gottfeindliche Welt schlechthin. Allein deshalb ist es uns verwehrt, die eine Überlieferung, wie das vielfach üblich ist, als staatsbejahend und die andere als staatskritisch [749] gegeneinander zu stellen, obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, dass Röm 13 und Apk 13 vom Imperium Romanum von ganz unterschiedlicher Warte aus reden. Die Geschichte der Auslegung dieser beiden
6 Vgl. dazu außer Kretschmar (wie Anm. 5), 7 f.38.40 f., etwa noch Kurt Aland, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (= ANRW), hg. von Wolfgang Haase, II, 23.1, Berlin / New York 1979, 60–246; hier: 139 ff.; Wilhelm Schneemelcher, Kirche und Staat im 4. Jahrhundert (= Bonner Akademische Reden 37), Bonn 1970. – Kirsten Gross-Albenhausen erweist sich also schwerlich als besonders gut informiert, wenn sie in ihrer Frankfurter Dissertation („Imperator christianissimus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Johannes Chrysostomus“ [= Frankfurter Althistorische Beiträge 3, Frankfurt 1999]) behauptet, Berkhofs These (H. Rahners Werk scheint ihr unbekannt zu sein) sei „kaum rezipiert worden; eine Ausnahme“ bilde „K. Aland“ (13, Anm. 13), ein scharfer Kritiker Berkhofs n. b.! 7 Der Untertitel sucht zu präzisieren: „Texte und Kommentare zum Thema Religion und Politik in der Antike“ (= Traditio Christiana 13). 8 S. beispielweise Mt 22,15–22 par.; Röm 12,1 f.; 13,1–7; 1 Kor 7,29–31; Act 5,27–29; 1 Ptr 2,13–17; 2 Thess 2,1–7; Apok 13,1–10.
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Texte bis hin zur „Konstantinischen Wende“9 belegt, dass die Alte Kirche niemals den einen gegen den anderen Text ausgespielt hat, wohl weil sie zwischen ihnen keinerlei Widerspruch zu entdecken vermochte. Dies bestätigt, dass das frühe Christentum über seine Beziehung zum „Staat“, wenn überhaupt, dann in seiner eigenen Weise reflektiert hat, nicht in der unseren. Ein anderes, eher noch gravierenderes Problem, das nun Rahner wie Berkhof gleichermaßen betrifft, ist der von beiden mit Nachdruck behauptete „Strukturunterschied“ zwischen „Ost“ und „West“, byzantinischer und abendländischer Kirche, wie er, um mit (dem einstigen Marburger evangelischen Kirchenhistoriker) E. Benz zu reden, an keinem Punkt „so deutlich in Erscheinung“ trete „wie an dem Grundverständnis von Kirche und Staat“ (oder, besser, weil quellennäher, „Kirche und Kaiser“ bzw. „Kirche und Imperium Romanum“). Der Unterschied lasse sich, so Benz weiter, „am besten verdeutlichen in der Gegenüberstellung derjenigen beiden großen Theologen, welche die Grundlage der Kirchenidee und der Staatsmetaphysik für den Bereich des östlich-orthodoxen und des abendländisch-römisch-katholischen Christentums geschaffen haben, Euseb von Caesarea und Augustin“.10 Sachlich gesehen geht es für alle drei Autoren um die, wie sie meinen, typisch abendländisch-kirchliche Haltung im Gegensatz zum „Byzantinismus“, einen Gegensatz, der seit langem mit Vorliebe auf den Nenner: „Theokratie“ (für Rahner = „Kirchenfreiheit“) versus „Caesaropapismus“ gebracht wird. Als Probe aufs Exempel diente früher, wie gesehen, mit Vorliebe eine Konfrontation von Euseb und Augustin oder Ambrosius; in neuerer und neuester Literatur dagegen wird hierfür mehrfach eine Gegenüberstellung von Ambrosius und Johannes Chrysostomus herangezogen: der eine nach Rahner ein klarer Vertreter „theokratischer“ Ideale (bzw. ein Vorkämpfer „abendländischer Kirchenfreiheit“); der andere gewiß kein zweiter Eusebius, eher das unschuldige Opfer „caesaropapistischer“ Tendenzen in Ostrom. „Dieser Eiferer für Gottes Gesetz und die Freiheit der Rede“, so H. [750] Rahner, „hatte ähnliches gewagt wie einst Ambrosius gegen die Kaiserin Justina – aber welch ein Gegensatz der Wirkung! Chrysostomus prallt in tödlichem Kampf auf die kaiserliche Kirchenherrschaft, knechtische Bischöfe verurteilen ihn auf der sogenannten ‚Eichensynode‘ [August 403] im Namen des Kaisers zur Verbannung …“. „In dieser Tragödie war
9 Vgl. dazu August Strobel, Schriftverständnis und Obrigkeitsdenken in der ältesten Kirche. Eine auslegungs‑ und problemgeschichtliche Studie zum Verhältnis von Kirche und Staat, vor allem bis zur Zeit Konstantins des Großen (maschinenschriftl.), Erlangen 1956; vgl. das Reümée in: ThLZ) 82 (1957), 69–71. 10 Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche (in: Rowohlts Deutsche Enzyklopädie), Hamburg 1957, 136; vgl. zu diesen Forschungspositionen und den Fragen, die sie aufwerfen, noch immer den ausgezeichneten Forschungsbericht von Kretschmar (wie Anm. 5), passim.
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der Kampf des freiheitliebenden Papsttums nutzlos. Aber die Fronten lagen klar zutage, die kirchliche und die politische“11. Wir müssen (aus Raumgründen) von einer förmlichen und ins Einzelne gehenden Gegenüberstellung von Ambrosius und Chrysostomus absehen, wollen aber die Frage nach dem angeblichen oder wirklichen „Strukturunterschied“ zwischen byzantinischer und abendländischer „Kirchenidee und Staatsmetaphysik“ (E. Benz) im Sinn behalten, wenn wir nunmehr mit einigen neueren Beiträgen zur Frage „Kirche und Kaiser“ (bzw. „Imperium Romanum“) in der Sicht des Chrysostomus ins Gespräch eintreten. Wir unterscheiden zwei Gedankenkreise: 1. Das Scheitern des Chrysostomus und seine Ursachen; (was freilich unser Hauptthema allenfalls berührt. Dieses ist und bleibt) 2. Chrysostomus und das Römische Reich.
Das Scheitern des Chrysostomus und seine Ursachen In seinem Buch „The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity“, New York 1988 (eine deutsche Übersetzung erschien in München 1991) hat P. Brown Chrysostomus ein ganzes Kapitel gewidmet (das 15., dessen deutsche Kapitelüberschrift lautet: „Die Sexualität und die Stadt“ [315–331]). Danach ist dessen Scheitern in Konstantinopel wie (letztlich auch schon) in Antiochien nicht [751] etwa (wie nach Rahner anzunehmen wäre) im Streben nach „kaiserliche(r) Kirchenherrschaft“ oder in Intriguen „knechtische(r) Bischöfe“, sondern, nicht zuletzt, in Fehleinschätzungen des großen Predigers selbst begründet. „Sein Scheitern“, so lesen wir als Begründung, „war mehr als eine persönliche Tragödie; es markierte das Scheitern einer möglichen Variante des oströmischen Christentums. Es war einer der wirklich bedeutsamen Schiffbrüche des 4. Jahrhunderts. Im Jahre 362 hatte die grimmige Treue“ der Antiochener „zu ihrem eigenen, bewußt nichtkonfessionellen Bild von ihrer Stadt dem Kaiser Julian deutlich gemacht, dass seine Hoffnungen auf eine heid11 Rahner (wie Anm. 2), 212 f. „Dass das theokratische Bewusstsein im Westen lebendig blieb und im Osten nicht einmal aufkam“, ist auch Berkhofs Meinung; es hat für ihn jedoch „mehr an den Persönlichkeiten als an den Verhältnissen gelegen. Auch die Ostkirche“ habe „im vierten und fünften Jahrhundert große Männer gehabt. Aber der östlichen Mentalität entsprechend waren es fast nur große Theologen, welche tief nachdachten über die Geheimnisse der Dreieinigkeit und der Menschwerdung. Eine Herrscherfigur, ein Kirchenfürst wie Ambrosius war nicht unter ihnen. Auch Chrysostomus war das nicht“ (Berkhof [wie Anm. 4], 205). Kein Zweifel, dass bei den „große(n) Männer(n)“ des Ostens im 4. und 5. Jh. an Leute wie Athanasius von Alexandrien gedacht ist, die die „orthodoxe“ Auffassung von der Dreieinigkeit und der Menschwerdung vertraten (vgl. ebd., 204 f.); B. dachte hierüber also ähnlich wie Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, Leipzig 1935. Vgl. zur Diskussion dieser These vor allem den von Alfred Schindler herausgegebenen Diskussionsband „Monotheismus als politisches Problem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie“, Gütersloh 1978 (Studien zur Evangelischen Ethik 14).
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nische Wiederbelebung zum Untergang verdammt waren. Am Ende des 4. Jahrhunderts zerbrachen Antiochien und danach Konstantinopel die christlichen Erweckungsbestrebungen des Johannes Chrysostomus ganz genau so gründlich. Dessen Vision von der Zukunft einer christlichen Stadt war ein ebenso totgeborenes Kind wie die, die Kaiser Julian Apostata für Antiochien als heidnische Stadt gehabt hatte. Die Hoffnung, dass die ostmediterrane Stadt ihre profanen Traditionen ablegen werde, indem sie zu kaum mehr als einer Anhäufung frommer christlicher Haushalte würde, bedeutete eine fatale Unterschätzung der Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft“ (328 f.). „Johannes erhöhte die christliche Familie, um die Bedeutung der antiken Stadt herabzusetzen. Er weigerte sich, Antiochien als traditionelle städtische Gemeinschaft, die durch einen gemeinsamen städtischen Patriotismus zusammengehalten wurde, der sich in gemeinsamen Rhythmen kollektiver Festlichkeit ausdrückte. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er den Wunsch hatte, das Theater, das Hippodrom, ja sogar die geschäftige Agora möchten für immer in Schweigen verfallen“ (322). – Trotzdem, so ist man geneigt, Brown entgegenzuhalten, war er, Chrysostomus, am Ende einer 16 jährigen Tätigkeit als Diakon und Presbyter in seiner Vaterstadt dermaßen beliebt, dass er regelrecht (in einer „Nacht‑ und Nebelaktion“ gleichsam) „entführt“ werden mußte, aus Furcht vor einem Aufstand der besonders erregbaren antiochenischen Bevölkerung, weil ihn maßgebende Hofkreise als neuen Bischof der Reichshauptstadt Konstantinopel ausersehen hatten – ihn, den ausgemachten Versager? Wie reimt sich das alles? Aber natürlich sind damit Browns Anfragen an eine jahrhundertealte Deutungstradition nicht erledigt. Ich kann sie auch hier keineswegs ausdiskutieren, gebe nur – weiterhin – zu bedenken: „einmal, ob die ganz überwiegende Mehrheit der antiken Stadtbevölkerung, zumal der antiochenischen, über die ‚Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft‘ genau so oder auch nur ähnlich enthusiastisch dachte wie“ der moderne Historiker? „Wenn das – besonders nach R. Starks ‚Neue(n) Erkenntnisse(n) aus soziologischer Sicht‘“ in seinem lehrreichen, [752] wenn auch gewiss nicht unkritisch zu lesenden Buch „The Rise of Christianity“12 (bes. dessen 7. Kap., in der deutschen Übersetzung [erschienen Weinheim 1997] betitelt: „Chaos und Krise der Städte: Der Fall Antiochia“) aber „nicht eben wahrscheinlich“ oder doch wenigstens zu hinterfragen13 ist: „was wirft man Chrysostomus eigentlich vor, der sich bekanntlich bewußt als einen ‚Volksmann‘ verstand?“ Einen Mann also, den es brennend interessierte, 12 Erschienen Princeton 1996; eine deutsche Übersetzung erschien ein Jahr später in Weinheim u. d. T. „Der Aufstieg des Christentums“. 13 Nur darum geht es hier; natürlich ist in gar keiner Weise zu bestreiten, dass es den städtischen Patriotismus, das „klassische Gefühl für die Stadtgemeinschaft“, bis in die Spätantike hinein, besonders im Osten, sehr wohl gegeben hat; die erhaltenen Inschriften mit Akklamationen wie Νικᾷ ἡ Τύχη oder Dedikationen ähnlichen Inhalts sprechen da eine unzweideutige Sprache. Darauf macht mich mein Heidelberger althistorischer Kollege A. Chaniotis zurecht aufmerksam.
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nicht nur, wie es in Palästen und auf Prachtstraßen, sondern auch, wie es in den Slums aussah, wie es dort roch, wie es dort mit den Wohn‑ wie den hygienischen Verhältnissen bestellt war … Über all das kann man sich, wenn R. Stark auch nur ein Stück weit recht hat, bedrückend konkrete Vorstellungen machen. „Was wirft man, zum andern, dem Prediger und Theologen Chrysostomus vor, wenn dieser“ eben „als Theologe zu urteilen suchte“, wenn er „primär danach fragte, nicht: ‚Was würde Jesus‘“ (so M. Niemöllers beharrliche Frage), „sondern: ‚Was würde (der geliebte Apostel) Paulus14 dazu sagen?‘ und entsprechend – ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile – handelte?“ Was wirft man, zum dritten, demjenigen vor, dessen Weg, wie der anderer herausragender Zeitgenossen (z. B. des Basilius von Caesarea), vom Mönchtum zum Bischofsamt führte? Das meint für Chrysostomus, dass prinzipieller Ausgangspunkt für ihn der „soziale Charakter“ des Christentums war und bis zuletzt geblieben ist und er darin „den entscheidenden ‚Maßstab vollkommenen Christentums‘, darin dessen ‚exakte Definition und höchste, durch nichts zu überbietende Verwirklichung‘ sieht: ‚zu suchen, was dem Wohl der Gemeinschaft dient, zu wissen, dass das eigene Heil auf Gedeih und Verderb mit dem des Nächsten verknüpft ist‘. Folglich hat für ihn auch christliche ‚Vollkommenheit‘, um die es in seinen Augen dem Mönchtum zuerst und zuletzt zu tun sein muss, sehr wesentlich auch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Bemerkenswerterweise besteht für ihn“, und er hat darin kaum seinesgleichen, „die Vorbildhaftigkeit der Klöster nicht zuletzt darin, dass in ihnen die ‚perfekte Gesellschaft‘ (societas perfecta) anschaubar wird, und [753] zwar insofern, als es in ihnen kein Privateigentum und keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, sondern nur noch wechselseitiges Sichunterordnen und freiwilligen Dienst“.15 „Eben: es geht um die Urteilskriterien“. Daraus leite ich ein weiteres, letztes Bedenken ab: „Ich halte die genannte chrysostomische Priorität nicht nur für theologisch naheliegend oder doch wenigstens nachvollziehbar, sondern auch – zumal in Übergangszeiten wie der seinen und der unseren – für politisch-gesellschaftlich äußerst nachdenkenswert, wenn nicht gar vorbildlich. Hat sie doch für Chrysostomus zur Konsequenz die Entdeckung des ‚ekklesialen‘ Charakters christlicher Ethik, m. a. W. die Entdeckung der Gruppe als ethischen Subjekts“.16 Genau das macht nämlich in meinen Augen 14 Vgl.
jetzt dazu vor allem das hinreißende Buch von Margaret M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 40), Tübingen 2000. 15 Adolf .Martin Ritter, Zur „Realbilanz“ der alten Kirchengeschichte: das Beispiel „Christentum und Sklaverei“, in: Jürgen Dummer/Meinolf Vielberg, Leitbilder der Spätantike – Eliten und Leitbilder (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 1), Stuttgart 1999, 101–122; hier: 114 f. Zu den Nachweisen s. meinen Aufsatz Ritter, Gottesherrschaft, wieder abgedr. in: Ders., Charisma und Caritas (Ges.Aufs.), Göttingen 1993, 315, Anm. 23. 16 Vgl. dazu Adolf Martin Ritter, John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics, in: William S. Babcock (ed.), Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 183–192.360– 369.
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die Besonderheit dieses Kirchenvaters aus, dass er gerade nicht, wie man ihm vielfach unterstellte, in rein individualethischen Kategorien dachte! Wenn ich ferner recht sehe, steckt eben diese Entdeckung des „ekklesialen“ Charakters christlicher Ethik als Hauptmotiv auch hinter der von Brown beobachteten und kritisierten Erhöhung der christlichen Familie bei Chrysostomus17 und nicht etwa die Absicht, „die Bedeutung der antiken Stadt herabzusetzen“ (s. o.). „Also: bei allem Respekt vor dem großen P. Brown: man wird ihm auch widersprechen und das eigene theologische Urteil nicht einfach suspendieren dürfen, zumal es der Blick auf die Wirkungsgeschichte als sehr zweifelhaft erscheinen läßt, ob man wirklich von einem ‚Scheitern‘ des Chrysostomus sprechen kann. War dieser doch nach allem, was wir wissen, jahrhundertelang – in Ost wie West“ (selbst im zaristischen Rußland) –, „der wohl meistgefeierte und ‑gelesene unter den griechischen Kirchenvätern, trotz seiner Absetzung und Verbannung oder gerade ihretwegen!“18 [754] Ein nicht minder starker Einfluß wie von Browns Buch19 ist von der eher „zünftig“-analytischen Studie von John H. W. G. Liebeschuetz über 17 Vgl.
zu diesem Thema die gediegene Arbeit von Ottorino Pasquato, I laici in Giovanni Crisostomo tra Chiesa, famiglia e città (Biblioteca di Scineze Religiose 144), 2. überarb. u. erg. Aufl. Rom 2001; dort wird P. Browns Buch mehrfach angeführt, aber nicht diskutiert. 18 So Adolf Martin Ritter in einer Sammelbesprechung von Chrysostomica in: ThLZ 128 (2003), 173–180; hier: 176 f. – Ähnliche Anfragen wären, nebenbei, auch an das Chrysostomuskapitel in Hartmut Leppin, Die Kirchenväter und ihre Zeit. Von Athanasius bis Gregor dem Großen, München 2000, 47–60, zu richten; kennzeichnend ist etwa der Passus: „Wie Ambrosius so hatte auch Johannes Chrysostomus einen Konflikt mit einem Kaiser auszufechten, dessen Rechtgläubigkeit außer Frage stand. Dem Antiochener jedoch gelang es nicht, sich durchzusetzen. Dazu mag beigetragen haben, dass Arcadius oder besser Eudoxia weniger berechenbar war als Theodosius (I.). Vor allem hatte Johannes selbst Defizite. Ihm fehlte die Erfahrung aus der kaiserlichen Verwaltung. Ihm fehlten die diplomatischen Umgangsformen, die man jetzt in der Welt des veralltäglichten Christentums benötigte. Ihm fehlte der Blick für das Mögliche“ (57). Ich halte dagegen: Der „Antiochener“ Chrysostomus hat sich doch wohl ganz gut „durchgesetzt“, so dass man ihm gerade bei Hofe zunächst einiges zutraute; und gewiss fehlte ihm die Schulung in der Reichsverwaltung, wie sie ein Ambrosius genossen hatte, doch was ein Bischof in einer Situation „veralltäglichten“ (für Chrysostomus weithin ganz oberflächlichen) „Christentums“ am dringendsten „benötigte“, sollte sich nicht Chrysostomus darüber seine eigenen Gedanken haben machen dürfen? Wo er über das Verhältnis: Mönchtum – Kirche so dachte, wie er dachte, ist es ihm zu verargen, dass er nicht darauf verfiel, am nötigsten seien jetzt „diplomatische Umgangsformen“, nicht aber „authentisches Christentum“?! Schließlich: dass ihm „der Blick für das Mögliche“ nicht vollständig abging, lässt sich daran zeigen, dass er andere Mittel zur Durchsetzung seiner Ideen, als sie ihm die Rhetorik zur Verfügung stellte, nie in Erwägung gezogen zu haben scheint. Die Entscheidungsfreiheit des anderen (αὐτεξούσιoν) war und blieb ihm heilig (vgl. dazu abermals Ritter, Gottesherrschaft, 142 f.). 19 Uneingeschränkt positiv äußerte sich dazu außer dem großen alten Mann der englischen Patristik, John Norman Davidson Kelly, Golden Mouth. The story of John Chrysostom – ascetic, preacher, bishop, Oxford 1995, 45, Anm. 44, bes. R. Brändle in seiner Einleitung zu: Johannes Chrysostomus. Acht Reden gegen Juden, eingel. u. erl. v. Rudolf Brändle, übers. v. Verena Jegher-Bucher (BGrL 41), Stuttgart 1995, 1–79 (hier: 35 f.); ferner in dem Bändchen „Johannes Chrysostomus. Bischof, Reformer, Märtyrer“ (Stuttgart 1999), 55 f.80 f.
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„Barbarians and Bishops“ (Oxford 1990, mit dem Untertitel: „Army, Church, and State in the Age of Arcadius and Chrysostom“) auf die neuere und neueste Chrysostomusliteratur zu unserem Thema ausgegangen20. Liebeschuetz studiert darin zwei auf einander bezogene Ereignisse in Konstantinopel um das Jahr 400 n. Chr.: die Gainas-Krise der Jahre 399–400 und die Absetzung des Chrysostomus in 403/404. „Beides wurde ermöglicht durch fundamentale Veränderungen in der römischen Gesellschaft seit der frühen Kaiserzeit. [755] Die Gainas-Affäre konnte sich nur ereignen, weil das Reich in großem Maße abhängig geworden war von barbarischen Söldnern. Die Karriere des Chrysostomus schloß Situationen ein, die vor dem ‚Triumph‘ des Christentums undenkbar gewesen wären. Beide Ereignisse illustrieren mithin die Transformation der antiken Welt“ (1). Im Blick auf Chrysostomus und seinen „Fall“ heißt es gegen Ende zusammenfassend: Chrysostomus „hatte sich bei einem Großteil des Klerus von Konstantinopel unbeliebt gemacht. Seine Eingriffe in die Angelegenheiten von Nachbardiözesen schufen Besorgnis unter Bischöfen und Unmut unter der Stadtbevölkerung, deren Bischöfe Johannes abgesetzt hatte. Er versuchte die in oder bei Konstantinopel lebenden Mönche zu disziplinieren und machte sich auf diese Weise eine ernstzunehmende Menschengruppe zu Feinden. Denn diese Mönche hatten Einfluß unter einfachen Leuten so gut wie unter Führungskräften der Gesellschaft. Sie konnten sich selbst zusammenrotten als auch andere zum Aufruhr anstacheln. In der Tat hatten sie sich schon einmal mit dem Bischof von Alexandrien verbündet, um einen Bischof von Konstantinopel zu Fall zu bringen (sc. Gregor von Nazianz). Zur gleichen Zeit trug der Lebensstil des Chrysostomus“, der sein dürftiges Mahl allein einzunehmen pflegte und keine Bankette gab, „zu seiner Isolierung bei. Das allein schürte Unbehagen. Es unterstützte auch die Intriguen seiner Gegner. Es versteht sich von selbst, dass diese Umstände ihn verwundbar machten, sobald eine Gruppe von Bischöfen und Laien seine Absetzung betrieben. Der Klüngel, der auf seinen Sturz hinarbeitete, schloß zwei machtvolle Figuren ein: Kaiserin Eudoxia und den alexandrinischen Bischof Theophilos. Eudoxia war flatterhaft und wankelmütig, und sie starb bald, nachdem man Chrysostomus zum zweiten Mal, diesmal endgültig, ins Exil geschickt hatte; Theophilus jedoch blieb mit der Attacke verknüpft, obwohl er (ihretwegen) Ägypten nicht ein zweites Mal verließ. Dass es dieser Clique gleichwohl gelang, sich die Gunst der kaiserlichen Regierung für ihre Ziele dreizehn Jahre lang zu erhalten, war der Tatsache zu verdanken, dass sie die Unterstützung der Minister Eutychianus, 20 Kellys
Äußerung schon im Vorwort zu seinem Anm. 19 zitierten Chrysostomusbuch (VII) mag für viele andere stehen. – Liebeschuetz. war längst als Chrysostomuskenner ausgewiesen: etwa durch seine Monographie über „Antioch: City and Imperial Administration in the Later Roman Empire“ (Oxford 1972) oder durch die Aufsätze „Friends and enemies of John Chrysostom“ (in: Ann Moffat [ed.], Maistor, Canberra 1984, 85–111) und „The Fall of John Chrysostom“ (in: Nottingham Medieval Studies 29 [1985], 1–31).
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Aurelianus and Anthemius gewannen, die das öffentliche Leben zwischen 394 und 416 beherrschten. Wie und warum sie diese Unterstützung fanden, ist nicht vollkommen klar; aber einzelne relevante Faktoren können immerhin ausgemacht werden. Chrysostomus hatte sich die erbitterte Feindschaft der während der Gainas-Krise (auf dessen Verlangen hin) exilierten Arelianus, Saturninus und Johannes zugezogen. Darüber hinaus waren Aurelian und Saturninus eng verbündet mit dem Führer der Chrysostomus feindlich gesonnenen Konstantinopeler Mönche, Isaak. Wir können vermuten, dass Männer wie Aurelian und Anthemius, Angehörige neureicher Familien, die nun den Ton angaben im politischen und gesellschaftlichen Leben der Reichshauptstadt, die Aktivitäten eines [756] Bischofs mit Argwohn betrachteten, welcher mit Erfolg Frauen aus dem Senatorenstand anspornte, ihr Eigentum zu verteilen, auf welchem die Macht der senatorischen Familien basierte. Als sich schließlich die westliche Unterstützung für den verbannten Chrysostomus verstärkte, haben diese Männer wahrscheinlich den Konflikt mit Chrysostomus und dessen Anhängern (sc. den Johanniten) als Teil ihres Kampfes um die Bewahrung der östlichen Unabhängigkeit und besonders der östlichen Kontrolle über das Illyricum betrachtet, angesichts der Druckes, den die westliche Regierung unter Stilicho ausübte“ (226 f.). Dieses Ergebnis ist, wie ich nicht mehr nachzeichnen kann, mit so viel Umsicht und Verständnis sowohl für Chrysostomus als auch für seine Gegner gewonnen21, dass es nicht nur mich, wie es scheint22, nahezu vollständig überzeugt hat, weit mehr jedenfalls als die Rahnersche Sicht.
21 Vgl. Teil III der genannten Studie (157–235). – An Verständnis für Chrysostomus fehlt es Frau Gross-Albenhausen (wie Anm. 6) in einem Maße; dass ich – ihr und – mir Zitate besser erspare, um das zu belegen. 22 Auch Claudia Tiersch in ihrem schönen Buch über „Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398–404)“ (Studien und Texte zu Antike und Christentum 6, Tübingen 2000) folgt i. w. Liebeschuetzens Spuren, indem sie den Ursachen nachfragt, die zum Sturz des J.Chr. – wie sie findet, eines der begabtesten Prediger und Bischöfe im Römischen Reich – nachfragt und zu diesem Behufe die Amtsführung des Bischofs in Wechselwirkung mit städtischen, höfischen und kirchlichen Strukturen Konstantinopels untersucht und sein Verhältnis zu verschiedenen sozialen Gruppen bestimmt. Bei so viel Verständnis für die Opposition gegen Chr. ist man freilich nicht darauf gefasst, dass sie von der „Eichensynode“, auf der die Gegner ihren ersten Triumph feiern konnten, im Grunde das vertraute, negative Bild („offenkundige Farce“ [328]) zeichnet. Sehr zweifelhaft ist mir auch ihre (gleichfalls nicht mehr von Liebeschuetz voll geteilte) Einschätzung, dass Chr. gescheitert und seine nach dem Tode betriebene Rehabilitation nur ein Pyrrhussieg gewesen sei (415–423). Es blieb auch in Byzanz von der παρρησία des „Goldmundes“ mehr lebendig, als es dem landläufigen westlichen Byzanzbild entspricht, an dem auch Heinrich Gelzer, der Gewährsmann von Frau Tiersch (423 schließt sie mit einem G.-Zitat), voll partizipierte; s. zur Begründung meine oben (748, mit Anm. 7), zitierte Dokumentation (Teile E und F).
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Chrysostomus und das Römische Reich Das Thema „Chrysostomus und das Imperium Romanum“ ist in der einschlägigen neueren und neuesten Literatur meist nur gestreift worden;23 thematisiert hat es neuerdings einzig ein junger griechischer [757] Autor, Konstantinos (Kostas) A. Bosinis, in seiner Dissertation: „Johannes Chrysostomos über das Römische Reich. Studie zum politischen Denken der Alten Kirche“ (in neugriech. Sprache24). Der Autor hat, wie er nicht verschweigt, einige Zeit mit Nutzen in Heidelberg studiert (vgl. das Vorwort); aber eingereicht und angenommen wurde die Arbeit in Saloniki, betreut von Prof. N. Matsoukas, der zur Buchveröffentlichung (Athen 2003) auch ein recht begeistertes Vorwort beisteuerte. Das Buch besteht aus drei Teilen (der letzte enthält die üblichen Register und eine ausführliche Bibliographie; wie sich zeigt, hat der Autor die reichlich angeführte Literatur rezipiert und weiß sich in der Diskussion mit ihr sicher zu bewegen, ebenso frei von Selbstüberschätzung wie Furcht vor großen Namen. Teil I ist überschrieben „Johannes Chrysostomus über das Imperium Romanum“ und enthält außer einer Einleitung und einem Schlußwort vier Kapitel: I. Das Vakuum (Τὸ Κενό [dazu sogleich]); II. die synchronistische Parallelität (gemeint sind die vielbesprochenen Synchronismen zwischen Augustus und Jesus von Nazareth, Pax Augusta und Pax Christi [berühmtester Synchronismus: Lk 2,1: ‚Es begab sich aber zu der Zeit (nämlich der Christgeburt), dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …‘]); III. Ὁ Κατέχων 2 Thess 2,6 f.); IV. ROMA AETERNA. Teil II zeichnet die „Einflüsse“ nach, die auf den Autor, Johannes Chrysostomus, eingewirkt haben, und bespricht, nach Einführung wiederum durch eine (diesmal kurze) Einleitung und das Ganze zusammenfassend in einem langen, gedanken‑ und ertragreichen Schlusswort, in einem I. Kapitel die Beziehung zwischen „Johannes Chrysostomus und Demosthenes“, stellt im II. einen „Vergleich mit dem achten Buch der Politeia“ Platons an und weist im III. „gemeinsame Züge“ zwischen Chr. und der „zweiten Sophistik“ nach unter der Philostrat entlehnten Überschrift: „ein Widerhall des Demosthenes und Platons“ (Δημοσθένους ἤχω καὶ Πλάτωνος).25 Um Ihnen einen etwas deutlicheren Eindruck von der Qualität und Zugehensweise dieser Arbeit zu geben, lese ich ein Stück aus der Einleitung, und zwar den Schlussabschnitt derselben (27–29): „Johannes vermittelt manchmal dem modernen Leser den Eindruck, er lebe immer noch in einer griechischen autonomen Stadt, die sich mit den Problemen ihres öffentlichen Lebens auf 23 Auch
in dem grundlegenden Artikel von Hans Armin Gärtner, Imperium Romanum, in: RAC 17 (1996), 1142–1198 (hier: 1187), spielt es eine völlig periphere Rolle. 24 Eine deutsche Übersetzung wird demnächst in der Reihe „Texts and Studies in the History of Theology“, edition cicero, Mandelbachtal-Cambridge, erscheinen. 25 Von Philostrat in seinen Vitae Sophistarum (I,7 p. 16 LCC) mit Blick auf die Rhetorik des Dio Chrysostomos gebraucht.
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eine introvertierte Weise beschäftigt. Der βασιλεύς präsidiert ihrem Zirkus, schmückt mit seinen goldenen Statuen ihren Marktplatz, treibt die Steuern ein oder führt gegen die Barbaren an den [758] Grenzen Krieg. Ansonsten aber bleibt er unbeteiligt an ihrem Gemeinschaftsleben. Selbst wenn man in ihm die Personifizierung der römischen Herrschaft sehen wollte, würde man nicht so leicht zu sicheren Ergebnissen gelangen. Die Verantwortung für die Regierung und die rechte Ordnung der Stadt tragen hauptsächlich ihre Bürger selbst, welche der oben genannten Gruppen [gemeint: „Reiche“ oder „Arme“, „Herrschende“ oder „Untertanen“, „Freie“ oder „Sklaven“, Männer oder Frauen] sie auch immer angehören mögen. Ihre Moral, ihr Umgang miteinander, ihre Alltagsgewohnheiten, auch ihre Einstellung zur materiellen Welt, mit einem Wort ihr Lebensstil, stellen das Fundament des institutionellen Überbaus der Stadt dar. Diese Begriffe stehen im Focus der Rhetorik des Johannes, wobei sie andere in den Hintergrund drängen, die wir heutzutage – vielleicht fälschlicherweise – für exklusiv politisch halten. Der Rahmen aber, in dem sich die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen in ein wohlgeordnetes soziales Leben fügen, ist immer die πόλις. Es ist an dieser Stelle zu früh, zu einem Schluß zu kommen; aber ich kann nicht umhin zu sagen, was mir auf der Zunge liegt. Das Imperium Romanum charakterisiert das politische Denken des Johannes Chrysostomus durch seine massive Abwesenheit“.26 Und genau da setzt das I. Kapitel des Buches (mit der – zunächst – befremdlichen Überschrift: „Das Vakuum“) ein (31–46) und versucht, „die Gründe“ zu ermitteln, „die möglicherweise dieses Vakuum in der Rhetorik des Johannes erklären“ (31). Der Hauptgrund ist für ihn die „klassische Tradition, die in der Theologie des Kirchenvaters aufgegriffen wird“; sie aber „entstammt … zum größten Teil dem freien Stadtstaat und beschreibt seine Probleme, seine Ideale und sein Leben. Die zentrale politische Kategorie dieser Tradition ist nicht das Kaiserreich, ein Begriff, der“ auch unserem Autor „völlig unbekannt ist, sondern die πόλις. Der βασιλεύς, insofern er positiv dargestellt wird, ergänzt und erweitert diese Kategorie; er hebt sie aber keineswegs auf “ (42 f.). Der Hauptvorzug dieser Arbeit besteht in meinen Augen in dem (erfolgreichen) Bemühen um eine integrale, nicht sektorale Sicht. Nicht ein Sektor „Imperium Romanum“ oder „Kaiser“ wird mittels der entsprechenden Lemmata (und des TLG) isoliert und für sich studiert, sondern ein Gesamtverständnis wird angestrebt, in das sich dann auch die Erörterung von Einzelfragen einordnen läßt. So geht der Autor vor, wenn [759] er die genannten Einzeltopoi συγχρονιστικὴ παραλληλία, κατέχων und Roma aeterna bespricht. Und alles bekommt sein typisch chrysostomisches Profil. 26 Bosinis stützt sich in diesem Abschnitt auf Klassikeraussagen aus Aristoteles (Pol IV, 11,1295 a 40); Plato (Resp VIII, 544DE); Isokrates (or VII, 14) und Libanius (or XVIII, 147) und verweist auf Erkenntnisse in Francis Dvorniks „Early Christian and Byzantine Political Philosophy“ (II, 692 ff.), die den seinen entsprechen.
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Es wäre nicht schlecht gewesen, er hätte an irgendeiner Stelle auch im Zusammenhang die Passagen besprochen, in denen sich in gewisser Weise des Chrysostomus Anschauungen vom Verhältnis „Kirche und Kaiser“, „Kaiser und Kirche“ verdichten, und sich mit anderen Interpretationen auseinandergesetzt, was beides allenfalls andeutungsweise geschieht27. Zwei Ergänzungen wären zudem m. E. vor allem wünschenswert. Zum einen fände ich es wichtig, die Anregungen thematisch aufzunehmen, die Francis Dvornik in seiner großen, zweibändigen Synthese über „Die frühchristliche und byzantinische politische Philosophie. Ihre Ursprünge und ihr(en) Hintergrund“ (Washington /DC 1966, Bd. II, Kap. X und XI) gegeben hat. Im ersten dieser beiden Kapitel zeichnet er die Entwicklung eines „christlichen Hellenismus“ (im Sinne der Verchristlichung der hellenistischen Herrscheridee) nach, im zweiten die Entwicklung der politischen Spekulation von Konstantin bis Justinian, einsetzend mit den „reaktionären“ politischen Ideen Julians Apostata (659 ff.), passend zu des Kaisers oft beobachteter „reaktionärer Politik in Sachen Religion“. D. vermutet, seine (Julians) klassische Bildung „und vielleicht auch die Tatsache, dass sich Christen“ wie Euseb von Caesarea „so rückhaltlos dem Hellenismus“ (sc. dem hellenistischen Herrscherideal) „zugekehrt hatten, mögen ihn ermutigt haben, dem politischen Hellenismus durch Rückkehr zu den altrömischen Ideen über den Ursprung politischer Gewalt und die Unterwerfung aller, einschließlich des princeps, unter das Gesetz und die Funktionen des Senats zu widerstreben“ (660). Diese Wende blieb nach D. nicht Episode; Parallelen finden sich vielmehr in politisch relevanten Texten des Philosophen und Rhetors Themistius (666 ff.), des Libanius (669–672), wohl auch bei Ambrosius (672–683) und Synesius von Cyrene (699–705), die beide – nach D. – „hellenistische“ und „römische“ Ideen miteinander zu verbinden wußten (704). Es hat demnach, kurz gesagt, so etwas wie eine – wenn auch vorübergehende – Renaissance römischen Republikanismus gegeben. Es wäre wichtig, durch genaue Textvergleiche festzustellen, inwieweit auch Chrysostomus von dieser „reaktionären“ [760] Wende beeinflußt wurde (namentlich via Libanius). Ich halte es für extrem wahrscheinlich. Die zweite wichtige Ergänzung wäre: durch konsequenten Vergleich, z. B. mit Ambrosius, das Profil des Chrysostomus und seiner „politischen Philosophie“ oder „Theologie“ (wie man will) noch zu verschärfen.28 Es würde beispielsweise rasch zutage treten, dass der vielzitierte Satz des Ambrosius: „Der Kaiser ist ein 27 Vgl. 31–36; ansonsten muss man sich die Dinge mittels des Stellen‑ und des Personenregisters zusammensuchen. Wie straff sich das Wichtigste sagen lässt und dazu noch (weitgehend) korrekt, zeigt jetzt Stephan Ch. Kessler, Kirche und Staat in Leben und Werk des Johannes Chrysostomus: Ein Vater der Kirche im Spannungsfeld zwischen ekklesialer und politischer Macht, in: Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit (Festgabe f. H. J. Sieben zum 70. Geburtstag), hg. v. Johannes Arnold u. a., Paderborn usw. 2004, 257–282; hier: 268–274. 28 Dazu bietet jetzt meine oben (Anm. 7) angeführte Dokumentation einiges Material (unter Nr. 41 und 42).
Stellung zum Römischen Reich
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Sohn“, nicht ein Herr „der Kirche“ (imperator ecclesiae filius), sein Platz ist „innerhalb der Kirche“, „nicht ihr übergeordnet“ (intra ecclesiam, non supra ecclesi‑ am est).29 nichts weniger als eine prinzipielle Unterordnung des Herrscher‑ unter das Bischofsamt intendiert, sondern nur die unterschiedlichen Kompetenzen in kirchlichen Angelegenheiten im Blick hat und darum auch kein „abendländisches“ Spezifikum formuliert; J. Chrysostomus denkt und formuliert in dieser Hinsicht keinen Deut anders,30 und er steht damit im Osten wahrlich nicht allein – diejenigen, die seine Absetzung(en) betrieben, eingeschlossen. Es würden sich auch die Zweifel verstärken, ob des Ambrosius Intentionen mit „Kirchenfreiheit“ wirklich besonders glücklich wiedergegeben werden, da die Kirche, die er eindrucks‑ und wirkungsvoll repräsentiert, wohl auf eigene Unabhängigkeit (in der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten) pocht, aber diese Freiheit anderen (Heiden oder Juden) zu gewähren nicht gewillt ist: die Kontroversen um die Aufstellung des Victoria-Altares im Senat31 und um den Synagogenbrand in Callinicum32 machen das in bedrückender Weise deutlich. Hier dürften sich die Positionen des Mailänder und des Konstantinopeler Bischofs mindestens in wichtigen Nuancen unterscheiden. Klar ist jedenfalls schon jetzt, meine ich, ganz im Einklang auch mit Kostas Bosinis, dass Chrysostomus „caesaropapistische“ Ideen, der Gedanke an ein [761] „Priesterkönigtum“ des Herrschers33, an ein „von den Gesetzen Entbunden‑ und ihnen Überlegensein“ (der Herrscher als legibus solutus, weil lex animata, νόμος ἔμψυχος)34 völlig ferngelegen haben. Ich sehe aber auch nicht, dass derartige Ideen bei der Opposition gegen Chrysostomus irgendeine Rolle gespielt hätten, geschweige denn, eine erhebliche. 29 C.
Auxentium = ep. 75 a (21 a [386]), 36 (CSEL 82,106 Zelzer).
30 Vgl. nur de statuis 3,2 (PG 49,50); in illud: Vidi Dominum 5,1 (SCh 277,182, zit. bei Kessler
(wie Anm. 27), 270. 31 Vgl. dazu jetzt Gross-Albenhausen (wie Anm. 6), 63–78 (Literatur!). 32 Vgl. dazu ebd., 99–112 (Literatur!). Wenn die Verf.in in ihrem Forschungsüberblick (25) bemerkt, aus der Literatur den „Eindruck“ gewonnen zu haben, dass „die Äußerungen des Ambrosius“ im Zusammenhang der „Affäre von Callinicum“ „als peinliche Entgleisung betrachtet werden, die man am besten totschweigen sollte, obwohl oder gerade weil er hier seine Ansichten über die Stellung der Religion und der Kirche so deutlich ausgesprochen hat wie sonst fast nirgends“, so wäre sie leicht eines Besseren zu belehren. Ich begnüge mich mit zwei Literaturhinweisen: Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, Neukirchen 1977 (72002), 187; Carl Andresen/A. M. R., Geschichte des Christentums I/1, Stuttgart 1993, 78. 33 Es spricht für eher lückenhafte Bibelkenntnis, wenn Gross-Albenhausen auf die Idee kommt, die in der Gedenkrede auf Theodosius I. zu dessen 4. Todestag begegnende Formulierung, der (verstorbene) Kaiser „habe Christus angezogen“, lasse „sogar darauf schließen, dass der Bischof (sc. Chr.) ihm in gewisser Weise priesterliche Qualitäten zugebilligt hat“ (wie Anm. 6,184). Heißt es doch in Gal 3,26.27: „… ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“. Und Chr. kannte natürlich seinen Paulus aus dem Effeff! 34 Ohne jeden Textanhalt behauptet dieselbe Verf.in mehrfach das Gegenteil (wie Anm. 6,202 u. ö.).
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Abstract The main concern of this paper is a strictly historical one: to find out, if it is correct to maintain (or to presuppose, silently) that there is a fundamental dif‑ ference between East and West as to the basic understanding of “Church and State” or “Religion and Politics”. About sixty years ago the Dutch (reformed) theologian Hendrik Berkhof and the German Jesuit Hugo Rahner already had a similar “structural difference” in mind, when writing their books on “Kirche und Kaiser” (published Amsterdam 1946 and in a German version Zurich 1947) and on “Abendländische Kirchenfreiheit. Dokumente über Kirche und Staat aus acht Jahrhunderten” (first published Einsiedeln/ Cologne 1943 and in a largely revised and expanded version Munich 1961) respectively. Small wonder that these two books came, in substance, very close to one another, because both had the same enemy in mind: the German and finally European National Socialism, so that H. Rahner’s collection could largely be read and used as a source book for H. Berkhof ’s analysis35. Consulting history or, more exactly, the tradition of the (allegedly) “undivided” church of the first millennium, if and how far it reveals traces of the maintained “structural difference”, this paper calls to witness the great church father John Chrysostom on the one hand, his western contemporary Ambrose of Milan on the other. We find interesting nuances, different accentuations, but no signs of a fundamental difference between east and west as to the basic understanding of ‘church and state’ or ‘religion and politics’36, when discussing (1) the ‘failure’ of St. John Chrysostom and (2) his attitude towards the Roman empire.
35 As to (nearly) simultaneous and (largely) analogous debates in France see the interesting remarks in Gilbert Dagron’s stimulating book, Empereur et prêtre. Étude sur le „césaropapisme“ byzantin, Paris 1996, chapt. IX („Le ‘césaropapisme’ et la théorie des deux pouvoirs“), esp. 298–303. 36 Cf. Adolf Martin Ritter, Augustine and Photius on religion and politics, to be published in the acts of the last ‘International Conference on Patristic Studies’ (Oxford 18–23 August 2003), with a critique of the theory of Hendrik Berkhof, Kirche und Kaiser, and Hugo Rahner, Kirche und Staat, adopted i. a. also by Wiliam H. C. Frend, Church and state – perspectives and problems in the patristic era, in: Elizabeth A. Livingstone (ed.), Studia Patristica 18, Oxford and New York (Pergamon Press), 1982, 38–54, esp. 38 s.47.49.
XII.
Das Chrysostomosbild in der Tradition des deutschen Luthertums bis Johann Albrecht Bengel (gest. 1752)* Vorbemerkungen Im Folgenden möchte ich mit zwei Vorurteilen aufräumen: das eine Vorurteil ist zwar in der Humanismusforschung längst überwunden, aber deswegen noch lange nicht aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden; es besagt, dass der Humanismus ein Aufstand gegen die christliche Vergangenheit Europas sei, unter bewusstem Rückgriff auf die vorchristliche Antike. Das zweite Vorurteil, mit dem ich mich etwas ausgiebiger auseinanderzusetzen beabsichtige, lautet: Martin Luthers wohlbekannte, in seinen „Tischreden“ mehrfach bezeugte Abneigung gegen Johannes Chrysostomos habe ihre „Wirkung getan“ und dafür gesorgt, dass dieser „vor allem im Bereich der lutherischen Reformation … lange Zeit kaum Gnade“ fand; daran schloss sich die Vermutung an, es sei womöglich „lohnend, den Synergismus“, an dem die Lutheraner vor allem Anstoß nahmen, einmal „auch unter einer anderen Frage als der seiner Relevanz für die Frömmigkeitsgeschichte zu untersuchen“. Zu denken sei „an seine Bedeutung für die Frage nach den Auswirkungen des Glaubens auf Gesellschaft und Politik“; es sei „sicher kein Zufall, dass die Reformierten“ Chrysostomos „im Gegensatz zu Luther hoch schätzten“.1 Die These vom wurzelhaft antichristlichen Charakter des Humanismus ist, wenn ich recht sehe, vom Linkshegelianismus und Neuhumanismus des 19. Jh. aufgebracht worden. Ich brauchte über sie an dieser Stelle kein Wort zu verlieren, ist sie doch in der seriösen kirchen‑ und erst recht philosophiegeschichtlichen Forschung (O. Kristeller) und der Romanistik (A. Buck) längst preisgegeben worden. Trotzdem muss man sie, und darum komme ich kurz auf sie zu sprechen, ernstnehmen, da Technokraten, Politiker und Journalisten (innerhalb und * Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrages: Das Chrysostomosbild im Pietismus am Beispiel Johann Albrecht Bengels, in: Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters, hg. v. Martin Wallraff/Rudolf Brändle (AKG 105), Berlin usw. 2008, 347–371. 1 Rudolf Brändle, Synergismus als Phänomen der Frömmigkeitsgeschichte, dargestellt an den Predigten des Johannes Chrysostomus, in: Gnadenwahl und Entscheidungsfreiheit in der Theologie der Alten Kirche, hg. v. Fairy von Lilienfeld/Ekkehard Mühlenberg (Oikonomia Bd. 9), Erlangen 1980, 69.
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außerhalb von Talkshows) noch immer gern mit ihr hausieren gehen; von den Propagandisten der „Internationalen Humanistischen und Ethischen Union“ und ihres deutschen Ablegers, des „Humanistischen Verbandes Deutschlands“, einmal abgesehen. Man kann ihr gar nicht entschieden genug widersprechen, weil ausbleibender Widerspruch nur dazu ermutigen könnte, weiterhin ungescheut das humanistische gegen das christliche Erbe Europas auszuspielen; die Debatte um die europäische Verfassung und den Gottesbezug in ihrer Präambel hat es zur Genüge gezeigt. In Wahrheit blieb schon der italienische Humanismus ganz überwiegend – allerdings weniger der Kirche als – dem Christentum zugewandt. Erst recht gilt dies von dem des Nordens.2 An dessen Entstehung hatte die devotio moderna einen beträchtlichen Anteil. Und so spielte in ihm der Wunsch nach schlichter Religiosität und auch Kirchlichkeit und ein Bedürfnis nach praktischer Anwendung der neuentdeckten Wahrheiten auch zur Reform der Kirche eine prominente Rolle. Man denke nur an den „Fürsten“ der nordischen Humanisten, Desiderius Erasmus, und seine großen Verdienste um die neutestamentliche und patristische Philologie (vor allem in puncto Textausgaben – ich komme gleich noch darauf zurück); und das alles keineswegs als Selbstzweck, sondern im Dienst der erhofften restitutio christianismi!3 Ich sehe mit gewisser Sorge, dass bei orthodoxen Theologinnen und Theologen (natürlich nicht bei allen) – in letzter Zeit sogar, wenn ich mich nicht irre, zunehmend – das veraltete Humanismusverständnis fröhliche Urständ feiert und dort zur Abgrenzung gegen – von Humanismus und Aufklärung geprägte oder, richtiger, „verderbte“ – „westliche“ (zumal protestantische) Theologie als auch gegen bestimmte „humanistische“ Tendenzen in der eigenen Überlieferung dient (schließlich kommen ja wichtigste Anreger der italienischen Renaissance aus Byzanz [Gemisthos Plethon z. B.]!).4 Bereits Gregor Palamas habe sich, so ist zu hören oder zu lesen, mit solchen Tendenzen herumschlagen müssen; doch, 2 Vgl. bereits die Heidelberger Universitätsrede des dem deutschen Frühhumanismus am Oberrhein eng verbundenen Jakob Wimpfeling, gehalten an der Pfingstvigil (17. Mai) 1483 vor der Congregatio universitatis Heidelbergensis und dem pfingstlichen Thema de spiritu sancto gewidmet. Eine Reproduktion der Erstausgabe von 1507 mit Übersetzung, Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhard Düchting erschien im Mattes Verlag Heidelberg 2007. 3 Vgl. zum Problem der Kirchenväterrezeption in der frühen Neuzeit auch Leif Grane/Alfred Schindler/Markus Wriedt (Hg.), Auctoritas Patrum. Zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert (Contributions on the reception of the Church Fathers in the 15 th and 16 th century), Mainz 1993 (VIEG Beih. 37); AUCTORITAS PATRUM II. Neue Beiträge zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert (New contributions on the reception of the Church Fathers in the 15 th and 16 th centuries), Mainz 1998 (VIEG Beig. 44); Günther Frank/ Thomas Leimkauf/ Markus Wriedt (Hg.), Die Patristik in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2005 (MSB 10). 4 Vgl. etwa Susanne Hausammann, Wege und Irrwege zur kirchlichen Einheit im Licht der orthodoxen Tradition, Göttingen 2005, bes. die beiden Kapitel „Humanismus in Byzanz – Warum der Humanismus im orthodoxen Osten nicht auf Dauer Fuß fassen konnte“ (11–21) und „Der humanistische Skeptizismus und seine Überwindung durch den Hesychasmus“ (23–46).
Rezeption im Luthertum bis J. A. Bengel
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Gott sei Dank, sei der „humanistische Skeptizismus“ durch den Hesychasmus – hoffentlich für alle Zeit – überwunden worden. Solche Argumentationen arbeiten den Fundamentalisten in allen christlichen Konfessionen, aber auch, unbeabsichtigt natürlich, den Gegnern des Christentums in die Hände. Ich bemerke, überleitend, dass es sich von selbst versteht, wenn von Humanismus die Rede ist, auch der Kirchenväterrezeption im Humanismus zu gedenken; denn die Mehrzahl der uns bekannten Humanisten der frühen Neuzeit haben mit großen Hoffnungen gerade auch auf die christliche Antike zurückgeblickt und sich von dort wichtige Unterstützung beim Kampf gegen die spekulative Theologie der Scholastik erhofft; darum war es ihnen so wichtig, dass die Kirchenväter in ihrem eigenen Wort und nicht nur in den Zitaten bei Sammlern wie Petrus Lombardus (Dogmatik) und Gratian (Kirchenrecht) erkennbar würden. Dies am Beispiel des Johannes Chrysostomos zu verdeutlichen ist mir, wie man sofort erraten haben wird, durch den Umstand nahegelegt worden, dass 2007 die Weltchristenheit der 1600. Wiederkehr seines Todestages am 14. September 407 gedachte.
Das Chrysostomosbild im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts Ob man – in politicis et socio-oeconomicis – zurecht von einem „Gegensatz“ zwischen Reformierten und (ausgerechnet) Luther sprechen könne, will ich hier unerörtert lassen; ich habe da meine starken Zweifel,5 will sie aber im Augenblick für mich behalten und stattdessen – im Rahmen meiner begrenzten räumlichen Möglichkeiten – der Frage nachgehen, ob es zutreffe, dass vor allem „im Bereich der lutherischen Reformation“ – der auch von Erasmus hochgeschätzte – Johannes Chrysostomos „lange Zeit keine Gnade gefunden“ habe. Was schätzte Erasmus so sehr an dem „Goldmund“? Es ist für ihn bezeichnend, dass es ihm gerade dessen Kirchenreformschrift Περὶ ἱερωσύνης (De sacerdotio; am besten zu übersetzen mit „Über das Bischofsamt“), und nicht etwa, was man von einem Humanisten am ehesten erwarten sollte, die Schrift „Über Hoffart und Kindererziehung“ (De inani gloria et de educandis liberis), besonders angetan hatte und er sich darum beeilte, von ihr auf der Basis der besten ihm erreichbaren Handschriften eine kritische Textausgabe (erschienen Basel 1525) zu veranstalten. In der Widmung dieser an Willibald Pirkheimer heißt es u. a., Chrysostomos verstehe es „in ganz einzigartiger Weise, gebildete Frömmigkeit mit volkstümzur Begründung einerseits Adolf Martin Ritter, Zwinglis Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit im Lichte der patristischen und scholastischen Tradition“, in: Michael Wladika (Hg.), Gedachter Glaube (FS f. H. Hofmeister), Würzburg 2005, 111–119; andererseits vor allem Gerta Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen, München 1982; Theodor Strohm, Luthers Wirtschafts‑ und Sozialethik in: Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk M. Luthers von 1526–1546, I, Berlin 1983, 205–225. 5 Vgl.
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licher Eloquenz zu verbinden“ (unus omnium eruditam pietatem cum populari coniunxit eloquentia). Im einzelnen lobt er etwa in der Verteidigung seiner von Luther heftig attackierten Diatriba „Über den freien Willen“ des Chrysostomos Interpretation von Joh 6,44 („Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, der Vater ziehe ihn …“), die er so aufnimmt: Verum hoc nostrum non tollit arbitrium, sed divino egere auxilio ostendit, nec invitum, sed omni conatu contendentem veni‑ re („Das aber hebt unsere Entscheidungsfreiheit nicht auf, sondern zeigt an, dass es [das arbitrium] des göttlichen Beistandes bedürfe, aber man nicht gezwungen, sondern mit aller Kraft sich bemühend, [zum Vater] komme“).6 Und mehrfach führt er Chrysostomos unter den großen Vätern auf, welche den Scholastikern unbedingt vorzuziehen seien.7 Luthers Haltung zu Chrysostomos ist ebenso eindeutig, wenn auch derjenigen des Erasmus völlig konträr. Seinen Äußerungen in den „Tischreden“ zufolge kannte er aus eigener Lektüre lediglich die – schon in seiner eigenen Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 fast regelmäßig verglichenen – chrysostomischen Homilien über den Hebräerbrief, die ihn anscheinend bitter enttäuschten; denn der Autor „lest“ in seinen Augen „den text fallen“, d. h. er ist mit der schieren Texterklärung immer relativ rasch am Ende.8 Anders gesagt, enthalten seine Auslegungen eine eloquentia sine dialectica, verba sine re und schweifen ständig a statu rei in aliam materiam ab.9 Als Maßstab dient ihm offensichtlich, wie fast immer, vor allem der articulus remissionis peccatorum, jener „Hauptartikel“ also, in dem für Luther „die Erkenntnis Christi“ beschlossen liegt, „die allein zu trösten und aufzurichten vermag.“10 Weil er ihn hier versagen sieht, hält er ihn für einen „Wescher“ (d. h. „Schwätzer“).11 Möglicherweise spielte bei Luthers Reserve gegenüber Chrysostomus auch eine Rolle, dass sich Erasmus bei seiner Verteidigung des liberum arbitrium mit Vorliebe gerade auf ihn als Autorität berief.12 Melanchthon dagegen scheint empfunden zu haben, dass dieser Gegensatz zu Erasmus Luthers Urteilskraft eintrübe und ihn übersehen lasse, dass Chrysostomos eine viel stärkere Affinität zur paulinischen Gnadenlehre aufweise,13 und ließ sich je länger, desto weniger von Luthers Abneigung beeinflussen. Er rechnete Chrysostomus zwar nicht unter die größten Väter der Alten Kirche;14 wohl aber führte er ihn wiederholt mit Zuopera omnia, ed. J. Clericus, t. X, p. 1511. ebd. T. V, pp. 82 f. 121. 133. 8 WATR I, 85. 9 WATR IV, 49 f. 10 WATR I, 106 (Nr. 252). 11 WATR I, 106. 12 WATR II, 515. 13 Dieselbe Einschätzung findet sich noch in Ritter, Charisma, bes. 42–53, eine abweichende etwa bei Brändle (wie Anm. 1), 69–89.113–121. 14 Vgl. Postilla Melanchthoniana (CR 25,320): … errata non pauca sunt in Ambrosio et Augus‑ tino, multo plura in Chrysostomo; zit. bei Eginhard P. Meijering, Melanchthon and Patristic 6 Erasmi 7 Vgl.
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stimmung an, nicht nur, aber besonders – wieder und wieder – die Phrase: ὁ δὲ ἕλκων (sc. θεὸς) τὸν βουλόμενον ἕλκει („Wenn Gott ‚zieht‘ [vgl. Joh. 6,44], dann zieht er den, der will“).15 Melanchthons Kirchenväterrezeption ist in zwei gehaltvollen Monographien, von P. Fraenkel und von E. P. Meijering16, gründlich untersucht worden. Infolge dessen muss ich mich dabei nicht länger aufhalten. Es wird einem, wenn man sich in sein Schrifttum vertieft, rasch klar, dass diejenigen, die zu Melanchthon als Lehrer aufschauten und von ihm zu lernen bereit waren, darin viel Anregung auch für das Studium des Chrysostomus fanden. Ich eile deshalb weiter und komme auf eine Übersicht über „Rechtfertigung in Kirchenväter-Anthologien des 16. Jahrhunderts“17 zu sprechen. Darin gelangt der Autor, Anthony N. S. Lane, zu dem Ergebnis, dass in den untersuchten 23 Anthologien lutherischer, reformierter und altgläubig-katholischer Provenienz, veröffentlicht in der Zeit zwischen 1527 und 1565 – wie kaum anders zu erwarten – Augustin mit weitem Abstand führe; an zweiter Stelle komme Ambrosius zu stehen und an dritter bereits Chrysostomos. Ziehe man jedoch die Auszüge aus dem Ambrosiaster oder der Schrift De vocatione gentium ab, die mehr als die Hälfte der angeblichen „Ambrosius“-Zitate ausmachten, so falle Ambrosius sogar auf Platz 4 zurück und Chrysostomos rücke auf Platz 2 vor.18 Dieser hohe Stellenwert wird dem Werk des östlichen Kirchenvaters gerade auch in den Anthologien der beiden prominenten Lutheraner Antonius Corvinus (1501–1553) und Andreas Musculus (1514–1581) zuerkannt. Ersterer veröffentlichte 1539 eine Schrift unter dem Titel Augustini et Chrysostomi theologia in communes locos digesta, die teilweise zehn Jahre später, unter geändertem Titel, eine Neuauflage erlebte. Anders als die darin enthaltenen, fast doppelt so zahlreichen, Augustinzitate begegnen, mit einer einzigen Ausnahme, die 49 (!) Auszüge aus Chrysostomos in keiner älteren unter den von Lane untersuchten Anthologien; sie basieren also, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf eigener Quellenlektüre des Corvinus. Musculus hat im Laufe seines Lebens drei oder, richtiger, vier Thought. The doctrines of Christ and Grace, the Trinity and the Creation, Leiden 1983 (Studies in the History of Christian Thought 32), 45. 15 S. Chrysostomus, De ferend reprehens (PG 51,143); vgl. In Ioan h 10 (PG 59,73); h 45 (254); h 46 (258); h 51 (283). 16 Pierre Fraenkel, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philipp Melanchthon, Genf 1961; Meijering (wie Anm. 14); vgl. dazu jetzt den Beitrag von Christoph Burger, Gegen Origenes und Hieronymus für Augustin: Philipp Melanchthons Auseinandersetzung mit Erasmus über die Kirchenväter, in: Günther Frank / Thomas Leimkauf / Markus Wriedt (Hg.), Die Patristik in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2005 (MSB 10), 13–26. 17 Anthony N. S. Lane, Justification in sixteenth-century Patristic anthologies, in: Auctoritas Patrum. (wie Anm. 3), Mainz 1993, 69–95; vgl. dazu auch seinen Beitrag zum Band „Die Patristik in der frühen Neuzeit“ (wie Anm. 16) unter dem Titel: „Justification by Faith in Sixteenth-Century Patrististic Anthologies: The Claims that were Made“ (169–189). 18 Ebd. (Lane a) 85; vgl. auch die Tabelle ebd. 95.
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veritable Anthologien in lateinischer und deutscher Sprache vorgelegt; es begann 1552 mit einem Enchiridion sententiarum (mit Vätersentenzen hauptsächlich zur Rechtfertigungslehre und zu verwandten loci); drei Jahre später brachte er (zum selben Themenkreis) einen noch umfangreicheren Catechismus (Untertitel: „Glaub, Leer und Bekenntnis der heiligen alten Leerer“) heraus, von dem in den folgenden Jahren noch mehrere Ausgaben erschienen; 1556 veröffentlichte Musculus eine Catechesis sanctorum patrum ac doctorum catholicae et ortho‑ doxae (!) ecclesiae, die er selbst als lateinische Version des Catechismus ausgab, die aber schon ihres erheblich reicheren Inhalts wegen als Anthologie eigenen Rechts betrachtet und gezählt werden muss; fünf Jahre danach endlich (1563) erschienen, als Krönung sozusagen, seine Loci communes theologici ex scriptura sacra et ex orthodoxis ecclesiae doctoribus in zwei voluminösen Bänden.19 In einem Andachtsbuch desselben Autors, dem „Betbu(e)chelin“ von 1553, entdeckte R. Kolb unter den 51 Kirchenväterzitaten zum Thema „Gebet“ 18 Zitate aus Chrysostomos und acht aus Augustin.20 Dass von einer Chrysostomosvergessenheit oder auch nur ‑verdrossenheit im Luthertum, jedenfalls in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nicht wohl gesprochen werden kann, belegt außer dem umfangreichen und vielseitigen Schrifttum des A. Musculus das Konkordienwerk, zumal die Formula Concordiae von 1577, die den innerlutherischen Lehrstreitigkeiten ein Ende setzen sollte. An ihr waren außer Musculus der Melanchthonschüler M. Chemnitz, der zuvor (1554) – seines Lehrers Gedanken weitergebend – eine Oratio de lectione patrum sive doctorum ecclesiasticorum verfasst hatte,21 und J. Andreae beteiligt, die auch für den als Anhang zur Konkordienformel gedachten Catalogus Testimoniorum verantwortlich zeichneten. Ganz im Einklang mit dem bisher Dargestellten wird darin Chrysostomus zu den excellentes doctores ex erudita antiquitate, den „herausragenden Lehrern aus der an Bildung so reichen Antike“, gerechnet.22 In dem drei Jahre später (1580) angenommenen Konkordienbuch (Liber Concordiae) als der Zusammenfassung sämtlicher in Geltung stehender lutherischer Bekenntnisschriften23 gibt es 18 Chrysostomoszitate bzw. ‑verweise, aus elf verschiedenen Schriften, darunter allein fünf Anführungen aus den (von 19 Die einzelnen Schriften und ihr Verhältnis zueinander und anderen Vorgängerschriften sind eingehend behandelt bei Lane (wie Anm. 17), die Werke des Musculus vor allem bei Robert Kolb, The Fathers in the Service of Lutheran Teaching. Andreas Musculus’ Use of Patristic Sources, in: Auctoritas Patrum II. (wie Anm. 3), Mainz 1998, 105–123. Dieser vermag auch zu zeigen, dass die Kirchenväterzeugnisse bei M. auch Eingang gefunden haben in Andachtsbücher für Gebet und Meditation. Unter diesen Testimonien rangieren Auszüge aus Chrysostomos mindestens an dritter, manchmal sogar an erster Stelle! 20 Kolb (wie vorige Anm.), 114. 21 Diese Rede ist später dem Fragment gebliebenen und erst posthum veröffentlichten dogmatischen Hauptwerk Chemnitzens, den Loci theologici, in drei Teilen hg. v. P. Leyser, (Frankfurt 1591/1592) 2. verbesserte Aufl. Wittenberg 1623, vorangestellt worden (I, 1–6). 22 FC VII, 37:BSLK 983,39 f. 23 Ich benutze es in der Jubiläumsausgabe von 1930 (BSLK), Göttingen 101986.
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Luther so gescholtenen) Hebräerbriefhomilien (!); hinzukommt ein weiteres Chrysostomoszitat aus dem Corpus iuris canonici (oder Decretum Gratiani). Chrysostomos steht damit unter den Kirchenvätern an dritter Stelle, nach Augustin und – diesmal – Kyrill von Alexandrien (was mit der besonderen Rolle zusammenhängt, die die Christologie in den zu schlichtenden innerlutherischen Streitigkeiten spielte). Im einzelnen glaubt man sich auf Chrysostomos berufen zu dürfen: a. für die Weise, wie bestimmte Missbräuche bei der Feier der Messe und der Übung der Beichte (confessio) abgestellt wurden;24 b. für das reformatorische Verständnis der Buße oder doch wenigstens wichtige Aspekte desselben,25 im Gegensatz zur „falschen Buße der Papisten“;26 c. für das rechte Verständnis von Mt 16,1827 und des hoc est corpus meum der Einsetzungsworte;28 d. für die Lehre von der man‑ ducatio indignorum;29 e. dafür, dass Christus „seine Majestät in der Zeit“ nach seiner angenommenen menschlichen Natur oder nach dem Fleisch empfangen habe,30 und endlich, f., dafür, dass der eine und ganze Christus, der Gottheit und der Menschheit nach, da zu finden sei, wohin uns Christus in und mit seinem Wort gewiesen.31 Der einzige Punkt, an dem ein Dissens zwischen der reformatorischen Lehre und der „der alten und neuen Kirchenlehrer“ (darunter Chrysostomos) – in relativ moderatem Ton übrigens – eingeräumt wird,32 betrifft das liberum arbitrium des Menschen, coram Deo versteht sich; denn coram hominibus bestritt es kein Mensch, Luther am wenigsten. An eben diesem Punkt war übrigens zuvor auch J. Calvin in seiner Institutio deutlich auf Distanz zu Chrysostomos gegangen.33
24 CA
XXIV. XXV (BSLK, 95. 99). XII (BSLK, 270). 26 AS (also ein Luthertext!), tertia pars (BSLK, 441). 27 Tratus de potestate Papae (BSLK, 480). 28 FC, SD VII (BSLK, 983). 29 Ebenda (BSLK, 994 f.) 30 Catalogus testimoniorum 2.3 (BSLK, 1111 f.1118 f.). 31 Ebenda 10 (BSLK, 1134). 32 FC, Epitome II = SD II (Vom freien Willen [BSLK, 780.907 f.]). Angeführt wird ein Satz – angeblich aus De laudibus s Pauli, hom 9 (die es nicht gibt); in Wirklichkeit stammt er – aus De ferendis reprehensionibus et de mutatione nominum, III (PG 51,143). Die kritisierten Wendungen lauten in lat. Übersetzung: Deus trahit, sed volentem trahit. Item: Hominis voluntas in conversione non est otiosa, sed agit aliquid. 33 Institutio II, 3,10 (CO III, München 1967, 285: Illud ergo toties a Chrysostomo repetitum repudiari necesse est). Wiederum geht es um das Quem trahit, volentem trahit (die Herausgeber geben als Beleg außer De fer reprehens, c 6 (ed. Paris 1834 ff., III, 155 = PG 51,143) In Ioh Hom 10,1 (VIII, 65 = PG 59,73) an. Für den unmittelbar vorher angeführten Lehr‑ und Glaubenssatz durch viele Jahrhunderte hindurch, dass Gott den Willen so bewege, dass es in unserer Entscheidung stünde, dem Gehorsam zu leisten oder aber zu verweigern, verweisen die Herausgeber auf In ep ad Hebr, c. 7, hom 12 (ed. Paris. XII, 177 f. = PG 63,95–102). 25 Apologie
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Ich muß jetzt aus Raumgründen die sog. „lutherische Orthodoxie“ des 17. Jahrhunderts weitgehend übergehen und mich auf den einen, allerdings, wie man sofort merkt, besonders ergiebigen Johann Gerhard beschränken. J. Gerhard (1582–1637) gilt wohl allgemein als gelehrtester und bekanntester Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Für unsere Fragestellung ist von besonderem Interesse, dass ihm u. a. die erste uns bekannte „Patrologie“ zu verdanken ist. Sie ist allerdings erst 1653 posthum aus dem Nachlaß von seinem Sohn, J. E. Gerhard, in Jena herausgegeben worden,34 macht einen etwas unfertigen Eindruck und beginnt, als ein Schriftstellerkatalog in chronologischer Ordnung angelegt und ohne eigene Einleitung geblieben, mit Hermas, dem Verfasser des „Hirten“ (wohl aus keinem anderen Grund als wegen des Vorkommens dieses Namens in Röm 16,14), und zwar nach den – im folgenden meist wiederholten – Rubriken: „Leben“ (Vita), „Schriften“ (Scripta), „Lobende Erwähnungen“ (Elogia) und „Irriges“ (Errata). Über Chrysostomos handeln die Seiten 340–356. Nach einer kurzen (aber wohlinformierten und ‑informierenden) Vita folgen eine ausführliche Beschreibung seines literarischen oeuvre mit Inhaltsangabe der 10 bändigen Werkausgabe Venedig 1574 (Band für Band), einer langen Diskussion über die Echtheit des Opus imperfectum in Matthaeum und andere Echtheitsfragen, dann die Elogia, von ‚Gregor von Nyssa‘ (sicher unecht) angefangen über Isidor von Pelusium, Kaiser Leon von Konstantinopel, bis zu Petrus Canisius, Erasmus (! [ohne jede Andeutung von Kritik mitgeteilt]), M. Chemnitz (und seiner schon erwähnten Oratio de lectione Patrum), abschließend die Errata et incommode dicta; hier werden Stimmen aus der Rezeptionsgeschichte bis in Gerhards Gegenwart hinein (Chemnitz, Bellarmin, Suarez, Pereira) versammelt, die (in schöner Einmütigkeit) zumeist rhetorische Übertreibungen (excessus) ankreiden und damit zugleich erklären und entschuldigen, wenn ihnen etwas bei Chrysostomos nicht passt. All das ist nicht übermäßig erheblich und ergiebig, obwohl es der Ruhm Gerhards bleibt, dass er, ein Lutheraner, die erste uns bekannte Patrologia (und zwar unter eben diesem Namen!) verfasst hat. – Ich sollte noch erwähnen, dass dem allen ein Anhang beigefügt ist, fast so umfangreich wie die „Patrologie“ selbst, in dem „verschiedene Urteile über Scholastiker und Verfasser von Kirchengeschichten, alsdann auch einige andere Neuere“ zusammengestellt sind. Es schlagen sich darin ähnliche Vorlieben nieder, wie sie auch in anderen Publikationen Gerhards sichtbar werden. Was fängt nun Gerhard mit seinem ausgebreiteten historischen Wissen an? Diese Frage richten wir an zwei im Charakter ganz unterschiedliche Werke: zum einen an die – jetzt mustergültig von J. A. Steiger in zwei Bänden heraus34 Unter dem Titel: Patrologia sive de Primitivae Ecclesiae Christianae Doctorum vita ac lucubrationibus opusculum posthumum. Accesserunt de Scholasticis ac Historiae Ecclesiasticae Scriptoribus tum (oder cum) aliis quoque recentioribus nonnullis judicia varia. Das Werk ist bereits zwanzig Jahre später in Gera in 3. Aufl. erschienen, was beweist, welches Interesse daran bestand.
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gegebenen – Meditationes Sacrae (1606/7);35 zum andern an die Loci theologici (Jena 1610–1622). Zum erstgenannten Werk bemerkt der moderne Herausgeber in seinem „Nachwort“, und der Benutzer seiner schönen Ausgabe kann es mühelos nachvollziehen: „Die wichtigsten Hauptquellen für Gerhards Hinwendung zur meditativen Frömmigkeit sind altkirchlicher und v. a. mittelalterlicher Provenienz …: Am häufigsten bezieht sich Gerhard auf (Ps‑)Bernhard (104 Belege), wobei die meisten Zitate aus den ‚Sermones super Cantica‘ stammen …, die die mittelalterliche Jesus-Minne nachhaltig geprägt haben … An zweiter Stelle … steht (Ps‑) Augustin (81) … Mit einigem Abstand folgt drittens (Ps‑)Anselm (25) … Auf Rang 4 steht Thomas von Kempen … mit Cyprian und Ludovicus Granatensis (je 13). Es folgen Gregor d. Gr. und Chrysostomos (je 11) …“.36 D. h. die Frömmigkeit Gerhards ist stark patristisch, vor allem aber mittelalterlichbernhardinisch geprägt. Chrysostomos nimmt unter den altkirchlichen Zeugen einen achtbaren Platz ein, wenngleich mehrfach als Verfasser des Opus imper‑ fectum in Mt in Anspruch genommen; Gerhard kennt die Zweifel an der Echtheit dieses Opus, kann sich aber nicht klar dafür oder dagegen entscheiden. Im dogmatischen Hauptwerk Gerhards, den Loci theologici,37 obwalten andere Prioritäten als in den Meditationes Sacrae. Augustin wird hier unvergleichlich öfter, Bernhard von Clairvaux dagegen deutlich weniger angeführt als in dem Andachtsbuch, weniger auch als Johannes Chrysostomos, der an Zitierhäufigkeit allerdings außer durch Augustin noch durch Cyprian von Karthago überboten wird. Wofür interessiert sich der Dogmatiker Gerhard bei dem östlichen Kirchenvater vor allem? Es ist ganz eindeutig die Abendmahlslehre (enthalten in Band X der Tübinger Neuauflage), zu der Chrysostomos am häufigsten und ausgiebigsten herangezogen wird. Zitiert wird beispielsweise eine lange Precatio Chry‑ sostomi,38 in der Erwartung, dass sie auch im lutherischen Abendmahlsgottesdienst Verwendung finde (!); es wird hingewiesen auf den „bemerkenswerten Brief an Caesarius“, dessen Echtheit manche allerdings bestritten,39 sowie auf die Chrysostomosliturgie, die freilich, genau so wie die des Basileios, „in verschiedener Weise interpoliert“ (d. h. einem deutlich erkennbaren Wachstumsprozess unterlegen) auf uns gekommen sei;40 nach Gerhards Urteil unterstützen ferner die einschlägigen Aussagen des Chrysostomos so gut wie gar nicht die hochschoet Pietas, Abt. I, Bd. 3,1.2, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. Bd. 2,669. 37 Vollständiger Titel: L. t., cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contra‑ dicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati. Die Erstausgabe Jena 1610–1622 erschien in 9 Quartbänden; ich habe im folgenden benutzt die Neuausgabe durch den Tübinger Professor und Kanzler Johann G. Cotta in 20 Quartbänden, Tübingen 1762–1781, und einem Registerband, bearb. v. G. H. Müller, Tübingen 1787–1789. 38 Bd. X, 431 f. 39 Ebd., 223; vgl. auch 176 f. 40 Ebd., 7. 35 Doctrina 36 Ebd.
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lastische Transsubstantiationslehre (minime adstruunt transsubstantiationem), bezeugen dagegen sehr wohl die reale Gegenwart Christi im Altarsakrament;41 wichtig für ihn ist endlich dessen Zeugnis über den usus s. coenae (in seinen Homilien über 1 Kor).42 Abgesehen von der Abendmahlsthematik wird, um nur das Wesentliche zu nennen, gelobt und aufgenommen: des Chrysostomos Zeugnis über Christus als einzigen Gebetsmittler (intercessor) bei Gott43; über Maria, die durchaus „dem verderblichen Einfluss der Sünde ausgesetzt“ (peccati labe infecta) gewesen sei44; über die ratio humana oder, genauer, darüber, dass es keine durchschlagenden rationalen Argumente gegen die orthodoxe Trinitätslehre gebe45; über die Sündenvergebung schon auf Erden46; über die Verderbnis der Kirche, die keinen Zweifel an deren Fehlsamkeit erlaube (Thema: An ecclesia possit deficere);47 endlich darüber, dass gemäß dem Willen Jesu (Mt 13,25 ff.) das „Unkraut“ nicht ausgejätet werden dürfe, um den „Weizen“ nicht zu gefährden.48
Das Chrysostomosbild im lutherischen Pietismus vor Bengel Es ist, wie ich hoffe. für den lutherischen Pietismus in Deutschland einigermaßen repräsentativ, was ich vor allem über die Chrysostomosrezeption Ph. J. Speners auf der einen und G. Arnolds auf der anderen Seite zu berichten habe. Zunächst zu Spener. Er hatte seine bis heute bekannteste Schrift, die Pia Desi‑ deria (1675), den Pfarrern gewidmet und, bei aller Wertschätzung des „allgemeinen Priestertums“, die entscheidende Besserung der kirchlichen Zustände von ihnen erwartet.49 In entschiedener Abgrenzung von, soweit es um das Inhaltliche ging, aber grundsätzlicher Fortsetzung der vernichtenden Kritik am Pfarrerstand, wie sie vor allem der mystische Spiritualismus in der Person Christian Hoburgs, u. a. in dessen Buch „Ministerii Lutherani Purgatio: Das ist Lutherischer Pfaffenputzer“,50 geübt hatte, war ihnen die Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kirche auferlegt. Da alle Reformforderungen, wie sie Spener in den Pia Desideria aufführte und zu begründen suchte, nicht auf 41 Ebd.,
176 f. 71. 43 Bd. XVIII, 167. 44 Bd. IV, 359; V, 362. 45 Bd. III, 230.324. 46 Bd. XVII, 248. 47 Bd. XI, 122.124. 48 Bd. XIV, 198 f. (loc. XXV: De Magistratu Politico, pars II). Diese Stelle war auch ein wichtiger Beleg für Johann Albrecht Bengel in dessen kommentierter Text‑ und Übersetzungsausgabe von De sacerdotio des Chrysostomus (s. u. 176). 49 Vgl. Philipp Jakob Spener, Pia Desideria, hg. v. Kurt Aland (KlT 170), 2. Aufl. Berlin 1955, 15 f.18.67. 50 1648 unter dem Pseudonym Elias Praetorius veröffentlicht. Darin sind auf S. 58–87 nicht weniger als 100 Entartungen der Pfarrer aufgezählt. 42 Ebd.,
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einmal zu erfüllen seien, solle durch eine überlegte Erziehung, nicht zuletzt auf der Universität, in diese Richtung gezielt werden.51 Frühchristliche Zeugnisse, beginnend mit den Apostolischen Vätern, belegten das gezeichnete Idealbild.52 Unsereiner erwartete unbedingt, dass sich darunter neben Gregors von Nazianz Oratio 2 de fuga sua53 auch etwa des Chrysostomos Reformschrift De sacerdotio befände, die ja – unter gänzlich verschiedenen Voraussetzungen – zwar keineswegs identische, aber doch wenigstens ähnliche Ziele verfolgte wie Speners Pia Desideria, nämlich „Unwürdige“ vom „geistlichen Amt“ fernzuhalten. Doch ist beides nicht der Fall. Zwar wird der Nazianzener zitiert, aber nicht mit der genannten wortreichen Rechtfertigung seiner „Flucht“ vor dem geistlichen Amt, sondern mit einer einzigen Zeile aus seinem carmen historicum 119 auf seinen toten Freund Basileios von Kaisareia,54 während Chrysostomos – ganz übergangen wird! Eine Erklärung vermag ich einstweilen dafür nicht zu bieten, da ja das Argument der Chrysostomosvergessenheit bzw. ‑verdrossenheit im Luthertum vor Spener, wie gesehen, nicht verfängt. Während die patristische Basis in A. H. Franckes Schriften zur Pfarrerausbildung wie dem von ihm selbst am meisten geschätzten Traktat „Nikodemus oder von der Menschenfurcht“ (1701) oder der Idea studiosi theologiae (1712) eher noch wesentlich schmaler ist als bei Spener,55 verhält es sich bei dem dritten lutherischen Pietisten unserer Übersicht, G. Arnold, „dem eigentlichen Klassiker in der Aktualisierung der frühchristlichen Tradition“,56 wie ihn der Kirchenhistoriker M. Schmidt (zuletzt in Heidelberg) genannt hat, ganz anders. Hier herrscht wirklich eine unerwartet große Weite und intime Kenntnis. Das sei vor allem an der Schrift „Die geistliche Gestalt eines Evangelischen Lehrers Nach dem Sinn und Exempel der Alten Auff vielfältiges Begehren Ans Licht gestellet“57 rasch aufgezeigt. Hatte er acht Jahre zuvor (1696), in seinem ersten Werk betitelt „Die Erste Liebe der Gemein(d)en Jesu Christi oder Wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben“, in polemischer Abgrenzung gegen die idealisierende, das konstantinische Bündnis zwischen römischem Reich 51 Ed.
Aland, 68–78. 49 f.61.68.75 f.76 f. 53 PG 35,407–513/4. 54 V. 40 (PG 38,74): Oratio Basilii erat tonitru(s), quia vita ejus fulgur (βροντὴ σεῖο λόγος, ἀστεροπὴ δὲ βίος), was Sp. übersetzte mit: „Basilii rede und lehr war (an der krafft) als ein donner / weil sein leben als ein blitz war“. 55 Nach Martin Schmidt, Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln, in: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, hg. v. Bernd Möller /Gerhard Ruhbach, Tübingen 1973, 211–250, ist darin wirklich zitiert und ausgewertet nur ein Brief Augustins an Valerius (Francke, Idea, § XLII Anm. p. 108 s.); im übrigen werde nur ganz allgemein auf die Schriften der Apologeten des 2. und 3. Jahrhunderts sowie die des (Ps.‑)Makarios (Symeons von Mesopotamien?) verwiesen (220 f.). 56 Ebd., 221. 57 Erschienen Halle 1704. 52 Ebd.
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und katholischer Kirche reichlich naiv als Gipfel der frühen Kirchengeschichte betrachtende Darstellung des Anglikaners William Cave (in seinem Buch „Primitive Christianity“ [1672]), bereits ein überaus kenntnisreiches, dabei keineswegs schematisches Bild entworfen, wozu der Zwang der Verfallsidee, Arnolds Leitgedanke (zumal in seiner „Unparteiischen Kirchen‑ und Ketzerhistorie“) hätte verleiten können, so ging es ihm jetzt darum, die Gestalt eines „evangelischen Lehrers“ nach ihrer Prägung und ihrem Auftrag ganz überwiegend mit altchristlichen Farben zu malen58 – so sehr, dass die teilweise langen Zitate beinahe mehr Platz in Anspruch nehmen als der eigene Gedankengang des Verfassers. Die „Pastoraltheologie“, die er damit bieten wollte, verstand er ausdrücklich als notwendige Ergänzung der geschichtlichen Darstellung des Frühchristentums in seiner genannten Erstlingsschrift, auf die er sich jetzt immer wieder bezog. Hatte er sich dort eher auf die „äußere Gestalt“ des evangelischen Lehrers beschränken müssen und, wenn man so will, eher Strukturen nachgezeichnet, so warf er nun als Autor und Interpret der altkirchlichen Zeugnisse auf die innere Gestalt seine ganze Kraft und erreichte ein Konzept von eindrucksvoller Geschlossenheit, welches als Inbegriff des piestistischen Pfarrerideals gelten darf; er war freilich auch, wohl nicht nur aus diplomatischen Gründen, bemüht, auch Luther reichlich und – soweit passend – die lutherische Überlieferung wenigstens angemessen zu Wort kommen zu lassen. Hält man sich den Aufbau der Schrift vor Augen, so wird dem Chrysostomoskenner sofort bewußt, wieviel Stoff das Corpus Chrysostomicum zu den von Arnold verhandelten Themen zur Verfügung zu stellen hätte. Und in der Tat ist Chrysostomos, wenn ich mich nicht täusche, der von Arnold in dieser Schrift am meisten zitierte antike Autor, wiewohl die Vielfalt erstaunlich groß ist und die Frühzeit (z. B. das gern zitierte Corpus Ignatianum) ebenso berücksichtigt wird wie die Spätantike. Ich beschränke mich auf die Anführung der Kapitelüberschriften (in vorsichtig modernisiertem Deutsch): I. Von der Zubereitung eines rechten Lehrers; II. Von dem Beruf eines göttlichen Lehrers; III. Von der Wichtigkeit und Schwierigkeit des Lehramtes; IV. Von eines göttlichen Lehrers Vereinigung, Bekannt‑ und Gemeinschaft mit Gott in der neuen Geburt; V. Von göttlicher Weisheit eines Boten Gottes; VI. Von wahrer Gottseligkeit eines Lehrers insgemein und von Vermeidung der falschen; VII. Von andern Eigenschaften eines Lehrers und erstlich von der Demut; VIII. Von der Sanftmut, Geduld und Liebe eines Lehrers; IX. Von der Mäßigkeit und Genügsamkeit eines Lehrers oder von seinem Verhalten in zeitlichen Dingen 58 So erklärt er bereits in der „Einleitung“ (V.), wie die Wendung des Titels „nach dem Sinn und Exempel der Alten“ zu verstehen sei: es sind die Zeugnisse, wie sie sowohl in der Hl. Schrift als den erhalten gebliebenen anderen Denkmalen zu finden sind. Wie sich zeigt, sind unter den „anderen Denkmalen“ ganz überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, Kirchenväterzeugnisse zu verstehen.
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insgemein; X. Von dem Ernst und dem Fleiß im Lehramt; XI. Von dem Hauptwerk eines göttlichen Lehrers, nämlich der Verkündigung des wahren Evangeliums; XII. Von der Handlung des Gesetzes; XIII. Von den öffentlichen Verrichtungen eines Lehrers insgemein (sc. im Sinne des usus civilis legis); XIV. Von den Verrichtungen eines Lehrers und insonderheit von dem Lehren; XV. Von der Handlung der Taufe, der Absolution, des Abendmahls, des Banns und anderer äußerlicher Dinge; XVI. Von der Wirkung des Lehramts, und zwar erstlich bei Ungeübten; XVII. Von den rechten Früchten des wahren Lehramts. Schon in der Einleitung begegnet ein Chrysostomoszitat (und zwar aus den Homilien über das Johannesevangelium); ansonsten wird aus 24 verschiedenen Schriften des Kirchenvaters zitiert, wobei ich die Reihenpredigten über einzelne biblische Bücher jeweils nur als eine Schrift zähle. Natürlich befindet sich unter den zitierten Schriften auch der Traktat De sacerdotio („Über das Bischofsamt“, wie man übersetzen sollte, da mit ἱερεύς und ἱερωσύνη fast durchweg der Bischof und sein Hirtenamt gemeint ist); doch sind die Zitate daraus nicht eben auffällig häufig. Die Homilien über den Hebräerbrief bleiben diesmal ganz unberücksichtigt – aus mir unerfindlichen Gründen –, nicht aber beispielsweise die „Judenreden“, aus denen allerdings eine einzige, zudem völlig unverfängliche Stelle angeführt wird. Manche Einführungen verraten eine besondere Hochschätzung des Chrysostomos, so, wenn ein – ausnehmend schönes – Zitat aus der Homilia de reditu ex Asia59 eingeleitet wird mit der Bemerkung: „Ein anderer sonst großer Bischof in der kaiserlichen Residenz selbst sagte doch dieses in der Gemeine ohne Verlust seines so genannten Respects“60 (d. h. ohne zu befürchten, seines Ansehens in der Gemeinde verlustig zu gehen), ein leuchtendes Beispiel für das, was Arnold in dem betreffenden Kapitel (VII) verhandelt, nämlich „Demut“.61 Es ergibt sich also ein ganz ähnliches Bild wie bei den zahlreichen, ausnahmslos respektvollen Bezugnahmen Arnolds auf Dionysios Pseudo-Areopagites:62 59 PG 52,421–424 bietet lediglich die alte lateinische Version in einer mangelhaften Form. 1958 wurde das griechische Original in einem Moskauer Kodex (Mosquensis 159) auf dem Athos entdeckt und drei Jahre später von Antoine Wenger in: RevÉtByz 19 (1961) (110)114–123, publiziert, zusammen mit einem wesentlich besseren lat. Text; John N. D. Kelly bezeichnete diese Predigt als „one of his warmest, most pastorally sensitive adresses“ (Golden Mouth. The Story of John Chrysostom – Ascetic, Preacher, Bishop, Ithaca-New York 1995, 181). Die von Arnold ausgezogene Stelle lautet: „Ich bin ein Knecht eurer Liebe. Denn ihr habt mich gekauft, nicht indem ihr Geld hinwarft, sondern Liebe erzeigtet. Ich freue mich dieser Knechtschaft und möchte davon nie loskommen. Denn … diese Knechtschaft ist besser als Freiheit“ (Wenger [wie oben], 116/8). 60 A. a. O., 239. 61 Andere Beispiele: ein Beleg für die außerordentliche Geduld des Predigers Chrysostomos im Umgang mit seiner Gemeinde (aus De Lazaro, hom 1) wird als „das feine Bekenntnis Chrysostomi“ eingeführt (Kap. VIII, 261 f.) und ein weiterer Beleg (aus In ev Ioan hom 26) zum selben Thema mit „wie Chrysostomus wohl (= zurecht) anmerkt“ (267 f.). 62 S. Kap. IV, 4 (95: „ein bekannter Scribente“); 23 (113: „ein tiefsinniger Autor“); V, 11 (123: „ein alter Autor“ sagt „gar fein“); VIII, 20–22 (269–72: Stimme der Weisheit); IX, 36 (318).
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auch hier war Luthers herbe Kritik63 allem Anschein nach ohne nennenswerte Folgen geblieben!
Das Chrysostomosbild J. A. Bengels nach seiner Ausgabe von De sacerdotio Zum Werdegang Bengels nur so viel: Johann Albrecht Bengel (1687–1752), wirkte die längste Zeit seines aktiven Leben als Klosterpräzeptor in Denkendort bei Esslingen, nahe Stuttgart, einer Bildungsstätte, die – als eines der sog. „niederen Seminare“ der Vorbereitung auf das Universitätsstudium diente, und erarbeitete sich dort durch organische Verbindung von Unterricht und eigenem Studium eine gründliche philologisch-textkritische und sachbezogene Kenntnis des Neuen Testaments, die ihn geradezu zum Klassiker der Bibelauslegung im Pietismus werden ließ. Sein Leitsatz war: Te totum applica ad textum, textum totum applica ad te („Wende du dich ganz dem Text zu, wende den Text ganz auf dich an“!). Warum der junge Bengel den für einen künftigen schwäbischen Theologen, zumal für einen Pfarrerssohn, vorgezeichneten Weg durch das „niedere Seminar“ (wie das, an dem er später die längste Zeit seines aktiven Lebens lehren sollte) nicht beschritten, sondern nach dem frühen Tod seines Vaters (Diaconus in Winnenden) den Privatunterricht des dem Elternhaus befreundeten Präzeptors D. W. Spindler bis zu dessen Übersiedelung nach Stuttgart genossen hat, um anschließend das dortige Obergymnasium zu durchlaufen und schließlich in das herzogliche Stipendium nach Tübingen aufgenommen zu werden, darauf gibt es keine schlüssige Antwort. Nur so viel ist klar, dass ihm dieser „Sonderweg“ keineswegs geschadet hat, sondern dass er Spindler wie auch dem (für damalige Verhältnisse fortschrittlichen) Stuttgarter Gymnasium eine solide Bildung verdankte.64 Das Theologiestudium in Tübingen war zu seiner Zeit, entsprechend den Anweisungen Speners und Franckes, weithin auf die Bibel ausgerichtet,65 berücksichtigte aber in der Dogmatik auch die Orthodoxie, freilich nicht ausschließlich die lutherische, sondern z. B. auch die Lehre des Cocceius (Koch, aus Bremen stammend), des Leidener reformierten Theologen und Vaters der sog. Föderaltheologie. Es war denn auch besonders dem Einfluß des Dogmatikers J. W. Jäger zu verdanken, dass sich Bengel bewußt vom radikalen Pietismus und von der Mystik abgrenzte und ihm nie zweifelhaft wurde, dass sein Auftrag in der Kirche liege, nicht in der Separation, der sein Mentor Spindler zuneigte.66 Die fällige Bildungsreise im Anschluss an sein Studium verbrachte er hauptsächlich 63 S. o.,
Anm. 8–12. Brecht, Geschichte des Pietismus, III, Göttingen 1995, 251. 65 S. dazu außer Brecht, ebenda, Eberhard Nestle, Bengel als Gelehrter. Ein Bild für unsere Tage, in: Ders.: Marginalien und Materialien, Tübingen 1893, 5 f. 66 Ebd., mit Belegen. 64 Martin
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in Halle, wo er sich (mangels mehr als nur sporadischer Begegnungsmöglichkeiten mit dem vielbeschäftigten Francke) besonders für das Pädagogium und erst recht für die Theologenausbildung durch die Hallenser Pietistenprofessoren interessierte, die ihm in ihrer konzentrierten und ernsten Ausrichtung auf Gott und das Seelenheil für immer als vorbildlich erschien. Ende 1713 zog er als Klosterpräzeptor an der evangelischen Klosterschule in Denkendorf bei Esslingen (nahe Stuttgart) ein und übte diese, im Vergleich mit anderen großen Pietisten, bescheidene Tätigkeit über 27 Jahre aus, bis er 1741, ohne sein Zutun, als Propst von Herbrechtingen (bei Heidenheim) eine ehrenvolle Pfründe ohne Amtsgeschäfte (also eine Sinekure) erhielt. Das sollte wohl ein Trostpflaster dafür sein, dass sich vorher einige Berufungen an die Tübinger Universität, denen Bengel sehr gern gefolgt wäre, wiewohl er von sich aus nichts unternommen zu haben scheint, was ihn der Erfüllung seiner Wünsche hätte näherbringen können, aus unterschiedlichen Gründen zerschlagen hatten67. So soll ihn der Tübinger Senat 1736 mit der Begründung abgelehnt haben, er sei im Neuen Testament und in den Kirchenschriftstellern (scriptores ecclesiastici) wohlbewandert, gehe aber in der Kritik (gemeint: der neutestamentlichen Textkritik) zu weit und sei ein Enthusiast.68 Erst 1749 wurde Bengel als Prälat von Alpirsbach (im Schwarzwald) und Konsistorialrat in Stuttgart noch für wenige Jahre Mitglied der württembergischen Kirchenleitung. Im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit in Denkendorf veranstaltete er zunächst einige anspruchsvolle Textausgaben für den Schulgebrauch; den Anfang machte eine Ausgabe (nicht der, sondern) von Briefe(n) Ciceros, wie es der Titel(anfang) völlig korrekt wiedergibt: M. Tulli Ciceronis epistulae ad diversos vulgo familiares (1719). Kennzeichnend war, dass er sich dabei nicht, wie heute bei Schulbüchern im Normalfall, einfach an die üblichsten Textausgaben hielt, sondern auf die besten ihm erreichbaren Quellen zurückging. Die Wahl dieses Textes aus der Feder dieses Autor allerdings bedurfte keiner weiteren Begründung. Handelte es sich doch, so Bengels Einleitung, um einen „Autor, der als Richtschnur in der lateinischen Sprache gilt (qui Latini sermonis canon habetur), und um ein Werk, aus dem die Jugend am besten die lateinische Sprache erlernen kann“. 1687 hatte die von J. V. Andreae (1586–1654), Enkel J. Andreaes, angefertigte, nunmehr amtlich anerkannte und für den regelmäßigen Gebrauch bestimmte Sammlung aller die Kirchenordnung und die Disziplin betreffenden 67 Vgl. Gottfried Mälzer, Johann Albrecht Bengel. Leben und Werk, Stuttgart 1970, 66–72. 68 Vgl. ebd., 67, unter Berufung auf K. Hermann, J. A. Bengel, Stuttgart 1937, 446 (leider bezieht sich Mälzer nicht auf die Originalprotokolle; denn es kann mit seinem angeblichen Zitat kaum seine Richtigkeit haben, der indirekten Rede und der Verwendung des Begriffs „Kirchenväter“ wegen). Zu den insgesamt fünfmaligen Versuchen, Bengel für die Tübinger Universität zu gewinnen, s. auch Nestle (wie Anm. 64), 33–35, Anm. 1.
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Gesetze (Cynosura69 ecclesiastica) für die Klosterschulen des Herzogtums außer der Lektüre des griechischen Neuen Testaments noch die eines weiteren Autors in dieser (also der griechischen) Sprache angeordnet. So schrieb denn Bengel bereits vier Jahre vor Veröffentlichung der Cicero-Teilausgabe an den zuständigen Blaubeurener Abt Weissensee: „Ich finde für nützlich, wenn ich in lectionibus graecis das N. T. einmal absolviert, mit selbigem hernach einen anderen Scriptorem zu conjungieren, wozu denn bei gegenwärtiger Promotion (hier wohl im Sinne von mehrjährigem Kurs oder Durchlauf durch das Denkendorfer Seminar zu verstehen; man könnte auch einfacher sagen: Jahrgang) die Homiliae VII selectae Chrysostomi ed. Tub.70 uns wohl zuschlagen. Glaube aber, es würde das edle, kurze, an den schönsten vocabulis und phrasibus reiche, von allen alten und neuen Scriptoribus sehr belobte und wohl unter allen Büchern dieses vornehmen Patris vornehmste Buch de sacerdotio hierzu noch besser taugen: zumalen es als ein schönes Pastorale den jungen Leuten einen tiefen Eindruck de sanctitate et gravitate officii, cui praeparantur, bei Zeiten geben könnte. Und ich bin auf den Gedanken gekommen, solches reviso textu graeco et latinissima germani (sic!) Brixii versione cum notis et indicibus, zu welchem allem schon einen feinen apparatum und ziemlichen Anfang der Arbeit habe, zu edieren“.71 Das Vorhaben ließ sich erst zehn Jahre später verwirklichen; denn wie er bereits an Weißensee schrieb und in der Vorrede eines zweiten patristischen Projekts, von dem gleich noch kurz zu sprechen ist, gleichfalls erwähnte, wartete er – ne quid praetermisisse viderer – insbesondere noch auf ein literarisches Hilfsmittel, nämlich die Pariser Benediktiner-Ausgabe B. de Montfaucons. So habe er, heißt es weiter in dieser Vorrede, indessen, um die Wartezeit zu überbrücken, für seine „studentische Kohorte“ (studiosa cohors) die Dankrede an Origenes des Gregor Thaumaturgos ediert, die sowohl sprachlich wie sachlich zumal für angehende Theologen in hohem Maße interessant sei.72 Nachdem er auf jedem nur denkbaren Wege der in Paris begonnenen Benediktinerausgabe der Chrysostomica mit dem Text von De sacerdotio, vergebens, habhaft zu werden versucht hatte, schickte ihm B. de Montfaucon den benötigten 69 C. = „Hundeschwanz“ hieß das Nordpolgestirn, der kleine Bär; davon abgeleitet ist die Bedeutung Leitstern, Regel. Denselben Begriff verwendete Bengel auch beim Titel einer russischen Kirchenrechtssammlung (s. nota zu § 110: er spricht dort von der Cynosura SS. Synodi Russicae). 70 Mit einem Vorwort Jaegers erschienen bei Cotta 1709; vgl. zu dieser Sammlung, die erstmals, aber ohne das Jaegersche Vorwort, im selben Verlag 1701 und, praktisch unverändert, 1702 erschienen war, s. Chrysostome Baur, S. Jean Chrysostome et ses oeuvres dans l’histoire littéraire, Louvain-Paris 1907, 115 (Nr. 185) im Vergleich mit 114 (Nr. 181 f.). B. irrte sicher, wenn er angab, die Ausgabe von 1701 sei von Bengel veranstaltet (114); der aber saß damals, 14 jährig, noch auf der Stuttgarter Schulbank. 71 Zitiert bei Nestle (wie Anm. 64), 21 f., nach: Bengels literarischer Briefwechsel, hg. v. J. C. Burk, Stuttgart 1836, 75; die zuerst in Löwen erschienene Übersetzung von Germanus Brixius war Bengel aus der Höschelschen Ausgabe von De sacerdotio (Augsburg 1599) bekannt (Mälzer [wie oben, Anm. 66], 425). 72 Gregorii Thaumaturgi Panegyricus ad Origenem, graece et latine, Stuttgart 1722.
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Text – „in äußerst liebenswürdiger Weise“ (humanissime), wie Bengel dankbar vermerkt – zu, als eben der Drucker vom 5. zum 6. Buch überging.73 Im März 1725 war es dann endlich so weit, dass er seine Ausgabe den verschiedenen „Mäzenaten und Gönnern“ widmen und der Öffentlichkeit übergeben konnte, unter dem (diesmal vollständig mitgeteilten) Titel: Johannis Chrysostomi de Sacerdotio libri sex graece et latine utrinque recogniti et notis indicibusque aucti eo maxime consilio, Ut Coenobiorum Wirtembergicorum alumni et ceteri, qui N. T. imbuti sunt, ad scriptores ecclesiasticos suavi gustu invitentur facilique methodo praeparentur. Accedit Prodromus Novi Testamenti Graeci recte cauteque adornandi Opera Jo. Alberti Bengelii („Des Johannes Chrysostomos sechs Bücher ‚Über das Priestertum‘, griechisch und lateinisch, in beiden [Versionen] durchgesehen und um Anmerkungen und Indizes vermehrt, vor allem in der Absicht, die Zöglinge der Württembergischen Klosterschulen und die übrigen, die mit dem Studium des Neuen Testaments begonnen haben, möchten durch schmackhafte Kost zur Lektüre der kirchlichen Schriftsteller gelockt und auf wenig beschwerlichem Wege dafür vorbereitet werden … )“.74 Die am Schluß des Titels vermerkte Beigabe eines „Vorläufers einer korrekt und umsichtig (angelegten) und mit allem Nötigen versehenen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments“ weist den Benutzer darauf hin, dass die Chrysostomosausgabe in Bengels eigener Perspektive (nur) eine Vorarbeit zur textkritischen Ausgabe des Neuen Testaments darstellte! Dieser Prodromus enthält Regeln zum Umgang mit Textkritik und Textarbeit im allgemeinen und am Text von De sacerdotio im besonderen.75 Doch kann ich darauf wie auch auf die 1734 zuerst erschienene Ausgabe des N. T. graece unmöglich näher eingehen; nur so viel sei an dieser Stelle dazu gesagt, dass diese Ausgabe bis heute aus gutem Grund einen Ehrenplatz innerhalb der neutestamentlichen Textgeschichte und ‑kritik einnimmt und ihren Bearbeiter zusammen mit dem 1742 zuerst veröffentlichten Gnomon Novi Testamenti („Fingerzeig auf das NT“), wie gesagt, zum Klassiker pietistischer Bibelauslegung werden ließ. Noch meine exegetischen (und z. T. auch homiletischen) Lehrer, sei es in Heidelberg oder Göttingen (vor allem G. Bornkamm und M. Doerne), haben stets mit allergrößtem Respekt vom Bengelschen „Gnomon“ gesprochen und zu dessen Lektüre angelegentlich ermuntert. Aber kehren wir zur Chrysostomosausgabe zurück, von der es eben hieß, sie sei in der Perspektive und Programmatik Bengels „nur“ eine Vorarbeit zur Ausgabe des griechischen NT. Aber was für eine „Vorarbeit“ war das! Ob sich das lange Warten auf den Text de Montfaucons gelohnt habe, darüber läßt sich streiten; fand doch Bengel, als er ihn endlich in Händen hielt, nicht eben viel 73 So in der Praefatio der Ausgabe (s. nächste Anm.), § XII; vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Montfaucon und Bengel in: Literarischer Briefwechsel (wie Anm. 44), 85–87. 74 Erschienen bei Mezler & Erhard in Stuttgart 1725. 75 Ebd., I–XXIII.
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zu bessern, wenn er auch peinlich genau festhielt, wann immer ihm eine Lesart erstmals durch besagte Pariser Ausgabe bekannt wurde. Doch hätte es überhaupt nicht seiner Art entsprochen, sich damit etwa zu brüsten. Er hatte dem Gebot der Gewissenhaftigkeit genügt, und das reichte ihm als Rechtfertigung vollkommen aus. Für die Fachwelt aber besteht kein Zweifel darüber, dass seine Ausgabe diejenige Montfaucons, deren Pariser Nachdruck von 1834 ff. bekanntlich auch von Migne übernommen wurde, überragt und erst im beginnenden 20. Jahrhundert durch die von J. A. Nairn (Cambridge 1906) überboten worden ist.76 Bengel verspricht sich von der gründlichen Beschäftigung mit des Chrysostomos Schrift De sacerdotio, diesem, wie er sagt, „Haupt‑ (oder: eines Siegespreises würdigen) Werk eines herausragenden Schriftstellers“ (palmarium opus eximii scriptoris),77 einen reichen Gewinn für das bessere Verständnis der Sprache des Neuen wie der griechischen Übersetzungen des Alten Testaments;78 darauf hinzuarbeiten war ja sein primärer Beruf an dem Denkendorfer Institut. Gerade Chrysostomos eigne sich dazu besonders, der beginnend mit Isidor von Pelusium, dem Anonymus bei Suidas (wir würden sagen: in der Suda) und Symeon Metaphrastes von allen Gelehrten empfohlen werde, nicht zuletzt von Erasmus; aus der früher bereits erwähnten Widmung der erasmischen Ausgabe von De sacerdotio an Willibald Pirkheimer zitiert Bengel denn auch ein langes Stück. Es heißt darin nicht nur, Chrysostomos verstehe es „in ganz einzigartiger Weise, gebildete Frömmigkeit mit volkstümlicher Eloquenz zu verbinden“ (unus omnium eruditam pietatem cum populari coniunxit eloquentia); sondern es wird ihm auch nachgesagt, er verfüge über ein Maß an Leichtigkeit, Durchsichtigkeit, Lieblichkeit und Fülle (des Ausdrucks), das ihn nicht hinter einem Lukian zurückstehen lasse (Habet facilitatem, perspicuitatem, suavitatem, copiam, cum Luciano communem).“ Folgen die Urteile von im ganzen 30 Schriftstellern, bekannten wie (uns wenigstens) unbekannten, Katholiken wie Protestanten, selbst aus Rezensionen in englischen Journalen und dergleichen; ferner eine Übersicht über die vorhandenen Textausgaben und Übersetzungen, die den besonderen Wert der Edition des Erasmus (Basel 1525) unterstreicht, und eine ganz unprätentiöse Begründung dafür, weshalb man sich mit dem Vorhandenen denn doch nicht ganz zufrieden geben könne.79 Die Praefatio schließt – in für Bengel bezeichnender Weise – folgendermaßen: Omnibus, qui aut suos produnt libros, aut alienos lectori accomodant, cavendum est, ut ne auctor aliquis in eo genere melior, et quem divina bonitas jam veris in‑ signierit fructibus, obruatur et antiquetur, providendem autem, ut omnia quam maxima ad aedificationem faciant. Id si nobis propositum esse, Lector, pro tua prudentia et aequitate agnoscis, ipsum dialogum probatissimum, et ea quae damus, 76 So
auch der belgische Chrysostomosspezialist Baur (wie Anm. 70), 117. der Beginn des dem Ganzen vorangestellten Prologus N. T. Graeci adornandi (§ I = p. I). 78 Vgl. den Beginn der eigentlichen Praefatio zu De sacerdotio (= § VIff.). 79 Ebenda § VII. 77 So
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quaeque paramus, amplectere. Deum vero mecum ora, ut ipse juvenes sibi dica‑ tos doceat ad pulcherrimam ideam, quam Chrysostomus Basilio, quam Apostoli omnibus proposuere, suos exigere animos, ecclesiamque opera eorum ubique sibi dignam, quae Christi corpus appelletur, constituat („Alle, die eigene Bücher vorlegen oder fremde einem Leser zugänglich machen, sollen sich davor hüten, dass ein Autor, der auf diesem Gebiet höhere Qualitäten besitzt und den die göttliche Güte bereits durch wahre Früchte ausgezeichnet hat, in den Schatten gestellt und als überholt betrachtet wird; (dafür) sollen sie darauf bedacht sein, dass all ihr Tun, soweit es an ihnen liegt, der Auferbauung diene Wenn dich, (lieber) Leser, dein umsichtiger, gerechter Sinn zur Erkenntnis gelangen lässt, dass (eben) dies unsere Absicht sei, dann greife mit Freuden zu diesem tausendfach bewährten Dialog, (verachte aber) auch (nicht), was wir bieten, was wir gehörig einrichten, und vereine dich mit mir im Gebet zu Gott, er (selbst) möge die Jugend, die sich ihm geweiht, lehren (und) auf das herrliche Ideal hin (ausrichten), das Chrysostomus dem Basilius, das die Apostel allen vor Augen gestellt haben, um ihre Gemüter zu erwecken; und (er, Gott, möge) durch ihre (sc. des Chrysostomos und der anderen) Arbeit allenthalben die Kirche auferbauen, die seiner würdig ist, die Leib Christi genannt wird“).80 Neben der Textherstellung und einer gründlich überarbeiteten älteren Übersetzung ins Lateinische (von Germanus Brixius) bietet die Bengelsche Ausgabe noch zahlreiche Anmerkungen (notae)81 und nicht weniger als drei Indizes82 (I. Bibelstellen, II. Sachen [Index rerum et observationum], III. „Wortindex“ [index verborum]; zusammengestellt sind in dem letzteren – wo nötig, mit Bedeutungsangabe – all die Wörter, die im griechischen NT nicht vorkommen, ut sine alio lexico dialogus tractari et deinceps novorum in Graeca lingua profectuum summa quaedam fieri queat.83 Um die Benutzung all dessen zu erleichtern, hat Bengel eine durchlaufende Paragraphenzählung eingeführt (es sind im ganzen 624 Paragraphen), auf die die Indizes sich beziehen. Das alles mag Sie erahnen lassen, was für eine unglaubliche Mühe der Mann in diese Arbeit investiert hat! Doch, mit diesem Ausdruck schier grenzenloser Bewunderung muss es auch schon sein Bewenden haben. Ich kann nur noch einige Bemerkungen zu den no‑ tae selbst anfügen. Bengel richtete, wie nach allem zu erwarten, sein Augenmerk teils auf das Sprachliche, teils – vom Sachlichen – insbesondere auf die „Spuren der Alten Kirche und die heilsamen Lehren bezüglich der Seelenlenkung“ (veteris 80 Ebenda, 81 364 ff. 82 518 ff.
§ XV (p. XXXVII).
83 Das bleibe ausnahmsweise einmal unübersetzt, getreu dem Vorbild Bengels, der in seinen notae einen längeren griechischen Text vorlegte und danach erklärte, sich diesmal eine Übersetzung ins Lateinische ersparen zu dürfen. Stattdessen ermahnte er seine Leser: Gnava juventus, disce remoto cortice nare („Wackere Jugend, lerne ohne Rettungs‑ oder Korkring [wörtlich: Borke] zu schwimmen“).
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ecclesiae vestigia salutaresque de animarum gubernatione doctrinas).84 Genauer gesagt, erfüllen diese ca. 860 (z. T. umfangreichen) notae, gedruckt auf 149 Seiten im Anschluß an Text und Übersetzung,85 in – nach wie vor – nahezu idealer Weise die Funktion eines apparatus criticus, eines apparatus fontium und eines apparatus testimoniorum (einschließlich der Parallelen aus dem Schrifttum des Chrysostomos selbst). Der letztere Apparat bezeugt eine erstaunliche Vertrautheit mit dem Gesamtwerk des Chrysostomos wie mit der Kirchenväterliteratur überhaupt,86 bis hin zu Photios und einigen anderen Byzantinern im Osten und Gregor dem Großen im Westen. Letzterer wird sogar oft zitiert, wenn auch nicht ganz so oft wie Gregor von Nazianz und Ambrosius; allen dreien sind ja Grundlagentexte zur „Pastoraltheologie“ zu verdanken, wessen sich auch unser patristisch gebildeter pietistischer Autor voll bewußt war. Nicht minder verdient hervorgehoben zu werden: einmal, dass in den Bengelschen notae auch die sog. „Judenreden“ des Chrysostomos gelegentlich erwähnt werden, jedoch ohne jede Andeutung von Judenfeindschaft;87 zum andern, dass in den Passagen von De sacerdotio, die sich mit der kultisch-sazerdotalen Funktion des Hirten‑ oder Bischofsamtes beschäftigen – das sind bekanntlich nicht übermäßig viele –, der Herausgeber und Kommentator Bengel, aus wohlerwogenen Gründen und in konzentrierter Form, aus der sog. Chrysostomosliturgie (Chrysostomi, quae appellatur Liturgia) zitiert,88 um den Text zu erläutern – ein sehr sachgemäßes Verfahren, wie ich finde; zum dritten, dass er gelegentlich – aber natürlich passend zum Chrysostomostext, den es zu erklären gilt – auf der Basis zweier kollationierter Handschriften „eine zwar kurze, aber überaus festliche kleine Rede (brevis quidem sed festivissima oratiuncula)“ auf das Osterfest einschaltet, von der er nicht wisse, ob sie schon gedruckt sei!89 In den nicht seltenen Sacherläuterungen kommen aber auch eine stattliche Reihe neuzeitlicher Autoren, ja Zeitgenossen Bengels zu Wort, ob sie nun seiner 84 Ebenda,
365. mit Prolegomena zu den notae (364 f.), Literaturangaben zum Autor, Chrysostomos (366), Bemerkungen zum argumentum von Buch I (366 f.) und einer sehr nützlichen Synopsis der 6 Bücher von De sacerdotio (368–370). 86 Besonders beeindruckend ist, was er in einer nota zu § 360 (= Buch IV, Kap. 1 [SC 272,236]), auf mehreren eng bedruckten Seiten, zur Erklärung der Wortverbindung Σωτὴρ καὶ Εὐεργέτης zusammengestellt hat. 87 Vgl. die nota zu § 402 (= Buch IV, Kap. 4 [SC 272,254]) zum Lemma Ἰουδαῖοι. „Gegen sie (gerichtet) sind die erhaltenen berühmten Homilien, in denen Chrysostomos das Kapitel über das Gesetz, das (wenig später) in § 404 (= ebd. [256]) gestreift wird, in ausreichender Ausführlichkeit (copiose) traktiert“; folgt noch ein Literaturhinweis. 88 So etwa in den notae zu §§ 177–180 und 519–523 (= Buch III, Kap. 4; VI, Kap. 4 [SC 272,142–146; 316–318]). 89 Nota zu § 282 (= Buch III, Kap. 11 [SC 272,194]). Die Wendung des Chrysostomostextes, dass der eingeborene Sohn Gottes den schmachvollen Tod an seinem eigenen Fleisch nicht von sich gewiesen habe, erläutert der Kommentator zunächst mit Zitaten aus Gregors von Nazianz Basileios-Vita und einem Scholion dazu. Dann bringt er, als angemessene Explikation des in Rede stehenden profundum mysterium, besagte oratiuncula. 85 Beginnend
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eigenen Konfession angehören oder nicht; er läßt in dieser Hinsicht, bei aller Klarheit seines eigenen Standpunktes, kaum irgendwelche Berührungsängste verspüren und enthält sich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, jeglicher Polemik.90 Besonders bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang, dass er wiederholt auch auf Rezensionen in gelehrten englischen Zeitschriften91 rekurriert, ja, selbst von Vorgängen im zeitgenössischen Russland Kenntnis verrät. So zitiert – und rühmt – er zweimal ein geistliches Reglement, das – nur ein Jahr vor Veröffentlichung seiner Ausgabe von De sacerdotio, also 1724 – auf Befehl Zar Peters I. und mit Bewilligung des heiligen dirigierenden Synod – u. a. jedem Geistlichen (ecclesiastes) und Prediger (concionator) den Besitz und das eifrige Studium der Werke des Chrysostomos einschärfte, damit er, so wird das Reglement zitiert, „eine reine und verständliche Predigt“ abliefere, „auch wenn ihm die (rhetorische) Begabung des Chrysostomus unerschwinglich“ sei (ut puram et perspicuam reddat orationem, etiamsi Chrysostomi facultatem non assequatur). Derart leichtgeschürzte“, substanzlose „Postillen hingegen, wie sie die polnischen zu sein pflegen (Leves autem Postillas, quales Polonicae esse solent)“, solle der Teufel holen92 (das ist, wie gern zugegeben sei, am Schluß ein wenig frei übersetzt!). Ebenso findet es seinen ungeteilten Beifall, wenn derselben Quelle zufolge der gesamte Absatz aus De sacerdotio, welcher das Prinzip verfocht, es dürfe nicht ohne weiteres nach dem Maß der Fehltritte eine Kirchenstrafe verhängt werden, ohne dass die Gesinnung des Sünders in Betracht gezogen würde93, in das Regelbuch der russisch-orthodoxen Kirche (Regulae ministrorum ecclesiae) übernommen wurde.94 Oftmals sind die notae gewürzt mit begeisterten Unterstreichungen dessen, was im Chrysostomostext zu lesen steht, damit dessen Bedeutung der Aufmerksamkeit der (wie erhofft, vor allem jugendlichen) Benutzer nur ja nicht entgehe; so, wenn er die Aussage, in der Seelsorge sei alles auf Freiwilligkeit abgestellt und der „Klient“ (wie man heute sagen würde) müsse stets Herr des Verfahrens bleiben (κύριος γάρ ἐστι τούτου),95 kommentiert mit: „eine Klausel von höchstem Gewicht“ (Gravissima clausula), um fortzufahren: „niemand kann derart gezwungen werden, dass man ihn zu wollen zwingt. Und wenn es einen Verlorenen (vgl. Lk 15,11–32) zurecht zu bringen gilt (in perdito homine corrigendo), dann ist das das Äußerste, dass du [etwas] verlangst (hoc extremum est, ut edicas): Menschen können dich nicht zwingen, und Gott zwingt dich nicht; dein Wille liegt in deiner Macht, und im Willen liegt die Macht“ (tua in potestate voluntas, 90 Der Ausdruck theologia polemica (zum Stichwort πόλεμος) wird allerdings kurz erklärt (in einer nota zu § 398 [= Buch IV, Kap. 3 [SC 272,252]); er überlässt diese selbst aber in aller Regel anderen! 91 Z. B. in einer nota zu § 118 (= Buch II, Kap. 4 [SC 272,116]). 92 Nota zu § 482 (= Buch V, Kap. 7 [SC 272,296–298]). 93 Buch II, Kap. 4 (SC 272,114). 94 Bengelsche Ausgabe von De sacerdotio (wie oben, Anm. 47), nota zu § 110. 95 Buch II, Kap. 3 (SC 272,112).
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in voluntate potestas est).96 – So redet ein lutherischer Pietist, mitten im Zeitalter des Absolutismus! Und um, statt vieler anderer, nur ein einziges weiteres Beispiel zu bringen: die Erwägungen des Chrysostomos, wie man zu verfahren habe, wenn ein Mensch vom rechten Glauben abirre (εἰ δὲ ἄνθρωπος τῆς εὐθείας ἀποπλανηθείη πίστεως)97, veranlassen Bengel zu der Anmerkung: „Stürmischen Beifall hat diese Stelle ausgelöst (Vehementer placuit hic locus) bei einem Autor (oder Korrespondenten [scriptor]) der Londoner Literarischen Kommentare“; er führt diesen sodann im Wortlaut an, zitiert anschließend weitere zustimmende Äußerungen, u. a. des großen J. Gerhard, und schließt die nota folgendermaßen ab: Patet hinc, quo iure Index Hispanicus expurgatorius ex indice in Chrysostomum nostrum per Frobenium excuso damnet hoc lemma: Haereticos Christus vetat occidi etc. Videatur imprimis Seb. Castellionis Annotatio ad 2. Cor. X. 4 („Nach allem liegt auf der Hand, mit welchem Recht der spanische Reinigungsindex aus dem zu unserem Chrysostomus von [dem Baseler Drucker] Froben veranstalteten Index das Lemma verdammt: ‚Christus verbietet, dass Häretiker getötet werden usw.‘ Man schaue sich (dazu) besonders S. Castellios Anmerkung zu 2 Kor 10,4 an“.98 Es versteht sich für Bengel von selbst, dass es von „unserem Chrysostomos“ (!) aus geurteilt nicht die geringste Rechtfertigung für das genannte Verdammungsurteil der spanischen Inquisition gibt99. Ausgabe (wie oben, Anm. 47), nota zu § 107. II, Kap. 4 (SC 272,116). 98 Bengelsche Ausgabe (wie oben, Anm. 47), nota zu § 118. Natürlich hätte Bengel auch Castellios berühmtestes Werk zitieren können, nämlich seine Antwort auf den Servetprozess in Genf: De haereticis, an sint persequendi? (Basel 1554). Doch es kam ihm wohl besonders auf die exegetische Begründung der Toleranzforderung an! – Weitere Stellen, an denen er seiner begeisterten Zustimmung zu dem bei Chrysostomos Gelesenen Ausdruck gibt, sind u. a.: nota zu § 153 (= Buch II, Kap. 7 [SC 272,130]: sententia aurea); nota zu § 158 (= ebd. [132]: locus gravissimus [Es geht Chrysostomos und Bengel um die Frage, wie weit gelehrte Bildung für die Predigt des Evangeliums notwendig oder entbehrlich, nützlich oder am Ende teilweise auch nachteilig sei]); nota zu § 207 (= Buch III, Kap. 8 [SC 272,158]: Summam hic amplectitur locus]); nota zu § 443 (so die bezeichnende Anmerkung, wenn Chrysostomos auf das Problem des Dogmenstreits zu sprechen kommt [Buch IV, Kap. 9 = SC 272,278]); endlich kann sich der Kommentator auch ganz direkt an seine (erhofften) jugendlichen Leser wenden und zu § 394 (Buch IV, Kap. 3 [SC 272,250]) anmerken: Ingreditur auctor in locum ad vos, juvenes ecclesiae nati, inflammandos, ut sacras literas quam ardentissimo studio colatis. Conferri potest Augustini de Doctrina Christiana liber, II („Der Autor beginnt hier einen Abschnitt, mit dem er Euch, jugendliche Söhne der Kirche, dazu entflammen möchte, dass Ihr das Studium der heiligen Schriften mit glühendstem Eifer pflegt. Man kann auch Augustins De doctrina christiana, Buch II, zum Vergleich heranziehen“). 99 Es ist lehrreich, gelegentlich die (knappe) Kommentierung von August Naegle in seiner Übersetzung von De sacerdotio in der 2. Aufl. der BKV (Bd. 27) mit der (diesem bekannten) Kommentierung Bengels zu vergleichen, zumal N. in seiner Einleitung den Vorwurf erhebt, die der Bengelschen Ausgabe „beigefügten Noten“ brächten „in bezug auf theologische Fragen den protestantischen Standpunkt des Herausgebers in schroffer Weise zur Geltung“ (76), wofür er allerdings die Belege schuldig bleibt. Bei all dem, was wir im letzten Abschnitt besprochen und belegt haben, scheint es sich in N.s Augen nicht um „theologische Fragen“ zu handeln; denn sein 96 Bengelsche 97 Buch
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Die meisten Sachen und Begriffe, die sich seinen gedachten Lesern, vor allem den württembergisch-lutherisch-pietistisch sozialisierten Zöglingen nicht ohne weiteres erschließen mochten, werden ebenso ruhig wie sachlich erklärt, wie z. B. χειροτονία:100 Die übernommene Übersetzung ins Lateinische wird gerechtfertigt durch Parallelen in den lateinischen Versionen der Apostolischen Kanones usw. und die Sache erklärt durch ein längeres Zitat aus der Chrysostomosübersetzung des stramm gegenreformatorisch gesinnten Fronto Ducaeus; παρθένος:101 der Begriff wird erklärt mit einer Phrase aus den basilianischen Kanones (can. 18) sowie einer Chrysostomosparallele (hom 13 in I Tim.) und Auszügen aus Tertullian, De virginibus velandis; dagegen, dass es notwendig werden könne, jemanden „aus der Kirchengemeinschaft auszuschließen“ (τινὰ τοῦ τῆς ἐκκλησίας περικόψαι πληρώματος),102 hat der Kommentator offensichtlich keine prinzipiellen Einwände zu erheben, sondern begnügt sich damit, die ältere Übersetzung von G. Brixius anzuführen, die er modifizierte; endlich erklärt Bengel den Begriff κλῆρος103 so: 1 Petr 5,2.3 deutet darauf hin, dass οἱ κλῆροι und τὸ ποιμνίον τοῦ Θεοῦ identisch sind. Also kann man sagen, κλῆρος sei gleichbedeutend mit λαός als „dem Teil der Herde des Herrn, welcher einem einzigen oder mehreren zu weiden anbefohlen (zuteil geworden) ist“. Daher wird auch clerus der ordo ecclesiasticus genannt oder ἡ τοῦ κλήρου τάξις, wie es bei Chrysostomos § 278104 heißt. „Unter der Hand (Sensim)“ hat sich dann auch die Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien eingebürgert, wie aus Tertullian und Hieronymus belegt wird. clerus bezeichnete also ursprünglich die Herde, dann die Obsorge für die Herde (cura gregis) oder das Hirtenamt (munus pastorale) in abstracto, wie u. a. „aus der gerade besprochenen, eben deshalb Kommentar schweigt sich dazu völlig aus. Der ohne Frage verdiente katholische Chrysostomosforscher, zur Zeit der Veröffentlichung seiner Übersetzung (1916) Patrologe an der deutschen Universität Prag, reagiert dagegen z. B. sehr lebhaft, wenn bei Chrysostomos, wie häufig, die Rede auf Petrus als κορυφαῖος τῶν ἀποστόλων kommt (Buch II, Kap. 1 [SC 272,100]). Hier beeilt er sich zu bemerken: „Diese von Chrysostomus gebrauchte Bezeichnung des Apostels Petrus ist dogmatisch sehr wichtig und verdient Beachtung“ (117); vgl. auch seine, in der Hauptsache nur den massiven „Abendmahlsrealismus“ wahrnehmende, Kommentierung der Passagen über Opferdient und Opferamt (bes. 140–142). Man kann es zwar annähernd verstehen, wenn er, 52 Jahre nach Verkündung des Syllabus errorum (8. Dezember 1864), zum – auch Bengel sichtlich umtreibenden – Thema der Religions‑ und Gewissensfreiheit nichts zu sagen hat und es offenbar für „theologisch“ völlig belanglos hält. Trotzdem ist sein Schweigen bedrückend und jedenfalls wahrlich kein Ruhmesblatt „vorvatikanischer“ römisch-katholischer Theologie. – Einen „konfessionellen Zug“ meint auch Manfred Lochbrunner in seinem wichtigen Buch „Über das Priestertum. Historische und systematische Untersuchung zum Priesterbild des Johannes Chrysostomus“ (Hereditas 5, Bonn 1993, 14 f.) in den notae der Bengelschen Ausgabe wahrnehmen zu können, bleibt jedoch Begründungen schuldig. 100 Nota zu § 28 (Buch I, Kap. 3 [SC 272,74]). 101 Nota zu § 314 (Buch III, Kap. 13 [SC 272,210]). 102 Nota zu § 333 (Buch III, Kap. 14 [SC 272,222]). 103 Nota zu § 553 (Buch VI, Kap. 8 [SC 272,330)]). 104 Buch III, Kap. 11 (SC 272,192).
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bemerkenswerten Chrysostomosstelle (ex … Chrysostomi praesente ob id ipsum notabili loco) erhellt“. Das ist „eine gewaltige Metalepsis“ [ingens metalepsis], also eine Metapher, und zwar eine Art von doppelter Metonymie.105 Allerdings machen sich an wenigen, dafür wichtigen Stellen auch Vorbehalte geltend; und es spricht für die geradlinige Art des Mannes, wenn er sie offen anspricht. Z. B. bemerkt er zur Bezeichung Petri als κορυφαῖος τῶν ἀποστόλων106: Haec sententia tunc iam invaluerat („Diese Meinung hatte damals [sc. zur Zeit des Chrysostomos] bereits die Oberhand gewonnen“) und stellt dem das Zitat aus einem zeitgenössischen Matthäuskommentar (zu Mt 16,18) gegenüber, welches besagt, dass Christus „gewiss auf keinen Fall Petrus allen übrigen Aposteln hat vorziehen wollen“, mit Hinweis auf Mt 20,26; 28,1.18; Act 15, wo man lese, die Kirche habe nicht der sententia Petri, sondern des Jakobus Folge geleistet. Außerdem habe sich Petrus selbst in seinem 1. Brief, Kap. 5,1.2 (nur) als „Mitpresbyter“ bezeichnet. Wenig später wird anmerkungsweise107 darüber reflektiert, wer die Nachfolger Petri seien, im Anschluß an die Formulierung des Chrysostomos τῷ Πέτρῳ καὶ τοῖς μετ᾿ ἐκεῖνον. Nachdem der Kommentator aus vorliegenden lateinischen Versionen allerlei Übersetzungsvorschläge aufgegriffen hat, erklärt er mit Bestimmtheit, mit diesem μετὰ würden zweifelsfrei die „Nachfolger“ (successores) Petri bezeichnet, um fortzufahren: „aber die Nachfolger nicht nur aller Jahrhunderte, sondern auch aller Orte, die Hirten aller erlösten Schafe, einschließlich des Basileios (sc. des – wohl fiktiven – Dialogpartners des Chrysostomos in De sacerdotio)“, wie wir in § 90108 bedeutet würden. Zur Rechtfertigung dieser Deutung wird der „gesamte Kontext“ (totus contextus) und besonders die Wendung καὶ Πέτρον καὶ πάντας ἡμᾶς in § 87109 ins Feld geführt und zum Vergleich u. a. auf eine Stelle im Johanneskommentar des Chrysostomos (zu Joh 21,15 f.) verwiesen. Die gegenteilige, römisch-primatiale Deutung dieser Chrysostomosstelle durch R. Bellarmin110 habe bereits Fr. Junius111 widerlegt. In welchem Sinne von „Priestertum“ zu sprechen sei, überlegt Bengel zum Beginn von Buch III, Kap. 4, wo es heißt: „Das Priestertum (ἱερωσύνη) wird auf Erden ausgeübt (τελεῖται μὲν ἐπὶ γῆς)“.112 Dazu der Kommentar: „Nun kommt er 105 Vgl.
dazu Quintilian 6,52; 8,6,38. zu § 83 (Buch II, Kap. 1 [SC 272,100]). 107 Nota zu § 88 (ebenda [102]). 108 Buch II, Kap. 1 (SC 272,104). 109 Ebenda (SC 272,102). 110 Die Deutung Robert Bellarmins (1542–1621), des gewiss bedeutendsten Verteidigers des Papsttums in der Gegenreformation, ist bis ins frühe 20. Jahrhundert immer wieder von einzelnen römisch-katholischen Autoren vertreten worden; aber selbst Naegle (wie Anm. 98) hat sie als „unstreitig zu weit(gehend)“ abgelehnt (118 f., Anm. 5). 111 Franciscus Junius d. Ä., von 1584–1592 Theologieprofessor in Heidelberg; vgl. dessen die Kampfzeit der Reformation in Westeuropa illustrierende Autobiographie, Vita ab ipso con‑ scripta (vor 1594). 112 SC 272,142. 106 Nota
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(der Autor) zur Sache (Nunc ad rem venit)“; alsdann wird der neutestamentliche Sprachgebrauch vorgeführt und von dem der „Kirchenschriftsteller“ (scriptores ecclesiastici) abgehoben, welche nicht länger alle die als „Priester“ bezeichnen, „die durch den Glauben den (unmittelbaren) Zugang zu Gott“ und damit gewissermaßen das (hohe)priesterliche Zutrittsrecht zum Allerheiligsten „erlangt“ haben, sondern die „Vorsteher“ (duces) und „Leiter“ (rectores) der Herde Christi so nennen und „Priestertum“ deren Amt (munus), sei es, weil sie so aus ihrer heidnischen Vergangenheit zu sprechen gewohnt waren, sei es, weil sie sich dem alttestamentlichen Sprachgebrauch einfach anschlossen, oder sei es, weil sie eben kein für sie passenderes, bündigeres generale vocabulum zur Verfügung hatten. Bengel kündigt an, sich unterdessen, gemeinsam mit Chrysostomos, derselben Begrifflichkeit bedienen zu wollen, „aber nur aus dem Grunde, den wir kurz zuvor angeführt haben, und nur in dem Sinn, den unbeflecktere Zeiten113 für richtig anerkannt haben und den die Etymologie selbst an die Hand gibt, so dass damit ein heiliges öffentliches Amt und der Mann bezeichnet werden, der es auf sich nimmt“ (Nos item cum Chrysostomo hac quidem appellatione utimur; sed ea solum de causa, quam loco proximo posuimus, et ea solum notione, quam puriora probarunt tempora, et quam ipsum affert etymon, ut denotetur sacrum munus publicum, et vir qui id sustinet). Nach einem Hinweis auf des Suicerus Thesaurus zum Stichwort ἱερεύς macht sich nochmals Bengels Mißbehagen Luft, wenn er sagt: „Übrigens weiß ich nicht, ob an dem Priesternamen, bezogen auf den Diener der Kirche, besonderen Gefallen finden kann, wer immer zur Einsicht gelangte, dass das Priestertum, seinem geistlichen Verstande nach, entweder als Proprium Christi oder als gemeinsames Prädikat der Christen zu gelten hat“ (Ce‑ teroqui sacerdotis appellationem, de ministro ecclesiae, haud scio an valde amare possit, quisquis aut Christi proprium aut Christianorum commune sacerdotium spirituali intelligentia assecutus est). Er schließt die wichtige Anmerkung mit einem Hinweis auf eine Stelle im (lange Zeit Chrysostomos zugeschriebenen) Opus imperfectum in Mt, wonach „nicht jeder Priester ein Heiliger ist, wohl aber jeder Heilige ein Priester“ ist (Non omnis sacerdos sanctus est, sed omnis sanctus sacerdos), und auf eine patristische Brockensammlung (Bengel spricht von plures micae veterum) des Isaac Casaubon (1559–1614), Lehrers an der Genfer Akademie, der auch einige Äußerungen des Chrysostomos zum „Priestertum der Gläubigen“ aufgespießt habe. Gestoßen hat sich Bengel nicht zuletzt an der Rede vom kirchlichen Amt als „Herrschaft“ (ἀρχή) und von den Gläubigen als „Untertanen“ (ἀρχόμενοι), wie sie sich in De sacerdotio wiederholt findet. Wenn es dort beispielsweise heißt, dieses Amt sei „derart bedeutend, dass wir ohne es unmöglich die Seligkeit und die verheißenen Güter erlangen“ (τῆς τοσαύτης ἀρχῆς, ἧς ἄνευ οὔτε 113 Gemeint sind wohl die Jahrhunderte der „ersten Liebe“, von denen G. Arnold in seinem Erstlingswerk sprach (s. oben, 165 f.).
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σωτηρίας, οὔτε τῶν ἐπηγγελμένων ἡμῖν ἐστὶ τυχεῖν ἀγαθῶν)114, dann sieht sich der Kommentator zu folgender Erklärung herausgefordert: „Reichlich stark hebt Chrysostomos, seinem Vorhaben zuliebe, die priesterliche Gewalt, vor der er sich, wohlbemerkt, flüchtete, hervor (Satis amplificat suo serviens instituto Chrysostomus potestatem, quam ipse videlicet fugit, sacerdotum). Man muß das alles nüchtern (sobrie) auf sich nehmen (quae et debent accipi sobrie), und das wird auch möglich sein, wenn du das zu Hilfe nahmst, was G. Arnold und die anderen von ihm gelobten Autoren an Fingerzeigen bieten in der Theologia ex‑ perimentalis115, Kap. 25, § 79 ff. Eines legen wir ans Herz (Unum monemus): was von Chrysostomos oft genug als ἀρχή bezeichnet wird, das möge von denen, die sich anschickten, es auf sich zu nehmen, niemals ἀρχή genannt werden. Λειτουργία und διακονία heißt es, weil es offensichtlich nicht um den Dienst an Menschen (Sterblichen), sondern an Gott geht; mit diesen Benennungen wird zugleich die weltliche Gewalt (civilis potestas) ausgezeichnet (cohonestatur; vgl. Röm 13,4.6). Wiederum heißen diejenigen, die die Gemeinde (ecclesia) weiden (was selbst auch Bezeichnung einer königlichen Funktion [regale vocabulum] ist), ‚Vorsteher‘ (προιστάμενοι) …“. Ähnlich werden, mit genauen Stellenangaben, weitere im NT gebrauchte „Amts“-Termini durchgesprochen. Nach allem besteht für Bengel kein Zweifel, dass es sich bei dem zur Diskussion Stehenden um eine potestas handelt, auch wenn vor ihrem Missbrauch immer wieder gewarnt wird (wie z. B. 1 Thess 2,6; 1 Petr 5,3). Kurz danach begibt sich der Kommentator noch etwas weiter aus der Deckung und bemerkt zu der Aussage des Chrysostomos, Taufe und Austeilung der eucharistischen Gaben, „all das“ werde „durch nichts anderes als durch jene heiligen Hände vollbracht, ich meine die des Priesters“ (πάντα δὲ ταῦτα δι᾿ ἑτέρου μὲν οὐδενός, μόνον δὲ διὰ τῶν ἁγίων ἐκείνων ἐπιτελεῖται χειρῶν, τῶν τοῦ ἱερέως λέγω):116 „Recht emsig (übereifrig?), dafür zu wenig klar richtet Chrysostomos hier und an anderer Stelle (§ 196.216 usw.)117 Grenzen auf zwischen dem Priestertum einerseits, der weltlichen Gewalt, dem Stand des einfachen Christen (ohne Amt) oder auch den außerordentlichen Gaben (sc. den Charismen) andererseits (Satis naviter, sed parum liquido Chrysostomus sacerdotii fines a potestati civili, a statu Christiani privati, vel etiam a donis extraordinariis disterminat hoc loco …). Allerdings riecht (schmeckt) das nach einer Übertreibung, die schon damals (sc. zur Zeit des Chrysostomos) bemerkbar war; wer sie wahrnimmt, möge doch ja nicht irgend einem damaligen Mangel einen (weiteren) aus (uns) näherer (also späterer) Zeit hinzufügen (Omnino haec excessum sapiunt, qui jam tum erat notabilis: quem qui vident, utinam ne eorum ulli defectum cumu‑ 114 Nota
zu § 186 (Buch II, Kap. 5 [SC 272,150]). dem Untertitel: „das ist: Geistliche Erfahrungslehre oder Erkenntnis und Erfahrung von den vornehmsten Stücken des lebendigen Christentums“, Frankfurt / M. 1714. 116 Nota zu § 187 (Buch III, Kap. 6 [SC 272,150]). 117 Buch III, Kap, 6 (SC 272,154); 9 (164) etc. 115 Mit
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lent citeriorum temporum)“. Allein, als hätte er sich nun doch zu weit hervorgewagt, fügt er eilends hinzu: „Es ist nicht unsere Sache, darüber zu belehren, für welche Gruppen (Parteien [sc. in der Gemeinde]) jenes oder unser Zeitalter dieselben Grenzen weiter oder enger abstecken soll, gestützt auf den Willen des Herrn und die Lenkung des Geistes (denn das ist die Richtschnur)“ (Nostrum non est docere, quibus partibus illa nostrave aetas eosdem fines plus minusve ex voluntate Domini et ex gubernatione Spiritus [haec enim norma est] regat). Wen diese Rechtsfrage (cura jurum) beunruhigt, der ziehe Pfaff, Boehmer, Seiz und Kromaier118 zu Rate und in Erwägung. Der Herr hat den Weinberg Arbeitern aller Art (operariis omnium generum) übergeben (ἐξέδοτο, tradidit), bis zu dem Tage, da es Rechenschaft abzulegen gilt … Wer sich selbst ein guter Vorgesetzter ist (sibi bene praeest), der ist darum besorgt, dass er nicht mehr auf sein Recht als auf sein Amt pocht (ne jure magis quam officio fretus), (nicht) sich selbst Beifall spendet, anderen nach dem Munde redet und so sich selbst und das Seine sucht und Himmel und Erde mit einander vertauscht; sondern solange er für die Kirche Sorge trägt, soll er ein lebendiges Glied (am Leibe) Christi sein. Indes, was immer die übrigen von einem Priester für sich erwarten: Chrysostomus tut, wie er sich’s vorgenommen, unumstößlich dar, dass es etwas Großes um die Würde des Priesters sei, welche der Gnade Christi zu verdanken ist“ (Interea quicquid a sacerdote ceteri sibi vendicant; Chrysostomus, quod sibi proposuit, evincit, magnam esse sacerdotis ex divino munere dignitatem). Ich kann mich, nach allem, nur i. w. dem Urteil A. Ritschls anschliessen, das da lautet:119 „Bengel war ein Charakter von der reinsten und aufrichtigsten Art, mit umfassendem Überblick über alle Beziehungen des religiösen und sittlichen Lebens, selbständig und maßvoll im Urtheil, von ausgeprägter Weisheit in der Behandlung aller möglichen Lebensverhältnisse, namentlich in der Erziehung der Jugend, demüthig und bescheiden, gelassen, mehr in sich gekehrt als nach Außen gewendet, aber vielleicht deshalb von der entschiedensten Wirkung auf seine Umgebung“. Er hat, so füge ich hinzu, wie schon viele Lutheraner vor ihm, nicht zuletzt J. Gerhard, den er auch gelegentlich zitiert, über eine ausgebreitete Kenntnis der Kirchenväterliteratur verfügt, ist ihr mit offenem Sinn entgegengetreten und hat, wenn nicht alles täuscht, gerade auch in Chrysostomos einen Geistesverwandten entdeckt, ohne mit seinen eigenen, reformatorischen Überzeugungen zu brechen. 118 Darunter sind die ersten beiden, Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) und Justus Henning Boehmer (1674–1749), noch heute wohlbekannte Klassiker des ev. Kirchenrechts (im Anschluss an das kanonische Recht), während der letztgenannte, Hieronymus Kromayer (1610–1670), einer älteren Generation angehört und, zuletzt Theologieprofessor in Leipzig, zu den bekannteren, wenn auch nicht gerade hervorragendsten Vertretern der lutherischen Orthodoxie gezählt wird (Hauptwerk: Theologia positiva polemica, 1607). 119 Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. III, Bonn 1886, 83.
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Abstract This paper is mainly occupied with Lutheran pietism in Germany. So it seemed to be necessary to start with the question, if it is correct to say, that Chrysostom could find, for a long time, no quarter within Lutheranism, as a consequence of Luther’s often confirmed distaste for him. To investigate that, a first section outlines the reception of Chrysostom by German Lutherans during the 16 th and 17 th centuries, beginning with Antonius Corvinus (1501–1553) and culminating in Johann Gerhard in Jena (1582–1637) who composed the first “patrology” we know and published a voluminous dogmatics (Loci theologici), probably the most important work of “Lutheran orthodoxy”, full of patristic and medieval stuff. A next section tries to reconstruct the patristic fundament of some outstanding pietist writings like Philipp Jacob Spener’s Pia Desideria (1675) and esp. Gottfried Arnold’s “Die geistliche Gestalt eines Evangelischen Lehrers Nach dem Sinn und Exempel der Alten Auff vielfältiges Begehren Ans Licht gestellet” (“The spiritual figure of an Evangelical teacher according to the meaning and model of the ancients, brought to light by multifarious request” [Halle 1704]). The final and most extensive section is devoted to the inquiry, which perception of John Chrysostom is underlying the outstanding edition, translation and commentary of Chrysostom’s De sacerdotio by Johann Albrecht Bengel (1687–1752), published for the first time in Stuttgart 1725. The result is, as I see it, fairly astonishing and impressing.
XIII.
Situationsgerechtes kirchliches Handeln in der Spätantike und heute am Beispiel des Johannes Chrysostomos* Problematisierung Welchen Sinn könnte es haben, im Rahmen von Überlegungen zur Verbesserung und Umgestaltung heutiger kirchlicher Arbeit ausgerechnet einen Theologen und Kirchenmann der Spätantike in den Zeugenstand zu bitten? Auf diese Frage müsste wohl zunächst eine Antwort gefunden werden, bevor man es unternimmt, aus den historischen Quellen Kriterien herauszuheben, die sich, unter Umständen, für eine kirchliche Neugestaltung heute übernehmen, erlernen und zu vergleichbarer Wirkung bringen ließen. Gewiss, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem literarischen Erbe des christlichen Altertums, also die „Patristik“1, hat ohne Zweifel zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Aufschwung genommen, von dem sie vielfach noch heute zehrt. Daran hat der deutsche Protestantismus einen herausragenden Anteil gehabt, wie man sich am Lebenswerk des großen Gelehrten, des Deutschbalten Adolf von Harnack verdeutlichen kann. Aber ebenso wenig lässt sich in Abrede stellen, dass sich gleichzeitig die eigentlich „theologische“ Beschäftigung mit den „Kirchenvätern“ – jedenfalls innerhalb des deutschen Protestantismus – einem Tiefpunkt näherte2. Auch das lässt sich nicht zuletzt * Überarbeitete und wesentlich erweiterte Fassung meines – Rudolf Brändle (Basel) gewidmeten – Porträts des Kirchenvaters, „Jahresregenten“ von 2007, für den vom Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer herausgegebenen „Pfarramtskalenders 2007“, 9–25. In diese Revision hat auch mein gleichbetitelter Festvortrag aus Anlass des 90. Geburtstages von Fairy von Lilienfeld in Erlangen Eingang gefunden, veröffentlicht in: KuD 55 (2009) 148–168. 1 Abgeleitet von pater („Vater“), im Sinne von „Autorität“; in diesem Sinne pflegte beispielsweise Thomas von Aquin von seinem philosophischen Gewährsmann schlechthin, Aristoteles, als pater A. zu sprechen, was zeigt, dass auch bei Thomas pater keineswegs ohne weiteres mit „Kirchenvater“ gleichgesetzt werden darf. 2 Das klingt reichlich hart und bedarf der Begründung. Allein, wer sich einmal klargemacht hat, was von der Reformation, besonders von Ph. Melanchthon, an bis weit in den Pietismus hinein einmal im deutschen Luthertum lebendig war an Kenntnis der Kirchenvätertradition und Offenheit für sie, kann schwerlich zu einem anderen Urteil gelangen; vgl. dazu jetzt auch meinen Beitrag zu dem Symposiumband „Chrysostomosbilder in 1600 Jahren“, hg. v. Rudolf Brändle/Martin Wallraff, Berlin 2008, mit dem Thema: „Das Chrysostomosbild im Pietismus am Beispiel J. A. Bengels“ [in erweiterter Form aufgenommen in Kap. XII in dieser Sammlung]. Wie
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an Harnacks imponierendem Lebenswerk reichlich belegen, was aber an dieser Stelle unterbleiben muss und kann. Zur Erläuterung genüge der Hinweis, dass ein mehr als distanziertes, historisch-„archivalisches“ Verhältnis zu seinem eigenen wissenschaftlichen Hauptgegenstand, der Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte, für Harnack schon deshalb nicht ernsthaft in Betracht kam, weil dies für ihn eine Hinwendung zum Dogma und zum Katholizismus3 eingeschlossen hätte, die sich jedoch nach seinem Dafürhalten überlebt haben. Dementsprechend hat er den Begriff der „Patristik“, für seinen eigenen Bedarf und Gebrauch zumindest, soweit ich sehe, nie verwendet. Schon bald nach Harnacks Tod deutete sich indes eine Wende an. Wie sich früher bereits – namentlich in Zeiten der Not und der Erneuerung der Kirche – die Blicke immer wieder deren Anfangszeit, den „Jahrhunderten der ersten Liebe“, zuwandten, so wurde für Dietrich Bonhoeffer das Studium der „Kirchenväter“, wie es bei ihm jetzt ganz bewusst hieß, bei seinen Überlegungen über die Zukunft der Christenheit wichtig. Derselbe Bonhoeffer, der, damals 24 jährig und unmittelbar vor seiner Habilitation für das Fach Systematische Theologie stehend, noch im Sommer 1930 dazu auserkoren worden war, in der akademischen Gedenkfeier für Harnack, namens des letzten Schülerkreises des Heimgegangenen, das Wort zu ergreifen und für eine Vielzahl junger Theologen zu sagen, was dieser ihrer Generation bedeute und bleibe, schrieb nur etwas mehr als 13 Jahre später in einem der (in „Widerstand und Ergebung“ abgedruckten) Briefe aus der Haft: „Ich lese jetzt mit viel Interesse Tertullian, Cyprian und die anderen Kirchenväter! Zum Teil viel zeitgemäßer als die Reformatoren und zugleich eine Basis für das evangelisch-katholische Gespräch …“.4 Wer hatte recht, Harnack oder Bonhoeffer? M. a. W., was gilt, am Anfang dieses, des 21. Jahrhunderts? Bringt die Beschäftigung mit den „Kirchenvätern“ außer Einsichten in die „Archäologie“ des Christentums noch mehr Gewinn, bringt sie wohl gar „Zeitgemäßeres“ zu Gesicht, als sich der von Harnack glanzvoll es im deutschen Protestantismus in und seit der Aufklärung um die „Relevanz der Patristik“ bestellt war, behandeln die Beiträge zu einer Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft, die unter dem Titel „Zwischen Altertumswissenschaft und Theologie. Zur Relevanz der Patristik in Geschichte und Gegenwart“ herausgegeben wurden von Christoph Markschies/Jan van Oort, Leuven 2002 (s. dazu meinen Bericht in: ThR 71 [2006] 482–485). 3 Vgl. nur seinen Beitrag zur Ehrung Nathan Söderbloms aus dem Jahre 1925 (in: Die Eiche 13 [1925] H. 3) unter dem Titel: „Über den sogenannten ‚Consensus quinque-saecularis‘ als Grundlage der Wiedervereinigung der Kirchen“ (ebd., 287–299). Zur Würdigung und theologiegeschichtlichen Einordnung dieses Votums s. Reinhard Slenczka, Dogma und Kircheneinheit, in: HDThG2 3, 1998, 426–606; hier: 476–478; Christoph Gestrich, Einheit und Koinonia. Grundfragen der Ekklesiologie im Gespräch zwischen Evangelischer und Orthodoxer Kirche, in: ÖR 44 (1995) 425–451; zum Problem: Harnack und die Patristik s. einstweilen Adolf Martin Ritter, Adolf von Harnack und die Frage nach dem Wesentlichen des Christentums in altkirchlicher Perspektive, Gütersloh 2000; wieder abgedr. in: ders., Vom Glauben der Christen und seiner Bewährung in Denken und Handeln. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Mandelbachtal-Cambridge 2003, 250–261. 4 D. Bonhoeffer Werke VIII, hg. v. Christoph Gremmels u. a., Gütersloh 1998, 198.
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repräsentierte „Kulturprotestantismus“ träumen ließ? Die Antwort kann nur die Beschäftigung mit der Sache selbst erbringen, z. B. das Studium von Weg, Wirken und Wirkung des Johannes Chrysostomos, dessen Todestag sich am 14. September 2007 zum 1600. Male jährte. – Wir wollen im folgenden wenigstens ein paar der Vergewisserung dienende Schritte in diese Richtung wagen.
Chrysostomos in den Herausforderungen seiner Zeit Kurzbiographie5 Johannes, wegen seiner außerordentlichen rednerischen Begabung mit dem Beinamen Chrysostomos („Goldmund“6) ausgezeichnet, wurde, wohl 349, in Antiochien, der syrischen Hauptstadt am Orontes und „dritt(größt)en Stadt der Erde“ (Libanios) – nach Rom und Alexandrien –, als Sohn eines höheren Militärs geboren. Sein Vater starb, noch bevor er, Johannes, zwei Jahre alt war; dennoch war seine Mutter, an der er offenbar sehr hing, in der Lage, ihm eine standesgemäße, allerdings rein „hellenische“ Bildung und Ausbildung angedeihen zu lassen. Nachdem er im Alter von 18 Jahren die Taufe empfangen hatte, die auch für ihn die Besiegelung eines geistlich-asketischen Lebens bedeutete, unterzog er sich für drei Jahre einer gründlichen Ausbildung in der „Beredsamkeit“ (Rhetorik), damals einer Schlüsseldisziplin, die die Türen zu einer Vielzahl gehobener Berufe öffnete. Nach Abschluss dieser Ausbildung erhielt er bereits die Weihe zum „Lektor“ (ἀναγνώστης). Dass er seiner Gesinnung nach gleichwohl Mönch und Asket zu werden und zu bleiben gedachte,7 geht schon daraus hervor, dass er sich zur selben Zeit dem „Asketerion“ unter Leitung des Karterios und Diodors, des späteren Bischofs von Tarsos und ersten Hauptes der sog. „antiochenischen Exegetenschule“, anschloss. Es war das ein Kreis, in dem er sich – in Gemeinschaft u. a. mit einem später so berühmten (wie allerdings auch umstrittenen) Mann wie Theodor von Mopsuestia – zugleich geistlich-asketischen Übungen wie strenger theologischer Arbeit unterzog. Wohlgerüstet wie sicherlich nur wenige Kleriker seiner Zeit übernahm er nach seiner Presbyteratsweihe (386) das Amt des Hauptpredigers von Antiochien. Fast zwölf Jahre wirkte er hier. Dann aber starb der Bischof der Reichshauptstadt, Konstantinopel, Nektarios. Am Ende eines langen und unwürdigen Ränkespiels um die Nachfolge, an dem, wie gewohnt, der alexandrinische „Papst“ Theophilos maßgeblich beteiligt war, fiel die Wahl des Kaisers und seiner Rat5 Für Einzelbelege in diesem Abschnitt s. i. a. den vorzüglichen Lexikonartikel von Rudolf Brändle, Johannes Chrysostomus I, in: RAC 18, Stuttgart 1998, 426–503 (hier: 427–438). 6 Dies die wörtliche Übersetzung von Chr. (Χρυσόστομος). Die deutsche Form wird im folgenden im Wechsel mit der griechischen benutzt (diese freilich durchweg in Umschrift). 7 Vgl. dazu o. S. 59–66 f. die Auseinandersetzung mit W. Mayer und M. Illert.
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geber auf Chrysostomos. Der Grund war wohl, dass dieser nicht nur außerhalb des kirchenpolitischen Treibens stand, sondern auch bereits damals als Kanzelredner und geistlicher Schriftsteller weit über die Grenzen seiner Vaterstadt hinaus berühmt war. So vermochte er dem Repräsentationsbedürfnis von Hof und Hauptstadt besser als andere zu genügen. Chrysostomos stieg also zum höchsten Würdenträger der Kirche des Ostreichs auf. Allein, alsbald einsetzende Streitigkeiten mit dem Hof, vor allem mit der Kaiserin Eudoxia und ihrem schier allmächtigen Günstling, dem Eunuchen Eutropios, und nicht zuletzt auch mit missgünstigen Bischofskollegen sowie bestimmten monastischen Kreisen in Konstantinopel und seiner Umgebung, führten am Ende, im Frühjahr 403, zu seiner Absetzung durch die sog. „Eichensynode“.8 Sein Sturz rief in Konstantinopel eine ungeheure Erregung hervor, die durch ein als Gottesurteil empfundenes „Unglück im kaiserlichen Schlafgemach“,9 wohl eine Fehlgeburt, noch gesteigert wurde. Nur einen Tag später wurde Chrysostomos zurückgerufen. Seine Rückkehr glich einem wahren Triumphzug. Schon bald entstanden indes neue Meinungsverschiedenheiten, so dass er ein Jahr später endgültig abgesetzt und nach Armenien verbannt wurde. Als jedoch, seinem Biographen (und nahezu schrankenlosen Bewunderer10) Palladios zufolge, die „gesamte Kirche Antiochiens“, seiner einstigen Wirkungsstätte, nach Armenien zu wallfahrten begann,11 um den unvergessenen Prediger zu hören, wurde diesem auf kaiserlichen Befehl das im äußersten Winkel des Reichs gelegene Pityos am Schwarzen Meer als Exilsort angewiesen. Obwohl bereits schwerkrank, trat Chrysostomos, und zwar zu Fuß, die rund 380 km weite Reise dorthin an, erlag aber bereits nach wenigen Tagen, im pontischen Komana, den Schikanen seiner Bewacher. Das literarische Werk Gleichwohl – oder vielleicht gerade deswegen – war sein Nachruhm unermesslich. Wie seinen Gegnern keine andere Wahl blieb, als ihn wenige Jahrzehnte nach seinem Tod in der Verbannung in die Kirchengemeinschaft wiederaufzunehmen, ja, seine Gebeine im Triumphzug von der Schwarzmeerküste nach Konstantinopel zu überführen und in der dortigen Apostelkirche, der Grablege der Kaiser (!), 8 Benannt
nach ihrem Tagungsort, dem Landgut Drys bzw. Rufinianai bei Chalkedon in Kleinasien. Zu den Hintergründen dieser Auseinandersetzungen s. o. S. 147–149 (Liebeschütz u. a.). 9 Palladios, dial 9; anders Sokrates (Kirchengeschichte VI 16,1–6), nach dem es anhaltende Tumulte von Chrysostomosanhängern auf der Straße waren, die den Kaiser nötigten, den beliebten Bischof wieder zurückzurufen. 10 Im krassen Gegensatz etwa zu dem Kirchenhistoriker Sokrates (vgl. Martin Wallraff, Der Kirchenhistoriker Sokrates. Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person [FKDG 68], Göttingen 1997, bes. 55–75); zu den Gründen von dessen Abneigung, ja Feindseligkeit gegen den „Goldmund“ s. u. Anm. 96. 11 Pall. dial. 11, 85 f. (SC 341, 222).
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beizusetzen (438), so trägt auch die byzantinische Hauptliturgie, spätestens seit Ende des 1. Jahrtausends n. Chr., kaum ohne jede Berechtigung seinen Namen.12 Vor allem aber schlägt sich das hohe Ansehen in einer ungewöhnlich reichen handschriftlichen Überlieferung seines literarischen Werks nieder, des umfangreichsten, das je ein griechischer Kirchenvater hinterlassen hat: rund 14 Abhandlungen, darunter ein umfangreicher Dialog De sacerdotio (Περὶ ἱερωσύνης), „Über das Priestertum“, wie man allgemein übersetzt, in 6 Büchern oder „Reden“ (λόγοι), 820 sicher authentische Predigten (eingeschlossen vier Kommentare zu biblischen Büchern) und 240 Briefe; die Überlieferung ist so reichhaltig, zumal, wenn man außer den griechischen Originalen auch noch die Übersetzungen in andere Literatursprachen der Antike einbezieht, dass eine modernen Ansprüchen genügende historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke über allerlei Vorarbeiten noch immer nicht hinausgediehen ist. Den Beinamen „Goldmund“, der zuerst dem Rhetor Dion von Prusa (um 40 bis nach 112 n. Chr.) beigelegt worden zu sein scheint, erhielt er noch lange nach seinem Tode.13 Dogmatische Fragen spielen in diesem Werk, anders als etwa in dem des Studienfreundes Theodor von Mopsuestia, kaum eine Rolle. Auch sucht man bei ihm vergebens nach eingehenderen theoretischen Erwägungen, etwa zur Schriftauslegung,14 selbst wenn seine Predigtpraxis, wie zu zeigen sein wird, auf soliden theoretischen Grundlagen aufruhte. Dafür gelingt es ihm, den man den eigentlichen „Bibelmann“ der Alten Kirche genannt hat,15 das wesentlich Christliche scharf zu erfassen und es zu einer geschlossenen Sicht zu verbinden,16 in der auch das aufblühende Mönchtum mit seiner besonderen Berufung 12 Vgl. zur Plausibilität dieser Zuschreibung noch immer in erster Linie Georg Wagner, Der Ursprung der Chrysostomosliturgie (LWQF 59), 1973; Robert Taft, The authenticity of the Chrysostom anaphora revisited, in: OCP 56 (1990) 5–51; ferner Frans van der Paverd, Zur Geschichte der Messliturgie in Antiocheia und Konstantinopel gegen Ende des vierten Jahrhunderts. Analyse der Quellen bei Johannes Chrysostomus (OCA 187), Rom 1970. 13 Erster Beleg wohl bei Facundus von Hermiane, defens 4,2,26 (CCL 90A, 112), aus der Zeit um 547; zit. bei Brändle (wie o. Anm. 6), 494. 14 Es fehlt dagegen nicht an versprengten, wiewohl interessanten Einzeläußerungen, etwa zum Verhältnis von „geistlichem“ („anagogischem“) und „historischem“ Schriftsinn (vgl. z. B. seinen Hiobkommentar, hg. u. übers. v. Ursula/Dieter Hagedorn [PTS 35], Berlin 1990, wo es zu Kap. 40,15 a heißt: es sei dem Ausleger „wohl bekannt“, dass „viele“ die hier erwähnten Tiere „in übertragenem Sinne [κατ᾿ ἀναγωγήν] verstehen und glauben, sie bezögen sich auf den Teufel. Man muss sich aber zunächst um den historischen Sinn bemühen [δεῖ δὲ πρότερον τῆς ἱστορίας ἐπιμεληθῆναι] und dann, sofern dem Hörer auch ein Gedanke aus der übertragenen Erklärung Nutzen bringt, diesen nicht außer acht lassen“ [196]); mit derartigen Bemerkungen ordnet sich Chr. ganz in die „antiochenische“ Schultradition ein. 15 Adolf von Harnack, Über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften in der alten Kirche (Beitr. z. Einl. in das NT, V), 1912, 81. 16 Dies ist in dem „Kurzporträt“ (s. o. Kap. IX) mit wenigen Worten zu beschreiben versucht worden. Auch Jutta Tloka, Griechische Christen – Christliche Griechen (STAC 30), Tübingen 2005, zeigt sich von der denkerischen Kraft des „Goldmundes“ überzeugt, wenn sie sich in der Beschäftigung mit dessen Werk immer wieder auf die strukturierende Bedeutung des Gedankens von der Kondeszendenz (συγκατάβασις) Gottes gelenkt sieht (s. Register s. n. σ.);
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und seinen besonderen Gaben seinen festen Platz hat. Chrysostomos vermag in seiner Schriftauslegung die Vision von Eindeutigkeit, von Verbindlichkeit, von Authentie („Echtheit“) zu vermitteln, ohne zwangsläufig aus der „Welt“ herauszuführen, und in diesem Zusammenhang Zentralgedanken der Bibel wie der Begegnung mit Christus im Armen (Mt 25,31–46)17 oder der paulinischen „Lehre“ von der Kirche als dem aus vielen Charismen („Geistesgaben“) und Charismatikern erbauten „Leib Christi“ ein klares Profil zu geben.18 So stößt er auch, selbst tief im Mönchtum wurzelnd, gelegentlich bis an die Grenze sozialkritischer Überlegungen zur Sklaverei oder zum Privateigentum vor und vergisst nicht, bei aller Nähe zur Popularphilosophie, immer wieder auch den Unterschied zu betonen, z. B. mit dem Hinweis auf den – grundsätzlich – „sozialen“ Charakter des Christentums. – Das gilt es jetzt ein wenig zu verdeutlichen:
Schwerpunkte chrysostomischen Denkens Mönchtum und Kirche19 Prinzipieller Ausgangspunkt ist für Chrysostomos auch hier der eben angesprochene „soziale Charakter“ des Christentums. Sieht er doch darin den entscheidenden „Maßstab vollkommenen Christentums“, darin dessen exakte Definition und höchste, durch nichts zu überbietende Verwirklichung: zu suchen, was dem Wohl der Gemeinschaft dient,20 zu wissen, dass das eigene Heil auf Gedeih und Verderb mit dem des Nächsten verknüpft ist, oder um es (mit R. anders Martin Illert, Johannes Chrysostomus und das antiochenisch-syrische Mönchtum, (Diss. Kiel) Zürich / Freiburg i. Br. 2000, 45; vgl. auch 41 f. (zur Kritik s. o. S. 63 f). 17 Das hat Rudolf Brändle in seiner Baseler Habilitationsschrift monographisch behandelt: Matth. 25,31–46 im Werk des Johannes Chrysostomos. Ein Beitrag zur Auslegungsgeschichte und zur Erforschung der Ethik der griechischen Kirche um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert (BGBE 22), Tübingen 1979. 18 Vgl. dazu Ritter, Charisma, passim. 19 Vgl. Ritter, Charisma, 90–98, bes. 93–95, mit reichlichen Belegen; ferner ders., Gottesherrschaft, passim; Tloka (wie Anm. 16), 158–175; zu den sozialen Verhältnissen in Antiochien und Konstantinopel zur Zeit des Chr. s. Wendy Mayer, Poverty and Society in the World of John Chrysostom, in: Social and Political Life in Late Antiquity, hg. v. William Bowden u. a. (Late Antique Archaeology III.1), Leiden-Boston 2006, 465–484, mit weit. Lit. 20 Predigten zu 1 Kor, hom 25 (PG 61,208); vgl. ebenda hom. 36 (311). – Die Formulierungen des Chrysostomos sind so unmissverständlich, dass es einigermaßen überrascht, in dem – im übrigen, wie immer, lehrreichen und empfehlenswerten – Buch von Ekkehard Mühlenberg, Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen (AAWG P 272), Göttingen 2006, zu lesen, „drei Mustertypen“ seien es, die sich in der Zeit der Alten Kirche herausbildeten und „die als Kriterien für das echte Christsein dienten“: „die Gestalt des Märtyrers, die Idee der Virginität und die monastische Lebensform der Demut“ (77). Das lässt nicht nur, wie der Verf. selbst einräumt, „dem Thema Ethik bei Augustin nicht den gebührenden Raum“ (ebd.), sondern will zu Chrysostomos überhaupt nicht passen.
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Bultmann)21 im Sinne des Paulus und dessen Rückkoppelung des Imperativs an den Heilsindikativ zu formulieren, dass es überhaupt nicht länger um „individuelle Vervollkommnung“ (προκοπή), sondern um „Auferbauung“ (οἰκοδομή) des „Leibes Christi“ geht, eben weil der durch die „Barmherzigkeitserweise Gottes“ (οἰκτιρμοὶ τοῦ θεοῦ) auf eine neue Basis Gestellte, in seinem Handeln von der Sorge um sich selbst entlastet, die vom Nächsten ausgehende Forderung zum entscheidenden Motiv und Maßstab seines Handelns machen kann und soll (Röm 12,1.2). Dementsprechend sucht Chrysostomos, in den durch den paulinischen Grundsatz des „Alles zum gemeinschaftlichen Nutzen“ (1 Kor 12,7) abgesteckten Rahmen auch das Mönchtum mit seiner besonderen Berufung und seinen besonderen Gaben und Möglichkeiten einzuordnen. Wie er selbst eine „viel zu aktive Natur“ war, „um in der reinen asketischen Vollkommenheit dauernd Genüge zu finden“22, so verlangt er auch von den Mönchen insgesamt, höher als das Streben nach eigener Vervollkommnung das Heil des Nächsten zu stellen. Gerade ihnen hält er das Beispiel „jenes Bedauernswerten“ (Mt 25,24–30) vor, dem es „nichts geholfen“ habe, „dass er sein Talent nicht verminderte, sondern weil er es nicht vermehrte“, habe er es „vollständig eingebüßt“.23 Von daher sucht er die Mönche dafür zu gewinnen, sich nicht in die Einsamkeit der Berge und Wüsten zu flüchten, sondern inmitten oder wenigstens gleichsam „in Sichtweite“ der Städte und Dörfer, da, wo das alltägliche Leben gelebt wird und wo immer aufs neue die „Erfüllbarkeit“ der göttlichen Gebote wie der „Grund“ christlicher „Hoffnung“ (1 Petr 3,15) in Frage steht, Pflanzstätten der „Tugend“ zu errichten, entsprechend dem Gebot Christi: „Lasst euer Licht 21 Der Einspruch von Ruben Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ, in: ThLZ 132 (2007) 259–284, hat mich nicht davon überzeugt, dass dies Erklärungsmuster aufgegeben werden müsse, weil es die Dinge zu stark vereinfache. An Röm 12,1.2, jedenfalls, behält es eine starke Stütze. Allerdings spielt diese „Grundlegung paulinischer Ethik“, als die man die beiden Anfangsverse von Röm 12 bis dahin überwiegend anzusehen pflegte, in Z.s Votum merkwürdigerweise – oder bezeichnenderweise? – überhaupt keine Rolle. Bei aller Kritik an der konkreten Ausgestaltung des in Frage stehenden Erklärungsmodells bei einigen seiner Vertreter ist auch James D. G. Dunn (The theology of Paul the Apostle, Grand Rapids, Mich. 1998) der Überzeugung, es sei nach wie vor „weithin unstrittig, dass der Indikativ die notwendige Voraussetzung und der Ausgangspunkt für den Imperativ ist“, vorausgesetzt, der Imperativ verliert darüber nicht an Ernst und Gewicht. „Denn die paulinische Paränese auf einen nachträglichen Einfall (afterthought) zu reduzieren, hieße des Paulus Theologie misszuverstehen“ (Kap. 8, § 23.1). Ähnlich äußert sich Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, NeukirchenVluyn 2011, 317–335, hinsichtlich der „theologische(n) Einbettung der paulinischen Ethik“ und unterstreicht dabei zum einen die Einbettung der Korrelation von Indikativ und Imperativ bei Paulus in seine Ekklesiologie (317–323), zum anderen die Bedeutung des „Prinzip(s) der egalitären Reziprozität“ im paränetischen Zusammenhang (323–335), wie sich gerade auch an Röm 12 und 13 zeigen lasse. – Ich denke, der „Goldmund“ wäre mit diesen beiden Interpretationen ganz einverstanden gewesen; vgl. dazu jetzt auch Christopher A. Halls „Chrysostomus“-Kapitel in: S. Westerholm (Ed.), The Blackwell Companion to Paul, Malden, MA-Oxford 2011, 330–344. 22 Hans von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, Stuttgart (1955) 81993 (Urban-Tb 14), 137–152 (hier: 139). 23 Über das Priestertum, VI 10 (SC 272,338).
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leuchten vor den Menschen“ (Mt 5,16), „nicht vor den Bergen“ wie er hinzufügt, „nicht in den Wüsteneien oder an unzugänglichen Orten“.24 Ob man Chrysostomos deshalb eine zunehmend reservierte Haltung dem Mönchtum gegenüber zuschreiben darf, ist mir mehr als fraglich. Falls damit gemeint ist, dass er sich je von den monastischen Idealen innerlich entfernt oder gar die Existenzberechtigung des Mönchtums überhaupt in Frage gestellt hätte, wird man das sogar rundheraus verneinen müssen. Hat er doch zeitlebens, selbst noch als Bischof von Konstantinopel, inmitten all des höfischen Getriebes und Prunks, an einer streng asketischen Lebensweise festgehalten – sehr zum Leidwesen vieler in seiner Umgebung! – und darüber hinaus in Predigten und Briefen mit seiner Meinung über die positive Rolle und bleibende Bedeutung des Mönchtums nicht hinter dem Berge gehalten. Sie lässt sich wohl in Kürze am besten so umschreiben, dass für ihn die Mönche, inmitten einer ständig von der Gefahr der Verweltlichung bedrohten, ständig mehr oder minder faule Kompromisse schließenden und mit den – vermeintlichen oder wirklichen – „Realitäten“ paktierenden Christenheit, schon durch ihre bloße Existenz ein Moment der heilsamen Irritation und ein „Zeichen“ sind: Ein lebendiges Memento nämlich der Vorläufigkeit all dessen, was die „Welt“ fasziniert oder quält, eine ständige Erinnerung daran, dass Christen auf Erden „Fremdlinge“ und auf Pilgerschaft sind, und eine unaufhörliche Mahnung zu der von allen geforderten „Vollkommenheit“ (τελειότης; vgl. Mt 5,48; 19,21), die, wie ihr Beispiel lehrt, keine bloße Utopie ist. Wohl aber zielen seine an die Adresse der Mönche gerichteten kritischen Äußerungen darauf ab, dass das Mönchtum nicht ein totes Kapital im Haushalt der Kirche bleibe, dass es vielmehr nach Kräften für deren geistliche Erneuerung nutzbar gemacht werde. Das macht es allerdings erforderlich, energisch auch den Gefahren und Entartungserscheinungen im Mönchtum selbst entgegenzutreten und sich für die rechte Rangordnung innerhalb der Hierarchie der mönchischen Wert‑ und Zielvorstellungen, d. h. für ihre konsequente Ausrichtung an der „Auferbauung“ der Kirche als des „Leibes Christi“ einzusetzen, dafür, dass der Dienst an der Gemeinschaft unter die Motive der Askese selbst aufgenommen werde und dort – zusammen mit der ungeteilten Hingabe an Gott oder vielmehr als deren vorzüglichster Ausdruck – an erster Stelle rangiere.25 Diese Rolle kann aber dem Mönchtum überhaupt nur zugewiesen werden, weil es für Chrysostomos keine „doppelte Moral“, keine verschiedenen „Klassen“ von Christen gibt: keine je verschiedene Ethik für Mönche und für „Weltleute“, zu Röm, hom 27 (26), 4 (PG 60,644). u. a. Matthäushomilien, hom 77 (78), 5.6 (PG 58,708–710); Homilien über 1 Kor, hom 25 (PG 61,209–212); Homilien über Tit, hom 6 (PG 62,698). – Dass dies nicht überall im Mönchtum auf Verständnis und Gegenliebe stieß, sondern zur – fürs erste erfolgreichen – Opposition gegen Chrysostomus in Konstantinopel auch mönchische Kreise zählten, ja darin als treibende Kraft agierten, das ist kaum überraschend! 24 Predigten 25 Vgl.
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für „vollkommene“ und für Durchschnittschristen. Vielmehr erklärt er rundheraus: „Wer in der Welt lebt, soll vor den Mönchen nichts voraushaben als allein dies, dass er mit einem Weibe zusammenleben darf “. In dieser Hinsicht trifft er auf Nachsicht (συγγνώμη), in allem übrigen jedoch ist er zu demselben verpflichtet wie der Mönch. Auch sind die Seligpreisungen Christi nicht allein an die Mönche gerichtet. Andernfalls ginge ja die ganze Welt zugrunde, und wir müssten Gott, den „Stifter des Ehestandes“, „der Grausamkeit bezichtigen … Wie wäre sonst auch die Ehe (sc. mit dem Hebräerbrief) als ‚ehrenhaft‘ (τίμιος) zu bezeichnen (Hebr 13,4), wenn sie für uns ein solches (Tugend‑)Hindernis wäre?“ Nein, „es ist möglich, durchaus möglich, auch im Ehestande der Tugend nachzujagen, wenn wir nur wollen. Wie denn? Wenn die, die Frauen haben, sind, als hätten sie keine; wenn wir uns über irgendeinen Besitz nicht in Freude verlieren; wenn wir diese Welt brauchen, als gebrauchten wir sie nicht (vgl. 1 Kor 7,29–31) … Führe du nur die Ehe in angemessener Weise (μετὰ συμμετρίας), so wirst du der Erste im Himmelreich sein und alle Güter genießen“.26 Theorie und Praxis der Predigt Es gibt, wie erwähnt, im Schrifttum des „Goldmundes“ keine eingehenderen theoretischen Erwägungen selbst über die von ihm mit großer Meisterschaft ausgeübte Predigtkunst. Allein, liest man seine Texte zum Beispiel im Licht jener formalen Grundlegung der Predigt, wie sie sein wenig jüngerer Zeitgenosse Augustin in Buch IV seiner „Christlichen Glaubenslehre“ (De doctrina christia‑ na)27 vorgelegt hat, so geht einem schlagartig auf, dass die homiletische Praxis des Chrysostomos auf soliden theoretischen Grundlagen ruht (ohne dass eine Abhängigkeit von Augustin behauptet werden soll, die schon aus sprachlichen, noch mehr aber aus chronologischen Gründen ausscheidet). Was wir als „Predigt“ bezeichnen, heißt im griechisch-christlichen Altertum normalerweise „Homilie“ (ὁμιλία) oder „Darlegung, Abhandlung, Wort“ (λόγος28). Dieser Sprachgebrauch ist bereits im Neuen Testament und in der 26 Homilien über Hebr, hom 7 (PG 63,67 f.); vgl. dazu die materialreiche Darstellung von Martin George, Die Ehe in der Antike. Die Entwicklung der philosophischen Ethik und ihre Konfrontation mit dem christlichen Vollkommenheitsideal bei Johannes Chrysostomos auf dem Hintergrund der asketischen Theologie des vierten Jahrhunderts (Theol.Habil.Schrift), Erlangen 1989, bes. 514–657 („Die Ehe als Weg zur Vollkommenheit der Christen“), während in dem Abschnitt über „Virginität“ in Mühlenbergs Monographie (s.o., Anm. 19) der „Goldmund“ unbegreiflicherweise ganz übergangen ist; wie er überhaupt in dem Buch nicht annähernd die Rolle spielt, die ihm in einer Untersuchung gerade zur Ethik im frühen Christentum zugestanden hätte. 27 Mit diesem vergleiche man besonders De sacerd V 1–8 (SC 272,280/304). 28 Letzteres ist bei Chr. der am meisten gebrauchte Ausdruck, zusammen mit dem dazugehörigen Verb (λέγειν), danach und daneben „Unterredung“ (διάλεξις); vgl. etwa De sacerd IV 3 (SC 272,248/50) sowie das ganze Buch V und dazu Ritter, Charisma, 109–124; Manfred Lochbrunner, Über das Priestertum. Historische und systematische Untersuchung
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frühchristlichen Tradition (bei den Apologeten Justin und Theophilos von Antiochien etwa belegbar) verwurzelt.29 Die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen setzte sich jedoch nie wirklich durch. Die Bezeichnung ὁμιλία blieb mehr beschreibend und gab ein gegenüber falscher Rhetorik anzustrebendes Ideal an; λόγος besaß, trotz der Kollision mit dieser Rhetorik, den Vorteil, sich in ein theologisches Programm einzufügen, nämlich in den Umkreis des sich offenbarenden „Wortes“ (Joh 1,1–14). Gebildeten Predigern wie Origenes war dabei wohl bewusst, dass es sich bei ὁμιλία um einen Anklang an den Sprachgebrauch der Philosophenschulen handelte. Bezeichnete man damit doch die einfachen, familiären „Unterredungen“, die Philosophen mit ihren Schülern pflegten.30 Dazu passt, was Augustin in De doctrina christiana über die christliche Predigt, ihre verschiedenen „Gattungen“ (genera) und ihre Aufgabenstellung schreibt: Die Predigt soll in erster Linie „belehren“ und „zum Handeln bewegen“ (flectere). Damit kommt sie am ehesten in die Nähe des „beratenden“ (symbuleutischen) genus der antiken Rhetorik zu stehen. Augustin befürwortet die „freie“ (extemporierte) Predigt, die auf „Rückmeldungen“ der Gemeinde wiederum unmittelbar reagieren kann, und nimmt ausdrücklich Platos Plädoyer für das mündliche Gespräch auf (unter Kritik an der Verschriftung). Die Belehrung muss so lange fortgesetzt werden, bis die Zuhörerschaft zu erkennen gibt, dass sie „verstanden“ hat. Den biblischen Text fasst Augustin primär als „Ermunterung“ (adhortatio) auf. Um des erstrebten unmittelbaren Austausches zwischen Prediger und Hörer willen empfiehlt er endlich mit Nachdruck einen nicht-artifiziellen („demütigen“, einfältigen) Sprachstil (sermo humilis), damit die „Einfältigeren“ (simpliciores; griech. ἁπλούστεροι) nicht auf der Strecke bleiben.31 All dies findet man bei Chrysostomos ohne jeden Abstrich verwirklicht, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach von Augustin allenfalls gehört, jedoch von dem genannten Lehrbuch keine Kenntnis besessen hat. Diese Nähe ist auch deshalb leicht zu verstehen, weil die altchristliche Predigt (in Ost wie West) viel stärker an die Predigt der jüdischen Synagoge angeknüpft hat als etwa an jenen Typus popularphilosophischer Schriftstellerei der Griechen und Römer, Diatribe (διατριβή, diatriba) genannt, der im lockeren Vortragston lebenspraktische Fragen behandelt; zu diesem weist die altchristliche Predigt im allgemeinen keine spezifische Nähe auf. zum Priesterbild des Johannes Chrysostomus (Hereditas 5), Bonn 1993, 162–172; ferner auch Jutta Tloka, Der Λόγος und die λόγοι. Die Bedeutung der Rhetorik für die Konstituierung der christlichen Elite in der Spätantike, in: Logos der Vernunft – Logos des Glaubens, hg. v. Ferdinand R. Prostmeier/Joracio E. Lona (Millennium-Studien 31), Berlin 2010, 301–321. 29 Vgl. einerseits Lk 24,14 f.; andererseits Justin, dial 28.85; Theophilos Antioch., Ad Autol 2,1. 30 Vgl. Xenophon, Memorab. I 2,6.12.15.48. 31 Vgl. dazu den Aufsatzband „Predigt in der Alten Kirche“, hg. v. Ekkehard Mühlenberg / Jan van Oort, Kampen 1994, bes. den Beitrag von Christoph Schäublin, Zum paganen Umfeld der christlichen Predigt (ebd. 25–49), der sich aber, anders als es der Titel erwarten lässt, fast ausschließlich auf Augustin bezieht.
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Nach der Zerstörung des „Zweiten Tempels“ (70 n. Chr.) ist überall die Predigt zum festen Bestandteil des Synagogengottesdienstes an Sabbaten und Festtagen geworden, so sehr, dass „den Sabbat feiern“ und „am Sabbat eine Predigt halten oder hören“ zu Synonymen werden. Gerade das 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. gelten als das „goldene Zeitalter“ jüdischer Predigt. Wichtig ist im Blick auf Chrysostomos (und nicht nur auf ihn) weiterhin, dass in der Synagoge (während der uns interessierenden Zeit der sog. „Amoräer“ und der Talmudim [ca. 220– Mitte 5. bzw. 7. Jh.]) die Predigt als nach dem Psalmengesang an die gottesdienstliche Versammlung gerichtete Ansprache ihren Ausgang von zwei unmittelbar zuvor gelesenen Bibeltexten (vgl. Act 13,15) nimmt, einem aus dem „Gesetz“ und einem aus den „Propheten“. Dabei ist es zunächst nicht ihre Aufgabe, den Bibeltext zu interpretieren, zu erklären oder zu deuten, obschon sie meist in solcher Form auftritt. „Im Verein mit der Hl. Schrift“ will die Predigt vielmehr „in demselben ‚transzendentalen Heute‘ vor allem verkündigen, dass das in der Schrift bezeugte Heute der Vergangenheit und das Heute der Gegenwart Heilsereignis sind“.32 Daher ist die Predigt hinter die Schriftlesung gestellt und beginnt häufig mit einer Wiederholung eines Bibelverses (wie heute meist in katholischen Gottesdiensten). Deshalb zeigt sie eine paränetische Tendenz, geht über in den Ton der Ermahnung (bzw. Aufforderung), der Drohung oder des Trostes, weshalb sie auch gern als „Wort des Zuspruchs“ (Hebr 13,22; vgl. Act 13,15) bezeichnet wird, formuliert Verhaltensregeln und „erbaut“. – Es wäre ein Leichtes zu zeigen, wie aufschlussreich das alles als Hintergrund für des Chrysostomos Predigtpraxis ist. Doch seien stattdessen noch zwei weitere Hauptlinien seiner Gedankenwelt wenigstens gestreift. Die kultisch-priesterliche Funktion des kirchlichen Amtes Das uns im Schrifttum des Chrysostomos entgegentretende Bild des kirchlichen Amtsträgers ist gewiss am stärksten geprägt von den Funktionen des „Hirtendienstes“, als völligster Verwirklichung der Christusliebe (Joh 21,15–17),33 wie er in und durch Seelsorge34, Kirchenleitung (einschließlich der Übung von Kirchenzucht), Predigt und „Lehre“35 geschieht. Doch darf über der pastoralen 32 M.
Sachot, Art. Homilie, in: RAC 19, Stuttgart 1994, 148–175; hier: 148 f. dieser Gewichtung und Zuordnung wird das kirchliche Amt in der Reformschrift De sacerdotio gleich zu Beginn der inhaltlichen Darlegungen (II 1 [SC 272,100/102]) als Hirtendienst präsentiert; vgl. dazu neuerdings auch Tloka (wie Anm. 16), 226–244. 34 Der Begriff „Seelsorge“ kann, weil sehr viel jünger, in einem antiken Text noch gar nicht begegnen und darum auch für unser Chrysostomosstudium nicht zum Leitfaden dienen. Wohl aber finden sich beim „Goldmund“ in Fülle ältere Entsprechungen wie: füreinander Sorge tragen, einander zum Hirten, Lehrer oder Arzt werden. Ja, der „Seelsorger“ ist bei ihm, vor allem in De sacerdotio, – vergleichbar der kynisch-stoischen Diatribe! – in erster Linie der „Seelenarzt“! 35 Er kommt entsprechend auch unter den in De sacerdotio beschriebenen „priesterlichen“ (= bischöflichen) Funktionen weitaus am ausführlichsten zur Sprache (vor allem in Buch V). 33 In
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„Wortverwaltung“ im weitesten Sinne die liturgisch-kultische Amtsfunktion keineswegs übersehen werden; sie ist für unseren Autor vielmehr zweifelsohne die erhabenste.36 Lasse doch seine Funktion bei der Feier der „schauererregend(st) en“ göttlichen Mysterien das Amt, obwohl auf Erden ausgeübt, zum „Range himmlischer Einrichtungen“ emporrücken und als einen „Dienst von Engeln“ erscheinen. Denn „der mit dem Vater in der Höhe thront, wird in jener Stunde (des eucharistischen Opfers) von den Händen aller gefasst und gibt sich denen preis, die ihn umfangen … wollen … Wenn du darum den Herrn geopfert daliegen siehst …, glaubst du da noch, unter Menschen zu sein und auf Erden zu weilen?“37 Die hier zum Ausdruck kommende liturgische Haltung der ehrfurchtsvollen Scheu vor dem eucharistischen Mysterium, dem infolge seiner Verbindung mit der Gottheit „im höchsten Maße schauervollen“ (φρικωδέστατον), ja „furchteinflößenden“ (φοβερόν) Leib des Herrn, wie sie nicht nur für Chrysostomos, sondern für die zeitgenössische antiochenische und später die altkirchliche Theologie überhaupt typisch ist, hat in der modernen Liturgie‑ und Dogmengeschichtsforschung starke Beachtung gefunden. Man hat in ihr wohl zu Recht vor allem eine Auswirkung des Kampfes gegen den „Arianismus“ erkannt und gemeint, dass die Bestreitung der wahren Gottheit Christi in der Kirche zu einer immer stärkeren Hervorhebung seiner göttlichen Majestät geführt habe. Dass darüber jedoch die Motive der „Furcht und Scheu“ in der Sakramentsfrömmigkeit das erdrückende Übergewicht gegenüber denen der Liebe und des Vertrauens gewonnen hätten, trifft, für Chrysostomos jedenfalls, ganz gewiss nicht zu.38 Allein, wenn auch Beweis der „innigsten Liebe“, mit dem Christus auch uns zu immer größerer Liebe locken und erwecken will39, offenbart die eucharistische Selbstvergegenwärtigung Christi doch zugleich die Kluft zwischen dem, der durch die Hand des Priesters das Opfer selbst vollzieht, und dem von ihm unendlich geschiedenen Sünder, ist sie zugleich mysterium tremendum, dem man sich nur in Furcht und völliger Reinheit nahen kann und darf40. Das eröffnet Chrysostomos sowohl den Blick für die Erhabenheit priesterlichen Dienstes, als es ihn auch mit der bedrängenden Frage konfrontiert, wie ein Mensch zu solchem Dienst überhaupt tauge. Als Antwort verweist er (anders als Augustin) bemerkenswerterweise nicht auf die Ordination (χειροτονία), die er natürlich – als rechtlich-ordnungsgemäße Voraussetzung für den Altardienst – kennt und
36 So gesehen mag es angehen, mit Lochbrunner (wie Anm. 27), 302–330 u. ö., von einer eucharistischen Zentrierung des Priestertums bei Chr. zu sprechen. 37 Über das Priestertum, III 4 (SC 272,142/46); vgl. ebd. VI 2. 4 (304/8.316/8). 38 Vgl. nur die Predigten über 1 Tim, hom 15 (PG 62,586). 39 Predigten über 1 Kor, hom 24 (PG 61, bes. 204); vgl. Matthäushomilien, hom 25 (26: PG 57,331). 40 Vgl. dieselbe Stelle aus den Korintherhomilien (bes. PG 61,203), mit zahlreichen Parallelen.
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überhaupt nicht in Frage stellt41. Vielmehr erhebt er im Blick auf die „Heiligkeit“ dieses Dienstes einerseits die Forderung eines heiligmäßigen Wandels der Priester,42 so, als hinge schlechthin alle „Frucht“ davon ab; andererseits will er mitnichten der Meinung Vorschub leisten, als sei es der „Reine“, der „kraft seiner eigenen Reinheit“ den Hl. Geist „herabzwinge“. Vielmehr sei es allein „die Gnade“, die alles ausrichte.43 Aus der Fülle biblischer Beispiele für diesen Sachverhalt verweist er mit Vorliebe auf die Geschichte von Bileam und seiner Eselin (Num 22–24)44 und zieht daraus den Schluss: „Der Mensch trägt nichts bei zu dem, was hier (in der Sakramentsfeier) geschieht; sondern das Ganze ist das Werk der Macht Gottes, und Er ist es, der euch in die Geheimnisse einweiht (μυσταγωγῶν).“45 Das macht deutlich, in welchem Sinne Chrysostomos den priesterlichen Dienst instrumental versteht und dahinter Gott selbst am Werke sieht, ein Gedanke, den man in der Tat als Herzstück seiner Sakramentstheologie wie seines Amtsverständnisses überhaupt bezeichnen kann, vorausgesetzt, man vergisst nicht ein letztes, wesentliches Element. So bedeutsam nämlich die Eucharistie für unseren Autor ohne jede Frage ist, so wenig darf sie für ihn vom Lebensgottesdienst des Christen isoliert werden, wenn anders ihr Sinn und ihr Nutzen nicht gefährdet werden sollen.46 Hier aber sind die „Laien“, deren Rolle bei der Opferhandlung als rein passiv gekennzeichnet wird, zu höchster Aktivität aufgerufen. Um den Zusammenhang als möglichst eng und unlöslich erscheinen zu lassen, kann Chrysostomos den von allen Glaubenden erwarteten Lebensgottesdienst, die Hinwendung zum Nächsten, mit derselben Kultterminologie umschreiben wie das liturgische Opfer. Dass es sich dabei nicht um reine Rhetorik oder aber lediglich um die sprichwörtlich gewordene „Spiritualisierung“ alttestamentlicher Kultbegriffe (H. Wenschkewitz) handelt, wird nicht 41 Dass das Problem der Bevollmächtigung zur Feier der Eucharistie für Chr. eine „offene Frage“ gewesen sei, habe auch ich nie behauptet. Ich beharre jedoch gegenüber der Kritik von Lochbrunner (wie Anm. 27,154 f.) darauf, dass für Chr. „im Notfall eine vollgültige σύναξις gefeiert werden“ konnte „auch ohne Priester“, und berufe mich dafür nach wie vor auf eine Passage in dem letzten von Chr. noch im Exil in Cucusus verfassten Werk (Ad eos qui scandalizati sunt [PG 52,520]). Schon wegen der unmittelbar vorher gebrauchten Bilder (Schafe, die, da niemand die Herde führt, an den Platz der Hirten treten, Soldaten, die – im Notfall – in die Stellung des Heerführers einrücken) kann die fragliche Formulierung τὰς συνάξεις ἐπιτελοῦντας gar nicht anders verstanden werden, als ich vorschlug; ganz davon abgesehen, dass der Wortgebrauch von ἐπιτελέω = „anwesend sein bei“ o. ä. nicht nur „selten“ (so L. unter Berufung auf Lampe’s Patristic Greek Lexicon), sondern auch ansonsten schlichtweg unbelegt ist, soweit ich das nachprüfen konnte. 42 Über das Priestertum, VI 4 (SC 272,316). 43 Vgl. ebenda III 4 (643); Johanneshomilien, hom 87 (86), 4 (PG 59,472). 44 Vgl. dazu etwa die Predigten über 1 Kor, hom 8 (PG 61,68 f.), wiederum mit zahlreichen Parallelen. 45 Ebd. 46 So mit Recht auch etwa Boris Bobrinskoy, L’esprit du Christ dans les sacrements chez Jean Chrysostome et Augustin, in: Charles Kannengiesser (Hg.), Jean Chrysostome et Augustin, Paris 1975, 272 f.; zit. bei Lochbrunner (wie Anm. 27), 319 f.
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zuletzt dadurch nahegelegt, dass er in diesen Zusammenhängen von der Gegenwart Christi im notleidenden Nächsten ebenso „realistisch“ reden kann wie von Christi Selbstvergegenwärtigung unter den Gestalten von Brot und Wein.47 Das lässt womöglich auch seinen vielbeschworenen „Abendmahlsrealismus“ in einem etwas anderen Licht erscheinen, als es sich Harnack und der Mehrheit seiner theologischen Zeitgenossen, jedenfalls den Protestanten unter ihnen, nahelegte! – Und damit sind wir bereits beim nächsten Schwerpunkt angelangt: Das Problem einer „Humanisierung“ der Gesellschaft Oft genug hat man in Chrysostomos, wie wir bereits früher sahen,48 lediglich den „Moralisten“ in den Spuren der kynisch-stoischen Diatribe sehen wollen. Und das sei auch nicht weiter verwunderlich, da auch das Publikum unter seiner Kanzel kein wesentlich anderes gewesen sei als das der Popularphilosophen, Dions von Prusa beispielsweise. Wer seine Predigten liest, gewinnt tatsächlich leicht den Eindruck, als haben (auch) sie hauptsächlich zum Ziel, die Laster zu geißeln (darunter immer wieder und ganz besonders Luxus und unersättliche Vergnügungssucht);49 wie auch das Loblied auf das „einfache“, tugendhafte Leben sowie auf die innere Freiheit und „Unbetreffbarkeit“ (ἀπάθεια) als dessen „Lohn“ in diesen Predigten gleichfalls einen starken Widerhall finde. Allerdings gilt das in demselben Maße von der Klage über die Wirkungslosigkeit all solcher Appelle, wie sie schon in Dions von Prusa 72. Rede aufklingt. In erfrischender Offenheit bekennt der Prediger gelegentlich von sich selbst, auf seine Hörerinnen und Hörer wie „ein lästiger, gehässiger und mürrischer Mensch“ zu wirken;50 deshalb würde er am liebsten von etwas anderem reden als immer wieder von „Moral“ und „Gericht“51! Bei genauerem Zusehen erweist sich dieses verbreitete Bild vom „Moralprediger“ Chrysostomos jedoch als zu vordergründig; nicht zuletzt deshalb, weil er zum Beispiel mit dem Hinweis auf den „sozialen“ Charakter des Christentums immer wieder auch die Grenze zur Popularphilosophie, wenn nicht zur Ethik der griechisch-römischen Antike überhaupt, zu ziehen weiß. Allerdings kommt 47 Vgl. Matthäushomilien, hom 7,5 (PG 57,79); 49 (50), 5 (502 f.); 50 (51), 3.4 (508–510); 88 (89), 3 (778 f.); Johanneshomilien, hom 40 (39), 4 (PG 59,234). 48 S. o., Kap. IV. 49 Ein Beispiel: In den 90 Homilien über das Matthäusevangelium redet Chr. nach der Auflistung durch Chrysostomus Baur (Der heilige Johannes Chrysostomus und seine Zeit, 2 Bde., München 1929.1930), weitgehend unabhängig vom Text wie von der jeweils voraufgehenden Auslegung desselben, ungefähr vierzigmal von den Almosen, wendet sich dreißigmal gegen Habsucht und rügt noch fast zwanzigmal den ungerechten Gebrauch des Reichtums (ebd. I, 178; zum Gesamtbild des Predigers Chrysostomus findet sich ebd. I, 166–321, alles nötige Quellenmaterial). 50 Predigten über 1 Kor, hom 12,6 (PG 61,104); vgl. Predigten über Kol, hom 12,6 (PG 62,389). 51 Predigten über Phil, hom 7 (6), 6 (PG 62,227).
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es (auch) hier auf Nüancierungen an! Es kann gar keine Rede davon sein, als wäre das „Alles zum gemeinen Nutzen“ (1 Kor 12,7) eine Erfindung des Apostels Paulus. Dieses „Prinzip“ ist vielmehr der Sache nach bereits in griechischen und römischen (und erst recht natürlich jüdischen) Quellen reichlich anzutreffen; jeder ordentliche Korintherkommentar belegt das (für alle, die’s nicht ohnehin wissen). Allein, es ändert nichts daran, dass alle Ethik, auch alle Sozialethik, bei Griechen und Römern, „so weitreichend ihre Forderungen … auch gehen mögen, … aus einer absoluten Wertschätzung des Individuums“ und dessen „Glückseligkeit“ (εὐδαιμονία) abgeleitet ist.52 Am folgerichtigsten geschieht das in der Stoa und ihrer οἰκείωσις-(„Zueignungs“‑) Lehre, nach der sich sämtliche sittlichen Forderungen stufenweise aus dem obersten Naturtrieb aller Lebewesen, dem der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, ergeben.53 Überdies ist auffällig und der Erklärung bedürftig, dass sich vom Reichtum sozialethischer Ansätze, wie sie sich auf dem Boden eines intensiven politischen Lebens in den griechischen Stadtrepubliken der klassischen Zeit herausgebildet hatten, im Laufe der römischen Kaiserzeit immer weniger erhalten hat. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass schon die hellenistische Philosophie, „die sich in ihrer einseitig individualethischen Orientierung wohl zu Recht auf Sokrates berufen konnte“, diese reichen Ansätze „gleichsam überholt“ hatte.54 Wenn das nun, wie wir fanden, bei Chrysostomos – wenn schon nicht grundsätzlich, dann doch zumindest – merklich anders aussieht, dann kann es für ihn auch nicht damit sein Bewenden haben, den einzelnen von seiner Habsucht, von der Bindung an die Dinge statt an Gott als das höchste Gut, zu befreien, ohne dass über die Weise der Verwendung des Eigentums gesprochen werden müsste. Und in der Tat hat er das wieder und wieder zur Sprache gebracht. Setzen wir noch einmal kurz bei seiner Konzeption: Mönchtum – Kirche an. Aus seiner Überzeugung vom „sozialen“ Charakter des Christentums ergibt sich für ihn, wie wir sahen, dass es christliche „Vollkommenheit“ (vgl. Mt 19,21), und damit ein Hauptziel mönchischen Strebens wohl von Anfang an, auch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat. Für ihn besteht deshalb die Vorbildhaftigkeit der Klöster nicht zuletzt darin, dass dort gleichsam die „vollkommene Gesellschaft“ (societas perfecta) anschaubar wird; und er hat in dieser Hinsicht, soviel ich sehe, schwerlich seinesgleichen. Diese perfectio gilt wenigstens in dem Sinne, dass es in ihnen kein Privateigentum und keine Herrschaft von Menschen über 52 Vgl. Albrecht Dihle, Art. Ethik, RAC 6,1966, 646–796 (hier: 656). – Zwar hat Mühlenberg in seinem schon mehrfach erwähnten Buch „Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre“ (wie Anm. 19) einleitend stärkste Vorbehalte u. a. gegenüber diesem (fast eine Monographie ersetzenden) Artikel angemeldet und angekündigt, er gedenke, ganz andere Wege einzuschlagen (8), was ja erlaubt ist; doch wenn ich nichts übersehen oder missverstanden habe, bleiben die oben aufgenommenen Resultate der Dihleschen Analysen von denjenigen Mühlenbergs erstaunlicherweise vollständig unberührt! 53 Dihle, ebd. 659. 54 Ebd. 657; vgl. zum Ganzen auch o., Kap. XI, bes. 144–149.
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Menschen mehr gibt, sondern nur noch wechselseitiges Sichunterordnen und freiwilligen Dienst.55 Dementsprechend hat Chrysostomos all die Jahre seiner Tätigkeit als Presbyter in Antiochien und als Bischof in der Reichshauptstadt Konstantinopel hindurch so beständig, so eindringlich und so unerschrocken wie kaum ein anderer altkirchlicher Theologe zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit Stellung genommen, so dass man in ihm gar, mit zweifelhaftem Recht allerdings, einen Vorläufer sozialistischer Ideen hat sehen wollen. Außer Frage steht vielmehr, dass er die „Humanisierung“ der Gesellschaft nirgends zum Programm erhoben und etwa im Namen des Evangeliums eine allgemeine Sklavenbefreiung proklamiert hat; das verbot ihm schon sein Realitätssinn! Wohl aber hat er wiederholt die Herrschaft des Menschen über den Menschen, statt sie als Schöpfungsordnung zu glorifizieren, unverblümt als Sünde oder vielmehr als Sündenfolge anprangern und erklären können, es gebe nur eine Form der Über‑ und Unterordnung, die nicht in der menschlichen Sünde, sondern in der Naturordnung selbst begründet liege, nämlich die „Herrschaft“ der Eltern über ihre Kinder. „Wie dich nämlich“, lautet seine Begründung, „die Eltern geboren haben, so kannst du sie nicht gebären“. Von der Sklaverei dagegen gelte, dass sie zu den „drei Arten von Knechtschaft“ gehöre, die „die Sünde eingeführt“ habe; als die beiden anderen „Knechtschaften“ nennt er: die Unterjochung der Frau unter den Mann anstelle der ihr ursprünglich zugedachten „Gehilfenschaft“ und die Zwangsherrschaft des ‚Staates‘, die Chrysostomos bezeichnenderweise als drückendste Knechtschaft empfand.56 Darüber hinaus hat er gelegentlich konkret dazu auffordern können, seine Sklaven, wenn anders man sie wirklich liebe „wie sich selbst“ (vgl. Lev 19,18; Mt 22,39), in eine handwerkliche Lehre zu geben oder ihnen eine andere Ausbildung zu verschaffen, die ihnen erlaube, auf eigenen Füßen zu stehen, und sie dann freizulassen.57 Entsprechend heißt es in seiner homiletischen Auslegung der Apostelgeschichte über seinen „utopischen“ Plan eines neuen „Liebeskommunismus“ nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde, dass darin „selbstverständlich“ Sklaven 55 Vgl. dazu Ritter (wie Anm. 17), 92, Anm. 10, mit weiteren Literaturhinweisen. – Dagegen spricht noch nicht ohne weiteres, dass, wie wir wissen, dem von der reichen Gönnerin des Chrysostomos Olympias gegründeten Frauenkonvent in Konstantinopel außer ihr selbst auch 50 ihrer ehemaligen Sklavinnen angehörten (s. Vita Olymp 6 [SC 13 bis, 418]; von „Zimmermädchen“ [κουβικουλαρίαι] ist hier die Rede, ein Begriff immerhin, mit dem auch ein Hofamt bezeichnet werden konnte!), die natürlich zuvor freigelassen worden sein werden; noch ist einfach davon auszugehen, dass diese durchweg zu ungebildet waren, um ernstlich mitgemeint zu sein, wenn sich Chr. brieflich an Olympias und ihre Asketengemeinschaft wandte, etwa in dem im zweiten Exil verfassten Brieftraktat Quod nemo laeditur (gerichtet an Olympias „und alle Gläubigen“). Aus welchen Gründen all das von Wendy Mayer, The Audience(s) for Patristic Social Teaching, in: Reading Patristic Texts on Social Ethics, hg. v. Johan Leemans u. a., Washington, D. C. 2011, 89 f., anders gesehen wird, ist mir unerfindlich. 56 Vgl. bes. seine 9 Homilien über das Buch Genesis, hom 4 und 5 (PG 54,593–604). 57 Predigten über 1 Kor, hom 40,5 (PG 61,554).
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nicht vorgesehen seien; „denn derartiges gab es damals (sc. bei den Christen) noch nicht, sondern man scheint sie (die Sklaven) freigelassen zu haben“.58 Eine durchgreifende Änderung der sozialen Einrichtung der Sklaverei hat er sich allerdings nur von einer inneren Wandlung der einzelnen Glieder der Gemeinde zur Dienstbarkeit gegenüber Gott versprechen können, wie ja auch die Sklaverei durch innere Abwendung von Gott, also durch Sünde, entstanden sei. Durch die Erniedrigung Jesu Christi zum Sklaven am Schandholz des Kreuzes sei die Macht der Sündenknechtschaft jedoch gebrochen und stehe die Gottesknechtschaft als Schöpfungs‑ und Heilsordnung wieder allen offen, ob sie Freie seien oder Sklaven.59 Chrysostomos konnte indes in diesem Zusammenhang vom Verhältnis zwischen Freien und Unfreien in einer Weise reden, die man noch heute als „vielversprechend“ empfindet. Sie lässt es im Grunde als undenkbar erscheinen, dass von dem, was „in Christo“ gilt, der status quo von Macht‑ und Besitzverteilung auf die Dauer vollkommen unberührt bleiben könnte; wie ja auch der von Chrysostomos glühend verehrte Apostel Paulus60 bereits ganz selbstverständlich damit gerechnet zu haben scheint, dass sich christliche Geschwisterschaft „auch in den außergemeindlichen Gegebenheiten und Verhältnissen“ (Phlm 16: καὶ ἐν σαρκί) zu bewähren bestrebt sein werde.61 über die Apostelgeschichte, hom 11,3 (PG 60,97). Wulf Jaeger, Die Sklaverei bei Johannes Chrysostomos, Diss. Kiel 1974, 212. 60 Vgl. dazu jetzt vor allem Margaret M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000; ferner C. S. Hall (wie Anm. 22). 61 Es wäre sehr wohl angebracht, zum Abschluss einer Beschäftigung mit Leben und Wirken des „Goldmundes“ samt einigen Hauptaspekten und ‑kennzeichen seiner Gedankenwelt, zur Gegenprobe gewissermaßen, der Frage nachzugehen, ob Chrysostomus ein Judenfeind war. Doch ist dazu o. in Kap. III und VII sowie in der Rezension der kommentierten Übersetzungsausgabe der chrysostomischen „Judenreden“, bearbeitet von Rudolf Brändle und Verena JegherBucher (Kap. X) bereits das mir Mögliche und Einleuchtende gesagt. So genügt an dieser Stelle wohl eine kurze Zusammenfassung. Vorausgesetzt, man bemüht sich, wie es sich in der Geschichtswissenschaft nun einmal gehört, sämtliche verfügbaren antiken Quellen, literarische wie nichtliterarische, zu berücksichtigen, so ergibt sich als leidlich gesichertes Bild, dass die Beziehungen zwischen Juden und Christen, aufs Ganze gesehen, friedlicher waren, als bisher zumeist angenommen. Natürlich gab es in der späten Kaiserzeit, im beginnenden „konstantinischen Zeitalter“, ein Auf und Ab in den jüdisch-christlichen Beziehungen, in Abhängigkeit nicht zuletzt von politischen und sozio-ökonomischen Faktoren; es gab Perioden der Spannungen (die jedoch kürzer waren, als man vermuten sollte), Zeiten guter Beziehungen und solche, in denen nichts von besonderer Bedeutung zwischen den beiden Religionen passierte; und das waren sie ja inzwischen längst: selbständige religiöse Einheiten. Gerade in der Region, die für uns von besonderem Interesse ist (Antiochien, Caesarea Maritima und Umgebung), ist bis zum Ende des 6. Jh. von längerfristigen, ernstzunehmenden Konflikten zwischen Juden und Christen nichts bekannt; gelegentliche Attacken lassen bei den Adressaten gerade auf entspannte Beziehungen zwischen Juden und Christen schließen und sind eher ein Beweis dafür als dagegen, dass Israel als Gegenüber der Kirche bis zum Auftauchen des Islam im Mittelmeerraum attraktiv und einflussreich blieb. In diesen Rahmen fügt sich – normalerweise – vollkommen ein, was man bei Chrysostomos zum Thema 58 Predigten 59 Vgl.
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Ein letzter Gedanke in diesem Zusammenhang, der uns (erneut)62 auch auf einen Vergleich zwischen Johannes und Dio Chrysostomus führt. „Suchet der Stadt Bestes“, mahnte der Prophet Jeremia, annähernd siebenhundert Jahre vor des letzteren und annähernd ein Jahrtausend vor des ersteren Blütezeit, die in der „babylonischen Gefangenschaft“ über ihr Geschick rätselnden oder gar daran bereits verzweifelten Glaubensgenossen (Jer 29) im Namen seines Gottes. Auf der Suche nach jeweils ihrer Vaterstadt „Bestem“ waren nach allem, was wir „Christen – Juden“ zu lesen bekommt. Der Befund ist i. a. absolut unauffällig. Genauer: unser Autor ist zwar nach allem, was wir von ihm wissen, von humaner Achtung des Andersgläubigen stets weit entfernt gewesen und hat so auch jede religiöse Gemeinschaft mit dem Judentum klar und unbedingt bestritten. Darin ist er, wie wir endlich gelernt zu haben glauben, schwerlich ein Vollhörer der Bibel gewesen. Dennoch verbindet sich bei ihm mit der Eindeutigkeit der Absage an die Juden als Religionsbekenner der Antrieb, ihnen gleichwohl die geschuldete Liebe und Nächstenschaft, ja, selbst die Hoffnung auf Gottes „unbereubare“ Heilsverheißung (Röm 11,29) nicht vorzuenthalten. Auch hat er kein Problem damit, etwa vom „Adel des Judentums“, seinem heilsgeschichtlichen Vorrang zu sprechen. Umso rätselhafter ist es auf den ersten Blick, dass sich aus dem ersten Jahr seines Presbyterates in Antiochien acht Reden erhalten haben, deren Echtheit gar nicht zu bezweifeln ist, mit dem Titel „Gegen die Juden“ (Adversus Iudaeos). Diesen ist zu Recht nachgesagt worden, ihr Verfasser, also unser „Goldmund“, habe selbst von den großen Judenhassern und Judenmördern des 20. Jahrhunderts wortmäßig wohl nicht, doch tatmäßig übertroffen werden können. – Wie ist das zu erklären? Es ist inzwischen wissenschaftlicher Konsens: α. Der traditionelle Titel ist falsch, und die fraglichen Reden richten sich gar nicht (jedenfalls nicht primär) gegen Juden, sondern „judaisierende“ Christen. β. Es handelt sich dabei um eine Bewegung unter den antiochenischen Christen, in ihrer Mehrzahl Neubekehrte, die aus ihrem Interesse am und ihrer Sympathie für das Judentum kein Hehl machten: sie gingen am Sabbat in Synagogen, hielten die gleichen Fasttage wie die Juden und feierten deren Feste mit, wollten vielfach die Differenz zwischen Christen‑ und Judentum kaum noch wahrnehmen und erwogen im Einzelfall, sofern es sich um Knaben oder Männer handelte, die Beschneidung. γ. Die antijüdische Polemik, zu der sich der neugebackene Hauptprediger der Stadt bald nach seiner Presbyteratsweihe veranlasst sah, trug ausschließlich defensiven Charakter und war vor allem für die eigene Gruppe bestimmt, zu ihrem Schutz gegen „Verwirrung“, ja „Abfall“, und ihrer Erhaltung und Festigung. δ. Zur Erreichung dieses Zieles hat sich der Prediger des gesamten Arsenals rhetorischer Mittel, einschließlich krassester Schwarzweißmalerei, bedient, die ihm seine Ausbildung (wohl bei dem berühmten Libanios) zur Verfügung gestellt hatte. ε. Gleichwohl haben seine – streckenweise unerträglichen – Tiraden auch bereits unter seinen Zuhörern eher Missfallen erregt, wie er selbst einräumt, und ihm allem Anschein nach keinen nennenswerten Erfolg beschert, so wenig, wie sie sein Ansehen unter seinen jüdischen Zeitgenossen dauerhaft zu beschädigen vermochten. Erwähnt er doch in einem Brief unmittelbar nach seiner ersten Amtsenthebung, „auch die Juden“ hätten mitgetrauert; und, aus dem ersten Exil zurückgekehrt, stellt er bei nächster Gelegenheit in einer Predigt geradezu triumphierend fest, die erlittene Verfolgung habe die Zuneigung ihm gegenüber nur vermehrt: „Vordem liebten mich nur die Meinen; jetzt aber ehren mich auch die Juden“. Allerdings ist das alles nur ein schwacher Trost. Denn für die Wirkungsgeschichte eines Wortes ist die „Stunde“, der es ursprünglich angehörte, oft genug nichts weniger als entscheidend gewesen. Vielmehr ist geschichtliche Breitenwirkung immer wieder gerade durch Simplifikation, durch eine gelegentlich geradezu „furchtbare Vereinfachung“, ermöglicht worden. Dass die sog. „Judenreden“ des Chrysostomos oder, richtiger, seine Polemik gegen die „Judaisierer“, viel zu wenig dagegen geschützt waren, in einer anderen Situation antisemitisch missbraucht zu werden, diesen Vorwurf wird man ihrem Verfasser unmöglich ersparen können. 62 S. o. S. 50–54.56–59.
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von ihnen wissen, auch die beiden Chrysostomi begriffen; doch worin es bestehe und wie es zu erreichen sei, darüber gingen ihre Vorstellungen beträchtlich auseinander. Während wir Dio nach seiner Rückkehr aus jahrelanger Verbannung alsbald wieder hochfliegende Pläne zur Hebung und Verschönerung seiner Vaterstadt wie anderer Städte seiner bithynischen Heimatprovinz fassen sehen und er sich nicht zuletzt anschickte, sich auch in einem glanzvollen Bauwerk (einer Bibliothek) zu verewigen, also dem für einen antiken „Stadtpolitiker“ und Angehörigen der Oberschicht typischen „monumentalen Euergetismus“ zu frönen und dafür dauernden Ruhm zu ernten gedachte, damit freilich wohl Schiffbruch erlitt,63 so war das eine Form von „Wohltätigkeit“, die noch zur Zeit des Johannes in Libanius, „dem Sophisten“ seiner Vaterstadt, einen überzeugten Fürsprecher fand, in Johannes dagegen einen ebenso überzeugten Kritiker.64 Das betrifft nicht zuletzt ihre Motivation: die φιλοτιμία. Während diese bei Libanius ganz und gar positiv besetzt ist und als Tugend bezeichnet wird, welche den Menschen zur Errichtung und Erhaltung öffentlicher Gebäude, Veranstaltung kultureller Ereignisse sowie Fürsorge für die πόλις und ihre Bevölkerung motiviert,65 kann sie Johannes nicht anders denn als κενοδοξία, als „eitle Ruhmsucht“, geißeln und bekämpfen, z. B. in seinem – auch in „politischer“ Hinsicht bemerkenswerten – Traktat über rechte Kindererziehung, dessen Haupttitel allerdings lautet: „Über eitle Ruhmsucht“ (De inani gloria et de educandis liberis)!66 Aber auch darin etwa treten markante Unterschiede zutage, dass Johannes, ausgehend „von seiner theologischen Bestimmung der Heimat“ (πολιτεία) „des Menschen als dem himmlischen Jerusalem … ein durchaus egalitäres Ideal“ vertritt, „demzufolge er alle Christen in gleicher Weise für die Gemeinschaft verantwortlich macht. Dies wird besonders an seiner ‚Demokratisierung‘ der λειτουργίαι deutlich, die er von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Dienstleistungen der städtischen Eliten für ihre heimatliche πόλις löst und zum Begriff für den Dienst der Christen für Gott und damit für die allen Christen gemeinsame Heimat macht“. In solcher Weise nutzt Johannes „traditionelle Wertsetzungsbegriffe wie πολιτεία, λειτουργίαι, φιλοτιμία, um durch ihre Transformierung eine Christianisierung des gesellschaftlichen Lebens zu erreichen“.67 Wenn es umgekehrt gute Gründe gibt, Dios Reformprogramm zur Beseitigung der „Stadtarmut“ in seiner Vaterstadt Prusa und darüber hinaus in Städten seiner bithynischen Heimatprovinz68 „den Kriterien des Utopischen“ entsprechen zu sehen, gemäß einem modernen Verständnis von „Utopie“, welches „– im Sinne 63 S.
Lehmann (wie o. S. 56, Anm. 97), 15–18. zum Vergleich zwischen Johannes und Libanius in ihrem Verhältnis zur spätantiken Gesellschaft das wichtige Kapitel in Tloka, Griechische Christen (wie Anm. 16), 176–204, dem ich nur voll zustimmen kann. 65 Von Libanius (or 11,134–135 Foerster I). 66 Ed. A.-M. Malingrey (SC 188), Paris 1972. 67 So wohl mit Recht Tloka, Griechische Christen (wie Anm. 16), 246. 68 S. o. S. 57–59. 64 Vgl.
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der Realutopie – jeden Gegensatz zu den real existierenden Verhältnissen und damit auch Reformkonzepte und ‚Zukunftsentwürfe‘ mit einschließt“,69 dann haben des Johannes Reformpläne, die wir kurz ansprachen,70 allemal den Anspruch auf gleiche Behandlung und Einschätzung.
Ob und was von Chrysostomos heute zu lernen sei? Hans von Campenhausen, nach Harnack und dessen Berliner Nachfolger Hans Lietzmann wohl der bedeutendste und einflussreichste, international bekannteste protestantische Patristiker deutscher Zunge im 20. Jahrhundert,71 fand, die Predigten des „Goldmundes“ könnten „wohl als einzige aus dem ganzen griechischen Altertum“ z. T. noch heute „als christliche Predigten gelesen werden“; sie spiegelten nämlich „etwas vom echten Leben des Neuen Testaments wider, gerade weil sie so sittlich, so einfach und so nüchtern“ seien.72 Überdies hat sich Chrysostomos für ihn dem geschichtlichen Gedächtnis als Lichtgestalt unter den Bischöfen seiner Zeit eingeprägt, als ein Kirchenmann, „der dem geistlichen Auftrag seines Amtes bis zum letzten treu bleibt und dem dabei jede Rücksichtnahme auf politische Umstände und die Großen dieser Welt als Verrat erschienen wäre“.73 Ist das etwa nicht – nach wie vor – vorbildlich? Doch nun soll es uns hier nicht länger, wie in unseren einleitenden Überlegungen, um die „Aktualität der Kirchenväter“ im allgemeinen, die des Chrysostomos im besonderen, sondern konkret um die Frage gehen, was von ihm möglicherweise zu lernen sei für ein situationsgerechtes kirchliches Handeln heute. Was das für ihn hieß: „situationsgerechtes Handeln“, hat er oft genug angesprochen, am eingehendsten in seiner Reformschrift De sacerdotio (Περὶ ἱερωσύνης), deren Titel man im Deutschen am besten mit „Über das Bischofsamt“ wiedergäbe, wenngleich das darin entworfene Idealbild auch dem „Klerus“ insgesamt als Leitbild dienen konnte (und wohl auch sollte74); gemeint ist jedoch, wann immer darin von „Priester“ und „Priestertum“ die Rede ist, in erster Linie der Bischof und sein Hirtenamt. Verfasst ist die Schrift wahrscheinlich sozusagen „auf der Schwelle“ der Kirche, d. h. nicht allzu lange bevor der „Goldmund“ selbst 69 So
Dorothee Gall, Mythos, Utopie und Sozialprogramm, in: Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa (SAPERE-Band 19), Tübingen 2012, 123–141; hier: 139. 70 S. o. S. 200 f. u. ö. (s. dort). 71 Man denke nur an den – bis heute anhaltenden – buchhändlerischen Erfolg, den er mit den beiden Bändchen seiner Kirchenväterporträts („Griechische“ und „Lateinische Kirchenväter“) in der Urban-Taschenbuchreihe des Stuttgarter Kohlhammer-Verlages errang. 72 Hans von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, Stuttgart 81993 (Urban-Tb 14), 152. 73 Ebd., 137. 74 Darin ist Tloka, Griechische Christen (wie Anm. 16), 229 u. ö., unbedingt recht zu geben.
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zum Presbyter ordiniert wurde.75 Die Situation, zu der er das Wort ergreift, ist die der „theodosianischen“ Reichskirche gegen Ende des 4. Jahrhunderts.76 Die Einwirkungen der mit Konstantin einsetzenden obrigkeitlichen Begünstigung des Christentums nicht zuletzt auf das kirchliche Amt machten sich längst deutlich genug bemerkbar. Seit es nämlich darin Ehre und Macht zu gewinnen gab, drängten viele herzu. Dass wiederum eine Reform der Kirche bei den Inhabern des kirchlichen Amtes einzusetzen habe, ist ein zu allen Zeiten naheliegender Gedanke gewesen; zur Zeit des Chrysostomos findet er besonders innerhalb des aufblühenden Mönchtums lebhafte Resonanz. Und zwar bestimmt er sich jetzt als das Problem des Zugangs: Wie könnte es gelingen, Ungeeignete, „Unwürdige“ fernzuhalten? Das ist jedenfalls für den Verfasser unserer Schrift die Kernfrage. Er übt darin schonungslose Kritik an seiner kirchlichen Gegenwart. Alle Unordnung führt er nicht etwa, allgemein, auf die „Verhältnisse“, sondern, sehr direkt, auf die Fehlbesetzung ihrer Ämter zurück, an der durchaus auch die Wahlversammlungen, nicht nur die Gewählten selbst, die Schuld trügen.77 Dem ‚Staat‘, der Obrigkeit, ist, wohlbemerkt, im chrysostomischen Reformkonzept nirgends eine Rolle zugedacht. Alle Reform müsse vielmehr von innen ansetzen. Und zwar wie? Man kann mit H. Doerries sagen, Chrysostomos wolle „das durch die reichskirchlichen Verhältnisse gefährdete Gemeindeamt dadurch vor Missbrauch und Entartung bewahren, dass er ihm die geistlichen Kräfte des Mönchtums zuführt und alle abweist, die sich dieser Forderung versagen“.78 Es bleibt jedoch in seinem Reformkonzept bei der entschlossenen Überordnung des „Hirtenamtes“ gegenüber dem Mönchsstand,79 im Sinne des – beharrlich durchgehaltenen – paulinischen Grundsatzes: „Alles zum gemeinen Nutzen“. Paulus ist auch der Prüfstein entlehnt, an dem sich die Eignung für das Hirtenamt erweise. Es ist das Wort aus Röm 9,3: „Ich habe gebetet, verbannt zu sein von Christus für meine Brüder“. 75 Hermann Doerries, Erneuerung des kirchlichen Amtes im vierten Jahrhundert, in: Bernd Möller / Gerhard Ruhbach (Hg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, Tübingen 1973, 3, Anm. 3; ähnlich August Naegle in der Einleitung zu seiner Übersetzung von De sacerd., BKV2 27,1916, 53 f. Die Herausgeberin des Textes in den „Sources Chrétiennes“, Anne-Marie Malingrey, plädiert für eine etwas spätere Datierung, auf die Jahre 388–390 (SC 272,13), ein Vorschlag, dem sich auch Martin Illert, Johannes Chrysostomus und das antiochenisch-syrische Mönchtum, Zürich / Freiburg i.Br. 2000, 21, anschließt; Frau Malingrey räumt aber ein, dass man sich auch für diese Ansetzung im Bereich des Hypothetischen bewege. Lochbrunner schließlich (wie Anm. 27,117) favorisiert eine Frühdatierung auf einen Zeitraum zwischen 378 und 381; schwerlich überzeugend. 76 Benannt nach Kaiser Theodosius I., „dem Großen“ (Kaiser von 379 bis 395), unter dem nach noch immer weit verbreiteter Vorstellung das Christentum (per Dekret sozusagen) zur „Staatskirche“ wurde; s. zur Korrektur jetzt vor allem Hartmut Leppin, Theodosius der Große, Darmstadt 2003. Vgl. zum „Sitz im Leben“ von De sacerd auch das betreffende Kapitel bei Lochbrunner (wie Anm. 27), 67–118. 77 S. dazu bes. Buch III 10 f. (SC 272,182–198). 78 Doerries (wie Anm. 64), 20. 79 Das zu unterstreichen ist die Aufgabe des gesamten 6. Buches von De sacerdotio.
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Sei jemand imstande, dies Wort dem Apostel nachzusprechen und im innersten Herzen also zu beten, so mache er sich geradezu schuldig, wenn er dem Hirtendienst auswiche.80 – War das reine Utopie, ein „gewiss sehr nachdenkenswerter, aber unausführbarer Gedanke“?81 Was die Gemeindesituation betrifft, so ist eines der Kernprobleme, mit dem wir Chrysostomos beharrlich ringen sehen, die Tatsache, dass es, sogar am Ende des „Jahrhunderts Konstantins“, noch immer nicht gelungen war, die Menge der Taufbewerber im Gefolge von Konstantins Machtergreifung auch im Osten des Römischen Reiches (im Jahre 324) und der damit eingeleiteten „Konstantinischen Wende“ voll zu integrieren. Erschwerend kam in Antiochien hinzu, dass die dortige großkirchliche („nizänische“) Gemeinde von inneren Wirren zerrissen und während der Regentschaft des homöisch (‚arianisch‘) gesinnten, 378 im Kampf gegen die Goten gefallenen Kaisers Valens überdies viele Jahre lang ihrer Kirchen und ihres Bischofs beraubt war. So zählte sich zur Zeit des „Goldmundes“ wohl die Mehrheit der antiochenischen Bevölkerung – nominell – zur christlichen Kirche. Das bedeutete aber mitnichten, dass etwa alle antiochenischen Christen die Brücken zur Vergangenheit auch wirklich abgebrochen oder wenigstens eine Ahnung davon bekommen hätten, was das sein und heißen möchte: authentisches Christsein! Hier nun sehen wir Chrysostomos unermüdlich raten, warnen und locken.82 80 De sacerd III 7 (SC 272,158). Dazu, dass dies Wort mit Martin Illerts Einschätzung des chrysostomischen Traktates (M. I., [wie Anm. 75], 45 u. ö.), kaum zusammenpasst, s. o. S. 63 f., Anm. 134. 81 Doerries (wie Anm. 64), 19. 82 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet die 16. (15.) Homilie zum Römerbrief (PG 60,547 f.), der Brändle (wie Anm. 16), 340, verständlicherweise die „Krone unter den großen Predigten des großen Predigers“ zuerkennen wollte. Chr. stellt darin zum Schluss (hom 15,6 in Rom) die Christusliebe des Paulus dem Verhaftetsein an die zum Lebensunterhalt nötigen Dinge (βιωτικὰ πράγματα) gegenüber, welches sich vorwiegend in Habgier äußere. Der Habgierige aber habe kein Herz für den Armen, mit dem sich Christus identifiziere: „Gott hat seinen Sohn für dich hingegeben, du aber teilst mit ihm nicht einmal ein Stück Brot, ihm, der deinetwegen hingegeben, deinetwegen hingeschlachtet wurde. Um deinetwillen hat ihn der Vater nicht verschont, obwohl er sein echtbürtiger Sohn war; du aber siehst ihn vergehen vor Hunger und solltest nur aufwenden, was ihm (von Rechts wegen) gehört, und solltest es um deiner selbst willen tun … Er begnügte sich nicht nur mit Tod und Kreuz, sondern nahm es auch auf sich, arm, fremd, umherirrend, nackt, ins Gefängnis geworfen zu werden und Krankheit zu ertragen, (alles) um dich wenigstens auf diese Weise anzulocken.“ Und um seiner Ermahnung noch größere Dringlichkeit zu verleihen, lässt der Prediger nun Christus selbst das Wort ergreifen und sagen: „Wenn du mir schon vergelten möchtest, was ich für dich gelitten, so erbarme dich doch der Armut! Willst du aber der Armut wegen kein Erbarmen zeigen, so lass dich durch die Krankheit umkehren (beugen), durch die Gefangenschaft erweichen. Und wenn dich auch das nicht menschenfreundlich stimmt, so gib doch zumindest zu, wie gering das ist, was dir abverlangt wird. Keinerlei Aufwand verlange ich, sondern ein Brot, ein Obdach, ein paar tröstende Worte. Und bleibst du auch da noch hart, so bessere dich doch um des Himmelreiches, um der Belohnung willen, die ich dir in Aussicht stellte … Ich litt damals (sc. am Kreuz von Golgatha) Pein um deinetwillen, (erleide sie) aber auch jetzt für dich, damit du auf die eine oder andere Weise bewogen werdest, Erbarmen zu zeigen. Ich dürstete ausgespannt am Kreuz,
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Das Hauptmittel ist für ihn: die Bibel bekannt und lieb zu machen.83 Dem dienen nicht nur zahlreiche seiner Predigten, sondern auch sein intensives Bemühen um häusliches Schriftstudium; ja, man kann bei ihm getrost von so etwas wie einem Hauspriestertum84 als Zielvorstellung sprechen, in Rückbesinnung besonders auf Paulus, dessen charismatisches Kirchenverständnis er in einem überraschenden Ausmaß zu rezipieren vermochte, verglichen mit der Durchschnittsekklesiologie seiner Zeit, die nicht nur Kennern wie J. Quasten als „Blütezeit der griechischen Patristik“ gilt!85 Die zweite Hauptwaffe, besonders im Kampf um die Herzen der Antiochener, ist das Vorbild der Mönche, das er ihnen immer wieder vor Augen malt. Da er, ganz entsprechend den Ratschlägen Augustins, wohl immer ein Konzept und eine Struktur für seine Predigt mitbrachte, im übrigen aber – in der Regel zumindest – frei sprach, so dass er auf Zustimmung wie Kritik aus seiner Gemeinde sensibel zu reagieren vermochte,86 ist es schon einigermaßen beweiskräftig, dass wir von Vorbehalten oder gar Unmut seitens seiner Hörerinnen und Hörer in dieser Hinsicht nie etwas hören. Im Gegenteil scheint es, als habe sich sein Predigtpublikum gar nicht oft genug darauf ansprechen lassen können: „ich komme“, heißt es beispielsweise an einer Stelle in den Matthäushomilien87, „noch einmal auf dies Gesprächsthema zurück, weil ich sehe, dass ihr mit großer Freude davon jetzt dürste ich in den Armen, um dich durch das eine wie durch das andere Mittel an mich zu ziehen und, zu deinem eigenen Besten, dich menschenfreundlich zu machen. Auch wenn du mir auch Vergeltung für unzählige Wohltaten schuldest, verlange ich sie doch nicht von dir wie von einem Schuldner, sondern kröne sie wie eine Liebesgabe und mache dir das Himmelreich zum Geschenk als Entgelt für diese geringfügigen Gaben … Ich vermag dich zwar auch ohne das alles zu krönen; aber ich will doch dein Schuldner sein, damit der (Sieges‑)Kranz dir Freimut (παρρησία) erbringe. Eben aus diesem Grund, obwohl ich mich selbst ernähren könnte, gehe ich als Bettler umher und strecke, an deinen Türen stehend, die Hand aus … Deshalb verlangt mich, an deiner Tafel zu sitzen, wie es unter Freunden der Brauch ist, und halte es mir zugute. Und einst, wenn (sc. am Jüngsten Tage) das ganze Welttheater beisammen ist, rufe ich dich mit lauter Stimme aus, auf dass alle es hören, und zeige (mit dem Finger) auf dich, weil du mich speistest“. 83 Darum hatte ihn ja Harnack den „Bibelmann“ der Alten Kirche genannt (s. o. Anm. 15). 84 Dafür ist ein Beispiel unter vielen der Anfang der 5. Homilie über das Matthäusevangelium (PG 57,55 f.). 85 Vgl. die Nachweise bei Ritter, Charisma, bes. 34–98; zu John Quasten s. Band III seiner „Patrology“, Westminster /Maryland 1963, welcher die Zeit von Nizäa (325) bis Chalkedon (451) behandelt und die Überschrift trägt: „The Golden Age of Greek Patristic Literature“. – Dass Ernst Dassmann, Die eine Kirche in vielen Bildern (Standorte in Antike und Christentum), Stuttgart 2010, in seiner kurzen Befassung mit Chrysostomos, abweichend von dem hier Vorgetragenen, zu dem Ergebnis kommt, letztlich müsse „offen bleiben, in welchem Maße Chrysostomus versucht, das paulinische Bild vom Leib lediglich auszulegen oder es vielmehr zum Anstoß für eigene ekklesiologische Spekulationen nimmt“ (23), scheint mir darauf zu beruhen, dass er sich zu ausschließlich auf die chrysostomischen Epheserbriefhomilien beruft (und einer einzigen Analyse derselben [P. Kohlgraf, Die Ekklesiologie des Epheserbriefes in der Auslegung durch J.Chr. (Hereditas 19), Bonn 200, vertraut); vgl. im übrigen meine Rez. des D.schen Buches in: ZKG (im Erscheinen). 86 Seine Stenographen haben das alles getreulich festgehalten! 87 Hom 70 (71), 3 (im Anschluss an Mt 22,31–33 [PG 58,658 f.]).
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reden hört“. Verständlich ist diese Einstellung nicht nur von daher, dass es sich beim Aufblühen des Mönchtums zur Zeit des Chrysostomos noch immer um ein relativ neuartiges Phänomen handelte. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, als habe die eingangs skizzierte Konzeption des Verhältnisses von Mönchtum und Kirche zumindest Teilen seiner Zuhörerschaft deshalb gefallen, ja wohlgetan, weil sie ihnen die Vision von Eindeutigkeit, von Verbindlichkeit, von Authentie vermittelte, ohne sie zwangsläufig aus der „Welt“ herauszuführen.88 Das andere Hauptproblem, mit dem Chrysostomos lebenslang, jedenfalls in der Zeit als Presbyter wie später als Bischof der Reichshauptstadt, gerungen hat, war das der Polarisierung von Armut und Reichtum, die ihm völlig unerträglich gewesen zu sein scheint. Bis auf die Kanzel verfolgten ihn die oft fürchterlichen Bilder und Szenen, welche sich ihm boten, sobald er das Kirchenportal durchschritt, wo sich – wie noch heute besonders in Ländern mit östlich-orthodoxer Tradition – zur Gottesdienstzeit die Bettelarmut und das Elend zu konzentrieren pflegten; und wenn wir eine Stelle in der 66. (67.) Homilie über das Matthäusevangelium so zu verstehen haben, dass „nach Nahrung und Kleidung Verlangende“ die Altarstufen umlagerten,89 dann wäre ein Teil der Bettelarmut sogar allen Gottesbesuchern unmittelbar vor Augen gewesen. Seit der vielerörterten „Krise“ um die Mitte „des 3. Jahrhunderts“90 n. Chr. konnte zwar inzwischen hie und da von einer Erholung gesprochen werden. Aber diese Erholung scheint weniger zur Bekämpfung der schlimmsten Armut als – selbst unter getauften Christen – zum Wiederaufleben von Prunksucht und typisch antikem „monumentalem Euergetismus“ geführt zu haben, nach dem Motto: Gutes tun und lauthals davon reden! Und was gäbe es für ein „lauteres“, beredteres und vor allem dauerhafteres Selbstlob als die Verewigung in Marmorbauten oder – nun gegenüber der „siegreichen“ Kirche – in Mosaikschmuck und kostbarem Al88 Es ist allenfalls die halbe Wahrheit, wenn Chr. immer wieder die Intention zugeschrieben wird, aus der „Stadt“ ein „Kloster“ zu machen, so etwa von Peter Brown, u. a. in seinem Buch „The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity“, New York 1988 (eine deutsche Übersetzung erschien in München 1991); darin hat er Chrysostomus ein ganzes Kapitel gewidmet (das 15., dessen deutsche Kapitelüberschrift lautet: „Die Sexualität und die Stadt“ [315–331]); zu einer m. E. zutreffenderen Beschreibung des chrysostomischen „Ideal[s] einer christlichen Gemeinschaft“ s. dagegen Tloka (wie Anm. 16), 190–204. – Zu der von Martin George auf dem internationalen Chrysostomos-Symposium in Sibiu (Okt. 2007) über „Sf. Ioan Gură de Aur“. Episcop – Teolog – Filantrop (407–2007)“ vertretenen These, es bestehe ein denkerischer Zusammenhang „zwischen dem theologischen Verständnis der Kirche und des Bischofsamtes, das der Bischof Johannes hat, einerseits, und seinem einfühlsamen Eintreten für die Eheleute und seiner kritischen Haltung gegenüber nicht untergeordneten Mönchen und Klerikern, einschließlich vieler Mitbischöfe, andererseits“ (Martin George, Johannes Chrysostomos als Neuererbischof, in: Sf. Ioan Gură de Aur, Episcop – Teolog – Filantrop [407–2007], Sibiu 2008, in Rumänisch und Deutsch [mit englischem Abstract] 108–120; hier: 109 bzw. 115), s. unten, Anm. 108. 89 Vgl. o. S. 58. 90 Vgl. dazu zuletzt Géza Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 4. völlig überarb. u. aktual. Aufl., Stuttgart 2011, 218–272.
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targerät. Chrysostomos hat es meist im guten versucht, seine Gemeindeglieder innerlich von der Habsucht zu lösen und zu einem „Almosen“ willig zu machen, welches diesen Namen auch verdient.91 Sein wichtigstes – und wohl auch wirksamstes – Argument war in diesem Zusammenhang: dass wir im Armen Christus selbst begegnen.92 Ganz allgemein kann man sagen, dass Chrysostomos, was in der Literatur nicht immer recht verstanden und gewürdigt worden ist, seinen Gemeinden nichts „schenkte“ und vor Widerständen (wie eigenen Insuffizienzgefühlen93) nicht kapitulierte. Gleichwohl war er ein gesuchter Kanzelredner, welcher Vergleiche mit anderen Genies der Beredsamkeit wie Libanios94 durchaus nicht zu scheuen brauchte. Welcher Wertschätzung sich die Beredsamkeit95 bei der „Menge“, besonders aber in jenen städtischen Oberschichten erfreute, die selbst zu seiner Zeit für die Sache des Christentums oder doch wenigstens für dessen nizänisch-orthodoxe Interpretation vielfach erst noch zu gewinnen waren, dessen war er sich vollkommen bewußt; und er nahm diese Herausforderung ernst und verlangte das auch von anderen, soweit sie sich zum „Hirtenamt“ berufen fühlten. Wie schon Erasmus richtig erkannte,96 unterliegt es überhaupt keinem Zweifel, dass mit Chrysostomos ein Höhepunkt der Synthese aus christlicher Verkündigung und spätantiker Rhetorik erreicht war; verstehe dieser es doch „in ganz einzigartiger Weise, gebildete Frömmigkeit mit volkstümlicher Eloquenz zu 91 Das
deutsche Wort A. ist schließlich vom griechischen ἐλεημοσύνη (eleemosýne) abgeleitet, welches nichts anderes bedeutet als – „Erbarmen“! 92 S. o. (166 mit) Anm. 16 und öfter. – Chrysostomos hat freilich gelegentlich auch noch ganz andere Töne anschlagen und beispielsweise Damen der Konstantinopeler Oberschicht, die nicht von ihrer, wie er fand, unsinnigen Prunksucht lassen und auf ihr Nachtgeschirr aus purem Gold und ihre Klunkern verzichten mochten, mit dem Ausschluß aus der Kirchengemeinschaft drohen können (s. Kolosserbriefhomilien, hom 7,5 [PG 62,349–352]), was man ihm in den entsprechenden Kreisen verständlicherweise sehr übel genommen hat. 93 Er äußerte sie in aller Öffentlichkeit, wenn er z. B. vor fast leerer Kirche predigen musste, weil gleichzeitig Pferderennen stattfanden (vgl. dazu bes. seine Predigt contra ludos et theatra [PG 56,263–270]), oder die allgemeine Erschütterung über ein schweres Erdbeben rasch wieder verflog und der alte Leichtsinn und Schlendrian erneut Einkehr hielten (Post terrae motum et de Lazaro [PG 50,713–716]). 94 Man vergleiche nur die fünf Reden, die Libanios aus Anlaß der „Statuenaffäre“ in Antiochien gehalten hat (or. XIX–XXIII), mit den „Säulenreden“ des „Goldmundes“ (s. u., Anm. 106) und dazu den Aufsatz von H. Leppin (s. ebd.); ferner Tloka (wie Anm. 16), 181–190. 95 In De sacerdotio ist gelegentlich von „Redeliebhaberei“ oder „Begeisterung für die Eloquenz“ (λόγων ἔρως) die Rede, wie sie „heutzutage“ sich der Herzen der Christen bemächtigt habe, so dass die, die „sich der Redekunst befleißigen“ (οἱ τούτους [sc. λόγους] ἀσκοῦντες), in höchstem Ansehen stünden, was nicht nur von den Heiden, sondern auch von den eigenen Glaubensgeschwistern gelte (Buch V, Kap. 8 [SC 272,302]; vgl. auch ebd. 2 [284: „Wer nicht einen Vortrag zu bieten hat, der mit Anmut (χάρις) und Salz gewürzt ist, wird von der Menge geringgeachtet“). 96 Vgl. nur die Widmung an den befreundeten Willibald Pirkheimer, die er seiner Ausgabe von De sacerdotio (Basel 1525) voranstellte; aus ihr stammt auch das folgend angeführte Zitat. Zu den von Erasmus hervorgehobenen Stilqualitäten vgl. unten, Anhang A, 8.
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verbinden“ (unus omnium eruditam pietatem cum populari coniunxit eloquen‑ tia), und verfüge über ein Maß an Leichtigkeit, Durchsichtigkeit, Lieblichkeit und Fülle (des Ausdrucks), das ihn nicht hinter einem Lukian (von Samosata, ca. 120–180 n. Chr.) zurückstehen lasse (Habet facilitatem, perspicuitatem, sua‑ vitatem, copiam, cum Luciano communem). Was das inhaltlich bedeutet, soll im Anhang, natürlich nur exemplarisch, veranschaulicht werden. Allerdings wußte Chrysostomos genau so gut um die Gefahren einer Überschätzung der Rhetorik97 und verschloss darum seine Augen nicht vor der Tatsache, dass die Mehrzahl der normalen Kirchenbesucher durch rhetorische Finessen nur begrenzt zu beeindrucken war, weil sie aus „Unkundigen“, Ungebildeten (ἰδιῶται) bestand, die deshalb jedoch – unter Christen wenigstens – nicht verachtet zu werden verdienten.98 Soweit zu sehen ist, haben ihn seine Gemeinden großenteils wirklich geliebt; davon ist bereits eingangs, andeutungsweise, die Rede gewesen. Auf die Frage, woran das gelegen habe, bieten sich in meinen Augen hauptsächlich99 folgende Antworten an: Einmal gehörte Chrysostomos wohl zu jener Art von Predigern und Seelsorgern, denen abzuspüren ist, dass sie nicht zuletzt sich selbst (Dativ!) predigen. Zum andern hat es seiner Zuhörerschaft – in Antiochien, Konstantinopel oder wo auch immer –, sicherlich wohlgetan, dass sein seelsorgerliches Bemühen letzten Endes immer auf Freiwilligkeit, auf Entscheidungsfreiheit (αὐτεξούσιον) der ihm Anbefohlenen abgestellt war, dass es auf der Einsicht beruhte, Zwang würde gar nichts fruchten und das erzwungene Gute wäre nicht mehr gut, entsprechend der Maxime des Apostels, der ja auch nicht Herr sein wollte über anderer Glauben, sondern einzig Mithelfer ihrer Freude (2 Kor 1,24).100 Darin kam gewiss auch eine rhetorische „Tugend“ (ἀρετή, virtus) zur Geltung, nämlich die des „Schicklichen“, Situationsgerechten (πρέπον, decorum, decens, aptum), wie sie u. a. Quintilian in seiner Institutio Oratoria (Buch XI, Kap. 1), im Anschluß an
in konzentrierter Form in De sacerd V, bes. 5–8 (SC 272,290/304). .Ebd. 6 (294/6). 99 Man kann gelegentlich lesen oder hören, die Kirchen seien früher voller gewesen als heute, weil die Menschen damals abergläubischer waren. Vorausgesetzt, das mit dem Aberglauben träfe ohne Einschränkung zu, woran ich mehr und mehr zweifele, so würde uns das Argument kaum weiterhelfen, weil es die besondere Attraktivität des „Goldmundes“ in seiner Zeit nicht einen Deut verständlicher machte. 100 An diese in De sacerd II 3 (SC 272,106/112) fomulierte Maxime hat sich Chr. nach Ausweis seines erhaltenen Schrifttums stets gehalten; entsprechend sind die Belege wiederum Legion. – Dass er sich als Inhaber des Konstantinopeler Thronos zu rigorosen kirchenzuchtlichen Maßnahmen gegenüber „unwürdigen“ Klerikern (einschließlich Bischöfen in dem von ihm beanspruchten Obermetropolitansprengel) und unbotmäßigen Mönchen (in Konstantinopel und Umgebung) befugt glaubte, steht dem nicht entgegen; er selbst jedenfalls scheint es nicht als Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien angesehen zu haben, sondern als seine Pflicht zu handeln. Und er hat, wie Lochbrunner (wie Anm. 27), 122, wohl zurecht betont, bei seiner Mißständereform „immer am kirchlichen Recht einen Rückhalt gehabt“. 97 So 98
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Cicero, ebenso ausführlich wie eindrucksvoll beschrieben hat.101 Doch was hieß hier „situationsgerecht“? „Bedenkt man, wie unbesorgt“ spätestens „die justinianische Reichskirche und das ganze Mittelalter die dargebotene staatliche Macht anwandten, um die innere Einheit und Gleichförmigkeit zu sichern, so verdient es eine ungeteilte Aufmerksamkeit, dass zu Beginn des theodosianischen Zeitalters eine Stimme mit so sicherer Klarheit diese Versuchung abwies und es gerade als das Merkmal der christlichen Kirche bezeichnete, dass in ihrer Mitte nur die freie Überzeugung gelte“; das mag auch als ein Einspruch gegen Übelstände zu verstehen sein, „die bereits zu dieser Zeit einrissen“.102 Zum Dritten haben es ihm die Antiochener gewiss nie vergessen, wie er ihnen im Frühjahr 387 beistand, als, aus Anlass einer Steuererhöhung, ein Großteil von ihnen in einem plötzlich ausbrechenden Tumult auf Holztafeln gemalte Bilder der kaiserlichen Familie mit Steinen bewarfen und schließlich deren Bronzestatuen umstürzten, womit ganz klar der Tatbestand der Majestätsbeleidigung gegeben war, ja dass sie sogar den kaiserlichen Palast anzugreifen drohten. Eine furchtbare Strafe des als jähzornig geltenden Kaisers Theodosius schien in sicherer Aussicht zu stehen; die ganze Stadt „war“ deshalb „von lähmendem Entsetzen gepackt und glich einem verlassenen Bienenkorb“,103 zumal sich rasch herumsprach, dass bereits mit einzelnen Hinrichtungen begonnen worden sei. Chrysostomos besuchte die Gefangenen, ging persönlich zum Stadtkommandanten und versuchte als Prediger die Gemeinde auf alle Fälle zu rüsten und aufzurichten, nicht zuletzt dadurch, dass er sie zu wahrer Bußgesinnung zu erwecken suchte – in diesen Zusammenhang gehören seine berühmtesten Gelegenheitsreden, die „Säulenhomilien an das Volk von Antiochien“.104 In der 101 In der sehr nützlichen zweisprachigen (lat.-engl.) Ausgabe von Harold E. Butler (LCC 124–127), Cambridge/ Mass.–London (1922) ND 1968, IV, 153–211 (es geht hier – nach Cicero – um die vierte, für Qu.s Empfinden besonders nötige virtus elocutionis, nämlich: ut dicamus apte); vgl. auch Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, bes. §§ 258.375; ferner dessen griech. Register s. v. (873) und unten den Anhang, A,8 c. 102 Doerries (wie Anm. 76), 6; ähnlich Tloka (wie Anm. 16), 204 u. ö. 103 De statuis, hom 2,1 (PG 49,33–35). 104 PG 49,15–222; vgl. dazu vor allem Frans van de Paverd, St. John Chrysostom, the Homilies on the Statues. An Introduction (OCA 239), Rom 1991; ferner David G. Hunter, Preaching and Propaganda in fourth century: John Chrysostom’s ‚Homilies on the Statues‘, in: Preaching in the Patristic Age (FS W. Burghardt), hg. v. D. G.Hunter, Mawah /New York 1989, 119–138: Hartmut Leppin, Steuern, Aufstand und Rhetoren: Der Antiochener Steueraufstand von 387 in christlicher und heidnischer Deutung, in: Hartwin Brandt (Hg.), Gedeutete Realität. Krisen, Wirklichkeiten, Interpretationen (3.–6. Jh. n. Chr.), Stuttgart 1999 (Hist. E 134), 103–123; Claudia Tiersch, Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398–404), Tübingen 2002 (STAC 6), 92–110 (ihre These, die „Weise, in der sich“ Chr. „als Prediger innerhalb der Statuenrevolte positionierte“, liefere „sowohl Gründe für die positive Aufmerksamkeit, die der junge Prediger bei kaiserlichen Offiziellen erregte, als auch Indizien für sein späteres Scheitern in Konstantinopel“ [107], scheint mir in beiden Richtungen: nach „Antiochien“ wie nach „Konstantinopel“, problematisch zu sein und auf die Motive des Predigers, über die er uns ja keineswegs im Zweifel gelassen hat, wenig Rücksicht zu nehmen, um mich ganz vorsichtig zu formulieren); Stephan Ch. Kessler, Kirche und Staat in den Säulenhomilien des Johannes
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Konstantinopeler Bevölkerung dagegen, wenn auch nicht gerade in den höchsten Kreisen, machte wohl bleibenden Eindruck, dass sich Chrysostomos bei zahlreichen Gelegenheiten weniger als „Hofbischof “ denn als wahrer „Mann des Volkes“ erwies, durch seinen Lebensstil ebenso wie durch seine unverblümt vorgetragene Sozialkritik und seinen Freimut (παρρησία) im Umgang selbst mit den Großen dieser Welt.105 Wenn ich noch einen weiteren Grund nennen sollte, weshalb Chrysostomos in meinen Augen – weit über seinen Tod hinaus – so außerordentlich beliebt war, dann würde ich sagen: weil er sich selbst als ein großer Liebender zu erkennen gab; zahlreiche Stellen in seinem erhaltenen literarischen Werk lassen das bis heute zur Genüge erkennen.106 Ich zitiere an dieser Stelle nur wenige Sätze aus der anläßlich seiner Rückkehr aus der Asia im Frühjahr 402 gehaltenen Homilia de reditu ex Asia:107 „Auch ich bin ein Knecht, (und zwar) eurer Liebe. Denn ihr habt mich gekauft, nicht indem ihr Geld hinwarft (sc. wie auf dem Sklavenmarkt), sondern Liebe erzeigtet. Ich freue mich dieser Knechtschaft und möchte davon nie loskommen. Denn diese Knechtschaft ist vorteilhafter als eine Königskrone (διάδημα), diese Knechtschaft erbringt (einen Zugang zum) Reich der Himmel, diese Knechtschaft ist der Freiheit vorzuziehen …“.108 Chrysostomus: Mönche werden Philosophen, in: GIOVANNI CRISOSTOMO. Oriente e Occidente tra IV e V secolo (XXXIII Incontro di studiosi dell’ antichita cristiana [Rom, 6.–8. Mai 2004), Rom 2005 (SEAug 93/2), 809–820; Tloka (wie Anm. 16), 179–181; Jutta Tloka, Der Λόγος und die λόγοι. Die Bedeutung der Rhetorik für die Konstituierung der christlichen Elite in der Spätantike, in: F. R. Prostmeier/H. E. Lona, Logos der Vernunft – Logos des Glaubens (Millennium-Studien 31), Berlin u. a. 2010, 301–321, bes. 316 ff. 105 Vgl. Tloka (ebd.), Register s. v. παρρησία. – Zu den Konflikten mit dem Herrscherpaar Arcadius und Eudoxia s. noch immer am ehesten John H. W. G. Liebeschuetz, Barbarians and Bishops (Army, Church and State in the Age of Arcadius and John Chrysostom), Oxford 1990; ferner die Dissertation von Claudia Tiersch (wie vorige Anm.) und ihren Aufsatz, Wie christlich darf ein Bischof sein? Johannes Chrysostomus, Bischof von Konstantinopel (398–404), im Spiegel zweier Biographien, in: Andreas Schüle (Hg.), Biographie als religiöser und kultureller Text (Literatur – Medien – Religion, Bd. 4), Münster 2002, 125–152, sowie Kazimierz Ilski, Johannes Chrysostomus und Kaiser Theodosius II., in: Giovanni Crisostomo (wie vorige Anm.), 849–862. 106 Ich verweise lediglich auf seine Predigten über den Römerbrief und darin bes. auf hom. 33 (32), 2–4 (PG 60,678–682) – ein Stück daraus ist im Anhang dokumentiert; ferner auf die Lobreden auf den Apostel Paulus (SC 300) und dazu auf das oben (Anm. 58) angeführte Buch von Margaret M. Mitchell, sowie auf In act apost, hom 3 (PG 60,35–42; hier: 42). 107 PG 52,421–424 bietet lediglich die alte lateinische Version in mangelhafter Form. 1958 wurde das griechische Original in einem Moskauer Kodex (Mosquensis 159) auf dem Athos entdeckt und drei Jahre später von Antoine Wenger in: RevÉtByz 19 (1961) [110]114–123, publiziert, zusammen mit einem wesentlich besseren lat.Text; John Norman Davidson Kelly bezeichnete diese Predigt zurecht als „one of his warmest, most pastorally sensitive adresses“ (Golden Mouth. The Story of John Chrysostom – Ascetic, Preacher, Bishop, Ithaca-New York 1995, 181). 108 Wenger (wie vorige Anm.), § 9 (= 116/8). – An dieser Stelle, wie angekündigt, noch ein paar kritische Anmerkungen zu dem Beitrag meines Berner Kollegen Martin George über „Johannes Chrysostomos als Neuererbischof “ beim Internationalen Symposium über „Sf. Ioan
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Dass sich die Weltverhältnisse in den 1600 Jahren seither grundlegend gewandelt haben und wir uns völlig anderen Herausforderungen gegenübersehen als der spätantike Kirchenvater, ist unstrittig. Umso weniger versteht es sich unter uns von selbst, was denn nun zu tun sei, welche Vision heute von künftiger Kirche den Bemühungen um ein situationsgerechtes kirchliches Handeln, um zeitgemäße Kirchen‑ und Liturgiereform, zugrundeliegen und die Richtung weisen solle. Weil das so ist, darum gibt es einstweilen auch keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, ob und was von Chrysostomos zu lernen sei. Ich kann vielmehr nur für mich selbst sprechen:109 Ich hielte es, genau so wie mein ehemaliger Marburger und später Heidelberger Kollege W. Huber, der langjährige berlinbrandenburgische Bischof und Ratsvorsitzende der EKD, in verschiedenen Verlautbarungen, für verheerend und genau das falsche Signal, „wenn wir den Prozess der ‚Selbstsäkularisierung‘ in unseren Kirchen nicht stoppten und stattdessen die Vermittlung von ‚geistlicher‘, spiritueller Bildung und Glaubenswissen wieder als eine vorrangige Aufgabe erkännten;110 hierfür wäre von unseren GeGură de Aur, Episcop – Teolog – Filantrop“ (wie o., Anm. 77). Ich habe bei Gelegenheit dieses Symposiums selbst nur noch meine Haupteinwände kurz andeuten, aber nicht mehr mit ihm ausdiskutieren können: sie bestehen darin, dass sich seine These, die ja auch die (m. E. unhaltbare) Behauptung eines gewandelten Verhältnisses des Chr. zum Mönchtum einschließt, viel zu wenig auf das reichhaltige Zeugnis des Corpus Chrysostomicum selbst und viel zu stark und anscheinend unkritisch auf das Zeugnis „der“ Kirchenhistoriker des 5. Jahrhunderts stützt. Genauer müsste man freilich sagen: auf das Zeugnis (einzig) des Sokrates. Dieser ist nach den sorgfältigen Nachweisen von Martin Wallraff in seiner Heidelberger Dissertation (Der Kirchenhistoriker Sokrates. Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person [FKDG 68], Göttingen 1997, 55–75) „die einzige bedeutende Quelle …, in der sich eine derartige [sc. chrysostomosfeindliche] Tendenz erhalten hat“ (ebenda, 73). Wo Sozomenus mit ihm zusammengeht, folgen beide einer – zu postulierenden – gemeinsamen (eher chrysostomosfreund‑ lichen) Quelle. Die chrysostomosfeindlichen Passagen bei Sokrates gehören dessen „Sondergut“ an, für das er sich auf eigene Erlebnisse und mündliche Überlieferung des Konstantinopeler Establishments (ebenda, 72), jedoch, soweit wir wissen, nicht auf literarische Quellen stützt. Seine unverhohlene Feindschaft gegenüber Chrysostomos ist zudem offensichtlich davon (mit‑) bestimmt, dass man sich in Novatianerkreisen, denen S. angehörte oder wenigstens nahestand, erzählte, „Johannes“ habe „zu Recht gelitten“ – mit George zu reden: er sei nicht schuldlos gescheitert (vgl. 119 u. ö.) –, „weil er viele Kirchen der Novatianer und Quartodezimaner und anderer weggenommen“ und dem orthodoxen Kult zugeleitet „hat, als er nach Kleinasien und Lydien gekommen war“ (Kirchengeschichte VI 19,7; 344 Hansen); s. zur kritischen Würdigung dieser Novatianertradition Wallraff, 73, Anm. 215, mit weiterer Literatur. 109 Ich zitiere im folgenden (etwas gekürzt) den Schluss meines Beitrages zur Heidelberger Ringvorlesung des WS 1999/2000 „Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums“, hg. v. Wilfried Härle u. a., Gütersloh 2000, 37–48, unter dem Titel: „Adolf von Harnack und die Frage nach dem Wesentlichen des Christentums in altkirchlicher Perspektive“ (Zitat: 47 f.). 110 Ich bezog mich an dieser Stelle auch auf Michael Welker, Das Ende der Volkskirche? Gestaltwandel der Kirche aus evangelischer Sicht, in: Klaus Hofmeister u. a. (Hg.), Die Zukunft der Religion. Spurensicherung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Würzburg 1999, 60–72, und auf einen Brief meines niederländischen Kirchenhistorikerkollegen und remonstrantischen („arminianischen“[!]) Pfarrers Eginhard P. Meijering, der mir am 1. 1. 2000 schrieb: „Auch hier in Holland gibt es viele (in allen Kirchen!), die der Meinung sind, die Kirche solle sich
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schwisterkirchen in der Ökumene, nicht zuletzt von der Orthodoxie, viel zu lernen. Ich hielte es für verheerend, wenn wir noch immer, getreu dem Ratschlag Harnacks, den Protestantismus ‚in erster Linie aus seinem Gegensatze zum Katholizismus‘111 verstünden, wenn wir uns noch immer bemüßigt fühlten, jeder für sich an seinem eigenen ‚Wesen des Christentums‘ zu basteln … ganz, wie es zu Harnacks Zeiten üblich war112, statt gemeinsam zu fragen, was Christentum heute sei und – welche Folgen es heute haben müsse“. Unter dieser Voraussetzung und auf diesem Hintergrund, meine ich, ist sogar eine ganze Menge von Chrysostomos zu lernen; ich kann freilich nur noch auswählen und eben andeuten: 1. Die Bibel bekannt und lieb zu machen, ist, wir mir scheint, heute – in einer Zeit rasanter Traditionsabbrüche – eher noch wichtiger geworden als zur Zeit des Chrysostomos und bleibt ein Hauptinstrument und ‑erweis situationsgerechten kirchlichen Handelns. Wird die gegenwärtige Verkündigung und Unterweisung, selbst in der sog. „Kirche des Worts“, dieser Herausforderung auch nur annäherungsweise gerecht?113 2. Bekanntlich hat man in den Kirchen der Reformation den Zweig des Mönchtums weithin verdorren lassen.114 Ob das so sein musste und ob es nur ein Segen war, darüber kann man trefflich streiten, zumal es kaum zufällig sein wird, dass sein Platz selbst dort nicht auf Dauer und nicht vollkommen unbesetzt blieb.115 Aber keinen Streit dürfte es – eigentlich – darüber geben, dass auch und gerade heute auf die Vision von Eindeutigkeit, von Verbindlichkeit, von Authentie nicht verzichtet werden kann, ohne dass dies – heute so wenig wie zu des Chrysostomos Zeiten – zwangsläufig aus der „Welt“ herausführte. Wo aber findet diese Vision heute ihren Anhalt in der kirchlichen Wirklichkeit? Wo findet sich heute die Gruppe als ethisches Subjekt, wo die Gemeinde – wie klein oder groß
einer allgemeinen Religiosität öffnen. Merkwürdigerweise sieht man nicht oder will man nicht sehen, dass in den Kreisen, wo man das schon seit langer Zeit tut, die Kirchen am leersten sind“. 111 So in der 15.Vorlesung seiner Reihe „Das Wesen des Christentums“ vom WS 1899/1900 (Neuaufl. Gütersloh 1999), 239. 112 Vgl. Leo Baecks Konstruktion eines „Wesens des Judentums“ (1905) oder Karl Adams „Wesen des Katholizismus“ (1924), beides unter dem unverkennbaren Einfluss Harnacks entworfen. 113 Vgl. dazu das Nachwort zu Adolf Martin Ritter, Freude teilen. Predigten und biblische Besinnungen aus drei Jahrzehnten (Predigt heute, Band 13), Waltrop 2006. 114 Vgl. dazu jetzt den Literatur‑ und Forschungsbericht von Johannes Schilling in: ThLZ 132 (2007) 235–250. Unerwähnt blieben darin die monastischen Renaissancen innerhalb der Anglikanischen Kirche, spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. 115 Man denke nur an die Herrnhuter mit ihren „Banden“ – in Verwirklichung Spenerscher Vorschläge –, die dann J. Wesley als Grundform für den Aufbau der methodistischen Gemeinschaften in der Kirche von England übernahm (vgl. Martin Schmidt, Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln, in: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte [wie oben, Anm. 68], 211–250).
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sie sei – als „neue Kreatur“, in welcher „Gott als der Schenkende, Befreiende, Erfreuende, Kommunikation Stiftende (je) neu erfahren wird“?116 3. Die Polarisierung zwischen Reichtum und Armut ist heute, im Weltmaßstab betrachtet, eher noch unerträglicher geworden als zur Zeit des Chrysostomos und verlangt nach strukturellen Lösungen, aber nach wie vor auch nach persönlichem Opfer und Verzicht. 4. Chrysostomos, der glänzende Kanzelredner, hat, soweit ich sehe, seine bedeutende Wirkung auch durch gezielt und bedacht eingesetzte rhetorische Mittel, aber nicht durch „massenpsychologisch wirksame“ Strategien oder gar Tricks erzielt. Er hat darüber m. E. nicht verfügt; und heutige Predigerinnen und Prediger sollten auch im Ernst nicht danach verlangen. Wohl aber sollten sie in elementarer Rhetorik besser geschult sein als heute in der Regel und ihre erworbenen Kompetenzen, gezielt und bedacht, einsetzen, sich z. B. durch Beschäftigung mit der chrysostomischen Reformschrift De sacerdotio, die auch als ein rhetorisches Meisterwerk gelten darf, klarmachen, worauf es auch heute nicht zuletzt ankommt: Klarheit der Gedankenführung und der Artikulation, Sprachrichtigkeit (in unserem Fall: einwandfreies Deutsch), Authentie (die heutzutage wohl bis in den Bereich der Körpersprache hineinreichen müsste!), Beachtung des „Schicklichen“ (πρέπον), das niemandes „Entscheidungsfreiheit“ (αὐτεξούσιον) beeinträchtigt. 5. Abschließend noch ein Wort zur sog. „Chrysostomosliturgie“, gegen deren Zuschreibung an den „Goldmund“ – im Kern zumindest117 und dem Inhalt nach – wenig spricht; nur die reichlich spät einsetzende äußere Bezeugung macht sie nach wie vor schwierig. Davon abgesehen aber passte besonders die Betonung des mysterienhaften Charakters der Eucharistiefeier gut in das Jahrhundert nach Konstantin; erlebte doch eben jetzt die „Arkandisziplin“ (beispielhaft anklingend in den Rufen: „[Schließt] die Türen, die Türen!“ zu Beginn der „Gläubigenmesse“ und „Das Heilige den Heiligen“ auf deren Höhepunkt) ihre eigentliche Blütezeit, unerachtet der öffentlichen Anerkennung und Privilegierung des Christentums oder gerade derentwegen! Doch wie immer: 581 Jahre nach dem Tod des Kirchenvaters, bei der „Taufe Russlands“, m. a. W. im Zusammenhang der Christianisierung der Kiewer Rus, soll bei Fürst Vladimir und seinen Bojaren den Ausschlag gegeben haben, dass das Erlebnis eines orthodoxen Gottesdienstes in der „Kaiserstadt“ (Zarigrad) Konstantinopel (mit ziemlicher Sicherheit in Gestalt der uns bekannten „Göttlichen Liturgie des hl. Johannes Chrysostomos“118) vergessen ließ, ob man sich im Himmel befinde oder auf Erden, so viel „Schönheit“ und „Süße“ sei da zu „verkosten“ gewesen; und hier sei wahrhaft 116 Ulrich
596.
Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung, Stuttgart (1970) 2. Aufl. 1983,
117 Besonders
was die „Gabendarbringung“ (Anaphora) betrifft. hilfreich ist hier die mehrsprachige Ausgabe, hg. von Fairy von Lilienfeld, Die Göttliche Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus mit den besonderen Gebeten der Basilius118 Sehr
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Gott mit den Menschen.119 – Ich bin fest davon überzeugt: Wenn nicht wenigstens etwas davon in unsere evangelischen Gottesdienste zurückkehrt (ohne dass der Predigt darüber der geringste Bedeutungsverlust erwachsen müsste), etwas von „Schönheit“, Stille, ehrfuchtsvoller Scheu vor dem „Heiligen“, Anbetung, Gemeinschaft, dann wird der schleichende Exodus, die Abstimmung mit den Füßen, nicht aufzuhalten sein.
Anhang A. Schematische Übersicht über Hauptaspekte und ‑gliederungen antiker Rhetorik* 1. Voraussetzungen a) Naturanlage b) Ausbildung (Wissen, Kunstlehre) c) Erfahrung (Übung)
ὑποσχέσεις α) φύσις β) παιδεία (ἐπιστήμη, τέχνη) γ) ἐμεπειρία (μελέτη)
usus (exercitatio)
2. Methoden des Erwerbs (Arbeitsmethoden) a) Unterricht (Kunstlehre, Technik) b) Nachahmung c) Übung
μέθοδοι
res (rationes)
α) τέχνη
ars
β) μίμησις γ) ἄσκησις
imitatio exercitatio
3. Arten (Redearten) a) Gerichtsrede b) Staatsrede
γένη τῶν λόγων α) γένος δικανικόν β) γένος δημηγορικόν (συμβουλευτικόν) c) Gelegenheitsrede (Festrede) γ) γένος ἐπιδεικτικόν (πανηγυρικόν) 4. Arbeitsschritte a) Auffindung der Hauptgegenstände (umfasst auch die Punkte 5–7) b) Stoffgliederung (umfasst auch Punkt 7)
praesuppositiones natura doctrina (scientia, ars)
genera causarum genus iudiciale genus deliberativum genus demonstrativum
ἔργα τοῦ ῥήτορος (στοιχεῖα) officia oratoris (partes, opera, elementa) inventio α) εὕρεσις β) τάξις
dispositio
Liturgie im Anhang, Heft B (Russisch-Kirchenslawisch-Deutsch), Oikonomia 2 – Heft B, Erlangen 1979. 119 Vgl. die Auszüge aus der sog. „Laurentiuschronik“ in: Kirchen‑ und Theologiegeschichte II. Mittelalter, hg. v. Adolf Martin Ritter/Bernhard Lohse † / Volker Leppin, 5. völlig neubearb. Aufl. Neukirchen 2001, 79/81. * Nach: H. Hommel, Art. Rhetorik, in: LAW, 2611–2626; hier: 2623 [geringfügig geändert].
Situationsgerechtes kirchliches Handeln – einst und heute
c) Darstellung (umfasst auch die Punkte 8–10) d) Memorieren e) Vortrag
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γ) λέξις (ἑρμηνεία)
elocutio
δ) μνήμη ε) ὑπόκρισις
memoria pronuntiatio (actio)
πίστεις α) πίστεις ἄτεχνοι
probationes pr. inartificiales
β) πίστεις ἔντεχνοι
pr.artificiales
στάσεις
status
α) στοχασμός
status coniecturalis
β) ὅρος γ) ποιότης δ) μετάληψις
status definitivus status generalis status translativus
7. Redeteile a) Einleitung
μέρη τοῦ λόγου α) προοίμιον
b) Erzählung des Hergangs c) Präzisierung des Sachverhalts d) Positiver Beweis e) Negativer Beweis f) Schluss
β) διήγησις γ) πρόθεσις (προπαρασκευή) δ) πίστωσις (ἐπίδειξις) ε) ἔλεγχος (λύσις, ἀνασκευή) ζ) ἐπίλογος
partes orationis exordium narratio (propositio) divisio (partitio) confirmatio (probatio) confutatio (refutatio) peroratio (conclusio)
8. Stilqualitäten a) Sprachrichtigkeit b) Deutlichkeit c) Angemessenheit d) Redeschmuck e) Kürze
ἀρεταὶ τῆς λέξεως α) Ἑλληνισμός β) σαφήνεια γ) πρέπον δ) κόσμος ε) συντομία
virtutes dicendi Latinitas (puritas) perspicuitas aptum ornatus brevitas
9. Stilarten a) Schlichter Stil b) Mittlerer (gemischter) Stil c) Erhabener Stil
χαρακτῆρες τῆς λέξεως α) χαρ. ἰσχνός β) χαρ. μέσος (μικτός) γ) χαρ. μεγαλοπρεπής (ὑψηλός)
γenera elocutionis genus subtile genus medium (mixtum) genus grande (sublime)
10. Arten der Wortfügung a) Glatte Fügung b) Mittlere Fügung c) Raue Fügung
συνθέσεις (ἁρμονίαι) α) σύνθεσις γλαφυρά β) σύνθεσις μέση γ) σύνθεσις αὐστηρά
structurae (compositiones) structura pouta structura mewdia structura aspera
5. Pisteis (Beweise) a) ‚ungekünstelte‘, nicht‑ artifizielle Beweise b) ‚kunstvoll‘-artifizielle Beweise 6. Staseis (Juristische Frage stellungen) a) Frage nach der begangenen Tat b) Tatbestandsdefinition c) Tatbeurteilung d) Klärung der Zuständigkeit des Gerichts
216
XIII. Johannes Chrysostomos
B. Textbeispiel Der Prediger (Seelsorger) als Liebender Aus den Römerbriefhomilien, hom. 33 (32), 2–4 (PG 60,678–682): [Der ausgewählte Text schließt unmittelbar an die Auslegung des letzten Verses des paulinischen Römerbriefes an, in der Weise, wie in der Mehrzahl der chrysostomischen Predigten eine breit angelegte Paränese (das sog. ἠθικόν) auf die literale („historische“) Textauslegung folgt. Er stellt, als Abschluß der Römerbriefauslegung, „eine klassische epideiktische peroratio“ dar (s. o., A, 3.7), wie M. M. Mitchell zurecht bemerkt. Vgl. zum Folgenden vor allem ihren Kommentar: Mitchell (wie o., Anm. 58), 121–134 (Zitat: 131). Wichtiges Stilmittel ist in dieser peroratio die – zum ornatus (κόσμος) zu rechnende (s. o. A, 8 d) – ἔκφρασις (evidentia), d. h. die „lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes … durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten“ (H. Lausberg, Handbuch [wie o., Anm. 103], § 810); erste Beispiele in dem Textauszug sind die „Beschreibung“ der Apostel Paulus und Petrus im Himmel sowie der Stadt Rom (letzteres ein typisches „Städtelob“)].
„(2) … Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit euch. Amen“ (Röm 16,20). Siehst du, von wo aus alles anfangen und wo es enden soll? Der Apostel hat von hier aus den Grund gelegt zu seinem Brief (vgl. 1,7), und von hier aus hat er ihm das Dach aufgesetzt, indem er die Quelle aller Güter auf sie (die Römer) herabflehte und zugleich das ganze Ausmaß der (göttlichen) Wohltat ihnen in Erinnerung rief. Gerade das macht den rechten Lehrer aus, dass er seinen Jüngern (Schülern) nicht nur durch sein Wort, sondern auch durch sein Gebet zu nützen bestrebt ist. Eben deshalb hieß es (oder: sagte er [Paulus (ἔλεγε)?]) auch: „Wir aber werden festhalten am Gebet und am Dienst des Wortes“ (Act 6,4). Wer wird nun für uns beten, nachdem uns Paulus verließ? Als die Nachahmer des Paulus wollen wir einzig darauf bedacht sein, wie wir uns solcher Fürsprache als würdig erzeigen, damit wir nicht allein auf Erden die Stimme des Paulus hören, sondern auch nach unserem Hinscheiden gewürdigt werden, den Kämpfer für Christus dort (sc. in der andern Welt) zu schauen. Oder vielmehr: wenn wir schon hier (auf Erden) auf ihn hören, dann werden wir ihn gewiss auch dort schauen; und wenn wir auch nicht gerade in seine Nähe zu stehen kommen, werden wir ihn doch auf jeden Fall nahe dem königlichen Thron (Gottes) leuchten sehen, dort wo die Cherubim (Gott) lobpreisen und die Seraphim (ihn) umschweben. Dort werden wir Paulus erschauen an der Seite des Petrus, als Haupt und Anführer des Chores der Heiligen, und uns seiner ungeheuchelten Liebe erfreuen. Denn wenn er schon auf Erden eine solche Liebe zu den Menschen empfand, dass er, vor die Wahl gestellt, „aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein“ (Phil 1,23), auf der Erde zu bleiben vorzog, wieviel brennendere Liebe wird er dort spüren lassen? Deswegen liebe ich auch (die Stadt) Rom so sehr. Obwohl ich auch um andere Gründe wüßte, sie zu preisen – um ihre Größe, ihr Alter, ihre Schönheit, ihre
Situationsgerechtes kirchliches Handeln – einst und heute
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große Einwohnerzahl, ihre Machtstellung (δυναστεία), ihren Reichtum, ihre kriegerischen Erfolge –, will ich das alles doch beiseite lassen und sie (einzig) deswegen preisen, weil er (Paulus) zu seinen Lebzeiten den Römern geschrieben, weil er sie so sehr geliebt, bei ihnen geweilt, mit ihnen sich unterredet und in ihrer Stadt sein Leben beschlossen hat. Deswegen ist diese Stadt auch berühmter als um aller ihrer übrigen Vorzüge willen; wie ein großer, starker Leib verfügt sie über zwei leuchtende Augen, die Leiber dieser beiden Heiligen (Petrus und Paulus). Der Himmel ist nicht dermaßen klar, wenn die Sonne ihre Strahlen aussendet, wie die Stadt der Römer erstrahlt, wenn diese beiden Leuchten die gesamte bewohnte Erde mit ihrem Licht durchfluten. Von hier wird Paulus (sc. bei der Totenauferstehung am Ende der Tage), von hier Petrus entrückt werden. Bedenkt und erschaudert, welches Schauspiels Rom Zeuge (sein) wird: Paulus plötzlich auferstehend aus jenem Grabe an der Seite des Petrus und (in den Himmel) entrückt, dass er dem Herrn begegne! Welche Rose ist’s, die Rom Christus überreicht, welch herrliches Doppelkranzgewinde, das diese Stadt um ihre Stirn trägt, welch prächtige Goldketten umschlingen sie, welch reiche Quellen sind in ihrem Besitz. Deswegen bestaune ich diese Stadt; nicht wegen ihres überreichen Besitzes an Gold, (nicht) um der Säulenreihen oder sonstigen Prunks, sondern um dieser (zwei) Säulen der Kirche willen (vgl. Gal 2,9). (3) Wäre es mir doch in diesem Augenblick vergönnt, den Leib des Paulus zu umfangen, an sein Grab mich zu schmiegen, den Staub jenes Leibes zu schauen, welcher ‚erstattete, was (an den Leiden) Christi noch fehlt‘ (Kol 1,24), der ‚die Malzeichen‘ trug (Gal 6,17), der allenthalben den Verkündigungssamen ausstreute! Den Staub jenes Leibes, mit dem Paulus überall hin unterwegs war, den Staub des Mundes, durch den Christus sprach, aus dem ein Licht erstrahlte, heller als jeder Blitz, und eine Stimme erscholl, den Dämonen schrecklicher als jeder Donner (vgl. Apk 4,5; 8,5; 11,19; 16,18), aus welchem jenes Wort ertönte, für das man Paulus nur seligpreisen kann: ‚Ich wünschte, um meiner Brüder willen verflucht zu sein‘ (Röm 9,3). (Es ist der Mund auch), mit welchem er ohne Scheu vor Königen sprach (vgl. Act 26.28), durch welchen wir Paulus kennengelernt haben und eben damit auch seinen Herrn! Uns schreckt der Donner nicht so sehr, wie jene Stimme die Dämonen. Wenn ihnen schon vor seinen Kleidern schauderte (vgl. Act 19,12 u. ö.), wieviel mehr vor seiner Stimme! Diese war es, die sie gefangen wegführte, diese hat den Erdkreis reingefegt, die Krankheiten gebannt, die Bosheit vertrieben, die Wahrheit wieder auf den Leuchter gestellt. Christus war es, den sie in sich trug (Gal 2,20) und mit dem sie überall hinging. Ja (wirklich), wozu einst die Cheruben dienten, eben das leistete die Stimme des Paulus. Wie nämlich (der Herr der Heerscharen) auf jenen Mächten thronte (1 Sam 4,4 u. ö.), so (Christus) auf der Zunge des Paulus. Und sie war würdig, Christi Thron zu sein, sprach sie doch einzig, was Christus lieb war, und erhob sich wie die Seraphim in unaussprechliche Höhen. Was ist erhabener als jenes Wort, das sie gesprochen: ‚Ich bin gewiss, dass weder Engel noch Mächte noch
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XIII. Johannes Chrysostomos
Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist‘ (Röm 8,38). Über welch gewaltige Schwingen verfügt Deiner Meinung nach diese Stimme? Über welch durchdringenden Blick? Sagte er doch darum: ‚Uns ist wohl bewusst, was er (Satan) im Sinne hat‘ (2 Kor 2,11). Darum flohen die Dämonen, nicht nur wenn sie ihn reden hörten, sondern auch wenn sie auch nur von weitem sein Gewand erblickten (s. o.). Ja, sehen möchte ich den Staub dieses Mundes, durch welchen Christus Großes und Unaussprechliches verlauten ließ, Größeres als durch seinen eigenen. Denn wie er mittels der Jünger Größeres bewirkte (vgl. Joh 14,12), so redete er auch Gewaltigeres (durch sie). (Es ist der Mund), durch welchen der Geist der ganzen Ökumene solch wunderbare Orakelsprüche (χρησμοί) zuteil werden ließ. Was hat dieser Mund nicht alles an Gutem bewirkt? Er hat Dämonen vertrieben, von Sündenschuld freigesprochen, Gewalthaber verstummen lassen, Philosophen die Sprache verschlagen, die bewohnte Erde zu Gott geführt, Barbaren zu Philosophen werden lassen, alles auf Erden in die rechte Ordnung gebracht. Aber auch im Himmel hat er nach Gutdünken geschaltet: gebunden, wen immer er wollte, und von Banden gelöst entsprechend der ihm verliehenen Gewalt (vgl. Mt 18,18). Aber nicht allein den Staub seines Mundes, sondern auch seines Herzens möchte ich sehen, das man mit vollem Recht das Herz des Erdkreises nennen könnte, wie auch Quelle unzähliger Wohltaten, Ursprung und Grundstoff (στοιχεῖον) unseres Lebens. Denn von dort aus wurde alles mit dem Geist des Lebens ausgerüstet; und (dies)er (Geist) teilte sich den Gliedern Christi nicht (einfach) mittels der Arterien mit, sondern nahm den Vorsatz (προαίρεσις) zum Guten in Anspruch. So weit war dieses Herz, dass es ganzen Städten, Völkern und Nationen Raum gab. ‚Mein Herz hat sich nämlich‘, wie er sagte, ‚geweitet‘ (2 Kor 6,11). Und doch hat dieses Herz die(selbe) Liebe, die es geweitet, oft genug auch zusammengepresst und beklemmt. ‚Ich schrieb euch‘, sagt er (an anderer Stelle), ‚aus großer Drangsal und Beklemmung des Herzens‘ (ebenda 2,4). Jenes (in Staub) aufgelöste Herz verlangt mich zu sehen, welches darauf brannte, für einen jeden, der in Gefahr war, zugrunde zu gehen, das die zur Fehlgeburt gebrachten Säuglinge (vgl. ApkPetr, Fragm. 2) ein zweites Mal gebar (Gal 4,19) und jetzt Gott schaut. ‚Die reinen Herzens sind‘, heißt es ja, die ‚werden Gott schauen‘ (Mt 5,8). (Jenes) zum Opfer gewordene (Herz möchte ich schauen); denn ‚ein geängsteter Geist ist ein Opfer für Gott‘ (Ps 51,19) … (Jenes Herz möchte ich sehen), das das neue Leben, nicht so eines wie wir, lebte; denn ‚ich lebe‘, heißt es, ‚doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir‘ (Ga1 2,20). Also, Christi Herz war das Herz des Paulus und eine Schreibtafel des Hl. Geistes, ein Buch der Gnade. Es erzitterte um der Sünden anderer willen. Sagt er doch: ‚Ich fürchte für euch, dass ich vielleicht vergeblich an euch gearbeitet habe‘ (ebenda 4,11), „dass (euch) die Schlange verführt wie Eva“ (2 Kor 11,3), ‚„dass, wenn ich komme, ich euch nicht so finde, wie ich möchte‘ (ebenda 12,20). (Jenes Herz möchte ich sehen), das für
Situationsgerechtes kirchliches Handeln – einst und heute
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sich selbst zwischen Furcht und Zuversicht schwebte; heißt es doch: ich fürchte, ‚„anderen zu predigen und selbst verwerflich zu werden‘ (1 Kor 9,27), andererseits: ‚Ich bin gewiß, dass weder Engel noch Mächte uns scheiden können‘ (Röm 8,38). (Jenes Herz), das gewürdigt ward, Christus zu lieben, wie ihn kein anderer liebte, das Tod und Hölle verachtete und bei den Tränen der Brüder zerfloß. ‚Was macht ihr‘, sagte er (Paulus), ‚dass ihr weint und brecht mir mein Herz?‘ (Act 21,13). (Jenes) so einzigartig starkmütige (Herz möchte ich sehen), das es (doch) nicht ertrug, (selbst) für kurze Zeit von den Thessalonichern entfernt zu sein (1 Thess 3,5). (4) Ich wünschte mir, den Staub jener Hände zu sehen, die man in Ketten legte, wenn sie jedoch aufgelegt wurden, den Geist verliehen, und welche diesen Brief (den Römerbrief) niederschrieben: ‚seht, mit welch großen Lettern ich euch schreibe mit eigener Hand!‘ (Gal 6,11); und wiederum: ‚Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß‘ (1 Kor 16,21). (Den Staub) jener Hände (möchte ich sehen), bei deren Anblick die Natter ins Feuer fiel (vgl. Act 28,3–5). Ich wünschte mir, den Staub jener Augen zu sehen, die zu ihrem Glück geblendet (Act 9,8), dann aber auf das Heil der Welt schauten und gewürdigt wurden, Christus leibhaftig zu schauen (Act 9,17; 1 Kor 15,8); die Irdisches sahen und doch nicht sahen, die Unsichtbares schauten (vgl. 2 Kor 12,1–10), die keinen Schlaf kannten, selbst um Mitternacht wachten (Act 16, 16,25; 26,7), keiner Augenlust erlagen. Ich wünschte auch den Staub jener Füße zu sehen, die den Erdkreis durchliefen und nicht ermatteten, die im Holzpflock eingespannt lagen, als der Kerker erbebte (vgl. Act 16,24–26), die bewohnte und unbewohnte Gegenden durcheilten und so oft unterwegs waren. Was soll ich jedoch alle Körperteile einzeln aufzählen? Ich wünschte mir, das Grab zu sehen, wo die Waffen der Gerechtigkeit bestattet liegen, die Waffen des Lichts, die Glieder, die nun leben, zu seinen (des Paulus) Lebzeiten jedoch abgetötet waren (Kol 3,5); in welchen allen Christus lebte (Gal 2,20), die der Welt gekreuzigt waren (Gal 6,14), die Glieder Christi, die Christus angezogen hatten (Gal 3,27; Röm 13,14), Tempel des Hl. Geistes (1 Kor 6,19), heiliges Bauwerk (Eph 2,21), (Glieder), die gebunden waren durch den Hl. Geist (vgl. Act 20,22), angenagelt waren durch die Furcht Gottes und die die Malzeichen Christi an sich trugen (vgl. Gal 6,17). Dieser Leib umringt jene Stadt (Rom) wie eine Mauer, die mehr Sicherheit verleiht als jeder Turm und tausend Bollwerke. Und an seiner Seite der Leib des Petrus. Ihn ehrte Paulus, als er (Petrus) noch lebte: ‚Ich zog nämlich hinauf (nach Jerusalem), um Kephas kennenzulernen‘ (Gal 1,18). Darum verlieh ihm auch die Gnade (Gottes), nach seinem Hinscheiden mit Petrus denselben Grabplatz zu teilen. Ich möchte ihn sehen, diesen Löwen im Geist (τὸν λέοντα τὸν πνευματικόν); denn wie ein Löwe, der Feuer schnaubt wider die Rudel von Füchsen (Jdc 15,1– 5)., so stürzte er sich auf die Schar der Dämonen und Weltweisen (Philosophen
220
XIII. Johannes Chrysostomos
[vgl. 1 Kor 1.2]), und wie ein Blitz schlug er ein in die Schlachtreihen des Teufels. Ja, nicht einmal dieser selbst vermochte ihm die Stirn zu bieten; sondern es überkam ihn Furcht und Zittern, wenn er auch nur seinen (des Paulus) Schatten wahrnahm (vgl. Act 19,11 f. mit 5,15) oder seine Stimme hörte (ebenda 16,18). So übergab er ihm, obwohl in der Ferne weilend, den Unzüchtigen (von 1 Kor 5,5) und entriss ihn wiederum seinen Händen (ebenda). So (übergab er ihm) auch andere, damit sie sich das Lästern abgewöhnten (1 Tim 1,20). Sieh, wie er auch die ihm unterstellten Truppen in die Schlacht führt, wie er sie aufmuntert und anstachelt. So erinnert er einmal die Epheser daran: ‚Wir haben ja nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewalthabern‘ (Eph 6,12). Dann stellt er den Kampfpreis in Aussicht (1 Kor 9,24 f., der in den himmlischen Gütern besteht (Hebr 8,5; 9,23), mit den Worten: ‚Unser Kampf geht nicht um Irdisches, sondern um den Himmel und das, was im Himmel ist‘.120 Ein andermal richtet er an andere die Frage: „Wisst ihr nicht, dass wir über Engel richten werden? Wieviel mehr über Alltagsdinge!“ (1 Kor 6,3). Das alles wollen wir bedenken und tapfer standhalten! Auch Paulus war ein Mensch, hatte Teil an derselben Natur wie wir und hatte mit uns auch alles andere gemeinsam. Weil er aber eine große Liebe zu Christus bewies, darum überstieg er (noch) die Himmel und nahm seinen Platz unter den Engeln ein (2 Kor 12,2). Wir werden diesem Heiligen nachzueifern vermögen, wenn wir uns auch (nur) ein wenig aufraffen und jenes Feuer (der Liebe) in uns entfachen wollten. Wäre dies unmöglich, so hätte er uns nicht zugerufen: „Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi!“ (1 Kor 11,1). So wollen wir ihn denn nicht bloß anstaunen und von ihm hingerissen sein, sondern ihn auch nachahmen, damit wir nach unserem Tode gewürdigt werden, ihn zu schauen und an seiner unaussprechlichen Herrlichkeit teilzuhaben! Dieser mögen wir alle gewürdigt werden durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem die Herrlichkeit, die Kraft und die Ehre gebührt dem Vater, zugleich mit dem Hl. Geist, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Abstract ‘Appropriate ecclesiastical acting in the later Antiquity and nowadays, exemplified by John Chrysostom’ The paper starts with reflecting the problem what could be the relevance of such a retrospect, indicated by its title, a reflection resumed at the end (vide infra). In a second section (titled ‘Chrysostom vis à vis the challenges of his time’) brief 120 Zitat
nicht nachweisbar; der Text ist an dieser Stelle wohl verderbt.
Situationsgerechtes kirchliches Handeln – einst und heute
221
outlines follow referring to his biography and literary heritage as well as to main points of his thinking (not as a sheer repetition of what has been said in earlier chapters of these STUDIA CHRYSOSTOMICA, but documented more in detail and continuing the scholarly debate until now), whereas the third and last section offers a discussion of the problem: If and what we (primarily modern Lutherans) could learn from Chrysostom, and this especially concerning an up-to-date way of acting, in conformance with the actual situation, by ordinary members as well as functionaries of the church. Under the presupposition that there is an agreement on, what matters today, is not to interpret protestantism mainly in contrast to catholicism (as A. von Harnack has recommended) but to ask together what Christian faith might actually mean and require as its consequences, the author is convinced that there is a lot we could learn from Chrysostom, although, no doubt, the circumstances meanwhile have fundamentally changed, compared with the time of the church father.
Stellenregister Altes Testament Genesis 1,2 2,15
83, 89 54
Leviticus 19,18
80
Numeri 22–24
122, 195
1 Samuelis 2,30
96
Jeremia 29
200
Neues Testament Mathäusevangelium 5–7 34, 68 5,3–10 5 5,16 39 5,48a 63 95 9,8 14,36 98 16,17 120 16,18 161 16,23 120 16,24 96 19,21 63, 197 22 142 22,31–33 98, 205 198 22,39 25,1–13 131 25,24–30 39, 188 25,31–46 43, 71,74, 83, 128, 187 f. 25,42.45 100 26,26 100 Markusevangelium 34, 67 1,15 4,26–29 35, 68
Lukasevangelium 2,1 150 Johannesevangelium 29 4,22 6,44 158 f. 13,6–10 100 21,15 f. 178 Apostelgeschichte 5,29 8,9–24 19,2.6 20,28
2 99 118 118
Römerbrief 8,38 f. 9,3 11,29 12,1–8 12,1 12,1 f. 12,2 13
7 64, 203, 217 26, 32, 109, 137, 200 69, 82 39, 55, 189 39, 142,189 37 142, 180
224
Stellenregister
Kolosserbrief 3,18–4,1
13,1–7 13,14
149 219
1. Korintherbrief 2,3 2,9 6,9–11 7,7f 7,21 7,21a 12,7 12,8 12,11 13,8–13 14,26 14,34.35
118 74 118 85 84, 89 93 39, 52, 72, 197 118 119 44, 75 125 49, 93
2. Korintherbrief 208 1,24 5,17 35, 68, 79 Galaterbrief 3,26–29 3,27 f. 3,28 6,2
79 49 83, 87, 91 121
Epheserbrief 5,22–33
49
49
1. Thessalonicherbrief 2,15 29, 110 1. Timotheusbrief 2,8–15 2,15 4,1–10 6,2
49 85 46, 76 89
Titusbrief 2,1–10
49
Philemonbrief 16 16–20
48, 80, 199 79
Hebräerbrief 3,13 11 12,15.16
120 7 120
Jakobusbrief 5,1–6
36
Johannesapokalypse 142 13 13,1–10 142
Johannes Chrysostomus hom. 9 in Genes., h. 4.5 80 hom. 67 in Genes., h. 85 2,2 expos. in Ps. 48,17, h. 2 42, 73 43 2,2 2,3 42 2,4 43 in ev. Mt., h. 5,1
97
21,4 29,3 50,2 f. 55,1 63,2 63,3 64,1 66,3 66,3.4 68,3 69,2 70,3 77,5 78,2
64, 73 33, 95 98 96 83 74 83 43, 45, 58, 75 43 87 28, 110 98 73 83
225
Stellenregister
78,3 79,1–2 79,3.4 85,3–4 88,4 89,4
119 f. 83 26, 109 84 110 84, 110
in ev. Joh., h. 23 (22),1
in ep. I ad Tim., h. 6 27 71, 76, 84, 86 12 12,4 46, 77 15 (PG 62,586) 194 16,1 85 16,2 85
71
in ep. ad Tit.,h. 3
in act. apost., h. 82 7 11,3 45, 48, 84, 87, 198 f. in ep. ad Rom., h. 190 27,4 33,2–4 100, 210, 216–220 in ep. I ad Cor., h. 12,6 196 19,5 84 24 (PG 61, bes. 204) 194 25 29, 72 25,3 38 25,4 72 33 27, 109 34 44, 74, 85 34,6 85 36,2 38 198 40,5 40,6 86 in ep. II ad Cor., h. 20, 2.3 131 in ep. ad Phil., h. 54 5 7,6 96, 196 in ep. ad Eph., h. 28 6,4 22,2 85 f. in ep. ad Col., h. 7,5 10,2 12,5 12,6
102 85 85 196
31
in ep. ad Philem. arg. 84, 89 in ep. ad Hebr., h. 25 5 7 191 7,11 74 10 30 30,1–3 120 f. ad pop. antioch., or. 103, 209 f. 2,1 103 3,2 153 adv. Iud., or. 1,1 1,3 1,5 2,1 3 3,5.6 4,3.4 6,1 7,1 8,4–9
20, 23, 24, 26, 27, 28, 30, 31, 33, 124, 141, 144, 174, 181, 206, 207 21 21 f., 28, 107 109 30, 110 107 26 22, 107 26 30, 110 23, 107
adv. oppugn. 2,11
87
de in. gloria
157, 201
de laud. s. Pauli Ap., or. 3 84
226 de sacerd. II 3 III 4 III 7 III 9 III 10 f. V 1–8 V 5–8 VI VI 3 VI 4 VI 10
Stellenregister
156, 163, 164, 166, 167, 169, 170, 171, 173, 174, 186, 192, 201, 206, 212 174, 207 121, 194 204 85 203 190 208 203 101 195 39, 189
de s. Pentecoste, h. 118 1,3.4 1, 4 117 f., 122 2,1 119
de virg. 8,2
110
ep. ad Innoc. 1,3
27, 109
in illud Vidi dom. 153 5,1 in s Babyl 8
52
p. red. ab exs. hab. 11 1,1 27 Quales duc. s. ux. 85 7
Andere Ambros. c. Auxent. (ep 75a [21a]),36 153
Gregor v. Nazianz or de fuga s. 165
Apologia Conf. Aug. 5 XXI
Justin. Nov . 5,2 146
91 31
Liban. or 19–23
207
Lucan. 3,3 ff.6 ff.
77
Mart.Polyc. 18,1–3
1
Arist. Pol. 2,1261b33–38
46, 77
Augustin. De doctr. Christ. II 175 IV 192 f. Cod.Iust. 3,38,11
78
Cod.Theod. 2,25,1 9,12,1
78 79
Dio Chrys.or. 7,9 14 f.80
51 58
Opus imperf. in Mt. 162, 179 Pall. dial. (v. Chrys.) 61 5,16–33 9 186 11,85 f. 38, 186
227
Stellenregister
Sokrates h.e. VI 3,1–3 VI 16,1–6
62 186
Synes.Cyr. Dion 2,2 ff.
72
Tertullian, apol 39
36
Personenregister Aland 142 Alföldy 59, 91 Ambrosius 143 f., 147, 152–154, 159 Andreae 160 Arnold 165–168, 179 f., 182 Athanasius 143 auf der Maur 44, 75 Augustin 33, 94, 110, 143, 159 Barth 8 Baur 170, 172 Bellarmin 162, 178 Bengel 162, 168–182 Benz 143 f. Berger 94 Berkhof 141–144 Bobrinskoy 195 Bodin 90, 92 Bonhoeffer 81, 184 Bosinis 157, 160 Bradley 91 Brändle 43, 64, 71, 114, 122, 124, 132–137, 147, 155, 158, 185, 204 Brown 60 f., 67, 144–147, 206 Buda 1, 9 f. Bultmann 39, 72, 189 Burckhardt 79 Calixt/Kallist 92 Calvin 161 Campenhausen 11, 16, 33, 38 f., 111, 196, 202 Chaniotis 145 Chemnitz 160, 162 Clark 34, 43, 47–49, 82, 87 f., 90, 92 Combes 91 Corvinus 159, 182 Dagron 46, 76, 154 Deschner 17 f.
Dihle 52 f., 72 f., 78, 197 Dio Chrysostomus 34, 38, 47, 50, 53, 56, 71, 72, 90, 200–202 Doerries 19, 33, 203, 209 Duchrow 213 Dunn 189 Dvornik 152 Ehrlich 18 Epiphanes 55, 67, 81 Erasmus 156–159 Eudoxia 148 Euseb v. Caesarea 143, 152 Farner 45, 76 Festugiere 40, 62 f., 73 Flaig 90, 92 Flashar 78 Flusser 26 Garnsey 91 George 198, 210 f. Gerhard 162–164, 176 Grant 47 Grieser 91 f. Groß-Albenhausen 142, 149, 153 Gülzow 79 Habermas 113 Hall 189 Harnack 129, 182 f., 195, 201, 210 f., 221 Hausammann 156 Hauschild 45, 77 Heer 17, 18, 24, 108 Herrmann-Otto 58, 91 Huber 211 f.
Personenregister
Illert 60–63, 65–67, 185, 188, 204 Isaak (Mönch) 156 Jaeger 48, 80, 199 Jegher-Bucher 132–137, 199 Julian (Kaiser) 19, 21, 52, 143, 152 Kaczynski 49 Kahl 18, 77 Kantzenbach 20, 106 Kelly 147 f., 167, 210 Kertsch 131 f. Kessler 152, 209 f. Kinzig 121, 139 Kötting 3, 19, 21, 27, 31, 33, 111 Kretschmar 5,141 f. Kyrill v. Alexandria 13, 124–127, 161 Lange, N. de 111 f. Lauterburg 12 Lehmann, G.A. 56 f., 59, 201 Lehmann, K. 5 Leppin 147,203, 209 Libanius 37, 40, 43, 59, 65, 74 f., 108, 128 f., 151 f., 201, 207 Liebeschuetz 147–149, 210 Lilienfeld 5 Lochbrunner 177, 191 f., 195, 208 Luther 5, 6, 10, 155, 157 f., , 164, 165, 168, 173, 175, 189 Luz 6
Origenes 14 Palladios (Palladius) 38, 62, 193 Peter I. 182 Peterson 151 Petrus 184 Preuschen 12 Rahner 141–144 Reinhardt 88, 92 Ritschl 188 Sachot 94, 95, 200 Schatkin 141, 144 Schäublin 199 Schilling 46, 219 Schneemelcher 149 Schreckenberg 121 Simon 18, 19, 21, 23, 27–29, 31, 107–111 Sokrates (Philosoph) 53, 73 Sommerlad 44, 75 Spener 164 f., 182 Stark 143, 152 Ste. Croix 70, 77, 91 Steiger, J.A. 162 Stemberger 122, 124 Stötzel 39 f., 47 f., 52, 54, 71, 80 f. Strecker 35 f., 69 Strobel 143 Stuhlmacher 48, 79 Synesius 53, 73, 152
MacMullen 91 Malingrey 57, 64, 120, 124, 203 Mayer 9, 60–65, 67, 192, 195, 205 Meijering 211 f. Meyer 57 Mgaloblishvili 124 Miskotte 8 Mitchell 89, 138, 143, 144, 145, 147, 153, 206, 217, 223 Moltke 8 Montfaucon 78, 170 Mühlenberg 88, 188, 197 Musculus 166, 167
Theißen 34, 68, 91 Theodor v. Mopsuestia 13, 37, 126 f., 185, 187 Theodoret 13, 91, 126 f. Theophilos (Theophilus) 37,148 Thraede 49 Tiersch 149, 209 f. Tillich 55, 81, 89 Tloka 62, 187, 192, 201 f., 206, 209 f. Tolstoi 92 Toynbee 126 Troeltsch 36, 69
Naegle 183 Nektarius 37
Visser 109 Vogt 19, 21, 30, 105 f.
229
230 Weder 6 f. Welker 211 f. Wilken 20, 28, 112, 114, 116 Wolter 189 Zimmermann 189
Personenregister
Sachregister Abendmahl (Eucharistie) 177 Abendmahl(slehre) 163 Abendmahlsrealismus 195 f. Abolitionismus 92 Ägypten (Mönchtum) 62 Allgemeines Lehrertum 120 f. Almosen 36, 41, 46, 73, 76, 102, 123, 196, 207 Amt als ἀρχή 179 f. Amt (liturgisch-kultische Funktion) 193–196 Anpassung 37, 43, 70, 92 Antijudaismus 132 f. antijüdische Apologetik 23, 107 Antiochien 21 Antiochien (Tumult Frühjahr 387) 61, 103, 209 f. Antisemitismus 16 f., 19, 23, 25, 28, 32, 105–111, 115 f., 134, 137, 199 f. Arianismus 194 Armenfrömmigkeit 34, 36, 37, 55, 67 Armut 42, 44 f., 51, 56, 58–60, 65, 75, 90, 98, 198, 206 Armut (Bettelarmut) 61 Armut und Reichtum 65, 75, 82, 110, 206, 213 Arztmetapher 101, 193 Askese 40, 47, 63, 81, 128 f., 185 f. Beredsamkeit 207 f. Bibelstudium 97, 101, 175, 204 f., 212 Biographie (des Chrys.) 37, 61, 94, 128 f., 135, 185 f., 210 Caesaropapismus 143, 153 Charisma 11, 12, 15, 69, 81, 102, 105, 117–127 Charisma und Amt 121, 125
charismatisches Kirchenverständnis 188, 205 Christusmörder 26, 109 Chrysostomosliturgie 5, 127, 162, 174, 186 f., 213 Ehe 41, 50, 110, 191 Eichensynode 38, 40, 143, 148, 186 Eigentum (Privateigentum) 41, 73, 76, 82, 128, 145 f., 189, 197 Eigentumskritik 36, 41 einfaches Leben 34, 53, 56, 57, 196 Einsiedler 63 Ekklesiologie 11, 13, 118 f., 125, 189, 202 ‚ekklesialer‘ Charakter christlicher Ethik) 35, 136, 146 Entscheidungsfreiheit (αὐτεξούσιον) 146, 157–159, 207, 213 Erbauung 121 Ethik (ekklesialer Charakter) 136 Eucharistie (Abendmahl) 98–100, 194 f. Exkommunikation 177 Familienerziehung 50 Frauen 85 Freiheit 51, 52, 58, 92, 146, 154, 157, 207, 212 f. freiwillige Ehelosigkeit 25, 28, 42 Gainaskrise 148f Gemeindearmenpflege 45 Georgien 115 f. Gerechtigkeit 7, 76 Gläubige als „Untertanen“ 179 Gothaer Programm 44, 75 Gottesherrschaft Siehe Theokratie Gruppe als ethisches Subjekt 146, 212 f. Siehe auch Ethik (ekklesialer Charakter) Gütergemeinschaft 45–47
232
Sachregister
Habsucht 36, 53, 102, 196 f., 207 Hauspriestertum 101, 205 Heidelberger Katechismus 4 Heilige 1, 8, 118, 122, 178, 212 f. Heiligenverehrung 7 Heiligkeit 195 Hirtenamt 63, 167, 177, 202 f., 207 Hirtendienst 64, 193, 204 Hofbischof 103, 210 Humanisierung (der Gesellschaft) 34, 38, 47, 196–202 Humanismus 155–157 (hyperbolai) ὑπερβολαί 75 Imperium Romanum Siehe Römisches Reich individualethische Orientierung 53 ius gentium 79 Judaisierer 22, 107, 200 Judenpogrom 3 Kaiser 5, 51, 149, 152, 153, 185, 202, 209 Kirche (Ekklesiologie) 35, 118 f., 124, 126 f., 129 Kirchenfreiheit 143, 153 Klerus 177 f. Kommunismus 45 f., 54, 76, 77 Kommunistisches Manifest 44, 75 Konkordienbuch 160 f. Konkordienformel 160 Konservatismus (d. Chrys.) 83, 85 Konstantinische Wende 124, 143, 203 Kosmopolitismus 54 Krise des 3. Jh.s 102 kynisch-stoische Diatribe 52, 71, 203 Kynismus 53 Laien 123, 195 Lehr(gab)e 13, 120, 124 f. lutherische Orthodoxie 162–164 lutherischer Pietismus 164–168 Marxismus 67 Methodologie (in der Chrysostomus forschung) 9, 43, 63, 65, 88, 92, 93, 136
Opferaltar 123 Patristik 183 f. paulinische Ethik 68 paulinische Gnadenlehre 158 Paulinismus 49, 67, 82, 89, 117, 124 Paulusinterpretation 138 f. Philosemitismus 133 Philosophenkönig 54 Politik 53 Popularphilosophie 196 Predigt 6, 42, 46, 52, 94–100, 191–193, 204 f., 208 f., 213 Priestertum 85, 121, 178 f. Prunksucht 102 f., 206 f. Rechtfertigung 158 Rede(gabe) 121 Reformierte 4, 155, 157 Reichskirche 141, 203 Reichtum 7, 36, 42, 43, 44, 46, 53, 57, 59, 83, 99, 100, 196 f. Reichtum (ungerechter Gebrauch) 197 f. Reinheit 195 Rhetorik 24, 47, 60, 94, 116, 134, 144–147, 185, 193f, 206–209, 213 Römisches Reich (Imperium Romanum) 92, 141–144, 150 f. Scheitern 35, 128, 136f, 144–147, 210 f. Schriftsinn 187 Seelsorge 94 f., 100 f., 175 f., 193 f. Selbstbestimmung Siehe Entscheidungsfreiheit situationsgerechtes Handeln 34, 202, 208 f. Sklaverei 36, 47, 48, 51, 54, 58, 69, 77, 78, 80, 82, 84, 90, 91, 129, 188, 197–199 societas perfecta 41, 73, 146, 197 soziale Frage 41, 46, 73, 77 „sozialer“ Charakter des Christentums 38, 52, 146, 196 f. Sozialethik 34, 52, 60, 61, 67, 72, 82, 89, 157, 197 Sozialismus 77 Sozialkritik 70, 202 Sozialutopie Siehe Utopie
Sachregister
Staat 54, 92, 142, 153, 202 f., 209 f. Siehe auch Römisches Reich (Imperium Romanum) Stoa (Stoizismus) 72 Stoizismus 53 Synergismus 155 Synkretismus 24 Syrien (Mönchtum) 62 Talent 39, 119 f., 189 Taufgnade 122 f., 125 Theokratie 56, 142 f. Toleranz 32, 176 Überfluss 43 Unbetreffbarkeit 196 Utopie 40, 45, 55, 67, 74, 75 f., 78, 81–83, 85–90, 93, 190, 201 f., 204
233
Vollkommenheit 39, 40, 41, 42, 43, 54, 63, 73, 76, 146, 189 f., 197 Vorbild der Mönche 98, 101, 205 Welt 35, 54, 68 Werkübersicht 186–188 Willensfreiheit (liberum arbitrium) 157–160 Wirkungsgeschichte 6, 31, 90, 93, 135, 138, 199 Wohltätigkeit 59 Wunder 52, 117 f. Würdigkeit 122 f. Zwang 33, 46, 96, 101, 175 f., 208 Zweistufenethik 40, 64, 190 f. zweite Sophistik 150