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German Pages [360] Year 2016
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402030 — ISBN E-Book: 9783647402031
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Haim Omer und Arist von Schlippe
Stärke statt Macht Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde
Unter Mitarbeit von Zvia Algali, Idan Amiel, Hila Berger, Keren Fatal-Asher, Ziv Gilad, Efrat Gilis Grobstein, Rita Irbauch, Rakefet Katz-Tisona, Yigal Kenigsweld, Martin Lemme, Nizan Lifshitz, Liron On, Georg Roessler, Irit Schorr-Sapir, Iris Shachar, Yoni Tshouna
3., unveränderte Auflage
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Aus dem Hebräischen von Miriam Fritz Ami-Ad.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40203-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, 2015, 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: E Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe (Christian Hawellek) . . .
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Vorwort zur hebräischen Erstausgabe (Idan Amiel) . . . . .
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Zu diesem Buch (Arist von Schlippe) . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel I Ein neues Verständnis von Autorität . . . . . . . . . . . . . Autorität erleben – damals und heute . . . . . . . . . . . . . Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen Das Erleben einer neuen Autorität . . . . . . . . . . . . . . .
23 35 36 43
Kapitel II Wachsame Sorge in der Familie . . . . . . . . . . Komponenten der elterlichen wachsamen Sorge . Wachsame Sorge und das Recht auf Privatsphäre . Eine Vertrauensfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . Grade der wachsamen Sorge . . . . . . . . . . . . . Die Telefonrunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Präsenz vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachsame Sorge im Haus . . . . . . . . . . . . . .
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. 69 . 70 . 71 . 77 . 79 . 97 . 102 . 113
Kapitel III Gewalt von Kindern zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . Enthüllung und Schamgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Unterstützernetz und die Befreiung des Opfers aus dem Gefühl der Verlassenheit . . . . . . . . . Das Unterstützernetz und der Wandel der elterlichen Position Die Verstärkung der wachsamen Sorge . . . . . . . . . . . . . Das Sit-in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transparenz, Dokumentation und die öffentliche Meinung Wiedergutmachungstaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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134 136 140 143 146 148 155 159 164
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Inhalt
Kapitel IV Rekrutierung von Helfern in der Schule . Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen . . . . . . . . . Das Bündnis unter Lehrern . . . . . . . . . Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern Der Schulleiter und die neue Autorität . . . Das Bündnis mit den Kindern . . . . . . . .
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176 182 187 196 202
Kapitel V Präsenz und Aufsicht in der Schule Körperliche Präsenz . . . . . . . . . Emotional-moralische Präsenz . . . Handelnde Präsenz . . . . . . . . . . Interpersonale Präsenz . . . . . . . . Präsenz als Netzwerk . . . . . . . . . Präsenz im Klassenzimmer . . . . . Suspension und Präsenz . . . . . . . Die Präsenz der Eltern an der Schule Präsenzmentor . . . . . . . . . . . . Das Alarmsystem . . . . . . . . . . .
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204 204 205 207 208 209 220 226 230 237 242
Kapitel VI Öffentlichkeit und Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Öffentlichkeit in einer bedrohlichen Lage . . . Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiedergutmachungshandlungen in Kindergärten . . . . . . Dorotheas Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252 252 255 258 266 268 276
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Kapitel VII Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt . . . . Das Rekrutieren der Schüler zum gewaltfreien Kampf gegen Gewalt . . . . . . . . . . . . . Prinzipien des gewaltfreien Kampfes gegen Gewalt . . . . . Der Bann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aneignung von Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung
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280 284 286 290 294
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Inhalt
Breite Front von Kindern und Erwachsenen für den Kampf 298 Führungseigenschaften im Kampf gegen Gewalt unter Kindern fördern . . . . . . . . . . . . . . 299 Die zentrale Stellung des Schülers bei der Umsetzung der neuen Autorität . . . . . . . . . . . . 302 Kapitel VIII Die neue Autorität im Gemeinwesen . . . Elternpatrouille . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gemeindepolizei . . . . . . . . . . . . . Der Gemeindepolizist in der Schule . . . . Autorität und Gemeindeleben . . . . . . . . Der Kreis der neuen Autorität schließt sich
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308 308 324 325 335 355
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Das vorliegende Buch »Stärke statt Macht« von Haim Omer und Arist von Schlippe führt den von ihnen begonnenen Diskurs um eine zeitgemäße Neubelebung des Autoritätsbegriffs weiter. Wie Puzzleteile formen die zentralen Konzepte aus früheren Veröffentlichungen der Autoren, nämlich Gewaltlosigkeit, elterliche Präsenz und antidämonische Dialogprinzipien allmählich die Konturen des Begriffs von einer neuen Autorität. Besonders den deutschen Lesern erscheint der Begriff der Autorität als ein positiver Leitbegriff der pädagogischen Beziehungsarbeit zunächst irreparabel beschädigt: Die schwarzpädagogische Ideologie und Praxis der letzten Jahrhunderte (Rutschky, 1977) in Kombination mit dem institutionalisierten Machtmissbrauch im deutschen Faschismus ließen den Begriff der Autorität in den Fachdiskursen zu einem Unwort werden. So kommt er in pädagogischen Fachlexika der 1960er und 1970er Jahre als eigenes Stichwort vielfach erst gar nicht vor, es sei denn in der ideologiekritischen Revision des Begriffs durch die antiautoritäre Bewegung. Vielleicht ist es von daher kein Zufall, dass der Impuls, den Autoritätsbegriff neu zu beleben und ihm einen neuen Sinn zu verleihen, aus Israel kommt. Zwar gab es auch hierzulande in den Debatten um den Wert des Autoritätsbegriffs immer auch Stimmen, die hervorhoben, dass »der pädagogische Begriff der Autorität nichts mit [...] ›autoritärer‹ Führung zu tun« hat (Groothoff, 1964, S. 79); diese sind jedoch eher blass geblieben und zeigten keine nachhaltigen Wirkungen. Wie schon in den Vorgängerpublikationen (Omer und von Schlippe, 2002, 2004) stellen die Autoren das Konzept der neuen Autorität in ein Gefüge neuer Prämissen. Ausgangspunkt ist die grundlegende systemtheoretische Erkenntnis, dass die Idee der Macht und damit die Idee der Macht durch Autorität und der Autorität durch Macht »erkenntnistheoretischer Schwachsinn [ist]
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und [...] unausweichlich zu verschiedenen Arten von Katastrophen« führt (Bateson, 1985, S. 625). An die Stelle einer Autorität durch Macht tritt eine neue Autorität durch Beziehungsarbeit, die Erwachsene wie Kinder in ihren Stärken anspricht und verbindet. Im Wesentlichen besteht diese Beziehungsarbeit in einer gelebten und vorgelebten Vermittlung von Werten wie Achtung, Be-achtung, Achtsamkeit, Würde, Pflicht und Ehre. Damit wird eine Dimension positiver Orientierung und werteorientierter Gesinnung respektvoll in die pädagogische Alltagsarbeit eingeführt, die vielfach illustriert, dass aller menschlicher Umgang, der diese Bezeichnung verdient, seine Grundlage in einer mutig gelebten Beziehungsethik findet. Die vielen Beispiele des Buches zeigen, wie Eltern eine Stärke entwickeln können, die sie zu ihrer Selbstachtung als Eltern und Menschen (zurück)finden lässt. Die in den beschriebenen Vorgehensweisen erkennbare Haltung ist ein wirksames Gegenmittel zu der vielerorts beklagten »parentalen Hilflosigkeit« (Pleyer, 2003). Durch die zunehmende Stärke der Erwachsenen und ihre respektvolle Haltung wird für die Kinder modellhaft erfahrbar, was ein präsenter, humaner Umgang miteinander im Alltag bedeutet. Damit herrschen gute Voraussetzungen, dass die positiven Stimmen in den Kindern ebenfalls stärker werden. Sich auf den Weg zu einer neuen Autorität zu machen – das zeigen vielfältige Beispiele in diesem Buch auch sehr anschaulich –, erfordert den Mut, zu den eigenen Grenzen zu stehen, die partiellen Allmachts- und Ohnmachtsphantasien hinter sich zu lassen und vor allem, sich aus der Isolation der Privatheit hinauszuwagen, um sich für Unterstützernetzwerke zu öffnen. Die Beiträge des Buches veranschaulichen solche Entwicklungsprozesse anhand vielfältiger Beispiele von Familien, Schulen und sogar ganzer Gemeinwesen. Die Unterstützernetzwerke folgen dem Prinzip »Solidarität« (Richter, 1994) und verleihen den Handlungen der Einzelnen die Kraft einer Solidargemeinschaft. Spätestens an dieser Stelle ist zu spüren, dass der Impetus zu diesem Buch aus einer Kultur kommt, in denen den Gemeinschaften eine prägende Bedeutung zukommt; man denke nur an die israelische Tradition der Kibbuzim. In der Gestaltung der Text-
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beispiele wird darüber hinaus eine offenbar auch kulturell geprägte, durchweg kämpferische Haltung spürbar, die sich bis in die Sprache niederschlägt und die durchaus gemischte Gefühle auslösen kann, etwa wenn davon die Rede ist, Unterstützernetzwerke zu »rekrutieren« oder »Elternpatrouillen« zu bilden. Der Gedanke, mit dem die Autoren dem Leser helfen, daran keinen Anstoß zu nehmen, ist der Umstand, dass es in der Tat immer ein Kampf ist, der geführt werden muss: nicht gegen Menschen, sondern gegen Vereinzelung und gewalttätiges Verhalten in allen seinen Facetten. Noch mehr ist es ein Kampf für ein achtsames und respektvolles Miteinander. Bei der Ausübung dieses Kampfes, der immer ein solidarisch getragener Kampf um die Menschenwürde ist, sind die Prinzipien Gandhis, insbesondere die Gewaltlosigkeit und die Beharrlichkeit, leitend. Als Erziehungs- und Familienberater freue ich mich, ein Buch vorzustellen, das sich durch seine engagierte und parteiliche Haltung für die Fundamente eines humanen und liberalen Miteinanders einsetzt. Im wohltuenden Gegensatz zu so manchem aktuellen Erziehungsratgeber bleibt es nicht vordergründig bei den Verhaltensweisen und -ratschlägen stehen, sondern arbeitet an dahinter stehenden Haltungen, die allen am Erziehungsgeschehen Beteiligten gleichermaßen Respekt zollen und Stärke zusprechen. Als Vater hätte ich mir gewünscht, diese Texte schon zu Zeiten gekannt zu haben, als die schwierigsten Auseinandersetzungen mit meinen Kindern stattfanden. Ich wünsche diesem Buch Leser, Fachmenschen und Eltern, die die vielfältigen, reichen Anregungen auf sich und ihre Situationen übertragen können und daraus Ermutigung und Stärkung beziehen. Christian Hawellek Leiter des Norddeutschen Marte-Meo-Instituts, Vechta
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Literatur Bateson, G. (1985). Krankheiten der Erkenntnistheorie. In G. Bateson, Ökologie des Geistes (S. 614–626). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Groothoff, H. (Hrsg.) (1964). Pädagogik. Fischer Lexikon Frankfurt a. M. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung und Therapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pleyer, K. H. (2003). Parentale Hilflosigkeit. Familiendynamik 28 (4) 467–491. Richter, H. E. (1994). Lernziel Solidarität. Reinbek: Rowohlt. Rutschky, K. (1977). Schwarze Pädagogik . Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein.
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Vorwort zur hebräischen Erstausgabe1
Das wesentliche Ziel dieses Buches ist die Beantwortung der Frage, welche moralisch vertretbare Autorität der heutigen pluralistischen und freiheitsliebenden Gesellschaft entspricht und wie sie umgesetzt werden kann. Die Erschütterung der erzieherischen Autorität im Allgemeinen und der elterlichen im Besonderen während der letzten Jahrzehnte gilt als eine der entscheidenden Ursachen für den dramatischen Anstieg von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen. Heutzutage besteht in der Öffentlichkeit Konsens darüber, dass elterlicher und pädagogischer Autorität eine wichtige Bedeutung zukommen. Auf dieser Einsicht basiert der Ruf nach ihrer Wiederherstellung. Eltern und Lehrer sind jedoch mit Recht nicht an einer Autorität interessiert, die auf Furcht und Angst, auf blindem Gehorsam und der Anwendung von Macht, also auf alten autoritären Strukturen, basiert. Der Wunsch, Autorität zu installieren, und die Notwendigkeit, sie an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen unserer Zeit anzupassen, erzeugen ein Dilemma für Eltern und Pädagogen: Wie können sie eine neue Autorität aufbauen und umsetzen und gleichzeitig die Werte von freiem Willen, Erziehung zu Eigenständigkeit und kulturellem Pluralismus berücksichtigen? Das vorliegende Buch skizziert die theoretischen und praktischen Ansätze einer Lösung dieses Dilemmas. Zu diesem Zweck wird der Begriff der »neuen Autorität« eingeführt. Dieser Begriff ist das Ergebnis eines langjährigen und umfassenden Denk- und Schaffensprozesses. Am Anfang dieses Prozesses steht die Veröffentlichung des Buches »Parental Presence: Reclaiming a Leadership Role in Bringing up our Children« von Haim Omer, das 2002 in Deutschland unter dem Titel »Autorität ohne Gewalt« gemeinsam mit Arist von Schlippe als Koautor erschien. Dieses Buch löste 1 Bearbeitet und gekürzt von Arist von Schlippe.
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Vorwort zur hebräischen Erstausgabe
eine rege Diskussion aus. Zur Zeit der Erstveröffentlichung galt der Begriff der Autorität im öffentlichen Bewusstsein wie auch unter Therapeuten beinahe als Schimpfwort, und seine Verwendung in Verbindung mit Elternschaft erzeugte einigen Ärger und stieß auf Unverständnis. Mehr als ein Mal wurde der Begriff als Ausdruck einer fordernden und unnachgiebigen Elternschaft interpretiert, die den Bedürfnissen des Kindes nicht genügend Aufmerksamkeit widme. Trotz dieser Schwierigkeiten setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass elterliche Autorität auch ein legitimer und positiver Begriff sein kann. Tatsächlich stellt die elterliche Autorität eine notwendige Grundbedingung für ein intaktes Verhältnis zwischen Kind und Eltern dar. Dieses Verständnis regte etliche Eltern und Experten an, ihr Handeln an den Grundsätzen auszurichten, die im oben genannten Buch vorgestellt werden. Viele Eltern suchten Beratung auf, einige im Rahmen der Elternberatungsstelle, die im Schneider-Zentrum2 errichtet wurde, andere bei verschiedenen Therapeuten, die das Konzept der elterlichen Autorität für die Elternberatung und -therapie übernahmen. Der Begriff der elterlichen Präsenz, der den Mittelpunkt des Buches bildet, half den Eltern, ihre Autorität auf eine moralisch vertretbare und die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigende Weise wiederherzustellen. Die Einsicht in die natürliche Verbindung zwischen Autorität und Elternschaft hielt Einzug in den pädagogischen, psychologischen und öffentlichen Dialog über Erziehungsmethoden. Heutzutage ist der Begriff der elterlichen Präsenz und Autorität ein wesentlicher Bestandteil dieses Dialogs. Das zweite Buch, 2004 wieder mit Arist von Schlippe als Mitautor in Deutschland erschienen, bietet sozusagen eine Antwort auf eine offene Frage des ersten Buches: »Autorität ohne Gewalt« lässt ja noch die Frage offen, wie sie denn dann zu gewinnen sei. 2 Die Elternberatungsstelle der Kinderklinik »Schneider Children’s Medical Center of Israel«, deren Leiter ich seit einigen Jahren bin, arbeitet unter der Supervision von Prof. Haim Omer, um Eltern bei der Wiederherstellung ihrer Autorität zu helfen. Die Beratungsstelle wurde mit Unterstützung von Abteilungsleiter Prof. Alan Apter und Dr. Orit Krispin, leitender Psychologin des Schneider-Zentrums, errichtet. Ihnen gelten meine Anerkennung und mein Dank.
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Vorwort zur hebräischen Erstausgabe
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Daher trug dieses Buch den Titel »Autorität durch Beziehung«. Es behandelt Eskalationsdynamiken zwischen Kind und Eltern. Im Mittelpunkt stehen das Leid und die Schwierigkeiten der Eltern im Umgang mit der Situation, während praktische Wege zur Bewältigung und Vorbeugung solcher Probleme aufgezeigt werden. Das Buch verknüpft theoretische Überlegungen, die auf dem Konzept des gewaltfreien Widerstands beruhen, mit konkreten Lösungswegen für Eltern, wie sie sich widersetzen und das Kind vor Eskalationsdynamiken, Gewalt und Selbstgefährdung schützen können – Phänomene, die in den letzten Jahren zur gesellschaftlichen Belastung geworden sind. Es ist wichtig zu betonen, dass den Ausgangspunkt dieser beiden Bücher die Anerkennung der Notlage der Eltern und das Verständnis für deren Schwierigkeiten darstellen. Dies steht der allgemeinen Neigung entgegen, die Eltern beinahe automatisch für das Fehlverhalten ihres Kindes verantwortlich zu machen. Das Verständnis für ihre Notlage und die Betonung der Unterstützung für die Eltern führten zu einem wesentlichen Wandel in der Präsenz und der Stellung der Eltern zu Hause. Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich an den Schulen, die sich an uns wenden; auch hier steht die Notlage der Lehrer und Erziehungspersonen im Vordergrund. Es geht um den Aufbau eines Interventionsprogramms, das die Stärkung der Lehrerpräsenz und -autorität zum Ziel hat. Die Auseinandersetzung des Lehrpersonals mit der Einmischung der Eltern in den Schulalltag ist eine der schwersten Herausforderungen für heutige Pädagogen. Man muss sich bewusst machen, dass sich Lehrer und Schulleiter heutzutage in ständiger Abwehr von Drohungen, Beschuldigungen und in extremen Fällen sogar Gewalttaten der Eltern befinden. Die verständlichen Ängste der Lehrerschaft vor den Reaktionen der Eltern führen nicht selten dazu, Vorfälle an der Schule zu verheimlichen und deren Berichterstattung zu vermeiden. Diese Verhaltensweisen sind fruchtbarer Boden für das Wachsen der Gewalt an Schulen. Die Zwickmühle, in der sich das Lehrpersonal heute befindet, besteht darin, dass gerade das sich Einmischen der Eltern einer der belastendsten Faktoren im Lehrberuf darstellt. Andererseits ist das Mitwirken der Eltern auch der ausschlaggebende Faktor, der den Lehrern bei der Wiederherstellung ihrer Autorität helfen kann.
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Vorwort zur hebräischen Erstausgabe
Ähnlich wie das Streben nach der Wiederherstellung der »alten Autorität« unrealistisch ist, so ist es auch unmöglich, die Eltern von der Schule zu verbannen. Diese Einsicht führt unumgänglich zu der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Lösungsweg für Eltern und Lehrer zu finden. Die Prinzipien der neuen Autorität ermöglichen eine grundlegende Veränderung im gegenseitigen Erleben von Eltern und Lehrern, weil das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern einen wesentlichen Angelpunkt in ihrem Verhältnis darstellt. Die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern, die wir zu fördern suchen, ermöglicht auf der einen Seite den Lehrern, die elterliche Präsenz in der Schule als unterstützendes und stärkendes Element zu erleben. Sie hilft auf der anderen Seite den Eltern, sich von ihrer misstrauischen und feindseligen Haltung der Schule und den Lehrern gegenüber zu befreien. Dieses Bündnis zeichnet sich durch die gegenseitige Unterstützung und Hilfe der Lehrer untereinander und durch ein gemeinsames Vorgehen von Lehrern und Eltern aus. Während unserer Arbeit erlebten wir zunehmend, dass bei Aktionen, die von Eltern und Lehrern unternommen wurden, zusätzliche Unterstützung aus dem weiteren Umfeld rekrutiert wurde. Das Einbeziehen des gesellschaftlichen Umfelds in die Auseinandersetzung mit radikalisierter Gewalt in unserer Gesellschaft stellt eine wünschenswerte Ausweitung unserer pädagogisch-therapeutischen Arbeit dar. Eltern, Pädagogen, Verwandte, Sozialarbeiter, Polizisten in der Gemeinde, Schüler und weitere Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis arbeiteten bei verschiedenen Interventionen mit und leisteten dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Ausweitung der Handlungsprinzipien unseres Konzepts. Das Mitwirken so vieler Beteiligter machte jedoch das Finden eines gemeinsamen Nenners, einer Botschaft erforderlich, mit der die Funktion aller Beteiligten erfasst und verbunden werden konnte. Diese Verbindung wurde durch den Begriff der neuen Autorität erzielt. Er bildet die Grundlage für die verschiedenen Projekte in den Familien, den Schulen und den Gemeinden, die in diesem Buch beschrieben werden. Es ist wichtig zu betonen, dass das Konzept einer neuen Autorität kein geschlossenes System darstellt, das die Zusammenarbeit
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aller Beteiligten voraussetzt. Im Gegenteil: Eine der wesentlichen Stärken des Konzepts der neuen Autorität entspringt gerade der »Modularität«, die in ihrer Definition enthalten ist und daher nicht zwingend eine hundertprozentige Umsetzung erfordert. Der Vorteil des hier vorgeschlagenen Interventionsprogramms liegt darin, dass jeder Einzelne eine Veränderung in einem ihm gemäßen Tempo und auf eine ihm angemessene Art und Weise erzielen kann. In diesem Sinne können Eltern oder Lehrer anfangen, ihre Autorität »im Kleinen« wiederherzustellen. Gleichzeitig ist die Beschaffenheit des Konzepts systemischer Art: Sobald man anfängt, nach dem Konzept der neuen Autorität zu arbeiten, wird die Folge sein, dass Eltern nicht nur sich selbst stärken, sondern auch die Lehrer, und dass die Lehrer nicht nur sich selbst unterstützen, sondern auch die Eltern, und sie beide gemeinsam das Gemeinwesen stärken. Diese Tatsache vereinfacht die Umsetzung des vorgeschlagenen Interventionsprogramms wesentlich: Es besteht keine Notwendigkeit, von vornherein von ihrem Erfolg überzeugt zu sein, es genügt die Bereitschaft, anzufangen und Erfahrungen zu sammeln. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands ist nicht das Werk eines Einzelnen, das würde auch nicht zum Konzept passen. Er wurde durch eine Gruppe von Fachleuten, die mit Haim Omer und unter seiner Supervision arbeiten, unterstützt. Daher erscheint bei den meisten Kapiteln eine Auflistung von Koautoren, die für die im Kapitel beschriebenen Projekte verantwortlich waren. Meiner Einschätzung nach besteht ein wesentlicher Beitrag des hier vorgestellten Konzepts der neuen Autorität in dem Versuch, die in unserer Kultur hochstehenden Werte der Individualität und der Unantastbarkeit der Privatsphäre kritisch zu betrachten und zu überdenken. Das absolute und unanfechtbare Recht auf Privatsphäre hat in der westlichen Kultur allmählich zu einer allgemeinen Entfremdung geführt, eine Situation, in der Kinder und Jugendliche ohne die Präsenz und Aufsicht der Erwachsenen einsam und verletzlich zurückbleiben. Die Prinzipien der neuen Autorität betonen die Bedeutung der Gemeinschaft und schaffen eine legitime Basis, um zum Schutz ihrer Mitglieder verschiedene Hilfsmittel einzubeziehen. Das verringert nicht nur die radikalisierte Gewalt, sondern stärkt gleichzeitig das Zugehörigkeitsgefühl von
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Kindern und Erwachsenen. Auf diese Weise wird es möglich, das Streben nach Individualität und nach Zugehörigkeit zu vereinbaren. Gleichzeitig wird die Autonomie des Einzelnen durch die Präsenz und das Engagement der Erwachsenen geschützt. Ich hoffe, dass dieses Buch eine Diskussion anregen wird, das Konzept von Elternschaft auf die Gesellschaft im Ganzen auszuweiten. Ähnlich wie die Begriffe der Präsenz und der elterlichen Autorität eine Neuerung dargestellt haben und einen Wandel im Verständnis der Beziehung zwischen Eltern und Kind erzeugt haben, so könnte auch die Definition der neuen Autorität in diesem Buch das Verständnis und das Handlungsfeld im Beziehungsraum zwischen Eltern, Lehrern und Gemeindemitgliedern verändern. Die Konzepte, die in diesem Buch vorgestellt werden, bilden nicht nur den Abschluss eines langjährigen Denk- und Schaffensprozesses, sondern laden auch zur Erschließung neuer Möglichkeiten ein. Wir würden uns über den Austausch mit Ihnen freuen. Ihre Meinungen und Ideen interessieren uns, bitte senden Sie uns eine Mail unter [email protected]. Idan Amiel Leiter der Elternberatungsstelle am Schneider Children’s Medical Center of Israel, Tel Aviv
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Zu diesem Buch
Dies ist nun das vierte Buch von Haim Omer, bei dem ich die Ehre habe, als Koautor der deutschen Fassung mitzuwirken (neben Omer und von Schlippe, 2002; 2004; Omer et al., 2007a). Mit einem gewissen Zögern bin ich dem Vorschlag meines Freundes und Kollegen Haim Omer gefolgt, auch dieses Mal in der bewährten Form zu kooperieren. Neben Zeitmangel und der Tatsache, dass wir beide mittlerweile in sehr unterschiedlichen Bereichen tätig sind, waren es auch inhaltliche Bedenken. Denn das Konzept eines ganz neuen Verständnisses von Autorität zu entwickeln, ist alles andere als ein bescheidenes Unterfangen. Es bedeutet, einen Wandel unseres kulturellen Selbstverständnisses anhand eines zentralen Begriffs zu kommentieren – und diesen Wandel damit zugleich weiter voranzutreiben. Es ist ein Begriff, der einen unglaublich großen Bereich der Beziehungen von Menschen im westlichen Kulturkreis beschreibt – beginnend mit den Beziehungen von Eltern und Kindern über die zwischen Schülern und Lehrern, Vorgesetzten und Mitarbeitern, Regierung und Volk. Wie verstehen wir Autorität? Welche Prämissen steuern unsere Ideen vom Verhältnis von »oben« und »unten«? Wie steht unsere Kultur zu Macht? Welche moralisch vertretbaren Bilder von Autorität entsprechen einer modernen, pluralistischen und freiheitsliebenden Gesellschaft, und wie können sie umgesetzt werden? Die Bilder von Autorität und die ihnen unterliegenden Prämissen haben sich im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts massiv verändert. Diese Veränderungen wurden in Deutschland nicht zuletzt vor dem Hintergrund des völlig entgleisten Autoritätsbegriffs des »Dritten Reiches« besonders intensiv diskutiert. Gerade in der Pädagogik, aber auch in Philosophie, Psychologie, Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen wurde in der Aufbruchsstimmung der 1970er und 1980er Jahre sehr engagiert diskutiert und nach neuen Konzepten von Autorität gesucht. Diese
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Debatte in unserem Kulturkreis auch nur angemessen aufzuarbeiten, würde ein ganz eigenes Buch erfordern. So habe ich, vor allem im I. Kapitel, versucht, zumindest einige der Argumentationslinien andeutungsweise einzuarbeiten. Denn ohne sie gäbe es auch die in diesem Buch vorgestellte »neue Autorität« nicht in dieser Form. In den späteren Kapiteln habe ich deutlich weniger geändert und ergänzt als in den vorhergehenden mit Haim Omer gemeinsam verfassten Büchern. Ich habe eher beeindruckt die Konzepte verfolgt, die in Israel entwickelt wurden, einem Land, das uns in vieler Hinsicht kulturell sehr ähnlich ist (Hofstede, 2003). Wie gut sie auf die gesellschaftliche Realität in Deutschland zu übertragen sind, wird sich zeigen. Ich bin bei manchen der sehr innovativen und mutigen Konzepten durchaus zögerlich (wie etwa der Elternpatrouille, die in Kapitel VIII vorgestellt wird), sehe aber den Wert ihrer Veröffentlichung im Anstoß von Diskussionen zu der Frage, wie sie hierzulande anzupassen seien. Ich habe Vertrauen und große Achtung gegenüber dem Konzept des gewaltlosen Widerstands, das sich engagiert die Aufgabe vornimmt, in die schwierigsten Bereiche der Beziehungen zwischen jung und alt vorzudringen, in Bereiche nämlich, in denen Jugendliche sich manchmal in lebensgefährliche Situationen hineinbegeben oder hineingezogen werden. Es sind Bereiche, in denen nicht nur Eltern und Lehrer an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten geraten und in denen Hilflosigkeit entsteht. Die oft ungewöhnlichen und provozierenden Interventionen, die hier vorgestellt sind, gehören zu den wenigen fachlich gestützten Möglichkeiten, diese Hilflosigkeit zu überwinden. Dieses Buch hat mir – so wie die vorhergehenden – geholfen, die Prämissen meines eigenen Verständnisses von Autorität erfolgreich zu hinterfragen und mir zugleich gewaltloses Handwerkszeug an die Hand gegeben für eine neue Praxis – eine Praxis der neuen Autorität. Zu danken ist an dieser Stelle auch und besonders Frau Miriam Fritz, Tel Aviv, die den hebräischen Originaltext ausgezeichnet ins Deutsche übertragen hat. Nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit diesem Text wünsche ich nun diesem Buch eine große und engagierte
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Leserschaft. Es ist zu hoffen, dass es die angesprochenen Personen, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Personen in der öffentlichen Verwaltung, Polizisten und natürlich Vertreter aller beratenden Berufe erreicht, in gutem Sinn verstört, anregt und belebt. Arist von Schlippe
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Kapitel I Ein neues Verständnis von Autorität
Autorität ist in unserer Kultur im Umbruch. Nostalgische Aussagen illustrieren dies, etwa: »Früher, da hatte der Lehrer noch Autorität, da war ein Vater noch ein Vater!«; »Wir haben unsere Eltern noch respektiert!«; »Lehrer waren in meiner Kindheit unantastbar!« Aussagen dieser Art gehen davon aus, dass die Lösung für die heutigen Erziehungsprobleme darin liege, gewisse gesellschaftliche Entwicklungen rückgängig zu machen. Es stimmt, dass die traditionelle Autorität schwer erschüttert wurde – und auch wenn eine Reihe professioneller Stimmen explizit fordern, dass man zu ihr zurückkehren müsse, wird dieser Prozess nicht umkehrbar sein. Es war eine Form von Autorität, die sich in der Vergangenheit auf das vorbehaltslose Einverständnis der meisten gesellschaftlichen Instanzen stützen konnte. Über Jahrhunderte galt beispielsweise Elternschaft in der Ordnung der Generationenfolge aus sich selbst heraus begründet, eine unhinterfragbare Institution. So heißt es in dem Lebensbericht einer 1862 geborenen Frau namens Rose: »Bei Tisch durfte ohne Erlaubnis nicht gesprochen werden, aber man konnte sich melden. Dann rührte Vater eine riesige Tischglocke und rief: ›Rose hat das Wort‹. Aber quasseln war verboten. Kurz fassen, die Parole. Nach Tisch setzte sich Vater in seinen Urväterstuhl und wir Geschwister traten an. Kopf hoch, Blick geradeaus, Hände an die Hosennaht. ›Also, du kamst rein!‹, das war Vaters stehende Redensart. Und man musste kurz und knapp über die Erlebnisse in der Schule berichten« (Eisenberg, 1986, zit. nach Omer und von Schlippe, 2004, S 19).
Eltern und Lehrern war Gehorsam zu zollen, einzig und allein, weil sie Eltern und Lehrer waren. Man war der Auffassung, dass
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Ungehorsam verurteilt und schon im Keim erstickt werden müsse. Diese Einstellung wurde von der öffentlichen Meinung, Medien und Institutionen vertreten und entsprechend in den verschiedenen Praxisfeldern umgesetzt. Bilder einer festgefügten Ordnung von »oben« und »unten« legten die Rollen der Autoritätspersonen und derer, die ihnen unterstanden, recht weitgehend fest. Dass dies nicht, zumindest nicht nur, negativ empfunden wurde, sondern auch Orientierung und Sicherheit vermittelte, zeigen etwa die Bücher von Pörtner, die sich mit Lebensgeschichten von Menschen der letzten Jahrhunderte beschäftigen (1988, 1998). Das vergangene Jahrhundert stand im Zeichen einer tiefen Wandels in den Daseinsformen und Lebensgewohnheiten der Menschen zumindest des westlichen Kulturkreises – und damit einer unwiderruflichen Erschütterung dieses Autoritätsverständnisses. Heute herrscht in der öffentlichen Meinung kein breiter Konsens mehr darüber, dass Autorität einzig aufgrund der Rolle, die ein Mensch ausübt, richtig und unhinterfragbar sei. Auch sind viele Ausdrucksformen der damaligen Autorität, wie physische Bestrafung, Distanz, Furcht, unbedingter Gehorsam und die Unanfechtbarkeit der Autoritätsperson, heutzutage moralisch nicht mehr vertretbar. Deshalb kann es keine Lösung sein, das Autoritätsverständnis früherer Zeiten wiederherzustellen. Die liberale Gesellschaft hatte das traditionelle Autoritätsverständnis nicht nur kritisiert, sondern sogar eine Zeit lang Autorität in der Erziehung grundsätzlich in Frage gestellt. Begriffe wie »Autorität« und »autoritär« verwandelten sich in Schimpfworte, die negativ belegte Entwicklungen und Haltungen widerspiegelten. Autoritätsgläubigkeit wurde verantwortlich gemacht für die Leiden des Einzelnen und der Gesellschaft im Ganzen, nicht zuletzt auch für die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs (Marcuse, 1969). Autoritäre Eltern oder Lehrer, so die Überzeugung, setzten die Unterdrückungsmechanismen der repressiven Gesellschaft um und erzwängen damit unnatürliche Entwicklungen bei ihren Kindern. In den 1960er und 1970er Jahren gewann auf der Suche nach Auswegen aus dem Kreislauf der Unterdrückungsmechanismen die Idee der antiautoritären Erziehung an Einfluss, bis hin zu der Idee der Antipädagogik, dass ein Erziehungssystem, das nur eine »Dressur« der Kinder zum Ziel habe, schlicht
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abzuschaffen sei (von Braunmühl, 1983). Stattdessen gehe es um den Respekt vor der sich entwickelnden Persönlichkeit des Kindes, der sich im gleichberechtigten Umgang mit ihm spiegeln müsse. »Autorität«, das war ein Relikt der überkommenen bürgerlichen Gesellschaft, in der Kritik an der »normativen Pädagogik« wurde nach Grundlinien einer emanzipatorischen Pädagogik gesucht, die autoritäre und einer demokratischen Gesellschaft nicht würdige Erziehungspraktiken ablehnte (Mollenhauer, 2008). Eltern- und Lehrerfunktionen sollten mit Hilfe von Liebe, Unterstützung, Verständnis und Stärkung umgesetzt werden. Die Entwicklung des Kindes würde am besten durch die Bereitstellung von Freiraum gefördert, Grenzsetzungen oder Forderungen würden sich erübrigen, wenn der natürliche kindliche Entwicklungsprozess zur Entfaltung käme. Diese Einstellung war unter vielen Psychologen, Pädagogen und in der populärwissenschaftlichen Literatur weit verbreitet (Neill, 1998). Die Idee der Partnerschaftlichkeit wurde zu einem erstrebenswerten Ideal, verbunden mit der Hoffnung, dass in einer Gesellschaft ohne die Frustration einer »schwarzen Pädagogik« die Kinder zu emotional gesünderen, neugierigeren, spontaneren und kontaktfreudigeren Menschen heranwachsen würden. Dadurch könnte eine freiere, gesündere, bessere Gesellschaft entstehen, sobald diese Kinder als Erwachsene die Führung übernähmen. Jegliche negative Entwicklung eines Kindes wurde auf die Unterdrückung seines spontanen Werdegangs zurückgeführt. Gewalt unter Kindern galt als direkte Folge der Gewalt von Eltern. Lernschwierigkeiten wurden den Lehren zugeschrieben, die das Lernen mit groben Mitteln zu erzwingen suchten, während »fördernde-nichtdirigierende Tätigkeiten« der Lehrperson durch »soziale Reversibilität« gekennzeichnet seien: Erwachsene müssten so mit Kindern und Jugendlichen umgehen, dass sie in ähnlicher Weise gegenüber ihnen aktiv werden könnten (Tausch und Tausch, 1979). Emotionale Probleme galten als Folge von einengenden und intoleranten Wertvorstellungen. Abhilfe gegen all diese Probleme versprach man sich von der Abschaffung von Autorität überhaupt, Kontrolle als Instrument der Beziehungsgestaltung war diskreditiert. Getragen wurden diese Ideen – auch in ihren Übertreibungen – von der Hoffnung, dass es möglich sei, eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft zu schaffen, in Deutschland
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symbolisch durch die Aussage Willy Brandts in seiner Regierungserklärung 1969 ausgedrückt: »mehr Demokratie wagen!« (Schulz von Thun, 1981). Diese Entwicklung in allen Facetten zu schildern und ihr in ihrer Komplexität gerecht zu werden, kann im Rahmen dieses Buches nicht geleistet werden. Es ist uns bewusst, dass wir mit der Skizze der »alten Autorität« und der Kritik daran vereinfachen müssen – und es ist nicht unser Interesse, die Komplexität der pädagogischen und psychologischen Diskussionen zu sehr zu reduzieren oder gar abzuwerten. Schließlich ging mit dieser Entwicklung eine durchaus positiv zu nennende Liberalisierung elterlicher und pädagogischer Rollen einher, wie es sie wohl in der Geschichte bislang nicht gegeben hat. Mit Beginn der 1980er Jahre zeigten jedoch erste Forschungsarbeiten (Steinberg, 2001; Hassenstein, 2007), dass Kinder, die in einer antiautoritären oder permissiven Atmosphäre aufwuchsen, sich anders entwickelten als erwartet. Im Gegensatz zu der Annahme der Pädagogen, dass diese Kinder »nicht frustriert« würden, entwickeln die Kinder messbare Frustrationen, das aggressive Verhalten verstärkte sich eher, als dass es zurückging. Sie wiesen hohe Grade an Aggression, Schulabbruch, Drogenkonsum und Promiskuität auf. Zudem waren diese Kinder durch ein extrem niedriges Selbstwertgefühl charakterisiert. Diese Ergebnisse waren für die Forscher eine Überraschung. Wie konnte das niedrige Selbstwertgefühl bei Kindern erklärt werden, die eine solche Fülle von Unterstützung und Wertschätzung erhalten hatten? Man kennt nur zu gut das Bild der Eltern, die sorgfältig jegliche Kritik oder Anforderung vermeiden, um die Leistungen des Kindes zu verbessern; die sich verpflichtet fühlen, bei jedem Gekritzel Begeisterung zu zeigen, und die jede kindliche Äußerung als eine erhabene Weisheit loben. Warum also leiden diese Kinder unter einem so geringen Selbstwertgefühl? Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig zu verstehen, dass das Selbstbild sich nicht nur durch positive Reflexionen entwickelt. Diese stellen zwar einen wichtigen Faktor dar, aber die Entwicklung des Selbstbildes basiert auch auf der Erfahrung der Bewältigung von Schwierigkeiten. Bei einem normalen Entwicklungsverlauf wird ein Kind mit vielen herausfordernden Situationen konfrontiert. Der Eintritt in den Kindergarten oder die Einschulung, die Notwendigkeit,
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Regeln und Vorschriften zu akzeptieren, oder die Unvermeidlichkeit, die Befriedigung eigener Bedürfnisse aufschieben zu müssen, stellen für das Kind Herausforderungen dar. Anfangs können solche Herausforderungen eine Überforderung für das Kind bedeuten. Ein Kind, das gerade in den Kindergarten kommt, könnte zum Beispiel Schwierigkeiten haben, sich von seinen Eltern und der ihm bekannten Umgebung zu trennen. Die meisten Kinder werden jedoch mit diesen Herausforderungen fertig. Demnach wird der Kindergartenaufenthalt zu einem persönlichen Erfolg. Kinder, die in einem übermäßig permissiven Erziehungsumfeld aufwachsen, sammeln keine solchen positiven Erfahrungen der Schwierigkeitsbewältigung. Das permissive Prinzip schreibt vor, dass, sobald das Kind die Ausführung einer Aufgabe ablehnt oder als zu schwierig empfindet, diese Aufgabe dem Kind abgenommen werden sollte, da die Anforderung dem Wesen des Kindes und seiner Entwicklung schaden könnte. Dadurch fehlen diesen Kindern die Erfahrungen, die für den Aufbau eines Gefühls der Kompetenz unvermeidlich sind. Ohne Unvermeidlichkeit keine Entwicklung. Entwicklung erfolgt in hohem Maße durch Anstrengungen, die Schwierigkeiten auf dem Lebensweg zu bewältigen. Kindern, die diese Erfahrungen nicht machen, fehlt ein wesentlicher Baustein für das »Rückgrat« ihres Selbstbildes, nämlich die Bewältigung von Schwierigkeiten. Die unwiderrufliche Erschütterung des traditionellen Autoritätsverständnisses und das Versagen des antiautoritären, permissiven Erziehungsstils warfen ein neues Problem in der Kindererziehung auf: Wie kann das Vakuum wieder gefüllt werden, das durch den Wegfall der traditionellen Autorität entstanden ist, so dass die Kinder entwicklungsfördernde Erfahrungen mit Grenzsetzungen, Anforderungen und der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten machen können – und zwar auf eine moralisch und gesellschaftlich vertretbare Weise? Die Resonanz auf Sendungen wie »Super Nanny« zeigt, wie groß die gesellschaftliche Verunsicherung nach dem Wegfall der alten Bilder von Autorität und dem erkennbaren Scheitern des antiautoritären Modells geworden ist (s. a. Koschorke, 2004). Autoren wie etwa Bueb (2006) oder Winterhoff (2008) plädieren explizit für eine Abkehr von einem partnerschaftlichen Modell von Erziehung, da es die Kinder überfordere:
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Die »Machtumkehr« verbaue dem Kind die Chance auf eine gesunde Entwicklung. Es sind Thesen, die gerade in jüngerer Zeit heftig und kontrovers diskutiert wurden (z. B. Bergmann, 2008; Brumlik, 2007). In diesem Buch soll nun das Konzept einer neuen Autorität als eine Antwort auf diese Frage vorgestellt werden. Sie soll die Polarisierung zwischen dem »Entweder« der Disziplin und dem »Oder« der Partnerschaftlichkeit vermeiden. Sie basiert auf einer sehr anderen Logik und auf ganz anderen Prinzipien als das Autoritätsverständnis früherer Zeiten. Die Demontage der klassischen Autorität hat dazu geführt, dass wir eher wissen, welche charakteristischen Eigenschaften von Autorität wir nicht ausüben möchten. Die Skizzierung einer Alternative, das Konzept einer neuen Autorität muss mithin schrittweise entwickelt werden, und zwar auf eine Weise, dass sie mit einem demokratischen und partnerschaftlichen Selbstverständnis vereinbar ist und dem kulturellen Wandel des Autoritätsverständnisses gerecht wird, der die letzten Jahrzehnte kennzeichnet.1 Wir schlagen vor, den Begriff der Präsenz als einen bewährten und moralisch vertretbaren Grundbaustein für das Konzept einer neuen Autorität zu nutzen, die zwar von Stärke ausgeht, aber nicht auf Macht und Unterdrückung ausgerichtet ist, sondern auf Gewaltlosigkeit, den zweiten wichtigen Kernbegriff der neuen Autorität (Omer und von Schlippe, 2002; 2004; 2009). Elterliche Präsenz ermöglicht die Wiederherstellung der Autorität auf eine für die Eltern akzeptable und auch für das Kind annehmbare Weise. Das Kind erlebt die Eltern als präsent, wenn ihr Verhalten vermittelt: »Ich bin dein Vater/deine Mutter! Ich bleibe dein Vater/deine Mutter! Ich kann nicht entlassen werden, man kann sich nicht von mir scheiden lassen und mich auch nicht verbannen!« Wenn Eltern ihre Präsenz verstärken, so ändert sich nicht nur das Erleben des Kindes, sondern auch die Art, in der die Eltern sich selbst 1 In Deutschland und Israel hat sich in sehr ähnlicher Weise das Bild der Machtdistanz gewandelt, das die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt; diese wird heute eher als gering eingeschätzt, d. h., die Kultur von Führung und Autorität beruht eher auf »gleicher Augenhöhe« (Hofstede, 2003).
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erfahren.2 Das Kind fühlt, dass es im wahrsten Sinne des Wortes einen Vater bzw. eine Mutter hat. Die Mutter bzw. der Vater ihrerseits überwindet das Gefühl, ihre Rolle im Leben des Kindes verloren zu haben und an die Peripherie gedrängt zu sein, unwichtig und ohne Einfluss. Die Verstärkung der Präsenz stellt auch einen Grundbaustein für die Wiederherstellung der Autorität von Pädagogen dar. Im Verlauf des Buches werden wir Beispiele für diesen Prozess anführen, in dem die Verstärkung der Lehrerpräsenz die Selbstwahrnehmung der Schüler und der Lehrer verändert (Omer et al., 2007b; Lemme et al., 2009). Der Gedanke, dass Autorität durch Präsenz, durch Nähe und durch Beziehung erlangt werden könnte (Omer und von Schlippe, 2004), ist der traditionellen Autorität fremd. Die herkömmliche Vorstellung von Autorität verbindet diese gerade mit Distanz und Unzugänglichkeit: »Die Kinder hören nicht auf ihn, er steht ihnen zu nahe!« Die Auffassung, dass Nähe, Partnerschaftlichkeit und Autorität sich gegenseitig ausschließen, hat für uns ihre Gültigkeit verloren. Eine neue Autorität kann nicht auf Distanz und Furcht basieren, sondern auf Präsenz und Nähe. Damit muss nicht der Unterschied zwischen der Eltern- oder Lehrerrolle und der Rolle des Kindes verwischt werden. Die Präsenz der Eltern und der Lehrer ist etwas anderes als die Präsenz eines Freundes. Die präsente Autoritätsperson ist als Autorität präsent, als Erwachsener, der seiner Sorge- und Aufsichtspflicht für das Kind nachkommt – und ihm zugleich nahe sein kann. Anders als bei der Autorität früherer Zeiten werden der neuen Autorität nicht mehr selbstverständlich Anerkennung und Unterstützung zuteil. Eltern und Lehrern wird nicht mehr automatisch Achtung und Respekt entgegengebracht allein aufgrund der Tatsache, dass sie Eltern und Lehrer sind. Auch neue Autorität kann ohne Anerkennung und Rückhalt nicht existieren. Doch sie ist getragen von der Zustimmung eines sichtbaren und freundlichen sozialen Netzwerks, das hinter den Eltern bzw. Lehrern steht. In 2 Unsere Forschungsarbeiten zeigen, dass die Hilflosigkeit und Depression der Eltern verhaltensauffälliger Kinder sich positiv veränderten, nachdem sie sich entschieden hatten, ihre Präsenz in der Familie zu verstärken (Ollefs et al., 2009).
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unserer Elternarbeit helfen wir Eltern, ein Unterstützernetz aufzubauen, das aus Verwandten, Freunden, Lehrern und oft auch aus Eltern der Freunde des Kindes besteht (zum konkreten Vorgehen s. Ollefs und von Schlippe, 2007). Ein Unterstützernetz verändert das Gefühl der Eltern: Die elterlichen Maßnahmen sind keine willkürlichen Entscheidungen. Ihre Handlungen erhalten vielmehr eine Rechtfertigung und praktische Unterstützung von außen. Die Notwendigkeit der Mobilisierung einer umfangreichen Unterstützung beeinflusst auch die Art der elterlichen Handlungen. In unserer Kultur ist es nicht möglich, Unterstützung für Handlungen zu gewinnen, die autoritär3, gewalttätig und eigenmächtig sind. Also wird durch die Gewinnung von Helfern auch eine gewisse Kontrolle über die elterlichen Handlungen erreicht, da nur moralisch vertretbare Handlungen eine angemessene Unterstützung erhalten. Bei unserer Intervention zur Wiederherstellung der elterlichen Präsenz verpflichten sich Eltern, von jeglichen gewalttätigen oder erniedrigenden Maßnamen gegen das Kind abzusehen.4 Dadurch wird der Aufbau eines Helferkreises zur Garantie dafür, dass die neue Autorität nicht willkürlich wird. Auch die neue Autorität der Lehrer basiert auf der Mobilisierung einer breiten Unterstützung. Während der Intervention wird ein Netz von Helfern aufgebaut, bestehend aus der Schulleitung, der Elternschaft und anderen Funktionsträgern innerhalb eines größeren gemeinschaftlichen Umfelds. Wenn gemeinsam mit den Lehrern Mechanismen innerhalb des Schulsystems eingebaut werden, die die gegenseitige Unterstützung verstärken, wirkt dies der Isolation der Lehrperson entgegen. Wir werden sehen, wie dieses Interventionsprogramm sogar durch die meisten Schüler mitgetragen wird. Die Unterstützung der Lehrer ist jedoch an Bedingungen geknüpft. Lehrer verstärken ihre Präsenz, vermeiden zugleich erniedrigende Maßnahmen und gehen gegen Gewalt und 3 In diesem Buch benutzen wir das Adjektiv »autoritativ« in Verbindung mit der »neuen Autorität« und mit positiver Konnotation (engl. authoritative) und das Adjektiv »autoritär« in Verbindung mit der traditionellen Autorität und mit negativer Konnotation (engl. authoritarian). 4 Daher sprechen wir auch von Elterncoaching im Modell des gewaltlosen Widerstands (Omer und von Schlippe, 2002; 2004; s.a. von Schlippe und Grabbe, 2007).
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Unordnung vor. Unter diesen Bedingungen erreichen Lehrer eine wesentliche Veränderung in ihrem Status und im Umfang der ihnen zuteil werdenden Unterstützung. Eine Autoritätsperson früherer Zeiten sah sich nicht für die Eskalation von Situationen verantwortlich. Wenn die Interaktion mit dem Kind laut oder gewalttätig wurde, hatte das Kind dies durch seine Unverschämtheit und Aufsässigkeit zu verantworten. Eltern oder Lehrer »waren gezwungen«, mit Nachdruck auf die Auflehnung des Kindes zu reagieren, was auch das Recht auf Gewalt – etwa körperliche Züchtigung – einschloss. Die neue Autorität lehnt Anwendung von Gewalt grundsätzlich ab, ganz besonders, wenn sie von Eltern oder Lehrern ausgeht. Es existiert noch immer eine Asymmetrie, diesmal aber in entgegengesetzter Richtung: Die heutige Autoritätsperson muss von jeglicher Gewaltanwendung absehen, auch wenn das Gegenüber, das Kind, gewalttätig werden sollte. Diese Asymmetrie geht sogar so weit, dass die Autoritätsperson nicht nur einseitig auf Gewalt verzichtet, sondern darüber hinaus auch Wege sucht, um eskalierende Situationen zu vermeiden. Es ist die Pflicht der Autoritätsperson, jeglichen destruktiven Verhaltensweisen des Kindes mit Entschlossenheit entgegenzuwirken, ohne dabei in den Teufelskreis von gegenseitigem Anschreien oder gegenseitigen Drohungen gezogen zu werden. Die Fähigkeit, Entschlossenheit zu demonstrieren, ohne zur Eskalation der Situation beizutragen, wirkt auf Erwachsene wie auf Kinder überraschend. Sobald z. B. ein Lehrer verinnerlicht hat, dass er davon befreit ist, seine Stimme heben zu müssen und sofort auf negative Verhaltensweisen der Schüler zu reagieren, dass er stattdessen zeitlich verzögert auf entschlossene Weise agieren und dadurch eine Eskalation der Situation vermeiden kann, erlebt er sowohl Erleichterung als auch die Stärkung seiner Autorität. Unsere Forschungsarbeiten zur Autorität von Eltern und Lehrern zeigen, dass die Beherrschung der Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung die Autoritätsperson stärkt. Gleichzeitig nehmen Reibungen und verschärfte Reaktionen von Seiten der Eltern oder Lehrer ab (Weinblatt und Omer, 2008; Omer et al., 2006). Die neue Autorität unterscheidet sich von der traditionellen durch einen weiteren wichtigen Aspekt: Die Autorität früherer Zeiten basierte auf dem Status der Autoritätsperson. Der Familien-
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vater etwa war berechtigt, in seinem Hause nach Belieben zu schalten und zu walten, ohne sein Handeln anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen. Selbst die Frage, warum und auf welchem Wege er seine Kinder bestrafe, galt als Verletzung seiner Autorität. Jeglicher Versuch, Außenstehenden von den Zuständen im Hause zu erzählen, galt als Verrat. Demgegenüber spiegelt die Forderung nach Transparenz in der Ausübung der neuen Autorität einen bedeutenden Grundwert der demokratischen Gesellschaft wider. Transparenz bedeutet nicht nur Einschränkung. Sie ist auch eine der grundlegenden Stärken der neuen Autorität. Die Aufhebung der Geheimhaltung gilt nicht nur für die Handlungen der Autoritätsperson, sondern auch für die destruktiven Verhaltensweisen des Kindes. So wird z. B. der Kreis der Helfer sowohl über gewalttätige Aktionen des Kindes als auch über die Reaktionen der Eltern informiert. Auf diesem Wege trägt die Transparenz zur Wirksamkeit der elterlichen Maßnahmen bei, die nun durch die »öffentliche Meinung« des Unterstützernetzes befürwortet werden. Sie verstärkt außerdem die Verpflichtung aller Beteiligten, von Gewaltanwendungen abzusehen. Eltern fürchten oftmals, die Offenlegung könnte dem Ansehen des Kindes oder der Familie schaden. Um diesen Sorgen entgegenzuwirken, betonen wir, dass das Verschleiern von Gewalt immer deren Fortsetzung bedeutet. Eltern, die die Gewalt des Kindes geheim halten, verwandeln sich unbeabsichtigt zu Befürwortern der Gewalt. Dies gilt auch für die Gewaltanwendung von Seiten der Eltern: Ihre Geheimhaltung erlaubt ihren Fortgang. Dieser Grundsatz leitet uns auch bei der Arbeit an Schulen. Wir ermutigen die Schule, gewalttätige Zwischenfälle und die anschließenden Disziplinarmaßnahmen zu veröffentlichen, ohne die Namen der involvierten Kinder aufzuführen. Gleichzeitig verpflichtet sich die Schule, jeder Beschwerde gegen einen Lehrer in Kooperation mit dem Ankläger nachzugehen. Die Transparenz gegenüber der Elternschaft stärkt das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern, was wiederum zur Beständigkeit der neuen Autorität beiträgt. Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle veranschaulicht einen weiteren Unterschied zwischen der neuen und der Autorität früherer Zeiten. Die Autoritätsperson von damals war immer im Recht.
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Die bloße Erwähnung der Möglichkeit, er oder sie könnte sich geirrt haben, galt als Akt des Ungehorsams. Auch wenn man wusste, dass es sich in der Realität anders verhielt, war es ein Tabu, diese Wahrheit auszusprechen. Heutzutage erscheint schon der Versuch lächerlich, eine Fassade der Unfehlbarkeit aufrechtzuerhalten. Neue Autorität erfordert die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und ihre Wiedergutmachung anzustreben. Die heutige Autoritätsperson ist kein Repräsentant der scheinbaren Vollkommenheit. Sie ist, wie jeder andere, aus Fleisch und Blut, bedarf manchmal einer Denkpause, benötigt bei gewissen Entscheidungen Hilfe und hat zugleich die Möglichkeit, Fehlentscheidungen rückgängig zu machen. Die Bereitschaft der Eltern, Fehler zuzugeben und zu beheben, trägt wesentlich zur Verbesserung der Familienatmosphäre und zur Vertiefung der Beziehung zum Kind bei. Damit festigt sich das Ansehen der Autoritätsperson als moralischer Mensch. Auch Lehrer können und dürfen öffentlich eingestehen, dass sie nicht unfehlbar sind. Die kritische Atmosphäre einer demokratischen Gesellschaft sorgt dafür, dass Fehler schnell aufgedeckt werden. Lehrer können diese aufgezwungene Transparenz vorteilhaft wandeln, indem sie ein persönliches Beispiel geben und ihre Fehler eingestehen und richtigstellen. Möglicherweise liegt der tiefgreifendste Unterschied zwischen der Autorität früherer Zeiten und der neuen Autorität in der Betrachtungsweise der Beziehung zwischen Autorität und Gehorsam. Das Konzept der traditionellen Autorität setzte das Ansehen der Autoritätsperson mit dem Grad des Gehorsams gleich, der ihr entgegengebracht wurde. Doch die Tatsache, dass jemandem eine gewisse Autorität zugestanden wird, bedeutet nicht, dass die ihm untergeordneten Personen gehorsam sein müssen. Das Ansehen einer Autoritätsperson wird nicht durch den ihr entgegengebrachten Gehorsam definiert, sondern durch die ihr erteilte Vollmacht, die eine Legitimation, Unterstützung und Mittel für die Durchführung der Aufgabe beinhaltet. Ein Beauftragter, der die ihm gewährten Befugnisse zu nutzen weiß und der, falls nötig, weitere Ermächtigungen einzufordern weiß, verhält sich autoritativ, nicht autoritär. Hierbei fehlt jeglicher Bezug auf unbedingten Gehorsam. Nach diesem Verständnis wird die Autorität der Eltern und Lehrer gestärkt, wenn sie Mittel, Legitimation und Unterstützung
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durch das Umfeld erhalten und alles optimal zu nutzen wissen. Man kann davon ausgehen, dass dies die Reaktionen und Handlungen derer, die ihrer Autorität untergeordnet sind, verändern wird. Dieses Verständnis annulliert die Gleichsetzung von Autorität und Gehorsam. Eltern und Lehrer können autoritativ sein und als solche erlebt werden, auch ohne Verbindung zum Gehorsam eines bestimmten Kindes. Diese Aussage ist nicht bloß ein Wortspiel, sondern führt zu einer entscheidenden Veränderung in der Zielsetzung der Autoritätsausübung und in der Haltung dem Kind gegenüber. Eltern und Lehrer wissen nun, dass sie zwar keine Kontrolle über das Kind besitzen, diese aber über sich selbst haben und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel: »Ich kann keinen anderen Menschen ändern als mich selbst!«. Das Ziel der Autoritätsausübung liegt in der Erfüllung der Pflicht als Eltern und Lehrer. Wenn diese Pflicht richtig wahrgenommen wird, stellt sie eine beständige und moralische Autorität dar, die nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass das Kind sein Verhalten nicht ändert. Die meisten Unterschiede zwischen dem Autoritätsverständnis früherer Zeiten und der neuen Autorität, die wir bisher benannt haben, scheinen sich auf Einschränkungen zu beziehen: der Verzicht auf das Privileg der Distanzierung, auf eigene Unfehlbarkeit und auf Bestrafung, Verzicht auch auf die Illusion der Kontrolle über das Kind – und zugleich Verantwortung dafür, dass Situationen nicht eskalieren. Diese scheinbaren Einschränkungen können jedoch auch ein Potenzial von Stärke werden. Die Autoritätsperson wird mit Hilfe dieser Einschränkungen aus ihrer Isolation befreit. Der Zwang, siegen zu müssen, im Recht sein zu müssen, zu zeigen, wer der Herr im Hause ist, und so mit Strenge auf jeden Hinweis einer Beleidigung unmittelbar reagieren zu müssen, entfällt. Während die Autoritätsperson früherer Zeiten oftmals in scheinbar unvermeidliche Zweikämpfe geriet, mit der Pflicht zu gewinnen, ist die neue Autorität davon befreit. Die heutige Autoritätsperson kann offen Helfer ansprechen, anstatt sich vor den kritischen Augen anderer fürchten zu müssen. Transparenz ist ein positiver Wert und die öffentliche Meinung ein Mittel der Legitimation. Demgemäß gewinnt die heutige Autoritätsperson einen Handlungsspielraum, der für Autoritätspersonen früherer Zeiten undenkbar war.
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Autorität erleben – damals und heute Unsere Erfahrung mit Eltern und Lehrern in der Arbeit mit dem gewaltlosen Widerstand zeigt, dass die neue Autorität nicht nur mit einer Änderung äußerlich sichtbarer Verhaltenweisen verbunden ist. Vielmehr stellt sich eine Veränderung ein, die die eigenen Gedankengänge, die Gefühlswelt und sogar die physischen Wahrnehmungen mit einschließt. Eltern und Lehrer setzen ihre Autorität nicht einfach nur anders ein, sie nehmen ihre eigene Bedeutung und ihre Haltung anders wahr. Sie strahlen Autorität aus, da sie sich als Autorität erleben. Hier ein paar Beispiele. Eine Lehrerin erzählte, dass die Arbeit an der »neuen Autorität« ihren Standpunkt im Dialog mit sich selbst und mit den Schülern verändert habe: »Ich sage mir selbst und den Schülern geradewegs während der ersten Minuten des Schuljahres, dass ich die Verantwortung für die Klassenführung innehabe. Anfangs war ich erstaunt, dass ich das gesagt habe. Erst danach habe ich verstanden, dass das der Wahrheit entspricht!« Die Veränderung ist, ihrer Berichterstattung nach, sogar in scheinbaren Lappalien merkbar. Als z. B. wieder ein Mal die endlose Diskussion entstand, ob die Klimaanlage angestellt werden sollte, schnitt sie die Diskussion abrupt mit der Aussage ab, dies sei allein ihre Verantwortung. Eine Mutter, die ein Sit-in5 bei ihrem 10-jährigen gewalttätigen Sohn durchgeführt hatte, erzählte uns, noch bevor eine Veränderung im Verhalten des Kindes bemerkbar wurde: »Ich fasse es nicht! Ich habe eine ganze Stunde in der Höhle des Löwen gesessen und mich nicht vom Platz gerührt! Ich hatte das Gefühl, ich existiere endlich!« Eine Mutter von hyperaktiven Zwillingssöhnen erzählte: »Vorher, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und die beiden vor dem 5 Das Sit-in ist eine Maßnahme zur Demonstration der elterlichen Präsenz: Die Eltern gehen in das Zimmer des Kindes, setzen sich dort hin und geben dem Kind bekannt, dass sie dort sitzen bleiben und auf einen Vorschlag zur Veränderung der negativen Verhaltensweisen warten (vgl. S. 149 ff. sowie Omer und von Schlippe, 2002; 2004; s.a. von Schlippe und Grabbe, 2007).
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Fernseher saßen, habe ich mich heimlich still und leise in mein Zimmer verkrochen, um ein paar Minuten Ruhe zu haben. Ich habe mich richtig an die Wand gedrückt und kaum ›Hallo‹ gesagt, damit sie mich nicht bemerken. Heute gehe ich durch die Mitte des Zimmers, wende mich an sie, frage, was sie gucken, sage ihnen, dass ich mich ausruhen möchte, und gehe in mein Zimmer!« Eine Lehrerin berichtete, nachdem die Lehrerschaft der Schule einen gemeinsamen Beschluss bezüglich des Umgangs mit Verspätungen gefasst und sich gegenseitige Unterstützung zugesagt hatte: »Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht nur in meinem eigenen Namen spreche, sondern im Namen aller Lehrer! Ich habe richtig an Volumen zugenommen und habe mich gefühlt wie in einem Chor!« Eine Mutter, eine stattliche Frau, berichtete von ihrem veränderten physischen Gefühl, seitdem sie begonnen hatte, ihre elterliche Präsenz zu verstärken: »Beim Sit-in habe ich erlebt, was für ein Gewicht ich habe! Mein Sohn hat versucht, mich wegzuschubsen, und ich habe mich nicht vom Platz bewegt! Das ist das erste Mal, dass ich es nicht bereut habe, keine Diät gemacht zu haben!« Der Vater eines 13-jährigen Sohnes, der das Gefühl hatte, sein Sohn übersehe ihn, erzählte, dass das Kind durch das Fenster dem Sit-in entgehen konnte. »Ich wollte Spuren hinterlassen, dass ich existiere und ihn nicht entkommen lasse. Ich habe mich auf sein Bett gelegt und bin eingeschlafen. Ich war mir sicher, dass ihn das verblüffen würde! Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen habe wie dort!« Dieses Ereignis erinnert an Schneewittchen und die sieben Zwerge. Man kann sich das Staunen des Jugendlichen vorstellen, als er sein Zimmer betrat: »Wer schläft da in meinem Bett?«
Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen Viele Eltern und Lehrer sehen sich gezwungen, bei ihrer Autoritätsausübung eine kämpferische und machtorientierte Position einzunehmen, gerade weil eine selbstverständliche Unterstützung,
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Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen
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wie es sie früher gab, fehlt. Die Gedanken werden von Polaritäten wie stark – schwach, Sieger – Verlierer, Herrscher – Beherrschte bestimmt. Die zentrale Frage ist: »Wer ist der Boss?« Dabei wird davon ausgegangen, dass aus der Auseinandersetzung nur einer als Gewinner hervorgehen könne. Diese Auffassung ist bei Eltern und Lehrern weit verbreitet. Die Gedankengänge sind dementsprechend geprägt von Aussagen wie: »Wenn ich ihn nicht bestrafe, wird er denken, dass er gewonnen hat!«, »Bei diesem Kind muss man hart durchgreifen, sonst begreift es nichts!«, »Entweder er oder ich!« Die gleiche Einstellung findet sich bei Autoritätspersonen, die sich besiegt fühlen: »Ich verliere immer bei Auseinandersetzungen mit ihr!«, »Wir schaffen es nicht, seinen Drohungen zu widerstehen!«, »Ich habe keine Wahl und muss nachgeben!« Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die Beziehung zwischen der Autoritätsperson und dem Kind ein »Nullsummenspiel« sei6. Das Gefühl der Dringlichkeit, das Eltern und Lehrer bestimmt, die um die Anerkennung ihrer Autorität kämpfen, wird von der Angst genährt, dass nur ein kleiner Schritt zwischen absolutem Sieg und vollkommener Niederlage liegt. Dieses Gefühl hängt mit der Überzeugung zusammen, man müsse es dem Kind »ein für alle Mal zeigen!« oder mit der – im Licht der neuen Autorität – falschen Annahme: »Wenn ich es ihm jetzt nicht zeige, ist das mein Ende!« Dadurch wird jede Auseinandersetzung zum Verhängnis. Ein Zögern oder das Fehlen einer angemessenen Reaktion verheißen eine vernichtende Kapitulation. Wir kennen nur zu gut die Redeweise und Körpersprache einer Autoritätsperson, die mit aller Gewalt abzuschrecken und einzuschüchtern sucht. Die Hände, der Kiefer, der Gesichtsausdruck, die Muskeln und die Körperhaltung werden extrem angespannt, um so bedrohlich wie möglich zu erscheinen. Worte und Stimme sind verschärft, um die ungemeine Wut auszudrücken, die das freche Kind erschüttern 6 Ein Nullsummenspiel ist ein Wettkampf, der mit dem eindeutigen Sieg einer der Beteiligten enden muss. Die Entweder-Oder-Logik ergibt am Schluss Null: Einer gewinnt, der andere verliert, Schach ist ein typisches Beispiel. Spiele, in denen beide gewinnen können, bauen auf einer anderen Logik auf, die »Summe« ist dann größer als Null, – etwa wenn zwei Federballspieler versuchen, den Ball so lange wie möglich in der Luft zu halten.
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Ein neues Verständnis von Autorität
wird, sollte es nicht sofort den Kopf senken. Der Versuch, die Anerkennung der Autorität so zu erzwingen, ist zum Scheitern verurteilt, da die Voraussetzungen für diese Art von Autorität nicht mehr existieren. Eine Kindheitserinnerung von Haim Omer unterstreicht, wie ein Kind sich mit einer Autoritätsperson früherer Zeiten auseinandersetzen musste, als Autorität noch unverrückbar war: »Herr Ernani war Lateinlehrer. Lateinunterricht war in meiner Kindheit Teil des obligatorischen Stundenplans in Brasilien. Herr Ernani war ein gebildeter und angenehmer Mensch, der wegen der Ernsthaftigkeit seines Unterrichtes und wegen seiner weitreichenden Kenntnisse, die Anerkennung seiner Schüler genoss. Er war einer der Lehrer, die ohne jegliche Anstrengung Autorität ausstrahlen. Ich war ein guter und gehorsamer Schüler, auch wenn ich manchmal der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine Aussage zu treffen, die mir scharfsinnig erschien. An besagtem Tag war Herr Ernani gerade dabei, die Konjunktion eines Verbs auf die Tafel zu schreiben, und hielt inne, um mich wegen meines Schwatzens zu ermahnen. Wie üblich tat er das, ohne seinen Blick von der Tafel zu nehmen, als ob er Augen in seinem Rücken hätte. Wenige Minuten später bemerkte er, dass ich wieder zu schwatzen begonnen hatte. Er hielt mit dem Schreiben inne, wandte sich mir zu mit einer teils erbosten, teils amüsierten Miene und sagte: ›Dies ist das zweite Mal, dass ich Sie ermahne, Herr Kuperman7! In welcher Sprache möchten Sie, dass ich mit Ihnen spreche?!‹ Sein Blick verleitete mich, einen ähnlichen Ton anzuschlagen, und ich antwortete: ›In Deutsch!‹ Ich sah, dass meine Antwort ihn überraschte, und wollte erklären, dass ich ein bisschen Deutsch verstehe (meine Elter sprachen untereinander Jiddisch), aber er unterbrach mich und stellte alsbald klar, dass dies nicht der Grund seines Staunens war. Was folgte war vielleicht die beschämendste Erfahrung, die ich jemals während all meiner Schuljahre gemacht habe. Herr Ernani beendete die Unterrichtsstunde und ließ für lange Minuten ein Ungewitter über mir aus. Mir ist nur wenig vom Inhalt seiner Worte in Erinnerung geblieben, aber sein Gesichtsausdruck, seine Haltung, seine Bewegungen, sein Ton 7 Kuperman ist mein ursprünglicher Familienname.
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Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen
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und die Spucke, die aus seinem Munde spritzte, sind in mein Gedächtnis eingebrannt. Die Klasse wurde vollkommen still und lieferte damit eine Kulisse, die die Wirkung seines Wutausbruchs noch verstärkte. Am Ende seiner langen Tirade holte Herr Ernani sein Taschentuch hervor, mit dem er seine Hände von den Kreideresten zu säubern pflegte. Er breitete es sorgfältig auf seiner Handfläche aus und schlug mit harten Schlägen darauf ein, wobei er mit jedem Schlag große Wolken von Kreidestaub verteilte, die deutlich machten, dass seine Wut noch lange nicht erschöpft war. Nachdem er die Klasse verlassen hatte, sprachen die Schüler verhalten miteinander. Ich hatte Mühe zu verstehen, welcher Meinung sie waren. Ich sehnte mich nach Unterstützung, stattdessen wandte sich eine Mitschülerin an mich, die ich mochte und schätzte, und sagte, dass ich diesmal wirklich zu weit gegangen sei. Dies ist der einzige Wutausbruch, den ich von Herrn Ernani während der zwei Unterrichtsjahre bei ihm in Erinnerung habe. Dieser Vorfall hinterließ nicht nur bei mir einen starken Eindruck, sondern bei all meinen Klassenkameraden. Die Angst und Achtung vor Herrn Ernani verstärkten sich noch: Nun wussten wir, dass sich in diesem angenehmen Menschen ein Löwe versteckte, auf dessen Schwanz man besser nicht treten sollte. Es ist unwahrscheinlich, dass Herr Ernani seinen Kollegen von diesem Vorfall erzählt hat, und mir ist nicht bekannt, ob meine Mitschüler zu Hause davon erzählt haben. In jedem Fall hätte Herr Ernani sicherlich Unterstützung erhalten, und ich wäre scharf verurteilt worden.«
Wutausbrüche und Schimpftiraden sind auch heutzutage bei Lehrern nicht weniger verbreitet als früher. Doch liefern die veränderten gesellschaftlichen Normen solchen Vorfällen eine andere Kulisse, die dem Lehrer und dem Schüler ein gänzlich anderes Selbstverständnis vermittelt. Einem Lehrer wird heute bei solch einem Verhalten meist keine umfangreiche Unterstützung zuteil. Andere Lehrer werden sich von ihm distanzieren, von den Eltern ganz zu schweigen. In manchen Fällen läuft der Lehrer sogar Gefahr, bezüglich seines Verhaltens zur Ordnung gerufen zu werden. Auch die Reaktionen der Schüler werden höchstwahrscheinlich anders sein als die Reaktionen meiner damaligen Klassenkameraden: Das getadelte Kind wird reichlich Unterstützung erhalten,
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und es wird Nachahmer haben, die es sich als Vorbild nehmen. Diese Unterschiede führen dazu, dass ein Lehrer bei einer Auseinandersetzung mit einem unverschämten Kind auf verlorenem Posten steht. Während der Lehrer früher wusste, dass im Notfall die Schulleitung und die Gesellschaft auf seiner Seite stehen, treten Lehrer heutzutage einem problematischen Schüler vielfach beinahe schutzlos gegenüber. Sie können keine Unterstützung von Seiten der Kollegen erwarten, sondern werden von diesen streng und kritisch beobachtet. Ohne Unterstützung von außen hat der Lehrer das Gefühl, dass sein Status einzig und allein von dem Eindruck abhängt, den er vermittelt. Die Auseinandersetzung mit dem Schüler verwandelt sich für ihn in einen Zweikampf, der über sein Schicksal in der Klasse entscheidet nach dem Motto: »Wehe dem, der als Erster blinzelt.« In dieser Situation bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine ganze Energie aufzubieten. Er muss sich hart machen und die Intensität seiner Stimme verdoppeln. Das Schwierigste hierbei ist wohl, dass er all dies tun muss, während er gleichzeitig spürt, dass seine Autorität ausgehöhlt ist und dass ein bisschen Schubsen ausreicht, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und seine Schwäche zu entblößen. Man kann davon ausgehen, dass Herr Ernani kein Bedürfnis verspürte, anderen von seiner Umgangsweise mit dem »unverschämten Schüler« zu erzählen. Seine Klasse galt als sein unangefochtenes Territorium und was er dort tat, war seine Angelegenheit. Die Werte »Unantastbarkeit und Geheimhaltung« waren allgemein gesellschaftlich akzeptiert und wer es wagte, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und die Taten zu enthüllen, der galt als Verräter. Diese Sichtweise war insbesondere in Familien weit verbreitet. Schimpfnamen wie »Nestbeschmutzer« oder Sprichwörter wie »Man soll seine schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit waschen!« drücken die damals weit verbreitete Haltung denen gegenüber aus, die es wagten, Familiengeheimnisse preiszugeben. Heutzutage werden viele Eltern oder Lehrer, die in einen Machtkampf mit einem Kind verwickelt sind, wie damals darum bemüht sein, die Geschehnisse nicht bekannt werden zu lassen, aber aus einem ganz anderen Grund. Während man früher keine Notwendigkeit sah, über die Ereignisse zu berichten, da die Klasse oder die Familie als unantastbares Territorium
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Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen
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galten, muss die heutige Autoritätsperson solche Vorfälle geheim halten, um sich vor der scharfen Kritik anderer zu schützen. Ihr ohnehin schwacher Status würde sonst nur zusätzlich erschüttert werden. Dementsprechend ist die Geheimhaltung von einem unantastbaren Recht zu einer existenziellen Notwendigkeit geworden und wird von der permanenten Angst vor Bloßstellung begleitet. Der Begriff der Ehre ist einer der Schlüsselbegriffe für das Autoritätsverständnis früherer Zeiten. Bei dem Vorfall mit Herrn Ernani handelte es sich um eine Frage der Ehre. Jegliche Verletzung des Ehrgefühls erforderte eine passende Reaktion, um die in Frage gestellte Autorität wiederherzustellen. Hätte der Lehrer nicht reagiert, hätte sein Ansehen Schaden genommen. Die Missetat musste dem Widersacher vergolten werden und ihn seinerseits auf eine solche Weise demütigen, dass der Vorteil, den er durch die Ehrverletzung errungen hatte, vollkommen getilgt wurde. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts erfolgte auf zweierlei Weise: Entweder der Aufmüpfige gab klein bei, indem er Reue zeigte, oder der Gekränkte demütigte den Aufsässigen. Die Demütigung, wesentlicher Bestandteil vieler Erziehungsmaßnahmen, folgte dem unumstößlichen Gebot, dass die Ehre und das verletzte Gleichgewicht wiederherzustellen seien. Der Gekränkte setzte den Status des Gegenspielers herab, damit alle sahen, dass seine eigene Ehre wiederhergestellt war. Heute fällt eine solche Wiederherstellung des Gleichgewichts immer schwerer. Bei der Auseinandersetzung mit Herrn Ernani hätte das Kind sich keine Antwort ausdenken können, die eine weitere Herausforderung seiner Autorität dargestellt hätte. Bei Herrn Ernani war ihm tatsächlich das Lachen vergangen. Heute sieht das anders aus. Freche Kinder demonstrieren allzu oft einen Mangel an Rücksichtnahme oder denken sich weitere Provokationen aus. Ihr Lachen verschwindet nicht, trotz aufgebrachter Reaktionen der Autoritätsperson. Manchmal führt das zur Verdoppelung der Drohungen und Strafen, ein verzweifelter Versuch, die ersehnte Wiederherstellung der eigenen Autorität durch eine stärkere Machtausübung zu erreichen. Je länger die Autoritätsperson jedoch diesen Weg verfolgt, desto größer wird die Gefahr, die Kritik des Umfelds auf sich zu ziehen, was einen weiteren erniedrigen-
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Ein neues Verständnis von Autorität
den Rückzug zur Folge hätte. Der Machtkampf verursacht daher einen doppelten Schaden: Zum einen führt er zu einem Eskalieren der Situation, zum anderen zu einer weiteren Erschütterung der Autorität. Am Ende dieses Prozesses ist nicht nur die eigene Ehre in Frage gestellt, sondern die Autoritätsperson fühlt sich darüber hinaus verraten und isoliert. Die Erfahrung der verlorenen Ehre und die Angst, dass weitere Machtkämpfe ähnlich enden werden, können dazu führen, dass die Autoritätsperson von vornherein Fehlverhalten ignoriert oder nachgibt. Das traditionelle Konzept der Ehre, das ein Grundbaustein des herkömmlichen Autoritätsverständnisses war, wird daher bei manchen ernüchterten Lehrern und Eltern zum Ursprung von Demoralisierung und Hilflosigkeit. Auch das Mittel der Distanzierung wird heutzutage ganz anders erfahren als früher. Das Ziel der Distanz war, den abgrundtiefen Unterschied zwischen Autoritätsperson und Kind widerzuspiegeln und im Bewusstsein zu vergegenwärtigen. Nur durch die Annahme und Verinnerlichung der Autorität konnte das Kind allmählich eigenes Ansehen erlangen. Erfahrungen von Nähe waren außerordentlich selten und galten als Zeichen von Gunst. Die seltenen Erfahrungen der Nähe mit einem Vater oder einem Lehrer waren feierliche Momente, die sich im Gedächtnis des Kindes einprägten und die Autoritätsperson noch erhabener erscheinen ließen. Heutzutage im Zeichen eines deutlichen Wandels der kulturellen Bilder von Autorität wird Distanz anders erlebt (Hofstede, 2003). Wer heute versucht, die Distanz zu wahren, handelt nicht wie eine Person, deren erhöhter Status selbstverständlich ist, sondern wie jemand, der sich vor Statusverlust schützen will. Eine distanzierte Haltung wird folglich als Ausdruck der eingeschränkten Autorität erlebt. So mag sich z. B. ein Lehrer während der Pausen in das Lehrerzimmer zurückziehen, weil er fürchtet, auf dem Gang oder im Schulhof rücksichtslosen Schülern zu begegnen. Er oder sie spürt, dass der eigene Platz in der Schule nicht gesichert und geschützt ist. Das Lehrerzimmer wird zur letzen Zuflucht. Auf ähnliche Weise können auch Eltern, deren Ehre verletzt wurde, versuchen, ihre Wut durch Distanzierung zum Ausdruck zu bringen. Doch bringt diese Distanz nicht das gewünschte Ergebnis der
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Das Erleben einer neuen Autorität
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Disziplinierung, sondern trägt die Gefahr des Kontaktabbruchs in sich. Dies ist eine besondere Gefahr bei »beleidigten Vätern«. Wenn sie sich zurückziehen, spiegelt dies keine Autorität wider, sondern ist Zeichen ihres Verlustes. Der sich auf sich selbst zurückziehende Vater schafft es nicht mehr, die Führungsrolle einzunehmen, stattdessen findet er sich außerhalb des Spielfeldes wieder, sozusagen in selbst auferlegter Verstoßung, ohne Bedeutung, ohne Stimme und ohne Status (Walter, 2002).
Das Erleben einer neuen Autorität Kontrolle und Selbstkontrolle
Bei unserem Vorschlag, der Autorität eine neue Form zu geben, stehen nicht mehr die Reaktionen des Kindes (»Was hast du getan!«) im Mittelpunkt. Stattdessen rücken die Handlungen der Autoritätsperson in den Fokus. In der Vergangenheit nahmen Eltern und Lehrer an, dass sie Kontrolle über das Kind erlangen müssten, ihre Autorität wurde validiert durch die Verhaltensänderung des Kindes: Gab das Kind nach, war die Autorität bestätigt, widerstand es, musste die nächste Eskalationsstufe gesucht werden. Heutzutage ist dies eine problematische Zielsetzung. Neue Autorität geht von der Erkenntnis aus, dass absolute Kontrolle nicht nur nicht wünschenswert ist, sondern vor allem nicht möglich. Das erlaubt eine graduelle Veränderung der emotionalen Reaktionen und der Handlungen der Autoritätsperson, ihrer Aussagen, ihres Identitätsgefühls und ihrer körperlichen Reaktionen. Diese Veränderungen beginnen mit folgender Einsicht: »Ich kann die Gefühle, Gedanken und Reaktionen des Kindes nicht kontrollieren, sondern nur meine eigenen!« Diese Einsicht ist enttäuschend und gleichzeitig befreiend. Enttäuschend ist sie, weil der Wunsch, das Sein des Kindes von Grund auf formen zu können, zum Scheitern verurteilt ist. Das Kind ist nicht Rohmaterial in der Hand des Meisters, sondern ein eigenständiges Lebewesen, das je nach seinen Neigungen und Bedürfnissen handelt und reagiert. Kinder können nicht in dem Sinn »erzogen« werden, wie dies der Begriff nahe legt, sondern sie »erziehen« sich im Grunde selbst (Rotthaus, 2003).
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Ein neues Verständnis von Autorität
Das Befreiende der Einsicht, dass ein Kind nicht kontrolliert werden kann, liegt in der Aufhebung der Pflicht, das Kind kontrollieren zu müssen. Die Autoritätsperson kann sich auf ihre eigenen Handlungen konzentrieren, ohne das Fehlen von Gehorsam als einen Beweis ihres eigenen Versagens zu sehen. Eltern oder Lehrer können erleben, wie ihre Autorität durch Verstärkung der Präsenz und der Aufsicht wächst, ohne vom Gehorsam des Kindes abhängig zu sein. Die Aussage lautet nun: »Ich kann dich nicht dazu zwingen, nach meinem Wunsch zu handeln, aber ich werde in deiner Nähe sein und mich entschieden jeder negativen Verhaltensweise entgegenstellen!« oder einfacher gesagt: »Hier stehe ich! Ich kann nicht anders!« Diese Einstellung des Widerstehens statt der Logik der Kontrolle verleiht der Autoritätsperson neues Gewicht und wahrt gleichzeitig die Autonomie des Kindes. Widerstehen und Bestrafung spiegeln als Begriffe sehr deutlich die unterschiedlichen Logiken der Autorität: Bestrafung beabsichtigt, den Bestraften zu kontrollieren. Diese Logik ist besonders in der verhaltenstherapeutischen Terminologie auffällig, wo man von Verstärkern spricht. Selbst Belohnungen, die im psychologischen Sprachgebrauch »positive Verstärker« heißen, sind ein Mittel der Verhaltenskontrolle. Wenn ein Kind erkennt, dass Belohnungen und Bestrafungen den Kontrollwunsch der Autoritätsperson ausdrücken, kann das – je nach Altersstufe – zu widersprüchlichen Reaktionen führen. So können Belohnungen von positiven Verhaltensweisen gerade eine Verschlimmerung der problematischen Verhaltensweisen zur Folge haben, so als ob das Kind die Beziehungsbotschaft der Belohnung so beantwortet: »Ich werde dir zeigen, dass du mich nicht kontrollieren kannst – aber die Belohnung stecke ich trotzdem gern ein …« Bestrafungen können mit einer Art Gegenstrafe beantwortet werden oder zu einem hartnäckigen Beharren auf den kindlichen Standpunkten führen: »Okay, du willst mir das Taschengeld verbieten? Dann nimm doch gleich auch die Musikanlage aus meinem Zimmer! Die Möbel auch! Und wenn ich auf dem Fußboden schlafen muss, ich gebe nicht nach.«8 Diese Reaktionen drücken den Wunsch des Kindes 8 »Originalton« – schmerzliche Eigenerfahrung eines der Autoren mit einem seiner Kinder …
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Das Erleben einer neuen Autorität
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aus, der Autoritätsperson zu beweisen, dass sie keine Kontrolle über es hat. Der Widerstand gegen negative Verhaltensweisen des Kindes hat demgegenüber einen ganz anderen Schwerpunkt. Die Autoritätsperson widersetzt sich, darin besteht ihre Pflicht. Doch ihr ist bewusst, dass sie das Kind nicht zwingen kann, zu tun, was sie will. Der Unterschied zwischen Widerstand und Bestrafung ist nicht bloß semantisch, sondern drückt die veränderte Logik aus. Die Aufmerksamkeit einer Autoritätsperson, die Widerstandsmaßnahmen ergreift, richtet sich auf die eigenen Handlungen, dadurch kann die Person eine klare und überzeugende Haltung einnehmen. Demgegenüber gilt die Aufmerksamkeit bei der Bestrafung nur dem Resultat. Wenn also das Kind sein Verhalten nicht in die gewollte Richtung ändert, muss die Bestrafung gesteigert werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen Bestrafung und Widerstand liegt auch im Bezug zur Zeit: Bestrafung soll immer schnell effektiv sein, sie muss also direkt auf das Vorgefallene folgen. Widerstandsmaßnahmen hingegen werden gerade durch ihre Verzögerung verstärkt, ein Zeitaufschub ermöglicht es der Autoritätsperson, sich vorzubereiten und Unterstützung einzuholen. Die implizit vermittelte Beziehungsbotschaft ist für Bestrafung und Widerstand eine ganz andere. Die Bestrafung enthält eine explizite Drohung: »Wenn du Gewalt anwendest, bestrafe ich dich!« Die Botschaft des Widerstands nimmt auf die Pflicht der Autoritätsperson Bezug: »Es ist meine Pflicht, deiner Gewalt entgegenzuwirken – und ich bleibe an einer guten Beziehung zu dir interessiert!« Kinder können ausgezeichnet zwischen Bestrafung und Widerstand unterscheiden. Geschwister eines auffälligen Kindes reagieren z. B. mit Erstaunen, ja Ärger, wenn Eltern nach einem gewaltsamen Vorfall ein Sit-in als Ausdruck ihres Widerstands durchführen: »Ihr habt euch in sein Zimmer gesetzt, aber er hat gar keine Strafe bekommen!« Diese Reaktion ist auch unter Eltern weit verbreitet: »Wir können bei ihm bis zum Jüngsten Gericht sitzen. Was stört es ihn? Er wird ja nicht bestraft!« Eltern und Lehrer beschweren sich immer wieder: »Uns fehlen Sanktionen!« Diese Aussagen spiegeln den Glauben wider, dass eine Autorität nicht ohne Bestrafung existieren kann. Eltern, die ihrem Kind, das sich bis spät nachts
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Ein neues Verständnis von Autorität
herumtreibt, mitteilen, dass sie es aus der Nähe beaufsichtigen werden, wenden keine Bestrafung an, sondern sie zeigen ihre Bereitschaft, sich seinem gefährdenden Verhalten entgegenzustellen. Diese Widerstandsmaßnahmen vergrößern die Chance, dass die gefährlichen Verhaltensweisen des Kindes ohne Eskalation verringert werden, und sie stärken zugleich die Autorität der Eltern. Die neue Autorität verzichtet nicht aus Prinzip auf jede Form von Bestrafung, aber die Autoritätsposition ist nicht mehr von Bestrafungen abhängig und die Autoritätsperson muss sich nicht mehr in Frage gestellt fühlen, wenn sie sich gegen eine Bestrafung entscheidet. Anstelle der geläufigen Beschwerde »Uns fehlen Sanktionen!« eröffnen sich nun verschiedene Wege, wie man sich den negativen Verhaltensweisen des Kindes widersetzen kann, so dass Eskalationen vermindert werden. Die Abkehr von dem Wunsch, Kontrolle über das Kind zu erlangen, spiegelt sich auch allmählich in den Reaktionen des Kindes wider. Das Kind nimmt wahr, dass die Autoritätsperson nicht mehr nach dem Motto handelt: »Du wirst genau das tun, was ich will!« Stattdessen hört es: »Es ist meine Pflicht, so zu handeln, auch wenn du dich weiter unangemessen verhältst!« Das Ausbleiben einer Kontrollbotschaft seitens der Autorität verbannt nach und nach die Bedrohung einer demütigenden Niederlage, die für das Kind die Besserung seines Verhaltens oft fast unmöglich macht. Stattdessen lernt das Kind allmählich, dass kooperatives Verhalten gegenüber den Erwachsenen keinen Beweis für ihren Sieg und für die eigene Kapitulation darstellt. Hierdurch fördert die neue Autorität das Gefühl der Autonomie: Zusammenarbeit wird nicht mehr als Gehorsam erlebt, sondern als Wahlmöglichkeit. Bindung und Beziehung
Eine zentrale Veränderung in der Logik der neuen Autorität geht mit dem Verzicht auf einseitige Kontrolle einher. Es ist die Verschiebung des Fokus von dem, was das Kind gemacht hat – oder tun soll, auf die Beziehung zwischen Kind und Autoritätsperson (Omer und von Schlippe, 2004). Versuche, die kindlichen Auffälligkeiten mit Mitteln von Macht und Konsequenz wiederherzustellen, stehen in Gefahr, eine Ebene zu beschädigen, die bereits
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Das Erleben einer neuen Autorität
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beeinträchtigt ist, nämlich die der Beziehung zwischen Eltern und Kind bzw. Lehrperson und Kind: Beide Seiten befinden sich oft in Mustern, in denen die Eskalation droht, immer massiver anzusteigen. Maßnahmen, die sich vor allem auf eine äußere Verhaltensänderung des Kindes beziehen, könnten den Blick auf die unterbrochene oder beeinträchtigte Bindung zwischen Eltern und Kind verstellen, die sich eventuell in den Auffälligkeiten ausdrückt. Helm Stierlin hat bereits früh auf das Spannungsfeld von Bindung und Ausstoßung in Familien hingewiesen und betont, dass kindliche Symptome die Dynamik dieser Spannung widerspiegeln (Stierlin, 1978). Auch die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen, dass sich Störungen in der Ver-Bindung von Bezugspersonen und Kindern im symptomatischen Verhalten der Kinder wiederfinden lassen (Omer und von Schlippe, 2009). Das »affektive Tuning« oder die Affektabstimmung, also das Muster, wie sich Eltern und Kinder wechselseitig aufeinander einstimmen, ist nicht nur in der Säuglingszeit bedeutsam, sondern bildet den kontinuierlichen Boden, auf dem sich die Familienbeziehungen reproduzieren und allen Beteiligten ein Gefühl von Sicherheit, Stabilität und Ordnung bieten (Stern, 2006). Im Fall behandlungsbedürftiger Verhaltensauffälligkeiten sind diese Muster in negative, oft desorganisierte Teufelskreise abgeglitten, in denen keine positive Wechselseitigkeit mehr möglich scheint. Die besondere Herausforderung liegt in der Logik der neuen Autorität weniger darin, wie Eltern und Lehrer möglichst schnell und effektiv die Kontrolle über kindliche Auffälligkeiten gewinnen können, als vielmehr darin, wie eine unterbrochene Bindungsbeziehung wieder aufgenommen werden kann. Nicht die gelungene Verhaltenskontrolle ist in dieser Sicht das Ziel der Intervention, sondern ob es möglich ist, in einer Auseinandersetzung, in der man Präsenz zeigt, die Anschlussmöglichkeiten für die Wiederaufnahme von Beziehung zu verbessern. Die Stärke der Autoritätsperson zeigt sich damit als eine Art von Anker. Das Kind erlebt die Wahlfreiheit, sich daran zu binden, ohne damit zugleich gedemütigt zu sein. Stärke ist nicht mehr mit Macht gleichgesetzt, nicht mehr Mittel, den anderen zu kontrollieren, sondern bedeutet Wahrung der eigenen Präsenz, unabhängig vom Verhalten des Gegenübers.
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Ein neues Verständnis von Autorität
Die »Stärke des Ankers« vermittelt keine Bedrohung, ist aber zugleich alles andere als ohnmächtig: Sie kann nicht umgangen werden, man kann sie nicht einfach beiseite schieben, es ist eine Stärke des Beharrens. Die veränderte Logik der Autorität zeigt sich besonders, wenn das Kind zu experimentieren beginnt. Es mag versuchsweise sein problematisches Verhalten ändern, aber unter der aufsässigen und zugleich selbstwerterhaltenden Erklärung: »Ich habe es gemacht, weil ich es wollte!« Dies entspricht für uns der Erfahrung, dass das Kind sich wirklich frei fühlte, etwas anderes zu wollen. Anstatt der zwingenden Erwartung: »Wenn ich den anderen nicht kontrolliere, werde ich von ihm kontrolliert!«, ergibt sich jetzt die Möglichkeit, mitzumachen oder sich zu behaupten, ohne sich zum Duell verpflichtet zu fühlen. Wachsame Sorge
Elterliche Aufsicht ist ein ausschlaggebender Faktor für die Verminderung gefährdenden Verhaltens von Kindern und Jugendlichen (Pettit et al., 2001). Allein die Tatsache, dass Eltern wissen, wo sich ihr Kind aufhält und mit wem es zusammen ist, stärkt das Kind darin, Versuchungen zu widerstehen. Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die Aufsicht auch denjenigen Kindern Schutz bietet, die zum Opfer der Gewalt anderer Kinder werden. Eltern und Lehrer meinen oft, dass Aufsicht nur dann von Nutzen ist, wenn der Autoritätsperson Maßnahmen zur Verfügung stehen, um das Kind zur beabsichtigten Verhaltensweise zu bringen. Deswegen verzichten sie nur allzu oft auf die Aufsicht, vor allem wenn sie in der Logik der Kontrolle eigentlich lückenlos sein müsste – wofür die Mittel fehlen. Doch ist die Effektivität der Aufsicht ganz und gar nicht von weiteren Kontrollmitteln abhängig. Allein die Entschlossenheit, über die Ereignisse Bescheid zu wissen und sie von nahem zu verfolgen, verleiht der Autoritätsperson Präsenz und Bedeutung, auch ohne Sanktionen. Um diese entschlossene Präsenz und Aufsicht von der traditionellen Aufsicht im oben beschriebenen Sinne abzugrenzen, verwenden wir den Begriff der wachsamen Sorge. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gesteigerten wachsamen Sorge wird meist durch Vorfälle geweckt, die einen
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Das Erleben einer neuen Autorität
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neuen und bedrohlichen Aspekt im Leben des Kindes enthüllen. So entdecken z. B. Eltern, dass ihr Kind gefährliche Taten vor ihnen geheim gehalten hat, Lehrer decken ein negatives Verhalten in der Klassengemeinschaft auf. Das Ausmaß der Lügen und der Verheimlichung führen oft zu Bestürzung. Angesichts der Entdeckungen schwanken die Verantwortlichen zwischen Hilflosigkeit, Drohungen und Strafaktionen, deren Ziel es ist, dem Kind einzuschärfen, dass sein Verhalten sich unter keinen Umständen wiederholen darf. Hier zwei Beispiele: Der Vater eines 10-jährigen Mädchens erwischte seine Tochter bei der Lüge bezüglich der Nutzung von Geld, das er ihr für die Bezahlung von Privatstunden gegeben hatte. Der erschütterte Vater schwor, dass er im Leben nicht mehr mit ihr sprechen würde, sollte sie ihn nochmals anlügen. Die Lehrerin eines 16-jährigen Jungen entdeckte, dass er die Unterschrift seiner Mutter im Hausaufgabenheft über zwei Monate hinweg gefälscht hatte. Als die Lehrerin zu Hause anrief, um mit den Eltern zu sprechen, erkannte der Junge ihre Stimme und gab sich als sein eigener Vater aus. Die erschütterten Eltern brachten ihren Sohn zu einem Psychiater, der ihn als »pathologischen Lügner« diagnostizierte und die Einweisung in eine Psychiatrie vorschlug.
Angedrohte Strafen, das Zur-Schau-Stellen der eigenen Betroffenheit und Bestürzung oder eine individuelle Psychotherapie lösen die Probleme nur selten. Stattdessen ist es in der Logik der neuen Autorität sinnvoller, wenn die Autoritätsperson ihre Präsenz im Leben des Kindes verstärkt. Sie wird etwa vor jedem Ausgang des Kindes notwendige Informationen einfordern, auch wenn dies auf den heftigen Protest und Widerstand des Kindes stößt. Die Bereitschaft, im Leben des Kindes eine Rolle zu spielen und anwesend zu sein, ohne selbst in eskalierende Auseinandersetzungen gezogen zu werden, bewirkt eine bedeutende Veränderung in der Selbsterfahrung der Eltern und des Kindes. Wachsame Sorge erfordert eine Änderung sowohl in der Wahrnehmung des Aufgabenbereichs der Autoritätsperson als auch in der Definition der Privatsphäre des Kindes. Ein Kind, das sich
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normal entwickelt, erhält das Recht auf einen graduell sich vergrößernden Freiraum. Je eigenständiger es handeln kann, desto mehr nimmt die Einmischung der Eltern ab und sein persönlicher Handlungsspielraum zu. Das Verstärken der wachsamen Sorge als Reaktion auf destruktive Verhaltensweisen des Kindes ist grundsätzlich diesem Entwicklungsverlauf entgegengestellt. Eltern, die sich an eine begrenzte Einmischung gewöhnt haben, müssen diese nun ausweiten und Privatbereiche des Kindes einschränken, die längst selbstverständlich geworden sind. In dieser Situation sind viele Eltern abgeneigt, entschlossene Aufsichtsmaßnahmen durchzuführen. Handlungen wie die Kontaktaufnahme mit Eltern der Freunde ihres Kindes, um Informationen weiterzugeben oder um Nachricht über seinen Verbleib zu bitten, Überraschungsbesuche an dem Ort, an dem es gefährlichen Versuchungen ausgesetzt ist, werden oft als Verletzung stillschweigender Vereinbarungen empfunden. Diese Schritte bedürfen einer Vorbereitung, um mit der Angst, den Folgen und den voraussichtlichen Protestreaktionen des Kindes fertig zu werden. Eltern, die gemeinsam oder mit Unterstützung von außen handeln, meistern diese Angelegenheiten besser als Eltern, die versuchen, auf eigene Faust vorzugehen. Isoliert agierende Eltern fürchten sich eher und sind der Gefahr eskalierender Situationen stärker ausgesetzt als Eltern, die Unterstützung erhalten. Die Unterstützung hilft den Eltern auch, das Gefühl zu überwinden, dass durch die Ausübung der wachsamen Sorge die Grenzen ihres Aufgabenbereichs und des gesellschaftlich Erlaubten übertreten werden. Stattdessen fangen sie an zu verstehen, dass eben gerade durch ihre Bereitschaft, das Kind zu beaufsichtigen, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu seinen Eltern werden. Eine 15-jährige Jugendliche protestierte ungestüm, als ihre Mutter von ihr die Telefonnummern ihrer drei Freundinnen verlangte. Die Mutter tat dies, nachdem sich mehrere Male herausgestellt hatte, dass ihre Tochter sich nicht am vereinbarten Ort aufgehalten hatte und nicht zur versprochenen Stunde nach Hause gekommen war. Die Tochter reagierte auf die Forderung mit ihrer beständigen Aussage: »Keine der anderen Mütter fordert von meinen Freundinnen meine Telefonnummer ein!« Darauf antwortete die Mutter, die auf
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die Reaktion ihrer Tochter vorbereitet war: »Ich habe mich mit den Müttern von zweien deiner Freundinnen ausgetauscht, und die haben mir erzählt, dass sie auch angefangen haben, die Telefonnummern der Freunde zu verlangen.«
Auch die wachsame Sorge eines Lehrers fordert zuweilen das Überschreiten gewohnter Grenzen. Oft empfinden Lehrer das Klassenzimmer als angemessene Begrenzung ihres Handlungsspielraumes. Was auf dem Flur, auf dem Schulhof oder im Eingang zur Schule passiert, liegt außerhalb ihres Verantwortungsbereichs, ganz zu schweigen von Aktivitäten außerhalb der unmittelbaren Umgebung der Schule. Oft sind der Schulhof oder bestimmte Bereiche der Schule als »Schülerterritorium« definiert. Lehrer werden sich diesen Bereichen nicht nähern, ohne ein Gefühl fehlender Legitimation zu verspüren. Auch Schulbusse gelten oft als Territorium außerhalb der Reichweite von Lehrern. Meist sind diese von der Stadtverwaltung organisiert und somit nicht Teil des formalen Verantwortungsbereichs der Schule. Das Gefühl der Lehrer bezüglich der Grenzen ihres Handlungsspielraumes spiegelt sich auch im Gefühl der Kinder wider. So kann z. B. das Einmischen einer Lehrerin in einen Streit zwischen zwei Kindern auf dem Schulhof eine viel heftigere Reaktion auslösen als im Klassenraum. Wenn die Schule für alle Beteiligten ein sicherer Ort werden soll, so sind Veränderungen dieser Sichtweise notwendig. Untersuchungen über Gewalt an Schuleinrichtungen zeigen, dass die meisten Gewalttaten in Bereichen auftreten, in denen keine Lehrerpräsenz vorhanden ist. Bei den Interventionsprogrammen zur Gewaltvorbeugung sind jene besonders effektiv, die eine Ausdehnung der Lehrerpräsenz auf diese Bereiche vorsehen (Olweus, 2008; Limber, 2006; s. a. Lemme et al., 2009). Ähnlich wie die Eltern, tun sich viele Lehrer schwer, an den »verbotenen« Orten ohne jegliche Unterstützung und Vorbereitung Präsenz zu zeigen. Dabei geht es dabei nicht darum, dass sie eine weitere Bürde auferlegt bekommen, sondern dies ist ein wesentliches Mittel zur Wiederherstellung ihrer Autorität. Mit entsprechender Vorbereitung und Unterstützung trauen sich Lehrer schrittweise, ihre Aufsicht auf Bereiche außerhalb des Klassenraumes zu erweitern. Lehrer, die anfangs empfinden, dass sie in für sie verbotene Bereiche ein-
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dringen, entdecken schnell, dass viele Eltern und Schüler über ihre Aktivitäten froh sind und sie als Hilfe gegen mobbende Schüler willkommen heißen. Während dieses Prozesses verändert sich die Wahrnehmung der Autoritätsperson bezüglich ihres legitimen Handlungsspielraumes. Von jetzt an entscheiden Eltern und Lehrer über die Legitimität ihrer Präsenz in verschiedenen Bereichen je nach dem erforderlichen Grad an wachsamer Sorge. Orte, die vorher Tabu für den verantwortlichen Erwachsenen waren, können zu Bereichen werden, in denen ihre Präsenz besonders nötig ist. Unterstützung
Im Gegensatz zur Autorität früherer Zeiten betrachtet sich die Vertreterin der neuen Autorität nicht mehr als einsame Führungskraft, die über ihre Untergebenen herrscht, sondern als Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft, die Stärke und Legitimität aus der gegenseitigen Unterstützung schöpft. In der Logik der klassischen Autorität war die Suche nach Hilfe von außen ein Zeichen von Schwäche. Die heutige Autoritätsperson weiß stattdessen: »Meine Stärke stammt nicht nur von mir selbst, sondern auch von dem mich unterstützenden Netzwerk, das ich repräsentiere!« Heiko, ein 14-jähriger Junge, verhielt sich vor der ganzen Klasse unverschämt gegenüber seiner Mathematiklehrerin. Die Lehrerin, die bis dahin den neuen Schritten in der Schule zur Wiederherstellung der Lehrerautorität skeptisch gegenüber gestanden hatte, befürchtete dieses Mal, dass sie eine Niederlage in der direkten Auseinandersetzung mit dem Schüler erleben würde. Darum entschloss sie sich, Kontakt aufzunehmen mit der »Arbeitsgruppe zur gegenseitigen kollegialen Unterstützung«9. Das Team bot seine Hilfe jedem Lehrer an, der bei Schülern oder Eltern auf verletzendes oder gewalt tätiges Verhalten stieß. In der Arbeitsgruppe wurde überlegt, dass die Sportlehrerin bei der Besprechung des Vorfalls als Begleiterin für die Mathematiklehrerin fungieren sollte – unter anderem, 9 Das Konzept dieser »Arbeitsgruppen zur gegenseitigen Unterstützung« wird in Kapitel IV erläutert.
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weil Heiko ein ausgezeichneter Sportler war. Die Sportlehrerin saß daher neben der Mathematiklehrerin, als diese Heikos Eltern anrief. Sie erreichte die Mutter und erzählte ihr den Vorfall, fügte hinzu, dass die Sportlehrerin bei ihr sitze, und schlug eine Zusammenarbeit zwischen den dreien bei der Suche nach einer Problemlösung vor. Die Mutter fragte, warum die Sportlehrerin involviert sei. Die Mathematiklehrerin antwortete darauf: »An unserer Schule gibt es einen Grundsatz: Jede Verletzung eines Lehrers ist Angelegenheit der ganzen Lehrerschaft!« Die drei vereinbarten ein Treffen für den nächsten Morgen in der Schule, um über eine gemeinsame Vorgehensweise zu entscheiden. Heiko wurde wenige Minuten nach Beginn des Gesprächs dazugerufen. Die Sportlehrerin eröffnete das Gespräch und teilte ihm mit, dass man zusammen überlegen wolle, wie eine Wiedergutmachung aussehen könnte, die einerseits Heiko eine Suspension ersparen würde und andrerseits die Verletzung der Mathematiklehrerin wiedergutmachen würde. Heiko, der erstaunt war über die gemeinsame Vorbereitung der zwei Lehrerinnen und seiner Mutter, willigte ein, sich zu entschuldigen. Er verpflichtete sich, drei Fitnessstunden für eine Gruppe junger Sonderschüler abzuhalten. Am Ende des Treffens wurde vereinbart, dass die Mathematiklehrerin der Klasse von der Vereinbarung berichten würde, dies aber unter Berücksichtigung von Heikos Ehrgefühl. Am nächsten Morgen erstatte die Lehrerin der Klasse Bericht über das Treffen und die Vereinbarung mit Heiko. Bei der Lehrerversammlung erzählte die Lehrerin, dass sie sich nie so unterstützt und ruhig beim Umgang mit einem Schüler gefühlt habe, ganz zu schweigen von ihrem guten Gefühl in der Klasse nach einem solch beleidigenden Vorfall.
Dieser Fall zeigt den Zusammenhang zwischen Unterstützung und Eskalationsvorbeugung: Unterstützung verringert die empfundene Bedrohung und mäßigt dementsprechend die Reaktionen der Autoritätsperson. Eltern, die sich Unterstützung suchen, verspüren oft eine ähnliche Erleichterung: Sie fühlen sich nicht mehr genötigt, ihre Entscheidung mit drohenden Gesten bestärken zu müssen, und können stattdessen in aller Ruhe auf die Unterstützung der Helfer bauen. Ihre Stimme erhält mehr Gewicht, selbst wenn sie leise reden. Demgegenüber reagiert die isolierte
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Autoritätsperson unverhältnismäßig, um sich aus der Bedrängnis zu befreien – sie ist zum Machtkampf verdammt. Die weit verbreitete Auffassung, dass Autorität eine Frage des persönlichen Charismas sei, schadet vielen, denn die Lehrer, die dies nicht haben, haben keine Chance. Die Auffassung, dass Autorität von Unterstützung abhängt, befreit den Lehrer aus der Charisma-Falle. Die Autoritätsperson ist fortan nicht eine auf sich allein gestellte Führungsfigur, sondern Repräsentant eines Netzwerks, das sie unterstützt und ihre Autorität bekräftigt. Dieses Netzwerk ist auch ein Sicherheitsnetz, das dem Lehrer ermöglicht, nach dem Stolpern wieder aufzustehen. Der Übergang von der auf sich allein gestellten Autorität zur gemeinschaftlichen Autorität verändert die Erfahrung der Lehrer von Grund auf. Ein Lehrer, der vor einer bedeutsamen Herausforderung steht, wird sich fragen »Welche Hilfe kann ich von meinen Kollegen erhalten? Wie kann ich Unterstützung der Eltern einholen?« Seine Situation ist eine ganz andere als die des Lehrers, der sich fragt: »Wie kann ich ihm zeigen, dass ich hier bestimme?«, »Wie kann ich ihn zur Ordnung rufen?«, »Wie erteile ich ihm eine Lektion, die er sein Leben lang nicht vergessen wird?« Die Autoritätsperson, die ihre Kraft aus der Zusammenarbeit bezieht, ist von der »Mentalität des Zweikampfes« befreit, die für die machtorientierte Autorität so charakteristisch ist. Diese Veränderung spiegelt sich auch in der emotionalen und physischen Konstellation des Lehrers wider, der nicht mehr die Notwendigkeit empfindet, all seine physischen und psychischen Energieressourcen für die direkte Konfrontation mobilisieren zu müssen. Auf diesem Wege trägt die Arbeitsgemeinschaft um die neue Autorität erheblich zur Linderung des Burn-out-Syndroms bei Lehrern bei. Beharrlichkeit, Aufschub und Wiedergutmachung
In unserer Arbeit mit Eltern haben wir drei Redensarten geprägt, deren Zweck es ist, den Druck zu verringern, den Eltern empfinden, die vergeblich versuchen, sich als Autorität im herkömmlichen Sinn zu präsentieren: »Man muss nicht siegen, sondern beharrlich sein!«, »Man soll das Eisen schmieden, wenn es kalt ist!« und »Man darf sich irren, da Angelegenheiten auch wiedergutzu-
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machen sind!« Diese drei Aussagen weisen auf wesentliche Veränderungen in der Zeitwahrnehmung der Autoritätsperson hin: – Anstatt zu versuchen, einen endgültigen Sieg zu erringen, kann man eine allmähliche Veränderung anstreben, die auf Beharrlichkeit beruht. – Anstatt sofort zu reagieren, kann ein zeitlicher Aufschub zur Beruhigung aller Beteiligten, zur Vorbereitung und zur Einholung von Unterstützung geschaffen werden. – Anstelle einer linearen Zeitwahrnehmung, nach der man immer in die gleiche Richtung strebt, ist es möglich, auf vergangene Ereignisse zurückzukommen und Fehler wiedergutzumachen. Die Einsicht, dass Autorität auf Beharrlichkeit basieren kann, statt auf dem Bestreben nach einem »erlösenden Befreiungsschlag«, ist für viele Eltern und Lehrer/-innen bahnbrechend. Es herrscht noch immer die Meinung vor, dass den Forderungen der Autoritätsperson sofort Folge geleistet werden müsse. Jede Verzögerung in der Ausführung des Gehorsams weist auf die Schwäche der Autorität hin. Die Logik der neuen Autorität ist ganz anders. Autorität zeichnet sich nicht mehr durch die Unmittelbarkeit des Gehorsams aus, sondern durch Entschlossenheit und Beharrlichkeit. Beharrlichkeit bedeutet die Bereitschaft, immer wieder von neuem anzufangen, auch wenn die vorigen Versuche nicht das erwünschte Ergebnis gebracht haben. Beharrlichkeit ist nicht mit eiserner Konsequenz gleichzusetzen. Die Autoritätsperson darf sich durchaus einen Aufschub gönnen, sich zeitweilig zurückziehen und Handlungsweisen ändern. Sie ist aber dazu verpflichtet, ihre Präsenz zu zeigen und ihren Widerstand gegenüber destruktiven Verhaltensweisen des Kindes immer wieder aufzunehmen. Für die Autoritätsperson ist jeder Tag ein neuer Tag, und jeden Tag entdeckt das Kind aufs Neue – und oft durchaus verwundert, dass die Mutter als Mutter und der Lehrer als Lehrer ausharren. Die Beharrlichkeit der Autoritätsperson erreicht unter anderem ihr Ziel dank der positiven Stimmen im Wesen des Kindes. Mit der Annahme der »Vielstimmigkeit«, die wir in früheren Büchern erörtert haben (z. B. Omer und von Schlippe, 2004), gehen wir davon aus, dass die Handlungen von Menschen als Folgen eines inneren Dialogs zwischen verschiedenen Stimmen beschrieben werden
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können. Für das Kind heißt dies, dass unabhängig davon, wie destruktiv es sich verhalten mag, es in ihm Stimmen gibt, die eine Verbesserung seines Verhaltens erwünschen. Diese positiven Stimmen können in manchen Zeiten verborgen oder schwach sein, aber wir können davon ausgehen, dass sie existieren. Wenn die Autoritätsperson beharrlich bleibt und sich zugleich gewaltfrei, also nicht bedrohlich verhält, vergrößern sich die Chancen, dass die positiven Stimmen im Kind erreicht werden. Stellen wir uns die Seele des Kindes wie ein Kaleidoskop vor, in dem manchmal die positiven und manchmal die negativen Stimmen die Oberhand haben. Dank der Beharrlichkeit verbessern sich die Aussichten, dass das Kind auf kooperative Weise reagiert. Diese positiven Reaktionen setzen wiederum einen positiven Kreislauf in Gang und bieten eine Chance, dass sich die Bindungsbeziehung verbessert. Die Autoritätsperson früherer Zeiten zeichnete sich dadurch aus, dass jedes Anzeichen von Ungehorsam oder Impertinenz unmittelbar Wut auslöste. Auch heute hören wir rhetorische Fragen wie: »Was, ich soll schweigen, wenn er so redet?« oder den aufgebrachten Ausruf »Ich bin unter keinen Umständen bereit, das zu erdulden!« Diesen Aussagen liegt die eskalative Logik zugrunde, dass Zurückhaltung und Geduld die Autorität schwächen. Wenn der Vater oder der Lehrer »schweigt« oder etwas »erduldet«, so verletze er seine Würde und untergrabe seine Autorität. In der Logik der neuen Autorität hingegen gilt das eigene entschlossene Schweigen als Zeichen von Ausdauer und Beharrlichkeit. Dem Berater kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, indem er solche Erfahrungen bestätigend unterstützt. Der Berater könnte z. B. sagen: »Wenn Sie diese Situation ertragen konnten, ohne die Kontrolle zu verlieren, dann haben Sie die Grundlage Ihrer Autorität gelegt!« Sarah, Mutter der 14-jährigen Olga, versuchte nach einer Folge von Beleidigungen seitens ihrer Tochter, ein Sit-in durchzuführen. Olga reagierte auf das Sit-in mit Beschimpfungen, dem Werfen von Gegenständen und am Ende sogar mit physischer Gewalt. Sarah war von der Heftigkeit der Reaktion überrascht, stand auf und teilte ihrer Tochter mit, dass sie nicht weiter sitzen bleiben würde, dass sie aber die Gewalt der Tochter nicht widerstandslos hinnehmen würde. Sie kam mit einem Gefühl des Versagens zum Treffen mit der Beraterin.
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Diese fragte, wie lange sie denn im Zimmer ausgeharrt habe. Sarah sagte, sie habe eine Viertelstunde im Zimmer gesessen. Die Beraterin wies darauf hin, dass das Erdulden einer Viertelstunde unter solchen Bedingungen eine Leistung sei, auf der man einen weiteren Schritt aufbauen könne, solange Sarah ausreichende Hilfe habe. Sarah dokumentierte die Ereignisse des Sit-in und der vorangehenden Beleidigungen schriftlich und schickte diese Dokumentation an einige Familienmitglieder, an zwei Freundinnen und an ihren Wohnungsnachbarn. Diese Helfer riefen Olga an, erzählten, dass sie die Dokumentation erhalten hätten, dass sie Olga persönlich sehr schätzten und eine Lösung wünschten, die auch für Olga gut sei, dass sie aber, was die Beschimpfungen anbetraf, sehr deutlich an der Seite der Mutter ständen. Eine Woche darauf, beleidigte Olga die Mutter abermals in der Gegenwart einer Schulfreundin. Die Mutter rief ihren Nachbarn an und bat ihn, per Telefon anwesend zu sein, wenn sie das Zimmer ihrer Tochter betrete, um ihren Widerstand zu demonstrieren. Der Nachbar erklärte sich einverstanden, und die Mutter betrat das Zimmer mit dem Telefon in der Hand. Sie sagte ihrer Tochter und der Freundin, dass der Nachbar am Telefon mithöre, und teilte der Besucherin mit, dass sie leider gehen müsse, da sie nicht bereit sei, Freunde zu Besuch zu haben, wenn ihre Tochter sie so beleidige. Olga schimpfte und drohte, aber Sarah bat die Freundin noch einmal ruhig darum zu gehen. Olga verließ mit knallender Tür das Haus zusammen mit der Freundin. Später rief Sarah die Freundin ihrer Tochter an und sagte, dass ihr das Vorgefallene leid tue, stellte aber klar, dass sie angesichts der Beleidigungen nicht untätig dastehen könne. Die Freundin gab ihr Recht und sagte Sarah, dass dies auch ihrer Meinung sei und dass sie das Olga mitgeteilt habe. Während der nächsten Sitzung mit der Beraterin war Sarah auf ihre Handhabung der schwierigen Situation stolz. Die Beraterin hob die Kombination von Geduld und Beharrlichkeit hervor, die für Sarah die emotionale Grundlage ihrer sich rehabilitierenden Autorität bildeten.
Das Prinzip des Aufschubs (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!«) ist eine zweite wichtige Komponente der Zeitwahrnehmung. Im Autoritätsverständnis früherer Zeiten musste die Bestrafung unmittelbar auf die Missetat folgen. Eine direkte Reaktion galt als
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erforderlich, damit das Kind aus der Strafe lernt und nicht denkt, es habe gesiegt. Die neue Autorität baut auf anderen Prinzipien auf: – Eine aufgeschobene Reaktion ermöglicht der Autoritätsperson, sich vorzubereiten und Unterstützung einzuholen. – Dagegen besteht bei einem sofortigen disziplinarischen Vorgehen die große Gefahr, dass die Situation eskaliert. – Eine aufgeschobene Reaktion weist auf die Kontinuität der Handlungen der Autoritätsperson hin. Während des Vorfalls selber kann die Autoritätsperson (ohne drohenden Unterton!) sagen: »Ich bin nicht bereit, solches Verhalten hinzunehmen. Ich werde auf den Vorfall zurückkommen!« Nach den Vorbereitungen bezieht sich die Autoritätsperson tatsächlich auf den Vorfall und macht ihren Widerstand deutlich. Die erste Reaktion der Autoritätsperson besteht somit in Selbstbeherrschung. Eine laute Auseinandersetzung, hastige und unüberlegte Bestrafungen oder der Versuch, die Anerkennung der Autorität zu erzwingen, werden vermieden. Diese Selbstbeherrschung wird als innere Stärke erlebt, da die Autoritätsperson weiß, dass sie auf die Ereignisse zurückkommen und den Vorfall behandeln wird. Auch das Kind ist oft beeindruckt, wenn die Autoritätsperson zeigt, dass sie fähig ist, ihre Reaktion aufzuschieben und ihre Präsenz anschließend zu demonstrieren. Kinder bringen dies in eindeutiger Weise zum Ausdruck: »Was, erinnerst du dich noch daran?« Diese Aussage enthält eine positive Färbung, da das Kind entdeckt, dass die Autoritätsperson sich auch in der Zwischenzeit weiter mit ihm auseinandergesetzt hat. Dadurch erleben sowohl Eltern als auch Kinder diese Form der Autorität als Ausdruck ihrer Beständigkeit. Eine 14-jährige Jugendliche sah, wie ihr Vater als Folge von Auseinandersetzungen mit ihr begann, das Buch »Autorität ohne Gewalt« zu lesen. Sie erzählte ihrer Mutter, sie sei überrascht, dass ihr Vater auch in seiner Freizeit an sie denke.
Die Möglichkeit, Fehler wiedergutzumachen, fügt der Zeitwahrnehmung der neuen Autorität eine dritte Dimension hinzu. Während sich die Autorität früherer Zeiten unfehlbar gebärden konnte,
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kann und braucht die heutige Autorität nicht an diesem Image festzuhalten. Die neue Autorität zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, Fehler zuzugeben und sie wiedergutzumachen. In unserer Arbeit mit Eltern zur Wiederherstellung ihrer Autorität haben wir gezeigt, wie Eltern, die zu solchen Wiedergutmachungstaten bereit sind, ihre Legitimation als Autorität in ihren eigenen Augen und in den Augen des Kindes stärken. Das Eingeständnis wird zu einer Geste der Versöhnung und befreit die Beziehung zwischen Eltern und Kind von der Last früherer Konflikte. Die moralische Wertschätzung der Eltern wächst, wenn sie Fehler eingestehen und Verantwortung für ihr Handeln offenbaren. Mario und Karen, die Eltern des 10-jährigen Udo, kamen zur Beratung wegen des gewalttätigen Verhaltens ihres Sohnes zu Hause und in der Schule. Die Mutter wendete ein Token-System an, bei dem sie Udo 5 Punkte für jeden Tag ohne Gewaltanwendung gutschrieb. Sie versprach ihm eine Playstation®, wenn er 100 Punkte erreicht habe. Die Zettel mit der Punktesammlung waren auf einem Brett in Udos Zimmer aufgehängt. Nach einem besonders schweren Vorfall, bei dem Udo einen Klassenkameraden geschlagen hatte, gab die Mutter jedoch bekannt, dass das System seinen Wert verloren habe, und nahm die Tabelle vom Brett weg. Udo, der schon mehr als die Hälfte der Punkte gesammelt hatte, reagierte mit Wut und heftigen Beschuldigungen. Die nächste Beratungsstunde der Eltern war etwa eine Woche später. Karen spürte, dass sie Udo mit ihrer impulsiven Bestrafung Unrecht getan hatte. Das Gespräch konzentrierte sich auf die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung im Rahmen des gewaltsamen Vorfalls in der Schule, gab aber gleichzeitig Karen eine Gelegenheit, ihren Fehler richtigzustellen. Es wurden zwei parallele Maßnahmen geplant und ausgeführt: Die Eltern gingen gemeinsam zu Udo und die Mutter sagte: »Wir haben einen Fehler gemacht und uns entschieden, ihn wieder richtigzustellen. Es war nicht in Ordnung, die Punktetabelle herunterzunehmen. Ich werde sie wieder aufhängen, und alle Punkte, die du schon gesammelt hast, bleiben stehen!« Zusätzlich teilten die Eltern Udo mit, dass er sich bei dem Jungen, den er geschlagen hatte, entschuldigen müsse und auch einen positiven Schritt auf die Klasse zu tun solle,
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da sein Wutanfall nicht nur den Jungen, sondern die ganze Klasse verletzt habe. Sie schlugen vor, gemeinsam als Familie zu handeln, um Udo zu helfen, diese Aufgabe auf gebührende Weise zu meistern. Die Eltern erklärten ihm auch, dass sie bei der Wiedergutmachung mitwirken wollten, da sie als Eltern Teil der Verantwortung für sein Betragen trügen. Die Lehrerin lud den betroffenen Schüler in das Zimmer neben dem Büro des Schulleiters ein, wo Udo und seine Eltern auf ihn warteten. Die Eltern überreichten ihm gemeinsam mit Udo einen von Udo unterschriebenen Entschuldigungsbrief. Sie brachten auch einen Kuchen in die Klasse mit, den sie gemeinsam mit Udo gebacken hatten, als Wiedergutmachung für Udos Wutanfall gegenüber der Klassengemeinschaft. Am Ende des Tages berichtete die Lehrerin, dass Udo und seine Eltern sich gemeinsam bei dem betroffenen Jungen entschuldigt hatten und dass Udo mit seinen Eltern einen Kuchen gebacken hatte als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der Klasse. Udo und die Lehrerin schnitten den Kuchen in Scheiben und alle Kinder bedienten sich. Der Vater leistete einen ganz besonderen Beitrag, indem er Udo am Ende des Tages für seine Wiedergutmachungstaten auszeichnete und ihn für die Wiederherstellung der Token-Tafel beglückwünschte. Er fügte stolz hinzu: »In unserer Familie handeln wir nach dem Prinzip: Einer für alle, alle für einen! Wir sind jederzeit bereit, dir zu helfen, übernehmen gemeinsam mit dir die Verantwortung und unterstützen dich dabei, Dinge wiedergutzumachen. Ich bin mir sicher, dass auch du bereit sein wirst, mir zu helfen, sollte ich einmal in Schwierigkeiten sein.«
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass durch diese Maßnahmen die positiven Stimmen im Kind nicht berührt werden. Die Wiedereinführung der Punktesammlung war nicht nur ein Schritt der »ehrenvollen Wiedergutmachung«, sondern festigte auch die Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind. Die Eltern setzten ein persönliches Beispiel, dass das Eingestehen von Fehlern, das Aussprechen von Reue und eine Wiedergutmachung die Ehre der Person nicht herabsetzen, sondern das Gegenteil bewirken. Es sind Schritte, die die Bedeutung der vergangenen Vorfälle verändern und sie in ein neues Licht stellen: Die Wiedergutmachung verwandelt eine Krise in eine positive Gelegenheit, indem einer-
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seits mit Reue in die Vergangenheit, andererseits mit Hoffnung in die Zukunft geschaut wird. Der Mut zur Wiedergutmachung ist ein Wahrzeichen der neuen Autorität, die nicht mehr allwissend ist, sondern die sich irren kann und bereit ist, Fehler richtigzustellen. Auf diese Weise erlangt die Autoritätsperson das Recht, dem Kind einen ähnlichen Weg zu weisen. Wir werden im Verlauf des Buches sehen, dass die Forderung nach Wiedergutmachung eine der bevorzugten Reaktionen der neuen Autorität auf Missetaten des Kindes darstellt. Die Autoritätsperson wendet alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel an, um eine Wiedergutmachung zu initiieren, wie z. B. das Demonstrieren überzeugender Präsenz, die Unterstützung durch Helfer, Druck durch die öffentliche Meinung und das Ansprechen positiver innerer Stimmen des Kindes. Im Gegensatz zur konventionellen Strafe stellt die Wiedergutmachung das Kind und den Erwachsenen Seite an Seite und nicht wie im Kampf einander gegenüber (Grabbe, 2009). Wir haben dargelegt, warum der Versuch, die Autorität früherer Zeiten durch eine machtorientierte Auseinandersetzung wiederherzustellen, zum Scheitern verurteilt ist. Eltern und Lehrer, die dieses Ziel anstreben, werden zu tragischen Figuren, die erfolglos versuchen, eine verlorene Welt zurückzuholen. Demgegenüber basiert der Status der neuen Autorität auf einem fortwährenden Prozess. Früher war das Ergebnis der Auseinandersetzung eindeutig: Das Kind gehorchte bzw. wurde bestraft oder »siegte«. Bei der neuen Autorität bildet der jeweilige Ausgang nur den Anfang eines Prozesses. Die Zeit wird für die Ausübung von Autorität zu einem zentralen Faktor. Was früher den Schlussakkord darstellte, wird heute Eröffnungstakt. Die neue Autorität gewinnt an Tiefe und Gewicht durch ihre Bereitschaft, auf ihrem Standpunkt zu beharren, Reaktionen aufzuschieben, Fehler wiedergutzumachen und vom Kind Wiedergutmachungen einzufordern. Ihr Status wird nicht durch eine drohende Geste erreicht, sondern durch die geduldige Anwendung des Zeitfaktors. Ehre und Stolz
Wir haben gesehen, dass die Ehre eine der grundlegenden Wertvorstellungen des Autoritätsverständnisses früherer Zeiten ist. Die
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Notwendigkeit, die Ehre zu schützen oder die verletzte Ehre wiederherzustellen, stellt einen zentralen Beweggrund für Strafmaßnahmen dar. Die Forscher Nisbett und Cohn haben in ihrem Buch »Culture of honour« (1996) gezeigt, dass in Gesellschaften, in denen Ehre einen hohen Stellenwert hat, die Häufigkeit von blutigen Vorfällen als Folge von persönlicher oder familiärer Ehrverletzungen rapide zunimmt. Der Begriff der Ehre zwingt diejenigen, die für sie eintreten, zu Vergeltungsmaßnahmen. In dieser Situation ist jeder Versuch, anders zu reagieren als mit der angeblich erforderlichen Vergeltung, ein Ausdruck von persönlicher und moralischer Schwäche. Dieses Gefühl zwingt viele Eltern und Lehrer zu Strafmaßnahmen, die als unumgänglich erlebt werden. Die Werte der neuen Autorität ermöglichen eine Veränderung dieser Wahrnehmung. Selbstbeherrschung wird von Schwäche in Tugend verwandelt. Statt dass man sich dem unverschämten Kind gegenüber erniedrigt fühlt, kann die heutige Autoritätsperson geradezu stolz sein auf ihre Zurückhaltung, auf ihre Fähigkeit, angesichts der Provokationen innere Ruhe zu bewahren, und stolz auf ihr Wissen, dass sie später auf überlegte, legitime und überzeugende Weise reagieren kann. Es fällt besonders jenen Autoritätspersonen schwer, diese emotionale Veränderung herbeizuführen, deren Status von vornherein erschüttert ist. Wie kann man Lehrern ein Gefühl von Stolz vermitteln, deren Ansehen in der Gesellschaft – und vielleicht auch in ihren eigenen Augen – niedriger denn je ist? Oder Eltern, die sich schon lange an die tagtäglichen Erniedrigungen durch ihr Kind gewöhnt haben und vielleicht sogar glauben, dass sie die Hauptschuld am extremen Verhalten des Kindes tragen? Das Konzept des gewaltfreien Widerstands bietet die Antwort auf diese Frage. Dieses Konzept wurde im gesellschaftspolitischen Bereich für lang unterdrückte Gruppierungen entwickelt, die unter äußerster Hoffnungslosigkeit und Minderwertigkeitsgefühlen litten. Gandhi, der wichtigste Vertreter dieses Konzepts, betonte wiederholt, dass schon bei der ersten Erfahrung des gemeinsamen gewaltfreien Widerstands sich beinahe über Nacht ein Persönlichkeitswandel vollzieht: Aus einer unterdrückten Person wird eine stolze, engagierte und gewaltfreie Widerständlerin. In verschiede-
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nen Veröffentlichungen (z. B. Omer und von Schlippe, 2002; 2004; 2009; von Schlippe und Grabbe, 2007) haben wir versucht, diese Ideen vom gesellschaftlichen Schauplatz auf die Familie zu übertragen. Unsere Erfahrung mit vielen Eltern und Lehrer/-innen bestätigt Gandhis Beobachtungen: Das Gefühl der Niederlage und der Hoffnungslosigkeit wird schnell durch ein Gefühl von Stolz und Berufung ersetzt (Ollefs et al., 2009). Die Quellen für den Stolz der Autoritätsperson, die solche Werte übernimmt, sind selbstverständlich ganz andere als die der Ehre bei der Autorität früherer Zeiten. Während das Gefühl von Ehre früher eng mit der Ehrerbietung oder der Respektlosigkeit des Kindes verbunden war, so wird der Stolz der heutigen Autoritätsperson aus ihren eigenen Handlungen heraus bestätigt. Der Selbstwert der Eltern und Lehrer nimmt dann zu, wenn sie beharrlich sind, standhalten und ihre Präsenz verstärken. Er steigt, wenn sie einen Widerhall, Unterstützung und Respekt von ihren Kollegen und anderen Helfern erhalten. Die Verinnerlichung dieser Werte stellt den üblichen Sachverhalt auf den Kopf. Die heutige Autoritätsperson fühlt sich gerade dann schlecht, wenn sie sich zu einer heftigen Reaktion als Vergeltung auf eine Provokation hinreißen lässt. Daher verletzt die Logik der Autorität früherer Zeiten den Stolz der neuen Autorität. Die Befreiung aus dem Gefühl des Zwangs und der Einengung
Allen oben geschilderten Erlebensaspekten liegt ein gemeinsamer Nenner zugrunde: Die Befreiung der Autoritätsperson aus dem Gefühl des Zwangs und der Einengung in Bezug auf Raum, Zeit, Vergeltungspflicht und Kontrollausübung. Gerald Patterson (1982) beschrieb die Verhältnisse von Eltern und Kindern in Familien mit hohem Gewaltniveau als »coercive«, d. h. durch gegenseitigen Zwang bestimmt: Die Eltern empfinden den Zwang, dem Kind ihre Autorität deutlich machen zu müssen, während das Kind den Zwang empfindet, gegenüber den Eltern seinen Willen durchsetzen zu müssen. Beide Seiten leben in der Angst, selber ausgelöscht zu werden, falls sie dem Anderen unterliegen. Unter diesen Bedingungen hat die Autoritätsperson keinen Freiheitsgrad. Sie ist verpflichtet, schnellstens und scharf zu bestrafen und zu vergelten,
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Ein neues Verständnis von Autorität
sonst verliert sie ihr Ansehen. Folglich wird die Autoritätsperson zum Sklaven ihrer eigenen Autorität. Die Situation sieht für die neue Autorität anders aus. Sie wird nicht mehr von der lähmenden Angst bestimmt, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie nicht sofort und in aller Stärke reagiert. Stattdessen eröffnen sich für die Autoritätsperson neue Möglichkeiten bezüglich der Zeit, dem Ort und der Art ihrer Maßnahmen. Das folgende Beispiel verdeutlicht, wie dieser neu gewonnene Freiraum bezüglich der Reaktionsweisen, der Zeitvorgabe, und den zwischenmenschlichen Grenzen den Eltern eine ganz andere Erfahrung von Autorität ermöglicht. Der 11-jährige Dan bestrafte seine Eltern (Hanno und Sylvie) mit einer absichtlichen Zerstörung ihres Besitzes. Er hatte schon die Klimaanlage beschädigt, weil die Eltern nicht bereit gewesen waren, sie nach seinem Willen an- oder auszuschalten, Sylvies Auto demoliert, weil sie ihn nicht zum Fußball gefahren hatte, und Gegenstände seiner großen Schwester zerstört, weil sie ihm den Computer nicht auf seine Forderung übergeben hatte. Die Eltern hatten auf diese Ereignisse mit Wutausbrüchen und mit schwersten Strafen reagiert (»Du verlässt einen Monat lang nicht das Haus!«), konnten diese aber nicht durchhalten. Sie rechtfertigten die strengen Strafmaßnahmen mit ihrer Erschütterung und mit der Notwendigkeit, ihm ein für alle Mal zeigen zu müssen, dass solche Verhaltensweisen verboten waren. Zu ihrem Bedauern waren die Strafen nicht effektiv. Dan verschanzte sich nur noch mehr hinter seiner feindseligen und destruktiven Haltung. Als Dan böswillig Lieder, die seine Mutter geschrieben hatte, auf ihrem Computer löschte, entschieden die Eltern, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Sie hatten das Gefühl, dass ihr Leben unerträglich geworden und ihre Beziehung zu Dan an einem Tiefpunkt war. Ihnen war klar, dass sie enorme Mühen würden auf sich nehmen müssen, um die Krise zu überwinden, die die ganze Familie betraf. Nach der ersten Beratungsstunde dokumentierten die Eltern alle destruktiven Verhaltensweisen von Dan, riefen eine Gruppe von zwölf Helfern zusammen und verteilten unter ihnen die Seiten mit den Schilderungen. Am nächsten Morgen riefen sie vier der Helfer zusammen und teilten Dan in deren Anwesenheit ihre Entscheidung mit, sein Taschen-
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Das Erleben einer neuen Autorität
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geld um die Hälfte zu kürzen, als symbolische Entschädigung für die Schäden, die er angerichtet hatte. Des Weiteren sagten sie ihm, dass sie sein Ausgehen mit Freunden verbieten würden, bis sie eine zufriedenstellende Regelung bezüglich all seiner Zerstörungen erreicht hätten. Sie teilten Dan mit, dass sie ihn bei seinen Freunden suchen würden, sollte er trotz des Verbots das Haus verlassen. Dan tobte, aber nicht so schlimm, wie die Eltern befürchtet hatten. Während der ersten zehn Tage dieser Intervention waren immer zwei der Helfer im Hause. Die Anwesenheit der Helfer unterstützte die Eltern, Dan zu beaufsichtigen, und beugte handgreiflichen Wutausbrüchen von seiner Seite vor. Am zweiten Tag ging Dan ohne Erlaubnis zu einem seiner Freunde. Die Eltern riefen alle seine Freunde an, um herauszufinden, wo er sich befand. Sie baten die Freunde und deren Eltern, Dan auszurichten, dass seine Eltern angerufen hätten und ihn suchten. Hanno und einer der Nachbarn fuhren schließlich zum Haus des Freundes, bei dem Dan sich aufhielt. Sie redeten mit der Mutter des Freundes und teilten ihr mit, dass Dan sich ohne Erlaubnis bei ihr befinde und dass sie gekommen seien, um ihn nach Hause zu holen. Als Dan sie sah, war er überrascht, fluchte und rannte davon. Hanno und der Helfer blieben noch eine Weile und führten ein Gespräch mit Dans Freund und dessen Mutter. Sie erzählten, der Grund für ihr Verhalten sei, dass Dan absichtlich ihr Eigentum zerstöre und dass er als Letztes den Ordner mit den Liedern seiner Mutter auf dem Computer gelöscht habe. Sie teilten dem Freund und seiner Mutter mit, dass sie bereit seien, das Ausgehverbot aufzuheben, sollte Dan sich zu einer symbolischen Wiedergutmachung bereit erklären und sich verpflichten, kein fremdes Eigentum mehr zu zerstören. Hanno fragte Dans Freund, ob er bereit sei, diesen Vorschlag an Dan weiterzugeben, und fragte auch, ob der Vorschlag seiner Meinung nach fair sei. Dan kehrte spät in der Nacht nach Hause zurück, und sein Vater übernachtete bei ihm im Zimmer. Schon während dieser Maßnahmen spürten die Eltern, dass sie sich viel weniger in ihren Handlungen eingeengt fühlten. Sie weiteten ihren Handlungsspielraum auf Gebiete außerhalb des Hauses aus, verstärkten ihre Kontakte zu Helfern, zu Dans Freunden und deren Eltern. Sie fingen an, ihre Handlungen in einem Zeitrahmen von Wochen oder sogar Monaten zu betrachten. Sie begriffen, dass, selbst wenn Dans Reaktionen außerhalb ihrer Kontrolle lagen,
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sie doch ihre passive Haltung als Opfer seiner Misshandlungen ändern konnten. Diese Veränderung eröffnete den Weg zu einem weiteren gewagten Unterfangen. Sie luden Dan mit seinem Großvater und seinem Onkel, denen er besonders nahe stand, auf einen Wochenendausflug in eine Pension im Norden des Landes ein. Die vier Erwachsenen nahmen Dan mit auf eine lange Wanderung und setzten sich am Ende gemeinsam mit Blick auf das Meer hin. Die Eltern sagten zu Dan: »Wir sehen dies hier als eine Friedenskonferenz. Wir werden warten und miteinander sprechen, bis wir eine Lösung gefunden haben!« Dan erwiderte, dass er kein Interesse an irgendeinem Gespräch oder an einer Lösung habe. Darauf antworteten die Eltern nicht. Der Großvater und der Onkel blieben einige Stunden bei Dan, die meiste Zeit in Schweigen versunken. Während der ersten Nacht gingen die Eltern und Dan schlafen, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Dasselbe wiederholte sich auch am folgenden Tag: eine mehrstündige Wanderung in der Natur, ein Sitzplatz mit Blick auf das Meer und der Versuch der beiden Vermittler, Dan gut zuzureden. Am dritten Tag wurde der Onkel von Tom abgelöst, einem Familienfreund, der Dan zum Angeln an den See mitzunehmen pflegte. Er unternahm mit Dan einen langen nächtlichen Ausflug, an dessen Abschluss er Dan fragte, ob er seine Vermittlung wolle, um den Eltern einen auch für Dan annehmbaren Vorschlag zu einer Wiedergutmachungstat zu unterbreiten. Tom versprach Dan, seine Ehre zu schützen, sagte aber gleichzeitig, dass es schwierig sein würde, eine Lösung zu finden, sollte Dan sich nicht verpflichten, von weiteren Zerstörungen in der Zukunft abzusehen. Dan willigte ein, forderte aber, dass das Ausgehverbot zu seinen Freunden aufgehoben würde und er sein Taschengeld wieder erhielte. Tom sagte, dass es spät sei und sie die Diskussion auf den nächsten Tag verschieben müssten. Am nächsten Morgen blieb der Großvater bei Dan und Tom sonderte sich mit den Eltern ab, um mit ihnen zu sprechen. Am Ende des Gesprächs kehrte er zu Dan zurück und sagte ihm, dass immer noch keine Lösung gefunden worden sei, da nicht klar sei, wie Dan die persönliche Verletzung der Eltern wiedergutmachen könne. Er bot an, Dan bei der Wiedergutmachung zu helfen: Er würde Dan beibringen, wie man ein Auto gründlich wäscht, und Dan würde für einen Monat jede Woche das Auto der Eltern
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Das Erleben einer neuen Autorität
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waschen. Er bot außerdem an zu versuchen, die Milderung der Taschengeldkürzung zu erreichen, warnte aber, dass sich in diesem Fall die Erstattung der Schäden wahrscheinlich hinziehen würde. Am Abend desselben Tages brach Dan in Tränen aus. Er sagte Tom, dass er sich »den Forderungen der Eltern nicht ergeben« könne. Die Familie kehrte nach Hause zurück, ohne eine Lösung erreicht zu haben. Während der Beratungsstunde nach diesem Wochenende wurde deutlich, dass Hanno und Sylvie unterschiedliche Auffassungen vertraten. Hanno war der Meinung, dass eine bedeutende Veränderung stattgefunden habe, da er und Sylvie sich nun frei fühlten zu handeln. Sylvie hingegen glaubte, dass Dan nicht genug bestraft worden sei und dass die Tatsache, dass er auf seiner Position beharre, dies beweise, auch wenn sie die Veränderung in ihrer Stellung und in ihrer Haltung erkannte. Während der zwei folgenden Wochen normalisierte sich die Lage im Hause allmählich. Das Ausgehverbot zu Dans Freunden wurde aufgehoben, aber die Eltern kürzten weiterhin sein Taschengeld um die Hälfte. Doch ihr Verhalten Dan gegenüber wurde wieder freundschaftlicher. Dan verhielt sich vorsichtig, als ob er auf Zehenspitzen ginge. Tom kam weiterhin ein Mal die Woche, um Dan zu einem gemeinsamen Ausflug mitzunehmen. Er bot sich als »Blitzableiter« an, sollte Dan in Schwierigkeiten geraten: »Ruf mich an, und wir können reden oder zusammen etwas unternehmen!« Der Großvater sagte Dan, dass er ein enormes Durchhaltevermögen bewiesen habe, fügte aber hinzu: »Ich hoffe, dass du in Zukunft dein Durchhaltevermögen klüger einsetzen wirst und nicht wie ein Dummkopf!« Am zweiten darauffolgenden Wochenende wusch Dan das Auto seiner Eltern auf eigene Initiative hin. Auch in der nächsten Woche wusch er das Auto. Die Eltern teilten Dan mit, dass sie die Taschengeldsenkung von 50 % auf 15 % reduzieren würden, damit er wieder mit seinen Freunden ausgehen könne, ohne sich zu schämen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Beratungsgespräche der Eltern beendet, aber der Berater blieb für Notfälle erreichbar. Anderthalb Jahre später schickten die Eltern dem Berater eine Einladung zu Dans Bar-Mitzwa-Feier. Sie erzählten, dass sich die Atmosphäre zu Hause vollkommen verändert habe. Während der ganzen Zeit hatte es keine Vorfälle mehr von vorsätzlicher Zerstörung oder Gewalt gegeben. Im beigelegten Brief erzählten die Eltern auch, dass
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Ein neues Verständnis von Autorität
sie Dan in ein Restaurant ausgeführt und ihm dort mitgeteilt hätten, dass die Angelegenheit für sie nun abgeschlossen sei. Sie fügten hinzu, dass Dan nicht geantwortet habe, aber Tränen in den Augen gehabt hätte. Der letzte Satz des Briefes lautete: »Wir hätten nie geglaubt, dass wir imstande sein würden, solch ein Durchhaltevermögen an den Tag zu legen!«
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Kapitel II Wachsame Sorge in der Familie1
Die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder aufmerksam und fürsorglich zu beaufsichtigen, gilt als entscheidender Faktor in der Verhinderung vieler Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern2. Viele Eltern haben kaum eine Vorstellung, welche Bedeutung eine solche aufmerksame und präsente Aufsicht hat, vor allem aber, wie sie diese Haltung wirksam im Alltag zum Ausdruck bringen könnten, insbesondere unter den erschwerten Bedingungen einer anonymen und an Versuchungen reichen Großstadt. Für die Verwirklichung einer neuen Qualität von Autorität, wie sie im letzten Kapitel skizziert wurde, ist dieses Thema sehr bedeutsam. Diese elterliche Haltung wird oft als »Supervision« bezeichnet, was distanziert und technisch klingt, ähnlich auch das amerikanische »Monitoring«. Wir bevorzugen den Begriff wachsame Sorge. Wenn die Haltung der Eltern auf Präsenz aufgebaut wird, ist dies ein Unterschied, der nicht nur semantisch ist. Damit ist ausgedrückt, dass es darum geht, dass Eltern im Leben ihres Kindes anwesend sind. Wachsame Sorge ist eine Form von Autorität, die sich nicht aus Kontrollbedürfnis heraus versteht. Sie ist definiert über die Botschaft der Eltern an das Kind: »Wir sind deine Eltern und bleiben es! Wir bleiben da, wenn es harmonisch und angenehm, aber auch wenn es unangenehm und herausfordernd zugeht!« (z. B. Omer und von Schlippe, 2002; 2004). 1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Idan Amiel und Iris Shachar geschrieben. 2 Nachgewiesen wurde dies beispielsweise bei Selbstgefährdung und Unfällen bei Kindern, Gewalt und Schlägereien, Herumtreiben, Verschlechterung der schulischen Leistungen, Schulabbruch, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum und anderen gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen, Mitgliedschaft in zweifelhaften Jugendbanden, Kriminalität, sexueller Promiskuität u. a. (Pettit et al., 2001; Fletcher et al., 2004; Borduin et al., 1995).
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Wachsame Sorge in der Familie
Komponenten der elterlichen wachsamen Sorge Die Komponenten der elterlichen wachsamen Sorge werden schon beim Umgang einer Mutter mit ihrem Baby deutlich: – Aufmerksamkeit: Eine Mutter entwickelt eine ganz spezielle Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse ihres Babys. Selbst wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt ist, bleibt sie für kleinste Signale des Kindes sensibel. Sprichwörtlich wird der Schlaf einer Mutter nicht durch einen lärmenden Bulldozer unter ihrem Fenster gestört, aber beim kleinsten Pieps des Kindes erwacht sie. Die mütterliche Aufmerksamkeit ist wie ein Babyphon, dessen Kommunikationskanal immer auf Empfang geschaltet ist. – Präsenz: Weil die Aufmerksamkeit der Mutter immer mit einem Ohr oder Auge auf das Baby gerichtet ist, kann sie entscheiden, ob sie aus der Ferne aufpassen kann oder ob ihre direkte Präsenz nötig ist. Sobald das Baby Not signalisiert oder Bedürfnisse äußert, nähert sich die Mutter, um die Situation zu überprüfen, oder nimmt das Baby auf den Arm. Sobald sie etwas Besorgniserregendes hört, begibt sie sich in die Nähe des Babys, um es jederzeit in Schutz nehmen zu können. – Schutz: Schutz zu bieten, ist die konkreteste Form der elterlichen Fürsorge: Jede Bedrohung des Babys bewirkt das energische Eingreifen der Mutter. Die wachsame Sorge der Mutter wechselt ständig zwischen Ruhephasen, in denen sie sich auf andere Dinge konzentrieren kann, und dem Fokus auf das Baby. Sie ist da, hebt das Baby hoch oder schützt es auf andere Weise, sobald es Not oder Bedürftigkeit signalisiert. Diese fortwährenden Wechsel kennzeichnen auch die wachsame Sorge im späteren Kindesalter. Die Aufmerksamkeit, die Präsenz und der Schutz verändern sich von Moment zu Moment, wenn z. B. Mutter oder Vater das Kind zum Spielplatz begleiten oder mit ihm auf der Straße spazieren gehen oder auf passen, während es Rad fahren lernt. Die wachsame Sorge der Eltern funktioniert auch in der Adoleszenz mit ihren besonderen Gefahren ähnlich. Eltern, die ihre Fähigkeit zur wachsamen Sorge verloren haben, können diese wiedergewinnen, vorausgesetzt, sie erhalten Legitimation, Unterstützung und praktische Anweisungen für die Er-
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Wachsame Sorge und das Recht auf Privatsphäre
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neuerung ihrer drei Komponenten: Aufmerksamkeit, Präsenz und Schutz.
Wachsame Sorge und das Recht auf Privatsphäre Trotz der vielen Belege, die den Zusammenhang zwischen elterlicher Aufsicht und Sicherheit des Kindes aufzeigen, steht die moderne Gesellschaft einem Paradox gegenüber: Gerade in einer Zeit, in der die Gefahren und Versuchungen, denen Jugendliche ausgesetzt sind, stark zunehmen, wächst auch die Bedeutsamkeit der Privatsphäre als höchste Wertvorstellung. Aus diesem Grund haben Eltern und Lehrer oft das Gefühl, dass ihnen die gesellschaftliche Legitimation fehlt, Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen, und gestehen sich selbst dieses Recht nicht zu. Im Rahmen unserer anfänglichen Versuche, Jugendliche bei gefährlichen Aktivitäten durch verantwortungsbewusste Erwachsene aus dem gesellschaftlichen Umfeld zu beaufsichtigen, planten wir Maßnahmen gegen Alkoholgelage, die in einer Nachbarschaft üblich geworden waren. Diese Partys, an denen auch Jugendliche im Alter von 13 und 14 Jahren teilnahmen, fanden jede Woche in einem Jugendzentrum statt. Jedem war dies bekannt. Eine Elterngruppe, unterstützt von einigen Lehrern und der Jugendarbeiterin, erklärte sich bereit, gemeinsam auf einer der Partys zu erscheinen, um dort den Alkohol zu beschlagnahmen. Obwohl alle Eltern der Notwendigkeit, etwas zu unternehmen, zustimmten, sprachen sich einige Eltern gegen eine solche Demonstration der elterlichen Präsenz aus. Sie befürchteten, die Kinder könnten als Reaktion auf diese Maßnahme ihre Aktivitäten heimlich weiterführen oder das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen könnte sich weiter verschlechtern. Diese Gründe bewogen einige Eltern und Lehrer dazu, von der Aktion Abstand zu nehmen und am vereinbarten Abend nicht am Treffpunkt zu erscheinen. Unter den Eltern, die zum Treffpunkt gekommen waren, machten sich weitere Befürchtungen breit und wurden mit fortschreitender Stunde immer stärker. Der gemeinsame Weg von der Schule bis zum Ort der Party wurde zu einem erbärmlichen Ereignis, da immer mehr Eltern und Lehrer »kalte Füße«
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Wachsame Sorge in der Familie
bekamen und die Gruppe verließen. Die drastische Abnahme der Teilnehmerzahl demoralisierte den Rest der Gruppe. Am Ende ging die Jugendarbeiterin alleine zu der Party und nahm den Alkohol in ihre Obhut. Sie erhielt in der Folge Drohbriefe und entschied sich, die Gegend zu verlassen.
Die Gründe dieses Misserfolgs entsprangen der moralischen Unsicherheit und den Zweifeln an der Durchführbarkeit der Maßnahme. Eltern und Lehrer waren innerlich nicht von der Richtigkeit der notwendigen Aufsichtsmaßnahmen überzeugt. Sie zweifelten an der Wirksamkeit der Aktion und fürchteten sich vor den möglichen Reaktionen der Jugendlichen. Sicher war aber die moralische Unsicherheit für sie das größte Problem. Das Eindringen in die Privatsphäre der Kinder gilt in den Augen vieler Eltern und Lehrer als absolutes Tabu. Jeder Verstoß hiergegen gilt als unverzeihlich. Darüber hinaus war die Planung der Aktion nicht ausgereift. Eltern und Lehrer hatten sich nicht hinreichend auf mögliche Schwierigkeiten vorbereitet, hatten das Aktionsteam nicht gestärkt, ihre eigene Botschaft nicht formuliert und keine Vorstellung, wie einer Eskalation der Situation entgegenzuwirken sei. All diese Schwierigkeiten weisen auf die Dilemmata, die mit wachsamer Sorge verbunden sind. Die folgenden Beispiele verdeut lichen das. Das Vertrauen wiederfinden! »Ich habe entdeckt, dass meine Tochter mir aus meinem Portemonnaie Geld geklaut hat. Sie hat mich auch einige Male bezüglich ihres Aufenthaltsortes belogen. Jedes Mal, wenn ich sie beim Lügen erwischt habe, wollte sie das nicht zugeben. Am Ende hatten wir einige ›Herzensgespräche‹ zwischen uns, und ich habe klargestellt, dass mir vor allem wichtig ist, dass ich ihren Aussagen glauben kann. Sie antwortete, und das mit Recht, dass ich ihr kein Vertrauen schenke. Wir haben jetzt ein neues Kapitel zwischen uns aufgeschlagen, und ich vertraue ihr mehr. Ich hoffe, ich werde nicht enttäuscht. Manchmal fürchte ich, dass sie die Situation ausnutzt.« »Sei seine Mutter und kümmere dich nicht um die Schule!« »Mein Sohn ist acht Jahre alt. Seit der ersten Klasse leidet er unter Organisationsproblemen und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten.
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Wachsame Sorge und das Recht auf Privatsphäre
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Mit den Jahren und mit den steigenden Anforderungen der Schule drückt er sich mehr und mehr vor den Hausaufgaben. Jeden Tag ist das ein neuer Kampf. Er verheimlicht vor mir Arbeitsblätter, die sie in der Klasse ausgeteilt bekommen haben. Er leugnet, dass er Hausaufgaben machen muss, und wenn ich herausfinde, dass er doch Hausaufgaben auf hat, tut er alles, um sich davor zu drücken. Er lügt auch. Ich habe mich an seine Lehrerin gewandt und sie um Hilfe gebeten, die Hausaufgaben besser zu überprüfen. Die Lehrerin sagte mir, das sei nicht meine Aufgabe, das sei ihre Aufgabe. Ich solle »seine Mutter« sein, sie würde seine Hausaufgaben überprüfen. Ich hatte ein schlechtes Bauchgefühl diesbezüglich, habe mich aber trotzdem dazu überreden lassen, diese nervige Rolle des ›Hausaufgaben-Überprüfens‹ abzutreten und mich auf sie zu verlassen. Zwei Wochen später, nachdem ich diese Aufgabe vernachlässigt hatte, musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass mein Sohn ganz aufgehört hatte, Hausaufgaben zu machen. In der darauffolgenden Woche habe ich mich jeden Tag zwei Stunden mit ihm hingesetzt, um alles nachzuholen. Anfangs hat er sich dagegen aufgelehnt, aber langsam hat er die Entscheidung angenommen und die Hausaufgaben gemacht. Einige Tage später sagte er mir: ›Mama, ich freue mich. Ich merke jetzt, dass ich inzwischen fähig bin, alle Hausaufgaben zu erledigen.‹ Mir ist dabei klar geworden, mit allem Respekt der Lehrerin gegenüber, dass ein Teil dessen, eine gute Mutter zu sein, auch bedeutet, meinem Sohn zu helfen, ein guter Schüler zu sein.« Peinlichkeiten »Das größte Hobby meines Sohnes ist sein Skateboard. Er hat einige Freunde aus der Nachbarschaft und der Nachbarstadt, die älter sind als er, mit denen geht er gemeinsam Skateboard fahren. Ich kenne seine Freunde aus der Stadt nicht und bin über diese Freundschaften sehr besorgt. Ich befürchte, dass sie einen schlechten Einfluss auf meinen Sohn ausüben. Die Gruppe pflegt zu einem SkateboardÜbungsplatz in die Stadt zu fahren und kehrt erst spät abends wieder. Ich halte Kontakt zu anderen Müttern unserer Nachbarschaft, wir tauschen uns aus und versuchen, über die Jungs Informationen einzuholen. Ich befürchte, dass die Fahrten in die Stadt ihn in Drogen oder in irgendwelche anderen Angelegenheiten verwickeln
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Wachsame Sorge in der Familie
werden. Ich habe ihn ausgefragt, und er streitet das ab, aber ich bin trotzdem nicht beruhigt. Ich weiß, dass er auf Partys Alkohol trinkt. Ich habe mir überlegt, die Angelegenheit vielleicht selbst oder mit meinem Mann zu überprüfen, was da abläuft. Aber ich habe Sorge, seinem Ansehen unter den Freunden zu schaden. Ein Mal habe ich ihn mit Freunden in der Nachbarschaft getroffen und ihm zugerufen: »Hast du schon Hausaufgaben gemacht?« Es war ihm fürchterlich peinlich. Das kann ich ihm nicht noch ein Mal antun. Ich habe mir überlegt, mich mit anderen Müttern zu organisieren, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass die dazu bereit sein werden. Sicherlich werden sie sagen, dass ich total übertreibe, dass es Grenzen gibt, wie sehr man in die Privatsphäre der Kinder eindringen kann.« Dass nur Papa davon nichts erfährt! »Meine Tochter ist in der zehnten Klasse. Sie ist wunderbar, eine gute Schülerin, sieht gut aus, liebt das Leben und vergnügt sich gerne. Ihr größtes Problem ist meines Erachtens ihr Vater, mein Mann. Er ist sehr konservativ, man könnte sogar sagen ›primitiv‹. Er passt auf sie auf, als ob sie drei Jahre alt wäre, will nicht, dass sie abends ausgeht, überwacht die Art und Weise, in der sie sich kleidet, und wenn er sieht, dass sie ein bauchfreies T-Shirt trägt oder geschminkt ist, dann flippt er aus. Ihr Glück, und meines, ist, dass er die meiste Zeit gar nicht zu Hause ist. Ich habe ein gutes Verhältnis zu ihr, sie erzählt mir alles, wir sind wie Freunde. Letztes Jahr hat sie mir erzählt, dass sie Zigaretten raucht. Das mag ich nicht. Ich hab ihr meine Meinung gesagt, und dass es ihrer Gesundheit schade. Ich habe sie gebeten, mit dem Rauchen aufzuhören. Darauf hat sie geantwortet, dass sie das Rauchen genießt und dass sie aufhören wird, wenn sie aufhören möchte. Ich wusste nicht, was ich ihr antworten soll. Ihr Vater raucht auch, da konnte ich ihr schlecht sagen, dass Rauchen verboten ist. Sie hat mich schwören lassen, dass ich es ihm nicht verrate. Selbst wenn er raucht, ist es klar, dass er Terror machen würde, wenn er es wüsste. Natürlich habe ich es ihm nicht erzählt. Ich bin wegen des Rauchens besorgt, wegen der Gesundheit und auch, weil man nicht weiß, was danach kommen kann. Ich weiß, dass das nicht so sein muss. Zigaretten sind Zigaretten, und Drogen sind Drogen. Vor einiger Zeit ist sie von einer Party nach Hause gekommen. Normaler Weise schlafe ich, wenn sie nach
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Hause kommt. Dieses Mal bin ich aufgewacht und habe sie angesprochen. Sie roch stark nach Alkohol, da gab es keinen Zweifel. Ich war so schockiert, dass ich gar nichts gesagt habe, es einfach nicht beachtet habe. Ehrlich gesagt, ich wusste gar nicht, was sagen, was tun. Das habe ich ihrem Vater natürlich nicht erzählt. Wenn er das erfährt, sperrt er sie zu Hause ein und lässt sie gar nicht mehr weg. Die Nacht habe ich kein Auge mehr zugekriegt, so sehr habe ich mich gesorgt. Am nächsten Tag habe ich so getan, als sei nichts, habe die Angelegenheit nicht erwähnt, davon aber meiner Freundin erzählt. Sie meinte, dass das eben heute so sei, dass Jugendliche heutzutage auf Partys trinken. Das sei so, daran sei nichts zu ändern. Ich bin trotzdem unruhig, höre alle möglichen Geschichten, lese die Zeitungen. Nicht, dass ich befürchten würde, dass sie alkoholabhängig wird, aber man kann nicht wissen, was ihr zustoßen kann, wenn sie so trinkt. Da fangen bei mir die Gedanken an zu kreisen. Ich habe schon überlegt, ihren Vater mit einzubeziehen. Aber das würde sie mir im Leben nicht verzeihen. Ich fürchte auch seine Reaktion – er kann sie einfach zu Hause einsperren und mir an allem die Schuld geben. Ich kenne ihn. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie, die Zigaretten, der Alkohol, das gefällt mir nicht. Aber ich habe Angst, etwas Drastisches zu unternehmen, mich mit ihr darüber zu streiten, sie nicht weggehen zu lassen, weil dann mein Mann die Angelegenheit herausfinden wird und alles nur noch schlimmer machen wird.«
All diesen Eltern ist gemein, dass sie sich in einem direkten oder indirekten Dilemma bezüglich elterlicher Aufsicht und Fürsorge befinden. In der ersten Geschichte versucht die Mutter, ihrer Tochter wieder Vertrauen entgegenzubringen, fürchtet aber, dass diese ihr Vertrauen missbrauchen könnte. Im zweiten Fall spürt die Mutter, dass dem Versprechen der Lehrerin »Verlassen Sie sich auf mich, es wird schon in Ordnung gehen!« jegliche Basis fehlt. Die beiden letzten Mütter sind in typischen Zwickmühlen gefangen: Die eine befürchtet, dass das Kind wütend auf sie sein wird oder dass sein Ansehen bei seinen Freunden leiden wird. Die andere Mutter vermeidet, den strengeren Partner mit einzubeziehen, um nicht mit ihm identifiziert zu werden und um bei ihm keinen Wutanfall auszulösen.
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Wachsame Sorge in der Familie
Die Situationen dieser Eltern sind verständlich. Uns allen ist wichtig, den Kindern ein Gefühl von Freiheit zu vermitteln. Wir möchten ihnen zeigen, dass wir ihnen vertrauen, dass wir uns auf sie und ihre Lehrer verlassen, und ihnen eine Privatsphäre mit ihren Freunden ermöglichen. Wir möchten keine strengen, sondern einfühlsame Eltern sein, ganz besonders dann, wenn der Partner als streng empfunden wird. Wie können diese Werte mit elterlicher wachsamer Sorge in Einklang gebracht werden? Tatsächlich muss eine Balance zwischen den verschiedenen Wertvorstellungen gefunden werden. Natürlich sind Freiheit, Privatsphäre und Vertrauen wichtige Werte, doch die Sicherheit des Kindes ist eine Lebensnotwendigkeit. Es geht somit darum, ein Gleichgewicht finden, wie Werte von Freiheit, Privatsphäre und Vertrauen verwirklicht sein können, ohne dass zugleich das Kind gefährdet ist. Während unseres ersten Elterngesprächs fragen wir die Eltern, ob sie wissen, wo und mit wem sich das Kind aufhält. Die Antworten der Eltern kennzeichnen oftmals deutlich die Umrisse des notwendigen Gleichgewichts. In denjenigen Fällen, in denen die Antwort lautet, dass ihr Kind sich meistens bei seinen Freunden aufhält, Freunde, die sie – die Eltern – kennen und wertschätzen, kann das Maß an Freiheit, Privatsphäre und Vertrauen dem Kind gegenüber hoch sein. Die Lage ist eine ganz andere, wenn die Reaktion der Eltern zeigt, dass sie nicht wissen, wo und mit wem sich das Kind herumtreibt, oder wenn sich herausstellt, dass der Jugendliche sich schon in der Vergangenheit wegen seines Verhaltens Ärger eingehandelt hat. Wir schlagen folgende Formel für ein Gleichgewicht vor: Das Ausmaß an Freiheit, Privatsphäre und Vertrauen, das dem Kind gewährt wird, ist von der Gefahr abhängig, der es ausgesetzt ist. Somit bedarf ein Kind, das sich mit problematischen Freunden herumtreibt, das das Vertrauen der Eltern missachtet, das möglicherweise zu Gesetzesbrüchen neigt und sich gar selbst gefährdet, einer stärker eingrenzenden Aufsicht. Die Wechselbeziehung zwischen Selbständigkeit und Sicherheit bedarf eines ständigen Abwägens des Grades der wachsamen Sorge. Dieses Abwägen ist wesentlicher Teil der elterlichen Sorge, wie wir am Beispiel der Mutter mit ihrem Baby dargestellt haben. Die Veränderungen im Ausmaß der Aufsicht sind auch für Eltern größerer Kinder
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Eine Vertrauensfrage
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charakteristisch. Das Maß der elterlichen Aufmerksamkeit, der Präsenz und des Schutzes kann sich den Umständen und Zeiten entsprechend ändern, je nachdem, welche Alarmsignale und Anzeichen von Gefahr es gibt. Ein optimales Abwägen der notwendigen Grade der Aufsicht ermöglicht einerseits das richtige Maß an Selbständigkeit, das die Entwicklung des Kindes fördert, und bietet andererseits gleichzeitig Schutz angesichts der Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind.
Eine Vertrauensfrage Der Übergang zu einer wachsameren Form der Sorge geht oft mit Reibungen und in einer von Misstrauen gekennzeichneten Atmosphäre einher. Deswegen hoffen viele Eltern, dass solch ein Übergang, sollte er unvermeidbar sein, nur eine vorübergehende, beinahe unmerkliche Phase auf dem Wege zur Wiederherstellung des Vertrauens ist. Es ist paradox, dass oft gerade diese Hoffnung die Konfrontationen verstärkt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Hoffnung auf die Wiederherstellung des vollen Vertrauens die elterliche Aufsicht zu einem Diskussionsthema werden lässt. Dadurch wird jeder Schritt der Beaufsichtigung und der Fürsorgemaßnahmen der Eltern vom Kind hinterfragt: »Bis wann?« Das Kind behauptet, dass ihm das Vertrauen wieder entgegengebracht werden kann, während die Eltern weitere Beweise einfordern, dass das Kind ihres Vertrauens tatsächlich würdig ist. Dieses Szenario ändert sich, sobald die Eltern eine Position einnehmen, in der sie immerfort die elterliche Sorge tragen, während der Grad der Beaufsichtigung situationsabhängig bleibt. Diese Position beendet die schädliche Diskussion bezüglich der Wiederherstellung des Vertrauens. Die ständige Frage »Glaubst du mir nicht?« stellt die Eltern vor zwei negative Alternativen: Wenn sie die Frage verneinen, verletzen sie das Kind, wenn sie die Frage bejahen, verzichten sie auf ihr Aufsichtsrecht. Eltern, die begreifen, dass diese Frage eine Falle darstellt, können darauf etwa antworten: »Ich bin für dich verantwortlich. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich weiß, was vor sich geht, beaufsichtige ich dich aus der Ferne. Sobald ich aber Zweifel habe, beaufsichtige ich dich von nahem!« Diese
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Wachsame Sorge in der Familie
Antwort ist nicht nur für das Kind, sondern auch für die Eltern wichtig. Hiermit stellen sie klar, dass ihre oberste Pflicht in der wachsamen Sorge liegt. Eltern sind dann auch imstande festzustellen, dass das Kind mehr Vertrauen verdient, und können dementsprechend ihre Aufsichtsmaßnahmen einschränken. Dies ist das Paradox der wachsamen Sorge: Die Entschlossenheit zur Sorge senkt die Konfrontation und stärkt oftmals sogar das gegenseitige Vertrauen. Viele Eltern fragen sich, ob ihr Kind ohne volles Vertrauen von Seiten der Eltern auf gute Weise heranwachsen kann. Diese Frage erübrigt sich, wenn das Kind beim Lügen, Stehlen oder beim Verheimlichen anderer unerwünschter Aktivitäten erwischt wird. Unter solchen Umständen belügen sich Eltern, wenn sie dem Kind sagen: »Ich vertraue dir völlig!« Eine Botschaft, die ein eingeschränktes Vertrauen widerspiegelt, wie z. B. »Ich beaufsichtige dich, und wenn die Dinge in Ordnung sind, dann vertraue ich dir mehr!«, dient sowohl dem Kind als auch den Eltern. Sollte das Kind die Lage erschweren und behaupten, dass die Eltern immer an ihm zweifeln, können Eltern die Situationen aufzählen, die ihre Zweifel schüren, und hiermit die Notwendigkeit unterstreichen, ihre wachsame Sorge zu intensivieren. Verhaltensweisen, die Misstrauen wecken, sind etwa: – ausweichende Antworten auf Fragen bezüglich des Aufenthaltsortes; – das Kind hält sich nicht an die vereinbarte Zeit, zu der es nach Hause kommen soll; – Berichte der Schule, die mit den Informationen des Kindes nicht übereinstimmen. Ein 12-jähriges Mädchen wurde von ihrer Mutter und ihrer Schwester beim Klauen erwischt. Nach langem Abstreiten gab sie die Tat bitterlich weinend zu und versprach, nie wieder zu stehlen. Die Mutter war von der Reue ihrer Tochter beeindruckt und teilte ihr mit, dass sie einen Neuanfang wagen würden. Einen Monat später erklärte die Mutter ihrer Tochter voller Freude, dass ihr Gefühl des gegenseitigen Vertrauens völlig wiederhergestellt sei. In dieser positiven Atmosphäre nahm die wachsame Fürsorge der Mutter wieder ab. Anfangs schaffte es die Tochter, sich zurückzuhalten. Aber als es
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Grade der wachsamen Sorge
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zu einer Krise mit ihren Freunden kam, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und klaute Geld, um ihren Klassenkameraden Geschenke zu kaufen. Die Mutter wollte das zuerst nicht glauben, aber nach einer Weile begriff sie, dass ihre Tochter ihr Vertrauen missbraucht hatte. Die Tochter reagierte diesmal mit heftigem Widerstand, und das Verhältnis zwischen den beiden geriet in eine Sackgasse.
Um die Idee des eingeschränkten Vertrauens zu verstehen, erzählen wir den Eltern, was wir Paaren sagen, die einander betrogen haben: »Meiner Meinung nach ist Vertrauen wie ein Gefäß. Wenn es zerbricht, kann man es wieder zusammenkleben, aber es bleiben Risse. Ich empfehle Ihnen, sich ganz langsam und vielleicht nie mehr uneingeschränkt gegenseitiges Vertrauen entgegenzubringen. Vielleicht sollten Sie sich sogar zur Gewohnheit machen, bis zum hundertsten Lebensjahr über diesen Riss zu meditieren!« Bei Frauen löst dieses Beispiel meist ein breites Grinsen aus, bei Männern eher ein eingeschränktes Lächeln.
Grade der wachsamen Sorge Die Wachsamkeit der Eltern ändert sich je nach Notwendigkeit. Während der Ruhephasen können sich Eltern vor allem auf ihre eigenen Angelegenheiten konzentrieren, halten eine wohltuende Distanz zum Kind und ermöglichen diesem eine größtmögliche Unabhängigkeit, während gleichzeitig ein Kommunikationskanal für den Notfall freigehalten wird. Sollten Mutter oder Vater Notsignale wahrnehmen, richten sie ihre Aufmerksamkeit darauf, verstärken die elterliche Präsenz und bereiten schützende Maßnahmen vor. Mit dem Älterwerden des Kindes pendelt sich die elterliche Aufmerksamkeit meist bei einem gewissen Grad ein, der von den jeweiligen Gewohnheiten und der unausgesprochenen Zustimmung zwischen Eltern und Kind bestimmt wird. Unter solchen Umständen erfordert die Verstärkung der Aufsicht eine bewusste Entscheidung und eine besondere Anstrengung der Eltern. Je älter das Kind, desto vehementer wird der Widerstand sein, mit dem die Eltern rechnen müssen. Der Unterschied zwischen ver-
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schiedenen Graden der Aufsicht kann klar definiert werden. Der fließende, spontane Wechsel der Grade bei einem kleinen Kind und der kontrollierte, beabsichtigte Wechsel bei einem größeren Kind kann mit der automatischen und der manuellen Gangschaltung eines Autos verglichen werden. Bei Jugendlichen lassen sich drei unterschiedliche »Gänge« definieren: offener Dialog und Aufrichtigkeit, direkte Befragung und einseitige elterliche Maßnahmen. Offener Dialog und Aufrichtigkeit
Viele Eltern genießen das Vertrauen ihrer Kinder, das durch die Bereitschaft der Kinder zum Ausdruck kommt, den Eltern von ihren Freunden, ihren Problemen und sogar von den Versuchungen zu erzählen, denen sie ausgesetzt sind. Diese Aufrichtigkeit ist ein teures Gut. Das Wissen der Eltern, das auf diesem spontanen und freiwilligen Austausch beruht, leistet einen wichtigen Beitrag zur Abwehr von Gefahren und zum Gefühl der Nähe zwischen Eltern und Kind (Stattin und Kerr, 2000). Leider ist die Fähigkeit zum offenen Dialog schwer erlernbar. Eltern müssen Zeit investieren, eine intime Atmosphäre erzeugen und positives Interesse am Kind zeigen, um die Voraussetzungen für diese Offenheit und Aufrichtigkeit zu schaffen. Je stärker das elterliche Interesse darauf konzentriert ist, Details über problematische Handlungsweisen herauszufinden, desto einseitiger wird der Dialog. Der spontane Austausch basiert auf Vertrauen und baut gleichzeitig die Vertrauensbasis auf. Die Eltern zeigen, dass sie dem Kind zutrauen, sich selbst vor Gefahren zu hüten und wichtige Ereignisse zu erzählen. Das Kind vertraut darauf, dass die Eltern seine Aufrichtigkeit zu schätzen wissen. Dieses sensible Vertrauensgleichgewicht kann leicht aus dem Lot geraten. Auf der Hut Gila war 15 Jahre alt. Ihre Eltern merkten, dass Gila sich zu den aufmüpfigen Mädchen der Klasse hingezogen fühlte. Sie war die beste Schülerin unter ihnen und war die Einzige, die noch nicht rauchte, aber sie geriet oft in Schwierigkeiten wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser aufmüpfigen Mädchengruppe. Während einer Klassenfahrt
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setzten sich die Mädchen an einem der Abende ab, um in die Stadt zu gehen, wurden dabei aber erwischt, nach Hause geschickt und für vier Tage vom Unterricht suspendiert. Trotz ihrer nonkonformistischen Tendenzen hatten Gila und ihre Eltern ein gutes Verhältnis zueinander. Während eines Gesprächs sagte ihr Vater, dass das Vertrauen, das sie, Gila, ihm entgegenbringe, ihm sehr viel bedeute. Gila erwiderte daraufhin: »Wenn wir gerade über Vertrauen sprechen, will ich dir erzählen, dass ich mich ein Mal betrunken habe.« Während eines anderen Gesprächs erzählte sie ihrer Mutter: »Sollte ich die Gelegenheit haben, werde ich ausprobieren, wie es ist, Gras zu rauchen« (Marihuana). Die Mutter versuchte, Gegenargumente anzuführen, aber als die Tochter diese von sich wies, meinte sie: »Sollte das vorkommen, ist es wichtig, dass das ein einmaliger Versuch bleibt. Sobald du das noch ein zweites Mal tust, wird es schon zu einer Gewohnheit.« Dieses Gespräch war der Anlass für die Eltern, Beratung aufsuchen, da sie spürten, dass sie sich anders verhalten müssten, um ihre Tochter zu beschützen. Der Therapeut sprach mit den Eltern darüber, wie sie weiterhin »den Finger am Puls« halten könnten. Der offene Dialog ermögliche den Eltern einen Einblick in die Situation ihrer Tochter und bewahre gleichzeitig ein gutes und warmes Verhältnis zwischen ihnen. Der Therapeut fügte jedoch hinzu, dass es in der Zukunft durchaus denkbar sei, dass Gila den Eltern ausweichen würde oder dass sich Anzeichen von Selbstgefährdung bemerkbar machen würden. In diesem Fall sollten die Eltern zum nächsten Grad der Aufsicht übergehen.
Die Eltern in der Geschichte wahrten trotz ihres innigen Verhältnisses zur Tochter ihre elterliche Stellung, ohne in eine vermeintlich »kumpelhafte« Form von Nähe mit ihrer Tochter gezogen zu werden. Im nächsten Beispiel sehen die Verhältnisse anders aus: Hauptsache Offenheit Die allein erziehende Mutter eines 16-jährigen Jugendlichen erzählte, dass ihr Sohn vollkommen offen ihr gegenüber sei. Etwa ein Jahr vor ihrem Beratungsgesuch habe er angefangen, Gras zu rauchen, und er erzähle ihr von seinen Erlebnissen. Sie ermögliche ihm, zu Hause zu rauchen, um zu verhindern, dass er es heimlich täte. Im Laufe der Zeit erzählte er ihr auch, dass er Ecstasy-Pillen
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ausprobiert habe und dass er bei einer Gelegenheit gutes Geld verdient habe, indem er seinem Freund Gras verkauft habe. Sie bat ihn eindringlich, sich nicht in Drogenhandel zu verstricken, traute sich aber nicht, deutlicher zu intervenieren. Sie spürte, dass das Vertrauen, das ihr Sohn ihr entgegenbrachte, zerbrechen würde, sollte sie eine urteilende Haltung einnehmen. Ihrer Meinung nach würden ein Vertrauensbruch und die Verletzung ihrer besonderen Beziehung seine Situation schnell verschlechtern.
In diesem Fall verhinderte die Offenheit geregelte elterliche Maßnahmen und setzte den Jugendlichen wirklichen Gefahren aus. Die Mutter verzichtete auf ihre elterliche Verantwortung zugunsten ihrer Stellung als Vertrauensperson. Die Hoffnung, dass Offenheit und Vertrauen allein die Zuspitzung der Situation abwenden könnten, kann gefährlich sein. Offenheit verringert Gefahren nur dann, wenn das Kind seinen Eltern als Eltern von seinen Erlebnissen erzählt. Es ist wichtig, dass das Kind sicher sein kann, dass die Eltern sich nicht gegen es stellen werden, sondern darum bemüht sind, es so gut es geht zu beschützen. Die Situation ist eine andere, wenn das Kind den Eltern etwas eingesteht, diese jedoch Angst haben zu intervenieren und versuchen, eine freundschaftliche Haltung zu wahren. Man kann sagen, dass im Inneren eines Kindes, das sich den Eltern anvertraut, Stimmen laut werden, die darum bitten, dass die Eltern als Eltern reagieren mögen. Wenn Eltern dieses Bedürfnis nicht wahrnehmen und es bevorzugen, nicht involviert zu sein, werden diese Stimmen enttäuscht: Das Kind gewinnt zwar scheinbar einen Freund, erlebt aber keine elterliche Präsenz. Dies ist für beide Seiten ein schlechter Tausch. Direkte Befragung
Der Wechsel von offenem Dialog und Aufrichtigkeit zur direkten Befragung verläuft oftmals nicht glatt. Eltern versuchen nun, gezielt herauszufinden, wohin das Kind geht, mit wem es zusammen ist, was es treibt und wann es nach Hause kommt. Manche Eltern meistern eine Kombination dieser beiden Aufsichtsgrade. Sie führen spontane und vertrauensvolle Gespräche mit ihrem Kind und fragen gleichzeitig explizit nach, wenn das Kind sich auf
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den Weg zu Vergnügungen macht. Die meisten Eltern bevorzugen jedoch eine sporadische und nicht verpflichtende Befragung des Kindes, in der Annahme, dass das Kind in seiner Aufrichtigkeit den Rest der Information notfalls ergänzen wird. Das Bestreben, eine angeblich spontane und nicht verpflichtende Befragung durchzuführen, droht zu einer Enttäuschung zu werden, da die Eltern mehr zu wissen suchen, als in der Vergangenheit in der Beziehung zwischen Eltern und Kind üblich war. »Was soll das denn, bist du zum Detektiv geworden?« Gilas Mutter, über die wir schon berichtet haben, hatte den Vortrag eines Drogenexperten gehört. Dieser empfahl den Eltern, die jugendlichen Kinder zu beaufsichtigen, indem sie vor jedem Weggang direkt fragten, mit wem sie ausgingen, wie die Telefonnummern der Freunde lauteten und was sie bei ihrem Ausgang zu unternehmen gedächten. Unter dem Einfluss dieses Vortrags versuchte die Mutter, Gila nun vor ihrem Ausgang zu befragen, aber ohne vorher ihrer Tochter die Änderung ihrer Verhaltensweise erklärt zu haben. Gila spürte sofort die Veränderung und protestierte: »Sag, hast du einen Kurs in Detektivarbeit absolviert? Ich lass mich doch nicht von dir ausspionieren!«
Wenn Eltern ihre wachsame Sorge verstärken wollen, sollten sie dies nicht beiläufig, sondern explizit tun. Eltern, die bisher anders gehandelt haben, sollten ihrem Kind nun klar sagen: »Wir machen uns seit einiger Zeit ziemliche Sorgen um dich. Wir sind nun zu dem Schluss gekommen, dass es unsere Pflicht ist, besser Bescheid zu wissen, wo du dich aufhältst, mit wem du deine Zeit verbringst und wann du wieder nach Hause kommst. Wir werden von nun an nachfragen, bevor du das Haus verlässt.« Das Einfordern spezifischer Informationen, wie z. B. Namen und Telefonnummern der Freunde, mit denen das Kind unterwegs ist, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Grades der Aufsicht. Sollte das Kind sich dem widersetzen, ist es wichtig, dass die Eltern ihre Aussage wiederholen. Sie können in leisem, aber bestimmtem Ton sagen, dass sie sich bewusst sind, dass sie die Regeln verändert haben, dass es ihre Pflicht als Eltern sei, so zu handeln, und dass von nun an diese Regeln gelten. Sollte das Kind die erbetenen Informationen nicht
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liefern, sagen die Eltern, dass sie gezwungen sind, den Ausgang zu verbieten. Eltern fragen hier oft, wie um alles in der Welt sie denn den Ausgang verbieten können. Die Antwort ist: ein Verbot auszusprechen, kein Geld zu geben und, falls das Kind trotz Verbots aus dem Hause geht, das Kind zu suchen. All dies sollte dem Kind vorher deutlich – und freundlich, ohne Drohung, sondern mit der Haltung: »Es ist unsere Pflicht als Eltern, wir sind dazu gezwungen« – mitgeteilt werden. Die Eltern können die Hilfe anderer Personen einholen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Diese Helfer sollten dem Kind sagen, dass das Verhalten der Eltern sich tatsächlich verändert habe, dass aber die neuen Regeln der Aufsicht unter den gegebenen Umständen unumgänglich seien. Sie können hinzufügen, dass sie bereit sind, dem Kind bei einer Verhandlung mit den Eltern behilflich zu sein, z. B. in der Stunde, zu der das Kind wieder zu Hause sein sollte, unter der Voraussetzung, dass das Kind den Eltern wahrheitsgetreu Bericht erstattet. Diese Haltung entspricht den Prinzipien der neuen Autorität: Das Ziel ist nicht, Gehorsam und Unterwerfung zu erlangen, sondern eine wachsame Sorge zu verfolgen und mögliche Kompromisse zu erwägen. Wenn Eltern ihre wachsame Sorge verstärken wollen, sollten sie unbedingt von Moralpredigten, Drohungen, Rechtfertigungen und Diskussionen absehen. Falls das Kind sich widersetzt, antworten die Eltern kurz und bündig: »Wir bestehen darauf, weil es unsere Pflicht ist!« Eltern lernen schnell, dass diese ruhige Standhaftigkeit eine nichtinvasive Form von Stärke (»die Stärke des Ankers«) vermittelt und Widerstand mindert. Die Ruhe unterstreicht auch die Entschlossenheit der Eltern. Demgegenüber haben Diskussionen eine demoralisierende und aufreibende Wirkung auf die Entscheidung der Eltern. Sollte das Kind zum vereinbarten Zeitpunkt wieder nach Hause kommen, ist es meist nicht notwendig, weiter nachzufragen, ob es sich tatsächlich an dem benannten Ort aufgehalten hat. Sollten die Eltern jedoch Gründe haben, an der Glaubwürdigkeit der Angaben des Kindes zu zweifeln, so überprüfen sie diese durch einseitige Maßnahmen, d. h., sie gehen zu einem höheren Aufsichtsgrad über. Die Eltern sollten nicht versuchen, dem ausweichenden Verhalten des Kindes durch bohrendes Nachfragen oder direkte
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Konfrontationen ein Ende zu setzen. Diese Handlungen führen zur Eskalation der Situation und schwächen die Position der Eltern. Sollte das Kind später nach Hause kommen, als von den Eltern erlaubt, so sollten die Eltern dem Kind mitteilen, dass sie über den Vorfall am nächsten Tag sprechen möchten – ohne drohenden Unterton. Der zeitliche Aufschub des Gesprächs hat eine deeskalierende Wirkung (Omer und von Schlippe, 2002; 2004). Demgegenüber ist der Versuch eines Gesprächs direkt bei der Rückkehr des Kindes, während die Übertretung des Verbotes noch in der Luft schwebt, mit ausweichenden Antworten und Streit verbunden. Es ist effektiver, mit dem Kind am darauffolgenden Tag zu sprechen und in ruhigem Tonfall eine Erklärung für das Zuspät-Kommen einzufordern. Die Eltern sollten klarstellen, dass sie einem weiteren Ausgang nicht zustimmen werden, es sei denn, das Kind erstattet genau Bericht über den geplanten Abend und verpflichtet sich, zur vorgegebenen Stunde nach Hause zu kommen. Nach einer Eingewöhnungsphase pendeln sich die neuen Regeln zur direkten Befragung und Berichterstattung meist ein. Oft ist das Kind nur zum Teil kooperativ. Weitere Maßnahmen und Handlungen sind erforderlich, sollte das Kind sich weigern, den Eltern Bericht zu erstatten, falsche Informationen liefern, Abmachungen zur Heimkehrzeit brechen oder den Eltern auf andere Weise ausweichen. In diesen Fällen empfiehlt es sich, dass die Eltern zum nächsten Aufsichtsgrad, d. h. zu einseitigen Maßnahmen übergehen. Die direkte Befragung ist keine sehr beliebte Maßnahme. Immer wieder widersetzen sich die Kinder und versuchen, durch Machtkämpfe, Anschreien und Beleidigungen die Eltern mürbe zu machen. Trotz des Widerstands geben die Kinder jedoch meistens die geforderten Informationen. Wir empfehlen den Eltern, den lauten Widerstand und das wütende Türenknallen als akzeptablen »Preis« für die Möglichkeit zu zahlen, ihre Anwesenheit im Leben des Kindes zu verstärken. Mit der Zeit nehmen Abwehr und Widerstand ab. Die meisten Eltern würden es bevorzugen, diese unangenehmen Gespräche zu umgehen. Um ihnen bei diesen Schwierigkeiten zu helfen, sollte ein elterlicher Stolz entwickelt werden, der seinen Ursprung gerade in der beaufsichtigenden Haltung hat. Eine der beiden Koautoren dieses Kapitels war Zeugin
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eines Gesprächs zwischen einigen 20-jährigen Mädchen, die gerade dabei waren, ihr Elternhaus zu verlassen und in eine gemietete Wohnung zu ziehen. Das Gespräch drehte sich vor allem um das Verhältnis zu ihren Müttern und darum, wie ausführlich sie ihren Eltern Bericht erstatten mussten, mit wem und wohin sie ausgingen. Eines der Mädchen erzählte, dass ihre Mutter »cool« sei und sie nie mit Fragen störe, wann sie nach Hause käme und mit wem sie ausginge. Die spontane Reaktion eines anderen Mädchens war: »Was, bist du ihr denn egal, kümmert sie sich gar nicht um dich?« Vor dem Hintergrund der Beschwerden einiger anderer Mädchen über die »nervige Mutter« verdeutlichte das kurze Schweigen, das nach dieser Frage eintrat, mehr als alles andere die Diskrepanz zwischen den äußerlichen Beschwerden über die nervigen Beaufsichtigung und dem inneren Bedürfnis nach wachsamer Sorge – ganz besonders bei Jugendlichen. Die elterliche Sorge hat keine Ähnlichkeit mit dem Auftreten eines Kontrolleurs. Dem Kontrolleur sind die Interessen und das Leid des Beaufsichtigten egal, während Eltern sehr wohl am Leid und an den Interessen ihres Kindes Anteil nehmen. Einseitige Maßnahmen
Das Verstärken der wachsamen Sorge durch einseitige elterliche Maßnahmen erfordert doppelten Mut: erstens den Mut, Maßnahmen zur Fürsorge und Beaufsichtigung offen zu ergreifen, und zweitens den Mut, auf das heimliche Eindringen in private und intime Sphären des Kindes, die außerhalb des elterlichen Verantwortungsbereichs liegen, zu verzichten. Die wachsame Sorge ist nicht gleichzusetzen mit dem Eindringen in die Gefühlswelt oder in intime Beziehungen des Kindes. Beaufsichtigung gilt nicht für persönliche Tagebücher, Briefwechsel oder Telefonate! Das Eindringen der Eltern in diese Sphären bedeutet eine Verletzung der Würde des Kindes und der Beziehung zu ihm. Dies ist auch dann der Fall, wenn diese Nachforschungen unentdeckt bleiben. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass diese Maßnahmen eine Grundlage für Geheimnistuerei und Lügen in der Beziehung zum Kind bilden, die die Möglichkeiten einer aufrichtigen Auseinandersetzung miteinander überschattet.
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Eltern werden zu solchen Taten verführt, wenn sie ihr Kind in Gefahr wähnen, etwa durch Drogenkonsum oder durch den negativen Einfluss von Freunden. Eltern befinden sich in diesen Situationen in einem schwerwiegenden Dilemma. Der Verzicht auf die Information wird oft als gefährlich und unverantwortlich empfunden. In unserer Arbeit mit Eltern steht dieses Dilemma oftmals im Mittelpunkt. Unserer Meinung nach ist aber der Schaden einer solchen Spionage größer als der scheinbare oder wahre Nutzen, der daraus hervorgeht. Sollten Eltern davon überzeugt sein, dass ihr Kind in Gefahr ist, so müssen sie ihre Beaufsichtigung verstärken und sich offen gegen das Handeln oder die gefährdenden Beziehungen des Kindes stellen. Eltern behaupten zwar, dass sie ohne spezifische und detaillierte Informationen nicht effizient handeln können. Wir glauben jedoch, dass dies ein Irrtum ist: Die Effizienz der elterlichen Handlungen ergibt sich aus der Entschlossenheit, explizit und offen die Fürsorge für das Kind zu tragen, und wird nicht durch Informationen genährt, die im Geheimen eingeholt wurden. Eltern, die ihre Informationen aus geheimen Quellen beziehen, sind die Hände gebunden, weil das Ergreifen jeglicher Maßnahmen, die die Gefahr verringern würden, ihre geheimen Aktivitäten aufdecken würde. Geheime Nachforschungen werden von einer Angst genährt, die das Handeln hemmt, die Lähmung nährt wiederum die Angst. Die Folgen sind Hilflosigkeit der Eltern, die sich ihren Erziehungsaufgaben nicht gewachsen fühlen (Pleyer, 2003), nicht aber Stärkung. Wachsame Sorge und heimliches Spionieren schließen sich gegenseitig aus, und der Mut zur wachsamen Sorge beinhaltet die Entschlossenheit, auf geheime Nachforschungen zu verzichten. Auch wenn Eltern davon absehen, persönliche Tagebücher oder die Internetkorrespondenz ihrer Kinder einzusehen, Telefongespräche mitzuhören oder auf andere private Informationsquellen des Kindes zuzugreifen, so wird oft Empörung darüber geäußert, dass die Aufsichtsmaßnahmen ein unerträgliches Eindringen in die Privatbereiche des Kindes darstellten. Tatsächlich stellt die Suche nach Drogen, Geld oder geklautem Besitz im Zimmer des Kindes ein Eindringen in dessen Privatbereich dar. Die offene Ankündigung der Eltern, dass sie das Zimmer nach verbotenen Gegenständen durchsuchen werden, zeigt aber, dass sie weiterhin das
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Privatleben des Kindes zu respektieren gedenken und dass sie ihre Handlungen als offene Maßnahmen und nicht als Spionage oder geheime Nachforschungen ansehen. Einer der besten Wege, die Verstärkung der wachsamen Sorge innerhalb klar definierter Grenzen vorzunehmen, besteht darin, dies dem Kind durch eine formelle Ankündigung entweder mündlich oder schriftlich mitzuteilen. Durch die Übergabe einer Kopie der Ankündigung an dritte Personen, die Teil des elterlichen Unterstützernetzes sind, kann dieser Ankündigung weiteres Gewicht verliehen werden. Die Eltern werden dadurch ihrerseits stärker in die Pflicht genommen, von unangebrachtem Eindringen in die Privatsphäre des Kindes abzusehen. Es folgt ein Beispiel solch einer schriftlichen Ankündigung. »Wir haben uns entschieden, unsere aktive Sorge zu verstärken und uns mit all unseren Kräften Deinen Beziehungen zu Personen, die in Drogengeschäfte oder Gesetzeswidrigkeiten verwickelt sind, entgegenzustellen. Es kann sein, dass wir Dein Zimmer durchsuchen werden. Wir werden jeden anrufen, der uns bei unserem Kampf helfen kann. Wir werden weiterhin Deine Privatsphäre respektieren, z. B. Deine Telefonate, den Briefwechsel mit Freunden im Internet oder Deine persönlichen Aufzeichnungen. Wir werden alle unsere Maßnahmen offen durchführen, Dir jedoch nicht jedes Mal Bescheid geben, wann wir Dein Zimmer durchsuchen möchten oder mit wem wir sprechen werden. Wir wissen, dass wir Dich nicht kontrollieren können und dass es nicht in unserer Hand liegt, Dich von Kontakten fernzuhalten, die negativen Einfluss auf Dich haben. Trotzdem sehen wir es als unsere Pflicht an, uns den Gefahren und zerstörerischen Beziehungen in Deinem Leben zu widersetzen. Wir lieben Dich und sind nicht bereit, Dich aufzugeben.«
Das folgende Beispiel ist eine Ankündigung, die von einer Mutter ihrem jugendlichen Sohn übergeben wurde, der regelmäßig Drogen konsumierte: »Dein Eingeständnis zu den Drogen hat bei mir tiefe Angst ausgelöst, hat aber auch mein Herz erwärmt. Es hat mein Herz erwärmt, dass Du mir das Vertrauen geschenkt hast, mir davon zu erzählen. Trotzdem kann ich nicht einfach untätig dasitzen, während ich weiß,
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dass Du Dich in Gefahr befindest. Ich habe mich dazu entschieden, mein Bestes zu tun, um mich den entgegenzustellen. Ich werde Freunde und Familienmitglieder um Hilfe bitten, weil mir Dein Leben zu teuer ist, als dass ich mir den Luxus gönnen könnte, die Angelegenheit geheim zu halten und alleine zu handeln. Ich weigere mich, dass unser Zuhause ein Versteck oder eine Drogenhöhle wird. Ich werde mein Möglichstes tun, um Dich auch außerhalb des Hauses zu beaufsichtigen. Ich erwarte von Dir, mir bezüglich Deiner Ausgänge Bericht zu erstatten. Ich werde Deine Unabhängigkeit respektieren, wenn Du mir ehrlich berichtest, wohin Du gehst, mit wem Du Dich triffst und wann Du wieder nach Hause kommst. Ich werde mich aber allen Kontakten widersetzten, die mit Drogen zusammenhängen. Ich weiß, dass ich nicht über Dich bestimmen kann und Dich nicht dazu zwingen kann, mit den Drogen aufzuhören; aber ich habe die Pflicht, mich dem mit all meiner Macht zu widersetzen. Bis heute hast Du mir Dein Vertrauen geschenkt. Ich weiß, dass meine momentanen Maßnahmen eine Veränderung meiner Haltung darstellen. Ich glaube aber, dass ich Dein Vertrauen noch stärker brechen würde, wenn ich einfach so tun würde, als sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen.«
Zur Optimierung der einseitigen Aufsichtsmaßnahmen sind folgende Bedingungen erforderlich: – emotionale und praktische Vorbereitungen, – der Aufbau eines Unterstützernetzes, – Schritte zur Eskalationsvorbeugung. Emotionale und praktische Vorbereitungen
Die wachsame Sorge ähnelt in keiner Weise der impulsiven Entscheidung, sich heftig dem Kind in den Weg zu stellen, sie drückt sich vielmehr durch geduldige und fortwährende Bemühungen aus. Schnelle elterliche Reaktionen auf die Entdeckung unerlaubter Verhaltensweisen eskalieren meist die Situation im Eifer des Gefechts und entladen sich in einem heftigen, aber kurzen Gefühlsausbruch. Effizient die Sorge zu tragen, ist etwas vollkommen anderes. Es geht nicht darum, das Kind zu »erschüttern« oder durch Bedrängen eine Veränderung zu bewirken. Die wachsame Sorge
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ist kein undurchdringlicher Schutzwall, sondern ein umhüllendes Schutznetz, das mögliche Ausrutscher abdämpfen kann. Dementsprechend wird sich eine Veränderung in der Lage des Kindes nur allmählich einstellen. Um das Kind effizient beaufsichtigen zu können, müssen Eltern sich darauf vorbereiten, Maßnahmen zu ergreifen, die im Rahmen permissiver Wertvorstellungen als verboten gelten. Diese Vorbereitung wird oft erst durch die Mobilisierung von Unterstützung durch andere ermöglicht. Eltern, die isoliert handeln, werden Mühe haben, Maßnahmen durchzuführen, die mit allgemeinen Normen kollidieren, wie dem Recht des Jugendlichen auf eine uneingeschränkte Privatsphäre. Demgegenüber erhalten Eltern, die sich von Helfern unterstützen lassen, nicht nur deren praktische Hilfe, sondern können auch auf deren »öffentliche Meinung« als Rückhalt für ihr Handeln bauen. In unserer Arbeit mit Eltern widmen wir der Stärkung der elterlichen Entschlossenheit, die für eine wachsame Sorge unumgänglich ist, viel Aufmerksamkeit. Wir machen sie auf die bedeutenden Untersuchungsergebnisse aufmerksam, die eine enge Verbindung zeigen zwischen verstärkter Beaufsichtigung und der Verringerung der Gefährdungen, denen Jugendliche ausgesetzt sind. Diese Ergebnisse mindern die Angst der Eltern, dass die Maßnahmen zur verstärkten Aufsicht eine Radikalisierung des Kindes auslösen könnten. Das Kind kann zwar durchaus mit einem Wutanfall reagieren, um die Eltern abzuschrecken. Die Beharrlichkeit der Eltern verringert aber binnen kurzer Zeit die Gefahr, der das Kind ausgesetzt ist. Die emotionale Vorbereitung auf einen zu erwartenden Wutausbruch des Kindes beginnt mit der Entwicklung einer »Stoßdämpferhaltung«, d. h. der Bereitschaft, die Attacken des Kindes ohne jede Reaktion hinzunehmen und dabei die Botschaft auszusenden: »Das ist unsere Pflicht!« oder »Wir haben keine Wahl!«. Die praktischen Vorbereitungen umfassen Pläne zum Einholen von Hilfe und zur Suche des Kindes außerhalb des Hauses. Der Aufbau eines Unterstützernetzes
Das Unterstützernetz ermöglicht den Eltern, nicht nur im eigenen Namen, sondern als Vertreter des sozialen Umfelds aufzutreten.
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Somit erhält die Autorität der Eltern Legitimation und praktische Hilfe. In unserer Arbeit mit Eltern ist es uns ein großes Anliegen, die Eltern von der Notwendigkeit der Rekrutierung von Helfern zu überzeugen. Wir statten die Eltern mit einem Brief aus, der an potenzielle Helfer gerichtet ist. Ein möglicher Brief an die Helfer: Wir freuen uns über Ihre Bereitschaft, die Anstrengungen zu unterstützen, um die Atmosphäre in der Familie —————— zu ändern und die Gefahr zu mindern, in der sich —————— zurzeit befindet. Ihre Präsenz kann ein wichtiger Faktor bei der Verringerung der problematischen Verhaltensweisen darstellen und dabei helfen, bessere Verhältnisse in der Familie herzustellen. Dieses Informationsblatt dient dazu, Ihnen in Kürze die Prinzipien der therapeutischen Intervention zu erklären. Das Ziel der Unterstützung – Die Auseinandersetzung mit einem Kind, das sich und andere gefährdet, verlangt enorme seelische Anstrengungen. Nicht selten fühlen sich Eltern erschöpft und hoffnungslos. Die Möglichkeit der Eltern, einen Kreis von Helfern aus dem Freundes- und Familienkreis aufzubauen, verbessert ihren Status und ermöglicht ihnen, Maßnahmen zum Wohl des Kindes zu ergreifen. Die Aufgabe des Helfers – Die Aufgabe des Helfers muss nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und jeder kann entsprechend seinen Möglichkeiten helfen. Der Helfer kann als Unterstützung und Rückhalt für die Eltern oder das Kind fungieren, bei Aufsichtsmaßnahmen mitwirken, bei der Suche nach einer praktischen Lösung helfen, zwischen Eltern und Kind vermitteln und Kompromissvorschläge überbringen. Einige Handlungen haben sich als besonders effektiv erwiesen: 1. Nehmen Sie mit dem Kind Kontakt auf und teilen Sie ihm mit, dass Sie über die Lage zu Hause informiert sind. Es ist wichtig zu betonen, dass Sie sich verpflichtet fühlen, im Bilde zu bleiben. Bei jedem Gespräch mit dem Kind sollten Standpauken vermieden werden. Es ist wichtig, dass die Kommunikation
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mit dem Kind positiv und warm bleibt und keine Anschuldigungen oder Tadel vorgebracht werden. Sollten sie eine persönliche Beziehung zu dem Kind haben, können sie darum bitten, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Solche Treffen sind besonders wichtig, da sich hierdurch das Kind weniger angegriffen oder isoliert fühlt. Sie können den Eltern bei Aufsichtsmaßnahmen helfen. Elterliche Fürsorge und Beaufsichtigung sind erwiesenermaßen ein Weg, die Gefährdung des Kindes oder von Jugendlichen zu verringern. Sie können den Eltern bei ihren Handlungen Rückhalt geben, indem Sie dem Kind mitteilen, dass in der jetzigen Lage den Eltern nichts anderes übrig bleibt, als das Kind zu beaufsichtigen. Praktische Wege zu unserer Unterstützung der Eltern werden während des Unterstützertreffens aufgezeigt, zu dem Sie eingeladen sind. Sollten die Eltern sich nach einem außergewöhnlichen Vorfall an Sie wenden, sollten Sie das Kind anrufen und ihm erzählen, dass Sie über den Vorfall informiert sind. Sie können mit dem Kind auf verschiedenen Wegen Kontakt aufnehmen: ein Treffen, ein Telefonat, ein Fax oder eine E-Mail. Sollte ein Geschwisterkind während des Vorfalls angegriffen worden sein, nehmen Sie auch mit ihm Kontakt auf und bieten Sie Ihre Hilfe an. Ganz besondere Bedeutung werden Ihren Besuchen bei der Familie zugeschrieben. Jeder Besuch stärkt die Eltern, indem er dem Kind zeigt, dass die Eltern in Verbindung mit anderen Menschen stehen, die an ihren Weg glauben und sie unterstützen. Es ist erstrebenswert, dass Sie auch bei positiven Ereignissen involviert sind. Sie können dem Kind mitteilen, dass Sie über die positiven Ereignisse oder seinen Erfolg informiert worden sind und dass Sie sich darüber freuen. Vermeiden Sie Standpauken im Sinne von: »Jetzt ist es wichtig, dass du die positiven Dinge auch auf die problematischen Bereiche ausdehnst!« Solche Aussagen verderben die positive Nachricht.
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Das Treffen der Helfer
Die Helfer treffen sich mit den Eltern und dem therapeutischen Team zu einer anderthalbstündigen Sitzung. Oft neigen Eltern dazu, die Größe der Helfergruppe einzuschränken, aus Angst, ihre Schwierigkeiten unter zu vielen Personen bekannt zu machen, oder aus dem falschen Glauben heraus, dass es besser ist, die Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen. Der Versuch, die Schwierigkeiten geheim zu halten, führt jedoch zu ihrem Fortbestehen. Außerdem ist das Geheimnis oft nur vermeintlich ein Geheimnis. Viele Probleme, wie Auseinandersetzungen in der Schule, der Umgang mit einem problematischen Freundeskreis oder Drogenkonsum, lassen sich nicht verheimlichen, sondern finden trotz der Vertuschungsversuche einen Weg an die Öffentlichkeit. Auch die Angst der Eltern, andere Menschen mit ihren Problemen zu belasten, erweist sich als unberechtigt. Die meisten Helfer freuen sich über die Teilnahme, sehen oft sogar einen Gewinn darin, die elterlichen Bemühungen unterstützen zu können. Es geschieht nicht selten, dass einige der Helfer selbst Kinder oder Familienmitglieder mit ähnlichen Problemen haben. Unsere Elternberatungsstelle3 erhält viele Anfragen von Leuten, die unsere Intervention durch ihre Beteiligung an einem solchen Unterstützertreffen kennen gelernt haben. Wir machen den Eltern deutlich, dass es möglich ist, Personen auch dann um Hilfe zu bitten, wenn diese nicht am Treffen teilnehmen können, indem etwa die Inhalte des Treffens schriftlich zusammengefasst und verschickt werden. Auf diesem Wege kann man auch Freunde oder Verwandte einbinden, die weit entfernt wohnen. Das Eingreifen eines Helfers aus dem Ausland hat eine ganz besondere Wirkung. Ein Jugendlicher, der sich problematisch verhalten hat, wird über ein Telefonat von seinem Onkel aus New York oder Moskau noch am gleichen Tag sehr überrascht sein. 3 Gemeint ist die Beratungsstelle in Tel Aviv. In Deutschland gilt Ähnliches für eine Reihe von Beratungsstellen, die sich verstärkt mit dem Konzept des Gewaltlosen Widerstands befasst haben. Wir können an dieser Stelle auf das »Kompetenznetzwerk Elterncoaching« verweisen, das am Institut für Familientherapie, Weinheim besteht. Näheres unter: www.if-weinheim.de
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Diese Aktion erzeugt bei dem Kind das Gefühl, dass die Eltern bereit sind, »die ganze Welt« in Bewegung zu setzten, um ihre elterliche Fürsorge wahrzunehmen. Manche Kinder werden sich gleichgültig zeigen und behaupten, dass es ihnen egal ist, ob alle Welt über ihr Verhalten Bescheid weiß. Das sind jedoch leere Worte. Unserer Einschätzung nach bleibt kein Kind gegenüber der elterlichen Bereitschaft gleichgültig, eine umfassende Gruppe von Helfern zu mobilisieren. Kinder sind sehr für die öffentliche Meinung empfänglich. Das zeigt sich z. B. in ihren Versuchen, sich von den Eltern Freiräume zu erzwingen, indem sie behaupten, dass »andere Eltern dies auch erlauben«. »Stammeszugehörigkeitsgefühle« sind bei Kindern und Jugendlichen noch ausgeprägter als bei Erwachsenen. Deshalb verstärkt die Tatsache, dass die Eltern ihren eigenen »Stamm« ausbauen, d. h., indem sie Helfer rekrutieren, ihr Ansehen im Bewusstsein der Kinder. Möglicherweise werden allmählich Zeichen dafür auftauchen, dass das Kind überlegt, diesem »Stamm« wieder beizutreten – ein Zeichen, dass sich die im I. Kapitel erwähnte Bindungsbereitschaft wieder verstärkt. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Kinder zur Familie während eines offenen Konflikts mit den Eltern nicht verschwindet. Positive Stimmen innerhalb der Familienbeziehungen werden auch in Zeiten des Konflikts wahrgenommen, selbst wenn sie schwach oder nicht zu hören sind. Der Aufbau eines Unterstützernetzes kann dazu beitragen, diese Stimmen hörbar zu machen und sie zu verstärken. Das Helfertreffen ist eine einmalige Gelegenheit, das Geheimnis der Probleme mit dem Kind zu lüften. Das Treffen wird mit einer detaillierten Beschreibung der Schwierigkeiten durch die Eltern eröffnet. Dies sollte auch in den Fällen geschehen, in denen die meisten Helfer bereits über die Probleme informiert sind. Die Probleme sollten in ihrer gravierendsten Form benannt werden, um der natürlichen Neigung zu widerstehen, deren Bedeutung herunterzuspielen. Anschließend wird jeder Helfer darum gebeten, seine Beziehung zu den Eltern und dem Kind zu beschreiben. Diese Beschreibungen ermöglichen es, einzelne Aufgaben auf die Helfer zu verteilen. Alle Helfer werden darum gebeten, während der nächsten Tage und Wochen mit dem Kind Kontakt aufzunehmen. Helfer, die keinen direkten Kontakt mit dem Kind haben,
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Grade der wachsamen Sorge
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können eine schriftliche Nachricht senden. Das Ziel dieser Nachricht ist klarzustellen, dass sie über das Problem informiert sind und dem Kind und den Eltern dabei helfen möchten, dieses zu überwinden. Die Gespräche der Helfer mit dem Kind müssen in einer positiven Atmosphäre geführt werden. Es ist wichtig, dass die Helfer ihren positiven Gefühlen und ihrer Anteilnahme dem Kind gegenüber Ausdruck verleihen und ihre Überzeugung aussprechen, dass das Kind die Probleme überwinden kann. Es ist sinnlos zu tadeln, zu schelten oder tiefe Erschütterung auszudrücken. Dies ist sehr wichtig, den Helfern zu vermitteln, damit sie sich nicht als die »besseren Eltern« fühlen, die nun dem Kind »ordentlich die Meinung« sagen. Gleichzeitig sollten jedoch auch die Dinge beim Namen genannt und nicht beschönigt werden (z. B. »Drogenkonsum«, »Gewaltanwendung«, »Erniedrigungen«). Die Helfer sollten klarstellen, dass die jetzige Lage unannehmbar ist und dass sie bereit sind, dem Jugendlichen zu helfen, Veränderungen herbeizuführen, die auch seinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden. Viele Eltern greifen häufig auf das Unterstützernetz zurück. Andere neigen dazu, ihre passive Haltung wieder einzunehmen, und sehen davon ab, um Hilfe zu bitten. Es ist wichtig, diese Eltern zu ermutigen, sich an Helfer zu wenden, um ihnen von den Ereignissen zu berichten oder sie zu bitten, mit dem Kind Kontakt aufzunehmen oder bei Aufsichtsmaßnahmen zu helfen. Je nach Bedarf sollte das Unterstützernetz erweitert werden, z. B. durch die Einbeziehung von schulischen Lehrkräften, von Eltern der Freunde des Kindes oder indem Einrichtungen innerhalb des gemeinschaftlichen Umfelds, wie z. B. Jugendleiter, Anti-Drogen-Kampagnen oder Sozialarbeiter des Kinder- und Jugendschutzes, informiert werden. Die Zusammenarbeit der Eltern mit den verschiedenen Einrichtungen macht die wachsame Sorge wesentlich effektiver. Ein besonderes Problem besteht, wenn es für die Eltern schwer ist, ein Unterstützungsnetzwerk zu finden, weil sie selbst sehr isoliert sind. Dies ist immer wieder bei alleinerziehenden Müttern der Fall. Hier gibt es Versuche der Beratungsstellen, Netzwerke solcher Mütter aufzubauen, die sich gegenseitig unterstützen. Die Rekrutierung von Helfern kann die Lage der Eltern grundlegend verändern. Oft kennzeichnet der Aufbau eines Helferkreises einen Wendepunkt, das Ende der Lähmung und den Übergang zu
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Wachsame Sorge in der Familie
einem konstruktiven elterlichen Kampf. Viele Eltern haben uns erzählt, dass das Ende der Einsamkeit und das Einbeziehen von Helfern ein ausschlaggebendes Ereignis für sie in ihrer eigenen Erfahrung von sich als Eltern war. In vielen Fällen ist es dies auch im Leben des Kindes. Eskalationsvorbeugung
Die Verstärkung der wachsamen Sorge und die Aktivierung der Helfer können beim Kind Wut auslösen. Eltern müssen eine Eskalation der Situation vermeiden, ohne dabei auf die Aufsichtsmaßnahmen oder auf die Rekrutierung der Helfer zu verzichten. Die Schreie und Drohungen des Kindes sollten mit Stillschweigen und Beharrlichkeit erwidert werden. Kurze Antworten, die die elterliche Absicht deutlich machen, helfen, die Situation zu entschärfen: »Wir haben keine Wahl!«, »Dies ist unsere Pflicht!«, »Wir sind nicht gewillt, dich aufzugeben!« Eltern können lernen, Diskussionen zu beenden, ohne das Kind überzeugt oder eine gemeinsame Lösung gefunden zu haben. Reaktionen ohne Worte, wie Kopfschütteln, die Arme »fatalistisch« ausbreiten oder einfach sich abwenden, vermitteln deutlich die Botschaft, dass ihre Entscheidung nicht zur Diskussion steht. Auch Helfer aus dem Unterstützerkreis können einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation leisten. Sie können sich z. B. nach der Ankündigung der Eltern über die Verstärkung der Aufsichtsmaßnahmen an das Kind wenden und ihre Hilfe bei der Formulierung von annehmbaren Lösungen zwischen ihm und seinen Eltern anbieten. Dadurch zeigen die Helfer dem Kind ihre Bereitschaft, dazu beizutragen, dass auch der Standpunkt des Kindes gehört wird. Helfer können eine wichtige Funktion in der Mäßigung von direkten Konfrontationen übernehmen. Eltern, die eine destruktive Reaktion des Kindes als Gegenzug auf eine Aufsichtsmaßnahme befürchten, können jemanden um Hilfe bitten, der bei der Rückkehr des Kindes anwesend ist. Die Anwesenheit einer dritten Person leistet einen wichtigen Beitrag zur Mäßigung der Konfrontation. In diesem Fall bleibt der Helfer bei den Eltern und verabschiedet sich am Ende seines Besuchs vom Kind – notfalls durch die geschlossene Zimmertür hindurch. Ähnlich können Eltern die Hel-
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Die Telefonrunde
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fer über die Ereignisse informieren und sie darum bitten, per Telefon abrufbar zu sein. Wenn das Treffen mit dem Kind eskalieren sollte, können die Eltern einen der Helfer anrufen und ihn darum bitten, über das Telefon mitzuhören. Sollten Eltern befürchten, dass das Kind handgreiflich wird, z. B. wenn das Kind versucht, den Telefonhörer an sich zu reißen, sollten sie sich vorerst in ein Zimmer einschließen und dem Kind durch die Tür mitteilen, dass der Helfer weiterhin über Telefon zuhört. Eltern äußern oft die Sorge, dass solch eine Handlungsweise Schwäche ausstrahlt. Wir erinnern sie daran, dass ihre Stärke sich nicht durch Macht oder Sieg in einer direkten Konfrontation äußert, sondern durch Entschlossenheit und Beharrlichkeit in ihrer elterlichen Fürsorge: Es geht nicht um die Kontrolle des Kindes, sondern um die entschiedene Demonstration der eigenen Werte und die Möglichkeit, eine »beschädigte Bindungsbeziehung« wieder zu reparieren.
Die Telefonrunde Die Bereitschaft, mit möglichst vielen Leuten Kontakt aufzunehmen, wenn das Kind nicht zur vereinbarten Stunde nach Hause kommt, ist ein zentraler Bestandteil der wachsamen Sorge. Demgegenüber ist der Versuch, das Kind über sein Mobiltelefon anzurufen, ganz und gar kein Schritt der Beaufsichtigung. Die direkte Kontaktaufnahme kann sogar schaden, wenn das Kind aggressiv reagiert oder das Telefonat abbricht oder weil die Eltern das Gefühl bekommen, ihr Recht aufgegeben zu haben, nun eine Telefonrunde durchzuführen, da sie schon direkt mit dem Kind telefoniert haben. Eine Telefonrunde hat mehrere Ziele: – wachsame Sorge auszuüben, – das Unterstützernetz auszuweiten, – Spuren der elterlichen Präsenz bei den Freunden und Bekannten des Kindes zu hinterlassen, – das Kind ausfindig zu machen. Die wachsame Sorge wird auch dann verstärkt, wenn die Eltern das Kind nicht finden. Wie bei anderen Maßnahmen auch, die die
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neue Autorität kennzeichnen, sind die Handlungen, die die Eltern im Einklang mit ihren Werten vornehmen, das Wesentliche und nicht die unmittelbare Reaktion des Kindes. Es folgen einige praktische Anweisungen zur Telefonrunde, die wir den Eltern in der Elternberatung mitgeben. Die Telefonrunde … … ist eine zentrale Maßnahme der elterlichen Aufsicht. Im Verlauf einer Telefonrunde rufen Sie so viele Leute wie möglich an (Kinder und Erwachsene), die mit Ihrem Kind in Kontakt stehen könnten, wenn es außer Haus ist. Es sollten nicht nur diejenigen angerufen werden, bei denen sich das Kind wahrscheinlich zum besagten Zeitpunkt aufhält, sondern auch andere Kinder und Erwachsene. Das Ausfindigmachen des Aufenthaltsortes und die Rückkehr des Kindes nach Hause sind nicht die wesentlichen Ziele der Telefonrunde. Das Hauptziel ist, die elterliche Präsenz wiederherzustellen. Die Telefonrunde erreicht dieses Ziel also auch dann, wenn das Kind nicht ausfindig gemacht wird, da Sie mit Hilfe der Telefonrunde ihre Beharrlichkeit beweisen, das Kind zu beaufsichtigen. Jedes durchgeführte Telefonat ist Ausdruck der erneuerten Autorität der Eltern. Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie während der Telefonrunde auf Unterstützung bei anderen Eltern stoßen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden! Das erste Stadium der Telefonrunde besteht aus dem Zusammentragen von Telefonnummern der Kinder und Erwachsenen (z. B. Sportmentor, Gruppenleiter, der Besitzer einer Disko), die mit dem Kind Kontakt haben. Sie sollten auch die Adressen und Telefonnummern der Orte sammeln, an denen sich Ihr Kind Ihrer Meinung nach aufzuhalten pflegt (Sportzentrum, VideospielZentrum, Disko usw.). Das Sammeln der Telefonnummern ist der einzige Bestandteil unserer Intervention, der ohne Wissen des Kindes unternommen wird. Für diese Zusammenstellung können Telefonlisten der Schule zu Hilfe genommen werden, Sie können freundlich die Telefonnummern der Freunde erfragen, die zu Ihnen zu Besuch kommen. In besonders schwerwiegenden Fällen, wenn Sie befürchten, dass Ihr Kind gefährliche Kontakte
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Die Telefonrunde
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geknüpft hat, können die Telefonnummern dem Handy des Kindes oder der Auflistung der ausgehenden Gespräche des Hauses entnommen werden. Das zweite Stadium erfolgt, wenn Ihr Kind sich ohne Ihre Zustimmung bei einem Ausgang verspätet. In diesem Fall rufen Sie so viele Telefonnummern wie möglich an, von Leuten und Orten, die auf der Liste aufgeführt sind. Sie sollten sich nicht nur mit einem Telefonat mit der Person begnügen, von der Sie meinen, dass Ihr Kind sich dort aufhält. Sie wollen Ihr Kind nicht nur finden, Sie wollen ihm auch eine wichtige Botschaft von Präsenz und Aufsicht vermitteln. Es folgen Formulierungsvorschläge für die Gesprächsführung mit verschiedenen Personen: Freunde des Kindes: Sie stellen sich vor, sagen, dass Ihr Kind verschwunden ist und dass Sie es suchen. Sie sollten fragen, ob der Freund Ihr Kind in der Schule gesehen hat, ob er etwas über seine Pläne gehört hat und ob er eine Ahnung hat, wo es sein könnte. Sie können den Freund auch fragen, ob er noch andere Freunde kennt, die es lohnt anzurufen. Sie bitten den Freund darum, dass er Ihrem Kind ausrichtet, dass sie angerufen haben und es suchen, falls er es trifft. Viele Freunde überbringen diese Nachrichten unter anderem, um das Kind damit zu necken, dass seine Eltern ihn suchen. So stellen diese Nachrichten deutliche Zeichen Ihrer elterlichen Präsenz dar. Es ist wichtig, den Freund zu fragen, ob er bereit ist mitzuhelfen, Ihr Kind davon zu überzeugen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Dies ist ein wichtiger Moment im Gespräch, da Sie, je nachdem wie die Antwort ausfällt, entscheiden, ob er Ihnen in Zukunft in der Rolle eines Vermittlers wird helfen können. Sollte der Freund Ihre Bitte um Hilfe ernst nehmen, sollten Sie versuchen, sich mit ihm zu treffen. Auf diese Weise breitet sich das Unterstützernetz auch auf einzelne Freunde Ihres Kindes aus! Diese Ausweitung kann wesentliche Bedeutung erhalten. Am Ende des Gesprächs mit dem Freund bitten Sie ihn darum, mit einem seiner Eltern zu sprechen. Eltern der Freunde: Sie stellen sich vor und erklären Ihren Anruf. Einer der besten Wege, andere Eltern zu gewinnen, ist, ihnen von
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Ihren Sorgen zu erzählen: »In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass mir mein Kind entgleitet!« Diese Aussage löst bei vielen Eltern Solidaritätsgefühle aus. Sie können die Eltern darum bitten, Ihren Sohn nicht ohne Ihre ausdrücklichen Genehmigung bei sich schlafen zu lassen. Jede positive Aussage der Eltern des Freundes kann als Anlass zu einem Treffen genutzt werden. Das Potenzial zum Aufbau von Bündnissen mit den Eltern der Freunde des Kindes ist grundsätzlich hoch! Angestellte/Personal der Vergnügungsstätten: Bitten Sie die Person, Ihr Kind ausfindig zu machen und ihm auszurichten, dass Sie es suchen. Sollte es schon spät sein und Sie befürchten, andere Leute zu wecken und eine negative Reaktion auszulösen, können Sie eine Textnachricht (SMS) verschicken, in der Sie sagen, dass Ihr Kind nicht nach Hause gekommen ist und Sie um einen Rückruf bitten. Die komplette Telefonrunde kann dann am darauffolgenden Tag durchgeführt werden. In diesem Fall sagen Sie den Leuten, dass Ihr Kind am vorangegangenen Abend verschwunden ist und dass Sie sich entschieden haben, in solchen Fällen nicht mehr passiv zu sein, sondern versuchen herauszufinden, wo es sich zu solch später Stunde aufgehalten hat. Bitten Sie darum, dass die anderen Ihnen erzählen, was sie wissen, und fragen Sie, ob sie in Zukunft bereit seien, Ihnen zu helfen. Sollte Ihr Kind protestieren, dass Sie es grundlos blamieren – es ist ja am darauffolgenden Morgen schon zu Hause –, sollten Sie ihm mitteilen, dass sie sich entschieden haben, sich nicht weiter mit der Situation abzufinden, in der es verschwindet und Sie unfähig sind, es zu erreichen. Die Regeln für die Telefongespräche am darauffolgenden Tag sind die gleichen wie die der regulären Telefonrunde. Es ist von großer Wichtigkeit, Konfrontationen und eine Eskalation der Situation zu vermeiden, wenn das Kind nach Hause kommt. Es ist zu erwarten, dass das Kind wütend auf Sie und Ihre Telefonrunde sein wird. Seien Sie bereit, seine Wut ohne weitere Herausforderungen, Drohungen, Rechtfertigungen oder Diskussionen auszuhalten (»Stoßdämpferhaltung«). Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie kein Interesse haben, irgendjemanden anzurufen,
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Die Telefonrunde
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solange es Ihnen mitteilt, wo es sich befindet, und die Stunde einhält, zu der es zu Hause sein muss. Sollte das Kind trotzdem nicht aufhören und weiter toben und drohen, sagen Sie in ruhigem Ton: »Dies ist unsere Pflicht!« oder »Wir haben keine Wahl!«. Sollte das Kind Sie weiter angreifen, wiederholen Sie die Worte in noch leiserem Tonfall. Der leise Ton wirkt deeskalierend. Nach einigen Wiederholungen dieser Worte brechen Sie die Diskussion ab und wenden Sie sich Ihren eigenen Angelegenheiten zu. Tun Sie dies ohne weitere Drohungen oder Warnungen. Auch wenn Ihr Kind die Türen schlägt oder Sie beschimpft, haben Sie Ihr Ziel erreicht: Sie haben Ihren Grad an elterlicher Aufsicht verstärkt.
Die Bereitschaft der Eltern, bei Bedarf eine Telefonrunde durchzuführen, verändert entscheidend ihren Status. Die Eltern beweisen hiermit, dass sie nicht auf ihre Fürsorgepflicht verzichten, auch wenn dies starken Protest auslöst. In kürzester Zeit lernen sie viel über die Handlungen und Kontakte ihres Kindes. Ihre Bereitschaft, Kinder und Erwachsene anzurufen, die mit dem Kind in Kontakt stehen, befreit sie aus der passiven und zögerlichen Rolle, die sie vorher innehatten. Diese Erfahrung stärkt die Eltern. Schon nach der ersten Telefonrunde sinkt die elterliche Hilflosigkeit, sie empfinden sich als starke und mutige Eltern, die bereit sind, auch in tabuisierte Gebiete einzudringen, sollte dies zum Schutz ihres Kindes notwendig sein. Die Kontakte, die während einer Telefonrunde aufgebaut werden, erweitern das Unterstützernetz der Eltern und liefern weitere potenzielle Vermittler. Die Verstärkung der wachsamen Sorge hat nicht immer eine schnelle Veränderung beim Kind zur Folge. Dies ist auch nicht in erster Linie das Ziel, es geht nicht um die Kontrolle des Kindes. Die Veränderungen bei den Eltern und in der Umwelt des Kindes verringern die Gefahr, der das Kind ausgesetzt ist, auch wenn das Kind seine negative Haltung beibehält. Die Auswirkungen der Aufsichtsmaßnahmen betreffen nicht nur die Eltern, die Helfer und das Kind. Auch die fragwürdigen Personen, mit denen das Kind in Verbindung steht, verstehen bald, dass das Kind eine ganze Gruppe von verantwortlichen Erwachsenen mit sich bringt. Unter diesen Umständen
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nimmt deren Bereitschaft ab, das Kind als Klient oder als Partner in zwielichtigen Geschäften anzusehen.
Die Präsenz vor Ort In Philip Roths Roman »Amerikanisches Idyll« wird die Geschichte einer Jugendlichen aus gutem Hause in New Jersey erzählt, die sich mit einer Bande Anarchisten in New York anfreundet. Der besorgte Vater versucht seine Tochter davon zu überzeugen, den Kontakt abzubrechen, nähert sich ihr im offenen Gespräch, sucht sich professionelle Beratung und befragt sie ausführlich über die Kontakte mit dieser Bande. Trotz seiner großen Bemühungen wird die Verbindung zur Bande immer enger und die Tochter verbringt ihre Tage und Nächte mit der Gruppe. Die Befürchtungen des Vaters werden auf grausame Weise Wirklichkeit, als seine Tochter an einem Überfall auf ein Postamt teilnimmt und einer der Beamten dabei getötet wird. Angesichts der enormen Anstrengungen des Vaters, seine Tochter zu retten, ist es erstaunlich festzustellen, dass dem Vater überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, den Hudson River zu überqueren, der New Jersey von New York trennt, um seine Tochter in New York aufzusuchen. Auch die professionellen Instanzen, mit denen er sich beraten hatte, haben diese Option nicht angesprochen. Wir können uns ein alternatives Szenario vorstellen, in dem der Vater, vielleicht mit Unterstützung einiger Freunde und Verwandte, den Ort aufsucht, an dem seine Tochter sich mit ihren Freunden aufhält. Er könnte dort wieder und wieder erscheinen, dort auch einige Stunden verweilen, mit den anarchistischen Freunden sprechen und sie daran erinnern, dass seine Tochter erst 16 Jahre alt ist. Diese Demonstration der entschlossenen elterlichen Präsenz hätte sicherlich die Einbindung der jugendlichen Tochter in diese fragwürdige Gesellschaft erschwert. Es ist schwer vorstellbar, dass eine anarchistische Gruppe, die einen Überfall auf ein Postamt plant, Interesse an einer 16-jährigen Jugendlichen hätte, deren Vater hartnäckig an ihrer Seite bleibt. Dass der Vater nicht so handelte, hat unter anderem damit zu tun, dass die Privatsphäre als solch ein absoluter Wert gilt, dass das Eindringen in diesen geheiligten Bereich
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Die Präsenz vor Ort
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undenkbar ist. Der Hudson River wird zu einer unüberwindbaren Grenze, die zwei souveräne Territorien definiert: New Jersey, wo der Vater das Gefühl hat, auf legitime Art handeln zu können und sich seiner Tochter zu nähern, und New York, das Gebiet der jungen Anarchisten, das für den Vater als unnahbar gilt und zu dem er hoffnungslos hinüberblickt. Keinen Aufruhr stiften Eine Mutter erzählt: »Neben meinem Haus wurde eine Krippe für Kleinkinder eröffnet. Eines Morgens sprach mich eine Frau an, stellte sich als eine der Mütter vor, deren einjährige Tochter in der Krippe sei. Sie schien besorgt und versuchte herauszufinden, ob ich in meinem Haus hören würde, was sich in der Krippe abspiele. Ich antwortete, dass ich die Pflegerinnen singen oder schreien höre und die Kinder weinen oder lachen. Ich fügte hinzu, dass ich beunruhigt sei, da die Kinder sich unter einem Asbest-Dach aufhielten, was die Kindergärtnerin aber abstreite. Die Angelegenheit mit dem Dach gab ihr die Gelegenheit, mich in ihre Sorgen einzuweihen, die sie bezüglich der Krippe habe. Sie vertraue der Kindergärtnerin nicht und habe unter verschiedenen Vorwänden sogar die Krippe inspiziert. Sie habe herausgefunden, dass manchmal nur eine Pflegerin anwesend sei, und nicht zwei, wie ausgemacht. Als sie die Kindergärtnerin daraufhin angesprochen habe, habe diese entgegnet, dass die zweite Pflegerin nur für einige Minuten weggegangen sei. Die Mutter glaubte der Erzieherin nicht und war durch diese Aussage nicht beruhigt. Als ich fragte, warum sie ihre Tochter nicht in einer andere Krippe anmelde, antwortete sie: ›Erstens mag ich keinen Aufruhr stiften, und außerdem, sind die anderen Krippen denn besser?‹ Ich sagte ihr daraufhin, dass ich eine sehr gute Krippe kenne, in der meine drei Kinder waren. ›Wenn du die Kindergärtnerin schon beim Lügen erwischt hast und wegen des Asbest-Daches beunruhigt bist, was hast du da zu verlieren, wenn du deine Tochter in eine andere Krippe bringst?‹ Darauf antwortete die Mutter: ›Du weißt ja nicht, was sich da abspielt. Die Kindergärtnerin hat eine ganze Gruppe von Müttern, alles Nachbarn, um sich geschart, die sind wie eine Mafia. Man kann kein schlechtes Wort sagen. Ich fürchte, dass sie sich am Ende an meiner Tochter rächen wird …‹«
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Die Mutter erklärt, dass sie »keinen Aufruhr stiften möchte«. Dieser Ausdruck weist auf eine elterliche Haltung hin, bei der man auf Zehenspitzen geht und beinahe jede Handlung außerhalb der eigenen vier Wände nicht legitim ist. Der Kindergarten wird zu einem fremden Ort, in dem andere gefährliche Regeln gelten. Die Scheu der Eltern, sich einzumischen, nimmt mit dem Älterwerden des Kindes zu. Eltern eines Jugendlichen, der sich in fremden Territorien wie Diskotheken, öffentlichen Parks oder Straßenecken aufhält, erreichen oft einen Punkt, an dem sie wegen der selbst auferlegten Einschränkungen handlungsunfähig sind. Immer ausgedehntere Bereiche werden als »Königreich der Jugend« betrachtet, das für die Erwachsenen verboten ist. Die Notwendigkeit elterlicher Fürsorge und Aufsicht erfordert eine neue Sichtweise, die im Notfall dazu verpflichtet, die geheiligten Mauern dieses Königreichs zu durchbrechen. Es folgen die Anweisungen zum Thema »Präsenz vor Ort«, die wir in unserer Elternberatungsstelle aushändigen. Präsenz vor Ort Es kann Situationen geben, in denen es unumgänglich ist, dass die Eltern den Ort aufsuchen, an dem sich das Kind ohne Erlaubnis aufhält, um »tote Winkel« aufzudecken, d. h. Bereiche ohne elterliche Aufsicht, die durch die unerlaubten Ausgänge und andere verheimlichte Aktivitäten des Kindes entstehen. Forschungen haben gezeigt, dass Situationen, in denen Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen und sich ihrer Aufsicht entziehen, zu unverantwortlichen Handlungen führen können. Wenn Jugendliche den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, so ist dies meist das Ergebnis einer Entwicklung, in der die elterliche Präsenz allmählich abgenommen hat. Die elterliche Beharrlichkeit, auch außerhalb des Hauses Präsenz zu demonstrieren, soll nicht nur dazu beitragen, gefährliche Handlungen abzuwehren, sondern vor allem helfen, neue Brücken zu bauen. Eine Weigerung des Kindes, mit den Eltern in Kontakt zu treten, sollte nicht mit einer Zurückweisung von Seiten der Eltern beantwortet werden, z. B. durch Abschließen der Haustür oder die wütende Aussage »Soll er doch tun, was er will!«, sondern durch die Verstärkung der Aufsicht und
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Die Präsenz vor Ort
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Präsenz. Es ist zu erwarten, dass das Kind gegen die elterlichen Maßnahmen protestieren wird. Es kann bewusst heftige Auseinandersetzungen herbeiführen oder den Kontakt völlig abbrechen. Die Eltern müssen beide Situationen bewältigen, indem sie weiterhin ihre wachsame Sorge ausüben und sich nicht in eine Auseinandersetzung hineinziehen lassen. In schwierigen Situationen sagen Sie sich fortlaufend: »Nicht nachgeben! Nicht ausrasten!« Wir empfehlen Ihnen, unter folgenden Umständen Ihre Präsenz vor Ort zu demonstrieren: Das Kind ist von zu Hause weggerannt. Das Kind wird in dieser Situation versuchen, Unterkunft bei Freunden, bei Familienmitgliedern, bei Straßenkindern oder bei einer Gruppe von Jugendlichen zu finden. Auch wenn das Wegrennen eine extreme Handlung ist und zunächst den Abbruch des Kontakts bedeutet, so wird das Kind voraussichtlich nicht über Ihr Erscheinen überrascht sein: Das Kind weiß, dass Eltern auf außerordentliche Vorfälle mit außerordentlichen Maßnahmen reagieren. Das Kind kommt abends nicht zur vereinbarten Stunde nach Hause oder verschwindet für viele Stunden während des Tages. Anders als das Wegrennen von zu Hause, das ein besonders außergewöhnlicher Vorfall in stürmischen Zeiten ist, neigen die Eltern dazu, Verspätungen und das zeitweise Verschwinden des Kindes als alltägliche Ereignisse hinzunehmen. Das Kind betrachtet sein Verschwinden meist als sein »grundlegendes Recht«, das die Eltern schon längst als selbstverständlich akzeptiert haben. Deswegen wird das Kind mit Erstaunen und heftigerem Widerstand auf Ihr Kommen reagieren, als in der Situation, wenn es weggerannt ist. Das Kind befindet sich in fragwürdiger Gesellschaft. Im Umgang mit dubiosen Freunden liegt erwiesenermaßen eine der größten Gefahren für ein Kind. Ihr unkontrollierter Einfluss kann die Situation verschlechtern und zu schädlichem Verhalten führen, wie z. B. Drogenkonsum, Schulabbruch und kriminellen
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Handlungen. Hier einige Richtlinien für Ihr Verhalten, wenn Sie mit Ihrem Kind in einer solchen Situation Kontakt aufnehmen: – Fordern Sie in leisem Ton, dass das Kind mit Ihnen nach Hause kommt. – Vermeiden Sie jede Art von Diskussion, Anschreien oder Drohungen. – Vermeiden Sie jede Handlung, die zu einer Eskalation der Situation führen könnte, wie z. B. das Kind gegen seinen Willen festhalten oder ins Auto ziehen oder dem Kind hinterherrennen, wenn es wegläuft. – Verbringen Sie so viel Zeit, wie nur möglich, in der Nähe des Kindes. Denken Sie daran: Der Erfolg dieser Maßnahme hängt nicht davon ab, ob Sie Ihr Kind nach Hause bringen, sondern er liegt in Ihrem Vermögen, Präsenz zu zeigen und einem Kontaktabbruch entgegenzuwirken. Die nötigen Vorbereitungen für die Kontaktaufnahme mit dem Kind sind je nach Situation unterschiedlich. Hier einige Beispiele: Besuch bei einem Freund Klingeln Sie an der Tür und sagen Sie, dass sie gekommen sind, um Ihr Kind abzuholen. Sollte Ihr Kind erscheinen, können Sie ihm sofort sagen, dass Sie nicht beabsichtigen, es zu bestrafen, dass Sie aber darauf bestehen, es mit nach Hause zu nehmen. Sollte das Kind eine ausweichende Antwort geben oder sich weigern, an die Tür zu kommen, sagen Sie ihm, dass Sie warten werden. Fragen Sie den Freund oder seine Eltern, ob Sie im Haus warten dürfen. Ihr Eintritt in das Haus des Freundes intensiviert Ihren Eingriff deutlich. Sollte Ihnen verwehrt werden, das Haus zu betreten, warten Sie vor der Tür und klingeln sie alle zehn Minuten mit der Bitte, das Kind möge mit Ihnen nach Hause kommen. Ein Besuch bei einem Freund bietet auch die Gelegenheit, mit dessen Eltern zu sprechen, ihnen die Lage zu erklären und mit ihnen, wenn möglich, ein Bündnis zu schließen. Die Tatsache, dass die Eltern des Freundes Ihre Sorge sehen, Ihr selbstbeherrschtes Verhalten erleben und Zeugen Ihres Versprechens
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Die Präsenz vor Ort
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sind, das Kind nicht zu bestrafen, erzeugt besonders gute Voraussetzungen für ein Bündnis. Besuch an einer Straßenecke, bei einer Party oder in einer Diskothek Nähern Sie sich Ihrem Kind und teilen Sie ihm mit, dass Sie es mit nach Hause nehmen möchten und dass es keine Bestrafung zu erwarten hat. Sollte das Kind davonrennen, laufen Sie ihm nicht nach, da dadurch die Situation eskalieren kann. Stattdessen nutzen Sie die Gelegenheit, mit seinen Freunden Kontakt aufzunehmen. Stellen Sie sich vor, erklären Sie Ihre Sorge, fragen Sie nach den Namen und bitten Sie um die Telefonnummern der Freunde. Sie können versprechen, dass Sie nur in Notfällen anrufen werden. Ein weit verbreiteter Fehler ist es anzunehmen, dass alle Freunde die gleiche Meinung haben. Unter den Freunden gibt es meist auch positiver eingestellte Kinder, und es könnte sein, dass gerade diese zu einem Gespräch mit Ihnen bereit sind. Während des Gesprächs mit den Freunden können Sie Folgendes sagen: »Vielleicht ist unser Sohn anders als ihr, vielleicht begibt er sich schneller in Gefahr oder er hat weniger Selbstkontrolle als ihr.« oder »Vielleicht seid ihr unabhängiger und habt mehr Erfahrung. Meine Tochter ist erst 14 Jahre alt!« oder »Vielleicht wisst ihr besser, wann man aufhören muss, z. B. wenn ihr trinkt oder raucht. Ich befürchte, und vielleicht habt ihr das beobachtet, dass meine Tochter in diesen Situationen die Kontrolle verliert.« Diese Kontakte können Bündnisse entstehen lassen und unerwartete Helfer rekrutieren. Einige wenige dieser Kinder könnten eine wichtige Rolle als Vermittler spielen oder Ihnen dabei helfen, Ihr Kind ausfindig zu machen. In einigen Fällen übernahmen auf diese Weise Freunde die wichtige Aufgabe, das Kind wieder nach Hause zu bringen, nachdem es von zu Hause weggelaufen war. Präsenz vor Ort, wenn das Kind von zu Hause weggelaufen ist und sich einer Gruppe anderer Kinder angeschlossen hat, die zusammen leben In diesem Fall sollten Sie ähnlich wie bei den vorigen Fällen handeln. Bereiten Sie sich jedoch darauf vor, dass der Prozess län-
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Wachsame Sorge in der Familie
ger dauern wird. Ein Elternpaar verbrachte drei Tage neben dem Strand, an dem die Jugendgruppe sich aufhielt, bis ihre Tochter, die schon einen Monat außerhalb des Hauses lebte, einwilligte, mit ihnen nach Hause zu kommen. Die Begleitung eines Freundes oder eines weiteren Familienmitgliedes stellt eine weitere Stütze dar: – Wenn der Aufenthaltsort des Kindes bedenklich ist, z. B. wenn es sich in der Gesellschaft von Kriminellen befindet, kann Unterstützung ungemein helfen. – Die Demonstration Ihrer Präsenz erhält weiteres Gewicht, wenn Sie durch eine Person begleitet werden. – Der Helfer kann versuchen, als Vermittler zwischen Ihnen und Ihrem Kind zu fungieren, und dabei helfen, einen Kompromiss zu finden, der dem Kind ermöglicht, mit Ihnen nach Hause zu kommen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Denken Sie vor allem daran: Ziel ist nicht, das Kind zu unterwerfen oder es gegen seinen Willen nach Hause zu bringen. Ziel ist es, mit Ihrem Kommen und Ihrem Aufenthalt vor Ort auf entschiedene, klare und freundliche Art Ihre Präsenz zu demonstrieren und den Grad der elterlichen Aufsicht zu verstärken! Es genügt, dass Sie »da« sind, Sie müssen nicht »gewinnen«. »Die drei Mütter« Die allein erziehende Mutter eines 14-jährigen Jungen suchte Hilfe, da ihr Sohn sich weigerte, zur vorgegebenen Stunde nach Hause zu kommen. Bei einer dieser Gelegenheiten war er die ganze Nacht weggeblieben. Als die Mutter ihn endlich über sein Handy erreichte, weigerte er sich, ihr seinen Aufenthaltsort zu nennen, und brach das Gespräch ab. Der Junge verbrachte viel Zeit mit einer Gruppe, die sich im Skateboard-Fahren übte. Die Mutter nahm den Kontakt mit zwei Müttern dieser Gruppe auf. Die drei Mütter fingen an, sich in einem Café zu treffen, das in der Nähe des Übungsplatzes ihrer Kinder lag, und Rundgänge zwischen den Aufenthaltsorten der Jugendlichen zu unternehmen. Als die Kinder die Mütter dort sahen, hatte
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Die Präsenz vor Ort
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am darauffolgenden Tage der Junge, dessen Mutter dieses Treffen initiiert hatte, einen Wutausbruch ihr gegenüber. Diese sagte ihm, dass die drei Mütter sich in ihrer Sorge um ihre Kinder zusammengefunden hätten und dass sie sich nicht in die Aktivitäten der Kinder einmischen würden, unter der Bedingung, dass diese die vorgegebene Heimkehrstunde einhielten. Die drei Mütter einigten sich auf eine gleiche Zeit, zu der die Kinder nach Hause kommen sollten. Sie teilten den Kindern mit, dass sie keine andere Wahl hätten, als zusammen zum Aufenthaltsort der Kinder zu kommen, sollten diese nicht zur festgesetzten Zeit zu Hause sein. Des Weiteren sagten sie, dass sie als Team arbeiteten und dass sie schon die Eltern weiterer Gruppenmitglieder kontaktiert hätten. Sie machten unter sich aus, dass, sollte einer der Jungen Druck auf seine Mutter ausüben, damit sie die Aufsicht unterlasse, eine der anderen Mütter ihn anrufen und ihm mitteilen würde, dass dies gemeinsame Maßnahmen einer verantwortungsvollen Elterngruppe seien. Nach einigen Besuchen fand sich ein Kompromiss zwischen den Kindern und den Müttern bezüglich der Heimkehrstunde. Die drei Elternpaare Ein Elternpaar wandte sich mit der Bitte um Hilfe an uns, als sie entdeckten, dass ihre 15-jährige Tochter Marihuana rauchte. Während eines Klärungsgesprächs stellte sich heraus, dass sie dies regelmäßig mit einer Gruppe von Schulfreunden tat. Der Therapeut ermutigte die Eltern, sich an einige der Eltern der Freunde zu wenden, und es gelang ihnen, zwei Elternpaare als Helfer zu rekrutieren. Diese drei Paare trafen sich mit dem Therapeuten, und unter seiner Supervision teilten sie ihren Kindern mit, dass sie diese von nun an intensiv beaufsichtigen würden und dass sie mit den Eltern einiger Freunde in Kontakt stünden. Die drei Paare telefonierten miteinander, sobald ihre Kinder nicht offen mitteilten, wie und mit wem sie den kommenden Abend zu verbringen gedachten. Durch diese Telefonate erfuhren die Eltern, dass die Kinder das Marihuana bei einem Jugendlichen in der Schule kauften, der in der Vergangenheit schon einmal beim illegalen Drogenhandel erwischt worden war. Die drei Elternpaare wandten sich an diesen Jugendlichen und teilten ihm mit, dass sie Details über sein Dealen hätten. Sie sagten ihm, dass sie nicht daran interessiert seien, die Polizei zu benach-
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richtigen, sondern die Drogentreffen in der Gruppe zu beenden. Sie warnten ihn, dass sie sich mit ihrer Information sowohl an seine Eltern als auch an die Polizei wenden würden, sollten ihre Kinder ein weiteres Mal Drogen rauchen. Die Eltern informierten ihre eigenen und andere involvierte Kinder über diese Maßnahmen. In Folge der gemeinsamen elterlichen Wachsamkeit wurde der Drogenkonsum der Gruppe beendet. Es tauchten keine weiteren Anzeichen von vereinzeltem Rauchen bei den drei Jugendlichen auf. Unerwartete Aufsicht Sebastian, ein 13-jähriger Junge, war früher ein ausgezeichneter Schüler gewesen. In der siebten Klasse begann er, sich nicht mehr für die Schule zu interessieren. Schrittweise hörte er auf, Hausaufgaben zu machen, sich auf Prüfungen vorzubereiten und dem Unterricht beizuwohnen. Er verbrachte die ganzen Abendstunden und manchmal sogar die späten Nachtstunden auf einem Übungsplatz, wo sich alle Skateboard-Liebhaber der Umgebung tummelten. Er war mit Abstand der Jüngste unter ihnen, erlangte aber bald Dank seiner Persönlichkeit und seiner Geschicklichkeit großes Ansehen. Er weigerte sich, den Eltern, Marianne und Eckhard, zu sagen, wo er sich aufhielt und wann er wiederkomme. Oftmals verschwand er mit einem der jüngeren Gruppenmitglieder und schlief bei ihm, ohne seine Eltern zu informieren. Ein Mal verschwand er für zweieinhalb Tage, und die Eltern fanden ihn erst, nachdem sie die Polizei benachrichtigt hatten. Die Eltern versuchten einige Male, ihn mit dem Streichen seines Taschengeldes, mit Computer-Verbot oder durch die Beschlagnahmung seines Skateboards zu bestrafen. Diese Maßnahmen führten zu heftigen Auseinandersetzungen. Das Gefühl, dass ihr Sohn sich in einer gefährlichen Lage befand, rechtfertigte die Entscheidung der Eltern, seinem Handy die Namen und Telefonnummern seiner Freunde zu entnehmen. Marianne und Eckhard bereiteten sich auf eine langwierige Präsenz auf dem SkateboardPlatz vor. Sie erschienen dort Abend für Abend und blieben bis zum Ende der Aktivitäten. Manchmal willigte Sebastian ein, mit ihnen im Auto nach Hause zu fahren, weigerte sich aber während der Fahrt, mit ihnen ein Wort zu wechseln. Sie riefen die Jugendlichen der Gruppe an, baten um Rückruf und hinterließen Textnachrichten (SMS), in denen sie klarstellten, dass Sebastian der Jüngste unter
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ihnen war und dass sie sich um ihn sorgten, da er immer häufiger verschwand, draußen schlief und sich weigerte, die Schule zu besuchen. Die nächtlichen Aufenthalte und die Telefonate fingen an, Früchte zu tragen: Einige der Jugendlichen antworteten auf die Nachrichten der Eltern und begannen, sich mit ihnen zu unterhalten, wenn sie auf dem Platz anwesend waren. Die Eltern wurden zu einer »Attraktion« und gaben den jüngeren Kindern die Möglichkeit, zwischen den Übungen durch Abstecher in ihre Richtung Pausen einzulegen. Diese Aktionen schienen Sebastian kaum zu beeinflussen, aber die Eltern bemerkten, dass er seine Skateboard-Runden verkürzte, um ihrem Blick nicht zu begegnen. Allmählich erhielten die Eltern immer detailliertere Einsicht in Sebastians Freundschaften und seine Aktivitäten. Sie erkannten, dass der Junge, bei dem Sebastian vermutlich übernachtete, wenn er von zu Hause verschwand, bei den anderen Jugendlichen der Gruppe kein hohes Ansehen genoss. Sie sahen, dass einer der älteren Jugendlichen Sebastian unter seine Fittiche genommen hatte, nachdem er die Sorgen der Eltern verstanden hatte. Nach etwa zwei Wochen nächtlicher Präsenz auf dem Platz, schlug Marianne einem Jugendlichen, der einen guten Stand in der Gruppe zu haben schien, vor, dass die Gruppe zu ihnen zu Besuch kommen sollte: »Essen auf meine Kosten!« Der Jugendliche besprach sich mit seinen Freunden und stimmte zu. Die Gruppe kam nicht zur vereinbarten Stunde. Nach einer kurzen Weile rief Marianne den Jugendlichen an, mit dem sie das Treffen vereinbart hatte. Er sagte, dass Sebastian sich weigere zu kommen. Daraufhin antwortete die Mutter, dass sie gerne auch ohne Sebastian zu Besuch kommen könnten. Nach Viertelstunde klopfte es an der Tür und eine Gruppe von fünf Jugendlichen trat ein. Eckhard sagte: »Ich sehe, dass Sebastian nicht mitkommen wollte?« Einer der Jugendlichen antwortete: »Doch, er kommt gleich mit der zweiten Gruppe nach!« Nach weiteren zehn Minuten kam Sebastian zusammen mit sechs anderen Jugendlichen. Sebastian schwieg den größten Teil des Abends und blickte finster drein. Die Eltern beschrieben der Gruppe Sebastians Situation, dass er die Schule abgebrochen habe und nachts verschwinde. Sie sagten, dass die Situation vollkommen außer Kontrolle geraten sei, dass das Jugendamt sich eingeschaltet habe und an der Schule von drastischen Maßnahmen gesprochen werde. Die Eltern sagten, sie seien zu allem bereit, um
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Sebastian zu Hause zu behalten, aber es müsse ein Minimum an Sicherheit für Sebastian und sie gewahrt werden. Das Gespräch, das sich hierauf entwickelte, überraschte Marianne und Eckhard völlig. Die Jugendlichen fingen an, auf Sebastian Druck auszuüben, er solle wieder in die Schule gehen, und dies in einem Ton, in dem die Eltern niemals gewagt hätten zu reden: »Sag, bist du bescheuert? Willst du eine Null sein? Wir alle müssen in die Schule gehen!« Sebastian antwortete nicht, aber es war deutlich, dass er den Aussagen nicht gleichgültig zuhörte. Die Diskussion dauerte über zwei Stunden, und am Ende schafften es die Jugendlichen, Sebastian zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass er wieder zur Schule gehen werde. Der ältere Jugendliche, der Sebastian unter seine Fittiche genommen hatte, bot an, sich mit Sebastian hinzusetzen, um den Unterrichtsstoff in Mathematik nachzuholen. Während eines Telefongesprächs am nächsten Tag versprach er Marianne, dass er am Ende der Aktivitäten auf dem Übungsplatz Sebastian nicht alleine nach Hause gehen lassen werde. Sebastian kehrte in die Klasse zurück, und zum ersten Mal gab es Hoffnung, dass er sich wieder als Schüler eingliedern würde. Er willigte ein, den Eltern zu berichten, wenn er sich irgendwo anders außerhalb des Skateboard-Platzes im Stadtzentrum aufhalte. Die Eltern teilten Sebastian und seinen Freunden mit, dass sie einverstanden seien, dass Sebastian an den Wochenenden und während der Ferien erst nach Hause kommen müsse, wenn die gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe beendet wären, dies aber unter der Bedingung, dass ihn jemand nach Hause begleite. Auf diese Weise wurde Sebastian das Gefühl vermittelt, dass er einen Kompromiss erreicht habe. Seine Einwilligung wurde den Freunden mitgeteilt und stellte in seinen Augen keine Kapitulation gegenüber seinen Eltern dar, was eine Verletzung seiner Ehre bedeutet hätte. Die Schwierigkeiten endeten hiermit noch lange nicht. Einen Monat später verschwand Sebastian wieder für einige Nächte. Dieses Mal gelang es aber den Eltern, über Umwege mit Hilfe seiner Freunde telefonischen Kontakt zu Sebastian aufzubauen. Die Freunde schafften es, zwischen Sebastian und seinen Eltern zu vermitteln, so dass er aus freien Stücken nach Hause kam. Die Eltern wussten, dass ihnen noch ein langer Weg bevorstand, aber ihr Vermögen, für ihren Sohn Fürsorge zu tragen und ihn zu beaufsichtigen, war eindeutig gewachsen.
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Wachsame Sorge im Haus Ereignisse wie Gewalt unter Geschwistern, das Klauen von Sachen anderer Familienmitglieder und der Missbrauch der eigenen Privatsphäre für unakzeptable Aktivitäten erfordern eine Verstärkung der wachsamen Sorge auch innerhalb des Hauses. Aufsichtsmaßnahmen stärken sowohl die tatsächliche Sicherheit des Kindes als auch sein Gefühl der Sicherheit, da es weiß, dass die Eltern in seiner Nähe sind und an seinem Leben Anteil nehmen. So wie außerhalb des Hauses wird die elterliche Wachsamkeit zu Hause in unterschiedlichen Gradabstufungen durchgeführt: als offener Dialog, als direkte Befragung und als einseitige Maßnahme. Offener Dialog
Wir haben gesehen, wie das Handlungsvermögen der Eltern unterbunden wird, wenn Informationen hinterrücks eingeholt werden. Eltern, die ohne Wissen des Kindes hinter ihm herspionieren, sind handlungsunfähig, da sie sonst ihre geheimen Zugriffe verraten würden. Auch Eltern, die ausschließlich eine freundschaftliche Nähe zu ihren Kindern suchen, fällt es oftmals schwer, als Eltern zu handeln, da dies die Freundschaft verletzen könnte. Die wachsame Sorge erfordert eine klare elterliche Position. Ein offener Dialog im Sinne der wachsamen Sorge bedeutet, dass die Eltern dem Kind nicht als Freunde, sondern als Eltern zuhören. So kann z. B. eine Mutter ihrer Tochter im Teenageralter sagen, wenn das Thema Intimität und Privatsphäre angesprochen wird: »Ich erlaube dir viel mehr Privatsphäre als früher, da du nun eine Jugendliche bist. Mir ist es jedoch wichtig, dass du weißt, dass du dich auf mich verlassen und mir Dinge erzählen kannst, die dich beschäftigen und mit denen du dich auseinandersetzt.« Diese Aussage ist eine Einladung zur Offenheit und Aufrichtigkeit, während die elterliche Haltung bewahrt wird. Eltern können Respekt vor der Privatsphäre des Kindes zeigen und gleichzeitig ihre elterliche Pflicht betonen, z. B. durch folgende Aussage: »Ich respektiere deine Privatsphäre in deinem Zimmer. Aber ich mag es nicht, dass du dich einsperrst. Ich schlage vor, dass ich immer anklopfe, bevor ich dein Zimmer betrete, dass du aber die Tür nicht ab-
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schließt.« Dadurch erinnern Eltern das Kind – und sich selbst – daran, dass sie Eltern bleiben. Dadurch versteht das Kind, dass das Gespräch mit den Eltern anders ist als mit Freunden, selbst wenn es sehr offen sein kann. Ein offenes Gespräch dieser Art kann unter anderem über die Internetnutzung geführt werden. Eltern können fragen: »Wie schützt du dich vor den Gefahren des Internets?« Sollte das Kind fragen, was damit gemeint sei, so kann man klarstellen: »Ich meine etwa Pornoseiten oder Internetseiten, die vermitteln wollen, dass Drogen gut sind, oder die Kontaktaufnahme mit Menschen, die an illegalen Aktivitäten interessiert sind.« Das Kind kann die Eltern durch die Behauptung zu beruhigen versuchen, dass es keinen Grund zur Sorge gebe und dass es schon auf sich aufzupassen wisse. Auf diese Weise versucht das Kind, die früheren Verhältnisse wiederherzustellen, in denen keine expliziten Aussagen eingefordert worden waren. Eltern sollten diesen unangenehmen Moment überwinden und ihren Standpunkt deutlich machen: »Ich wollte klarstellen, das ich solch eine Nutzung des Internets nicht akzeptiere. Ich vertraue dir. Sollte ich aber Grund haben zu der Annahme, dass etwas nicht in Ordnung ist, werde ich deine Nutzung des Internets intensiver beaufsichtigen.« Viele Eltern gehen stillschweigend davon aus, dass bestimmte Regeln gelten, und scheuen sich davor, dies explizit zu sagen. Um eine verlorengegangene elterliche Aufsicht wiederherzustellen, müssen jedoch Regeln ausdrücklich benannt werden. Unserer Meinung nach sollten alle Eltern von Zeit zu Zeit ihre Grenzen dem Kind gegenüber neu definieren. Der Prozess des Erwachsenwerdens geht mit einem natürlichen Verschieben der Grenzen einher. Der einzige Weg, die Klarheit dieser Grenzen wiederherzustellen, ist deren erneute Definition. Gerade die Bereitschaft der Eltern, einem 15-jährigen Jugendlichen größeren Handlungsspielraum einzuräumen als einem 12-Jährigen, erfordert die explizite Benennung dieser Grenzen. Direkte Befragung
Die Unumgänglichkeit der direkten Befragung entsteht dann, wenn die Eltern verdächtige Verhaltensweisen wahrnehmen, z. B. wenn
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das Kind anfängt, die Zimmertür häufig abzuschließen, seine Aktivitäten auf dem Computer um jeden Preis zu verheimlichen sucht oder den Eltern ausweichende Erklärungen zu seinen Handlungen liefert. Die Verstärkung der wachsamen Sorge benötigt eine Ankündigung der elterlichen Absicht. Es folgen zwei Beispiele solcher Ankündigungen. »Als du deine zwei Klassenkameraden bei Dir zu Besuch hattest, hast du deine Tür abgeschlossen, und später roch das Zimmer nach Rauch. Deine Mutter und ich sind nicht gewillt, dies hinzunehmen. Wir möchten mit dir einen Weg finden, auf dem du dich mit deinen Freunden wohl fühlen kannst, ohne die Zimmertür abzuschließen, und auf dem wir sicher sind, dass ihr keine Dinge unternehmt, denen wir nicht zustimmen. Wir schlagen vor, dass wir uns hinsetzen und Regeln bezüglich der Nutzung deines Zimmers formulieren, sowohl für den Fall, wenn du Freunde bei dir hast, als auch wenn du alleine bist. Wir sind sicher, dass wir einen Weg finden werden, der dir deine Privatsphäre sichert und gleichzeitig unsere Werte berücksichtigt, nach denen wir das Haus führen möchten.« »In letzter Zeit habe ich bemerkt, dass du deine Tür abschließt, während du im Internet bist. Ich möchte sichergehen, dass die Nutzungsregeln für das Internet klar sind. Ich möchte, dass wir uns hinsetzen und Regeln formulieren, die unsere Einschränkungen berücksichtigen. Es muss klar sein, dass Pornoseiten und Drogenverherrlichende Webseiten, Internetseiten mit Glücksspielen oder zweifelhafte Chatroom-Kontakte von unserer Seite her nicht akzeptabel sind. Nachdem wir die Regeln gemeinsam formuliert haben, sind wir gern bereit, an die Tür zu klopfen, wenn du im Internet bist. Solange wir keinen Grund haben, an deiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, respektieren wir deine Privatsphäre. Es muss jedoch klar sein, dass es unsere Pflicht ist, deine Nutzung des Internets, das wir dir zur Verfügung stellen, zu beaufsichtigen.«
Diese elterlichen Mitteilungen verändern den so selbstverständlichen Sachverhalt der Privatsphäre. Das Recht auf Privatsphäre ist nicht unbegrenzt oder bedingungslos gegeben, sondern dehnt sich allmählich mit dem Alter aus, solange das Kind sich koope-
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rativ verhält. In den aufgeführten Beispielen bieten die Eltern dem Kind eine angemessene Lösung an, mit der Betonung auf ihrem Recht und ihrer Pflicht. Die direkte Befragung ersetzt nicht das elterliche Vertrauen. Vertrauen und Beaufsichtigung schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Das Vertrauen ergänzt die Beaufsichtigung, da eine Beaufsichtigung keine allumfassende Einsicht in die Aktivitäten des Kindes erzeugt. Die Beaufsichtigung ergänzt das Vertrauen, da die Eltern davon ausgehen, dass das Kind noch nicht erwachsen genug ist, um sich vor allen Versuchungen und Gefahren, denen es ausgesetzt ist, zu schützen. Einseitige Maßnahmen
Der Wechsel zum höchsten Grad der wachsamen Sorge empfiehlt sich, wenn Eltern merken, dass das Kind seine Privatsphäre zu Hause weiterhin auf eine Weise nutzt, die ihm und anderen schadet. Hier einige Beispiele für Verhaltensweisen, die den Wechsel zu diesem Grad rechtfertigen: – Das Kind klaut von seinen Eltern oder Geschwistern. – Das Kind nutzt sein Zimmer für inakzeptable Aktivitäten mit Freunden. – Das Kind nutzt den Computer auf eine Art und Weise, die die Erfüllung seiner Pflichten (z. B. Hausaufgaben erledigen) maßgeblich beeinträchtigen. Diebstahl
Eltern reagieren auf die Entdeckung eines Diebstahls oft mit einem Gemisch aus Wut, Sorge und Enttäuschung. Das Kind, das erwischt wurde oder des Diebstahls verdächtigt wird, weist die Beschuldigungen meist von sich und nimmt die Bitte der Eltern um eine Klärung nicht zur Kenntnis. Oft reagiert das Kind sehr heftig auf die Schuldzuweisung, selbst wenn das Geld in seinem Besitz gefunden wurde. Mit dieser Reaktion können die Eltern oft schwer umgehen und viele bevorzugen es, das Thema beiseite zu schieben oder die Auseinandersetzung mit dem Vorschlag zu beenden, sich an einen Psychologen zu wenden. Eine andere Alternative ist, dass die Eltern dem Kind zu beweisen suchen, dass ihre
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Anschuldigungen gerechtfertigt sind und es den Diebstahl zugeben muss. Beide Reaktionen helfen meist nicht weiter und können die Situation erheblich verschärfen. Wenn die Eltern das Thema ignorieren oder so tun, als ob sie von den Unschuldsbeteuerungen des Kindes überzeugt wurden, gehen die Diebstähle meist weiter. Wenn Eltern andererseits versuchen, dem Kind zu beweisen, dass es gestohlen hat, und es dazu zwingen wollen, seine Schuld zuzugeben, eskaliert die Diskussion häufig und das Kind erstarrt in der Leugnung. Auch eine Therapie für das Kind stellt keine Lösung für das Problem dar: Einzeltherapie in Fällen von Diebstahl hat sich als ineffektiv erwiesen und verschlimmert manchmal sogar das Problem (Borduin et al., 1995; Borduin, 2009). Der Grund hierfür liegt darin, dass die Einzeltherapie das Kind gewissermaßen gegen die Eltern abschirmt und somit die Möglichkeit der elterlichen Aufsicht weiter einschränkt. Es ist zudem eine Form einer das Problem noch verschärfenden Beschreibung des Stehlens: Wenn es offenbar einer »tieferen Störung« entspringt, dann ist »tief« drinnen etwas reparaturbedürftig. So bekommt das Verhalten des Kindes auf der einen Seite zu wenig Aufmerksamkeit, auf der anderen wird es übermäßig aufgebauscht. Als effektivste präventive Maßnahme gilt aber in all diesen Fällen Beaufsichtigung. Dementsprechend liefert das Verstärken der wachsamen Sorge die Lösung für dieses Dilemma. Das Ausmaß des Problems und die Hilflosigkeit der Eltern werden dadurch erheblich reduziert. Eine Ankündigung zur Verstärkung der elterlichen Aufsicht könnte etwa so lauten: »Bei einer von uns durchgeführten Kontrolle haben wir festgestellt, dass uns einige Male Geld entwendet wurde. Wir haben beschlossen, dass wir von jetzt an darauf achten werden, dass das Geld nicht mehr frei herumliegt. Wir werden unsere Portemonnaies regelmäßig überprüfen und werden auch dein Zimmer und deine Sachen durchsuchen. Wir haben entschieden, dass es unsere Pflicht ist, diese Dinge besser im Auge zu behalten.« So wird weder das Stehlen »dämonisiert« noch die Angelegenheit einfach ignoriert. Eine konstruktive Reaktion auf den Protest des Kindes oder auf sein Leugnen könnte folgende sein: »Wir verklagen dich nicht vor Gericht und erwarten auch nicht, dass du den Diebstahl zugibst. Wir möchten jedoch unseren Standpunkt klarstellen: Unser Ver-
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trauen in dich ist erschüttert, und wir werden entsprechend handeln, um unser aller Gefühl von Sicherheit zu Hause zu vergrößern. Sollten deine Absichten positiv sein und wir die Sache falsch eingeschätzt haben, so wird unsere erhöhte Aufsicht uns helfen, dass wir uns langsam wieder beruhigen können.« Ähnlich wie in anderen Fällen, in denen die Eltern ihre Vorhaben ankündigen, ist es auch hier wichtig, von Diskussionen abzusehen. Die Weigerung, sich auf Diskussionen einzulassen, drückt die Entschlossenheit der Eltern aus, ihre elterliche Pflicht zu erfüllen. Sollte das Kind mit Polemisierungen fortfahren, können die Eltern in leisem, aber bestimmtem Ton sagen: »Wir haben keine Wahl!« Ein Vater, der sich mit den wiederholten Diebstählen und Lügen seiner Tochter auseinandersetzen musste, drückte den Wechsel zu einseitigen Aufsichtsmaßnahmen ganz besonders überzeugend aus: »Ich bemühe mich nicht mehr, sie bei der Tat zu erwischen. Ich will ihr nicht mehr beweisen, dass sie klaut, und ich versuche nicht mehr, als Detektiv zu arbeiten! Wann immer sich mal wieder ein problematischer Vorfall ereignet, dann liegt das daran, dass meine Wachsamkeit nachgelassen hat. Die Diebstähle haben aufgehört, und unsere Beziehung hat sich wesentlich verbessert!«
Einige Eltern äußern Zweifel daran, dass diese Aufsichtsmaßnahmen eine Lösung für die Neigung ihres Kindes, zu lügen oder zu klauen, darstellen.4 Ihrer Meinung nach ist die Beaufsichtigung lediglich eine vorübergehende Lösung und stellt keine Behandlung des eigentlichen Problems dar. Der Vater eines Jugendlichen, der oft log und bei Diebstählen erwischt wurde, reagierte auf den Vorschlag, die wachsame Sorge zu verstärken, mit der Frage »Und was dann?« Als der Therapeut deutlich machte, dass die wachsame 4 Alles, was in diesem Absatz über Diebstahl gesagt wurde, trifft auch auf das Lügen zu. Die beste Lösung, um Lügen zu verhindern, ist die Verstärkung der Aufsichtsmaßnahmen. Auseinandersetzungen mit dem Kind und Versuche, das Kind zum Eingeständnis seiner Lügen zu bewegen, führen zur Eskalation der Situation. Versuche, das Thema zu ignorieren oder einen Neuanfang im gegenseitigen Vertrauen zu wagen, führen meist zum Fortbestand der Lügen.
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Sorge durchaus ein langfristiges Programm darstelle und das Verhalten der Eltern von Grund auf ändere, wiederholte der Vater seine Frage: »Aber was ist der nächste Schritt?« Die Beaufsichtigung war in seinen Augen nur eine vorübergehende Teillösung, die das »Symptom« zu erleichtern suchte. Dieser Sichtweise muss entgegengehalten werden, dass die fortwährende und konsequente Aufsicht der Eltern höchst wahrscheinlich die beste Antwort auf das Problem von Lügen und Diebstahl ist, und zwar aus verschiedenen Gründen: 1. Diebstahl und Lügen sind nicht zwangsläufig Symptome eines tief sitzenden Problems, sondern vorübergehende Lösungswege für die Notlage des Kindes oder dessen Bedürfnisse. Eines der Kinder, dessen Eltern bei uns in der Beratung waren, war ein dicker Junge, der sich von frühestem Kindesalter an strengen Diäten unterziehen musste. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er früh entdeckt hat, dass Lügen und kleine Diebstähle ihm ermöglichen, im Geheimen zu essen. Diese »Entdeckung« hat ihm den Weg zu weiteren Versuchungen eröffnet. Das Entwenden von Süßigkeiten aus der Speisekammer unterscheidet sich grundsätzlich nicht vom Klauen im Supermarkt. Dieser Junge hat das Stehlen und Lügen nicht von seiner Familie oder seiner näheren Umgebung erlernt (auch wenn ein negatives Beispiel solcher Verhaltensweisen von Seiten der Eltern oder der Umgebung durchaus diesen Prozess beschleunigen kann), sondern hat diese Möglichkeit selbst entdeckt.
2. Die fortwährende wachsame Sorge ändert die Voraussetzungen für Lügen und Diebstahl. Anstatt dass das Kind mit Leichtigkeit an fremden Besitz kommt oder den Fragen der Eltern ausweichen kann, wird es mit Eltern konfrontiert, die ihm sagen: »Wir wissen, dass du lügst/klaust, weil wir es überprüft haben. Und wir werden die Angelegenheit weiterhin überprüfen!« Eltern, die gewohnt waren, ihr Wissen über falsche Handlungen ihres Kindes zu vertuschen (»Wir wollten sie nicht in Verlegenheit bringen!«), lernen, das Kind explizit zu beaufsichtigen und offen auf Lügen oder Diebstähle Bezug zu nehmen. Eltern lernen nicht nur, dem Kind ihr Wissen preiszugeben,
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sondern auch, ihre Helfer und die Opfer des Kindes, wie z. B. Geschwisterkinder, zu informieren. Unter diesen Bedingungen wird die Versuchung geringer. 3. Die wachsame Sorge erschwert das Stehlen, und das Kind ist gezwungen, andere Lösungen für seine Notlage zu finden. Jede Erfahrung, den Versuchungen widerstanden zu haben, stärkt andere Handlungsmöglichkeiten. Zusätzlich ermöglicht das Spiel mit offenen Karten den Eltern und den Helfern, mit dem Kind direkt über seine Notlage zu sprechen und gemeinsam bessere Auswege zu finden. Gebrauch der Privatsphäre für unakzeptable Aktivitäten mit Freunden
Oft fällt es Eltern schwer, sich direkt an Freunde des Kindes zu wenden, die zu Besuch kommen. Dies ist ganz besonders dann der Fall, wenn die Freunde sich im Zimmer des Kindes aufhalten, da dann zwei Komponenten der Privatsphäre zusammenkommen: das Zimmer des Kindes und seine Freunde. Viele Jugendliche nutzen diese Situation aus, um ihr Zimmer als extraterritoriales Gebiet zu nutzen – insbesondere wenn Freunde zu Besuch kommen –, in dem sie Drogen rauchen, wilde Partys veranstalten oder sich mit anderen verbotenen Aktivitäten beschäftigen. Unter diesen Umständen hören die Eltern auf, die Verhaltensregeln in ihrem Haus zu definieren. Diese Tatsache kann nicht nur den anderen Hausbewohnern erhebliches Leid zufügen, sondern auch die Gefährdung des Kindes erhöhen. Die Sicherheit des Kindes ist nun in hohem Maße davon abhängig, das Vermögen der Eltern, die Regeln zu bestimmen, wiederherzustellen. Eltern können behaupten, dass es keinen Sinn hat, negative Handlungen des Kindes zu Hause zu unterbinden, da das Kind diese auch außerhalb des Hauses und dann unter größeren Gefahren ausübt. Jugendliche drohen oft damit, dass jegliches Eingreifen der Eltern in ihre Handlungen zu Hause nur dazu führen wird, ihr Verhalten außerhalb des Hauses zu verschärfen. Wir haben schon beschrieben, dass Eltern solche Drohungen nicht hilflos hinnehmen müssen, sondern dass ihre wachsame Sorge auch für Handlungen außerhalb des Hauses hilfreich sein kann.
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Demgegenüber unterstützt das fehlende Eingreifen der Eltern zu Hause schädigendes Verhalten auch außerhalb des Hauses: – Kinder, denen zu Hause vollkommene Freiheit eingeräumt wird, werden zu Anziehungspunkten für zwielichtige Freunde, da diesen bekannt ist, dass das Zimmer des Kindes ein sicherer Ort für verbotene Aktivitäten ist. – Der Verzicht auf die elterliche Aufsicht zu Hause symbolisiert mehr als alles andere die Resignation der Eltern im Kampf gegen die negativen Neigungen des Kindes. Kinder haben ein ausgeprägtes territoriales Gespür und verstehen nur zu gut, dass, wenn Eltern nicht bereit sind, innerhalb ihres eigenen Territoriums zu kämpfen, sie dies ganz sicher nicht außerhalb wagen werden. – Das Stillschweigen der Eltern lässt sie zu Mittätern rechtswidriger Aktivitäten werden und erschüttert ihren moralischen Standpunkt. – Das Kind könnte den Verzicht der Eltern auf ihr Aufsichtsrecht als Beweis interpretieren, dass sie es aufgegeben haben und es seinem Schicksal überlassen. Durch diese Situation werden nicht nur die Eltern, sondern auch das Kind völlig demoralisiert. Die Präferenz der Eltern, nur ihr eigenes Kind anzusprechen, und nicht seine Freunde, beweist, dass durch die Anwesenheit der Freunde ein Schutzraum innerhalb des elterlichen Territoriums gebildet wird. Es ist wichtig, dass die Eltern diese Schutzhülle durchbrechen und das Prinzip durchsetzen: »Jeder Besucher in diesem Haus ist mein Gast!« Dieses Prinzip dringt in den Zauberkreis ein, der die Freunde des Kindes für die Eltern sozusagen unangreifbar macht. Die Ausführung dieses Prinzips drückt sich z. B. dadurch aus, dass die Eltern die Freunde des Kindes begrüßen und ansprechen, um sie kennen zu lernen. Die Eltern können sich vorstellen, nach den Namen der Freunde fragen und mit ihnen einige Worte wechseln. Fragen wie »Bist du ein Freund meines Sohnes aus der Schule?« oder »Wohnst du in der Nachbarschaft?«, »Wo?« zeigen, dass die Beweggründe der Eltern nicht allein auf Neugier beruhen. Die Fragen machen deutlich, dass die Eltern als Eltern fragen mit dem Ziel, eine wachsame Sorge für das Kind und
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ihr Haus auszuüben. Hierdurch stellen sich die Eltern als Verantwortungsträger dar, die Sorge zu tragen wissen, wer im Haus ein und aus geht. Sollte das Kind protestieren, dass die Eltern sich den Freunden gegenüber indiskret verhalten, können diese antworten: »Deine Freunde, die zu Besuch kommen, sind auch meine Gäste! Ich werde nicht als Fremder meinen Gästen gegenüberstehen, und ich möchte nicht, dass mir Fremde in meinem Haus ein und aus gehen!« Dieser erste Kontakt mit den Freunden ermöglicht weitere Kontaktaufnahmen. Manchmal entstehen intensivere Kontakte, die einen wichtigen Beitrag zur elterlichen Aufsicht leisten können. Für die Eltern ist es von großem Vorteil, wenn diese ersten Kontakte unter neutralen und nicht unter unangenehmen Umständen entstehen. Sie erhöhen dadurch die Chance, dass ihre Handlungen nicht durch die Freunde ignoriert werden oder Feindseligkeit bei ihnen auslösen, wenn sie in die Aktivitäten im Zimmer des Kindes eingreifen. Nicht immer sind neutrale oder angenehme Kontakte möglich, z. B. kann das Kind die Freunde nur abends oder nachts nach Hause bringen oder mit ihnen so schnell wie möglich im Zimmer verschwinden, um der aus ihrer Sicht unangenehmen Neugier der Eltern auszuweichen. In diesen Fällen ist eine explizitere Initiative der Eltern nötig. Sie können an die Tür klopfen, sich vorstellen, die Anwesenden nach ihren Namen fragen und notfalls ihre Bitte vortragen, z. B.: »Wir bitten Euch, keinen Lärm zu machen, weil wir schlafen möchten« oder »Wir möchten nicht, dass ihr hier raucht!« Wenn möglich, sollten die Eltern solche Handlungen zusammen durchführen. Das Eintreten beider Eltern verleiht solchen Anlässen einen offizielleren Rahmen. Manche Eltern möchten den ersten Kontakt mit den Freunden ihres Kindes ungezwungener gestalten. Unserer Meinung nach ist gerade in solchen Fällen Förmlichkeit besser als angebliche Natürlichkeit. Der Eintritt der Eltern in das Zimmer des Kindes ist ohnehin ein Ereignis, das von den ungeschriebenen Regeln abweicht. Die Förmlichkeit dieses Ereignisses unterstreicht, dass hier eine Änderung der Regeln stattfindet. Es ist möglich, das unangenehme Gefühl, in die Privatsphäre des Kindes einzudringen, durch positive Gesten abzuschwächen. Die Eltern können z. B. den Anwesenden etwas zu trinken bringen. Das Tablett mit den Gläsern dient sozusagen
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als Schutzschild: Es ist schwieriger Eltern abzuwehren, die die Anwesenden mit Getränken und Keksen bewirten. Diese Art der Aufwartung ist eine weitere Möglichkeit, dem Kind mitzuteilen, dass »seine Freunde auch ihre Gäste« sind. Oft ist dieser Grad von Präsenz ausreichend, um problematische Verhaltensweisen einzuschränken oder den besonderen Status des Zimmers als Schutzraum aufzuheben. Trotzdem sind häufig weitere Schritte notwendig. Es ist wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass das Kind den Eltern und seinen Freunden zeigen will, dass es allein über sein Zimmer bestimmt. Deswegen kann es mit Schärfe auf die elterliche Einmischung reagieren, um zu zeigen, dass es seine Eltern im Griff hat. Weitere Schritte sind nötig, wenn sich z. B. das Kind weigert, die Tür zu öffnen und seine Freunde daran hindert, den Eltern zu antworten. Diese Weigerung stellt eine Herausforderung des elterlichen Rechtes dar, die Regeln im Hause zu bestimmen. Zudem ermöglicht eine abgeschlossene Tür Handlungsweisen im Zimmer, die das Kind gefährden. Vor einigen Monaten wurde in den Medien über eine Vergewaltigung einer Jugendlichen in ihrem eigenen Zimmer berichtet, deren Eltern zu Hause waren. Unter diesen Bedingungen sollten die Eltern eine Veränderung der Situation oder sogar das Ende des Treffens anstreben. Die fortwährende Präsenz der Eltern wird dieses Ziel am ehesten und auf die beste Art und Weise fördern. Die Eltern sollten durch die abgeschlossene Tür hindurch mitteilen, dass sie unter den gegebenen Umständen einer Fortsetzung des Treffens nicht zustimmen und dass sie neben der Tür bleiben werden, bis diese geöffnet wird. Die Eltern sollten Stühle, Schreibzeug und ein Telefon mit sich bringen. Sie sollten sich neben die Tür setzten und alle paar Minuten an die Tür klopfen. Die Forderungen können sowohl mündlich als auch schriftlich wiederholt werden. Die schriftliche Nachricht kann unter der Tür hindurch geschoben werden. Die Eltern können zusätzlich die Mitteilung machen, dass sie telefonische Hilfe erbeten werden, sollte die Tür nicht aufgeschlossen werden. Sollte die Tür sich weiterhin nicht öffnen, können die Eltern verschiedene Personen anrufen (Helfer, die Eltern der Freunde, die Stadtgemeinde oder die Polizei). Die Präsenz erfüllt ihren Zweck auch dann, wenn die Tür weiterhin verschlossen bleibt, da das Treffen
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unter den Freunden seine Ungezwungenheit verliert und sich nun automatisch auf die Eltern konzentriert. Sobald sich die Tür öffnet, sollten die Eltern die Freunde freundlich bitten, nach Hause zu gehen, da sie unter den gegebenen Umständen dem Besuch nicht zustimmen können. Sollten die Eltern diese Mitteilung mildern wollen, so können sie hinzufügen, dass die Freunde weiterhin willkommene Gäste im Hause sind. Die Eltern sollten von Predigten, Drohungen oder Diskussionen mit ihrem Kind oder seinen Freunden absehen, sowohl durch die Tür hindurch als auch, wenn die Tür geöffnet ist. Die elterliche Aufgabe ist mit dem Ende des Treffens im Zimmer nicht beendet. Die Eltern sollten am folgenden Tag weitere Personen über den Zwischenfall informieren. Das Ziel lautet, weitere Unterstützung zu mobilisieren und eine klare Botschaft an das Kind und seine Freunde zu übermitteln, dass sie mit Entschlossenheit die Aktivitäten im Haus zu beaufsichtigen beabsichtigen. Die wiedererlangte Autorität der Eltern basiert auf ihrer Beharrlichkeit, der Kontinuität und der Ausdehnung des Unterstützernetzes. Daher wirkt die Bereitschaft der Eltern, auch am folgenden Tag die Ereignisse zu verfolgen und weitere Personen in den Kreis der Wissenden mit einzubinden, zusätzlich stärkend. Diese Maßnahmen stärken die Eltern und verbannen die Gefühle der Hilflosigkeit, die auftreten, wenn sie vor der verschlossenen Tür warten. Durch das entschlossene Ausharren vor der verschlossenen Tür, die Mitteilungen an die Anwesenden, die Mobilisierung der Helfer und die Fortsetzung der Maßnahmen am darauffolgenden Tag werden die Ereignisse für die Eltern zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zur Erneuerung ihrer Autorität zu Hause. Man kann sich schwer vorstellen, wie nach solchen Maßnahmen das Zimmer des Kindes weiterhin ein Brennpunkt für verbotene Aktivitäten darstellen soll. Die Vorbereitungen der Eltern im Vorfeld von Auseinandersetzungen tragen oft Früchte, auch ohne dass es zu einer tatsächlichen Konfrontation kommt. Eltern, die entschieden haben, ihre Autorität im Haus zu erneuern und mit Entschlossenheit die Ereignisse zu Hause zu beaufsichtigen, strahlen eine Autorität aus, auch ohne dass sie dazu gezwungen werden, diese einzusetzen. Eltern haben uns wiederholt erzählt, dass allein die Einsicht, dass sie
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die »Herren des Hauses« sein müssen, sie dazu geführt hat, sich anders zu fühlen und anders ihrem Kind und den Freunden gegenüber aufzutreten. Den Eltern eines Jugendlichen, der Mitglied in einer Musikband war, gelang es, das Kind und seine Freunde ohne direkte Konfrontation davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr bereit seien, die Proben der Band in ihrem Haus zu dulden. – Der alleinerziehende Vater einer Jugendlichen schaffte es, ihr und ihren Freunden gegenüber klarzustellen, dass sie immer eingeladen seien, mit oder ohne seine Gesellschaft am Tisch des Hauses zu essen, aber dass von ihnen erwartet würde, nach dem Essen den Tisch abzuräumen und die Küche ordentlich zu hinterlassen.
Mehrmals waren Eltern davon überrascht, dass ihr Sohn sie um Erlaubnis bat, das Haus für ein besonderes Treffen mit Freunden zu nutzen, nachdem solche Ereignisse lange Zeit als selbstverständlich galten. Einer der Väter erzählte, dass er anfangs beleidigt war: »Was? Weiß er denn nicht, dass dies sein zu Hause ist?« Aber nach einer kurzen Denkpause verwandelte sich sein Gefühl in Zufriedenheit. Computer und Internet5
Wenn einseitige Maßnahmen in Bezug auf die Nutzung des Computers und des Internets ergriffen werden, sollten diese Maßnahmen überlegt und gut geplant sein. Dies aus folgendem Grund: Computer und Internet sind nicht nur wesentlicher Bestandteil der Freizeitaktivitäten des Kindes, sondern auch wichtig für seine Entwicklung. Kinder benutzen den Computer, um Informationen einzuholen, schulische Aufgaben zu bewältigen, sich über die Ereignisse ihres Umfelds zu informieren und den Kontakt zu ihren Freunden aufrechtzuerhalten. Wichtige Fragen für die Eltern in diesem Kontext sind: Wann ist ein solcher Eingriff gerechtfertigt? Wie sollte er durchgeführt werden? Wie ist mit dem Widerstand umgehen, der durch diesen Eingriff wachgerufen wird? 5 Dieser Abschnitt wurde in Zusammenarbeit mit Zvia Algali geschrieben.
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Viele Eltern sehnen sich nach Computer-Programmen, die es ihnen ermöglichen, die Aktivitäten des Kindes am Computer zu kontrollieren oder zu blockieren. Diese Art von Lösung hat jedoch nichts mit wachsamer Sorge zu tun. Detektivarbeit verschärft die Hilflosigkeit der Eltern. Der Versuch, verbotene Internetseiten zu blockieren, stellt sich meist als enttäuschend heraus. Wirkliche elterliche Sorge enthält die Botschaft: »Ich bin hier!« Demgegenüber vermitteln Blockaden: »Wir können diese Aufgabe nicht ausführen, deswegen haben wir eine Technologie angeschafft, die dich beaufsichtigt!« Dies wirkt auf das Kind wie eine Einladung, die Zensur zu durchbrechen. Die Konkurrenz zwischen Eltern und Kind führt dazu, dass sie sich gegenseitig auszutricksen versuchen. Wenn das Kind »siegt«, jubelt es doppelt: erstens über das verbotene Material, das es bekommen hat, und zweitens, weil es bewiesen hat, dass es listiger ist als die Eltern. Wenn die Eltern »siegen«, so erreichen sie hiermit nur einen vermeintlichen Erfolg. Dieser Erfolg kann jedoch schädliche Folgen haben, da er sie von ihrem wirklichen elterlichen Status befreit und sie durch einen technologischen Babysitter ersetzt. Die wachsame Fürsorge der Eltern bezieht sich auf zwei problematische Gebiete der Nutzung von Computer und Internet: übermäßige Nutzung und gefährdende Internetseiten und Kontakte. Eltern können sich zwei Grundsätze vor Augen halten: Zum einen wird eine übermäßige Nutzung nicht unbedingt durch die Zahl der Stunden definiert, sondern durch die Beeinträchtigung anderer Aufgabenbereiche, z. B. ungenügender Schlaf, unregelmäßiger Schulbesuch oder fehlende Hausaufgaben. Zum anderen beziehen sich gefährdende Inhalte sowohl auf Pornoseiten, Glücksspiele und Internetseiten, die destruktive Verhaltensweisen fördern (Drogenkonsum, Suizid, Essstörungen), als auch auf die Kontaktaufnahme mit Personen, die anonyme Treffen anstreben oder verbotene Aktivitäten planen. Eltern, die nach diesen Leitprinzipien verfahren, werden ausgedehnte Unterstützung erhalten und mit einem Gefühl moralischer Rechtfertigung handeln. Das doppelte Ziel des offenen Dialogs ist, auf der Hut zu sein und die elterliche Stellungnahme zu verdeutlichen. Wir möchten betonen, dass der offene Dialog nicht unbedingt spontan sein muss, sondern durchaus ein Gespräch sein kann, das aus einer
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klaren elterlichen Haltung heraus initiiert wird. Diese Art Gespräche wird oft als unnatürlich empfunden, da der Übergang zur elterlichen Beaufsichtigung einen gewagten Schritt darstellt. Eltern sollten ihr Kind fragen, wie es sich vor den Gefahren des Internets schützt. Sie sollten klarstellen, welche Nutzung und welche Inhalte von ihrer Seite aus unannehmbar sind. Ein gutes Mittel, den Dialog zu fördern, ist, das Kind um eine »Führung«, bei der es den Eltern zeigt, welche Internetseiten es aufsucht. Eltern können das Kind auch darum bitten, ihnen die Spiele zu zeigen, die es benutzt. Die Kenntnis der Eltern über die Spiele im Internet lehrt die Eltern viel über ihr Kind und die Dinge, die es beschäftigen. Oftmals sind Kinder über das Interesse der Eltern überrascht und geben begeistert Auskunft. Eltern können ihrerseits dem Kind versprechen, seine persönliche Korrespondenz nicht zu lesen und keine Programme zur Blockade oder Kontrolle seiner Aktivitäten zu installieren. Sie bieten stattdessen einen offenen Dialog zum Thema Computer an. Solange das Kind zu einem solchen Dialog bereit ist und keine Anzeichen existieren, dass das Kind absichtlich Information verheimlicht, gibt es keine Notwendigkeit, die wachsame Sorge zu verstärken. Trotzdem sollten die Regeln zur Nutzung des Internets besprochen und festgelegt werden, z. B. durch das Unterschreiben eines Vertrags. Es folgt ein Beispiel eines solchen Vertrags: Vertrag zur Nutzung des Internets Die Verpflichtung der Eltern: Wir verpflichten uns, mit dir, unserem Kind, offen und fair im Gespräch über eine verantwortliche und begrenzte Nutzung des Internets zu bleiben, und wir erkennen gleichzeitig die Vorteile des Internets an. Wir werden die Nutzung des Internets beaufsichtigen, um unserer elterlichen Pflicht nachzukommen, dich, unser Kind, zu schützen. Alle unsere Handlungen werden offen durchgeführt. Die Verpflichtung des Kindes: 1. Ich werde keine Information über mich oder meine Familie ohne die Erlaubnis meiner Eltern weitergeben, z. B. Namen, Adresse, Telefonnummern, der Name meiner Schule usw.
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2. Ich werde meine Eltern sofort benachrichtigen, sollte ich mich durch eine Kontaktaufnahme verletzt oder bedroht fühlen oder sollte dadurch ein ungutes Gefühl in mir hervorgerufen worden sein. 3. Ich werde niemals eine fremde Person treffen oder mit ihr ein Treffen vereinbaren, die ich über das Internet kennen gelernt habe, ohne dass meine Eltern die Angelegenheit überprüfen. Nur, wenn meine Eltern zustimmen, werde ich ein Treffen vereinbaren. Ich erkläre mich damit einverstanden, dass sie mich zu diesem Treffen begleiten, sollten sie von der Notwendigkeit dessen überzeugt sein. 4. Ich werde keine Bilder von mir verschicken, ohne dass meine Eltern ihr Einverständnis geben. 5. Ich antworte und reagiere nicht auf Nachrichten, die mir ein ungutes Gefühl verursachen. 6. Ich werde mit meinen Eltern sprechen, um gemeinsam die Regeln für die Internetnutzung festzulegen. Sobald ich mich verpflichte, bestimmte Internetseiten nicht zu benutzen, verspreche ich, mich an diese Vereinbarung zu halten.
Dieser Vertrag ermöglicht den Eltern, ihre Haltung eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Zusätzlich können die Eltern sich auf den Vertrag berufen, wenn sie sich zu weiteren Maßnahmen entscheiden oder Unterstützung einholen sollten. Trotz der Gegenseitigkeit des Vertrags stärkt er die elterliche Autorität auf eine Art und Weise, die von den Reaktionen des Kindes unabhängig ist: Allein seine Existenz verändert den Status der Eltern und steckt ihren zukünftigen Handlungsspielraum ab. Der zweite Grad der wachsamen Sorge besteht aus der Forderung der Eltern, dass das Kind detailliert über seine Handlungen Bericht erstattet. Es ist nicht möglich, den Übergang vom offenen Dialog zu diesem Grad der Fürsorge ohne eine ausdrückliche Ankündigung zu vollziehen. Es folgt ein Beispiel einer solchen Ankündigung: »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du in letzter Zeit den Computer auf besorgniserregende Weise nutzt. Wir werden dich
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von nun an befragen bezüglich der Stunden, die du am Computer verbringst, und der Internetseiten, die du aufsuchst. Solange du uns diese Informationen lieferst und dich an die Regeln hältst, werden wir deine weitere Nutzung und deine Privatsphäre respektieren.«
Die Eltern untermauern diese Ankündigung mit einer erneuten Festlegung des zeitlichen Umfangs und der Regeln zur Nutzung des Computers. Sie verlangen vom Kind, die Tür zu seinem Zimmer nicht abzuschließen und die Tür zu öffnen, wenn sie anklopfen. Sie fragen, wann es den Computer abends abschaltet, und überprüfen, dass es dies auch tut. Sie bitten das Kind, ihnen die Internetseiten zu zeigen, die es in letzter Zeit aufgesucht hat. Eltern können einwenden: »Er kann die Internetseite schließen, wenn wir anklopfen, und die Aufzeichnungen des Computers löschen. Er kann uns hintergehen, wann immer er will!« Unsere Antwort ist, dass die elterliche Aufsicht trotzdem bestehen bleibt, auch wenn das Kind sich dem entzieht. Durch die schiere Tatsache, dass es Beaufsichtigung gibt, hört das Kind auf, in einem Vakuum fehlender elterlicher Präsenz zu leben, und fängt an zu spüren, dass seine Eltern in seinen verschiedenen Lebensbereichen präsent sind. Ähnlich wie bei der direkten Befragung, wenn das Kind das Haus verlässt, stellen die Eltern auch in diesem Fall klar, dass sie der weiteren Nutzung des Computers und des Internets nicht zustimmen werden, sollte das Kind sich weigern, ihnen die geforderte Berichterstattung zu liefern. Sollte das Kind trotzig antworten: »Wie wollt ihr das anstellen?«, können die Eltern in leisem Ton antworten: »Wir werden dir die Nutzung verbieten, solltest du die Regeln nicht einhalten. Wir werden dir den Internetdienst nicht mehr zukommen lassen!« Eltern müssen darauf achten, nicht in einen Streit gezogen zu werden und das Gespräch nach ihrer Ankündigung abzubrechen. Die Idee, die Nutzung des Computers einzuschränken oder sogar den Internetservice einzustellen, löst bei den meisten Eltern Verlegenheit aus. Sie befürchten, dass sie diese Entscheidung nicht werden umsetzen können, dass sie zur Eskalation der Situation führen wird, dass sie keine moralische Rechtfertigung haben, die Nutzung des Computers einzuschränken, oder dass es ihnen verboten ist, Maßnahmen zu ergreifen, die die Geschwisterkinder
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verletzen könnten. Wir wiederholen und betonen, dass solche Maßnahmen nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Nutzung des Computers tatsächlich anderen Aufgabenbereichen des Kindes schadet oder das Kind hierdurch Gefahren ausgesetzt ist. Unter diesen Umständen können wir folgende eindringliche Frage stellen: »Sind Sie bereit, weiterhin ohne jegliche Aufsichtsmöglichkeit ein Werkzeug in den Dienst ihres Kindes zu stellen, das es möglicherweise gefährdet?« Die meisten Eltern würden lieber das Kind davon überzeugen, seine Nutzung des Computers freiwillig einzuschränken. Diese Vorliebe entspricht unserem Verständnis der verschiedenen Aufsichtsgrade, die mit einem offenen Dialog beginnen, mit direkter Befragung verschärft werden und bis zu einseitigen Maßnahmen führen, die nur dann ergriffen werden, wenn sich die vorigen Aufsichtsgrade als unzureichend erwiesen haben. In vielen Fällen können Eltern zu einer weniger strikten Beaufsichtigung zurückkehren, auch wenn sie zu einem gewissen Zeitpunkt einseitige Maßnahmen ergriffen haben. Viele Kinder reagieren positiv auf diese Wechsel, ganz besonders, wenn sie die Beharrlichkeit der Eltern erlebt haben, die in den einseitigen Maßnahmen zum Ausdruck kommt. Die Maßnahmen erfordern Vorbereitungen, um eine Eskalation der Situation zu vermeiden und gleichzeitig Beharrlichkeit zu demonstrieren: Berufen Sie sich auf das Prinzip des Aufschubs. Eltern sollten auf keinen Fall den Computer ausmachen, während das Kind am Computer sitzt. Sie sollten eine spätere Stunde abwarten, um den Computer abzuschalten.6 Das Abschalten des Computers während der Nutzung kann zu gewalttätigen Reaktionen führen. Diese direkte Konfrontation kann vermieden werden, wenn die Eltern dem Kind mitteilen, dass sie das Internet oder den Computer im Verlauf der nächsten drei Tage abzuschalten beabsichtigen, sollte keine annehmbare Lösung gefunden werden. Diese Zeit kann außerdem genutzt werden, um eine Lösung zu erzielen, z. B. durch die Vermittlung von Helfern. 6 Viele Eltern haben einen einfachen Weg gefunden, den Computer funktionsunfähig zu machen, indem sie ein notwendiges Teil weggenommen haben: die Maus, das Modem o. Ä.
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Vermeiden Sie Diskussionen oder Streitgespräche. Eltern sollten ihre Entscheidung in ruhigem Ton mitteilen und jede Diskussion zum Thema abbrechen. Ihre Entscheidung sollte auch schriftlich übergeben werden. Der Wechsel zu einseitigen Maßnahmen bedeutet, dass die Eltern von nun an ohne das Einverständnis des Kindes handeln. Die Botschaft wird abgeschwächt, wenn Eltern weiterhin versuchen, Überzeugungsstrategien anzuwenden. Jedes weitere Reden wird vom Kind als Möglichkeit aufgegriffen, die elterliche Position zu schwächen, sei es durch einen fortwährenden Machtkampf oder durch die Verschärfung der Auseinandersetzung. Teilen Sie mit, dass das Abschalten des Computers oder des Internets eine vorübergehende Maßnahme ist, bis die Voraussetzungen zur Wiedereinsetzung des Computers gegeben sind. Eltern sollten diese Mitteilung machen, ohne eine Diskussion zu den notwendigen Voraussetzungen zu eröffnen. Diese Diskussion benötigt eine ruhige Atmosphäre, die direkt nach der elterlichen Maßnahme nicht gegeben ist. Die Eltern können z. B. sagen, dass sie in drei Tagen zu einer Diskussion zum Thema bereit sein werden. Solange das Kind nicht zu einem Gespräch mit den Eltern oder mit Helfern bereit ist, sollte die Einschränkung fortgesetzt werden. Bereiten Sie sich geduldig darauf vor, dass das Kind versuchen wird, das Verbot zu umgehen. Erwarten Sie nicht, dass das Kind mit verschränkten Armen die elterlichen Maßnahmen abwartet. Es wird versuchen, den Computer auf verschiedenen Wegen wieder zu benutzen, z. B. durch die Nutzung anderer Computer zu Hause oder durch kreative technische Lösungen. Das Kind kann sich auch an seine Freunde wenden, um bei ihnen den Computer zu benutzen. Eltern sollten diese Reaktionen erwarten und sie geduldig und beharrlich abwenden. Schriftliche Dokumentation
Die Probleme bei der Nutzung des Internets und die Forderungen der Eltern sollten schriftlich dokumentiert werden. Die Dokumentation enthält Details zu den Gefahren und den schädlichen Einflüssen des Computers auf andere Lebensbereiche des Kindes. Dies hilft den Eltern, sich bei möglicher Kritik zu rechtfertigen.
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Die Dokumentation kann dabei helfen, mit den Eltern der Freunde des Kindes Kontakt aufzunehmen, bei denen das Kind den Computer benutzt, um darum zu bitten, diese Nutzung zu unterbinden. Diese Ausweitung des Unterstützernetzes verstärkt die wachsame Sorge. Unterstützung von Helfern
Helfer können Botschaften der Beharrlichkeit vermitteln, sie verringern Eskalationen und helfen dabei, Kompromisse zu schließen. Geschwisterkinder
Reden Sie offen mit den Geschwisterkindern und minimalisieren Sie deren Beeinträchtigung. Alle Hausbewohner zahlen einen Preis für die Auseinandersetzung der Eltern mit dem gefährdeten Kind. Dies ist klar und verständlich, wenn es sich um die Auseinandersetzung mit einer körperlichen Krankheit handelt. Eltern werden nicht aufhören, ihre ganze Energie in die Behandlung des kranken Kindes zu investieren, nur weil es »unfair« den anderen Geschwistern gegenüber ist. Die Situation ist ähnlich, wenn ein Kind sich wegen destruktiver Verhaltensweisen in Gefahr begibt. Die Eltern müssen den Geschwisterkindern verdeutlichen, dass sie sich im Kampf gegen destruktive Verhaltensweisen befinden. Sie sollten mit den Geschwistern Lösungswege erarbeiten, um deren Benachteiligung zu minimalisieren oder um sie entsprechend zu entschädigen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Eltern annehmbare Lösungen finden, wenn sie dazu bereit sind, offen mit den Geschwistern zu reden. Es gibt eine weit verbreitete gesellschaftliche Norm, die besagt, dass die Aktivitäten des Kindes an seinem Computer außerhalb des elterlichen Verantwortungsbereichs liegen. Der Mut der Eltern, ihre wachsame Sorge auf diesen Bereich auszuweiten, wird oftmals nicht nur vom Kind, sondern auch von der Umgebung und manchmal von den Eltern selbst als Tabubruch empfunden. Für Eltern ist der Computer meistens eine Welt, die ihnen verschlossen bleibt. Dies hat verschiedene Gründe: Es ist schwierig, sich mit einem Bereich auseinanderzusetzen, in dem das Kind
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technologisch überlegen ist. Die wachsame Sorge im Bereich des Computers wird oftmals als ein Eindringen in die Privatsphäre des Kindes empfunden. Eltern neigen dazu, jene Bereiche unbeaufsichtigt zu lassen, die Teil des sozialen Netzwerks der Jugendlichen darstellen und Eltern haben Angst, dass der Jugendliche sein Territorium des Computers besonders hart verteidigen wird. Diese Schwierigkeiten lassen die Eltern nach einer rein technischen Lösung suchen, z. B. nach Programmen, die bestimmte Internetseiten blockieren oder die Aktivitäten auf dem Computer verfolgen. Diese Lösungen sind ein Beispiel dafür, wie Eltern sich mit ihrer Schwäche und ihrer fehlenden Präsenz im Leben des Kindes abfinden. Die zentrale Frage ist nicht, wie das Problem technisch gelöst werden kann, sondern wie die elterliche Bereitschaft zur wachsamen Sorge verstärkt werden kann. Eltern, die entschlossen sind, wachsame Sorge zu leisten, wird dies auch gelingen, selbst wenn ihnen die Computerwelt fremd ist. Demgegenüber werden die technisch am besten ausgerüsteten Eltern scheitern, wenn sie nicht dazu bereit sind, selbst die Aufsicht zu übernehmen.
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Kapitel III Gewalt von Kindern zu Hause1
Die beiden Kernbegriffe der neuen Autorität sind Präsenz und Gewaltlosigkeit. Sie wurden entwickelt in der Arbeit mit Kindern, die gewalttätig geworden sind bzw. antisozial agieren, sei es zu Hause, in der Schule oder anderswo. Aus der Arbeit mit Familien, in denen die Eltern Angst vor ihren Kindern hatten, von ihnen bedroht, erpresst oder gar geschlagen wurden, liegt ein breiter Schatz an Erfahrungen vor, aus dem u. a. dieses Kapitel gespeist wird (z. B. Omer und von Schlippe, 2004; 2006; Omer et al., 2007b; Ollefs und von Schlippe, 2007; von Schlippe und Grabbe, 2007). Gegen die Gewalt von Kindern zu Hause vorzugehen, bedeutet im Rahmen der neuen Autorität, – die elterliche Präsenz und wachsame Sorge verstärken; – auf Gewalttätigkeit mit gewaltfreiem Widerstand reagieren und Maßnahmen zum Schutz der Opfer ergreifen; – Wiedergutmachungstaten dem Opfer gegenüber initiieren, an denen sich, wenn möglich, der Täter beteiligt, so dass ihm die Chance gegeben wird, seine Zugehörigkeit zur Familie neu zu definieren; – ein Unterstützernetz für die Eltern und für das Opfer aufbauen. Der Aufbau des Unterstützernetzes ist oftmals die Voraussetzung für den Erfolg anderer Maßnahmen. Eine wichtige Errungenschaft der modernen Gesellschaft ist die Erkenntnis, dass Gewalt von Eltern gegenüber Kindern oder von Männern gegenüber Frauen nicht nur eine familieninterne Angelegenheit ist, sondern dass dieses Thema die ganze Gesellschaft angeht. Unserer Einschätzung nach gilt dies auch für die Gewalt 1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Irit Schorr-Sapir geschrieben.
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von Kindern gegen Geschwister oder gegen Eltern. Es ist schwierig, diese Phänomene erfolgreich und auf moralisch vertretbare Weise zu bekämpfen, ohne Funktionsträger außerhalb der Kernfamilie mit einzubeziehen. Die meisten Eltern bevorzugen es, die Gewalttätigkeit ihres Kindes geheim zu halten, um ihre eigene Scham zu verbergen und dem Kind ein gesellschaftliches Stigma zu ersparen. Dieses Verhalten nennen wir den »Privatsphären-Reflex«, d. h. den automatischen Versuch, persönliche und familiäre Lebensbereiche vor der Öffentlichkeit zu schützen. Die heutige Gesellschaft schützt besonders die Werte der Individualität: Authentizität, Spontaneität, Intimität, Introspektion und Selbstverwirklichung. Diese Werte sind für das Verständnis von Freiheit und Toleranz wichtig. Ihre bedenkenlose Übernahme kann jedoch blind machen für mögliche Nachteile dieser Prinzipien in wichtigen Lebensbereichen, z. B. in Fällen von Gewaltanwendung oder selbstzerstörerischen Verhaltensweisen Jugendlicher. In seinem Werk »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität« beschreibt der Soziologie Richard Sennett (2004) die zunehmende Bedeutung der Privatsphäre und der Wertvorstellung von Intimität in unserer Kultur, die ganze Bereiche des modernen Lebens aus der Öffentlichkeit verdrängt haben. In unserem Buch versuchen wir, den Mangel an Öffentlichkeit und an Gemeindeeinbindung in der Elternschaft und der Kindererziehung zu beheben. Wir meinen, dass man den Gewaltphänomenen unter Kindern innerhalb und außerhalb der Familien nicht erfolgreich entgegenwirken kann, ohne diese Auseinandersetzung thematisch in den gesellschaftlichen Kontext zurückzubringen. Der Versuch der Eltern, das gewalttätige Verhalten ihres Kindes geheim zu halten, untergräbt ihre Auseinandersetzung mit dem Thema aus verschiedenen Gründen. Das Verschweigen isoliert die Eltern und schwächt ihre Fähigkeit, sich der Gewalt zu widersetzen, die Isolation verstärkt das Gefühl der Dringlichkeit der Eltern gegenüber dem gewalttätigen Kind und steigert die Gefahr, dass die Eltern die Kontrolle verlieren und selbst gewalttätig reagieren. Und schließlich werden die Eltern durch das Verschleiern der Gewalt zu Mittätern.
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Gewalt von Kindern zu Hause
Enthüllung und Schamgefühle Wir haben im vorigen Kapitel beschrieben, wie Eltern Helfer für ein Unterstützernetz rekrutieren können, damit diese ihnen bei der Aufgabe der wachsamen Sorge helfen. Bei gewalttätigen Kindern wird auf ähnliche Weise Hilfe eingeholt. In diesem Fall werden die Helfer gebeten, ihre Hilfe nicht nur den Eltern und den Opfern anzubieten, sondern auch dem gewalttätigen Kind. Während ihrer Gespräche mit dem Kind ist es wichtig, dass sie ihre Wertschätzung der positiven Seiten des Kindes zum Ausdruck bringen und ihm vorschlagen, gemeinsam Wege zur Bewältigung der Probleme zu suchen. Sie können ihm bei der Ausführung von Wiedergutmachungstaten helfen, durch die das Kind seinen guten Ruf wiederherstellen und sich aus der verfahrenen Lage befreien kann. Die Vorteile solcher Maßnahmen sind offensichtlich. Sie bedeuten aber auch eine schwere Bürde für das Kind, weil sie in ihm beträchtliche Scham auslösen. In unserer Gesellschaft gilt Scham als eine negative Erfahrung, die die gesunde Entwicklung des Kindes beeinträchtigt. Unsere Erziehungsprinzipien lehnen mit Recht beschämende Erziehungsmethoden ab, bei denen mit dem Finger auf das beschuldigte Kind gezeigt wird, es mit Schimpfworten überhäuft wird oder es auf demütigende Weise in die Ecke gestellt wird. Im Erziehungs-Werkzeugkasten einer freiheitsliebenden Gesellschaft ist kein Platz für absichtliche Demütigungen. Gilt dies aber auch für die Erfahrung von Scham im Allgemeinen? Ist jede Erfahrung von Scham nur negativ zu werten, und kann sie der Seele des Kindes nur Schaden zufügen? Eine Bejahung dieser Frage führt dazu, dass Verhaltensprobleme nicht öffentlich thematisiert werden dürften, sondern dass sie hinter verschlossener Tür behandelt werden müssten, damit dem Kind Scham erspart bleibe. Doch wenn man Scham als einen sozialen Regulationsmechanismus ansieht (Hilgers, 2006), dann kann das Erleben von Scham ein unumgänglicher Schritt auf dem Weg zur Überwindung von antisozialen Verhaltensweisen sein, sofern sie den Betreffenden nicht demütigt und lächerlich macht. Die Erfahrung von Schamgefühlen ist nicht nur notwendig, um Gewalt zu unterdrücken, sondern auch, um das Zugehörigkeitsgefühl des Kindes zur Familie und zur Gemeinde wiederherzustellen.
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Enthüllung und Schamgefühle
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Und wie sieht es diesbezüglich in Familien aus, in denen die Eltern selbst gewalttätig sind? Auch hier sind Schamgefühle und Schuldbewusstsein ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung der Verhältnisse. In unserer Arbeit mit Eltern von gewalttätigen Kindern, die selber Gewalt angewendet haben, spielt das kontrollierte Wachrufen von Schamgefühlen bei den Eltern eine wesentliche Rolle. Die Scham wird z. B. dann ausgelöst, wenn Eltern vor der Helfergruppe gebeten werden, sich dazu zu verpflichten, in Zukunft jede gewalttätige oder demütigende Reaktion zu unterlassen. Diese Verpflichtung wird oft vom Eingeständnis früherer Wutausbrüche begleitet. In diesen Fällen eröffnet die Erfahrung der elterlichen Schamgefühle den Weg zu weiteren Veränderungen innerhalb der Familie. »Wollt ihr, dass ich dazugehöre?« Julian, ein 16-jähriger Jugendlicher, galt in der ganzen Familie als unfähig, irgendeine Form von Selbstkontrolle auszuüben. Seine Eltern, sein jüngerer Bruder und seine 20-jährige Schwester waren davon überzeugt, dass er ein physiologisches Problem habe, das unkontrollierbare Wutausbrüche auslöse, und dass der einzig mögliche Weg für ein Zusammenleben sei, auf Zehenspitzen zu gehen. Als Julian aber anfing, erniedrigende sexuelle Bemerkungen seiner Schwester gegenüber zu machen, war die Familie mit ihrer Geduld am Ende. Der Erste, der es wagte, Julian entgegenzutreten, war Markus, der Freund der Schwester. Er verpasste Julian eine knallende Ohrfeige, als der seine Freundin sexuell belästigte. Nach diesem Vorfall entschieden die Eltern, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Auf Anregung des Beraters stellten sie eine Gruppe von zehn Helfern zusammen, um besser mit der Situation fertig zu werden. Andere Familienmitglieder, die weiter weg wohnten und nicht zum Helfertreffen kommen konnten, wurden über den Inhalt der Sitzung informiert und eingeladen, mittels Telefon und E-Mail zu helfen. Als Reaktion auf die Ohrfeige war Julian nicht bereit, sich im Haus aufzuhalten, wenn Markus zu Besuch kam. Er gab bekannt, dass er nicht zu Hause schlafen würde, sollte Markus erlaubt werden, über Nacht zu bleiben. Julian sagte seinen Eltern: »Ihr müsst euch entscheiden: entweder er oder ich!« Diese Forderung wurde von einem Schwall von Beschimpfungen in Richtung seiner Schwester begleitet.
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Gewalt von Kindern zu Hause
Am nächsten Tag rief der Onkel an, dem Julian am nächsten stand. Er wohnte in einer anderen Stadt. Der Onkel teilte Julian mit: »Ich möchte dir helfen, aus dieser schwierigen Lage herauszufinden. Verbringe das Wochenende mit uns, und ich fahre dich am Montag wieder zur Schule. Deine Eltern haben mir vom gewalttätigen Verhalten von Markus dir gegenüber erzählt. Sie haben auch von den Vorfällen erzählt, bei denen du deine Schwester mit groben Bemerkungen belästigt hast. Sie haben mir gesagt, dass du ihre Entscheidung einforderst, ob du zur Familie dazugehörst oder nicht. An diesem Wochenende möchte ich, dass du zu uns gehörst!« Julian nahm das Angebot an und fuhr zu seinem Onkel. Der Besuch war erfolgreich. Der Onkel teilte ihm aber mit, dass er bei Julians Eltern nachfragen werde, ob es weitere gewalttätige Vorfälle von Seiten Julians oder Markus’ gegeben habe. Nachdem Julian wieder zu Hause war, herrschte eine angespannte Atmosphäre. Er sprach mit seinen Eltern nur wenige Worte und vermied jeden Kontakt mit seiner Schwester. Zwei Wochen später hatte Julian einen weitern Wutausbruch seinen Eltern gegenüber und zerbrach eine Vase, die seiner Mutter besonders lieb war. Nach diesem Vorfall weigerte er sich, Telefonate anzunehmen, weil er wusste, dass die Helfer versuchen würden, mit ihm zu sprechen. Zwei der Helfer kamen zu Besuch, aber Julian schloss sich in seinem Zimmer ein. Nachdem die Helfer eine Stunde mit den Eltern verbracht hatten, klopften sie an seine Tür. Julian antwortete nicht, und sie schoben einen Zettel unter der Tür hindurch, auf dem stand, dass sie bereit seien, ihm zu helfen, die Verletzung und den Schaden wiedergutzumachen. Während der darauffolgenden Tage erhielt Julian ein ähnliches Fax von seinem Großvater, der im Ausland lebte. Nach diesen Ereignissen gab es lange Zeit keine weiteren Wutanfälle. Die Atmosphäre im Haus war weiterhin angespannt, aber die Eltern und die Schwester konnten sich an keine so lange Phase ohne Gewalttaten erinnern. Julian blieb nun auch zu Hause, wenn Markus über Nacht da war, aber er weigerte sich an diesen Tagen, mit der Familie zu Abend zu essen. Er unterbrach seinen Boykott für eine Familienfeier während der Feiertage, die bei dem Onkel stattfand, den Julian am Anfang der Intervention besucht hatte. Julian saß trotz der Anwesenheit von Markus mit der ganzen Familie beisammen. Danach gab Julian auch seinen Boykott zu Hause auf. Die sexuellen Belästigungen und die gewalt-
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tätigen Ausbrüche hatten ein Ende. Während der Sommerferien arbeitete Julian als Verkäufer im Geschäft seines Onkels. Sein Onkel bot ihm an, einen Teil des Gehalts zur Seite zu legen, um die zerbrochene Vase zu ersetzen. Julian willigte ein und erbat sogar einen Vorschuss von seinem Onkel, um seiner Mutter ein Geschenk zu kaufen.
Im Verlauf dieser Ereignisse erlebte Julian ein förderliches Schamgefühl. Die positiven Auswirkungen dieses Gefühls ergeben sich aus der Verknüpfung einer unterstützenden und stärkenden Botschaft mit der direkten Bezugnahme auf die Gewalttaten. Diese Erfahrung kann nicht gemacht werden, wenn man mit beschuldigendem Finger auf das Kind zeigt. Allein die Aussage »Du solltest dich schämen!« verhindert den heilenden Effekt von Schamgefühlen. Die positive Auswirkung der Scham entsteht dadurch, dass deutlich unterschieden wird zwischen der positiven Einstellung gegenüber dem Kind und dem offenen Widerstand gegen seine Gewalttaten. Dies ist sehr wichtig. Denn wenn die Scham von außen eingefordert wird, so vereinen sich die verschiedenen Stimmen im Kind, und es wehrt sich gegen den beschuldigenden Zeigefinger der anderen. Bei den oben beschriebenen Vorfällen kommt es zu einem Widerstreit zwischen den positiven und den negativen inneren Stimmen des Kindes. Der Widerstreit zwischen den Stimmen löst den inneren Drang aus, die Verletzung wiedergutzumachen und die Zugehörigkeit zur Familie neu zu definieren. Wenn das Geheimnis der Gewalttaten öffentlich gemacht wird und Helfer rekrutiert werden, kann dies heftige Reaktionen auslösen. Das Kind kann die Eltern des Vertrauensbruchs bezichtigen, die Eltern boykottieren oder ihnen damit drohen, dass es das Elternhaus verlassen werde. Die Eltern müssen sich hierauf vorbereiten, indem sie ihre Aufsicht verstärken und eine »Stoßdämpferhaltung« einnehmen, indem sie die Angriffe des Kindes abfangen, ohne sich in eine Auseinandersetzung hineinziehen zu lassen. Die Rekrutierung der Helfer und das Enthüllen des Geheimnisses führen häufig zu einem Rückgang der Gewalt. Nur in zwei Fällen von vielen hunderten Familien, die wir beraten haben, ist ein Kind für einige Tage von zu Hause weggelaufen, als die Helfer für den ge-
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Gewalt von Kindern zu Hause
waltfreien Widerstand rekrutiert wurden. In einigen anderen Fällen rief ein Kind einen Schweigeboykott gegen die Eltern aus. Auch in diesen extremen Fällen konnten die Eltern die Kommunikation mit dem Kind durch die Helfer aufrechterhalten und die graduelle Aufhebung des Boykotts erreichen, ohne dass sie sich dabei wieder der Gewalt unterordnen mussten.
Das Unterstützernetz und die Befreiung des Opfers aus dem Gefühl der Verlassenheit Gewalt gegen Geschwister ist die häufigste Form der Gewalt in Familien. Viele Forschungen zeigen, dass körperliche Gewalt oder sexueller Missbrauch durch Geschwister die meist verbreitete Art von Gewalt in Familien ausmachen (Boney-McCoy und Finkelhor, 1995; Kettrey und Emery, 2006). Trotz dieser Forschungsergebnisse wird in den Medien extrem selten über Gewalt unter Geschwistern berichtet. Die Fachliteratur ist durch eine ähnliche Missachtung des Themas gekennzeichnet. Somit wurden zwischen den Jahren 1990 und 1999 insgesamt 7.885 Artikel zum Thema Gewalt von Eltern gegen ihre Kinder veröffentlicht, während nur 37 Artikel zum Thema Gewalt unter Geschwistern veröffentlich wurden. Dieser Umstand, dass eine öffentliche Diskussion trotz der klaren Fakten praktisch nicht existiert, erinnert an die Zeit, in der die westliche Gesellschaft sich weigerte, die schrecklichen Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die über die Fälle von Kindesmissbrauch durch Eltern an das Tageslicht kamen. Auch Berichte über Gewalt, die gegen Eltern gerichtet wird, sind in der Fachliteratur und in den Medien nur eine Randerscheinung, trotz der Feststellung, dass die wenigen existierenden Veröffentlichungen ein weit verbreitetes Phänomen aufzudecken meinen (Cotrell, 2001). Dass Eltern von ihren Kindern geschlagen werden, das sog. »battered parent syndrome«, wurde vor ca. 30 Jahren überhaupt erstmals in der Literatur erwähnt (Harbin und Madden, 1979). Gewalt gegen Eltern kann verschiedene Formen annehmen: Sie kann sich in Einschüchterungen, körperlichen Attacken und Demütigungen äußern. Auch Erpressungen sind eine übliche Erscheinung. Kinder und Jugendliche zwingen
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Das Unterstützernetz und die Befreiung des Opfers
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ihre Eltern dazu, verschiedene Dienstleistungen zu erbringen. Sie erreichen dies z. B. durch Wutanfälle, indem sie Gegenstände zerschlagen oder indem sie drohen, die Geschwister oder sich selbst zu verletzen. Wenn ein Kind zum Opfer von Gewalt und Unterdrückung durch ein Geschwisterkind wird, verstärkt sich sein Leid zusätzlich durch den Eindruck, dass die Eltern tatenlos zuschauen oder sogar wegsehen. Viele Eltern neigen dazu, das Problem abzustreiten oder es herunterzuspielen, sei es aus Mitleid mit dem Täter oder – meist eher – aus ihrer eigenen Hilflosigkeit heraus. Die Beratungsinstanzen verstärken oftmals die elterliche Missachtung des Problems, indem sie auf eine Weise reagieren, die dem Opfer keinen Schutz bietet. So schlagen z. B. viele Berater eine Psychotherapie für den Täter, das Opfer oder die Eltern vor. Dieser Vorschlag liefert jedoch keinerlei Schutz und kann außerdem die elterliche Tendenz verstärken, sich mit dem Problem abzufinden. Die Annahme, dass das Übel nur durch eine tiefenpsychologische Therapie an der Wurzel gepackt und überwunden werden kann, ist mit der Aussage gleichzustellen, dass die Eltern geduldig und unterwürfig bis zum Auftreten einer Verbesserung ausharren müssen. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die konventionelle Psychotherapie als ineffizient bei der Behandlung von Gewalt erwiesen hat (Borduin et al., 1995; Borduin, 2009). Der scheinbare Lösungsweg einer Psychotherapie für den Täter kann demnach zu einer Situation führen, in der Eltern und Opfer tatenlos und vergebens auf eine Verbesserung hoffen. Das Treffen der Eltern mit Beratungsinstanzen kann auch dann eine negative Wende nehmen, wenn der Berater die Möglichkeit unterbreitet, den Eltern ihr Erziehungsrecht zu nehmen. In diesem Fall schwebt die Androhung wie ein Damoklesschwert über dem Opfer. Die Angst, dass ein Geschwisterkind aus dem Haus entfernt werden könnte (manchmal sogar das Opferkind selbst!), sollte die Gewalttätigkeit aufgedeckt werden, verstärkt die Hoffnungslosigkeit des Opfers. Unter diesen Bedingungen beschließen viele misshandelte Kinder, Stillschweigen zu bewahren und weiter zu leiden. Missachtung und Isolation sind meist auch das Los der Eltern, die selbst unter der Gewalt ihrer Kinder leiden. Eltern fürchten nicht nur das Stigma des Kindes und der Familie, sollte die Gewalt ans Tageslicht kommen, son-
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dern auch, dass sie für die Gewalt verantwortlich gemacht werden. In diesem Sinne ähnelt ihre Situation der von missbrauchten Frauen, die in einer Gesellschaft leben, in der kein öffentliches Bewusstsein zu Gewalt und Missbrauch von Frauen existiert. Der modernen Gesellschaft fehlt noch immer das Bewusstsein bezüglich der Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern. Die Rekrutierung von Helfern verändert dieses Erlebnis der Missachtung und Verlassenheit von Grund auf. Die Helfer unterstützen die Eltern in ihrem Kampf gegen Gewalt und tragen zum Schutz des Opfers bei. Die Helfer sollten sich an das Opfer wenden, ihm erzählen, dass sie über die Begebenheiten Bescheid wissen, und ihre Unterstützung anbieten. Die Helfer und die Eltern unterstützen das Opfer dabei, jeden gewaltsamen Vorfall schriftlich oder mit elektronischen Hilfsmitteln (z. B. auf einer Kassette) zu dokumentieren. Der Täter sollte darüber informiert werden, dass sein Verhalten dokumentiert wird. Das Dokumentieren der Vorfälle und die Zeugenaussagen der Helfer stellen wichtige Schritte des Widerstands dar, durch die das Opfer aus der Anonymität und der Einsamkeit befreit wird. Der isolierte und missachtete Status des Opfers erfährt eine tiefgreifende Veränderung, wenn Helfer und Eltern sich mit ihm hinsetzen und alle dokumentierten Vorfälle gemeinsam durchsehen. Die Zeit der Missachtung endet hiermit. Die positiven Auswirkungen solcher Ereignisse können wesentlich weitreichender sein als jede Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse in einer tiefgehenden Psychotherapie. Manchmal wird es dem Kind schwerfallen, mit den Eltern oder den Helfern offen über sein lang dauerndes Leid zu sprechen. In diesem Fall empfehlen wir, dass ein professioneller Interviewer zu Hause ausführlicher mit dem Kind spricht.2 Solch ein Interview unterscheidet sich von einem therapeutischen Treffen, das meist in einer Praxis, abgeschnitten vom Alltag des Kindes, stattfindet. Im Gegensatz dazu kommt hier der Interviewer ins Haus, spricht mit dem Opfer in seiner gewohnten Umgebung und kann gegebenenfalls die Eltern für sofortige praktische Lösungswege mobilisieren. 2 Für detaillierte Anweisungen eines Interviews siehe: Omer und von Schlippe, 2004, S. 126–129.
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Das Unterstützernetz und der Wandel der elterlichen Position
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Die Helfer sollten regelmäßig mit dem Opfer und seinen Eltern in Kontakt treten, solange Formen von Gewalt weiterhin existieren. Wir empfehlen einen wöchentlichen Kontakt, sei es in Form eines persönlichen Treffens oder eines Telefongesprächs. Die Häufigkeit der Kontaktaufnahme nimmt allmählich ab, je nach Ausmaß der Gewalt und proportional zum abnehmenden Hilflosigkeitsgrad der Eltern. Meist stellen sich schnell Zeichen der Veränderung ein. Dann ist das Opfer, das die Einsamkeit und Anonymität überwunden hat, bereit, aktiv am Abwehrprogramm gegen die Gewalt teilzunehmen. In Familien, in denen mehrere Geschwister Opfer der Gewalt sind, können unter ihnen Aufgaben verteilt werden. Wenn ein Bruder bedroht wird, kann z. B. der andere Bruder die Eltern oder einen Helfer anrufen. Die gemeinsame Suche nach Lösungen trägt dazu bei, dass die Opfer zu Mitarbeitern im gewaltfreien Widerstand gegen die Gewalt werden. Sie können einen Schutzort wählen oder mögliche Verhaltensweisen erproben, wenn der Täter eines der Geschwister festhält. In unserer Intervention schreiben wir einen Dankesbrief an die Kinder, die es wagen, einen kleinen Schritt im gewaltfreien Widerstand gegen die Gewalt zu leisten. Die Dankesurkunden werden zusammen mit den Dokumentationsunterlagen zu teuren Besitztümern, die dabei helfen, den Selbstwert des missbrauchten Kindes wiederherzustellen.
Das Unterstützernetz und der Wandel der elterlichen Position Das Rekrutieren der Helfer verändert die Position der Eltern innerhalb der Familie: Sie werden nun zu den Anführern des gewaltfreien Kampfes gegen die Gewalt. Diese Veränderung erhält ihren optimalen Ausdruck in einer formellen Erklärung, die an alle Familienmitglieder gerichtet ist. Die Eltern sollten die Kinder zusammenrufen und ihnen ihre Ankündigung vorlesen. Es folgt ein Beispiel: »Wir haben uns entschieden, dass wir in unserer Familie nicht weiter den Schlägen und Drohungen nachgeben werden. Wir werden
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die Dinge nicht mehr geheim halten und nicht mehr über gewaltsame Vorfälle schweigen! Jedes Mal, wenn Ihr seht, dass einer von Euch zuschlägt, Drohungen ausspricht oder jemanden demütigt, möchten wir, dass Ihr uns davon erzählt. Das hat mit Petzen nichts zu tun! Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um die Gewalt in unserer Familie zu beenden! Wir werden das Kind, das uns von den Vorfällen erzählt, beschützen, so dass ihm nichts zustößt. Wir geben Euch auch die Telefonnummern einiger Freunde und Familienmitglieder, die über die Gewalt in unserer Familie Bescheid wissen und bereit sind, uns zu helfen. Solltet Ihr Hilfe brauchen, könnt Ihr zu uns kommen oder einen unserer Helfer anrufen. Wer sich so verhält, ist kein Verräter! Ihm gilt unsere volle Anerkennung, da er unserer Familie hilft, aus der jetzigen Lage herauszufinden!«
Eltern schrecken oft vor der zeremoniellen Feierlichkeit einer solchen Erklärung zurück und bevorzugen es, den Übergang weniger formell zu gestalten. Nach unserer Erfahrung gibt es keinen Ersatz für die formelle Erklärung. Die Familienmitglieder haben sich schon lange an die Gewaltherrschaft im Familienleben gewöhnt und betrachten Gewalt als alltäglich und unvermeidlich. Um den Ausgang aus dieser Lage zu markieren, ist eine Übergangszeremonie notwendig, d. h. ein außergewöhnliches Ereignis in der gewohnten Umgebung. Der zeremonielle Charakter der Ankündigung hilft dabei, ein deutliches Zeichen in der Abfolge der Lebensereignisse zu setzen, das zwischen der Zeit vor und nach der Zeremonie unterscheidet. Deswegen sollte der Übergang zum gewaltfreien Kampf gegen Gewalt nicht auf »natürliche« oder »spontane« Weise vollzogen werden. Es ist sogar besser, den zeremoniellen Charakter der Erklärung durch weitere Merkmale zu verstärken. Die Erklärung kann z. B. schriftlich übergeben werden und an einem auffälligen Ort im Haus platziert werden. Die familienexternen Helfer können sich ihrerseits der Erklärung anschließen. Eine klare Kommunikationsabfolge zwischen Eltern, Helfern und Kindern bezüglich jeglicher gewalttätiger Vorkommnisse kann zu diesem Zeitpunkt eingerichtet werden. Die zeremonielle Erklärung trägt auch zur Veränderung des Status der Eltern in der Familie bei: Sie sind von nun an
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Das Unterstützernetz und der Wandel der elterlichen Position
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Initiatoren und Anführer des familieninternen Kampfes gegen die Gewalt. Viele Eltern würden es bevorzugen, den Kampf ohne Helfer zu führen, nicht nur aus dem Wunsch heraus, die Angelegenheit geheim zu halten, sondern auch aus Sorge, dass die Einbeziehung von Helfern ihre eigene Schwäche aufdecken könnte. Dieses Denkschema ist für eine Logik von Autorität typisch, in der Eltern sich verpflichtet sehen, ihre Herrschaft eigenmächtig durchzusetzen. Unserer Vorstellung nach sollte die Elternführungsrolle gerade durch Helfer gestärkt werden, da sie der elterlichen Autorität Legitimation und Unterstützung bieten. Den Helfern muss jedoch eingeschärft werden, dass sie nicht anstelle der Eltern zu handeln brauchen. Sie haben die Funktion, die Eltern in ihrer Aufgabe zu unterstützen. Es kann vorkommen, dass ein Helfer versucht, den Eltern vorzuführen, wie sie Autorität durch machtorientierte Führung demonstrieren sollten. In diesem Fall muss der begeisterte Helfer darüber aufgeklärt werden, dass seine Intervention schadet. Eventuell muss sogar in Erwägung gezogen werden, auf die Dienste dieses Helfers zu verzichten. »Man muss ihm zeigen, was eine Harke ist!« Silvia, die Mutter von Dirk, einem 14-jährigen Jungen, suchte wegen der schweren Wutausbrüche ihres Sohnes ihr und den 8 und 11 Jahre alten Geschwistern gegenüber eine Beratungsstelle auf. Die Situation hatte sich nach ihrer Scheidung deutlich verschärft. Dirk hatte den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen, nachdem dieser erneut geheiratet hatte. Silvia scheute sich davor, sich an Helfer zu wenden. Als aber ihr Bruder, Manfred, von einem einjährigen Aufenthalt im Ausland zurückkehrte, entschied sie sich, ihn in ihre Schwierigkeiten einzuweihen. Er ermutigte sie, Dirk mit der Kürzung seines Taschengeldes zu bestrafen. Dirk reagierte daraufhin heftig und beschädigte das Auto seiner Mutter erheblich. Manfred, der noch nicht mit dem Therapeuten zusammengetroffen war und an seiner Meinung bezüglich »richtiger« Autoritätsausübung festhielt, betrat in einem Wirbelsturm das Zimmer Dirks, schloss die Tür hinter sich und überschüttete den Jungen eine Stunde lang mit Beschimpfungen. Er forderte Silvia auf, Dirks Taschengeld bis zur Begleichung des Schadens zu streichen und alle seine Wertgegen-
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stände zu beschlagnahmen, wie den CD-Spieler, die Playstation® und einen Tennisschläger. Während des Treffens mit dem Therapeuten vertrat Manfred die Ansicht, dass es nicht genüge, dass Dirk den Schaden ersetze, sondern dass er mit aller Schärfe bestraft werden müsse. Er sagte: »Man muss ihm alles nehmen! Man muss ihm zeigen, was eine Harke ist!« Die demütigende Intervention des Onkels hatte unterschiedliche Folgen: Dirks Gewalttaten gingen deutlich zurück. Als aber Manfred wieder versuchte, Dirks Zimmer zu betreten, um die Begleichung des Schadens zu besprechen, schloss Dirk sich in sein Zimmer ein und drohte, die Polizei zu rufen. Manfred verließ wütend das Haus und beschuldigte Silvia, ihm nicht genügend Rückhalt zu geben. Dirk brach jeden Kontakt mit Manfred ab und wollte auch mit dessen Frau nicht mehr sprechen, zu der er zuvor ein gutes Verhältnis gehabt hatte. Infolgedessen entschied Silvia gemeinsam mit dem Therapeuten, dass die Unterstützung durch Manfred nicht den Prinzipien des gewaltfreien Widerstands entspräche. Diese Krise hatte auch gute Folgen. Silvia wurde deutlich, dass Dirk in der Lage war, seine Wutausbrüche zu kontrollieren. Nachdem Manfred keine Unterstützung mehr darstellte, trat Silvia einer Elterngruppe bei, die sich mit der Wiederherstellung von Autorität – im Sinne der neuen Autorität – beschäftigte. Dort erhielt sie moralische und praktische Unterstützung. Später wandte sie sich auch an ihren Nachbarn und zwei enge Freundinnen. Von diesen Helfern fühlte sie sich unterstützt, weil sie nicht versuchten, an ihrer Stelle auf für sie nicht vertretbare Art und Weise Ordnung zu schaffen.
Die Verstärkung der wachsamen Sorge Die Verstärkung der wachsamen Sorge verändert die familiäre Ordnung. Neben dem Einfluss auf den Täter, dessen Unantastbarkeit aufgehoben wird, und dem Einfluss auf das Opfer, das nun Schutz genießt, lässt die wachsame Sorge die Eltern zum Familienoberhaupt werden. Eltern müssen lernen, Zeichen von Gewalt unter Geschwistern zu erkennen. Die Neigung, gewalttätige Vorfälle zu verharmlosen und deren Bedeutung herunterzuspielen, entstammt der An-
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Die Verstärkung der wachsamen Sorge
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nahme, dass diese Vorkommnisse unter Geschwistern normal sind. Der Gedanke ist in bestimmten Fällen richtig, wenn die Gewaltanwendung gering ist und zwischen Gleichrangigen stattfindet. Diese Sichtweise erschwert es den Eltern, die Unterdrückung oder Erniedrigung kleinerer oder schwächerer Geschwister zu bemerken. Ein genaueres Hinsehen ermöglicht den Eltern, potenzielle Anzeichen zu registrieren, die Leid tragenden Kinder zu schützen und dadurch ihre Position als Eltern zu stärken. Eine der bedeutendsten Merkmale der neuen Autorität ist es demnach, Dingen gezielt Aufmerksamkeit zu schenken, sie zu überprüfen und dadurch zu wissen, was im Hause vor sich geht. Einige Anzeichen können den Eltern helfen, zwischen gewöhnlichen Reibereien unter Geschwistern und Gewalt oder Unterdrückung zu unterscheiden. Eltern sollten sich folgende Fragen stellen: – Existiert ein bedeutender Alters- oder Machtunterschied zwischen den Kindern? – Wird die Gewalt mit der Absicht angewendet, über den Anderen zu bestimmen, um z. B. das Geschwisterkind zum Gehorsam zu zwingen oder ihm vorzuschreiben, wie es sich zu verhalten hat? – Ist die Gewalt durch emotionales Unter-Druck-Setzen gekennzeichnet? – Eskaliert die Gewalt, kommt es zu Verletzungen? – Ist die Gewalt mit festgelegten Rollenverteilungen verbunden: stark – schwach, bestimmen – befolgen? – Wird die Gewalt von Geschlechtsstereotypen bestimmt, wie z. B.: »Mädchen müssen die Jungen bedienen«? Je klarer diese Fragen mit »Ja« beantwortet werden, desto eindeutiger kann man davon ausgehen, dass es sich um richtige Gewalt und Unterdrückung handelt und nicht um normale Reibereien unter Geschwistern. Mit der wachsamen Sorge der Eltern entsteht eine positive Macht dadurch, dass die Eltern entschlossen sind, die Situation zu beaufsichtigen und die Dinge von nahem zu überprüfen. Eltern, die bereit sind den Kindern zu erklären: »Ich weiß nicht genau was hier vor sich geht, aber ich werde die Angelegenheit überprüfen
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und auf der Hut sein!«, steigern ihre Präsenz und ihr Gewicht zu Hause. Diese Position erlaubt es den Eltern, auch in unklaren Situationen als Autoritätsperson zu fungieren, wenn sie z. B. nicht sicher sind, welchem der Kinder sie bei gegenseitigen Beschuldigungen Glauben schenken sollen. In dieser Situation ist es nicht notwendig, vollkommen sicher zu sein, um die elterliche Führung zu übernehmen. »Ich weiß nicht, ob die Anschuldigung der Wahrheit entspricht. Aber ich werde dem wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenken!« Diese Haltung befreit die Eltern aus der Hilflosigkeit oder von dem zwecklosen Bemühen, den Schiedsrichter zu spielen. Die Verstärkung der wachsamen Sorge ist die Antwort auf diese Art von Beschwerdeäußerungen. Die offene Ankündigung, die Rekrutierung von Helfern und die Verstärkung der wachsamen Sorge sind Grundvoraussetzungen für den gewaltfreien Widerstand gegen Gewalt von Kindern in Familien. Der Kampf gegen Gewalt muss durch Beharrlichkeit und Standhaftigkeit gekennzeichnet sein. Eltern dürfen nicht denken, dass es nur einige wenige Maßnahmen braucht, um »Ordnung zu schaffen«. Im Folgenden stellen wir drei zentrale Hilfsmittel des gewaltfreien Widerstands vor: Das Sit-in, die öffentliche Meinung und Wiedergutmachungstaten (siehe hierzu auch: Omer und von Schlippe, 2002; 2004; von Schlippe und Grabbe, 2007).
Das Sit-in Das Sit-in wurde ursprünglich als Mittel des gewaltfreien Widerstands in der gesellschaftlichen und politischen Arena entwickelt. Das Sit-in strahlt auf überzeugende Weise Widerstand, Beharrlichkeit und Standhaftigkeit aus. Gleichzeitig kennzeichnet es die entschiedene Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit. Für den Zusammenhalt der Aktivisten bedeutet das Sit-in ein Abhärtungsritual, ein Zusammenschweißen der Gruppe und eine Erfahrung im gewaltfreien Widerstand. Viele Teilnehmer haben bezeugt, dass die Erfahrung eines Sit-in für sie eine grundlegende Erfahrung darstellte, eine Art »Feuerprüfung für den Kämpfer im gewaltfreien Widerstand«. Diese Erfahrung bewirkte in ihnen ein Gefühl von
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Das Sit-in
Wert, Stärke und Zugehörigkeit, wie sie es vorher nicht gekannt hatten. Der Wert eines Sit-in im Widerstand der Eltern gegen die Gewalt der Kinder hängt von einer guten Vor- und Nachbereitung ab. Das Sit-in verliert seinen Wert, wenn Eltern es als disziplinäre Maßnahme oder als Machtdemonstration verstehen, deren Ziel es ist, dem Kind zu zeigen, wer der Stärkere ist. Solch eine Sichtweise kann das Sit-in für das Kind und für die Eltern in eine Bestrafung verwandeln. Eltern müssen verstehen, dass das Sit-in den Beginn eines Prozesses ankündigt: das Vereinen aller Kräfte, den Ausgang aus der Isolation und die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit und zur Deeskalation. Da es ein wichtiger Schritt ist, eine beschädigte Bindungsbeziehung zu reparieren, liegt der Fokus nicht auf den Veränderungen beim Kind, die durch ein Sit-in ausgelöst werden, sondern darauf, dass die Eltern dieses Instrument nutzen, um ihre Entschlossenheit zu dokumentieren. So macht das Kind die Erfahrung, dass die Stärke der Eltern die Stärke eines Ankers ist, der auf eine nichtbedrohliche Weise stark und präsent ist – und an den es sich lohnen könnte, sich auch von sich aus wieder »anzubinden«. Hier nun einige Anweisungen für ein Sit-in. Das Sit-in Sie betreten das Zimmer des Kindes während seiner Anwesenheit zu einem Ihnen gelegenen Zeitpunkt. Es ist wichtig, dass Sie nicht unter Zeitdruck stehen und nicht zwischendurch anderen Angelegenheiten nachgehen. Sie schließen die Tür hinter sich und setzen sich ggf. so hin, dass das Kind nicht so einfach das Zimmer verlassen kann. Nachdem Sie sich gesetzt haben, sagen Sie: »Wir können dein Verhalten nicht weiter ignorieren, nicht weiter mit dieser Verhaltensweise leben (beschreiben Sie das Verhalten des Kindes genau. Was ist für Sie inakzeptabel, nennen Sie Beispiele). Wir sind hergekommen, um einen Weg zu finden, auf dem wir das Problem lösen können. Wir werden hier sitzen und warten darauf, dass du eine Lösung vorschlägst!« Sie schweigen dann und warten auf einen Vorschlag. Sollte das Kind mit Beschuldigungen, Forderungen oder Drohungen antworten, lassen Sie sich nicht zu einem Streitgespräch ver-
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leiten! Sagen Sie einfach, dass Sie auf seinen Vorschlag warten, und bleiben Sie schweigend sitzen. Sie vermeiden jeglichen Versuch des Überredens, Beschuldigens, Predigens, Drohens oder Streitens! Warten Sie schweigend und geduldig auf einen Vorschlag und lassen Sie sich nicht in einen Wortstreit oder eine physische Auseinandersetzung ziehen! Sobald das Kind irgendeinen positiven Vorschlag gemacht hat, können Sie aufstehen und das Zimmer verlassen. Machen Sie hierbei eine positive Aussage, dass Sie seinen Vorschlag ausprobieren wollen. Drohen Sie nicht mit einem weiteren Sit-in für den Fall, dass sich das Kind nicht an seinen Vorschlag halten sollte. Wenn das Kind keinen Vorschlag macht, so verweilen Sie für eine Stunde im Zimmer und verlassen Sie es dann ohne jegliche Drohung wie z. B., dass Sie zurückkommen würden. Sollten Sie das Bedürfnis haben, etwas zu sagen, so können Sie z. B. beim Verlassen des Zimmers sagen: »Wir haben noch keine Lösung gefunden!« Dinge, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen 1. Sie sollten im Voraus planen, wann Sie ein Sit-in durchführen. Es ist wichtig, das Sit-in nicht durchzuführen, wenn die Gemüter noch erhitzt sind. Wählen Sie einen geeigneten Zeitpunkt aus und bereiten Sie sich vor. Das Sit-in ist zwar für das Kind eine Überraschung, aber nicht für die Erwachsenen, und es sollte gut durchdacht sein. 2. Es ist wichtig, die inakzeptable Verhaltensweise des Kindes genau zu definieren. Anstelle einer allgemeinen Aussage wie »Gestern hast du dich unmöglich benommen!«, ist die spezifische Beschreibung wichtig: »Gestern hast du deine Schwester geschlagen.« 3. Nach dem Sit-in kehrt wieder der normale Alltag in den Haushalt ein; die Geschehnisse werden nicht weiter erwähnt, auch nicht in Form von Andeutungen, Entschuldigungen, Erklärungen oder Drohungen mit einem weiteren bevorstehenden Sit-in. All dies schadet der beabsichtigten Botschaft. Das Sit-in vermittelt die Botschaft in Form von Taten, nicht durch Drohungen oder Erklärungen.
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Das Sit-in
Es ist anzunehmen, dass das Kind Ihr Betreten seines Zimmers nicht gutheißen wird. Wir listen hier einige verbreitete Verhaltensweisen von Kindern während eines Sit-in auf und erläutern, wie Sie am besten reagieren: Bedingungen Das Kind kann versuchen, das Sit-in unter Einforderung gewisser Bedingungen zu beenden z. B.: »Ich werde tun, was ihr wollt, wenn ihr mir […] kauft.« Sie sollten geduldig antworten, dass Sie diesen Vorschlag nicht annehmen können. Nach einer kurzen Antwort sollten Sie wieder schweigen. Ignorieren Mit dieser Reaktion versucht das Kind Ihnen zu zeigen, dass es von Ihrer Maßnahme nicht beeindruckt ist. Es kann in seinem Zimmer herumhantieren, so tun, als ob es schlafe, oder gar nicht reagieren. In all diesen Fällen des Ignorierens bleiben Sie schweigend im Zimmer, ohne irgendwelche disziplinären Maßnahmen zu ergreifen. Provokation Sollte das Kind Sie während des Sit-in beschimpfen, anschreien, beleidigen oder Ähnliches, bleiben Sie weiter schweigend im Zimmer sitzen. Es ist wichtig, nicht zu antworten, sich nicht auf einen Streit einzulassen, nicht zu predigen oder zu drohen. Das Kind kann auch den Fernseher, den Computer oder die Stereoanlage anmachen. Bleiben Sie sitzen, auch wenn es am Computer spielt. Vor dem nächsten Sit-in können Sie dann die Maus beschlagnahmen. Schalten Sie den Computer nicht aus, während das Kind daran spielt, da dies zum Eskalieren der Situation führen kann. Gewaltanwendung von Seiten des Kindes In den Fällen, in denen die Gefahr besteht, dass das Kind gewalttätig werden könnte, sollten entsprechende Vorbereitungen getroffen werden. Es können z. B. Helfer eingeladen werden, die während des Sit-in entweder persönlich oder über das Telefon
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Gewalt von Kindern zu Hause
anwesend sind. In diesem Fall betreten Sie das Zimmer, während der Helfer am Telefon mithört. Ein positiver Vorschlag des Kindes Sobald das Kind einen positiven Vorschlag macht, verlassen Sie das Zimmer und beenden das Sit-in. Sie brauchen nicht zu befürchten, dass das Kind Sie »ausgetrickst« hat, da Sie immer in sein Zimmer zurückkehren und ein erneutes Sit-in durchführen können, sollte das Kind sein problematisches Verhalten nicht ändern. Ein Sit-in kennt weder »Sieg« noch »Niederlage«. Das Ziel des Sit-in ist das Vermitteln der Botschaft der elterlichen Präsenz und des gewaltfreien Widerstands. Erwarten Sie nicht, dass das Kind sich während eines Sit-in gut benimmt. Auch die Tatsache, dass das Kind einen Vorschlag macht, ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Oft ändert sich das Verhalten der Kinder, ohne dass sie einen Vorschlag gemacht haben. Wenn das Kind Sie während des Sit-in beschimpft, sollten Sie erst nach Beenden des Sit-in eine Entscheidung bezüglich eines weiteren Sit-in treffen. Sollten Sie beobachten, dass das problematische Verhalten nachlässt, ist ein weiteres Sit-in nicht erforderlich. Sollten Sie jedoch den Eindruck haben, dass das problematische Verhalten weitergeht, ist ein weiteres Sit-in zu initiieren. Normalerweise sind mehrere Sit-ins erforderlich, um die Botschaft auf klare Weise zu vermitteln. Vergessen Sie nicht: Es geht um eine neue Kultur von Beziehung, nicht um Kontrolle oder darum, endlich ein Mittel der Kontrolle gefunden zu haben.* Die Initiative der Eltern, die Dauer des Aufenthalts im Zimmer und das Schweigen übermitteln die Botschaft: »Wir sind entschlossen, dieses Verhalten zu bekämpfen!«
* Dies ist das häufigste Missverständnis, das beim Sit-in passiert. Wenn Eltern meinen, sie müssten mit den Worten in das Zimmer gehen: »Wir bleiben hier, bis du uns einen Vorschlag gemacht hast!«, vermitteln genau das Gegenteil von dem, was gewaltloser Widerstand bedeutet.
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Das Sit-in
Die Grundposition, die mit dem Sit-in eingenommen wird, ist die der Beharrlichkeit und Standhaftigkeit. Auch wenn das Kind positive Anzeichen der Veränderung zeigt, liegt die zentrale Bedeutung des Sit-in in der Veränderung der Einstellung der Eltern. Die Veränderung des Kindes drückt manchmal nur die taktische Anpassung an die elterlichen Maßnahmen aus. Es behält sich vor, alte Verhaltensweisen wieder aufzunehmen, sobald die Eltern »sich beruhigt haben«. Demgegenüber kann die Veränderung der Eltern einschneidender sein und neu gewonnene Überzeugungskraft und Können widerspiegeln. Der Erfolg des Sit-in ist in Wirklichkeit völlig unabhängig vom Verhalten des Kindes. Sollte das Kind drohen: »Das wird euch nichts helfen!«, so können die Eltern in leisem aber bestimmtem Ton antworten: »Das kann sein, aber wir haben keine andere Wahl, als weiterzumachen!« Diese Aussagen sind nicht nur für die Ohren des Kindes gedacht, sondern beeinflussen auch die Bereitschaft der Eltern, weitere Maßnahmen zur Verstärkung ihrer Präsenz zu ergreifen. Allmählich verstehen sie, dass der Erfolg des Sit-in nur von ihrem eigenen Standpunkt abhängt. Elterliche Aussagen wie: »Es hat nichts geholfen! Er macht auf die gleiche Art weiter!« zeigen, dass die Eltern noch nicht die Bedeutung des gewaltfreien Widerstands verinnerlicht haben. Der Therapeut muss mit solchen elterlichen Reaktionen rechnen und dementsprechend die Prinzipien und Ziele des Sit-in erklären. Der Therapeut sollte die Eltern detailliert zu ihren Verhaltensweisen und ihren Gefühlen während und nach dem Sit-in befragen. Ihre Fähigkeit, sitzen zu bleiben und den Versuchen des Kindes zu widerstehen, sie aus dem Zimmer zu verbannen oder in einen Streit zu verwickeln, stellen klare Anzeichen dar, dass die Eltern sich schon in einem Prozess der Veränderung befinden. In diesem Sinne kann das Sit-in als besonders erfolgreich angesehen werden, gerade wenn das Kind mit aller Macht versucht, die Eltern zu negativen Reaktionen zu bewegen, und diese allen Provokationen erfolgreich widerstehen. Dieses Vorgehen liefert ein ideales Training für das Sammeln von Erfahrungen im gewaltfreien Widerstand. Es ermöglicht den Eltern, sich auf die Schwierigkeiten vorzubereiten und im Voraus passende Antworten zu finden, Eltern initiieren ein Sit-in, wenn sie sich ruhig und gestützt fühlen, und sie können das Sit-in von sich aus beenden, sollten sie dies wollen.
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Gewalt von Kindern zu Hause
Während der Vorbereitungen für ein Sit-in überprüfen die Eltern ihre eigenen typischen, zu Eskalationen führenden Reaktionen, um diese zu vermeiden. Sie lernen, Streitsüchtigkeit, Belehrungen, Beschuldigungen, Anschreien und Drohungen zu unterlassen. Sie lernen die positive Wirkung der schweigenden Präsenz kennen, der kurzen und sachlichen Antworten und der ausdrücklichen Feststellung, dass sie nur über sich, nicht aber über das Kind bestimmen können. Aussagen wie »Wir können dich nicht besiegen!« oder »Auch wenn du dein Verhalten nicht änderst, haben wir keine andere Wahl, als weiter Widerstand zu leisten!« tragen wesentlich zur Deeskalation bei. Eltern, die sich solcher Aussagen bedienen, werden das Sit-in gestärkt verlassen und auch in anderen Situationen bei einer Eskalation widerstandsfähiger sein. Das Sit-in liefert Eltern die Erfahrung der Standhaftigkeit in einer bedrängenden und herausfordernden Situation, in der sie einen überzeugenden, aber nicht aggressiven Standpunkt einnehmen. Die Bewältigung dieser Aufgabe verleiht den Eltern anstelle eines Gefühls der Hilflosigkeit und des Vergeltungszwangs das gute Gefühl, ohne Gewalt beharrlich zu sein. Es ist wichtig, diese Errungenschaften während des Beratungsgesprächs nach dem Sit-in zu beleuchten. Selbst das zehnminütige Ausharren, ohne dass es zu einer Eskalation kommt, stellt einen Beweis dar, dass die Eltern ihre Reaktionen verändern können. Die Erfahrung eines Sit-in unterscheidet sich für das Kind von allem, was es bisher kannte. Seine Gewalt wurde bislang von den Eltern mit fehlender Beachtung, deren Nachgeben oder einem Gegenangriff erwidert. Diese Reaktionen liefern die optimalen Bedingungen für eine Fortsetzung der Gewalt. Demgegenüber erlebt das Kind, dessen Eltern gewillt sind, Sit-ins in seinem Zimmer durchzuführen und jegliche Eskalation zu vermeiden, eine starke Front gegen seine Gewalt. Die Gewalt stößt nun auf Widerstand, der durch Helfer unterstützt wird, die sich nicht provozieren lassen.
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Transparenz, Dokumentation und die öffentliche Meinung
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Transparenz, Dokumentation und die öffentliche Meinung Das Aufdecken des Geheimnisses und das Einführen der Helfer in den geschützten Bereich der Beziehungen innerhalb der Familie verkündet mehr als alles andere die Entschlossenheit der Eltern, die Gewalt zu bekämpfen. Die Helfer sind eine Quelle der Unterstützung für die Eltern, für die Leidtragenden und oftmals auch für den Täter. Außerdem führen sie eine Art »öffentliche Meinung« ein, die eine Fortsetzung des gewalttätigen Verhaltens erschwert. Eltern äußern häufig die Vermutung, dass dem Kind gleichgültig sei, was andere über es denken. Diese Vermutung verliert angesichts verbreiteter Reaktionen des gewalttätigen Kindes ihre Gültigkeit: Das Kind reagiert oftmals sehr heftig, um das Aufdecken des Geheimnisses zu verhindern, es zeigt klare Anzeichen von Scham und reduziert seine gewalttätigen Aktionen. Ein gutes Hilfsmittel, um eine Form von Öffentlichkeit herzustellen, ist das Dokumentieren der Ereignisse. Eine durchdachte Dokumentation wirkt auf zweierlei Weise: Sie macht die Gewalttaten öffentlich, betont aber gleichzeitig die positiven Seiten des Kindes. Wir schlagen den Eltern vor, nicht nur die Wutausbrüche und Schmähungen festzuhalten, sondern auch die schönen Momente mit dem Kind und seine guten Seiten. Diese positive Dokumentation ermöglicht es den Eltern, ihre Sichtweise des Kindes zu korrigieren und ihre Erinnerungen aufzufrischen, die oftmals in Folge der schweren Vorkommnisse abgestumpft sind. Diese Form der Dokumentation hilft auch dem Kind, allmählich ein positiveres Selbstbild zu entwickeln. Es folgen Anweisungen für diese Art der Dokumentation. Das Dokumentationsheft Unser Ziel ist es, die Gewalttaten des Kindes detailliert zu dokumentieren und gleichzeitig seine positiven Seiten herauszustellen. Es ist wichtig zu verstehen, dass ein Kind, das immer wieder ohne jede Hervorhebung seiner guten Seiten getadelt wird, den Eindruck bekommen kann, dass diese Seiten nebensächlich sind und den Erwachsenen nicht beeindrucken.
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Gewalt von Kindern zu Hause
Im Rahmen der Dokumentationsarbeit können Sie ein Heft anfertigen, dessen rechte und linke Seite aus verschiedenfarbigem Papier besteht oder dessen Einband verschiedenfarbig ist. Auf der einen Seite werden die problematischen Vorkommnisse dokumentiert, auf der anderen Seite die positiven. Das Dokumentieren problematischer Verhaltensweisen Die eine Seite des Heftes präsentiert dem Leser die Abschnitte, welche die negativen Verhaltensweisen des Kindes festhalten. Diese Dokumentation enthält eine präzise Beschreibung der Taten, Aussagen und Reaktionen sowohl des Täters als auch des Opfers. Die Art der Dokumentation sollte objektiv sein und keine persönliche Bewertung der Ereignisse enthalten. Die Dokumentation der problematischen Vorfälle ist von begrenzter Lebensdauer: Die Seiten werden aus dem Heft entfernt und vernichtet, nachdem auf die beschriebenen Vorkommnisse eine Widerstandsreaktion erfolgt ist. Die Art der Reaktion, die das Wegwerfen der Seiten erlaubt, hängt vom Schweregrad des Vorfalls ab. In leichten Fällen kann das Blatt nach einer entsprechend leichten Reaktion entsorgt werden, wenn Sie z. B. durch ein Sit-in eine klare Botschaft übermittelt haben und sich die Situation entspannt hat. In diesem Fall kann das Blatt schon nach wenigen Tagen weggeworfen werden. Bei schwerwiegenderen Vorfällen ist das Vernichten des Blattes von einer einschneidenderen Reaktion von Ihrer Seite oder von der Beteiligung Ihres Kindes an Wiedergutmachungstaten abhängig. In diesen Fällen empfehlen wir, dass Sie Familienmitglieder und Freunde bitten, mit Ihrem Kind Kontakt aufzunehmen und ihm zu sagen, dass sie von seinem Verhalten erfahren haben und dessen detaillierte Dokumentation gelesen haben. Sie sollten nun mindestens eine Woche warten, bis Sie das Blatt wegwerfen, auch wenn sich der normale Alltag wieder eingestellt hat, um die Schwere der Taten des Kindes zu betonen. Das Entfernen des Blattes wird nicht durch einen Elternteil allein entschieden, sondern nur nach Absprache beider Elternteile. Es ist wichtig, dass das Kind weiß, dass das Entfernen eines Blattes nur mit der Zustimmung beider Eltern erfolgt. Sollte es z. B.
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Transparenz, Dokumentation und die öffentliche Meinung
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um die Entfernung eines Blattes bitten, antworten Sie darauf: »Ich werde das mit Papa besprechen!« Das Entfernen des Blattes ist kein Ignorieren oder gar Leugnen des Vorgefallenen, sondern Ihre Anerkennung des Umstands, dass Ihr Kind in der Folge klare Anzeichen von Selbstkontrolle gezeigt hat. Würde die Dokumentation der problematischen Vorfälle auf ewig im Heft bleiben, so hätte das Kind das Gefühl, dass sein Name für immer beschmutzt wäre. Das Dokumentieren positiver Verhaltensweisen Die andere Seite des Heftes präsentiert dem Leser die Abschnitte, die positive Verhaltensweisen, schöne Momente und gute Meinungen über das Kind enthalten, z. B. Bilder und Andenken an Ereignisse, die in guter Erinnerung sind, wie ein Familienausflug, eine Feier, eine Auszeichnung. Sie können Auszeichnungen, die eine Leistung Ihres Kindes dokumentieren, oder eine Charaktereigenschaft, die in Ihren Augen Bedeutung hat, herausstellen, die Auszeichnung abheften und eine zusätzliche Kopie wie ein »Diplom« einrahmen und an die Wand hängen. Briefe von Familienmitgliedern und Freunden, die ihre Achtung und ihre Sympathie für das Kind bekunden, sind von großer Wichtigkeit. Ein Anerkennungsbrief von einer Person, die vorher bei der Dokumentation eines problematischen Vorfalls mitgewirkt hat, der auf der anderen Seite des Heftes vermerkt wurde, ist besonders bedeutsam. Wir schlagen Ihnen vor, Familienmitglieder und Freunde zu den positiven Seiten des Kindes zu befragen. Je mehr Mitwirkende bei der Dokumentation helfen, desto stärker ist der Einfluss des Heftes. Achten Sie darauf, dass auf der positiven Seite des Heftes keine Andeutungen auf problematische Verhaltensweisen und keine predigtähnlichen Kommentare vorkommen, wie etwa: »Das beweist, dass du Dich durchaus gut benehmen kannst, und wir hoffen, dass du Dich auch in Zukunft wirst beherrschen können!« Selbstverständlich werden die Dokumentationen auf dieser Seite nicht entfernt. Indem die Einträge auf dieser Seite sich ansammeln, wollen wir dem Kind die Botschaft vermitteln, dass ihn seine positiven Verhaltensweisen stärker charakterisieren als die negativen.
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Gewalt von Kindern zu Hause
Die Dokumentationsarbeit sollte in einem Bereich im Haus vorgenommen werden, in dem das Kind sich aufzuhalten pflegt. Wenn Sie gerade nicht an dem Heft arbeiten, lassen Sie es an einem leicht zugänglichen Ort liegen, es sei denn, Sie befürchten, dass das Kind versuchen könnte, das Heft zu beschädigen. Laden Sie das Kind ein, sich an der Gestaltung des Heftes zu beteiligen, ohne aber es dazu zu drängen. Die Mitarbeit des Kindes und eine positive Reaktion seinerseits sind keine Voraussetzung für einen Erfolg! Bereiten Sie sich auf verschiedene mögliche Reaktionen des Kindes vor: Verhandlungen Das Kind könnte versuchen, mit Ihnen zu diskutieren und zu behaupten, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht sein Verschulden seien oder dass die Dokumentation eines Vorfalls nicht stimme. In diesem Fall sagen Sie ihm, dass Sie die Ereignisse so gesehen haben, aber dass Sie überzeugt sind, dass es sich überwinden und das Vorgefallene wiedergutmachen kann. Das Kind könnte Sie drängen, das Blatt schneller als geplant zu entfernen. In diesem Fall sagen Sie ihm, dass Sie bereit sind, es anzuhören und seine Argumente in Erwägung zu ziehen, aber dass nur Sie entscheiden, wann das Blatt entfernt wird. Sollte das Kind das Blatt mutwillig entfernen, sagen Sie ihm, dass sie eine Kopie hinterlegt haben, die Sie den Helfern zeigen werden. Sollte das Kind beanstanden, dass es sich auf lobenswerte Weise verhalten habe, dies aber nicht im Heft dokumentiert sei, bieten Sie ihm an, die Ereignisse selbst oder gemeinsam mit Ihnen schriftlich zu dokumentieren und dem Heft beizufügen. Beschädigung des Heftes Es könnte sein, dass das Kind das angefertigte Heft zu vernichten oder zu beschädigen sucht. Sie sollten sich auf diese Möglichkeit vorbereiten. Fügen Sie dem Heft keine Originale bei, an denen Ihr Herz hängt. Sie können auch ein virtuelles Heft auf dem Computer erstellen und dessen Wirkung durch die Reaktionen von Helfern verstärken, die das Kind anrufen können, um ihre
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Wiedergutmachungstaten
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Freude über die positiven Ereignisse und ihr Wissen um die negativen Vorkommnisse auszudrücken. Gleichgültigkeit Es ist wichtig, die Dokumentation auch dann weiterzuführen, wenn das Kind nicht reagiert und das Geschriebene scheinbar nicht liest. Vermutlich will das Kind Sie mit der Demonstration seiner Gleichgültigkeit provozieren. Oft schaut ein Kind, das sich so verhält, in Abwesenheit der Eltern in das Heft. Eine positive Reaktion Sollte das Kind gewillt sein, bei der Dokumentationsarbeit des Heftes mitzuwirken, so beziehen Sie es mit ein! Bieten Sie dem Kind an, seine eigenen Dokumentationen auf der positiven Seite des Heftes hinzuzufügen, und ermöglichen Sie ihm, gemeinsam mit Ihnen die Blätter, die negative Ereignisse dokumentieren, zu entfernen. Das Mitwirken der Helfer ist bei der Dokumentierung besonders wichtig. Die Helfer werden gebeten, dem Kind zu sagen, dass sie die Dokumentation gelesen haben, und auf ihren Inhalt Bezug zu nehmen. Die Liste der Leser kann sich ausweiten, und es können neue Kontakte hinzugefügt werden, sollte der Einfluss der öffentlichen Meinung nicht genügend zur Geltung kommen. Die Helfer können auch auf der positiven Seite des Heftes einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie ihre eigenen Erlebnisse mit dem Kind hinzufügen. Besonders wichtig sind Vorschläge zu möglichen Wegen, in denen das Kind seinen Ruf wiederherstellen kann.
Wiedergutmachungstaten Der Versuch der Eltern, das Kind zu Wiedergutmachungstaten für sein gewalttätiges Verhalten zu bewegen, drückt den positiven Geist des gewaltfreien Widerstands aus. Wenn das Kind sich gewalttätig verhält, entsteht ein Bruch zwischen ihm und dem Rest
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Gewalt von Kindern zu Hause
der Familie. Die anderen Familienmitglieder sind wütend auf das Kind, fürchten es und wollen sich von ihm entfernen. Diese Situation kann sich ändern, wenn das Kind Unterstützung erhält, um Wiedergutmachungstaten zu ergreifen. Anders als Bestrafungen, die in keiner Weise die Kluft zu überbrücken vermögen, die sich zwischen dem Kind und anderen aufgetan hat, bringen die Wiedergutmachungstaten das Kind in den Schoß der Familie zurück und verstärken sein Zugehörigkeitsgefühl. Eltern sollten die Notwendigkeit zur Wiedergutmachung nicht sofort nach einem Angriff erläutern, sondern warten, bis sich der Sturm ein wenig gelegt hat (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!«). Die Forderung zur Wiedergutmachung kann während eines Sit-in präsentiert werden oder aber unter anderen, angenehmeren Umständen. Es folgt ein Formulierungsvorschlag für ein älteres Kind: »Gestern hast du deinen Bruder geschlagen. Wo immer es eine Verletzung gegeben hat, muss auch eine Wiedergutmachung erfolgen. Wir möchten dir dabei helfen, einen Weg zur Wiedergutmachung der Verletzung zu finden, und dir auch bei der Ausführung helfen. Wir möchten dir helfen, weil du nach wie vor unser Kind bist und wir die Verantwortung für dich tragen. Wir sind bereit, deine Würde bei der Wiedergutmachung zu berücksichtigen. Lass uns gemeinsam überlegen, was ein möglicher Weg zur Wiedergutmachung ist und wie wir dir helfen können!«
Es folgt ein Beispiel für ein kleineres Kind: »Heute Morgen hast du Mama geschlagen! Wir sind nicht bereit, das hinzunehmen! Wenn man etwas Schlechtes tut, muss man danach etwas Gutes tun, um das Schlechte wiedergutzumachen. Wir wollen dir helfen zu überlegen, was du für Mama tun kannst, um die Schläge von heute Morgen wiedergutzumachen! Wir möchten dir helfen, weil du noch klein bist und unsere Hilfe brauchst. Lass uns gemeinsam überlegen, was zu tun ist!«
In vielen Fällen wird das Kind protestieren, dass es nicht schuldig sei oder dass der Bruder angefangen habe. Darauf können Eltern
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Wiedergutmachungstaten
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antworten, dass Gewalt auch dann nicht erlaubt ist, wenn andere einen ärgern. Die Eltern sollten gleichzeitig sagen, dass sie dem Kind helfen wollen, mit den Provokationen des Bruders umzugehen, aber erst, nachdem es selbst mit ihrer Hilfe einen Schritt zur Wiedergutmachung unternommen habe. Sollte das Kind keinen Vorschlag haben, können die Eltern ihrerseits etwas vorschlagen, z. B. dass das Kind Reue äußert und sich ein kleines Geschenk als Entschädigung für die Verletzung überlegt: einen Brief, ein Bild, einen symbolischen Gegenstand, eine Süßigkeit. Eltern können ihre Hilfe sowohl bei der Wiedergutmachung anbieten als auch im Hinblick auf eine gute Art und Weise, die Reue auszudrücken. Hierbei muss darauf geachtet werden, die Würde des Kindes zu wahren. Darüber hinaus sollte die Bürde der Wiedergutmachungstat dem Kind nicht allein auferlegt werden, da dies die Ausführung der Wiedergutmachung sehr erschwert und das Kind davon abhalten könnte. Wir wollen dem Kind das Gefühl geben, dass die Wiedergutmachung in seiner Reichweite liegt. Wir streben keine erniedrigenden oder schwer ausführbaren Schritte an. Die jüdischen Religionsgelehrten sehen die Stellung des Sünders ganz ähnlich. Es kann nicht erwartet werden, dass er selbst für all seine Verfehlungen sühnen könnte. Im Gebetbuch für Yom Kippur (der Versöhnungstag der Juden) steht, dass der Mensch allein nicht dazu fähig ist, für seine Sünden Sühne zu leisten, sondern dass seine Sünden vergeben werden, weil sein Gebet Teil des Gebets des ganzen Volkes Israels ist. Auf diesem Weg wird die Sühne des Einzelnen erleichtert. Ähnlich fungiert die Idee des göttlichen Opfers im Christentum als Antwort auf die Empfindung des Einzelnen, dass es nicht in seiner Macht steht, für all seine Sünden Sühne zu leisten. Der Sünder kann nur einen symbolischen Teilbeitrag zur Sühne leisten, während Gott die »Restschuld« tilgt und den Menschen vom Untergang erlöst. Trotz der angebotenen Hilfe der Eltern lehnen viele Kinder anfangs die Idee der Wiedergutmachungstat ab. Sie brechen das Gespräch ab, protestieren, dass sie nicht schuldig seien, oder greifen die Eltern an, wenn diese versuchen, das Kind zu einer Wiedergutmachungstat zu bewegen. In diesen Fällen sollten die Eltern deutlich machen, dass das Problem noch nicht gelöst sei und dass
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Gewalt von Kindern zu Hause
sie weiter nach Wegen suchen würden, den Leidtragenden zu schützen und ihn für die Verletzung zu entschädigen, sei es mit oder ohne das Mitwirken des Täters. Die Eltern können ein solches Gespräch mit dem Kind mit folgenden Worten beenden: »Wir werden dir später sagen, was wir uns überlegt und was wir entschieden haben!« Hiermit übermitteln die Eltern die Botschaft, dass der Vorfall noch nicht abgeschlossen ist. In vielen Fällen kann durch die Miteinbeziehung von Helfern eine positive Wende erreicht werden. Z. B. können sich Helfer einige Tage nach dem Vorschlag der Eltern mit dem Kind treffen und ihm die Notwendigkeit und die Vorteile einer Wiedergutmachungstat unterbreiten. Hier ein Beispiel einer Ansprache eines Helfers: »Als deine Eltern mit dir darüber gesprochen haben, warst du nicht an einer Möglichkeit der Wiedergutmachung für die Verletzung interessiert, die du deinem Bruder zugefügt hast. Ich würde gerne mit dir eine positive Lösung für dich suchen. Es ist klar, dass deinem Bruder eine Entschädigung für die Verletzung gebührt. Es ist auch klar, dass du davon profitieren kannst, wenn du daran mitwirkst, weil du damit deinen guten Ruf wiederherstellst und das Verhältnis zwischen euch sich verbessern kann. Sollte dein Bruder nur durch deine Eltern, ohne dein Mitwirken, entschädigt werden, wird er zwar entschädigt, aber du wirst weiterhin einen schlechten Ruf haben und den gegen dich gerichteten Ärger ertragen müssen. Ich bin bereit, dir zu helfen, einen Weg zu finden, auf dem deine Würde gewahrt wird, und du trotzdem an der Wiedergutmachungsaktion mitwirken kannst.«
Sollte das Kind nicht einwilligen, kann der Helfer das Gespräch mit den Worten beenden: »Ich schlage vor, dass wir beide weiter über die Angelegenheit nachdenken. Wir können uns in einigen Tagen noch einmal treffen, vielleicht hat bis dahin einer von uns eine gute Idee.« Diese Aussage gewährt dem Kind eine Ruhephase, um das Gespräch mit dem Helfer zu verarbeiten. Oftmals ist es eine instinktive Neigung des Kindes, den Vorschlag abzulehnen. Es empfindet eine sofortige Zusage vielleicht wie eine Kränkung seiner Ehre. Wenn dem Kind jedoch eine Denkpause gewährt wird, wächst die Aussicht auf seine Einwilligung.
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Wiedergutmachungstaten
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Dieser Prozess eröffnet die Möglichkeit einer Lösungsfindung, auch wenn die erste Reaktion des Kindes negativ war. Die Denkpause befreit das Kind von dem Zwang, sofort einwilligen zu müssen, während die Stimmung noch aufgewühlt ist und es seine Zustimmung als erniedrigende Kapitulation empfände. Die übliche Aufforderung »Entschuldige dich!« führt meist zu einer erzwungenen und unehrlichen Reaktion. Stattdessen empfehlen wir, die Forderung zur Wiedergutmachung erst zu stellen, wenn sich die Situation beruhigt hat. Das Kind kann sich zu verschiedenen Zeitpunkten entscheiden, sich der Aktion anzuschließen: während des ersten Gesprächs mit den Eltern, während des Gesprächs mit dem Helfer oder sogar noch später. Manchmal will es auf eigene Faust handeln und eine Aktion zur Wiedergutmachung starten, selbst wenn es vorher nicht dazu bereit war. Diese Reaktion bezeugt die positiven Stimmen, die im Kind verborgen sind. Eine Wiedergutmachungstat, die nach einer Denkpause und nach einigen Überlegungen geleistet wird, ist von besonders großem Wert, da sie nicht den blinden Gehorsam des Kindes, sondern seinen eigenständigen Willen ausdrückt. In den Fällen, in denen das Kind standhaft den Vorschlag einer Wiedergutmachungstat ablehnt, sollten die Eltern allein entscheiden, wie sie das Opfer entschädigen können, z. B. durch einen besonderen Vergnügungsausflug oder durch die materielle Entschädigung der beschädigten Gegenstände. In diesem Fall sollte das Taschengeld des Kindes gekürzt werden als unfreiwillige Betei ligung an der Entschädigung. Diese Maßnahmen sollten ohne Tadel oder Schelten durchgeführt werden, da dies meist nur zu einer Verhärtung der Position des Kindes führt. Eine kurze Ankündigung genügt: »Wir haben uns entschlossen, dass wir deinen Bruder für deine Verletzung entschädigen!« Eltern fürchten oft, dass eine Entschädigung durch sie den Neid verstärken kann, der vielleicht der Ausgangspunkt der Gewalt war. Sie befürchten auch, dass das Kind dadurch lernt, dass es nach Belieben Dinge zerstören kann, da die Eltern diese sowieso ersetzen. Dies sind unbegründete Befürchtungen, besonders dann, wenn die Eltern ruhig und sachlich handeln und die Botschaft vermitteln: »Wenn man jemandem Schaden zufügt, muss man die Angelegenheit wiedergutmachen. Wenn du dazu nicht
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Gewalt von Kindern zu Hause
bereit bist, werden wir das tun, und du wirst dich mit einem Teil deines Taschengeldes daran beteiligen!« Diese elterliche Botschaft erhält eine stärkere Resonanz, wenn sie durch die Helfer bestätigt wird: »Es gibt keine andere Wahl! Man muss die Angelegenheit wiedergutmachen!« Auf diesem Weg sickert der Zusammenhang von Verletzung und Wiedergutmachung in das Bewusstsein des Kindes. Dieses Verständnis fördert das Kind in seiner Entwicklung, die Perspektive eines Anderen mit zu berücksichtigen. Auch wenn das Kind an der Wiedergutmachungstat aus eigennützigen Beweggründen mitwirkt, so entwickelt die Wiedergutmachung doch eine eigene Dynamik. Ein Kind, das den angerichteten Schaden wiedergutmacht, erhält dafür Unterstützung und Anerkennung, die seine isolierte Situation mildern. In dieser Situation wird es ihm schwerfallen, diesen positiven Auswirkungen den Rücken zu kehren und die Demütigungen und Einschüchterungen gegen das Geschwisterkind wieder aufzunehmen, auch wenn seine Beweggründe nicht in erster Linie moralischer Natur sind.
Emotionale Gewalt Emotionale Gewalt unter Geschwistern besteht aus fortwährenden Belästigungen, Beschimpfungen, Erniedrigungen, systematischem Ignorieren, Vorschriften und Verboten, Drohungen und Einschüchterungen. Meist sind sich Eltern dieser Vorkommnisse bewusst, neigen jedoch dazu, ihre Bedeutung zu unterschätzen. Sobald sie versuchen, sich einzumischen, erhebt der Täter Vorwürfe: »Aber er hat angefangen!« »Immer bin ich der Schuldige!« »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, ihr Freund zu sein!« Diese Beschwerden verwickeln die Eltern in ein Streitgespräch und sie versuchen dann vergeblich, eine Position zu beziehen und ihr Einmischen zu rechtfertigen. Diese Bemühungen zeigen oftmals keine klaren Ergebnisse, da emotionale Gewaltanwendung häufig schwer zu fassen ist. Die Verschleierung dieses Phänomens rechtfertigt jedoch keine unklare Stellungnahme von Seiten der Eltern. Im Gegenteil: Die
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Emotionale Gewalt
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klare Stellungnahme der Eltern ermöglicht den Rückgang des Phänomens, während eine zögernde Reaktion und endlose Auseinandersetzungen zum Thema es nur verstärken. Um eine klare Stellung einzunehmen, ist keine umfangreiche Klärung der Vorkommnisse oder eine eindeutige Benennung des Schuldigen notwendig. Die Eltern können sagen: »Ich widersetze mich mit all meiner Kraft jeder Erniedrigung oder Einschüchterung, und wir werden uns an jede Person wenden, die uns dabei helfen kann! Wir sind bereit, dir bei der Lösungsfindung für deine Schwierigkeiten mit deinem Bruder oder mit uns zu helfen. Aber sobald du dich auf diese Weise verhältst, werden wir gegen deine Verletzungen Maßnahmen ergreifen!« Die entschlossene Fürsorge der Eltern kommt in den gleichen Schritten zum Ausdruck, wie sie bei der physischen Gewalt beschrieben wurde: eine formelle Erklärung, das Rekrutieren von Helfern, das Dokumentieren der verletzenden Handlungen, das Mitwirken der Helfer, Sit-ins und Vorschläge zu Wiedergutmachungstaten. Eltern sollten nicht erwarten, dass die emotionale Gewalt durch ihren Einsatz ganz aufhört. Diese Art von Gewalt hat viele Gesichter und kann sich viel besser verbergen als die physische Gewalt. Trotzdem führt eine klare elterliche Stellungnahme zu einer Verringerung des Ausmaßes der Gewalt und zur Stärkung des Leidtragenden. Zusätzlich schafft die gewaltfreie und deeskalierende Haltung der Eltern die optimalen Verhältnisse zur Verstärkung der positiven Stimmen im Kind. Die Stärkung des Opfers ist ein wesentlicher Teil des Kampfes gegen emotionale Gewalt. Eltern sollten dem verletzten Kind sagen: »Wir wissen, dass dich dein Bruder erniedrigt und beschimpft hat. Das ist inakzeptabel. Wir werden alles tun, um dir zur Seite zu stehen und dir ein besseres Gefühl zu geben!« Es sollten auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des verletzten Kindes ergriffen werden: ein gemeinsamer Ausflug, der die Unterstützung verdeutlicht, oder die Übergabe eines Anerkennungsbriefes an das »Opfer«, der dessen Beitritt zum gewaltfreien Kampf kennzeichnet. Die Helfer können sich dem Anerkennungsbrief anschließen. Sie können dem Opfer mitteilen, dass sie dem Täter von ihrer Entscheidung berichten werden, das Opfer gegen die Verletzungen und Schmähungen zu stärken. Die Unterstützung des Verletzten
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verändert die Sachlage: Anstelle erniedrigt zu sein, wird dem Opfer durch die Unterstützung Anerkennung zuteil. Sollte das Opfer sich immer noch beschweren, dass die Angriffe nicht aufgehört haben, können die Eltern antworten: »Wir haben keine Kontrolle über sein Mundwerk. Aber wir können ihm und dir zeigen, dass seine Worte in unseren Augen keine Bedeutung haben. Wenn er dich beleidigt und unterdrückt, werden wir so reagieren, dass wir dich stärken!« Wenn die Angriffe in der Öffentlichkeit unternommen werden, ist es angebracht, sich an die Freunde des Täters zu wenden. Wenn die Freunde oder die Zeugen der Beleidigungen angesprochen werden, wird die öffentliche Meinung zu einem Druckmittel gegen die emotionale Gewalt. Sollte der Bruder es schaffen, dass seine Freunde sich ihm anschließen und ebenfalls Beleidigungen äußern, sollte man sich auch an deren Eltern wenden. Sowohl der Täter als auch das Opfer sollten über diese Maßnahmen informiert werden. Eltern fragen sich oft: »Warum sollte das helfen?« Die klare Antwort darauf ist, dass Einschüchterungen und Erniedrigungen weitere Geltung erlangen, wenn die Beistehenden darüber schweigen und nicht reagieren. Die Entschlossenheit, öffentlich einen Kampf gegen die emotionale Gewalt aufzunehmen, entzieht ihr eine zentrale und ausschlaggebende Grundbedingung: das stillschweigende Einverständnis der Mitwisser. Zum Abschluss des Kapitels folgt ein detailliertes Fallbeispiel. Eine Familie in Unterdrückung David, ein 15-jähriger Junge, war allzu oft von der Schule abwesend. Auch wenn er die Klasse besuchte, benahm er sich nicht wie ein Schüler. Er verließ die Klasse mitten im Unterricht und reagierte auf jede Forderung mit einem Wutanfall. Einmal kletterte er auf das Dach und drohte damit, sich umzubringen. Er wurde zwei Mal von einem Psychiater begutachtet, der eine medikamentöse Therapie vorschlug, aber David brach diese Therapie auf eigene Faust nach wenigen Tagen ab. Er war einige Monate in Psychotherapie – vergeblich. Die Eltern, Jonas und Brigitte, erzählten, dass David zu Hause und außerhalb der Familie eigenmächtig handle. Seine drei Schwestern, Sarah, Katharina, und Judith (im Alter von 17, 10 und
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5 Jahren), mussten seine eigenwilligen Wünsche erfüllen. Seine Launen wechselten rasch, und seine Wutausbrüche waren unvorhersehbar. Oft warf er Gegenstände herum oder trat gegen Türen ohne jeden erkennbaren Anlass. Wenn ihm das Essen nicht schmeckte, warf er den Teller auf den Boden oder auf seine Mutter. Wiederholt verbrachte er die ganze Nacht außerhalb des Hauses. Er trug ein Messer mit sich herum, das er häufig aus seiner Tasche zog und mit dem er vor seinen Schwestern herumfuchtelte. Er murmelte Drohungen vor sich hin, als ob er zu sich selbst spräche, achtete aber gleichzeitig darauf, dass auch andere seine Drohungen hörten. Den Eltern graute davor, dass er eine seiner Schwestern verletzen oder sich selbst umbringen könnte. Brigitte erzählte, dass die Mädchen sehr unglücklich seien, und beschuldigte ihren Mann, dass er nicht bereit sei zu helfen. Jonas kritisierte sie wiederum dafür, dass sie »zu weich« sei, dass sie nicht nur David, sondern auch den Töchtern gegenüber ohne jegliche Autorität auftrete. Brigitte antwortete darauf, dass sie am Ende ihrer Kräfte sei: »Manchmal möchte ich das Fenster öffnen und lauthals schreien! Ich muss all meine Kraft anwenden, um nicht verrückt zu werden!« Die Therapeutin hatte den Eindruck, dass Brigitte unter einer Depression litt. Trotz der Schwierigkeiten, drückten Brigitte und Jonas auch positive Gefühle füreinander aus. Im Laufe der Therapiesitzung wurde Jonas’ Verhältnis zu Brigitte etwas weicher und Brigitte erzählte, dass sie manchmal immer noch eine große Nähe zueinander spürten. Die Therapie begann mit einer Erklärung über die Prinzipien und Hilfsmittel des gewaltfreien Widerstands. Schon in der zweiten Sitzung wurde mit der Rekrutierung von Helfern begonnen. Glücklicher weise hatten Brigitte und Jonas eine große Familie und viele Freunde, an die sie sich hilfesuchend wandten. Dreizehn von ihnen kamen zu einem Unterstützertreffen. Eine schriftliche Zusammenfassung des Treffens wurde auch an Jonas’ Vater geschickt, der im Ausland lebte. David hatte ein besonders gutes Verhältnis zu seinem Großvater, wie auch zu einem seiner Onkel, Brigittes Bruder. Die Therapeutin unternahm einen Hausbesuch, um die Geschwister in ihrer gewohnten Umgebung zu interviewen. Sarah und Katharina bestätigten die Erzählungen der Eltern und fügten weitere
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Details zu ihrer Lage hinzu. Sarah war sehr verzweifelt. Sie glaubte nicht, dass David fähig sei, sich zu beherrschen, und war daher überzeugt, dass alle Bemühungen aussichtslos wären. Sie fühlte sich schuldig, dass sie manchmal auf Davids Provokationen antwortete und damit seine Wut schürte. Sie fürchtete, dass, wenn David von zu Hause weggeholt würde, er sich umbringen würde. Katharina nickte zustimmend, sah aber nicht so hoffnungslos wie ihre Schwester aus. Die kleine Schwester, Judith, kam während des Besuchs nicht ins Zimmer. Sarah und Katharina fassten während des Treffens Vertrauen zu der Therapeutin und interessierten sich für die Idee des gewaltfreien Widerstands. Anfangs sagten sie, dass sie nicht um Hilfe rufen oder an einen sicheren Ort entkommen könnten, da David das verhindern würde oder sie im Nachhinein dafür schwer bestrafen würde. Die Möglichkeit, dass die Schwester, die gerade nicht von David angegriffen würde, einen Helfer anrufen könnte und dass einer der Helfer im Hause verbleiben würde, bis sich die Lage beruhigt hätte, entfachte jedoch den ersten Hoffnungsfunken in ihren Augen. Die Vorstellung, eine gemeinsame Front zu bilden, rückte in den Bereich des Möglichen. Innerhalb kurzer Zeit fingen sie an, eigene Lösungswege zu erörtern, wie sie den Nachbarn einbinden, wie sie sich verstecken und wen sie anrufen könnten. Der Vorschlag, ein Tagebuch zu führen, um die schweren Vorkommnisse zu dokumentieren, überzeugte sie vollends. Dass die Helfer ihr Tagebuch lesen würden, wirkte wie ein Hoffnungsschimmer in ihrer verschlossenen und grauen Welt. Die Therapeutin rief einige Helfer an, während sie mit den Mädchen beisammen saß. Drei von ihnen versprachen, noch am gleichen Abend vorbeizukommen, um mit ihnen die Details der Pläne zu ihrem Schutz zu besprechen. Die Mädchen versteckten die Liste mit den Namen und Telefonnummern der Helfer an zwei verschiedenen Orten. Die Helfer erklärten außerdem, dass der Plan nicht nur dazu bestimmt sei, sie zu schützen, sondern auch verhindern sollte, dass David woanders untergebracht werden müsste. Dadurch fühlten sich Sarah und Katharina nicht mehr als die passiven Opfer der Gewalt ihres Bruders, sondern arbeiteten aktiv an ihrem Schutzplan mit, der ihnen zum ersten Mal das Gefühl von Selbstwert und Handlungsvermögen gab.
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Die Eltern bereiteten eine Ankündigung vor, in der sie ihre Absicht darlegten, sich Davids Gewalt zu widersetzen und Hilfe bei Freunden und Familienmitgliedern zu holen. Sie luden zwei Helfer ein, bei der Verlesung der Ankündigung anwesend zu sein, um ihnen bei einem möglichen Wutanfall Davids zu helfen. David war erstaunt über die Ankündigung und schaute voller Angst in die Richtung der Helfer. Er fragte, ob sie gekommen seien, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Die Eltern beschwichtigten ihn, die Helfer seien nicht da, um ihn ins Gefängnis zu bringen, sondern um der Familie zu helfen, die Gewalt zu überwinden. Zu ihrer Überraschung bekam David keinen Wutanfall. Am nächsten Tag überraschte er sie abermals, als er seinen Schwestern eine Tüte Süßigkeiten mitbrachte! Die zwei Helfer, die bei der Erklärung anwesend gewesen waren und von den Eltern über diese Tat unterrichtet wurden, riefen David an und beglückwünschten ihn dazu. Nach einigen Tagen ungewohnter Ruhe, fing David wieder an, seine Schwestern und seine Mutter anzuschreien. Er zerbrach eine Malstiftschachtel von Sarah und bewarf sie mit den Bruchstücken. Brigitte nahm Sarah in ihr Zimmer, schloss die Tür ab und rief Jonas, den Nachbarn, und einen weiteren Helfer an. Der Nachbar kam binnen weniger Minuten. David sperrte sich in sein Zimmer ein und weigerte sich zu antworten. Der Vater und der zweite Helfer riefen an und wollten mit David sprechen, aber der weigerte sich, ans Telefon zu gehen. Brigitte schrieb ihm eine Notiz und schob sie unter seiner Zimmertür durch. David zog das Blatt zu sich, aber gab keinen Ton von sich. Als David zu einem späteren Zeitpunkt sein Zimmer verließ, sah er, dass nicht nur seine Eltern, sondern zwei weitere Helfer im Haus waren. Er ging in die Küche und aß schweigend. Als er sich wieder in sein Zimmer begeben wollte, sagten die Eltern ihm, dass sie mit ihm in Ruhe ein Gespräch zu führen wünschten. David versuchte nicht, sie daran zu hindern, sein Zimmer zu betreten. Sie setzten sich und erklärten ihm, dass sie mit ihm sitzen würden und darauf warten, dass er einen Vorschlag macht, wie er die Gewalt beenden und den Schaden, den er angerichtet habe, wiedergutmachen wolle. Als seine Eltern den Vorfall beschrieben, schrie David: »Das wird euch nichts helfen! Ihr könnt mich nicht besiegen!« Jonas wartete, bis David sich beruhigt hatte, und sagte dann leise: »Wir wissen, dass wir dich nicht besiegen
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Gewalt von Kindern zu Hause
können. Aber wir müssen uns der Gewalt widersetzen und werden das auch tun, ohne zu siegen!« Nach einer halben Stunde Sit-in erklärte David zur Überraschung der Eltern, dass er daran interessiert sei, Medikamente zu nehmen. Die Eltern beendeten das Sit-in und teilten David mit, dass sie seinen Vorschlag annähmen. Sie sagten ihm, dass sie dieses Mal seine Schwester für die zerbrochenen Malstifte entschädigen würden, da er seinen guten Willen gezeigt habe. David traf den Psychiater und nahm von da an regelmäßig seine Medikamente. Nach zwei weiteren Sit-ins hörte die Gewalt zu Hause beinahe ganz auf, auch wenn David weiterhin nachts zu verschwinden pflegte und die Schule nur sporadisch besuchte. David willigte ein, drei Mal die Woche bei seinem Onkel zu übernachten, der ihn morgens zur Schule fahren würde. Diese Regelung klappte gut, aber an den Tagen, an denen David zu Hause schlief, war es schwer, ihn morgens zu wecken. Der Nachbar willigte ein, ein Mal die Woche morgens vorbeizukommen, um David zu wecken. Zusätzlich schaffte es die Therapeutin, den Schuldirektor mit einzubinden, der drei ältere Schüler bat, auf ihrem Schulweg bei David vorbeizugehen. Auch ein Fachlehrer kam an einem der Morgen vorbei. David war überrascht, reagierte aber auf die Besuche positiv, und sein Schulbesuch stabilisierte sich. Die Eltern begannen, nachts die Nachbarschaft zu durchkämmen, um David zu suchen, wenn er von zu Hause verschwand. Beim ersten Mal, als David seinen Vater kommen sah, rannte er weg und verschwand. Am nächsten Tag führten die Eltern ein weiteres Sit-in durch mit Hilfe des im Ausland lebenden Großvaters, der über das Telefon anwesend war. Jonas musste David noch ein Mal nachts suchen. Diesmal rannte David nicht davon und war bereit, mit ihm nach Hause zu kommen. Nach einigen Wochen intensiver Anstrengungen ging David regelmäßig in die Schule, und sein nächtliches Verschwinden hörte auf. Brigitte wirkte nicht mehr depressiv. Die Therapeutin sah in ihr eine warmherzige und energische Frau. Ein Nachuntersuchungsgespräch mit den Schwestern zeigte, dass sie sich sicherer denn je fühlten. Katharina meinte, dass ein Wunder geschehen sei, dass sie einen Bruder gewonnen habe, nachdem sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Die Familie wurde angeregt, die Helfer weiter-
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Emotionale Gewalt
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hin über die Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Die Therapeutin vereinbarte zwei weitere Nachuntersuchungen während der kommenden Monate. Während dieser Treffen berichteten die Eltern über den fortwährenden Kontakt mit den Helfern. Die physische Gewalt kehrte nicht wieder. David konnte immer noch in Beschimpfungen oder Lärmen ausbrechen, aber die Familie fühlte sich nicht mehr unterdrückt.
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Kapitel IV Rekrutierung von Helfern in der Schule1
Folgende Merkmale kennzeichnen eine sichere Schule: – Sie bietet den Schülern Schutz und Unterstützung. – Sie kämpft mit Nachdruck gegen Gewalt und Mobbing. – Die Lehrkräfte vermeiden ihrerseits jede Anwendung von Gewalt oder Erniedrigung und bemühen sich um eine Atmosphäre der Ordnung und des Rechts. – Sie vermittelt ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Engagements und nicht der Entfremdung und der Feindseligkeit. – Sie erhält die Unterstützung der Elternschaft, der relevanten Gemeindefunktionsträger und der ausschlaggebenden Mehrheit der Schüler. Eine der Grundvoraussetzungen für eine sichere Schule ist zuallererst das Vermögen der Lehrer, im Klassenzimmer, in den Gängen, im Schulhof und den Verstecken der Schule die Verhaltensregeln zu bestimmen. Diese Prämisse entspringt einer einfachen Tatsache: Wenn die Lehrer nicht fähig sind, die Verhaltensregeln zu bestimmen, so tun es die Mobber2 der Schule. Die Grobiane werden dann entscheiden, wer geschlagen, wer boykottiert, wer gedemütigt und wer ausgenutzt wird. Die Mobber werden darüber bestimmen, ob im Schulhof und in den Verstecken der Schule eine gewalttätige Atmosphäre vorherrscht. In diesem Fall wird das Klima durch Faustkämpfe, Auseinandersetzungen zwischen Banden und Aktivitäten wie Rauchen, Drogen- und Alkoholkonsum und die emotionale oder sexuelle Belästigung anderer Schüler bestimmt. 1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Keren Fatal-Asher, Rita Irbauch und Idan Amiel geschrieben. 2 Für das englische »Bully« gibt es im Deutschen keine angemessene Übersetzung. Wir haben uns für »Mobber« entschieden.
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
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Wenn Lehrer ihre Autorität verlieren, stellen sich viele Schüler auf die Seite der Mobber oder entscheiden sich, zu schweigen und sich mit der Situation zu arrangieren. Dies gilt auch für Schüler, die unter anderen Umständen nicht so handeln würden. Die Schwächung der Autorität der Lehrer verursacht somit das Abgleiten weiterer Schüler und steigert die Verletzlichkeit der gesamten Schülerschaft. Folgende Frage wird uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen: Wie kann die Autorität der Lehrer wiederhergestellt werden, so dass sie diesen negativen Phänomenen auf effektive Weise Einhalt gebieten und gleichzeitig auf eine akzeptable, anteilnehmende und moralisch vertretbare Weise handeln können? Mit anderen Worten: Wie kann eine neue Autorität erzeugt werden, deren respekteinflößende Kraft nicht auf Drohungen, heftiger Bestrafung, blindem Gehorsam, Distanz und Furcht beruht, sondern auf Präsenz, Selbstkontrolle und entschiedener Anteilnahme? Eine sichere Schule ist nicht mit einer Festung zu vergleichen. Eine konservative Bewegung im amerikanischen Erziehungssystem verficht Sicherheitsmaßnahmen an Schulen: Zäune werden aufgestellt, Metalldetektoren werden eingeführt, die Schulranzen werden tagtäglich durchsucht, Videokameras werden zur Überwachung installiert und bewaffnete Polizisten werden am Schuleingang positioniert. »Null-Toleranz« lautet der dahinterstehende Grundsatz. Dieses Konzept verwandelt die Schule in eine entfremdete, feindselige und misstrauische Bildungsstätte. Die physische Sicherheit wird von Schülern (und Lehrern) mit einem hohen Preis bezahlt, nämlich mit der Aufhebung des Gefühls, dass die Schule ein sicherer Ort ist, zu dem man sich zugehörig fühlen möchte. Diese Maßnahmen signalisieren, dass die Schule ein sehr unsicherer Ort ist und dass nur durch hartes und unnachgiebiges Durchgreifen die in jeder Ecke lauernden Gefahren gebannt werden können. Die Sicherheit, die wir anstreben, ist ganz anderer Art: Wir wollen das Gefühl vermitteln, dass die Lehrerschaft um die Schüler besorgt ist, dass sie den Gefahren und Befürchtungen Aufmerksamkeit schenkt und durch ihre Präsenz und wachsame Sorge den Schülern Sicherheit bietet. Dieser Schutz wird nicht durch anonyme Handlungen und Maßnahmen erreicht, sondern durch das Engagement und die Anteilnahme des Lehrkörpers und
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
seiner Helfer. Die Lehrer stehen im Zentrum unserer Bemühungen, die Schule in einen sicheren Ort zu verwandeln, so wie die Eltern im Zentrum unserer Arbeit stehen, ein sicheres Zuhause zu schaffen. Bei unserer Arbeit mit Familien haben wir die Eltern in einem hohen Maße zur Kooperation bewegen können3, unter anderem, weil wir ihnen ausdrücklich gesagt haben, dass ihr Leid nicht weniger bedeutsam ist als das Leid ihres Kindes. Auch an den Schulen haben wir ein hohes Maß an Kooperation erzielen können, weil wir offen aussprechen, dass das Wohlbefinden der Lehrer und das der Schüler nur gemeinsam, oder aber gar nicht, verbessert werden kann. Lehrer können den Schülern nur dann Schutz bieten, wenn sie selbst ein Gefühl der Sicherheit haben und Unterstützung erhalten. Die Auseinandersetzung mit Gewalt erfordert einen offenen Kampf gegenüber allen Phänomenen, die dem friedlichen Zusammenleben widersprechen. Dieser Kampf muss ein konstruktiver Kampf sein, d. h. gewaltfrei und deeskalierend. Trotzdem ist es ein Kampf im wahrsten Sinne des Wortes. Der Wunsch, einen Kampf zu vermeiden und sich der Gewalt nur mittels Dialog, gewaltfreier Kommunikation, emotionalem Austausch, Empathie, Erläuterungen und durch die Erzeugung einer positiven Atmosphäre entgegenzustellen, liefert die Schule hilflos denen aus, die sich weigern, überzeugt zu werden. Die Schule muss auch Schutz gewährleisten vor mutwilligen und verletzenden Handlungen der Lehrer. Die aktuelle Forschung zu Gewalt an Schulen offenbart, dass die Gewaltanwendung von Lehrern keine Randerscheinung ist (Benbenishty und Astor, 2005). Bei unserer Arbeit mit Eltern von Kindern mit schwerwiegenden Verhaltensproblemen haben wir gezeigt, dass eine Beratung, die nach dem Konzept des gewaltfreien Widerstands arbeitet, nicht nur die Gewalt des Kindes erheblich verringert, sondern auch die Wutausbrüche der Eltern (Weinblatt und Omer, 2008; Ollefs et al., 2009). Ein ähnliches Phänomen haben wir während unserer Ar3 Eine Forschungsarbeit zur Effektivität unserer Intervention weist eine so niedrige Rate an Therapieabbrüchen unter Eltern auf, wie sie in der Fachliteratur zu diesem Thema kaum zu finden ist (Weinblatt und Omer, 2008; vgl. Ollefs et al., 2009).
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
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beit an Schulen beobachtet. Wenn Lehrer angehalten wurden, sich entsprechend der neuen Autorität zu verhalten, so verringerte dies nicht nur die Gewalt unter Kindern, sondern auch gewalttätiges und verletzendes Betragen der Lehrer (Omer et al., 2006; 2007b; s. a. Lemme et al., 2009). Eine sichere Schule zeichnet sich nicht nur durch den gezielten Kampf gegen Gewalt aus, sie befasst sich auch damit, die Rahmenbedingungen für das Lernen und für einen geregelten Schulalltag zu schaffen. Ein Gefühl der Sicherheit kann sich nicht einstellen, wenn Chaos vorherrscht. Lehrer können keine effektive Front gegen Gewalt aufbauen, wenn sie nicht in der Lage sind, geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen und für die Freizeitgestaltung zu schaffen. Fehlende Ordnung untergräbt die Autorität und deswegen auch das Vermögen der Schule, der Gewalt entgegenzuwirken. Die Wiederherstellung der Autorität an der Schule hat zwei Ziele: die Rahmenbedingungen für ein geregeltes Lernen und Zusammensein zu schaffen und kompromisslos gegen Gewalt vorzugehen. Diese Definition ermöglicht die Auflösung eines der schwierigsten Dilemmata des Schulsystems: die scheinbare Notwendigkeit zu entscheiden, ob in eine Verbesserung des Schulklimas oder in pädagogische Lernziele investiert werden soll. Die Wiederherstellung der Lehrerautorität im Sinne der neuen Autorität ermöglicht der Schule, beide Ziele gleichzeitig anzustreben (Lemme et al., 2009). Lehrer müssen sich sicher fühlen, damit sie für die Schüler präsent sein und ihnen nahestehen können. Lehrer, die sich bedroht fühlen, werden ihre Autorität bevorzugt auf Distanz und Bestrafungen aufbauen. Jeder Angriff auf das Sicherheitsgefühl des Lehrers hat eine zweifache Wirkung: Er bedroht nicht nur den Lehrer, sondern auch dessen Vermögen, den Schülern Sicherheit zu bieten. Nur ein Lehrer, der seinerseits Unterstützung und Schutz erfährt, kann die Schüler beaufsichtigen und sich ihnen nähern und auf diese Weise eine wirksame und Halt gebende Autorität darbieten.
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen Der Aufbau eines breit angelegten Unterstützernetzes für die Maßnahmen, die die Lehrer ergreifen müssen, ist aus verschiedenen Gründen unumgänglich: – Unterstützung ist unentbehrlich, um Autorität aufzubauen und ihr die notwendige Legitimation zu geben. – Unterstützung ermöglicht den Lehrern, Machtkämpfe zu vermeiden und eskalationsvorbeugend zu handeln. – Unterstützung verstärkt das Vermögen, die Aufsicht zu führen. – Unterstützung erhöht die Verpflichtung der Lehrer zur Selbstkontrolle. Isolation ist wohl einer der Hauptgründe für die Schwächung sowohl von Eltern als auch von Lehrern. Viele Faktoren haben zur Isolation der Eltern in der modernen Gesellschaft beigetragen: eine hohe Scheidungsrate, die nachlassende Bedeutung der Gemeinschaft, die Anonymität der Metropolen, anspruchsvolle Karrieren, das Gefühl, schnell öffentlicher Kritik ausgesetzt zu sein und Wertvorstellungen, die die Privatsphäre des Einzelnen heilig sprechen. Diese und andere Faktoren verursachen auch die Isolation der Lehrer. Anders als Berufe, die durch Teamarbeit gekennzeichnet sind, steht der Lehrer der Klasse allein gegenüber. Die Tatsache, dass Lehrer nebeneinanderher arbeiten und nicht miteinander, fördert die Konkurrenz untereinander, anstatt zur gegenseitigen Solidarität zu ermutigen. Auf diese Weise leidet der Lehrerberuf unter einer »inhärenten Isolation«. Diese Isolation wird durch die kritische Atmosphäre in der Öffentlichkeit den Lehrern gegenüber noch verschärft. Die Denunziation der Lehrer ist ein allgemeiner Trend in den westlichen Kulturen. In Deutschland wurde ein Buch mit dem Titel »Das Lehrerhasser-Buch: Eine Mutter rechnet ab« (Kühn, 2005) zum Bestseller. Dieses Buch verleiht stereotypen Vorurteilen und einer extrem negativen Haltung Lehrern gegenüber Ausdruck. Diese Anti-Lehrer-Stimmung schürt die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Lehrern. Dadurch wird der Lehrerberuf zu einem Beruf, der ständiger Kritik ausgesetzt ist.
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Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen
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In unserem Interventionsprogramm für Schulen streben wir an, sich ausdehnende Unterstützerkreise aufzubauen, so dass ein Schneeballsystem von einem Kreis zum nächsten entsteht: – Im innersten Kreis erhalten die Lehrer Unterstützung durch die Schulleitung. Ohne die Unterstützung des Direktorats ist die Chance auf einen Erfolg dieses Programms gering. Deswegen ist die Rekrutierung des Direktorats ein zentrales Ziel unseres Programms. Zu diesem Zweck wird ein »Leitgremium« eingerichtet, das die Umsetzung des Programms zum erklärten Ziel erhebt, weil es im Interesse der Schule liegt. – Im zweiten Kreis unterstützen sich die Lehrer gegenseitig. Das Vorgehen gegen Gewalt und schwerwiegende Disziplinprobleme liegt nicht in der Verantwortung eines einzelnen Lehrers, sondern ist Aufgabe des ganzen Lehrkörpers. Besondere Bedeutung kommt der Teamarbeit in kleinen Gruppen zu, in denen Lehrer, die mit negativen Verhaltensweisen eines Schülers konfrontiert werden, sich mindestens durch einen weiteren Lehrer helfen lassen können. Auf diese Weise bilden sich »Kerngruppen« der neuen Autorität. In besonders schweren Fällen kann eine größere Gruppe von Helfern zusammengestellt werden, die beauftragt wird, im Namen des ganzen Lehrkollegiums zu agieren. – Der dritte Kreis bezieht sich auf die Beziehung zwischen Lehrern und Eltern. Wir haben verschiedene Möglichkeiten, um die Unterstützung der Eltern einzuholen: Den Eltern werden die schädlichen Auswirkungen vor Augen geführt, die durch die Konfrontationen zwischen Lehrern und Eltern entstehen. Eine Arbeitsgemeinschaft von Lehrern und Eltern wird eingerichtet, um die Probleme bestimmter Kinder gemeinsam zu bewältigen. Um Auseinandersetzungen zwischen Lehrern und Eltern zu mildern oder abzufangen, werden Vermittlungsausschüsse gebildet. Des Weiteren ist Transparenz zum Thema Gewalt und Disziplin an der Schule Pflicht, um das Vertrauen der Eltern in die Lehrerschaft zusätzlich zu fördern. – Der vierte Kreis entsteht, sobald die Schüler davon überzeugt werden, das Programm zu unterstützen. Diese Unterstützung erreicht man, wenn die Schüler erleben, dass die Lehrer tatsächlich entschlossen gegen Gewalt vorgehen. Diese Erfahrung be-
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
freit die meisten Schüler davon, unterwürfig oder stillschweigend die Herrschaft der Mobber hinnehmen zu müssen. – Der fünfte Kreis besteht aus einem Bündnis zwischen der Schule und Funktionsträgern aus dem gesellschaftlichen Umfeld, wie dem Sozialamt, Organisationen von Freiwilligenarbeit, Gemeindezentren, der Ortspolizei u. a. Eine Schule, die das Konzept der neuen Autorität als Handlungsprinzip übernimmt, schottet sich nicht nach außen ab. Stattdessen öffnet sie ihre Tore und versucht, das gesellschaftliche Umfeld in ihre Bemühungen mit einzubeziehen. Fallbeispiel: »Finsternis« Durch Arbeiten an der Stromversorgung gab es an einer Schule einen Stromausfall während der zweiten Unterrichtsstunde. Einige Schüler der 12. Klasse wollten sich einen Spaß machen und schlossen alle Fensterläden und die Klassentür. Als die Geschichtslehrerin das Klassenzimmer betrat, war sie erstaunt, das Zimmer verdunkelt und alle Schüler in Schweigen gehüllt vorzufinden. Als sie darum bat, die Fensterläden zu öffnen, stand keiner der Schüler auf, stattdessen fingen die Schüler an zu kichern. Die Lehrerin war unschlüssig, ob sie selbst die Fensterläden öffnen und die Unterrichtsstunde beginnen sollte. Sie erzählte im Nachhinein, dass sie früher sicherlich so gehandelt hätte. Infolge der positiven Erfahrungen, die sie mit dem gemeinschaftlichen Handeln des Lehrkollegiums gesammelt hatte, beschloss sie jedoch, das Problem nicht nur als ihr eigenes zu betrachten. Sie teilte den Schülern mit, dass in dieser Schule kein Platz für solche Verhaltensweisen sei, dass sie sich Konsequenzen überlegen würde, und verließ die Klasse. Die Lehrerin erzählte der Klassenlehrerin von dem Vorfall, und sie beschlossen gemeinsam, sich an den Schulleiter zu wenden. Noch während dieser der Berichterstattung der Lehrerinnen zuhörte, sah er durch das Fenster einige der Schüler aus besagter Klasse in der Sonne sitzen, essen und sich vergnügen. Er schaute auf den Stundenplan und sah, dass die kommende Unterrichtsstunde eine Vorbereitungsstunde zur Abitursprüfung in Physik war, eine Stunde, die die meisten Schüler bitter nötig hatten und auf die sie deshalb warteten. Zudem stand der Jahrgangsstufe am nächsten Tag eine zweitägige Kursfahrt bevor.
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Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen
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Der Schulleiter nutzte die kommende Pause, um alle Lehrer der Klasse zu versammeln und ihnen von dem Vorfall zu berichten. Er bat sie, den Schülern die Teilnahme an weiteren Unterrichtsstunden desselbigen Tages zu untersagen. Während der nächsten Unterrichtsstunde kamen einige Schüler in sein Zimmer mit dem Vorwurf, dass man sie nicht am Unterricht teilnehmen lasse. Der Schulleiter sagte ihnen: »Natürlich könnt ihr nicht am Unterricht teilnehmen. Ihr habt während der Geschichtsstunde entschieden, dass ihr heute nicht lernt, deswegen nehmt ihr nicht am Unterricht teil.« Einer der Schüler sagte, er sei völlig unbeteiligt gewesen. Darauf antwortete der Schulleiter: »Was bedeutet das ›unbeteiligt‹? Die Lehrerin hat die ganze Klasse aufgefordert, die Fensterläden zu öffnen, und niemand ist aufgestanden. Hat dich jemand an den Stuhl gefesselt, dass du nicht aufstehen konntest, um die Fensterläden zu öffnen? Die ganze Klasse war daran beteiligt!« »Und was können wir jetzt tun?«, fragten die Schüler. Der Schulleiter antwortete: »Das weiß ich nicht, ihr müsst euch eine Lösung überlegen. Wir werden den Vorfall sowohl den Eltern als auch der Schülervertretung mitteilen. Vielleicht werden die einen Ratschlag finden.« Am gleichen Abend versammelte sich die Schülervertretung. Der Vertrauenslehrer der Oberstufe bat den Vorsitzenden der Schülervertretung, das Thema während der Versammlung anzusprechen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Einer der Vorschläge lautete, dass die ganze Klasse einen Entschuldigungsbrief an die Lehrerin schreiben sollte. Gleichzeitig wandten sich der Schulleiter und die Schulpsychologin4 an den Vorsitzenden der Elternvertretung. Sie berichteten über den Vorfall und baten, den Eltern der Schüler mitzuteilen, dass die Klasse nicht an der Kursfahrt teilnehmen würde, es sei denn, sie würden sich auf überzeugende Weise entschuldigen und eine ernsthafte Diskussion zum Thema in der Klasse führen. Am nächsten Tag fuhren die restlichen Schüler des Jahrgangs auf Fahrt, während die besagte Klasse sich zu einer Dis-
4 Das israelische Schulsystem sieht die Dienste eines Schulpsychologen an allen Schulen vor. Bei einer Umsetzung des Interventionsprogramms im deutschsprachigen Raum muss entsprechend überlegt werden, welche schulischen Repräsentanten die unterschiedlichen Funktionen der Intervention übernehmen können.
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
kussion über den Vorfall versammelte. Es wartete kein Bus auf dem Parkplatz auf die Schüler. Erst nachdem sie eine gemeinsame Entschuldigung geliefert hatten und nach einem anderthalbstündigen Gespräch über die Verantwortung jedes einzelnen Schülers, auch derer, die sich passiv an der Aktion beteiligt hatten, wurde ein Bus für die Zurückgebliebenen bestellt.
Die erfolgreiche Auseinandersetzung mit diesem Vorfall ist auf die Zusammenarbeit der Schulleitung, der Lehrer, der Elternvertretung, der Schülervertretung und der Busgesellschaft zurückzuführen. Diese Zusammenarbeit ist ein Ergebnis der vorangegangenen Rekrutierung von Helfern. Nicht jede Auseinandersetzung fordert eine solch komplexe Abstimmung. In den meisten Fällen sind weniger aufwändige Bündnisse ausreichend. Eine systematische Unterstützung von Seiten der Schulleitung ist jedoch grundsätzlich notwendig, um kleinere Bündnisse aktivieren zu können. Hierfür lohnt es sich, ein Leitgremium einzurichten, das für die Umsetzung des Interventionsprogramms im Detail verantwortlich ist. Es folgt die Beschreibung des Aufbaus und der Funktion eines solchen Arbeitsgremiums. Das Leitgremium Das Leitgremium setzt sich aus vier bis fünf Repräsentanten zusammen. Für dieses Gremium bieten sich folgende Kandidaten an: der Schulleiter, der Schulleitungsvertreter, der Präsenzmentor* an der Schule, der Vertrauenslehrer, ein einflussreicher Repräsentant der Lehrer, der Schulpsychologe u. a. Diesem Gremium sollte eine Person vorstehen, die hohes Ansehen an der Schule genießt. Sie sollte die Umsetzung des Interventionsprogramms als ihre wesentliche Aufgabe betrachten. Es ist empfehlenswert, dass dieses Gremium sich im Laufe einer Fortbildung zusammenschließt, bei der die Prinzipien des Konzepts vorgestellt werden.
* Eine Beschreibung der Funktionen des Präsenzmentors folgt im nächsten Kapitel, Seite 237 ff.
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Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen
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Die Aufgabenbereiche des Leitgremiums 1. Den Veränderungsprozess an der Schule planen und anleiten. 2. Die wesentlichen Grenzen festlegen, auf die sich die Schule konzentrieren möchte. 3. Wege beschreiben, wie die Aufsicht und der aktive Kampf zu führen sind und wie negative Vorfälle weiterverfolgt werden sollen. 4. Verschiedene Arbeitsgruppen der Lehrer einrichten und deren Arbeit unterstützen. 5. Bündnisse zwischen den Lehrern, den Eltern, der Elternvertretung und verschiedenen Funktionsträgern des gesellschaftlichen Umfelds fördern. Es folgen Beispiele zu Entscheidungen und Maßnahmen, die von verschiedenen Leitgremien ergriffen wurden: – An einer Schule entschied das Leitgremium, dass die Arbeitsgruppen zur gegenseitigen Unterstützung der Lehrer gestärkt werden müssen, wenn es sich um die Auseinandersetzung mit einer besonders problematischen Gruppe von Schülern oder um Verhaltensprobleme auf Klassenebene handele. Das Leitgremium erstellte eine Kontaktliste mit den verschiedenen Funktionsträgern innerhalb der Schule und aus dem Gemeindeumfeld, die den Arbeitsgruppen in solchen Fällen beistehen sollten. – An einer Schule bedrohte eines Tages ein Schüler eine Lehrerin mit einem Messer. Als Reaktion auf diesen Vorfall legte das Leitgremium eine ausführliche Verfahrensweise fest für die Intervention in den Fällen, in denen Schüler eine Gefahr für sich selbst oder ihre Umgebung darstellten. Die Vorschriften umfassten detaillierte Anweisungen über die sofortige Reaktion des Lehrers und über den weiteren Ablauf, wie Hilfe und Unterstützung einzuholen seien. – In einer Schule lud das Leitgremium den Oberschulrat ein, um den Handlungsspielraum der neuen Autorität von der Schule auf weitere Bereiche innerhalb des städtischen Umfelds auszuweiten. Diese Initiative führte zur Organisation von Elternberatungsgruppen, zur Einrichtung von abendlichen elterlichen
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
Streifengängen durch die Gemeinde und zum Aufbau eines Gemeindeprogramms zur Verhinderung von Alkohol-Partys. – Nachdem es zu einigen gewalttätigen Vorfällen gekommen war, berief das Leitgremium eine außerordentliche Elternversammlung ein. Während der Versammlung wurde beschlossen, dass Eltern und Lehrer sich bei der Aufsicht im Eingangsbereich der Schule und auf dem Schulhof ablösen sollten, dass jede Klasse eine monatliche Elternversammlung einberufen sollte und dass ein geregelter Ablauf mit Hilfe der Eltern erstellt werden sollte, um die Wiedergutmachungstaten der gewalttätigen Kinder zu planen und auszuführen.
Das Bündnis unter Lehrern Die Isolation der Lehrer ist nicht einfach eine Tatsache, sie spiegelt vielmehr eine Stimmungslage wider. Aufgrund der langjährigen Isolation finden sich Lehrer ständigen Vergleichen ausgesetzt, was dazu führt, dass Schwierigkeiten meist verschwiegen werden. Verschlossenheit wird zu einer Überlebensstrategie: »Ich gehe in die Klasse und mache mein Ding! Dass sie mir nur nicht auf den Leib rücken oder mich in der Pause stören!« Diese Einstellung ist angesichts langjähriger Erfahrungen verständlich. Lehrer werden ununterbrochen kritisiert, und es werden Forderungen an sie gestellt, ohne dass sie entsprechend unterstützt werden. Dies ist der Grund für das Misstrauen, das Lehrer jedem Versuch entgegenbringen, sich in ihre Arbeit einzumischen, ihre Aufgaben neu zu definieren oder die wenigen ruhigen Momente während der Pause, die sie im Lehrerzimmer verbringen können, zu beanspruchen. Gleichzeitig ist diese Isolation für Lehrer erdrückend und verhindert jede Möglichkeit, ihre Stellung und ihre Funktion zu verbessern. Unserer Erfahrung nach heißen die meisten Lehrer Handlungsanweisungen willkommen, die darauf abzielen, ihre Isolation zu durchbrechen und ihre Autorität wiederherzustellen, und schließen sich diesen aktiv an. Die Rekrutierung der Lehrer ist maßgeblich für den Erfolg des vorliegenden Konzepts. In einer sorgfältigen Präsentation des Pro-
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Das Bündnis unter Lehrern
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gramms können die professionellen und persönlichen Interessen der Lehrer unverhohlen angesprochen werden, was unter den meisten Lehrern eine positive Reaktion hervorruft. Infolgedessen kann häufig eine aktive Kerngruppe organisiert werden, die für die Implementierung der neuen Autorität in den oben beschriebenen Kreisen der Schule verantwortlich ist. Die Unterstützung, die den Lehrern zuteil wird, ist eine Grundbedingung für die Sicherheit der Schüler. Diese Überzeugung hilft sehr bei der Rekrutierung der Lehrer. Anders als andere Konzepte, die den Lehrern weitere Pflichten aufbürden, ohne ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen, sehen wir die Lehrer als unsere Hauptverbündeten an. Unserer Ansicht nach verdienen Lehrer eine Antwort auf ihre Bedürfnisse, wenn von ihnen erwartet wird, sich für eine bedeutende Aufgabe zu engagieren. Wir machen ihnen den engen Zusammenhang deutlich zwischen ihrer Isolation, der an ihnen geübten Kritik, der fehlenden Unterstützung, der mangelnden Autorität, unter der Lehrer leiden, und der hohen Zahl an Lehrern mit Burn-out-Syndrom. Indem wir diese Schwierigkeiten anerkennen und bereit sind, uns für deren Lösung einzusetzen, zeigen wir den Lehrern, dass wir an ihrer Seite stehen. Dieser Prozess wird nachhaltig unterstützt, wenn die Lehrer bei der Präsentation unseres Interventionsprogramms vor den Eltern anwesend sind. Die Präsentation konzentriert sich auf die Notwendigkeit, dass Eltern und Lehrer ein Bündnis eingehen und Konfrontationen oder Kontaktabbrüche zwischen ihnen vermieden werden. Diese Aufforderung an die Eltern hat die Wirkung, als ob den Lehrern ein Sicherheitsnetz unterbreitet würde. Eines der Prinzipien zur Wiederherstellung der »neuen Lehrerautorität« ist eine vorgegebene Reihenfolge der Helferkreise. Wenn ein Lehrer auf Schwierigkeiten stößt, die nicht innerhalb der Klasse oder im Dialog mit dem entsprechenden Schüler geregelt werden können, holt er sich in dieser Reihenfolge Unterstützung: Zuerst wird eine kleine Arbeitsgruppe hinzugezogen, und je nach Bedarf wird der Kreis der Helfer nach außen immer mehr erweitert. Auf unterster Ebene bekommt der Lehrer die Unterstützung eines weiteren Helfers (eines anderen Lehrers oder eines Elternteils). Auf der nächsten Ebene geht die Behandlung des Vorfalls in die
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
Hände einer Dreiergruppe (Lehrer – Lehrer – Elternteil) über, dann schließen sich der Vertrauenslehrer, der Präsenzmentor oder ein anderer Funktionsträger der Schule an. Auf höchster Ebene wird der Schulleiter eingebunden. Im Notfall werden weitere Funktionsträger aus dem gesellschaftlichen Umfeld der Schule hinzugezogen. Diese vorgegebene Reihenfolge der zur Verfügung stehenden Helferkreise verändert die Sicht der Dinge sowohl für den Lehrer als auch für den betroffenen Schüler: Der Lehrer erfährt, dass das Problem nicht nur sein persönliches Problem ist, und der Schüler erfährt, dass der Lehrer sich ihm nicht in einem Zweikampf gegenüberstellt, sondern als Repräsentant der Schule handelt, die hinter dem Lehrer steht und ihn unterstützt. Selbst der widerspenstigste Schüler wird allmählich zu der Erkenntnis gelangen, dass das Netzwerk der wachsamen Sorge nicht aufgrund seiner Weigerung oder eines Wutausbruchs zusammenbrechen wird, sondern sich flexibel und ausharrend um ihn legt. Ein effektiver organisatorischer Weg, um den Lehrern ein Gefühl der Unterstützung zu geben und um die vorgegebene Reihenfolge der Helferkreise innerhalb der Schule zu implementieren, ist die Einrichtung von Unterstützungs-Arbeitsgruppen. Die Aufgabe und Zuständigkeit dieser Arbeitsgruppen ist, im Namen aller Lehrer auf problematische Vorfälle zu reagieren, z. B. auf einen Angriff auf einen Schüler oder einen Lehrer, auf Gruppen- oder Klassenausschreitungen, oder auf Probleme der Lehrer untereinander. Man kann solche Arbeitsgruppen für jeden Wochentag zusammenstellen, indem man jeweils drei Lehrer zusammenbringt, die eine gemeinsame Freistunde haben. Ein weitere Möglichkeit besteht in der Gruppierung der Lehrer, die das gleiche Fach unterrichten. In diesem Fall könnte der Fachleiter die Rolle des Vorsitzenden übernehmen. Die Lehrer einer Schule werden gebeten, jeden ernsthaften Vorfall oder ein sich wiederholendes Problem an die Arbeitsgruppe weiterzuleiten, die an dem entsprechenden Tag tätig ist. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sollten jede Kritik oder Überheblichkeit dem Lehrer gegenüber, der um Hilfe bittet, vermeiden, z. B. eine Aussage wie: »Bei mir könnte das aber nicht passieren!« Es folgen einige Beispiele für Maßnahmen von unterschiedlichen Arbeitsgruppen.
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Das Bündnis unter Lehrern
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Bekritzelte Tische Eine Klassenlehrerin sah jedes Mal, wenn sie in den Unterricht kam, dass einige Schüler in der vorangegangenen Unterrichtsstunde die Tische bekritzelt hatten. Sie wusste, dass die Geschichtslehrerin die Klasse in dieser Stunde unterrichtete, wollte dieser aber keinen Vorwurf machen. Stattdessen beschloss sie, sich an die UnterstützungsArbeitsgruppe zu wenden. Im Anschluss an ihre Berichterstattung schlug die Gruppe vor, sie solle ein Treffen für alle Lehrer der Klasse einberufen. Die schriftliche Einladung an die Lehrer war nicht nur von der Klassenlehrerin unterzeichnet, sondern auch von der Arbeitsgruppe. Das gab der Klassenlehrerin das Gefühl, dass die Einberufung des Treffens im Namen der ganzen Lehrerschaft erfolgte. Im Laufe des Treffens einigten sich die Lehrer auf eine gemeinsame Haltung den Kindern gegenüber, die auf Tische kritzelten oder auf andere Weise die Schuleinrichtung beschädigten. Dadurch erhielt nicht nur die Klassenlehrerin, sondern auch die Geschichtslehrerin Unterstützung durch ihre Kollegen, auch wenn sie gar nicht um Hilfe gebeten hatte. Die Behandlung des Problems war so erfolgreich, dass sich die Lehrer entschieden, ein ähnliches Treffen auf monatlicher Basis zur Besprechung der anfallenden Probleme einzuführen. Auf diese Weise wurde der Einzelfall zum Anlass, die gegenseitige Unterstützung unter den Lehrern zu stärken. Ignoranz Während einer Unterrichtsstunde in der Oberstufe kam eine Jugendliche in die Klasse, nahm die Lehrerin überhaupt nicht zur Kenntnis, ergriff ihren Rucksack und wollte das Klassenzimmer wieder verlassen. Die Lehrerin rief sie zu sich und forderte sie auf, in der Klasse zu bleiben, woraufhin die Schülerin nur eine geringschätzige Handbewegung machte und ging. Die Lehrerin wandte sich an die Arbeitsgruppe. Diese schlug vor, dass eines der Gruppenmitglieder neben der Lehrerin sitzen sollte, während diese die Eltern anrief, um ihnen von dem Vorfall zu berichten und eine gemeinsame Lösung zu erbitten. Die Eltern wurden zu einem Treffen eingeladen. Während des Treffens wurde eine Wiedergutmachungstat mit Unterstützung der Eltern geplant. Diese äußerten jedoch ihre Sorge, dass die Tochter den Vorschlag ablehnen würde. Die Lehrerin aus der Arbeitsgruppe erklärte den Eltern, dass sie in diesem Fall der Schülerin mitteilen soll-
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
ten, dass ihnen nichts anderes übrig bleibe, als mit ihr in die Schule zu kommen und neben ihr in der Klasse zu sitzen. Andernfalls würde ihr das Betreten der Klasse nicht erlaubt werden. Das Gespräch der Eltern mit ihrer Tochter endete mit der erwarteten Weigerung, die Wiedergutmachungstat zu übernehmen. Zu Überraschung der Tochter nahm sich ihr Vater daraufhin frei und ging am nächsten Morgen mit ihr in die Schule, um mit ihr den Schultag zu verbringen. »Wir unterstützen dich!« Olaf war ein Schüler, der permanent seine Mitschüler während des Literaturunterrichts belästigt und störte. Die Literaturlehrerin hatte schon zwei Mal einen Zettel in das Fach der Klassenlehrerin gelegt mit der Bitte »Rede mit seinen Eltern!« Die Klassenlehrerin wandte sich daraufhin an die Arbeitsgruppe um Rat. Diese schlug vor, der Literaturlehrerin Folgendes zu sagen: »Wir werden gemeinsam die Eltern zu einem Gespräch einladen, sprich mit ihnen, und ich unterstütze dich!« Die Arbeitsgruppe betonte, dass sie sich direkt an die Lehrerin wenden und die Wichtigkeit einer gemeinsamen Lösung betonen würden, sollte diese die Zusammenarbeit verweigern. Wenn Disziplinprobleme und Gewalt als Themen betrachtet werden, die den gesamten Lehrkörper betreffen, ändert sich die herkömmliche Rollenverteilung zwischen Klassenlehrern und Fachlehrern. Klassenlehrer und Fachlehrer gelten nun als Team, das gemeinsam die Lösung von Problemen erarbeitet. Wenn Probleme bei der Zusammenarbeit von Lehrern auftauchen, kann das Problem an die Unterstützungs-Arbeitsgruppe weitergeleitet werden. Die Arbeitsgruppe wirkt als Mittler zwischen den Lehrern und kann, wenn nötig, einen weiteren Lehrer hinzuziehen, um eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Thema zu ermöglichen. Es sollten keine Beschuldigungen vorgebracht werden, auch nicht gegen einen Lehrer, dem die Zusammenarbeit schwer fällt. Die relevante Frage ist nicht »Wer ist schuld?« sondern »Welche Unterstützung benötigt der Lehrer, um mit dem Problem fertig zu werden?« Denkschemata dieser Art erhöhen die Bereitschaft der Lehrer, ihre Probleme preiszugeben und im Hinblick auf eine Lösung zusammenzuarbeiten.
Die Verstärkung der gemeinschaftlichen Präsenz entsteht nicht automatisch dadurch, dass Helferkreise oder Arbeitsgruppen ein-
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Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern
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gerichtet werden. Lehrer müssen persönliche Erfahrungen mit der gemeinschaftlichen Lösungsfindung sammeln, um diese neue Einstellung zu verinnerlichen. Zu diesem Zweck können abwechslungsreiche Seminare veranstaltet werden, in denen sich die Lehrer im gemeinsamen Lösungsfinden üben. Lehrer, die bereits Erfahrungen gesammelt haben, wie man die Unterstützungs-Arbeitsgruppe nutzt, können ihre Erfahrungen in diesen Seminaren einbringen und so für einen Schneeballeffekt sorgen. Die Themen der Seminare können von Jahr zu Jahr wechseln. Das Vertrauen der Lehrer, dass sie von den Eltern anstelle von Kritik Hilfe und Unterstützung erwarten können, wächst allmählich. Die Lehrer entwickeln also eine zunehmende Bereitschaft, nicht nur andere Lehrer in ihre Probleme mit einzubeziehen, sondern auch die Eltern und andere Funktionsträger aus dem gesellschaftlichen Umfeld. Zu diesem Zeitpunkt anerkennen die meisten Lehrer die Gültigkeit des Konzepts der neuen Autorität nicht nur für die Lösung von Schwierigkeiten in der Schule, sondern auch für die allgemeine führende Rolle der Erwachsenen im Leben der Kinder zu Hause, in der Schule und in der Gesellschaft.
Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern Die Isolation der Lehrer drückt sich auch in deren Verhältnis zu den Eltern aus. Lehrer neigen dazu, Eltern nicht als Partner in der Auseinandersetzung mit Gewalt und Disziplinproblemen in der Schule zu sehen. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens halten viele Lehrer die Eltern nicht für kompetent im Umgang mit ihrem problematischen Kind (»Was soll man schon erwarten? Das Kind verhält sich so, weil es solche Eltern hat!«). Zweitens befürchten Lehrer, dass das Aufdecken der Schwierigkeiten, die sie in der Schule haben, die Kritik gegen sie verstärken wird. Diese Befürchtungen führen dazu, dass Lehrer sich voller Misstrauen anderen gegenüber verschließen. Ironischerweise verstärkt jedoch diese Haltung die negativen Reaktionen, die die Lehrer zu meiden suchen. Eltern reagieren darauf mit Misstrauen ihrerseits (»Sicherlich haben sie etwas zu verbergen!«), mit Abwertung (»Was kann man schon erwarten?«) und mit einer feindseligen Einstel-
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
lung (»Man sollte diese Schulleiterin feuern!«). Wie kann dieser destruktive Teufelskreis durchbrochen werden? Das gegenseitige Misstrauen kann entschärft werden, wenn eine Seite – oder im Idealfall beide – versteht, dass es sich um ein gemeinsames Problem handelt. Eltern und Lehrer werden aufgrund ähnlicher Umstände in ihrer Position geschwächt, ihre Erfahrungen dem sich widerstrebenden und gewalttätigen Kind gegenüber sind ähnlich und so sind sie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem voneinander abhängig. Eine solche Einsicht ebnet den Weg für den Abbau der Feindseligkeit. Man kann sich die Dreierbeziehung Eltern – Lehrer – Kind als drei Personen in einem Boot vorstellen: Die beiden Ruderer sehen sich Schwierigkeiten mit der dritten Person gegenüber. Für deren Bewältigung stehen ihnen ähnliche Mittel zur Verfügung. Das Vorwärtskommen des Bootes hängt aber davon ab, ob die gemeinsamen Anstrengungen abgestimmt werden, während Spannungen in der Beziehung das Boot zum Kippen bringen können. Eine abstrakte Einsicht genügt natürlich nicht. Man sollte die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern nicht dem Zufall überlassen. Das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern sollten aktiv gefördert, ein Rahmen für die gemeinsame Arbeit geschaffen und gemeinsame Initiativen zur Lösung der Schwierigkeiten ergriffen werden. Die Präsentation des Konzepts der neuen Autorität vor Eltern und Lehrern kann diese Zielsetzung wesentlich fördern. Die Präsentation betont dabei die Ähnlichkeit der Schwierigkeiten, die notwendige Zusammenarbeit bei dem Aufbau der neuen Autorität und die verheerenden Folgen von direkten Konfrontationen oder gegenseitiger Sabotage. Die Beschreibung der Schwierigkeiten als gemeinsame Herausforderung ermöglicht den Eltern und Lehrern, einander mit größerer Empathie zu begegnen. Jede Seite kann so verstehen, wie die Isolation und die Kritik am anderen ihre eigene Autorität untergräbt. Der Begriff der neuen Autorität bietet Eltern und Lehrern die Grundlage zu einer gemeinsamen Sprache, in der klargestellt wird, wie sie die Unterstützung der anderen Seite gewinnen können. Dieses Bündnis dient gleichzeitig dazu, dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit zu vermitteln. Der wesentliche Schwerpunkt der Präsentation besteht in der Beschreibung der negativen Folgen von
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Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern
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Konfrontationen zwischen Eltern und Lehrern: a) die Schwächung der Lehrerautorität, b) die Schwächung der elterlichen Autorität, c) die Stärkung der negativen Neigungen des Kindes und d) die Erschütterung der Sicherheit der ganzen Klasse. Verschiedene Umstände führen zu diesen negativen Folgen. Das Kind weiß um die Auseinandersetzung, sei es, weil es anwesend war, weil die Eltern ihm davon erzählt haben oder weil es aus dem Kontaktabbruch und der Spannung in der Eltern-Lehrer-Beziehung seine Schlüsse gezogen hat. Das Kind weiß, dass seine Eltern aufgrund des gespaltenen Verhältnisses zum Lehrer nicht über seine problematischen Verhaltensweisen in der Schule informiert werden. Selbst wenn sie davon erführen, würden sie in Anbetracht dieser Lage das Kind verteidigen und den Lehrer für alles verantwortlich machen. Hierdurch werden die negativen Neigungen des Kindes gestärkt und die Autorität des Lehrers geschwächt. Gleichzeitig wird jedoch auch die Autorität der Eltern geschwächt, da sie ihr Vermögen einbüßen, das Kind zu beaufsichtigen. Der Bruch zwischen Eltern und Lehrer drückt sich im Abbruch des Informationsflusses aus. Manchmal verbreitet der Lehrer auch unter seinen Kollegen das Gerücht, dass diese Eltern der Schule feindlich gegenüberstünden und dass man deswegen Abstand zu ihnen halten sollte. Unter solchen Umständen ist es keine Seltenheit, dass die Eltern von den Vorfällen an der Schule, die ihr Kind betreffen, nichts erfahren. Diese Unkenntnis schadet der Autorität der Eltern erheblich. Und das ist noch nicht das Ende der negativen Folgen dieser Auseinandersetzung: Ein Lehrer, der das Gefühl hat, die Eltern seien feindselig, fühlt sich bedroht und zieht es vor, gewalttätige Vorfälle in seiner Klasse nicht preiszugeben, da er fürchtet, dass das Aufdecken der Probleme nur weitere Anschuldigungen mit sich bringen wird. Dieser Lehrer wird in einer kritischen Situation dazu neigen, ein Auge zuzudrücken oder das Problem vor Außenstehenden zu verheimlichen. Das wiederum führt zu einer Vernachlässigung der Sicherheit aller Kinder in der Klasse. Dementsprechend löst das Zerwürfnis zwischen Lehrern und Eltern eine Kettenreaktion aus, die für alle Beteiligten, den Lehrer, die Eltern, das Kind und die Klassenkameraden, verheerende Konsequenzen hat. Eltern und Lehrer, die dies verstehen, werden mit größerer Vorsicht handeln, um die Beziehung zueinander nicht zu gefährden.
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Eine wichtige Maßnahme zur Stärkung des Bündnisses liegt in einem beständigen Kontakt zwischen Eltern und Lehrern. Dieser Kontakt bedeutet für das Kind Aufsicht und Halt. Je stärker sich dieser Kontakt nicht nur auf die negativen Ereignisse konzentriert, sondern auch auf die positiven Vorkommnisse, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Zusammenarbeit erfolgreich ist. Kinder reagieren oft mit positivem Erstaunen auf die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache zwischen Eltern und Lehrern. Schon im Kindergartenalter können sie die Zusammenarbeit ausmachen: »Was, die Kindergärtnerin hat dir davon erzählt?« oder »Hast du mit meinen Eltern darüber gesprochen?« Schon zu Schuljahrsbeginn kann dieses Bündnis durch telefonische Kontaktaufnahme mit den Eltern gefördert werden. Es empfiehlt sich, dass der Lehrer während des ersten Kontakts nicht über irgendwelche negativen Verhaltensweisen des Kindes spricht. Stattdessen sollte er ein positives Interesse am Kind zum Ausdruck bringen. Als Vorbereitung für das Telefonat mit den Eltern kann der Lehrer ein freundschaftliches Gespräch mit dem Kind initiieren. Der Lehrer kann während des Telefonats mit den Eltern darauf Bezug nehmen und sie darum bitten, von ihrem Kind und seinen Bedürfnissen zu erzählen. Forschungen haben gezeigt, dass ein Lehrer, der darauf achtet, am Jahresanfang einen positiven Kontakt mit den Eltern aufzunehmen, eine bessere Kooperation bei der späteren Behandlung problematischer Vorfälle erzielt (Jones, 2000). Nicht nur die Klassenlehrer können eine solche Telefonaktion initiieren, auch den Fachlehrern steht diese Möglichkeit offen. Der Fachlehrer muss jedoch nicht alle Eltern anrufen – meist handelt es sich ja um eine relativ große Zahl von Schülern –, sondern er kann den Eltern einiger auffälliger Schüler Priorität geben. Hierfür sollte er eine Liste erstellen, basierend auf seinen eigenen Kenntnissen oder Informationen, die er von anderen Lehrern erhalten hat. Die Schule kann eine frühe Kontaktaufnahme mit den Eltern als schulübergreifende Entscheidung formulieren und hierdurch der gegenseitigen Entfremdung entgegenwirken. Eine Kontinuität in der Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern ist auch dann wertvoll, wenn keine weiteren besonderen Maßnahmen ergriffen werden. Der Nutzen liegt allein in der Tatsache, dass es Kontakt gibt und das Kind darüber Bescheid weiß.
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Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern
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Wenn Eltern ihrem Kind sagen: »Wir haben mit deiner Lehrerin gesprochen und wir wissen …« kann das Ende des Satzes positiv, negativ oder neutral sein. Der bekannte Therapeut Heinz Kohut pflegte zu sagen, dass, wenn ein Therapeut eine Aussage beginnt mit: »Wie Sie in unserer letzten Sitzung erwähnt haben …«, dieser Satz einen positiven therapeutischen Effekt hat, noch bevor er zu Ende gesprochen wurde. Der Therapeut zeigt dem Klienten, dass er sich erinnert und die Geschehnisse der vorigen Sitzung mit der Gegenwart verbindet. Der Klient erlebt Halt, indem sich Inhalte, Beziehungen und Momente seines Lebens in der Wahrnehmung des Therapeuten vereinigen. Das Erlebnis eines Schülers ist ähnlich, wenn er begreift, dass Eltern und Lehrer in Kontakt miteinander stehen und Sorge tragen, sich gegenseitig über ihn auszutauschen. Durch ihr gegenseitiges Interesse und den Informationsaustausch verbinden Eltern und Lehrer die verschiedenen Lebensbereiche des Kindes zu einem kontinuierlichen und Halt gebenden Beziehungsnetzwerk. Dadurch werden scheinbar formelle Dinge wie ein Notizbuch, in dem die Gespräche zwischen Eltern und Lehrern festgehalten werden, oder telefonische Berichterstattungen zu Hilfestellungen, die ein Erlebnis von Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln. Der Aufbau von geregelten Kommunikationswegen ermöglicht eine Bewältigung der Probleme, die vorher als kaum lösbar wirkten. Hierfür ist die Gewalt in Schulbussen ein gutes Beispiel. Dieses Problem gilt als besonders schwerwiegend, unter anderem, da die Busfahrten nicht unter direkter Kontrolle der Schule stehen. In einer der Schulen, in denen unsere Intervention angewendet wurde, haben wir für die Busfahrer einen »Crashkurs« zum Thema Verhaltensprobleme in Schulbussen organisiert. Die Fahrer freuten sich über die Unterstützung, die ihnen zuteil wurde. Sie wurden angewiesen, bei Ruhestörungen den Bus anzuhalten, die involvierten Kinder anzusprechen, ihre Namen zu erfragen und auf der Stelle die Schule über die Ereignisse zu informieren. Ein zuständiger Lehrer war beauftragt, sofort die Eltern der beteiligten Kinder zu benachrichtigen. Die Eltern wurden angewiesen, den Kindern in ruhigem Ton zu sagen, ohne sie zu beschuldigen: »Ich weiß über den Vorfall während der Busfahrt Bescheid. Die Schule wird die Angelegenheit klären und überlegen, wie zu handeln ist.« Den Schülern wurde mitgeteilt, dass ih-
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nen verboten sei, ohne elterliche Begleitung in den Schulbus einzusteigen, sollten sie sich weigern, ihren Namen preiszugeben. Das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern findet auch durch die verstärkte Präsenz der Eltern an der Schule Ausdruck. Wenn das gegenseitige Vertrauen steigt, kann die Schule – wann immer notwendig – die Eltern einladen, während des Unterrichts vor oder in der Klasse zu sitzen. Dies ist anfangs sowohl den Eltern als auch den Lehrern fremd, aber es erweist sich mit fortschreitendem Gebrauch als sehr nützlich und hilft bei Kindern mit schwerwiegenden Verhaltensproblemen, bei denen andere Interventionen keine Wirkung zu haben scheinen.5 Die Präsenz der Eltern in der Schule macht besonders deutlich, dass Eltern und Lehrer auf einer Seite stehen. Es wird Lehrer geben, die behaupten, dass die Einladung an die Eltern wie Schwäche aussähe, und mit dem Problem allein fertig werden wollen. Diese Behauptung passt nicht zur Logik der neuen Autorität, die die Autorität des Lehrers als Ergebnis des Unterstützernetzes ansieht und nicht als Folge seiner charakterlichen Stärke. Der Besuch der Eltern stärkt die Autorität des Lehrers auch nach ihrem Weggang, da der Lehrer zeigt, dass er von Seiten der Eltern Unterstützung erhält. Es ist wichtig, dass die Lehrer die Eltern während ihres Besuches an der Schule mit Würde und Respekt behandeln. Alle Lehrer des betroffenen Kindes sollten über den anstehenden Besuch im Voraus informiert werden. Sie sollten die Eltern ansprechen, ihnen die Hand geben und Hilfe anbieten. Diese positiven Kontakte übertragen sich im Allgemeinen auf die Beziehungen zwischen Eltern und Lehrern an der Schule. Eine Mutter sagte: »Wir haben im Leben nicht daran gedacht preiszugeben, wie unser Sohn sich zu Hause verhält, erst recht nicht vor seinen Lehrern. Aber die Klassenlehrerin hat uns mit einbezogen und uns in die
5 Die Präsenz der Eltern in der Schule wurde zum Wahrzeichen der Multifamilientherapie, die ihre Effektivität auch bei schwersten Fällen mit Kindern und Jugendlichen bewiesen hat. Dieser therapeutische Ansatz wird in vielen Ländern Europas angewandt, auch in Deutschland (Asen, 2009; Asen und Scholz, 2008).
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Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern
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Klasse eingeladen. Das hat alles verändert. Dank ihrer Hartnäckigkeit, uns zu informieren, sich mit uns zu beraten und zu überlegen, wie wir gemeinsam handeln können, haben wir uns sicher gefühlt, ihr von unseren Sorgen und Problemen zu erzählen. Wir haben uns plötzlich nicht mehr alleine gefühlt.«
Die Schule kann einen weiteren Beitrag zum Eltern-Lehrer-Bündnis leisten, indem sie die Lehrer mit einer Telefonliste aller Eltern ausstattet. Die Lehrer werden darum gebeten, diese Liste stets bei sich zu tragen. Schüler und Eltern müssen über diese Bestimmung der Schule informiert werden, deren Ziel es ist klarzustellen, dass die Lehrer jederzeit direkt mit den Eltern Kontakt aufnehmen können. Manchmal kann der Lehrer die Telefonliste aus seiner Tasche holen und während des Unterrichts auf den Tisch legen, wenn sich ein Kind unangebracht verhält. Diese Handlung macht dem Schüler deutlich, dass der Lehrer die Eltern anrufen wird, sollte das Problem fortbestehen. Diese potenzielle direkte Verbindung mit den Eltern stärkt die Autorität des Lehrers auch in Bezug auf die anderen Schüler der Klasse. Mit dieser Handlung demonstriert der Lehrer das Ende seiner ihn schwächenden Isolation: Die Eltern geben ihm Rückhalt, und ihre Präsenz kann jederzeit über das Telefon hergestellt werden. Die Bereitschaft der Schule, in die Beziehung zwischen Eltern und Lehrern zu investieren, kommt durch die Aktivierung eines Eltern-Lehrer-Vermittlungsausschusses deutlich zum Ausdruck. Dessen Aufgabe ist es, Lösungen für Krisensituationen zwischen Eltern und Lehrern zu erarbeiten. Folgende Richtlinien schlagen wir für die Maßnahmen eines Vermittlungsausschusses vor. Die Aufgabenbereiche des Vermittlungsausschusses – Der Ausschuss nimmt Beschwerden oder Bitten von Seiten der Lehrer oder der Eltern entgegen. – Der Ausschuss hilft bei der Vermittlung zwischen beiden Seiten, um eine (erneute) Zusammenarbeit zu ermöglichen. – Der Ausschuss stellt klar, dass es nicht darum geht, wer die Schuld trägt, sondern darum, eine akzeptable Lösung oder einen Kompromiss zu finden.
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Der Aufbau eines Vermittlungsausschusses Der Vermittlungsausschuss wird durch das Leitgremium in Absprache mit der Elternvertretung zusammengestellt. Der Ausschuss setzt sich aus einer Lehrergruppe oder anderen Funktionsträgern der Schule zusammen, welche die Zustimmung sowohl der Lehrer als auch der Eltern haben. Eine Mitteilung über den Aufbau eines solchen Ausschusses sollte an alle Eltern und Lehrer verteilt werden, in der die Namen der Ausschussmitglieder bekannt gegeben werden, inklusive deren Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Eltern und Lehrer werden gebeten, sich im Fall einer Auseinandersetzung zwischen Eltern und Lehrer an ein Mitglied des Vermittlungsausschusses zu wenden. Die Ausschussmitglieder könnten zunächst einige Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Lehrern, die in der Vergangenheit stattfanden, rekonstruieren, um ihre Teamarbeit und Behandlungsvermögen zu konsolidieren. Sollte es Fälle geben, in denen die Angelegenheit noch nicht gelöst ist und die Spannungen weiter bestehen, so kann das Forum seine ersten Schritte zur Vermittlung in diesen Fällen unternehmen. Vorgaben für die Mitglieder des Vermittlungsausschusses Ausschussmitglieder sollten Eltern oder Lehrer, die in eine Auseinandersetzung verwickelt sind, ansprechen und die Hilfe des Ausschusses zur Klärung der Situation und zu einer Lösungsfindung anbieten. Es sollte betont werden, dass jede Auseinandersetzung zwischen Eltern und Lehrern dem Kind schadet. Der Vermittlungsausschuss fungiert nicht in der Rolle eines Schiedsrichters oder als Gericht. Seine Aufgabe ist es, das Bündnis wiederherzustellen und die getrübte Beziehung zu bereinigen. Der beste Weg, dies zu erreichen, ist Eltern und Lehrer zum gegenwärtigen Problem des Kindes an einen Tisch zu bringen. Die überbrachte Botschaft sollte folgendermaßen lauten: »Lasst uns gemeinsam herausfinden, was dem Kind schwerfällt und wie man die Auseinandersetzung beenden und eine Lösung finden kann, die für das Kind förderlich ist.« Wenn die Eltern ihre Vorwürfe mehrmals wiederholen, sollte ihnen gesagt werden: »Es wird Platz zur Klärung und Behand-
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lung der Vorwürfe geben. Vorerst muss jedoch ein Dialog erreicht werden. Helfen Sie uns, die entstandene Kluft zu überbrücken. Das Zerwürfnis ist für das Kind am gefährlichsten.« Sollten die Eltern sich den Vermittlungsbemühungen widersetzen, so ist es wichtig, die Elternvertretung zu informieren und deren Hilfe zu erbitten. Ein Beispiel Marion war 11 Jahre alt. Ihre Eltern beschwerten sich lange Zeit, dass ihre Tochter unter den Belästigungen anderer Kinder in der Klasse leide. Die Situation eskalierte, nachdem Marion ihre Eltern im Verlauf des Schultages anrief, ihnen erzählte, dass zwei Schüler sie beleidigt hätten, und darum bat, nach Hause abgeholt zu werden. Aus dem anschließenden Gespräch, das die Klassenlehrerin mit der Lehrerin führte, die zur besagten Zeit unterrichtet hatte, schloss die Klassenlehrerin, dass an den Vorwürfen »nichts dran sei«. Die Eltern reagierten auf diese Schlussfolgerung mit heftiger Kritik und meinten, dass ihre Tochter durch diese Behauptung erneut erniedrigt würde. Der aufgebrachte Vater kam zur Schule, beschimpfte die Klassenlehrerin und drohte, sich an die örtliche Presse zu wenden. Die Klassenlehrerin meldete den Vorfall der Schulleiterin und wurde an den Vermittlungsausschuss weitergeleitet. Eine Lehrerin des Ausschusses, die eine gute Beziehung zum Vater hatte, rief die Eltern an und bat darum, dass der Vermittlungsausschuss eine Lösung suchen dürfe, um den Konflikt zu beenden. Sie äußerte Verständnis für den Ärger der Eltern, erläuterte aber, dass es die Situation für Marion noch erschweren würde, sollte keine Übereinkunft gefunden werden. Sie sagte, dass die Beschwerde der Eltern dem Vermittlungsausschuss wichtig sei, und lud die Eltern ein, ihre Ansicht darzulegen. Sie fügte hinzu, dass das Ziel des Treffens nicht sei, über das rechtmäßige oder unrechtmäßige Verhalten der Klassenlehrerin zu urteilen, sondern eine Lösung zu erreichen, die für das Mädchen am besten wäre. Danach trafen sich die Ausschussmitglieder mit der Klassenlehrerin. Diese willigte ein, einen Schritt zu unternehmen, um die Atmosphäre zu entspannen: Sie bat den Ausschuss, den Eltern ihre Entschuldigung bezüglich ihrer Aussage auszurichten, dass an den Vorwürfen »nichts dran sei«. Die Klassen-
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lehrerin gestand ein, dass sie hätte anders reagieren sollen: Anstatt zu behaupten, dass Marion die Angelegenheit erfunden habe, hätte sie sagen sollen, dass ihre Untersuchung des Vorfalls die Vorwürfe nicht bestätigen könnte. Der Ausschuss versprach der Klassenlehrerin, ihr während des Elterngesprächs zur Seite zu stehen. In Absprache mit der Klassenlehrerin wurden einige Maßnahmen erdacht, die den Eltern während des Treffens vorgestellt werden sollten, um Marions Situation in der Klassengemeinschaft zu verbessern. Am Treffen mit den Eltern nahmen zunächst zwei Mitglieder des Vermittlungsausschusses teil. Sie richteten die Entschuldigung der Klassenlehrerin aus und baten anschließend darum, sie zum Gespräch hinzuziehen zu dürfen, um gemeinsam zu besprechen, wie Marions Eingliederung in die Klasse zu verbessern sei. Der Plan enthielt Zweieraktivitäten und Gruppenaktivitäten innerhalb der Klasse, die nicht nur Marion helfen würden, sondern auch einigen anderen Kindern mit Problemen in der Klassengemeinschaft zugute kommen würden. Die Klassenlehrerin verpflichtete sich, die Eltern über die Erfolge dieser Aktivitäten und Marions Situation in der Klasse zu informieren. Die geplanten Maßnahmen führten zu einer allmählichen Verbesserung von Marions Lage. Sie konnte langsam ihrer Rolle als unpopuläre Randfigur innerhalb der Klasse ablegen.
Der Schulleiter und die neue Autorität Die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern ist das Ergebnis gegenseitigen Verständnisses und des Wissens darum, dass ihre jeweiligen Bedürfnisse im Rahmen des Interventionsprogramms ernst genommen werden. Dieser Ansatz ist auch für die Arbeit mit dem Schulleiter zentral: Je überzeugter der Schulleiter ist, dass die Schritte zum Aufbau der neuen Autorität auch eine Entlastung für ihn bedeuten, desto umfassender wird seine Unterstützung sein. Forschungen zur Situation der Schulleiter weisen auf einige Belastungsfaktoren dieser Position hin (Friedman, 2000): – Forderungen und Druck von Seiten der Eltern, – fehlende Zusammenarbeit mit den Lehrern, – Überforderung durch zahlreiche tagtägliche Vorfälle, die das sofortige Eingreifen des Schulleiters erfordern.
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Der Schulleiter und die neue Autorität
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Unsere Arbeit mit Schulleitern basiert auf der Einsicht, dass diese Notlage die Ausübung des Amtes als Schulleiter und das Erfüllen von bedeutenden pädagogischen Pflichten sehr erschweren kann. Die fast unerschöpflichen Forderungen von Seiten der Eltern gehören zur alltäglichen Erfahrung eines Schulleiters. Die Forderungen widersprechen sich oftmals und erzeugen massiven Druck, der sich noch verstärkt, wenn Eltern drohen, sich an das Gericht, die Stadtverwaltung oder die Polizei zu wenden. Wenn der Schulleiter diesem Druck nachgibt und besonders, wenn dies auf Kosten der Lehrer geschieht, verschärfen sich die Probleme nur noch mehr: Die Eltern begreifen, dass der Schulleiter gegen die Lehrer eingenommen werden kann, und die Lehrer sehen ein, dass sie sich nicht auf den Schulleiter verlassen können. Das Beziehungsdreieck wird erschüttert und die Autorität der Schule geschwächt. Zwickmühle Ein 9-jähriges Mädchen, das neu an die Schule gekommen war, verhielt sich anderen Mitschülern gegenüber gewalttätig. Als die Klassenlehrerin die Eltern darüber informierte, kam es zu heftigen gegenseitigen Beschuldigungen. Die Eltern wandten sich an den Schulleiter und verlangten, dass er gegen die Lehrerin Maßnahmen ergreifen solle, da diese ihrer Meinung nach die Ehre ihrer Tochter verletzt hätte. Sie behaupteten, dass ihre Tochter in der vorigen Schule niemals gewalttätig gewesen sei und dass die herausfordernde Haltung der Klassenlehrerin sie demoralisiert habe. Gleichzeitig organisierte sich eine andere Gruppe von Eltern – von der Elternvertretung ermutigt – und stellte die Forderung, das Mädchen unverzüglich von der Schule zu weisen. Nach einem weiteren gewalttätigen Vorfall entschieden sich diese Eltern, den Unterricht für eine Woche zu boykottieren. Die Eltern des Mädchens blieben ihrerseits nicht untätig und überschütteten die Klassenlehrerin und die Schule mit Beschimpfungen und Verleumdungen. Der Schulrat und das Kultusministerium behaupteten, dass die Elternvertretung auf unverantwortliche Weise die Situation verschärft habe, und forderten den Schulleiter auf, das Mädchen auf der Schule zu behalten, bis ihre Situation durch einen Psychologen geklärt worden sei. Der
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Schulleiter befand sich im Zentrum des Aufruhrs und wurde von allen Seiten angegriffen: von den Eltern der Schülerin, den anderen Eltern und seinen Vorgesetzten.
Wie können Schule und Schulleiter vor solchen Situationen bewahrt werden? Nach unserem Konzept braucht es eine strategische Grundsatzentscheidung, nach der Eltern und Schule zu Partnern im Kampf gegen die Gewalt werden. Wenn die Verbindung zwischen der elterlichen Autorität und der Lehrerautorität betont wird, schafft das dem Schulleiter mehr Handlungsspielraum in diese Richtung. Im obigen Beispiel hätte der Schulleiter die Lehrerin durch weitere Lehrer unterstützen, die Eltern des Mädchens in die Lösung des Problems einbeziehen und die anderen Eltern über die unternommenen Maßnahmen informieren können. Die Existenz einer Arbeitsgruppe zur gegenseitigen Unterstützung der Lehrer und eines Eltern-Lehrer-Vermittlungsausschusses würde dem Schulleiter ermöglichen, Abläufe zu initiieren, ohne persönlich für jeden Schritt zuständig sein zu müssen. Wenn die anderen Eltern wüssten, dass die Schule für eine stete Beaufsichtigung des Mädchens sorgt, wäre ihr feindseliges Agieren weniger gerechtfertigt. Zusätzlich wäre die Lehrerin nicht so isoliert gewesen und dadurch ihre Autorität und die Autorität der ganzen Lehrerschaft nicht so erschüttert worden. Unter diesen Bedingungen wäre es wahrscheinlicher gewesen, dass die Eltern des Mädchens eingewilligt hätten, sich an der Aufsicht des Mädchens und an Wiedergutmachungstaten zu beteiligen. Nach unserer Erfahrung sind selbst Eltern, die anfangs eine negative Einstellung der Schule gegenüber haben, zur Kooperation bereit. Sie merken, dass sich die Schule verpflichtet fühlt, ihnen und ihrem Kind zu helfen, und sie verstehen, dass ihre Kooperation einen Ersatz für Hausarrest oder andere Maßnahmen darstellt, die die Schule in Fällen von Gewaltanwendung ergreifen darf. Diese Vorgänge haben nicht nur eine positive Wirkung auf den Schulleiter, die Lehrer und die Eltern, sondern auch auf das Verhalten des Kindes. Transparenz ist eines der wichtigsten Mittel, mit deren Hilfe der Schulleiter Initiativen ergreifen kann, um seine Beziehung zu den Eltern und zu anderen außerschulischen Stellen zu verbessern. Transparenz ist eine der Grundlagen der neuen Autorität. In
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unseren Interventionen initiiert die Schule die Veröffentlichung von auffälligem Verhalten, wie Gewalt, Vandalismus oder extreme Unruhestiftung, und den Umgang damit. Die Veröffentlichung stärkt den Kampf gegen diese negativen Phänomene und fördert die Unterstützung, die der Schule von Seiten der Eltern zuteil wird. Die Veröffentlichung wirkt auf die Mobber abschreckend und bedeutet Zuspruch für die Lehrer und die schweigende Mehrheit der Schüler, die unter der Gewalt leiden. Die Elterngemeinschaft reagiert auf solche Veröffentlichungen besonders positiv: Sie sind das Wahrzeichen der Entschlossenheit einer Schule, einen konstruktiven Kampf zu führen. Dieser Grundsatz nimmt denjenigen Eltern den Wind aus den Segeln, die damit drohen, die Angelegenheit an die Öffentlichkeit zu tragen. Auf solche Drohungen kann der Schulleiter antworten: »Wir veröffentlichen auf eigene Initiative hin jeden Vorfall. Sie haben natürlich das Recht, sich an Außenstehende zu wenden, aber unsere Veröffentlichungen sind allgemein bekannt, und sie beweisen, dass wir nichts zu verheimlichen haben.« Einige Schulleiter bringen ihre Sorge zum Ausdruck, dass die Übernahme des Grundsatzes der Transparenz wie ein Bekenntnis wirkt, dass in der Schule ein schweres Gewaltproblem herrscht. Um dies zu vermeiden, würden sie eher eine gegenteilige Aussage veröffentlichen. Doch diese Behauptung wäre wohl in keiner Schule berechtigt (Benbenishty und Astor, 2005). Die Allgegenwärtigkeit der Gewalt in Schulen ist weit bekannt, so dass Aussagen wie: »Unsere Schule kennt keine Gewalt!« heutzutage fast unvermeidlich als leer und unglaubwürdig gelten. Demgegenüber stärken Schulleiter das Vertrauen der Eltern und Schüler, wenn sie es wagen, den Grundsatz der Transparenz im Kampf gegen die Gewalt einzuführen. Die Erklärung des Schulleiters zum offenen Kampf gegen Gewalt wirkt glaubwürdiger und mobilisiert mehr, als wenn er eine abwehrende und dadurch unglaubwürdige Haltung beibehält. Die Intervention im Sinne der neuen Autorität bedeutet auch eine Entlastung für den Schulleiter von Problemen, mit denen er sich wegen fehlender Zusammenarbeit von Seiten der Lehrer konfrontiert sieht. Ein Schulleiter, der die Lehrer unterstützt und klarstellt, dass jede Verletzung eines Lehrers die Angelegenheit des
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ganzen Schulpersonals ist, verändert seine Beziehung zu den Lehrern von Grund auf. Seine Forderungen sind keine Befehle mehr, die er allein aufgrund seiner Stellung seinen Untergeordneten auferlegen kann. Die Autorität der Lehrer wird durch die Unterstützung des Schulleiters gestärkt, während gleichzeitig seine eigene Autorität durch die Unterstützung seitens des Lehrkollegiums untermauert wird. Seine Forderungen an die Lehrer sind fortan als »Wir!« formuliert und nicht als »Ihr!« Ein Beispiel hierfür besteht in der Aufforderung, sich bei Rundgängen zur Aufsicht auf den Gängen und auf dem Schulhof während der Unterrichtsstunden abzulösen. Lehrer verstehen nur zu gut, dass es schwierig ist zu unterrichten, wenn sich auf den Gängen und auf dem Schulhof lärmende Kinder aufhalten. Die Präsenz von Lehrkräften auf den Gängen bewirkt eine schnelle Verbesserung der Lernatmosphäre und der Situation der Lehrer in den Klassen. Es ist schwierig, sich einem Schulleiter zu widersetzen, der diese Vorgaben befürwortet, um die Autorität der Lehrer zu stärken. In Schulen, in denen unsere Intervention umgesetzt wurde, wurden die Rundgänge durch das Schulgebäude von allen Seiten befürwortet. Schulleiter, die in ihrer Führungsrolle besonders herausragten, beteiligten sich selbst an den Rundgängen. Diese Tatsache stärkte die Autorität der Lehrer erheblich. Einer der Faktoren, der wesentlich zur Entlastung des Schulleiters beiträgt, ist das Delegieren von Aufgaben. Dies geschieht z. B. durch das Einhalten der zuvor festgelegten Reihenfolge der Helferkreise oder durch die Nutzung der Arbeitsgruppen zur gegenseitigen Unterstützung der Lehrer. Wenn ein Lehrer einen Schüler zum Schulleiter schickt, damit dieser ihn maßregelt, ohne vorher die anderen Hilfestellungen in der festgelegten Reihenfolge in Anspruch zu nehmen, so kann der Schulleiter diesen Lehrer an die zuständige Arbeitsgruppe verweisen, damit diese ihn bei der Nutzung der anderen Hilfestellungen anleitet. Diese Handlung wird nicht als Zurechtweisung des Lehrers oder als ein Abschütteln der Verantwortung angesehen, sondern als ein Weg, den Lehrer mit Hilfe der Arbeitsgruppe zu stärken. Die gut durchdachte Nutzung dieser Möglichkeit senkt die Zahl der Schüler, die zwecks Maßregelung zum Schulleiter geschickt werden. Eine der deutlichsten Auswirkungen dessen ist, dass auf dem Gang vor
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Der Schulleiter und die neue Autorität
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dem Direktorat keine Schüler mehr stehen, die auf ein disziplinarisches Gespräch mit dem Schulleiter warten. Die Schule hat dadurch einen doppelten Gewinn: Der Schulleiter kann die Entlastung seines überfüllten Arbeitspensums genießen, und die Lehrer erhalten höheres Ansehen und größere Autorität an der Schule. Die Stellung des Schulleiters unter den Lehrern verbessert sich mit der steigenden Sicherheit der Lehrer, deren Autorität vom Schulleiter untermauert wird. Die Lehrer begreifen, dass der Schulleiter sie nicht »ausliefert«, sondern sie zu stärken sucht. Dies führt wiederum zu einer größeren Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Diese Haltung der Schulleitung ermöglicht es den Lehrern, ihre gleichgültige und ablehnende Haltung aufzugeben. Die Stärkung der Lehrer, die Einhaltung der Reihenfolge der Helferkreise und die Maßnahmen der Arbeitsgemeinschaften erzeugen eine Atmosphäre, die den Schulleiter von übermäßigem alltäglichem Druck befreit. Die Autorität der Lehrer wird nicht mehr durch die Machtstellung und das Maß an Bedrohlichkeit des Schulleiters bestimmt. Stattdessen erhält die Autorität der Lehrer Rückhalt durch den Aufbau anderer Strukturen, wie die Reihenfolge der Helferkreise, die Arbeitsgruppen und die gemeinsamen Treffen von Lehrern und Eltern, und wird dadurch dezentralisiert. Diese Strukturen liefern sowohl den Lehrern als auch dem Schulleiter ein Unterstützungsnetz und Schutz. Dies hat zur Folge, dass sich die Tagesordnung der Arbeitsgruppen im Laufe der Jahre nach der Einführung des Interventionsprogramms allmählich verändert. Am Anfang werden sich die Arbeitsforen vor allem mit gewalttätigen Vorfällen, Kränkungen von Lehrern, Auseinandersetzungen mit Eltern und schwerwiegenden Disziplinverstößen beschäftigen. Diese Vorfälle nehmen im Laufe der Zeit immer mehr ab, so dass den Foren ermöglicht wird, sich anderen Aufgaben zu widmen. Ein Schulleiter, der ein echtes Bündnis mit den Lehrern geschlossen hat, kann nun in den Arbeitsgemeinschaften Partner für gemeinsame Projekte finden, die seiner erzieherischen Vision Ausdruck verleihen. Auch die Beziehung des Schulleiters zum gesellschaftlichen Umfeld der Schule ändert sich. Der Grundsatz der Transparenz und die Verbesserung des Engagements der Eltern erschließen die Schule für die städtische Gemeinschaft. Der Schulleiter, befreit aus
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Rekrutierung von Helfern in der Schule
seiner abwehrenden Haltung, kann nun die Dienste und Einrichtungen der Stadtverwaltung, z. B. Polizei, ehrenamtliche Mitarbeiter, oder andere pädagogische Einrichtungen in Anspruch nehmen. In diesem Prozess wird die Schule zu einem Initiator, die Lebensumstände der Jugendlichen im Allgemeinen zu verbessern, und zu einem gesellschaftlichen Vorreiter im Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Erziehungsproblemen. Die neue Autorität, die ihren Anfang in der Schule nahm, wurde in manchen Städten zum Wahrzeichen der Autorität der ganzen städtischen Gemeinschaft.
Das Bündnis mit den Kindern Während die meisten Konzepte, die sich mit problematischen Phänomenen bei Jugendlichen und mit der Handhabung dieser Phänomene befassen, auf die Jugendlichen selbst abzielen, ist das Augenmerk des hier vorgestellten Konzepts vorerst auf die Eltern und Lehrer gerichtet. Unserer Einschätzung nach haben die Bemühungen, Jugendliche zu überzeugen und sie zu belehren, nur einen geringen Erfolg, solange es an der Führung der Erwachsenen mangelt. Eine Minderheit an schwierigen Kindern reicht aus, um die große Mehrheit der Schüler zu lähmen. Ohne Schutz fühlen sich die meisten Kinder schwach, auch wenn sie sich eine gewaltfreie Kommunikation und Fertigkeiten zur Problemlösung angeeignet haben. Sie werden es vorziehen zu schweigen, die Augen zuzudrücken und mit den starken Mobbern zu kooperieren, um zu verhindern, dass sie selbst zum Opfer werden. Demgegenüber können die meisten Kinder ihre passive Haltung ablegen und ihre schweigende Zustimmung aufgeben, wenn die Erwachsenen den notwendigen Schutz liefern. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Veränderung in der Zahl von Berichterstattungen über Gewalttaten. Forschungen zeigen, dass unter normalen Umständen, d. h. in der häufig verbreiteten Situation, in der die Schule den Phänomenen von Mobbing hilflos gegenübersteht, die Mehrheit der Kinder, die einem gewalttätigen Vorfall beiwohnen, es vorziehen, darüber Stillschweigen zu bewahren (Salmivalli et al., 1996; Salmivalli, 1999). Dieses Schweigen wird oft dadurch
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Das Bündnis mit den Kindern
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erklärt, dass Kinder davor zurückschrecken, als »Petze« zu gelten. Diese Erklärung ist jedoch unvollständig. Kinder schweigen vor allem, weil sie sich nicht geschützt fühlen und weil sie nicht glauben, dass ihre Berichterstattung irgendetwas ändern wird. In Fragebögen zu Gewalt an Schulen geben die meisten Kinder an, dass sie dem Klassenlehrer oder dem Schulleiter keine effektive Handhabung der Vorfälle von Gewalt zutrauen, von denen sie gehört haben. Diese Annahme entwertet die Berichterstattung: Dem Opfer wird nicht geholfen, und der Berichterstatter nimmt unnötig Gefahr auf sich. Die Situation sieht anders aus, wenn die Kinder glauben, dass die Lehrer und der Schulleiter gezielt auf die Vorfälle reagieren werden. An den Schulen, an denen unser Interventionskonzept umgesetzt wurde, stieg die Bereitschaft der Kinder drastisch, über Gewaltvorfälle Bericht zu erstatten. Dies führte auch zur Aufdeckung weiterer Vorfälle, die zuvor unbemerkt geblieben waren. In Diskussionen, die in Klassen geführt wurden, forderten nun die Schüler, ihnen bei der Berichterstattung zu helfen. Sie baten, dass die Schule sichere und anonyme Wege zur Berichterstattung zur Verfügung stelle. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass die Zunahme an Vertrauen in die Erwachsenen die notwendigen Voraussetzungen schafft, damit die Kinder sich dem gewaltfreien Kampf gegen Gewalt anschließen und einen wichtigen Beitrag leisten können.
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Kapitel V Präsenz und Aufsicht in der Schule1
Die Präsenz der Lehrer spiegelt sich in Verhaltensweisen wider, die die Botschaft vermitteln: »Wir sind präsent, wir nehmen Anteil, wir handeln und wir sind nicht allein!« Den Schüler wird dadurch bewusst, dass die Lehrer aufmerksam anwesend sind und verantwortungsvoll handeln. Die Präsenz der Lehrer kann in vier Wirkungsbereiche unterteilt werden: – die körperliche Präsenz, – die emotional-moralische Präsenz, – die Präsenz im Verhalten, – die zwischenmenschliche Präsenz.
Körperliche Präsenz Lehrer zeigen körperliche Präsenz, wenn sie bereit sind, jeden Ort in der Schule zu beaufsichtigen und vor Ort zu reagieren. Diese Präsenz drückt sich z. B. darin aus, dass ein Lehrer in der Klasse zwischen den Tischreihen umhergeht und den Schülern auf diese Weise deutlich macht: »Ich bin in der Nähe und kann dich erreichen!« Die beständige aufmerksame Fürsorge des Lehrers in den Gängen und auf dem Schulhof vermittelt die Botschaft: »Alle Bereiche auf dem Schulgelände stehen unter meiner Aufsicht!« Nähert sich der Lehrer einem Schüler, der andere bedroht, oder einem, der bedroht wird, so sendet er die Botschaft aus: »Ich werde eingreifen, damit du niemandem wehtust!« oder »Ich werde dich vor Verletzungen schützen!«. Durch seine körperliche Präsenz ist der Lehrer für alle Schüler erreichbar. Gleich1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Liron On, Keren FatalAsher, Hila Berger und Rakefet Katz-Tisona geschrieben.
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Emotional-moralische Präsenz
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zeitig sinkt die Bereitschaft problematischer Schüler, gewalttätig zu werden. Die körperliche Präsenz des Lehrers stärkt seine Autorität. Dagegen schränkt ein Alltag, der diese Art von Präsenz reduziert, die Autorität des Lehrers ein. Wenn sich Lehrer in das Lehrerzimmer zurückziehen, wenn Bereiche in der Schule existieren, die von Lehrern nicht betreten werden und den Jugendlichen »gehören«, wenn Eingriffe vermieden werden, weil der Einsatzbereich außerhalb des Schulgeländes liegt, oder wenn der Bewegungsraum des Lehrers innerhalb der Klasse auf Tafel und Pult beschränkt bleibt, hat dies eine schwächende Wirkung auf die Autorität des Lehrers. Die Forschungsarbeiten von Olweus (1991) haben den Nachweis erbracht, dass die verstärkte Anwesenheit der Lehrer in allen Bereichen der Schule eine Grundbedingung darstellt, um MobbingPhänomene zu überwinden. Unsere Erfahrungen zeigen, dass die körperliche Präsenz auch Grundbedingung für die Autorität des Lehrers ist. Der Zeitfaktor spielt hierbei eine wichtige Rolle. Die Wirksamkeit der Botschaft »Ich bin präsent!« hängt von der Bereitschaft des Lehrers ab, seine Präsenz dauerhaft zu verwirklichen. Auch das Sit-in, das wir im dritten Kapitel beschrieben haben, trägt zum Aufbau der Autorität bei, indem es die Erfahrung der Präsenz sowohl räumlich als auch zeitlich gesehen intensiviert. In diesem Kapitel werden wir Wege aufzeigen, durch die ein intensives Erleben der Präsenz erzeugt werden kann, indem Lehrer ihre Präsenz räumlich und zeitlich ausdehnen. Demgegenüber büßt die Autorität an Wirksamkeit ein, wenn sie nach den Prinzipien »hit and run« handelt, d. h., wenn sie sich nach einem harten Eingriff sofort zurückzieht oder ihre Aufsicht aus der Ferne auszuüben sucht.
Emotional-moralische Präsenz Die körperliche Präsenz ist nur ein Bestandteil der Lehrerpräsenz. Eine wachsam sorgende Autoritätsperson zeichnet sich durch eine emotionale und moralische Haltung aus, die den Charakter ihrer Autorität prägt. Die körperliche Präsenz kann z. B. von einer Berührung an der Schulter begleitet werden und damit eine beruhigende Wirkung haben oder eine Bestätigung andeuten. Dem-
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
gegenüber wirken ein durchdringender Blick und eine steife Körperhaltung eher abschreckend. Die Haltung der wachsamen Sorge, die wir als Grundlage für die neue Autorität anstreben, hat sowohl eine anteilnehmende als auch eine willensstarke Seite: Sie drückt Nähe aus und weist gleichzeitig auf die Grenzen hin. Diese Aspekte können zeitgleich oder nacheinander in Erscheinung treten. Wenn z. B. ein Lehrer dem gewalttätigen Verhalten eines Schülers Widerstand entgegensetzt, gibt es zu diesem Zeitpunkt keinen Platz für Sympathie. In dieser Situation könnte die Sympathie den Widerstand schwächen, oder der Schüler könnte den Ausdruck von Sympathie abwehren. Der Lehrer kann jedoch die anteilnehmende Seite seiner Präsenz hervorheben, indem er zu einem späteren Zeitpunkt dem Schüler zeigt, dass sein Widerstand gegen die gewalttätigen Handlungen des Schülers die positive Beziehung zwischen ihnen nicht beeinträchtigt. Auf diese Weise finden beide Seiten der Präsenz ihren Ausdruck: Die Handlungsweise des Lehrers vermittelt die doppelte Botschaft: »Ich gebe dir nicht nach, und ich gebe dich nicht auf!« Auch die willensstarke Seite der Präsenz drückt eine positive emotionale und moralische Haltung aus. Während eine Autoritätsperson früherer Zeiten jegliche Verantwortung für das Eskalieren einer Situation von sich wies, erkennt die Vertreterin der neuen Autorität ihren potenziellen Beitrag an einer Eskalation an und bemüht sich, dem entgegenzuwirken. Die Autoritätsperson kennt die negativen Folgen von machtorientierten und kämpferischen Reaktionen und versucht dementsprechend, Drohungen und Erniedrigungen gewissenhaft zu vermeiden. Die Botschaft »Ich bin präsent!«, die der Lehrer dem problematischen Schüler zu vermitteln sucht, enthält eine moralische Nuance, die gänzlich anders ist als die drohende Haltung, die für die Autorität früherer Zeiten charakteristisch war. Lehrer verfallen zwar manchmal noch – entgegen den Prinzipien des Interventionsprogramms – in machtorientierte Wortwechsel, diese Ausrutscher nehmen aber mit der Zeit ab. Manchmal genügt ein einmaliges Erleben, welche Wirkung eine unnachgiebige und stille Präsenz ausübt, die vom Unterstützernetz mitgetragen wird, um den Lehrer von der vermeintlichen Notwendigkeit der drohenden und machtorientierten Haltung zu befreien.
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Handelnde Präsenz
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Die emotional-moralische Präsenz ist eng mit dem persönlichen Beispiel der Autoritätsperson verbunden. Diese Präsenz wird hinterfragt, wenn die Forderungen der Autoritätsperson nicht ihren eigenen Handlungen entsprechen. Ein Lehrer, der zu spät zum Unterricht zu kommen pflegt, kann beispielsweise nicht von seinen Schülern erwarten, pünktlich zu sein. Uns ist bewusst, dass an vielen Schulen Unpünktlichkeit, das längere Verweilen im Lehrerzimmer und vermehrte Abwesenheiten zur Regel geworden sind. Diese Gewohnheiten sind ein deutliches Anzeichen für die Belastung der Lehrer und bezeugen ihre Anfälligkeit für Burn-out (Hagemann, 2009). Im Laufe unserer Arbeit mit Familien haben wir viele Eltern getroffen, die sich trotz guter Absichten aus Angst, Hilflosigkeit und mangels Unterstützung mit der Situation abgefunden haben und in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmt waren (Pleyer, 2003). In dieser Lage wollten sie nur »überleben«. Viele Lehrer machen ähnliche Erfahrungen. Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer entscheidet sich hoch motiviert und mit idealistischen pädagogischen Zielen für ihren Beruf. Die stetige Erfahrung von Hilflosigkeit, fehlender Unterstützung und wiederholten Verletzungen lässt sie jedoch eine Haltung einnehmen, deren einziges Ziel es ist, den Tag mit minimalem Leidensdruck zu überstehen. Es hat keinen Sinn, einen Lehrer zu einer Änderung seiner Einstellung aufzufordern, ohne ihm die Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen er seine Verletzlichkeit überwinden und Unterstützung aufbauen kann. Wenn die Schwierigkeiten der Lehrer wahrgenommen und anerkannt werden und ihnen zugleich Anregungen zur Wiederherstellung ihrer Autorität gegeben werden, geben sie oft auf bewundernswerte Weise ein persönliches Beispiel für »lehrerliche Präsenz«.
Handelnde Präsenz Lehrer, die von einem Gefühl der Hilflosigkeit beherrscht werden, beschweren sich häufig darüber, dass sie zu keiner Reaktion fähig sind, da ihnen »keine Sanktionen zur Verfügung stehen«. Diese Einstellung verweist auf die problematische Gleichsetzung von Reaktionsmöglichkeiten und Sanktionen. Sie führt zu einer
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Suche nach Bestrafungsmöglichkeiten, die sich oft schnell als ineffektiv erweisen oder zum Eskalieren der Situation führen. Zudem zwingt sie den Lehrer dazu, auf jedes problematische Verhalten eines Schülers mit einer sofortigen Strafe reagieren zu müssen, eine Art Vergeltungszwang. In der Logik der neuen Autorität vermittelt die Botschaft der Präsenz, dass gegen negative Verhaltensweisen unnachgiebig und beharrlich Widerstand geleistet wird. Es wird Standhaftigkeit demonstriert, das Unterstützernetz wird erweitert und genutzt, gleichzeitig wird am Aufbau einer guten Beziehung zum Kind gearbeitet und seine positiven inneren Stimmen werden angesprochen.
Interpersonale Präsenz Auch interpersonale Präsenz stärkt die Autorität des Lehrers und bewahrt ihn vor dem Burn-out-Syndrom. Der Lehrer sollte seine eigene Präsenz als Repräsentant eines breiten Netzwerks erleben. Das Netzwerk unterstützt und stärkt die einzelne Autoritätsperson. Um die interpersonale Präsenz aufzubauen, ist es notwendig, beständig und systematisch die erforderliche Unterstützung einzuholen und der Versuchung zu einer sofortigen Reaktion zu widerstehen. Es ist wichtig, die eigenen inneren Stimmen zu erkennen, die z. B. sagen: »Wenn du dir Hilfe suchst, ist das ein Beweis für Schwäche.« Dieser Satz ist einer der hartnäckigsten Überreste der Logik der traditionellen Autorität. Wir ermutigen dagegen dazu, ein Problem sogar dann mit Hilfe anderer zu überwinden, wenn es eigentlich auch allein gelöst werden könnte. Die gemeinschaftliche Lösung verwandelt die Botschaft »Ich bin präsent« in ein vielstimmiges »Wir sind präsent«. So entsteht Präsenz als Netzwerk. Der Lehrer ist zwar für die Klasse und für seinen Aufgabenbereich verantwortlich, er ist aber gleichzeitig Repräsentant der Lehrerschaft. Das Netzwerk steht hinter ihm und stärkt ihn, während die Handlungen des einzelnen Lehrers wiederum das Netzwerk stärken. Die vier Bereiche der Präsenz eines Lehrers sind miteinander verknüpft und verstärken sich gegenseitig. Die geplante und systematische Bezugnahme auf diese Bereiche ermöglicht es, alte Be-
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Präsenz als Netzwerk
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stimmungen aufzugreifen und mit den Inhalten der neuen Autorität zu füllen. Ein Beispiel hierfür ist die Begrüßung der Schüler am Schuljahresanfang. Um von Schuljahrsbeginn an die Lehrerpräsenz auf optimale Weise zu demonstrieren, kann beispielsweise der Schulleiter gemeinsam mit einigen Lehrern die Schüler während der ersten Schulwoche vor den Schultoren begrüßen. Die Präsenz des Schulleiters bietet ein persönliches Beispiel, das die Präsenz der anderen Lehrer stärkt. Der Schulleiter und die begleitenden Lehrer können den Schülern beim Begrüßen die Hand schütteln und so einen ersten Kontakt herstellen. Auf diese Weise vermitteln sie die Botschaft: »Wir begrüßen euch herzlich in unserer Schule! Wir tragen die Verantwortung und bestimmen die Verhaltensregeln an dieser Schule.« So beginnt das Schuljahr für die Schüler, Lehrer und Eltern mit einem deutlichen Zeichen der vielfältigen, freundlichen und intensiven Präsenz der Lehrer.
Präsenz als Netzwerk Die Stärke der vermittelten Lehrerpräsenz ist dem kumulativen Effekt des Netzwerks zuzuschreiben, das der Lehrer mit seinen Handlungen repräsentiert, nämlich das Schulpersonal, die Eltern der Kinder und die Funktionsträger der Stadtgemeinde. Der Wechsel von der »Ich«-Sprache zur »Wir«-Sprache wird oft durch Maßnahmen verdeutlicht, die beinahe rein formaler Art sind, z. B. das Begleitungsformular. Dieses Formular ist ein Hilfsmittel für die koordinierte Beaufsichtigung eines problematischen Schülers. Der Schüler ist verpflichtet, am Ende jeder Unterrichtsstunde den unterrichtenden Lehrer auf dem Formular unterschreiben zu lassen. Der Lehrer notiert in Stichworten, wie der Schüler während der Stunde gelernt und wie er sich verhalten hat. Der Klassenlehrer verwaltet das Begleitungsformular und trifft sich wöchentlich mit dem Kind und seinen Eltern. Nach einer bestimmten Zeit findet in Anwesenheit der Eltern und der beteiligten Lehrer eine abschließende Besprechung statt. Diese Regelung gewährleistet einen fortwährenden Informationsaustausch und vermittelt ein Gefühl der Fürsorge. Eltern, die ihrem Kind
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
sagen: »Wir haben heute mit deiner Klassenlehrerin gesprochen, und sie ist sehr zufrieden mit dir und deinem Verhalten in ihrer Klasse und bei deinem Mathematiklehrer«, vermitteln dem Kind, dass es in einem koordinierten Netzwerk von Erwachsenen gehalten wird. Dieser Austausch verändert die Kontakte zwischen Eltern und Kind, Lehrern und Kind, Eltern und Lehrern und sogar zwischen den Lehrern untereinander. Das Begleitungsformular verlangt ein hohes Maß an Einsatz und kann daher nur bei einigen wenigen Schülern angewendet werden, die ein schulübergreifendes Problem darstellen. Der Nutzen dieser Regelung reicht jedoch weit über das spezifische Problem hinaus. Ein weiteres Hilfsmittel, das scheinbar rein formal ist und das die Erfahrung der Präsenz als Netzwerk ermöglicht, ist der Rundgang. Dieser Ausdruck bezeichnet die Verpflichtung eines Schülers, der sich unangemessen verhalten hat, während der Pause die Unterschriften der Aufsicht führenden Lehrer einzusammeln, die sich in den verschiedenen Bereichen der Schule aufhalten. Die Aktion des Rundgangs vernetzt die Lehrer auf zweierlei Arten: Sie sind durch das auszufüllende Formular vernetzt, und sie sind durch den Weg des Schülers, der ihre Unterschriften während der Pause einsammeln muss, vernetzt. Der Vorschlag des Rundgangs löst häufig Erstaunen unter den Lehrern aus: »Und was dann? Nach fünf Minuten hat er seine Runde beendet und alle Unterschriften eingesammelt!« oder »Das soll eine Strafe sein? Die Schüler werden ihre Freunde mitschleppen und ein Spektakel daraus machen!« Diese Antworten sind für die Logik der traditionellen Autorität charakteristisch, die die Möglichkeiten des Lehrers am Grad der möglichen Vergeltung messen. Die meisten Lehrer begreifen schnell, dass der Rundgang dazu dient, ihre Präsenz und Aufsicht zu verstärken und zugleich die Erfahrung der Präsenz als Netzwerk erzeugt – wie es der Kommentar eines Lehrers zu einem Schüler verdeutlicht, der bei seinem Rundgang einen Schweif von Freunden mitgeschleppt hatte: »Statt dass wir uns auf einen Schüler konzentrieren, haben wir nun gleich einer ganzen Gruppe von Schülern unsere Präsenz verdeutlicht.«
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Präsenz als Netzwerk
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Der Rundgang Der Rundgang ist eine Regelung, bei der ein Schüler nach Übertreten der Schulregeln aufgefordert wird, während der Pause einen Rundgang zwischen den Aufsicht führenden Lehrern zu unternehmen und deren Unterschriften auf einem Formular zu sammeln. Am Ende der Pause zeigt der Schüler das unterschriebene Formular dem zuständigen Lehrer und überreicht es später seinem Klassenlehrer. Ziele des Rundgangs – Die Präsenz und Aufsicht der Lehrer verstärken. – Präsenz als Netzwerk erzeugen: Während eines Rundgangs trifft der Schüler 4 Lehrer, im Verlauf von 3 Tagen sind das 12 Lehrer. – Die Behandlung von problematischen Vorfällen an die Öffentlichkeit tragen. Der Auftrag zum Rundgang Der Lehrer, der dem Schüler den Auftrag zur Rundgangspflicht gibt, ist meist derjenige, der während des problematischen Vorfalls anwesend war. Der Rundgang ist ein Ereignis mit öffentlicher Bedeutung, unter anderem deshalb, weil das Kind während der Pause das Formular in der Hand herumträgt, und so andere Kinder darüber Bescheid wissen. Die Anzahl der Tage, an denen der Schüler zum Rundgang verpflichtet ist, wird entsprechend der Schwere des Vergehens festgelegt. Meist handelt es sich um eine Zeitspanne zwischen einem Tag und einer Woche. Besondere Fälle sind ausgenommen. Es folgt ein Beispiel: Drei Jugendliche der 9. Klasse belästigten sexuell ein Mädchen einer anderen Klasse. Nachdem die Schüler für einige Tage von der Schule suspendiert worden waren, wurde ihnen nach ihrer Rückkehr der Rundgang für den ganzen kommenden Monat auferlegt. Zusätzlich wurden Bereiche definiert, in denen sie sich aufzuhalten hatten, und ihnen wurden feste Sitzplätze während der Busfahrten zugeteilt.
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Die Anleitungen zum Rundgang Entsprechend dem Grundsatz »Aufschub der Reaktion« wird der Auftrag zum Rundgang am Ende des Schultages erteilt, bevor die Schüler die Klasse verlassen. Es ist auf einen ruhigen Ton zu achten, Predigten sollten vermieden werden und dem Schüler sollte deutlich werden, was von ihm erwartet wird, etwa so: »Du hast eine grundsätzliche Grenze der Schule überschritten, und du wirst gebeten, während der nächsten zwei Tage den Rundgang zu machen. Morgen früh kommst du um viertel vor acht zur Schule und lässt die Aufsicht führenden Lehrer dieses Formular unterschreiben. Du lässt sie wieder in der darauffolgenden großen Pause unterschreiben. Am Ende des Tages bringst du mir das Formular unterschrieben wieder.« Der verantwortliche Lehrer berichtet den Eltern von der Maßnahme und erklärt ihnen, was die Pflicht, die dem Schüler auferlegt wurde, beinhaltet. Vorausgehende Maßnahmen – Die Liste der an besagten Tagen Aufsicht führenden Lehrer muss erstellt werden. – Der Bereich, für den jeder Aufsicht führende Lehrer zuständig ist, muss definiert werden. – Die Liste der Aufsicht führenden Lehrer sollte an einem öffentlichen Ort ausgehängt werden, der für die Schüler zugänglich ist. Anleitungen für die Aufsicht führenden Lehrer Die Aufsicht führenden Lehrer werden gebeten, pünktlich in die Pause zu gehen und sich bis zum Ende der Pause in ihrem zuständigen Bereich aufzuhalten. Es ist wichtig, dass das Treffen zwischen Lehrern und Schüler zu einer Annäherung führt und nicht zur Entfremdung oder Eskalation. Das heißt, dass der Lehrer unter keinen Umständen schimpfen, den Schüler zurechtweisen oder zum Vergehen befragen sollte. Sollte sich der Lehrer mit dem Schüler unterhalten wollen, so sollten das Wohlbefinden des Schülers und positive Ereignisse die Themen bilden.
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Präsenz als Netzwerk
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Ein nachhaltiges Mittel zur Verstärkung der Präsenz in der Schule – wie auch zu Hause – ist das Schul-Sit-in. Das Sit-in in der Schule Das Sit-in ist eine Zeremonie, in der Lehrer und Eltern gemeinsam ihren Widerstand gegen die negativen Verhaltensweisen eines Kindes zum Ausdruck bringen und sich zu einer Änderung der Situation verpflichten. Das Sit-in in der Schule erfordert einiges an Organisation. Eine gute Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg des Sit-in. Die Ziele des Sit-in – Konzentriert und vereint Präsenz zeigen. – Die Aufsicht und das Netzwerk der Präsenz verstärken. – Beharrlichen Widerstand gegen das problematische Verhalten leisten. – Eine Botschaft der Unterstützung und der Bereitschaft zu vermitteln, dem Kind bei der Bewältigung seiner Schwierigkeiten helfen. Die Aufforderung an die Eltern Die Entscheidung, ein Sit-in einzuberufen, wird an dem Tag getroffen, an dem der Schüler sich inakzeptabel verhalten hat. Am gleichen Tag wendet sich der Lehrer, der die Verantwortung für den Vorfall übernimmt, telefonisch an die Eltern, beschreibt ihnen den Vorfall und stellt den geplanten Verlauf der Reaktion vor, mit einer Formulierung wie dieser: »In letzter Zeit haben sich die Vorfälle gehäuft, in denen Ihr Sohn sich Lehrern gegenüber verletzend verhalten hat. Wir haben uns entschieden, ein Sit-in mit ihrem Sohn durchzuführen, um seinen negativen Verhaltensweisen deutlichen Widerstand entgegenzusetzen. Ich möchte Sie dazu einladen, sich diesem Ereignis anzuschließen. Wir sehen Sie als Partner unserer Anstrengungen an, und ihre Anwesenheit wird die Bedeutung des Sit-in enorm vergrößern. Ihrem Kind wird dadurch verdeutlicht, dass wir gemeinsam handeln. Wir verbessern hierdurch auch die Chancen,
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
eine Lösung für das Problem zu finden. Können wir hierfür einen Termin vereinbaren, der für Sie und uns passend ist?« Der Lehrer muss die Eltern über den Ablauf eines Sit-in aufklären, mit Betonung auf der Bedeutung der gemeinsamen Anwesenheit von Eltern und Lehrern. Den Eltern wird verdeutlicht, dass, nachdem das Problem zu Beginn des Sit-in dargelegt wurde, alle Anwesenden für eine viertel Stunde schweigen sollten. In dieser Zeit soll der Schüler Vorschläge zur Lösung des Problems machen. Die Bedeutsamkeit des gemeinsamen Schweigens sollte hervorgehoben werden. Außerdem sollte klargestellt werden, dass das Sit-in einen Effekt haben kann, auch wenn der Schüler keine Lösungsvorschläge macht, da die beharrliche und unnachgiebige Präsenz der Erwachsenen die wesentliche Bedeutung des Sit-in darstellt. Sollten die Eltern nicht zu einer Zusammenarbeit bereit sein, kann ihnen gesagt werden, dass das Sit-in auch ohne sie durchgeführt wird und dass verschiedene Funktionsträger innerhalb der Schule einbezogen werden. Den Eltern sollte mitgeteilt werden, dass sie über den Ausgang des Sit-in informiert werden und dass die Schule sie weiterhin als Partner in der Auseinandersetzung mit dem Problem betrachtet. Die Durchführung des Sit-in Die kleinste Zusammensetzung des Sit-in sollte aus drei Personen bestehen, z. B. zwei Lehrern und einem Elternteil oder drei Lehrern. Sollte es sich um ein besonders schwerwiegendes Problem handeln, ist das Sit-in in größerer Zusammensetzung durchzuführen. Manchmal, bei besonders folgenschweren Problemen, werden Sit-ins durchgeführt, bei denen beide Eltern, einige Lehrer, der Vertrauenslehrer und der Schulleiter oder der Schulleitervertreter anwesend sind. Es sollte für das Sit-in mindestens eine halbe Stunde eingeplant werden. Die Teilnehmer sollten während des Sit-in keinen anderen Verpflichtungen nachkommen und keine Telefonate annehmen. Die Sitzordnung sollte aus einem Kreis bestehen und keine Front von Erwachsenen dem Schüler gegenüber bilden. Der Dis-
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Präsenz als Netzwerk
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kussionsleiter des Sit-in ist der Lehrer, der auch weiterhin die Arbeit mit dem Schüler koordinieren wird (z. B. der Klassenlehrer oder der weiter unten beschriebene Präsenzmentor, s. S. 237 ff.). Das Sit-in kann mit etwa folgender Formulierung eröffnet werden: »Wir haben uns hier wegen eines problematischen Vorfalls versammelt, der sich vor einigen Tagen auf dem Schulhof ereignet hat (hier sollte der Vorfall beschrieben werden). Wir haben uns zusammengesetzt, um einen Weg zu finden, auf dem wir das Problem lösen können, so dass solche Vorfälle nicht wieder vorkommen. Wir eröffnen vorerst die Runde damit, dass die Beteiligten von dem Vorfall selbst oder von ähnlichen Vorfällen, sollte es solche geben, berichten.« Anschließend übergibt der Diskussionsleiter nacheinander den Anwesenden das Rederecht. Dann fragt er den Schüler, ob er etwas sagen möchte. Nach dieser ersten Runde sollten die bisher aufgeführten Dinge resümiert werden. Nach der Zusammenfassung der Verhaltensweisen, die zum Sit-in geführt haben, sollten die Anwesenden gefragt werden, ob sie auch Beispiele für positive Verhaltensweisen des Kindes haben. Am Ende dieser Runde wendet sich der Leiter an den Schüler: »Wir sehen, dass – abgesehen von den problematischen Verhaltensweisen – auch positive Dinge existieren. Aber wir haben uns heute wegen des problematischen Verhaltens zusammengefunden. Deswegen werden wir jetzt hier sitzen und einen Vorschlag von dir abwarten, wie dieses Verhalten in Zukunft verhindert werden kann und wie du die Verletzung, die du verursacht hast, wiedergutmachen kannst!« Danach sollten die Anwesenden eine Viertelstunde schweigend sitzen bleiben und auf Vorschläge des Schülers warten. Sollte der Schüler mit Beschuldigungen, Verleumdungen oder Beschimpfungen antworten, so sollten die Anwesenden sich nicht in eine Diskussion hineinziehen lassen, sondern in leisem Ton sagen, dass seine negative Einstellung keine Lösung darstellt. Daraufhin kann wiederholt gefragt werden, ob er einen anderen Lösungsvorschlag hat. Sobald der Schüler irgendeinen positiven Vorschlag macht, sollte entschieden werden, wer sich mit ihm zur Klärung der Details dieser Lösung zusammensetzen wird. In diesem Fall sollte der Diskussionsleiter das Sit-in mit einer positiven
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Aussage beenden, z. B., dass das Kind eine Chance verdient hat, seine Absicht zu verwirklichen, und dass die Beteiligten die Angelegenheit weiterhin genau verfolgen werden, um den Schüler zu unterstützen und zu beaufsichtigen. Sollte der Schüler keinen Vorschlag zur Lösung machen, beendet der Diskussionsleiter das Sit-in mit der Aussage: »Da du keinen Vorschlag hast, werden wir die Angelegenheit unter uns besprechen und über eine geeignete Wiedergutmachung entscheiden, die wir mit deinen Eltern absprechen werden. Wir werden dich über unsere Entscheidung informieren und dir eine Gelegenheit geben, deine Situation zu verbessern. In jedem Fall werden wir dich weiterhin intensiv beaufsichtigen, bis das Problem gelöst ist.« Zwei Lehrer sollten sich mit den Eltern zusammensetzen, um eine Wiedergutmachung zu planen, die das Kind mit Unterstützung der Eltern durchführen kann. Den Eltern sollte mitgeteilt werden, dass die Schule gerne bereit ist, bei der Ausführung der Wiedergutmachungstat zu helfen. Für den Fall, dass die Eltern nicht zur Zusammenarbeit bereit sind, sollten Maßnahmen ergriffen werden, die den Widerstand der Schule gegen die negativen Verhaltensweisen des Schülers zum Ausdruck bringen. Außerdem sollte die Aufsicht über den Schüler verstärkt werden, z. B. können ihm die Pflicht des Rundgangs, die Begleitung eines älteren Schülers oder wiederholte Besuche beim Präsenzmentor (s. S. 237 ff.) auferlegt werden. Auf diese Weise kann die Schule einseitige Maßnahmen ergreifen, auch wenn der Schüler keinen Vorschlag zur Problemlösung gemacht hat und seine Eltern nicht zu einer Zusammenarbeit bereit waren. Mögliche Reaktionen des Schülers auf das Sit-in Leugnung der Tat Wenn der Schüler sein Verhalten leugnet, sollte nicht darauf eingegangen, sondern schweigend abgewartet werden. Sollte der Schüler seine Leugnungen wiederholen, kann mit leisem Nachdruck gesagt werden: »Wir warten auf einen Vorschlag, wie du dein negatives Verhalten überwinden willst.«
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Präsenz als Netzwerk
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Ignorieren Mit dieser Reaktion will der Schüler vermitteln, dass er durch das Sit-in nicht zu beeindrucken ist. Es sollte weiter geschwiegen und weitere Erklärungen sollten vermieden werden. Provokationen Sollte der Schüler während des Sit-in fluchen, schreien oder sich in irgendeiner Weise provokant verhalten, so sollten die Anwesenden sich nicht in eine Auseinandersetzung ziehen lassen oder mit Predigten oder Drohungen reagieren. Eine überzeugte Präsenz und eine beständige Aufsicht sind die am besten geeigneten Reaktionen auf Provokationen. Gewalt Falls es Befürchtungen gibt, dass der Schüler physische Gewalt anwenden könnte, sollte das Sit-in in jedem Fall nicht ohne die Eltern durchgeführt werden. Ein gewalttätiger Ausbruch führt zur sofortigen Beendigung des Sit-in. Der Schüler und die Eltern werden darüber informiert, dass die Schule weitere Maßnahmen erwägen wird. Das Sit-in ist keine Bestrafung, sondern eine Botschaft der Präsenz. Das Sit-in ist keine machtorientierte Handlung, mit der versucht wird, das Kind zu überwältigen und zu besiegen. Deswegen kann vom Schüler nicht erwartet werden, dass er seinen Kopf senkt oder Reue zeigt. Der Erfolg des Sit-in ist nicht vom Verhalten des Kindes abhängig, sondern alleine vom Verhalten der Erwachsenen. Viele Kinder ändern ihr Verhalten nach einem Sit-in, auch ohne dass sie einen Vorschlag zur Problemlösung gemacht haben. Dies ist ein Beweis dafür, dass das entscheidende Element des Sit-in nicht der Vorschlag des Schülers ist, sondern die Unnachgiebigkeit der Lehrer, die Rekrutierung der Eltern und die Bereitschaft, den Schüler weiter zu beaufsichtigen.
Das Sit-in ist ein öffentlicher Akt: Die Durchführung eines Sit-in ist nicht nur den Beteiligten bekannt, sondern einem weiten Kreis von Schülern (in der Klasse oder in der ganzen Schule) und Erwachsenen. An manchen Schulen, die das Interventionsprogramm
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
übernommen haben, wurde über den Verlauf jedes Sit-in in der Schulzeitung oder auf der Internetsite berichtet, ohne dabei den Namen des betroffenen Schülers zu nennen. Dies ist eine Möglichkeit, den öffentlichen Charakter des Sit-in zum Ausdruck zu bringen. Dieser öffentliche Charakter macht den Unterschied zwischen einem Sit-in und dem üblicherweise durchgeführten disziplinierenden Gespräch deutlich. In letzterem wird das Kind von der Autoritätsperson getadelt und erhält eine Bestrafung. Das Ziel liegt darin, das Kind zu überzeugen oder abzuschrecken. Wird dieses Ziel nicht erreicht, so hat das disziplinierende Gespräch seinen Sinn verfehlt. Demgegenüber ist das Sit-in ein Ereignis, das das Engagement der Schule deutlich macht. Durch den öffentlichen Charakter wird das Ereignis dem privaten Kontext entzogen. Ihm wird dadurch Nachdruck verliehen. Gleichzeitig repräsentiert es ein bestimmtes Bild der Schule nach außen. Das Sit-in ist eine Zeremonie, die nicht nur das Kind zu beeinflussen sucht, sondern alle unmittelbar Beteiligten sowie diejenigen, die darüber in irgendeiner Weise informiert werden. Zeremonien sind geeignet, den kulturellen Werten einer Gemeinde Ausdruck zu verleihen, ihre moralischen Wertvorstellungen zu betonen und das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl zu verstärken. Die Zeremonie des Sit-in ist Ausdruck der Prinzipien von Präsenz, wachsamer Sorge und gemeinsamem gewaltfreiem Kampf. Das Sit-in fungiert auch als Übergangszeremonie, die den Wendepunkt zwischen den Ereignissen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein Beispiel Sabine war eine begabte Schülerin in der Oberstufe. Sie war bei ihren Klassenkameraden beliebt und leistete viele Beiträge zu den Veranstaltungen der Jahrgangsstufe. Trotzdem fehlte sie an vielen Schultagen, schwänzte Unterrichtsstunden in der Mitte des Tages und legte ein unverschämtes Verhalten Lehrern gegenüber an den Tag. Es wurden diesbezüglich schon etliche Gespräche mit ihr geführt, anfangs nur mit der Klassenlehrerin, später gemeinsam mit ihren Eltern, der Klassenlehrerin und einigen Fachlehrern. Nach einem weiteren Vorfall, bei dem sie während des Unterrichts rauchend vor dem Schultor erwischt wurde und sie daraufhin die Klassenlehrerin,
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Präsenz als Netzwerk
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die sie ermahnt hatte, beschimpfte, entschloss sich die Schule, ein Sit-in einzuberufen. Dem Sit-in ging eine Planung mit dem Lehrpersonal und eine Absprache mit den Eltern voraus. Das Sit-in wurde im Zimmer des Schulleiters durchgeführt. Teilnehmende waren die Klassenlehrerin, der Schulleiter, die Eltern, der Vertrauenslehrer und zwei Fachlehrer. Die Anwesenden saßen im Kreis und warteten auf Sabine. Als diese eintrat, lud der Schulleiter sie ein, auf dem für sie vorgesehenen Stuhl Platz zu nehmen. Sie setzte sich überrascht, hatte sie doch nicht erwartet, so viele Lehrer anzutreffen, ganz zu schweigen von ihren Eltern. Die Klassenlehrerin eröffnete das Sit-in und beschrieb den Vorfall vor dem Schultor. Sie fügte hinzu: »Das ist ein schwerwiegender Vorfall, und wir haben uns hier zusammengefunden, um einen Weg zu finden, damit sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Aber vorher lasst uns hören, ob es noch weitere Beispiele für andere negative Verhaltensweisen gibt.« Eine Lehrerin erzählte von Sabines vielen Fehlstunden. Eine andere Lehrerin erzählte von ihrem unverschämten Verhalten Lehrern gegenüber. Ihre Eltern sagten, dass sie sich um sie sorgten und alles tun würden, um eine Lösung zu finden. Am Ende der Runde wandte sich die Klassenlehrerin an Sabine und fragte sie, ob sie etwas sagen wolle. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Die Klassenlehrerin machte deutlich, dass die erwähnten Vorfälle dazu führen würden, dass Sabine einen schlechten Ruf an der Schule bekommen würde, obwohl sie auch ganz andere Seiten von Sabine kenne. Die Anwesenden pflichteten dem bei und betonten Sabines Beitrag zur Klassengemeinschaft. Die Eltern erzählten von ihren positiven Seiten zu Hause, und eine Lehrerin erinnerte sich an einen Vorfall, den sie beobachtet hatte, bei dem Sabine sich für eine Mitschülerin eingesetzt hatte, die unter den Schikanen andere Schüler litt. Nach einer kurzen Pause wandte sich die Klassenlehrerin an Sabine und sagte: »Diese positiven Dinge sind uns sehr wichtig. Aber wir haben uns heute wegen deiner problematischen Verhaltensweisen getroffen. Wir werden gemeinsam hier sitzen und auf einen Vorschlag von dir warten, wie das Problem gelöst werden kann, so dass solche Verhaltensweisen aufhören.« Nach diesen Worten legte sich ein Schweigen über das Zimmer. Sabine neigte ihren Kopf und schwieg auch. Nach einer viertel Stunde des
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Schweigens fragte die Klassenlehrerin Sabine, ob sie einige Tage zum Nachdenken wolle. Sabine nickte. Daraufhin schloss die Klassenlehrerin das Sit-in mit den Worten: »Mir scheint, dass wir alle einer positiven Lösung des Problems Gelegenheit geben wollen. Wir werden warten und sehen, ob in einigen Tagen ein Vorschlag kommt. In der Zwischenzeit werden wir dich weiter genau beaufsichtigen und dich unterstützen, bis das Problem gelöst ist.« Hiermit endete das Sit-in. Sabine ging am gleichen Tag mit den Eltern nach Hause und schloss sich für eine Stunde in ihr Zimmer ein. Am Abend bat sie ihre Eltern, ihr bei der Lösungsfindung zu helfen. Die Mutter schlug vor, zusammen einen Entschuldigungsbrief an die Klassenlehrerin zu schreiben. Sabine erklärte sich einverstanden. In den Wochen danach verhielt sich Sabine in der Schule vorsichtig und zurückhaltend. Allmählich kehrte ihr normaler Aktivitätssinn wieder, aber sie verwickelte sich nicht mehr in Probleme. Zwei Monate später teilte sie ihren Eltern und Freunden mit, dass sie das Rauchen aufzugeben beabsichtige.
Präsenz im Klassenzimmer Das Prinzip der Präsenz gilt nicht nur für die öffentlichen Bereiche der Schule, sondern auch für das Klassenzimmer. Die Klasse unterliegt der Verantwortung des Lehrers, d. h., er sollte die Verhaltensregeln in der Klasse vorschreiben und auf deren Einhaltung bestehen. Bei fehlender Präsenz des Lehrers besteht Gefahr, dass Mobber das entstandene Vakuum übernehmen, der Mehrheit ihren Willen aufdrücken und Kinder, die hin- und hergerissen sind, in eine negative Richtung ziehen. Um dies zu verhindern, sollte der Lehrer die Klasse mit der Überzeugung betreten, dass es sich um sein Territorium handelt, das unter seine Autorität und Verantwortung gestellt wurde. Die Schüler sollten das Klassenzimmer als Ort erleben, in dem der Lehrer beständig präsent ist – als Person, die die Aktivitäten in der Klasse lenkt und auch dann präsent ist, wenn die Schüler selbständig arbeiten. Dem Lehrer stehen einige Hilfsmittel zur Verfügung, um seine Präsenz im Klassenzimmer zu etablieren:
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Präsenz im Klassenzimmer
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Die Klassenlehrerin sollte schon zu Schuljahrsbeginn das Klassenzimmer als ihr Territorium definieren, das sie zu verwalten hat.2 Sie sollte vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde in die Klasse kommen und Vorbereitungen für den Empfang der Schüler treffen. Sie kann z. B. an den Stühlen Zettel mit den Namen der Schüler anbringen, um deren Sitzplätze festzulegen. Diese Zeichen der Präsenz der Klassenlehrerin vermitteln die Botschaft: »Ich war hier und habe die Klasse für euer Kommen vorbereitet!« Etwa eine viertel Stunde vor Unterrichtsbeginn sollte die Klassenlehrerin neben der Tür stehen und die ankommenden Schüler begrüßen. Bei dieser Gelegenheit kann sie jeden Schüler mit einem Formular ausstatten, in dem er seine persönlichen Daten angibt, und ihn auf seinen Sitzplatz weisen. Das Willkommen und die Markierung der Sitzplätze stellen einen persönlichen Bezug zu jedem Schüler her, verdeutlichen aber auch die Stellung der Lehrerin als Autoritätsperson in der Klasse. Mit der persönlichen Anrede jedes Schülers zeigt die Klassenlehrerin, dass sie an den Schüler noch vor seinem Eintreffen gedacht hat. Auch dies ist Ausdruck der Lehrerpräsenz und der Personen bezogenen Aufsicht. Die Markierung der Sitzplätze macht den Schülern deutlich, dass die Lehrerin die Verhaltensregeln in der Klasse bestimmt. Mit diesen Handlungen vermittelt die Lehrerin zweierlei: »Ich bin persönliche präsent, und ich leite meine Klasse!« Lehrer widersetzen sich häufig der Forderung, dass sie über die Sitzplätze entscheiden sollen, vor allem in den älteren Klassen. Wenn die Schüler jedoch die Sitzplätze selbst wählen, setzen sich die guten Schüler meist in die erste Reihe (damit der Lehrer sie beachtet) und die problematischen Schüler wählen die letzte Reihe (damit der Lehrer sie nicht beachtet). Der Forscher Fred Jones (2000) wies darauf hin, dass in den schwierigen Vierteln von Los Angeles die Sitzplätze der letzten Reihe im Klassenzimmer als unanfechtbares Territorium einiger bekannter Mobber galt. Wenn diese Mobber nicht zum ersten Schultag erschienen, wagte es kein anderer Schüler, ihre Plätze zu besetzen. Dies ist ein markantes Beispiel dafür, dass die Mobber die Regeln bestimmen, wenn die Lehrer diese Aufgabe nicht über2 Einige der hier aufgeführten Mittel zur Präsenz des Lehrers wurden bei Jones (2000) beschrieben.
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
nehmen. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass die Zuordnung der Sitzplätze durch die Lehrer unter den Schülern einiges Aufsehen erregen wird. Deswegen empfiehlt es sich, dass diese Regelung vom Direktorat unterstützt wird. Wenn Eltern und Schüler frühzeitig eine Benachrichtigung über die Regelung erhalten, sollte kein bedeutender Widerstand zu erwarten sein. Hiermit demonstrieren die Lehrer vor Schuljahrsbeginn ihre Präsenz in ihrer Klasse und haben hierin Rückendeckung von der Schulleitung. Ein Formular mit den Daten des Schülers (inklusive der Telefonnummern von zu Hause und der Handynummern beider Eltern) liefert dem Lehrer ein weiteres wertvolles Mittel zur Verstärkung seiner Autorität. Das Formular symbolisiert die greifbare Option des Lehrers, mit den Eltern des Schülers jederzeit Kontakt aufnehmen zu können. Die überlegte Benutzung der Formulare zeigt der Klasse, dass der Lehrer der Klassengemeinschaft nicht allein gegenübersteht: Er erhält Rückhalt durch die Elternschaft und das Lehrpersonal der Schule. Jeder Klassenlehrer wird seinen eigenen Stil finden, seine Klasse zu prägen. Einer der herausragenden Klassenlehrer, die wir getroffen haben, pflegte die Schule vor Unterrichtsbeginn zu betreten, um in dem Klassenzimmer, in dem er die erste Stunde unterrichten würde, einen Guten-Morgen-Gruß mit einem Smiley-Gesicht an die Tafel zu schreiben, bevor er seinen Verpflichtungen als Präsenzmentor (s. S. 237 ff.) am Schuleingang nachkam. Somit kennzeichnete er jeden Morgen aufs Neue die Klasse als sein Territorium. Die Schüler, die die Klasse betraten, wussten damit, dass der Lehrer »schon da gewesen war«. Die Präsenz des Lehrers in der Klasse wird durch sein Auf-undab-Gehen entlang den Schulbänken weiter intensiviert. Dieses Herumgehen in der Klasse vermittelt den Schülern, dass der Lehrer nur wenige Schritte von ihnen entfernt ist. Forschungsarbeiten zeigen, dass die Anordnung der Schulbänke und die Stellung des Lehrers in der Klasse auffallend den Lärmpegel und Störungen des Unterrichts beeinflussen (Jones, 2000): In der altbekannten Anordnung, in der die Tischreihen dem Pult des Lehrers gegenüberstehen, steigt der Lärmpegel jedes Mal dann an, wenn der Lehrer sich setzt. Demgegenüber sinkt der Lärmpegel deutlich, sobald
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Präsenz im Klassenzimmer
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der Lehrer zwischen den Tischreihen umhergeht. Dieses Ergebnis weist auf den klaren Zusammenhang zwischen physischer Präsenz und Disziplin hin. Allein die Tatsache, dass der Lehrer sich hinter sein Pult setzt, vermittelt die Botschaft: »Ich bin weit weg!« Jones schlägt vor, den Tisch des Lehrers in eine Ecke zu schieben und dadurch einen freien Durchgang zwischen den Tischreihen zu schaffen, um das Umhergehen des Lehrers während des Unterrichts zu erleichtern. Außerdem schlägt er vor, den Standort der Schulbänke auf dem Boden zu markieren, um die Sitzordnung aufrechtzuerhalten. Hierfür sollte das Reinigungspersonal der Schule mit einbezogen werden, damit sie die Markierungen nicht wegwischen und die Schulbänke an ihren Standort zurückschieben. Somit werden die Putzhilfen der Schule auch Teil des Teams, das die Präsenz des Lehrers unterstützt. Die Angewohnheit, während der Unterrichtsstunde umherzugehen, eröffnet dem Lehrer weitere Möglichkeiten, seine Präsenz im Fall von Störungen zu manifestieren. Jones beschrieb detailliert den Prozess der Grenzsetzung, der eine sich steigernde Präsenz gegenüber dem störenden Schüler nach sich zieht, indem die Autorität des Lehrers auch auf Klassenebene gestärkt wird. Jeder Lehrer sollte seine Grenzen festlegen und systematisch auf jede Überschreitung dieser Grenzen reagieren. Sobald ein Schüler eine dieser Grenzen missachtet, unterbricht der Lehrer den Unterricht, wendet sich mit seinem Körper dem Schüler zu und ruft seinen Namen. Jones betont, dass der Versuch des Lehrers, den Schüler zurechtzuweisen, während er im Unterricht fortfährt, oder nur den Kopf in Richtung des Schülers zu drehen, aber sich nicht mit dem ganzen Körper dem Schüler zuzuwenden, nur eine vorübergehende Teilpräsenz vermittelt. Viele Schüler interpretieren dies als Zeichen dafür, dass sie weiterhin stören können. Demgegenüber vermittelt der Lehrer, der den Unterricht unterbricht, sich mit dem ganzen Körper dem Schüler zuwendet und ihn bei seinem Namen ruft, eine ganzheitliche und fokussierte Präsenz, die solange nicht endet, wie die Störung anhält. Jones zeigt das Dilemma des Lehrers auf, der dazu gezwungen ist, den Unterricht abzubrechen, um eine fokussierte Präsenz zu zeigen. Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass Lehrer, die bereit sind, den Unterricht zu unterbrechen, um gegenüber dem störenden Schüler
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
vollkommen präsent zu sein, einen höheren Prozentsatz der Unterrichtszeit zum Unterrichten verwenden im Vergleich zu den Lehrern, die versuchen, Störungen nebenbei abzuhandeln, ohne den Unterricht zu unterbrechen. Diese Ergebnisse führen zu der Schlussfolgerung: Wenn der Lehrer Zeit investiert, um seine Präsenz zu manifestieren, so erhöht sich die Zeit, die für das Unterrichten bleibt. Jones’ Untersuchungen zeigen auch, dass der Lärmpegel in der Klasse während der Demonstration der fokussierten Präsenz beträchtlich sinkt. Er interpretiert dies als Beweis dafür, dass die fokussierte Präsenz die Autorität des Lehrers nicht nur in den Augen des einzelnen Schülers stärkt, sondern in den Augen der ganzen Klasse. Nachdem der Lehrer den Schüler aufgerufen hat, steht er – mit seinem Körper dem Schüler zugewandt und den Augen auf den Schüler gerichtet – schweigend da, bis der Schüler seinen Stuhl zurechtrückt und sich wieder seiner Aufgabe widmet. Die Körpersprache des Lehrers ist besonders wichtig. Sie vermittelt dem Schüler: »Ich bin hier und verweile hier, egal wie lange das notwendig sein mag!« Nach zwanzig Sekunden kann der Lehrer sich wieder der Klasse zuwenden und weiter unterrichten. Sollte das Ergebnis nicht zufriedenstellend sein, weil der Schüler sich z. B. nicht wieder richtig hinsetzt, zu diskutieren versucht oder verächtlich reagiert, geht der Lehrer zur nächsten Maßnahme über: Er schreitet langsam auf den Schüler zu und bleibt etwa einen Meter vor ihm mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck stehen. In dieser Stellung verharrt der Lehrer weitere zwanzig Sekunden. Diese beständige, stillschweigende Haltung, ohne sich in eine Auseinandersetzung ziehen zu lassen, ist energischer Ausdruck einer überzeugten Präsenz. Hiermit sind die Möglichkeiten des Lehrers im Prozess der Grenzsetzung noch nicht ausgeschöpft. Sollte der Schüler abermals stören, kann der Lehrer die Schritte zur fokussierten Präsenz wiederholen und eine weitere Maßnahme hinzufügen: Er kann ein Notizbuch herausholen und den Namen des Schülers notieren. Am Ende der Unterrichtsstunde kann der Lehrer dann den Schüler zu sich rufen und ihn bitten, mit ihm im Klassenzimmer zu bleiben. Es ist ratsam, dass der Lehrer sich kurz vor Unterrichtsende der Tür nähert und von dort dem Schüler mitteilt, dass er
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Präsenz im Klassenzimmer
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im Klassenzimmer bleiben soll. Der Lehrer handelt hier als Wächter seines Territoriums. Hat der Schüler die Klasse verlassen, bevor der Lehrer ihn aufhalten konnte, kann er die nächste Stunde mit der Forderung eröffnen, dass der Schüler am Ende der Stunde im Klassenzimmer bleiben soll. Dem Lehrer stehen weitere Mittel zur Verfügung, um seine Präsenz in der Klasse zu untermauern. Sollte ein Schüler trotz der vorhergehenden Maßnahmen wiederholt stören, so kann der Lehrer das Formular mit den persönlichen Daten des Schülers herausnehmen, die Telefonnummern der Eltern auf einen Notizblock schreiben und das Blatt an die Tischplatte des Schülers heften. Diese Handlung wird von den leise, aber freundlich gesprochenen Worten begleitet: »Am Ende der Stunde werde ich entscheiden, ob ich diese Maßnahme weiterverfolge und deine Eltern einbeziehe.« Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen beschränkt sich nicht nur auf die Stärkung der Autorität des Lehrers. Sie leisten auch einen Beitrag zu seiner Fähigkeit, Eskalationen und Verwicklungen zu vermeiden. Die Manifestation der Präsenz erfordert Selbstkontrolle und das sorgfältige Vermeiden von impulsiven Reaktionen. Die Fähigkeit des Lehrers, seine Reaktionen zu kontrollieren, ist eng mit dem Gefühl verbunden, dass ihm Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die vom restlichen Lehrkörper unterstützt werden. Ein Lehrer, der das Gefühl hat, dass seine Stellung vom Ausgang einer direkten Konfrontation mit dem Schüler abhängt, wird ein Eskalieren der Situation nicht verhindern können. Ein Lehrer, der sich unterstützt fühlt und dem Möglichkeiten offenstehen, auch nach einem schwierigen Vorfall Präsenz zu zeigen, wird sich hingegen sicher fühlen und den Schülern geduldig und beharrlich seine Grenzen aufweisen. Jones Untersuchungen zeigen, dass die Bereitschaft der Lehrer deutlich zunimmt, Maßnahmen zur Grenzsetzung zu ergreifen, und dass deren Wirksamkeit verbessert wird, wenn sie im Rahmen einer Fortbildung oder einer Arbeitsgruppe eingeübt werden. Diese Übungen verhelfen unter anderem dazu, ein gutes Gefühl zu entwickeln für den Zeitrahmen, der für jede Maßnahme benötigt wird. Lehrer neigen dazu, die Wartezeiten zu verkürzen und zu hastig von einem Schritt zum nächsten zu gehen. Diese Übereilung hat zwei Gründe: zum einen das schon erwähnte Dilemma zwischen dem Fortfahren im
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Unterricht und der notwendigen Grenzsetzung, zum anderen die Empörung über erneute Störungen, die es dem Lehrer erschweren, sich zu beherrschen und ruhig und besonnen zu reagieren. Die Fortbildung hilft den Lehrern, diese Faktoren kennen zu lernen und Eile und Impulsivität zu überwinden. Das Verständnis, dass die Manifestation der fokussierten Präsenz kein Machkampf ist, bei dem der Lehrer siegen muss, erhöht die Bereitschaft, damit Erfahrungen zu sammeln. Sollten die Maßnahmen während des Unterrichts nicht zum gewünschten Ergebnis führen, kann der Lehrer dem Schüler z. B. sagen: »Dein Verhalten ist unangebracht! Ich werde mir weitere Maßnahmen überlegen und dir meine Entscheidung mitteilen!« Die Tatsache, dass fokussierte Präsenz nicht eine isolierte Technik zur Disziplinierung ist, sondern Teil eines übergreifenden Programms zur Stärkung der Präsenz der Lehrer, verleiht diesen Worten Gültigkeit. Unter diesen Bedingungen kann der Lehrer seine Selbstbeherrschung auch gegenüber einem besonders unverschämten Schüler bewahren. Er wird spüren, dass sein Status und seine Ehre nicht von der Frage abhängen, wer als Erster nachgibt. Status und Ehre verdankt er seiner Fähigkeit, auf seinem Standpunkt zu beharren und Unterstützung einzuholen.
Suspension und Präsenz Zunächst erscheinen Suspension und Präsenz unvereinbar. Suspension ist eine Bestrafung, die ihrem Wesen nach einen Kontaktabbruch beinhaltet. Sie stellt einen Verzicht auf die fortwährende Anwesenheit des Schülers in der Klassengemeinschaft dar. Die Realität an den meisten Schulen macht die Suspension als disziplinäre Maßnahme unabdingbar, auch wenn ihre Wirksamkeit eingeschränkt ist. Die Regelung der präsenten Suspension, die im Folgenden beschrieben wird, überwindet die Komponente des Kontaktabbruchs und verwandelt die Suspension in eine ganz besondere Erscheinungsform der Präsenz. Vor, während und nach der Suspension nimmt die Schule regelmäßig Kontakt zum Schüler und seinen Eltern auf und begleitet dadurch den Schüler auch im Verlauf einer Suspension. Dies erfordert einigen Aufwand. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass sich dieser Aufwand lohnt.
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Suspension und Präsenz
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Anleitung zur präsenten Suspension Das Gespräch mit den Eltern Die Eltern sollten als Partner angesprochen werden, Schuldzuweisungen sollten vermieden werden. Ein wütender Telefonanruf oder ein beschuldigender Tonfall führen zu einer ablehnenden Reaktion der Eltern. Die Eltern sollten über die Vorfälle und die Entscheidung der Schule, den Schüler zu suspendieren, informiert werden, noch bevor die Suspension in die Wege geleitet wird. Der Repräsentant der Schule sollte klarstellen, dass der Lehrer mit den Eltern und dem Kind während der Suspension in Kontakt bleiben wird. Den Eltern sollte eine mündliche und schriftliche Erklärung zur »präsenten Suspension« gegeben werden. Es ist wichtig, den Eltern die Bedeutsamkeit der Zusammenarbeit mit ihnen zu erklären und sie in ihrem Vermögen zu stärken, den Jugendlichen zu beaufsichtigen. Die Verpflichtungen des Jugendlichen sollten definiert werden. Entsprechend kann gemeinsam mit den Eltern überlegt werden, welche Aufgaben dieser während der Suspension zu erfüllen hat. Die Eltern sollten dazu ermutigt werden, sich aktiv an der Erfüllung der Aufgaben zu beteiligen. Die Aufgaben können sowohl einen unterrichtsbezogenen Inhalt haben als auch mit der übertretenen Grenze zusammenhängen. Zum Beispiel kann ein Schüler, der wegen Demolierung des Schuleigentums suspendiert wurde, dazu aufgefordert werden, in die Schule zu kommen und bei den Reparaturen und der Instandhaltung der Schule mitzuhelfen. Die Schule verpflichtet sich, die Eltern telefonisch während der Suspension zu unterstützen. Die Eltern werden gebeten, nach Ablauf der Suspension ihr Kind zur Schule zu begleiten. Ihre Anwesenheit ist notwendig, um die Wiedereingliederung des Schülers in den schulischen Rahmen zu gewährleisten. Das Gespräch mit dem Schüler Dieses Gespräch sollte im Idealfall in Anwesenheit der Eltern, des Klassenlehrers und eines weiteren Repräsentanten der Schule geführt werden. Der Vorfall sollte im Detail geschildert werden, und es sollte klargestellt werden, dass solche Verhaltensweisen
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
eine Suspension nach sich ziehen. Falls die Eltern nicht anwesend sind, sollte betont werden, dass die Suspension in Absprache mit ihnen vollzogen wird. Die Schule wird in ständigem Kontakt mit dem Kind und den Eltern stehen bezüglich der Pflichten des Schülers – sowohl während der Suspension als auch nach seiner Rückkehr an die Schule. Die Pflichten des Schülers sollten ihm im Detail erläutert werden. Die Behandlung des Schülers während der Suspension Es empfiehlt sich, dass einer der Eltern während der Dauer der Suspension zu Hause bleibt. Sollte keiner der Eltern zu Hause bleiben können, kann das Kind ein Elternteil zur Arbeit begleiten und die Aufgaben, die ihm auferlegt wurden, dort erledigen. Der Schüler sollte wie an einem normalen Schultag aufstehen. Er ist dazu verpflichtet, sich über den verpassten Unterrichtsstoff zu informieren. Hierfür wird ein tägliches Treffen mit einem Klassenkameraden vereinbart, um den durchgenommenen Unterrichtsstoff und die Hausaufgaben für die darauffolgenden Tage zu überreichen. Die Eltern sollten sicherstellen, dass das Kind diesen Verpflichtungen nachkommt. Sollten die Eltern sich hierzu nicht in der Lage sehen, kann ein Lehrer der Schule einen Hausbesuch durchführen. Der Schüler sollte daran gehindert werden, den Tag der Suspension in einen Vergnügungstag zu verwandeln. Es empfiehlt sich, ihm Computerspiele, Fernsehen oder Vergnügungen mit Freunden während der Unterrichtszeit zu verbieten. Für die Dauer der Suspension bleiben der Klassenlehrer und der Schulleiter telefonisch mit dem Schüler und seinen Eltern in Kontakt. Sie sollten den Schüler nach seinem Befinden fragen und ihm von den Ereignissen in der Schule erzählen. Das Ziel dieses Gesprächs ist die Stärkung der Präsenz des Lehrers im Leben des Schülers. Es ist nicht notwendig, wiederholt über den Vorfall und die Suspension zu sprechen. Die Behandlung des Schülers bei seiner Rückkehr in die Schule Am Tag der Rückkehr des Schülers sollten die Eltern ihn begleiten, und es sollte ein Treffen mit den involvierten Lehrern ein-
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Suspension und Präsenz
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berufen werden. Das Treffen sollte folgenden Punkten gewidmet werden: Wiedergutmachung Es sollten mit dem Schüler und den Eltern Wiedergutmachungstaten bezüglich der vorgefallenen Verletzung besprochen werden. Dem Schüler sollte sowohl die Hilfe der Eltern, als auch die Unterstützung des Lehrpersonals bei der Durchführung der Wiedergutmachung angeboten werden. Ein Plan zur Wiedereingliederung des Schülers Es sollte mit dem Schüler und den Eltern ein Plan zu seiner Wiedereingliederung ausgearbeitet werden. Es sollte nachgefragt werden, wie es für ihn einfacher gemacht werden kann, falls er Probleme mit seinen Mitschülern, dem Lernmaterial oder anderen Aspekten des Schulalltags hat. Wenn der Vorfall, der zur Suspension geführt hat, einen Konflikt mit anderen Schülern oder Lehrern betrifft, sollte dazu beigetragen werden, diese Streitigkeiten zu überwinden. Die Ausführung dieser Pläne obliegt meist dem Klassenlehrer oder dem Vertrauenslehrer. Die Dokumentation und Veröffentlichung Der Verlauf der Suspension sollte in der Schulzeitung oder auf der Internetsite veröffentlicht werden. Beispiel einer Veröffentlichung »Ein Schüler der 8. Klasse zündete mit einem Feuerzeug die Haarsträhne einer Mitschülerin an und brannte ihr ein Loch in ihren Trainingsanzug. Als Reaktion wurde der Unterricht in der gesamten 8. Stufe unterbrochen, und die Klassenlehrer führten eine Diskussion mit dem Schüler über die Schwere seines Vergehens. Der Schüler gab seine Tat zu und drückte der Mitschülerin gegenüber sein Bedauern aus. Er wurde für zwei Tage von der Schule suspendiert und dazu aufgefordert, für die Kosten des Kleidungsstücks aufzukommen. Der Polizei wurde Bericht erstattet, wie es das Gesetz und das Schulrecht für jeden Vorfall vorschreibt, bei dem jemand mit einem Gegenstand verletzt wird.«
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Die Präsenz der Eltern an der Schule Die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern ist einer der Schlüssel zur Verbesserung der schulischen Leistungen und Verhaltensweisen von Schülern. Da schulisches Versagen und Schulabbruch deutliche Determinanten im Abrutschen in den Drogenkonsum, in die Kriminalität und andere gefährdende Situationen sind, sehen wir in der Wiederherstellung des Bündnisses zwischen Eltern und Lehrern ein besonders bedeutsames Mittel zum Schutz der Jugendlichen heute und in der Zukunft. Wir haben bereits dargelegt, dass wir den Aufbau eines festen Bündnisses zwischen den zwei Parteien befürworten. Wir fügen nun ein weiteres Element hinzu: die Verstärkung der Präsenz der Eltern an der Schule. Viele Schulleiter und Lehrer bevorzugen es, dass die Eltern der Schule fernbleiben. Diese Haltung entspricht einer Logik, nach der ein Besuch der Eltern eine Schwäche des Lehrers bloßstellt. Zusätzlich haben viele Lehrer bittere Erfahrungen mit groben Einmischungen von Eltern oder von der Elternvertretung gemacht. All dies erschwert es der Schule, die nötige Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit den Eltern aufzubringen. Wir respektieren diese Befürchtungen. Deswegen neigen wir dazu, die Teile des Interventionsprogramms aufzuschieben, in denen die Präsenz der Eltern auf dem Schulhof oder in der Klasse nötig werden. Erst muss das gegenseitige Vertrauen wiederhergestellt sein. Es ist wichtig zu betonen, dass auch in den Schulen, in denen das Interventionsprogramm schon einige Jahre angewendet wird, weiterhin Lehrer zu finden sind, die darum bitten, die Präsenz der Eltern in ihrer Klasse oder vor der Klassentür zu vermeiden. In diesen Fällen ist nach alternativen Wegen zu suchen, wie die Präsenz der Eltern unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Lehrers hergestellt werden kann. Ähnlich wie die Lehrer, neigen auch die Eltern anfangs dazu, wenn die Schule um ihre Anwesenheit bittet, ablehnend zu reagieren. Sie sehen diese Anfragen als Versuch der Schule an, sich aus der Verantwortung zu ziehen und gleichzeitig die kostbare Zeit der Eltern über Gebühr zu beanspruchen. Dieses Voreingenommensein ändert sich jedoch nach einigen Besuchen in der Schule, bei
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Die Präsenz der Eltern an der Schule
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denen sie die Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Schule erleben. Eltern, die diese Erfahrungen gemacht haben, berichten, dass die Zusammenarbeit mit der Schule ihren Status zu Hause und ihre Fähigkeit, das Kind zu beaufsichtigen, erheblich verbessert hat. Die Vorbereitungen zur Einbeziehung der elterlichen Präsenz in der Schule fangen mit Schuljahrsbeginn an. Während der Vorstellung des Interventionsprogramms werden den Lehrern verschiedene Situationen beschrieben, in denen die Schule sich dazu entschließen kann, die Eltern zu einem Gespräch einzuladen oder sie bei der Bewältigung einer anderen Aufgabe um Hilfe zu bitten. Die elterliche Präsenz wird dargestellt als etwas, das im gemeinsamen Interesse des Schülers, der Eltern und der Schule liegt. Sie reduziert Gewalt und Störungen der Ordnung, verbessert die Lernfähigkeit der Schüler und stärkt die Autorität sowohl der Eltern als auch der Lehrer. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Schulbusfahrten: Einem Kind, dass sich während der Busfahrten gewalttätig verhält, wird für eine vorbestimmte Zeit die Begleitung eines Elternteils oder eines anderen Familienmitglieds auferlegt, um die Sicherheit der Busfahrten zu gewährleisten. Die elterliche Begleitung führt meist zu einer dramatischen Abnahme der Verhaltensprobleme des Kindes nicht nur während der Busfahrt, sondern auch in anderen Bereichen des Alltags. Es folgen ein paar Beispiele. Verpasste Hausaufgaben Jonas, ein 12-jähriger Junge, war zerstreut und vergesslich. Er konnte sich nie daran erinnern, welche Utensilien er in die Schule mitbringen sollte, welche Hausaufgaben er zu erledigen hatte und wann Prüfungen angesagt waren. Die Schule wandte sich mehrfach an die Eltern mit der Bitte, dass sie ihm bei der Vorbereitung der Hausaufgaben, beim Packen des Schulranzens und mit den Daten der Prüfungen helfen sollten. Irgendetwas schien jedoch immer bei der Informationsweitergabe schiefzulaufen, und Jonas kam erneut unvorbereitet in die Schule. Bei einer Besprechung mit den Eltern wurde beschlossen, eine konzertierte Aktion zur Änderung der Lage zu unternehmen. Die Mutter erklärte sich bereit, mit Jonas in die Schule zu kommen und sich von einer Lehrerin zeigen zu lassen,
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
wie die »Feedback Software« der Schule genutzt werden könnte, die unter anderem auch die nötigen Informationen zum Lehrplan und zu den Prüfungsdaten enthielt. Es wurden drei solche Sitzungen geplant, um Jonas und seine Mutter im Umgang mit der Software anzuleiten. Außerdem sollte die Klassenlehrerin jeden Morgen Jonas’ Schulranzen überprüfen und sicherstellen, dass Jonas über die anstehenden Aufgaben des Tages informiert wäre. An den Tagen, an denen die Klassenlehrerin abwesend wäre, würde ein anderer Lehrer diese Aufgabe übernehmen. Der Vater oder der Großvater sollten telefonisch benachrichtigt werden, falls Jonas nicht alle Utensilien für den Tag mitgebracht hätte. In diesem Fall würden sie Jonas in der Pause abholen, ihn nach Hause fahren, um dort die fehlenden Materialien einzusammeln und ihn dann wieder in die Schule bringen. Sollte Jonas nicht alle Hausaufgaben erledigt haben, würden der Vater oder der Großvater während der Pause in die Schule kommen und sich mit Jonas für eine Viertelstunde zusammensetzen, um die Hausaufgaben zu vervollständigen. Die Umsetzung dieser Intervention erforderte letztendlich viel weniger Aufwand, als im Voraus eingeschätzt worden war. Jonas und seine Mutter lernten den Umgang mit der Software binnen einer Stunde. Während des ersten Monats musste der Vater ein Mal während der Pause in die Schule kommen und der Großvater ein zweites Mal. Einen Monat später wurde Jonas überraschend am Ende des Schultags in das Direktorat gebeten. Er hatte sich schon auf die übliche Abwehrrede vorbereitet: »Aber ich habe doch gar nichts getan!« Die Absicht der Einladung war aber eine Auszeichnung in Anwesenheit seiner Eltern, um seine Leistungen im Kampf gegen seine Vergesslichkeit und seine Zerstreutheit anzuerkennen. Der Klassenclown Adam, ein Schüler der fünften Klasse, verwandelte sich binnen kürzester Zeit vom Schuljahrsbeginn an in den Klassenclown. In seinen Versuchen, die anderen zu beeindrucken, übertrieb er immer wieder aufs Neue in seinen Albernheiten. Er belästigte absichtlich andere Kinder, machte sich über die Bitten der Lehrer lustig und störte den Unterricht. Während einer Geschichtsstunde setzte er sich in der ersten Reihe auf den Tisch und fing an zu trommeln und zu singen. Die Lehrerin verließ die Klasse, den Tränen nahe. Adam
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Die Präsenz der Eltern an der Schule
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maßte sich auch an, andere Kinder auszulachen, die in ihrem Aussehen oder ihrem Verhalten auffällig waren. Einer dieser Vorfälle entwickelte sich zu einem heftigen Faustkampf. Adams Eltern waren über die Veränderung ihres Sohnes überrascht. Er war in der Vergangenheit ein guter Schüler gewesen. Er litt zuweilen unter Wutausbrüchen zu Hause, nie aber hatte er sich so in der Schule verhalten. Während einer Besprechung mit der Klassenlehrerin, der Schulpsychologin und der Schulleiterin brachten die Eltern viele Vorwürfe vor. Sie behaupteten, dass Adam sich so verhalten würde, weil er mit dem Etikett des Klasseenclowns versehen wurde, und dass man ihn regelrecht anschwärzen würde. Es schien beinahe unmöglich, mit ihnen eine Übereinkunft zu erzielen. Zu ihrer Überraschung sagte die Schulleiterin, dass sie ihre Vorwürfe annehme und dass sie es als ihre Pflicht sehe, alles ihr Mögliche zu tun, um den schlechten Ruf, den Adam bei Lehrern und Schülern inzwischen hatte, zu ändern. Gleichzeitig verpflichte aber der gewalttätige Vorfall – zu Adams Schutz und zum Schutz anderer –, klare Maßnahmen zu ergreifen. Sie schlug den Eltern eine Lösung vor, mit der sie gemeinsam die Gewalt abbremsen und Adams Ansehen verbessern könnten. Sie bat darum, dass ein Elternteil während der kommenden Tage gemeinsam mit Adam in die Schule kommen solle – anfangs für den ganzen Schultag und später für eine immer kürzere Zeitspanne. Sie versprach den Eltern, dass der Präsenzmentor (s. S. 237 ff.) täglich mit Adam in Kontakt stehen würde, um ihn zu beaufsichtigen und ihm positives Feedback zu erteilen. Sie sicherte zu, dass der Kampf gegen Adams schlechten Ruf genauso beharrlich sein würde wie der Kampf gegen seine negativen Verhaltensweisen. Die Bereitschaft der Schulleiterin, Zeit und Kraft zu investieren, überzeugte die Eltern, sich den Anstrengungen anzuschließen. Nach drei Tagen elterlicher Präsenz an der Schule, als der Vater sich mit seinem Sohn in einem Lernzentrum außerhalb der Klasse befand, sagte Adam voller Wut zu ihm: »Ihr versucht, mich zu einem Dummkopf zu machen, aber das wird euch nicht gelingen!« Die Psychologin nutzte diese Gelegenheit, um Adam am darauffolgenden Tag zu sagen: »Du hast Recht, dass wir tatsächlich angefangen hatten, dich ein wenig als ein bisschen albern anzusehen, aber wir fangen schon an, unsere Meinung über dich zu ändern.« Adams
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Verhalten änderte sich völlig. Er hörte mit seinen Clownerien auf und verhielt sich wieder wie ein Schüler. Gewaltsame Zweisamkeit Linda, ein 9-jähriges Mädchen, pflegte mit einer tief in die Stirn gezogenen Mütze in die Schule zu kommen, um ihr Gesicht zu verbergen. Linda war ein einsames Mädchen und litt unter den Drangsalierungen anderer. Sie hatte eine »Freundin«, Daniela, die hinter ihrem Rücken über sie herzog, zwischen Linda und anderen Mädchen Zwietracht stiftete und ihr mit der Verbannung aus dem Freundeskreis drohte. Daniela verbreitete das Gerücht, dass Lindas Mutter sie (Daniela) während des Jahresausflugs, an dem sie als Begleitperson teilgenommen hatte, geschlagen habe. Die Mutter widersprach energisch dieser Anschuldigung, und keines der anderen Kinder konnte diese Behauptung bestätigen. Die Lehrer wussten von verschiedenen Erniedrigungen zu berichten, unter denen Linda durch Daniela litt. Der Schulpsychologe und die Klassenlehrerin entschieden sich, diese Tatsachen während eines gemeinsamen Gesprächs mit den Eltern beider Kinder zu thematisieren. Sie charakterisierten die Freundschaft zwischen den zwei Mädchen als »gewaltsame Freundschaft«. Diese Definition erschütterte die Eltern, aber führte zu ihrer Einwilligung, dass die Mädchen getrennt werden sollten. Daniela und Linda wurden zum Gespräch hinzugezogen, und die Eltern teilten ihnen mit, dass es ihnen von nun an verboten sei, nebeneinander zu sitzen oder miteinander Zeit zu verbringen. Zudem schlugen die Klassenlehrerin und der Psychologe einen Plan vor, um Linda vor den Drangsalierungen, unter denen sie litt, zu schützen. Sie teilten den Eltern mit, dass der Präsenzmentor Linda genau im Auge behalten und während der Pausen Kontakt zu ihr aufnehmen würde. Gleichzeitig wurde Lindas Mutter, die ein Zentrum für Handarbeiten leitete, einige Male in die Schule eingeladen, um bei den Vorbereitungen für ein feierliches Ereignis, das der Klasse bevorstand, zu helfen. Diese Aktion führte alsbald dazu, dass sich Linda in der Klasse sicherer fühlte. Zum ersten Mal, seit sie die Schule besuchte, schaffte sie es, mit einigen Mädchen der Klasse Kontakt zu knüpfen. Trotz des Verbots verbündeten sich die beiden Mädchen aufs Neue. Nach einer weiteren Diskussion in Anwesenheit der Eltern
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Die Präsenz der Eltern an der Schule
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wurde beschlossen, das Verbot nicht zu erneuern, sondern die Beziehung der Mädchen im Auge zu behalten. Es bot sich ein anderes Bild als früher. Die Lehrer hatten den Eindruck, dass Lindas verbesserte Stellung in der Klasse dazu führte, dass sie sich von Daniela nicht mehr alles gefallen ließ. Linda knüpfte Kontakte zu weiteren Mädchen. Nach den Sommerferien zeigte sich, dass die Beziehung zwischen den beiden Mädchen ausgeglichener war als früher. Eine Klasse in Aufruhr In einer 9. Klasse kam es vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu häufigen Fehlzeiten von Schülern und es kursierten Gerüchte über Kinder, die in ihrem Schulranzen ein Messer versteckt haben sollten. Ein unbekannter Erwachsener hatte versucht, mit einigen Mädchen der Klasse telefonisch Kontakt aufzunehmen. Es stellte sich heraus, dass er ihre Telefonnummern von einer der Schülerinnen hatte. Nach einer Konferenz des Lehrkörpers wurde eine Elternversammlung einberufen. Die Schulleiterin berichtete den Lehrern von den Schwierigkeiten und teilte mit, dass die Schule darauf beharre, die Ordnung und Sicherheit in der Klasse wiederherzustellen. Sie schlug eine Maßnahme vor, bei der Lehrer und Eltern gemeinsam Präsenz zeigen sollten. Sie selbst würde mehrmals in der Woche die Klasse besuchen und einige Schüler auffordern, ihren Schulranzen auf dem Tisch auszuleeren. Sie würde die Ranzen nicht selbst ausleeren. Sollte sich ein Schüler aber weigern, der Aufforderung nachzukommen, so würden die Eltern auf der Stelle benachrichtigt und in die Schule gebeten werden. Sie gab gleichzeitig bekannt, dass der Präsenzmentor jeden Morgen die Klasse betreten würde und dort etwa 20 Minuten – jedes Mal neben einem anderen Schüler – verweilen würde. Es wurde auch beschlossen, einigen Kindern, die gewalttätig geworden waren, drei Wochen lang »Leibwächter« aus der 12. Klasse an die Seite zu stellen. Im Gegenzug sollte während der nächsten drei Monate jeden Tag einer aus der Elternschaft in der Schule anwesend sein. Die Eltern würden sich den ganzen Morgen in der Klasse aufhalten und sich während der Pausen einem Aufsicht führenden Lehrer auf dem Schulhof anschließen. Die Aufrichtigkeit und die Bereitschaft der Schulleiterin, selbst Zeit zu investieren, führten zu einer eindrucks-
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
vollen Zusage der Eltern. Die Atmosphäre in der Klasse verbesserte sich schnell. Diese positive Entwicklung verbesserte erheblich die Beziehung zwischen Eltern und Lehrern – nicht nur in besagter Klasse, sondern an der ganzen Schule.
Je mehr die Prinzipien der neuen Autorität Gestalt gewinnen, desto mehr wird die Präsenz der Eltern an der Schule üblich und selbstverständlich. Eltern verbringen Zeit mit ihrem Kind in der Klasse und auf dem Schulhof; sie sind bei den Busfahrten dabei und nehmen an der Begrüßung am Schultor teil; sie kommen am Nachmittag, um bei »Öffentlichkeitsarbeiten« mitzuhelfen, die den Schülern wegen der Überschreitung von Schulregeln auferlegt wurden. Manchmal kommen auch andere Familienmitglieder, in einem Fall kamen abwechselnd der Großvater, die Großmutter und zwei Onkel, um den Schüler durch den Schultag zu begleiten. Die Besuche der Eltern in der Schule brechen ein Tabu. Ein Schüler, dessen Eltern für mehrere Stunden in der Klasse sitzen, versteht alsbald, dass sich die Spielregeln geändert haben. Die Überwindung der ersten Hürde ermöglicht es manchen Eltern, weitere Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen, z. B. Aufenthaltsorte aufzusuchen, an denen sich ihr Sohn unerlaubterweise in der Nacht aufhält. Zugleich wagen auch die Lehrer, ihre Präsenz im Leben des Kindes auszudehnen. Ein Hausbesuch, der vorher als ein Eindringen in unerlaubtes Territorium empfunden wurde, kann sich also regelrecht anbieten, besonders dann, wenn die Eltern des Kindes schon einmal in der Klasse anwesend waren. Das Potenzial, das in der Verstärkung der elterlichen Präsenz an den Schulen liegt, ist sogar noch größer, als es durch die bisher beschriebenen Beispiele deutlich wird. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist das Programm des Marlborough-Familienzentrums in London (Asen, 2009). Das Programm entstand, um Kinder aufzufangen, denen wegen ihrer schwerwiegenden Verhaltensprobleme ein Schulverweis drohte. Die Kinder konnten für einen bestimmten Zeitraum das Marlborough-Familienzentrum besuchen. Bedingung war jedoch die Einwilligung der Schule, dass der Schüler weiterhin an einem Tag in der Woche die Schule für einige Stunden in Begleitung eines Elternteils besuchte. Auf diese Weise wurde der Kontakt zwischen dem Schüler und der Schule ge-
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Präsenzmentor
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wahrt. Gleichzeitig wurde die Idee der elterlichen Präsenz an den Schulen eingeführt. Auch den Eltern wurde eine Bedingung gestellt: Ein Elternteil musste sich verpflichten, mit dem Kind zum Marlborough-Familienzentrum zu kommen und dort den Tag zu verbringen.3 Während des Aufenthalts im Familienzentrum lernten die Eltern, sich gegenseitig zu unterstützen, positiv zu kommunizieren, in der Auseinandersetzung mit dem Kind Eskalationen zu vermeiden und wie sie ihr Kind beaufsichtigen könnten. Die Besuche in der vorigen Schule waren anfangs nur kurz, dehnten sich aber allmählich aus. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden Eltern und Kinder zu Botschaftern des Interventionsprogramms im gesamten Schulsystem. Nach und nach wurden an einigen Schulen Elterngruppen gegründet, die nach ähnlichen Prinzipien handelten. Auf diese Weise verbreiteten sich die Interventionsprinzipien in einer Art Schneeballsystem. Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Das Erscheinen der Eltern, das anfangs ungewöhnlich wirkt, wird allmählich zur Norm und trägt wesentlich zur positiven Veränderung der allgemeinen schulischen Atmosphäre bei.
Präsenzmentor Das Tempo, in dem Lehrer die Prinzipien unseres Interventionsprogramms verinnerlichen, ist nicht einheitlich. Viele Lehrer brauchen eine Person, die die wesentlichen Prinzipien veranschaulichen und sie bei der praktischen Durchführung unterstützen kann. Der Präsenzmentor ist ein Lehrer, der vom führenden Arbeitsgremium für diese Rolle ernannt wird. Er kennt das Konzept in all seinen Einzelheiten und identifiziert sich mit dessen Wertvorstellungen und Zielen. Seine Aufgaben:
3 Diese Bedingung war erfüllbar, da die meisten Familien vom Sozialamt unterstützt wurden und meist ein Elternteil arbeitslos war. In anderen Fällen nahmen Eltern, die beide berufstätig waren, gern die notwendigen Veränderungen in ihrem Arbeitsalltag in Kauf, um dadurch eine mög liche Einweisung des Kindes in ein Internat für jugendliche Kriminelle abzuwenden.
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
– Unterstützung, Beratung und Anleitung der Lehrer, welche Maßnahmen sie zur Verstärkung ihrer Präsenz ergreifen können; – Hilfestellungen für die Beziehung zwischen Lehrern und Eltern; – die Ernennung von Lehrern für die verschiedenen Aufgaben zur Verstärkung der Lehrerpräsenz; – die Koordinierung von Sit-ins und »Öffentlichkeitsarbeiten«, d. h. eine Verpflichtung, die einem Schüler auferlegt wird, z. B. nach Schulschluss in die Schule zu kommen, um dort Reparaturen durchzuführen oder eine andere Form der Wiedergutmachung zu leisten; – das Erstellen der Formulare, die mit dem Interventionsprogramm zusammenhängen, z. B. Formulare für den Rundgang, Elternbriefe, Anerkennungsurkunden für verbessertes Verhaltens u. Ä. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Logik der Autorität früherer Zeiten und der neuen Autorität im Schulsystem liegt in der Definition der Aufgabe des Präsenzmentors. Früher gab es meist einen Lehrer, der für die Durchführung von Disziplinarverfahren verantwortlich war. Der Präsenzmentor ersetzt diese Aufgabe, muss sie aber mit einem ganz anderen Inhalt füllen. Frühere Disziplinverfahren waren darauf ausgerichtet, Schüler für Übertretungen der Schulregeln zu bestrafen. Demgegenüber besteht die Aufgabe des Präsenzmentors darin, den Lehrern zu helfen, wenn Probleme auftreten. Es überrascht nicht, dass es heutzutage an Schulen keinen Verantwortlichen für Disziplinarverfahren mehr gibt. Niemand möchte derjenige sein, vor dem sich alle fürchten. Der Präsenzmentor erfüllt eine ganz andere Aufgabe. Seine Funktion besteht darin, positiv, unterstützend und Halt gebend zu handeln. Seine Aufgabe hat nichts mit Einschüchterung oder Bestrafung zu tun. Die Bereitschaft eines Lehrers, als Präsenzmentor zu agieren, ist eine andere als die Bereitschaft, die Verantwortung für Disziplinarverfahren zu übernehmen. Folgendes eindrucksvolles Beispiel eines Präsenzmentors veranschaulicht den persönlichen und gesamtschulischen Einfluss dieses Aufgabenbereichs.
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Präsenzmentor
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»Mr. Präsent« Diesen Spitznamen erhielt Meir4, Präsenzmentor an einer israelischen Grundschule. Er wurde aufgrund seiner persönlichen Präsenz und seiner Fähigkeit, die Präsenz anderer zu stärken, zum Symbol des Interventionsprogramms: Vor jedem Schuljahrsbeginn setzt sich Meir mit jeder Klassenlehrerin hin und plant mit ihr die Telefonrunde mit den Eltern der jeweiligen Klasse. Die meisten Eltern ruft die Klassenlehrerin persönlich an, aber bei problematischen Fällen ist Meir während des Telefonats anwesend. Meir schlägt vor, das Gespräch mit der Frage zu beginnen: »Was kann ich tun, damit Sie am Ende des Jahres sagen: Was für eine hervorragende Klassenlehrerin hat mein Sohn doch!« Am Ende des Gesprächs wünscht Meir der Klassenlehrerin und den Eltern eine gute und enge Beziehung für das kommende Schuljahr. Er hilft bei der Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Kontakts mit den Eltern, der in Form von Telefongesprächen, Einladungen in die Schule in überschaubaren Zeitabständen und bei besonderen Gelegenheiten auch in Form von Hausbesuchen besteht. Er ruft Eltern und Kinder an, um ihnen zum Geburtstag zu gratulieren, um ihnen im Krankheitsfall gute Besserung zu wünschen oder um das Kind für seine Leistungen zu loben. Diese Initiativen führen zu einer enormen Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Eltern. Eltern sagen oft: »Ich hätte nie im Leben eingewilligt, in die Schule zu kommen, um neben meinem Sohn in der Klasse zu sitzen. Ich bin nur gekommen, weil Meir mich darum gebeten hat. Dann musste ich feststellen, dass es eine sehr gute Idee ist!« Die Lehrer, mit denen Meir eng zusammenarbeitet, erleben seine Anteilnahme und Unterstützung. Er trifft sich mit jeder Klassenlehrerin ein Mal monatlich, um die Situation in der Klasse zu besprechen und über problematische Schüler zu reden. Das Gespräch dreht sich nicht nur um die Schüler, die Verhaltensprobleme aufweisen, sondern auch um Kinder, die Außenseiter sind oder deren Verhalten sich kürzlich verändert hat. Diese Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil des »Alarmsystems« der Schule, um gefährdete Kinder ausfindig zu machen. Sollte die Klassenlehrerin daran interessiert sein, besucht Meir die Klasse während des Unterrichts, um einen 4 Meir Davidesku, Präsenzmentor der Kaplan-Schule in Hadera (Nordisrael).
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Schüler zu einem klärenden Gespräch außerhalb der Klasse einzuladen oder um für einige Minuten neben ihm zu sitzen. Das Ziel solcher Maßnahmen ist meist nicht auf einen einzelnen Schüler beschränkt, sondern auf die ganze Klasse. Auch die Schulleiterin wird in die Planung der gesteigerten Lehrerpräsenz einbezogen. Meir erscheint jeden Morgen vor Schulbeginn am Schuleingang, begrüßt die Ankommenden oder erzählt ihnen etwas Positives, das er über sie von der Klassenlehrerin erfahren hat. Seine Präsenz am Schuleingang hat zu einem enormen Rückgang von Verspätungen, unpassender Kleidung und ungehörigem Verhalten geführt. Die Schüler beginnen den Schultag mit dem Gefühl von Anteilnahme und Aufsicht. Meir geht während der Pausen auf dem Schulhof umher, wobei zwei Stifte deutlich sichtbar aus seiner Hemdtasche gucken. Er schaut um sich und notiert demonstrativ bestimmte Ereignisse. Meist ruft er diejenigen, deren Namen er aufschreibt, nicht direkt zur Ordnung. Aber die Schüler wissen nur zu gut, dass Meir im Laufe der nächsten zwei Tage in die Klasse kommen und sie zu einem Gespräch einladen wird. Ihm stehen eine Reihe von Maßnahmen zur Verstärkung seiner Präsenz zur Verfügung. Die häufigste ist, dass er den Schüler zum Sekretariat schickt, damit er sich dort hinsetzt und darüber nachdenkt, warum er gerufen wurde. Meir kommt alle zehn Minuten zum Schüler und fragt ihn: »Und, hast du eine Idee?« Wenn der Schüler antwortet, dass er nicht wisse, was Meir von ihm wolle, antwortet Meir: »Dann hasst du wohl noch nicht genügend nachgedacht! Ich komme in zehn Minuten wieder.« Die anderen Maßnahmen zur Verstärkung der Präsenz sind das Sit-in, die Einladung an die Eltern, das Kind in die Schule zu begleiten und in der Klasse zu verweilen, oder die Planung von Wiedergutmachungstaten zusammen mit dem Schüler und seinen Eltern. Der Kontakt mit den Schülern beschränkt sich nicht auf Disziplinierung. Die Schüler wissen, dass Meir auch positive Vorfälle notiert. Diese Notizen stellen eine Gelegenheit dar, dem Schüler oder seinen Eltern auch positive Eindrücke mitzuteilen. Im Kontakt mit den Schülern achtet Meir darauf, die Beziehung zur Klassenlehrerin hervorzuheben. Er berichtet dem Schüler über jede positive Bemerkung der Klassenlehrerin und verweist ihn jedes Mal, wenn er zu ihm kommt, um ihm etwas zu erzählen, an die Klassenlehrerin: »Hast du das schon deiner Lehrerin erzählt?« Wenn ein Schüler zu
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Präsenzmentor
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ihm kommt, um ihm ein Formular vorzuzeigen – z. B. das Begleitungsformular –, fordert er den Schüler auf, dieses auch der Klassenlehrerin zu zeigen. Beispiel Samuel Samuel war ein Träumer. Meir und seine Klassenlehrerin beschlossen, sich für eine Woche Samuels intensiv anzunehmen, um seine Situation ins Positive zu verändern. Die beiden vereinbarten, dass Meir jeweils für kurze Zeit in die Klasse kommen und sich neben Samuel setzten sollte. Bei seinem ersten Besuch in der Klasse fand Meir Samuel auf seinem Stuhl schaukelnd und vor sich hinstarrend vor. Der Schulranzen lag hinter ihm auf dem Boden und sein Tisch war leer. Meir wandte sich an ihn und sagte leise: »Steh auf!« »Was hab ich denn gemacht?« »Wo ist dein Schulranzen, bist du ein Schüler ohne Schulranzen? Bring deinen Ranzen, und wir können gemeinsam die Sachen rausholen und auf deinen Tisch legen!« Nachdem sie die nötigen Sachen aus dem Ranzen genommen hatten, setzte sich Meir für zehn Minuten neben Samuel und achtete darauf, dass dieser die Worte der Lehrerin zusammenfasste. Nach zehn Minuten lobte er: »Toll, alle Achtung! Ich komme in einer viertel Stunde noch Mal, dann will ich sehen, was du alles vom Unterricht aufnehmen konntest und was du aufgeschrieben hast!« Nach einer viertel Stunde kam Meir wieder, setzte sich für weitere fünf Minuten neben Samuel. Während der Pause suchte er Samuel auf und klopfte ihm auf die Schulter. Abends rief er die Eltern an, um ihnen von Samuels Verhalten in der Klasse zu berichten, während er auch die Fortschritte hervorhob – wie klein auch immer –, die sich in Samuels Verhalten zeigten. An einem der nächsten Abende besuchte Meir die Eltern, saß mit ihnen im Wohnzimmer und erzählte ihnen von den neusten Fortschritten ihres Sohns. Samuel saß in seinem Zimmer und sah durch die Tür, wie Meir mit seinen Eltern im Wohnzimmer Kaffee trank. Am Ende des Besuchs klopfte Meir an Samuels Tür und lobte ihn für seine enormen Fortschritte während der letzten Woche. In den darauffolgenden Wochen verringerten Meir und die Klassenlehrerin schrittweise ihre Präsenz.
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
Das Alarmsystem Um die Sicherheit der Schüler und des Lehrpersonals zu gewährleisten, muss die Schule mit einem Alarmsystem ausgestattet sein, das es ihr ermöglicht, Alarmsignale zu erkennen, diese zu bewerten und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Notfallpläne neigen dazu, sich im Alltag abzunutzen, deswegen müssen sie regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht werden. Der Grund zur Abnutzung liegt darin, dass diese Pläne nur in Ausnahmefällen zur Geltung kommen. Notfälle kommen nicht jeden Tag vor, und im Alltag neigt man dazu, den Notfall in Vergessenheit geraten zu lassen. Das vorliegende Konzept bietet deutliche Vorteile in Notfällen und Gefahrensituationen. Das Grundkonzept der Intervention, das in Präsenz und Aufsicht besteht, führt zum Aufbau eines Frühwarnsystems und stellt Mittel zur sofortigen Reaktion zur Verfügung, so dass die Schule für eventuelle Notfälle optimal gerüstet ist. Dieses Alarmsystem nutzt sich nicht so leicht ab, da seine Funktionen nicht den Ausnahmezuständen vorbehalten sind, sondern einen integralen Teil der alltäglichen Routine der neuen Autorität darstellen. Die Forschungen über Vorfälle von Verletzungen anderer oder Selbstverletzungen an Schulen kommen zu einem sehr wichtigen Ergebnis: Der Versuch, solche Vorfälle im Vorfeld abzufangen, indem frühzeitig ein Persönlichkeitsprofil eines problematischen Schülers erstellt wird, ist unrealistisch. Gleichzeitig machen die Forschungsergebnisse deutlich, dass die meisten Fälle schwerer (Selbst-)Verletzungen von einer eindeutigen Drohung begleitet werden, sei es, dass die Absichten vorher bekannt gegeben werden, sei es, dass das Kind durch Handlungsweisen auffällt, die diese Absichten klar erkennen lassen (Cornell und Williams, 2006). Diese Befunde veranlassten das FBI in den Vereinigten Staaten, Alarmsysteme für Schulen zu entwickeln, die auf die Erkennung solcher Drohungen und entsprechende Reaktionen abzielen, anstatt sich auf die Persönlichkeitsprofile problematischer Kinder zu stützen (O’Toole, 2000). Der Erfolg dieses Ansatzes ist in weitem Maße von der Bereitschaft der Schüler abhängig, über mögliche Drohungen Bericht zu erstatten. Hier finden wir einen weiteren Vorteil unseres Interventionskonzepts: Unsere Forschungsarbeiten
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Das Alarmsystem
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zeigen, dass das Interventionsprogramm das Vertrauen der Schüler in das Lehrpersonal und in dessen Fähigkeit, Gewaltvorfälle erfolgreich zu handhaben, wesentlich steigert. Die Folge davon ist auch eine größere Bereitschaft der Schüler, Informationen an die Erwachsenen weiterzugeben (Omer et al., 2006). Das erhöhte Vertrauen von Seiten der Schüler galt auch für diejenigen Schüler, die mit Selbstmord drohten: Schüler, die das Lehrpersonal als präsent und vertrauenswürdig erleben, werden eher bereit sein, Hilfe zu suchen. Die Verstärkung der Präsenz verwandelt die Schule in ein Netzwerk, das mit relativ hoher Sensibilität Anzeichen von Not oder Bedrängnis wahrnimmt. Maßnahmen wie eine regelmäßige Präsenz in den Schulgängen, auf dem Schulhof und im Eingangsbereich der Schule, eine enge Kommunikation mit den Eltern und die Möglichkeit der anonymen Berichterstattung per Telefon oder E-Mail verbessern sichtlich die Fähigkeit des Lehrkörpers, Anzeichen von Not und Bedrohung zu erkennen. Ein effizientes Frühwarnsystem begnügt sich jedoch nicht mit der Ermutigung zur Berichterstattung und dem Erkennen von Anzeichen von Not oder Gefahr. Es stellt auch Mittel zur Verfügung, um das Ausmaß der Gefahr systematisch einzuschätzen und die Situation durch vorgegebene Verfahrensweisen zu meistern. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um zwei verschiedene Stufen der Gefahrenabwendung, sondern um eine regelrechte Verknüpfung von Handlungsabläufen im Hinblick auf das Prinzip der »Obhut«. Es verkörpert die »wachsame Sorge«, die wir geschildert haben, auf der Ebene der ganzen Schule. Es baut auf der Überzeugung auf, dass die Schule nicht einfach über den Fall Bericht erstatten und die Behandlung des Falls anderen Funktionsträgern überlassen kann. Stattdessen ist die Schule verpflichtet, eine Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und außerschulischen Funktionsträgern zur Bewältigung der Schwierigkeiten anzustreben. Ein weit verbreiteter Fehler in diesem Zusammenhang ist die Tendenz, zu verlangen, dass das Kind, das sich gewalttätig verhält oder ein destruktives Verhalten an den Tag legt, sich einer Psychotherapie unterziehen solle als Bedingung dafür, dass es weiterhin an der Schule bleiben kann. Diese Tendenz schadet der Autorität der Schule und schwächt ihre Fähigkeit, mit dem Problem fertig zu werden. Die Überweisung führt dazu, dass das Problem hinter
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
verschlossenen Türen behandelt wird. Das Problem wird sozusagen als Geheimnis gehütet. Diese Bedingungen verstärkten jedoch meist die Verhaltensprobleme. Die Forderung, dass sich das Kind einer Psychotherapie unterziehen soll, schadet auch dem Bündnis mit den Eltern, die dadurch das Gefühl haben, dass die Schule sich der Verantwortung entzieht. Wird die Frage ignoriert, ob das Kind mit einer Therapie einverstanden ist oder ob die Eltern diese Therapie finanzieren können, vertieft sich das Zerwürfnis. Die Chancen einer Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern nehmen daher ab, infolgedessen wird die Autorität der Eltern und der Lehrer weiter geschwächt. Und schließlich sinken bei jeder aufgezwungenen Therapie die Erfolgschancen deutlich. Die Situation ist eine andere, wenn die Schule einen Psychologen, einen Berater oder andere Funktionsträger in die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Problem einbezieht. Die Fachkräfte werden dann Teil des unterstützenden Teams für den Schüler, die Eltern und die Lehrer. Eine Schule, die nach diesen Prinzipien handelt, wird solche Fachkräfte bevorzugen, die zu einer Zusammenarbeit bereit sind, statt solche, die dazu neigen, sich mit dem Problem in ihrer therapeutischen Praxis einzuschließen.
Das Obhut-Kollegium Die Aufgabe dieses Obhut-Kollegiums besteht darin, empfangene Alarmsignale zu prüfen, ihre Dringlichkeit einzuschätzen, die notwendigen Funktionsträger zu informieren, einen Aufsichtsplan zu erstellen und über weitere Handlungsmaßnahmen der Gefahrenabwendung zu entscheiden. Dem Obhut-Kollegium gehören im Notfall auch außerschulische Funktionsträger an. Der Kern sollte sich jedoch aus dem Lehrpersonal der Schule zusammensetzen. Es hat sich als sinnlos erwiesen, in Notlagen außerschulischen Fachkräften die Aufgabe zu überlassen, das Ausmaß der Gefahr einzuschätzen und entsprechende Bewältigungsstrategien einzuleiten. Diese Funktionsträger kennen weder die Kinder noch die Umstände und müssen daher kostbare Zeit für die Auswertung dieser Fakten vergeuden, die dem Lehrpersonal schon bekannt sind.
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Das Alarmsystem
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Bei jeder drohenden Selbstverletzung oder Verletzung anderer treten der Schulleiter oder sein Vertreter als Vorsitzender des Obhut-Kollegiums auf. Das Obhut-Kollegium schließt auch die Klassenlehrerin des Kindes und eine weitere Schulperson ein, die auf das Kind Einfluss ausüben oder zwischen der Schule und den Eltern des Kindes vermitteln können. Die erste Aufgabe des Obhut-Kollegiums besteht darin, die Dringlichkeit der Drohung einzuschätzen. Bei der Festlegung der Dringlichkeit sind folgende Überlegungen mit zu berücksichtigen: – Ist die Drohung eine allgemeine (»Ich werd es dir noch zeigen!«) oder konkret und detailliert (»Ich werde dir das Gesicht zerschneiden!«)? – War die Drohung ein impulsiver Akt oder eine überlegte, kaltblütige Handlung? – Gibt es Anzeichen dafür, dass die Ausführung der Drohung schon in Planung ist? – Hat der drohende Schüler Details geliefert über Ort, Zeitpunkt oder Art und Weise der Verletzung? – Hat er versucht, andere Schüler für seinen Plan zu rekrutieren? – Stehen ihm Gegenstände oder Mittel zur Ausführung der Drohung zur Verfügung? – Hat er andere Kinder eingeladen, den Vorfall zu beobachten? – Hat er früher schon ähnliche Drohungen wahr gemacht? Sollte sich herausstellen, dass die Drohung allgemeiner Art ist, einen impulsiven oder prahlerischen Akt darstellt und jegliche Anzeichen einer Verfolgung des Plans fehlen, wie Details oder Mittel zu seiner Durchführung, dann wird die Drohung in den niedrigsten Dringlichkeitsgrad eingestuft. In diesen Fällen entscheidet das Obhut-Kollegium über die sofortigen Maßnahmen wie das Informieren der Eltern, die Forderung einer Wiedergutmachung oder andere disziplinierende Maßnahmen. Die Aufsicht wird dann auf niedrigerem Niveau entsprechend der Reihenfolge der Helferkreise (vgl. voriges Kapitel, Seite 183 f.) fortgesetzt. Die Klassenlehrerin kann den Fall z. B. weiter verfolgen, oder ein weiterer Lehrer und die Eltern können einbezogen werden. Das Ziel der Beaufsichtigung ist es sicherzustellen, dass die Drohung
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
nicht wiederholt wird. Sobald das Gefühl der Bedrohung nachlässt, sollte dem Schüler ein abschließendes positives Feedback gegeben werden. Der Schulleiter oder der Präsenzmentor kann z. B. in einem persönlichen oder telefonischen Gespräch dem Jugendlichen mitteilen, dass die Schule stolz auf ihn ist, dass er die Schwierigkeiten so positiv bewältigt hat. In den Fällen, in denen die Prüfung ergibt, dass die Dringlichkeit hoch eingestuft werden muss, entscheidet das ObhutKollegium über die Einbeziehung weiterer Funktionsträger und über sofortige Maßnahmen zur Vermeidung der Gefahr und zum Schutz der potenziellen Leidtragenden. Das Obhut-Kollegium sollte darauf achten, dass die Benachrichtigung der Eltern keine beschuldigende oder kritisierende Form annimmt. Es empfiehlt sich, ihnen zu sagen: »Wir sehen Sie als Teil unseres Teams an. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, das nichts Gefährliches passiert. Wir sind bereit, hierbei Hilfe zu leisten, würden uns aber auch über Ihre Hilfe freuen!« Diese Ansprache eignet sich auch für die Einbeziehung anderer Funktionsträger, wie das Jugendamt, Organisationen zum Kampf gegen Drogenkonsum und Gewalt, die örtliche Polizeidienststelle oder ein Psychiater. All diesen ist mitzuteilen: »Wir haben ein Gremium eingerichtet, um die Gefahr besser einschätzen zu können, dem Schüler unsere Obhut zu gewähren und die Bedrohung auf bestmögliche Weise abzuwenden. Wir würden Sie gern als Mitglied dieses Gremiums sehen. Wir werden Sie auch in Zukunft über den Stand der Dinge informieren und in den Prozess einbeziehen. Wir freuen uns, dass wir Hilfestellung leisten können, bitten aber auch um Ihre Hilfe!« Wenn möglich sollten die außerschulischen Funktionsträger wenigstens ein Mal persönlich an einem Treffen teilnehmen. Der weitere Kontakt kann telefonisch erfolgen. Der Schüler und die Eltern müssen über die Einbeziehung außerschulischer Funktionsträger informiert werden. Dieser Schritt kann zusätzlich das Gefühl stärken, dass die Schule Halt bietet und sich ernsthaft mit der Drohung auseinandersetzt. Das Obhut-Kollegium sorgt für eine dauerhafte Lösung, die bis zum Ende der Bedrohung Schutz und Aufsicht zusichert. Es folgen Beispiele für Maßnahmen im Fall einer Drohung, einen an-
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Das Alarmsystem
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deren Schüler zu verletzen – eine Drohung, die mit einem hohen Dringlichkeitsgrad eingestuft wurde. Das Obhut-Kollegium sorgt dafür, dass die beiden Schüler getrennt werden und sich in der Schule oder auf den Busfahrten nicht ohne Aufsicht eines Erwachsenen begegnen. Einige praktische Mittel, die dies erreichen können, sind die Trennung der Sitzplätze, die Begleitung während der Pausen, die Festlegung verschiedener Bereiche auf dem Schulgelände, in denen sich jeder der Schüler aufhalten darf, das Dabehalten einer der beiden in der Schule, bis der andere Schüler zu Hause angelangt ist, oder die Forderung, dass ein Elternteil oder ein anderes Familienmitglied in der Schule anwesend ist. In weniger schwerwiegenden Fällen reicht meist die Verpflichtung zum »Rundgang« zu Schulbeginn, in den Pausen und am Unterrichtsende. Bei jeder ernst zu nehmenden Drohung müssen die Eltern beider Schüler benachrichtigt werden und sollten in die Betreuung und Aufsicht der Kinder einbezogen werden. Das Einbeziehen der Ortspolizei kann deutlich zur Entspannung der Situation beitragen, insbesondere dann, wenn das Obhut-Kollegium einen Polizisten darum bittet, es nicht bei einem einmaligen Kontakt mit dem Schüler zu belassen, sondern einige weitere Male persönlichen oder telefonischen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Für den Fall, dass der Schüler in die Obhut eines Psychologen, eines Bewährungshelfers oder eines Sozialarbeiters gegeben wird, sollte das Obhut-Kollegium darum bitten, regelmäßig über den Stand der Dinge informiert zu werden und im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Vorfall weitere Hilfe des besagten Funktionsträgers beanspruchen zu dürfen. Die drei folgenden Beispiele können als Übung für die Mitglieder des Obhut-Kollegiums verwendet werden.* 1. Eine Drohung mit niedrigem Dringlichkeitsgrad Zwei Schüler der 6. Klasse prügelten sich auf dem Schulhof. Eine Lehrerin, die vor Ort war, versuchte anfangs vergeblich, die bei* Die Beispiele sind dem Artikel von Cornell und Williams (2006) entnommen, wurden aber für unseren Gebrauch leicht verändert.
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
den zu trennen. Erst als die Schüler sahen, dass sie über Handy Hilfe holte, ließen sie voneinander ab. Auf dem Weg zum Direktorat schrie ein Schüler den anderen an: »Ich werde dich umbringen!« Der Vertreter des Schulleiters führte ein Gespräch mit jedem Schüler, bei dem der eine zugab, den anderen bedroht zu haben, aber behauptete, dass dies aus Wut und ohne wirkliche Absicht erfolgt sei. Er legte seine Version über die Provokationen dar, die zur Prügelei geführt hatten. Auch der andere Schüler wurde zu einem Gespräch eingeladen. Der Vertreter des Schulleiters kannte die beiden Jungen und fragte auch die Lehrer, ob sie sich in der Vergangenheit gewalttätig verhalten hätten. Als Ergebnis der Befragung und der Klärung mit den Lehrern, entschied das Obhut-Kollegium, diesen Vorfall in einen niedrigen Dringlichkeitsgrad einzustufen. Die Schulsatzung sah für diesen Fall zwar eine Suspension vor. Da aber beiden Jungen einwilligten, Wiedergutmachungstaten zu leisten, wurde die Suspension auf einen Tag beschränkt. Der Schulpsychologe rief die Eltern an und sprach mit ihnen über den Vorfall, die Suspension und die Wiedergutmachungstaten, die er mit Hilfe der Eltern planen wollte. Die Wiedergutmachung bestand in einer gegenseitigen Entschuldigung in Anwesenheit der Väter und an drei Tagen Arbeit für das Gemeinwohl der Schule während der Nachmittagsstunden. Der Psychologe nahm später noch einmal Kontakt mit den Jungen auf, um sich zu vergewissern, dass sich die Angelegenheit erledigt hatte. 2. Eine Drohung mit einem hohen Dringlichkeitsgrad Dirk und Anton waren zwei Achtklässler, die sich in der Vergangenheit ständig gestritten und gegenseitig belästigt hatten. Nachdem es wieder zu gegenseitigen Beleidigungen gekommen war, übergab Dirk Anton eine schriftliche Nachricht: »Wenn du Mumm hast, warte heute Abend um acht auf mich neben dem Einkaufszentrum!« Anton zeigte den Zettel der Vertrauenslehrerin, die sich an den Schulleiter wandte. Die Tatsache, dass die Drohung schriftlich vorlag und dass sie einen Ort und einen Zeitpunkt nannte, wies darauf hin, dass Dirk konkrete Absichten hegte. Außerdem war Dirk auch in der Vergangenheit in
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Prügeleien und Mobbing-Vorfälle verwickelt gewesen. Der Schulleiter stellte ein Obhut-Kollegium zusammen, bestehend aus der Vertrauenslehrerin, der Klassenlehrerin und dem Präsenzmentor. Beide Jungen wurden nacheinander vor das Obhut-Kollegium geladen. Dirk war trotzig, weigerte sich, sich zu entschuldigen, und lehnte jede Wiedergutmachung ab. Die Schule benachrichtigte Antons Eltern und bat um ihre Hilfe bei einer verstärkten Aufsicht ihres Sohnes zu dessen eigenem Schutz. Den Eltern wurde erklärt, wie sie sicherstellen könnten, dass ihr Sohn sich von den Bereichen fernhielte, in denen sich Dirk aufzuhalten pflegte. Beide Kinder erhielten klare Anweisungen, auf welchem Teil des Schulgeländes sich jeder von ihnen während der Pausen aufzuhalten hatte. Dirk wurde für drei Tage von der Schule suspendiert. Die Klassenlehrerin und der Präsenzmentor standen mit ihm und seinen Eltern während dieser drei Tage in Kontakt. Bei seiner Rückkehr an die Schule lud der Schulleiter ihn zu einem Gespräch ein, sagte ihm, dass er nun wieder voll und ganz als Schüler der Schule gelte, dass die Schule ihn aber weiterhin im Auge behalten würde, um jegliche Gefahr zu vermeiden. Deshalb müsse er für eine halbe Stunde nach Unterrichtsende in der Schule bleiben, um ein Treffen mit Anton auf dem Nachhauseweg zu vermeiden. Zudem wurde er für eine Woche zum Rundgang verpflichtet. Nach Ablauf dieser Woche rief der Schulleiter die Eltern an und teilte ihnen mit, dass Dirks Verhalten sich deutlich verbessert habe. Nach einem abschließenden Gespräch wurde entschieden, die Einschränkungen aufzuheben. 3. Eine Drohung höchsten Dringlichkeitsgrades Sascha, ein Schüler der 9. Klasse, sagte zu zweien seiner Freunde: »Ich habe es satt, dass man sich auf der Busfahrt über mich lustig macht und mich umherschubst! Morgen bring ich was mit und setz dem ein Ende!« Etwa zwei Wochen vorher, hatte einer der Freunde Sascha zu Hause besucht, wo Sascha ihm die Pistole seines Vaters gezeigt hatte, die in der obersten Ecke des Kleiderschranks versteckt war. Der Freund erzählte einem anderen Klassenkameraden von der Drohung, und gemeinsam entschieden sie, der Klassenlehrerin darüber zu berichten. Die Schul-
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Präsenz und Aufsicht in der Schule
leiterin erfuhr davon durch die Klassenlehrerin. Sie lud Sascha zu einem Gespräch ein und entschied sich, ihn nach Unterrichtsende für ein gründliches Klärungsgespräch in der Schule zu behalten. Während des Gesprächs mit der Schulleiterin leugnete Sascha seine Absicht, eine Pistole in die Schule mitzubringen. Er erzählte, dass einige Jugendliche aus der 10. und der 11. Klasse ihn regelmäßig während der Busfahrten drangsalierten und erniedrigten und dass er das nicht mehr ertragen könne. Die Schulleiterin rief seine Eltern an und berichtete ihnen von der Drohung und von dem Besuch des Freundes, dem Sascha die Pistole gezeigt hatte. Der Vater kam unverzüglich in die Schule. Er bestätigte, dass sich die Pistole an besagten Ort befinde. Als Folge des Gesprächs verschwand die Pistole aus dem Haus. Die Tatsachen, dass Sascha seine Drohung zwei Freunden mitgeteilt hatte und dass das Vorhandensein der Pistole bestätigt worden war, führten dazu, den Vorfall mit höchster Dringlichkeit einzuordnen. Die Eltern wurden gebeten, Sascha während der kommenden zwei Wochen genau im Auge zu behalten. Die Schulpsychologin beriet die Eltern und stellte mit ihnen einen Beaufsichtigungsplan auf, der weitere Familienmitglieder mit einbezog. Sascha musste sich einer umfassenden psychologischen Begutachtung unterziehen, die in der Schule durchgeführt wurde. Die Begutachtung ergab, dass es sich bei Sascha um eine Krise handelte, die als Reaktion auf die Drangsalierungen im Schulbus während des letzten Monats entstanden war. Die Lehrerschaft und die Eltern erhielten eine ausführliche Berichterstattung über die praktischen Schlussfolgerungen der Begutachtung. Gespräche mit anderen Schülern, die mit dem gleichen Bus zur Schule kamen, bestätigten Saschas Beschwerden. Die Schulleiterin lud die drei an den Vorfällen beteiligten Jugendlichen und ihre Eltern zu einem Gespräch ein. Sie berichtete ihnen von der Drohung und befragte sie zu den Drangsalierungen. Die Einstufung des Vorfalls in den höchsten Dringlichkeitsgrad verpflichtete die Schule außerdem, weitere Funktionsträger einzubeziehen. Der Ortspolizist, der informiert wurde, traf sich einige Male mit Sascha und mit den drei andern Jugendlichen. Die Psychologin traf sich auch mit den drei Jugendlichen, um ihnen zu verdeutlichen, dass ihr Verhalten
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Sascha beinahe zu einer extremen Tat veranlasst hätte. Saschas Eltern wurden gebeten, für Begleitung während der Busfahrten zu sorgen. Die drei Jugendlichen wurden für die Dauer eines Monats von der Busfahrt ausgeschlossen. Der Vorfall und die Vorgehensweise der Schule wurden in der Schülerzeitung veröffentlicht, ohne die Namen der Beteiligten zu erwähnen. Die Angelegenheit diente als Anlass für Klassengespräche über die Notwendigkeit, Drohungen zu melden. Viele Schüler meldeten sich dank der Aufmerksamkeit der Freunde, die über die Drohung berichtet hatten, zu Wort und trugen damit zur Abwendung weiterer Gewaltfälle bei.
Es gibt eindrückliche Forschungsergebnisse über die Effektivität von Interventionen, die auf ähnlichen Prinzipien beruhen. Die umfangreichste Forschungsarbeit basiert auf Untersuchungen an 35 Schulen mit insgesamt 16.273 Schülern, vom Kindergartenalter an bis in die Oberstufe (Cornell et al., 2004). Die Studie konzentriert sich auf Drohungen, Mitschüler oder Lehrer zu verletzen. Die meisten Drohungen (70 %) wurden nach einer eingehenden Überprüfung in den niedrigsten Dringlichkeitsgrad eingestuft. Sechs der 188 Schüler, die in Drohungen verwickelt waren, deren Dringlichkeit hoch eingestuft wurde, wurden festgenommen (alle Festnahmen beruhten auf eindeutigen Straftaten). In den nachfolgenden Gesprächen wurden nicht nur die spezifischen Drohungen untersucht, sondern auch, wie sich die Schweregrade der Verhaltensprobleme der drohenden Schüler und die Qualität ihrer Beziehungen zum bedrohten Kind veränderten. In 18 % der Fälle wurde über eine Verschlechterung der Verhaltensprobleme berichtet, in 39 % der Fälle gab es keine Veränderung und bei 43 % lag eine deutliche Verbesserung vor. In der Beziehung zum Opfer wurde in 5 % der Fälle eine Verschlechterung beobachtet, bei 63 % gab es keine Veränderung und in 32 % der Fälle verbesserte sich die Beziehung deutlich. Am Bedeutendsten ist jedoch die Tatsache, dass keine einzige der Drohungen in die Tat umgesetzt wurde.
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Kapitel VI Öffentlichkeit und Wiedergutmachung1
Die Rolle der Gemeinschaft Der gemeinschaftliche Charakter der neuen Autorität kommt besonders bei der Handhabung von Gewalttaten und Vandalismus zum Ausdruck. Diese bedrohen die gesamte Gemeinschaft und betreffen nicht nur das verletzte Kind oder den Besitzer des zerstörten Eigentums. Das gewalttätige Kind oder der Vandale vermitteln mit ihrer Tat: »Mir sind eure Vorschriften egal!« oder »Seht, was ich mit eurem Besitz mache!« Entsprechend ist jeder Gewaltakt, auch wenn er heimlich verübt wird, ein öffentliches Anliegen, da er die Grundlagen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens missachtet. Die Handhabung solcher Vorfälle ist unzureichend, wenn sie die öffentliche Dimension außer Acht lässt. Unserer Ansicht nach führt jeder Versuch, Gewaltvorfälle in der Öffentlichkeit herunterzuspielen oder sie zu leugnen, zu einer erneuten Verletzung des Gemeinwohls. Derjenige, der ein gewalttätiges Kind nur hinter verschlossenen Türen behandelt, missachtet sowohl das Recht der Gemeinschaft auf sichtbare Schutzmaßnahmen als auch das Recht des Kindes, die gestörte Beziehung zur Gemeinschaft wieder in Ordnung zu bringen. Vier wesentliche gemeinschaftliche Aspekte sollten bei der Handhabung von Gewalt benannt werden: – Eine Autoritätsperson muss als Repräsentant der Gemeinschaft im Kampf gegen Gewalt agieren. – Die Gemeinschaft muss die Gültigkeit der überschrittenen Regeln und ihre Verpflichtung zu den Regeln erneut bestätigen. – Das Opfer muss Schutz und dadurch ein Gefühl von Sicherheit erhalten. 1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Efrat Gilis Grobstein, Nizan Lifshitz und Keren Fatal-Asher geschrieben.
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Die Rolle der Gemeinschaft
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– Dem Täter muss Gelegenheit gegeben werden, seine Beziehung zur Gemeinschaft wiederherzustellen, die durch den Gewaltakt gestört wurde. Die Autoritätsperson als Repräsentant der Gemeinschaft
Eine Führungspersönlichkeit muss sich in Krisenzeiten bewähren. Es ist ein Versäumnis, wenn sie in Zeiten der Bedrohung ihrer wichtigen Rolle nicht nachzukommen weiß. Eine Gemeinschaft, die von ihrer Führung in einer Notsituation enttäuscht wurde, wird dieser Führung nicht mehr vorbehaltlos folgen wollen. Demgegenüber baut sich eine Führungspersönlichkeit enorme Unterstützungsressourcen auf, wenn sie beweist, dass sie sich auch in schwierigen Zeiten dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Diese Ressourcen können ihr nach Überwindung der Krise zur Verfügung stehen. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung für Lehrer und Schulleiter lautet: Ihre Positionierung an der Spitze des Kampfes gegen Gewalt und Vandalismus stärkt ihre Autorität, befreit alle Beteiligten aus ihrer schutzlosen Lage und eröffnet dem Täter die Möglichkeit, seine Beziehung zur Gemeinschaft und seine Zugehörigkeit zu ihr wiederherzustellen. Die Wiederherstellung der gegenseitigen Verantwortung
Gewalttaten und Vandalismus erschüttern die Gemeinschaft: Die Erwachsenen fühlen sich in ihrer Stellung bedroht, die Kinder erleben Enttäuschungen und fühlen sich allein gelassen. Manchmal entwickelt sich ein Dominoeffekt, in der die Autoritätspersonen resignieren oder zynisch werden, die Opfer lernen nachzugeben, um weiteres Leid zu vermeiden, und die anderen Kinder versinken in zustimmendes Schweigen. Die Handhabung der Gewaltvorfälle muss dieser Entwicklung entgegenwirken und das erschütterte gegenseitige Verantwortungsgefühl erneuern. Schutz für das Opfer
Das Gefühl, schutzlos zu sein, ist nicht nur eine private Angelegenheit des Opfers. Dieses Gefühl ist Ausdruck des fehlenden
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Halts innerhalb des Beziehungsnetzwerks der Gemeinschaft. Jede Gewalttat stellt die Sicherheit, die durch die Gemeinschaft geboten wird, in Frage und ist deswegen eine Angelegenheit, zu der die ganze Gemeinschaft Stellung nehmen muss. Eine Schule, der es gelingt, dem Opfer Schutz zu bieten, trägt damit nicht nur zur Genesung des Kindes bei, sondern auch zur Selbstheilung der Schule. Es gibt die Tendenz, den Umgang mit den Problemen des Opfers auf das Empfangszimmer des Psychologen zu beschränken. Das wird dem Opfer nicht gerecht, da es so selbst als problembeladen eingestuft wird, aber kaum praktische Hilfe erhält. Demgegenüber bewirkt ein öffentlich geführter, mutiger Kampf gegen die Gewalt, dass viele Kinder, die verletzt wurden, keiner psychologischen Hilfe mehr bedürfen. Die Rekrutierung der Gemeinschaft zugunsten der verletzten Kinder stellt die beste Medizin für die erlittenen Verletzungen dar. Die Wiederherstellung des Zugehörigkeitsgefühls des Täters
Der Täter stellt sich durch seine Gewalttat an den Rand der Gemeinschaft, sei es als Einzelgänger oder aber durch den Versuch, eine Cliquengemeinschaft aufzubauen, die seinem Willen gehorcht. Einfache Lösungen, wie z. B. die schwache Forderung nach einer Entschuldigung, sind wirkungslos und vermögen die Kluft zwischen dem Täter und der Gemeinschaft nicht zu überbrücken. Die harten Alternativen, den Schuldigen an den Rand der Gesellschaft zu drängen oder ihn aus der Gemeinschaft zu verbannen, haben noch verheerendere Auswirkungen. Die neue Autorität arbeitet den beiden »Fallen« entgegen, entweder zu weich oder zu hart zu reagieren. Der gewaltlose Widerstand ist eine besondere Form von Stärke und »sanfter Härte«, die Wiedergutmachungshandlungen geben zugleich dem Täter die Gelegenheit, seine Beziehung zur Gemeinschaft wiederherzustellen.
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Führung und Öffentlichkeit in einer bedrohlichen Lage
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Führung und Öffentlichkeit in einer bedrohlichen Lage Verhältnisse, in denen die Gewalt zunimmt oder in denen andere Anzeichen auf den Abbau des Gemeinschaftsgeistes hinweisen, rufen meist die Sehnsucht nach einer starken Führung wach, den Wunsch nach jemandem, der »für Ordnung sorgt«, »es ihnen schon zeigen wird« oder »ihnen eine Lektion erteilt«. Dieser Wunsch ist mit den Wertvorstellungen der heutigen Gesellschaft und ihrer pädagogischen Zielsetzung unvereinbar. Wenn darüber hinaus eine Autorität in gewalttätigen Situationen ihrerseits Macht und Gewalt anwendet, so führt dies meist zu einer Eskalation der Situation und erhöht so das Ausmaß der Gefahr. Eine neue Autorität muss auf andere Art und Weise die Gemeinschaft repräsentieren und ihre Kräfte aus anderen Quellen als denen von Macht und Unterwerfung schöpfen. Ein tragischer Vorfall, der sich in einer Schule in Brasilien ereignet hat, kann veranschaulichen, wie die Neigung, Gewalt mit Gewalt zu erwidern, verheerende Folgen haben kann. In der Oberstufe eines Vorortes von Sao Paolo wurde bekannt, dass eine Jugendbande »Schulsteuer« von den Schülern einkassierte. Das Eintreiben der Steuer war organisiert. Die Steuer wurde an einigen Ständen, die auf dem Weg zur Schule lagen, einkassiert. Es gab Hinweise auf eine Gruppe von Schülern der Oberstufe, die mit einer Straßenbande zusammenarbeitete. Die Schulleiterin fühlte sich verpflichtet, sofort mit angemessener Schärfe zu reagieren. Ihre vorherigen Versuche, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, hatten keine Wirkung gezeigt und sie hatte das Gefühl, sich nur auf sich selbst verlassen zu können. Sie besuchte eine Klasse nach der anderen und machte deutlich, dass die Steuerbande aufgedeckt werden würde und sie nicht eher ruhen würde, bis der Letzte der Bande der Polizei ausgeliefert worden sei. Am folgenden Tag lud sie einige Schüler, die für ihr gewalttätiges Verhalten bekannt waren, zu einem Gespräch, um die Angelegenheit zu klären. Einige der Schüler wurden in Folge des Gesprächs von der Schule verwiesen. Andere erhielten eine scharfe Verwarnung. Ihnen wurde gesagt, dass die Ermittlungen gegen die Bande weitergeführt würden und dass jedes regelwidrige Verhalten ihrerseits bestraft werden würde. Am
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Morgen nach diesen Ereignissen wurde die Schulleiterin in ihrem Hauseingang erschossen.
Zweifellos hat die Schulleiterin aus Verantwortungsgefühl gehandelt und großen Mut bewiesen. Trotzdem hat sie ihre Verletzlichkeit enorm erhöht. Die Tatsache, dass sie sich allein vor die Klassen stellte, als die Einzige, die die Fahne im Kampf gegen die Bande hochhält, ließ sie für die bedrohten Schüler und ihre Helfer aus der Straßenbande zu einer deutlich identifizierbaren Zielscheibe werden. Das Auftreten einer einzelnen Person, die sich an die Spitze einer Bewegung stellt und der Gewalt den Krieg erklärt, führt dazu, dass die Kinder den Kampf gegen Gewalt nur mit dieser Führungspersönlichkeit verbinden. Dieses Handlungsschema passt zur Logik der Autorität früherer Zeiten, nach deren Auffassung die Autoritätsperson allein an der Spitze einer Pyramide steht und die anderen ihrer Führung folgen. Auch die Drohungen und Sanktionen der Schulleiterin verstärkten den Eindruck, dass hier ein Zweikampf ausgetragen wurde: Die Täter hatten das Gefühl, dass es um »entweder wir oder sie« ging. Im Gegensatz hierzu hätten Maßnahmen entsprechend dem Konzept der neuen Autorität eine nicht weniger entschiedene Reaktion ermöglicht, die aber für die handelnde Autoritätsperson und die ganze Schule sicherer gewesen wäre. Aktionen im Sinne der neuen Autorität fangen grundsätzlich mit der Rekrutierung von Hilfe an. Einige Telefonate und die Begleitung durch zwei weitere Lehrer beim Klassenrundgang hätten eine »Wir«-Sprache anstatt der »Ich«-Sprache eingeführt. Das Sicherheitsgefühl der Schüler erhöht sich, wenn mehrere Lehrer gemeinsam unter der Führung der Schulleiterin auftreten, anstatt dass eine Einzelperson allein auftritt. Es erübrigt sich zu erläutern, dass unter solchen Umständen die Schulleiterin weniger gefährdet gewesen wäre. Mit der Einberufung einer Krisensitzung noch am selben Tag, zu der die Eltern eingeladen worden wären, hätte weitere Unterstützung rekrutiert werden können. Anstatt die Täter einzuschüchtern oder zu bestrafen, hätten Maßnahmen zum Schutz der Schüler höchste Priorität erhalten. Die Schule hätte für eine Verstärkung der Präsenz von Lehrern und Eltern in der Schule und auf dem Schulweg gesorgt. Ein persönlicher Begleit-
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Führung und Öffentlichkeit in einer bedrohlichen Lage
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schutz wäre für diejenigen Schüler eingerichtet worden, die durch die Bande bedroht worden waren. Diese Art des Denkens erfordert es, die angebliche Notwendigkeit des »Vergeltungszwangs« zu überwinden, die in der Logik der traditionellen Autorität höchste Priorität gehabt hätte. Nach unseren Prinzipien muss die Schulleitung nicht die Täter besiegen oder Vergeltung üben – eine Aufgabe, die ohnehin beinahe unmöglich ist. Stattdessen muss sie für die Verstärkung der Erwachsenenpräsenz sorgen. Das Organisieren einer breiten Front gegen die Gewalt hätte auch den Erfolg der Hilfegesuche bei außerschulischen Funktionsträgern erhöht: Die Polizei und die Stadtverwaltung hätten es schwer gehabt, ein Gesuch abzulehnen, das im Namen der ganzen Eltern- und Lehrerschaft eingereicht worden wäre. Auch die Öffentlichkeit wird in unserem Konzept anders einbezogen. Das Ziel der Vorgehensweise in Sao Paolo war gewesen, eine Führungsrolle der Schule im Kampf gegen Gewalt zu etablieren. Demgegenüber liegt das Ziel der neuen Autorität in der Konsolidierung der Gemeinschaft und in der Vertiefung des gegenseitigen Verantwortungsgefühls innerhalb der Gemeinschaft. Die öffentliche Dimension ist nicht nur einfach ein Sprachrohr für die Führungspersönlichkeit, sondern ein Schmelztiegel für die sich formende Gemeinschaft, z. B. in Form von organisierten Schülergruppen, die den Schulweg gemeinsam hätten antreten können. In Zusammenarbeit mit der Schülervertretung hätte dafür gesorgt werden können, dass auch Einzelgänger und Außenseiter einer Gruppe zugeordnet worden wären. Eine solche Vorgehensweise ermöglicht darüber hinaus einen ganz anderen Zugang zu den problematischen Schülern oder zumindest zu einigen von ihnen. Man kann immer davon ausgehen, dass es sowohl im Inneren der problematischen Schüler immer auch positive Stimmen gibt, die sich nicht voll mit den Taten identifizieren, als auch dass es innerhalb der Gruppe der Problemschüler Personen gibt, die ihre Bedenken mäßigend einbringen. Die Konsolidierung der schulischen Gemeinschaft mit der Bitte an alle Schüler, sich den Anstrengungen anzuschließen, hätte diese inneren positiven Stimmen stärken können. Die Drohungen und scharfen Sanktionen trugen dagegen höchst wahrscheinlich zur Polarisierung zwischen »gut« und »böse« bei. Dieses
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Phänomen ist bekannt: Drohungen stärken das Gruppenzugehörigkeitsgefühl der bedrohten Gruppe und verschärfen ihre Reaktionen.
Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt Der Entschluss zu Transparenz und Öffentlichkeit verleiht der neuen Autorität große Vorteile im Kampf gegen die Gewalt. Die Kultur der Gewalt lebt davon, dass sie geheim gehalten wird, während die Offenlegung der Gewalt ihr die Grundlage entzieht. Transparenz und Öffentlichkeit vergrößern das Vertrauen in die Autoritätsperson und stärken ihr Führungsvermögen. Auf diese Weise entsteht zunehmender öffentlicher Druck gegen Gewalt. Die Öffentlichkeit des Kampfes verstärkt das gegenseitige Verantwortungsgefühl und betont die Werte der Gemeinschaft. Die Arbeit an Schulen erfordert diese Öffentlichkeitsarbeit. Viele Lehrer verheimlichen die Gewaltvorfälle vor den Eltern, aus Angst, dass diese gewaltsame Erziehungsmaßnahmen ergreifen könnten. Dabei bietet die Zusammenarbeit mit den Eltern meist auch Gelegenheit zum gemeinsamen Nachdenken über Reaktionsmöglichkeiten. Ein Lehrer, der die Eltern anruft, um sie über einen Gewaltvorfall zu informieren, erhält dadurch einen guten Anlass, die Eltern um Zurückhaltung in ihrer Reaktion zu bitten. Existieren diesbezüglich berechtigte Sorgen, so kann er ausdrücklich sagen: »Ich möchte Sie über das Vorgefallene informieren und möchte Ihr Partner bei der Lösungsfindung sein. Wir werden besprechen, welche Reaktion für das Kind, für Sie und für die Schule die beste ist. Sie sollten Ihr Kind auf keinen Fall schlagen! Das würde die Lage für Sie und für uns nur verkomplizieren.« Unserer Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Stellungnahmen die Gefahr einer gewalttätigen Reaktion von Seiten der Eltern deutlich verringern (Omer et al., 2006). Die Maßnahmen zur Veröffentlichung des Vorfalls beziehen sich auf drei verschiedene Kreise: auf den Kreis der Eltern und Helfer, den Kreis der Klassengemeinschaft und den Kreis der gesamten schulischen Gemeinschaft (Lehrpersonal, Elternschaft und
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Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt
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Schüler). Die Öffentlichkeitsarbeit in diesen drei Kreisen wird auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Zielausrichtung in die Tat umgesetzt. Öffentlichkeit im Kreis der Eltern und der Helfer
Wenn die Schule ihre Tore für Eltern und Helfer öffnet, wird die Trennung der verschiedenen Lebensbereiche aufgehoben, die für unsere Zeit so typisch ist. An die Stelle der Trennung der verschiedenen Lebensbereiche tritt die Erfahrung, dass gemeinsames Tun etwas bewirken kann. Oft reagiert das problematische Kind auf die Einbeziehung der Eltern und anderer Helfer aus seinem Bekanntenkreis mit Wut, weil seine Privatsphäre verletzt wurde. Diese Reaktion kann sich mit der Zeit ändern, wenn das Kind die Präsenz außerschulischer Personen zu akzeptieren lernt oder sogar die positive Seite daran zu sehen vermag. Auch Eltern und Lehrer müssen sich an die Überschneidung verschiedener Lebensbereiche gewöhnen. Anfangs wirken Eltern wie Fremdkörper in der Schule, ganz zu schweigen von anderen Helfern. Nach einer Eingewöhnungszeit wird jedoch der Vorteil der neuen Situation deutlich. Die Rekrutierung von Helfern in der Auseinandersetzung mit einem gewalttätigen Kind an der Schule ist der Rekrutierung von Helfern im Kampf gegen Gewaltanwendungen zu Hause sehr ähnlich. Die Suche nach den Helfern wird meist in Absprache mit den Eltern und mit ihrer Unterstützung vorgenommen. Die Eltern werden gebeten, passende Helfer auszusuchen und sie in den operativen Handlungsplan mit einzubeziehen. Die Helfer rufen das Kind nach einem problematischen Ereignis an, zeigen ihm, dass sie über das Ereignis informiert sind, und bieten ihre Hilfe an. Sie geben dabei ihrer positiven Haltung dem Kind gegenüber Ausdruck und äußern die feste Überzeugung, dass das Kind die Probleme zu bewältigen vermag. Der Helfer kann z. B. sagen: »Ich habe gehört, dass du gestern an der Schule in eine Prügelei ver wickelt warst. Das kann so nicht weitergehen. Die Gewalt muss aufhören! Ich bin überzeugt, dass du die Gewalt überwinden kannst, und bin bereit, dich dabei zu unterstützen.« Die Helfer beeinflussen nicht nur das Kind, sondern auch die Schule, z. B.
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
durch ihre verstärkte Präsenz und Aufsicht. In einigen von uns betreuten Fällen wurden Familienmitglieder in die Begleitung eines Kindes mit einbezogen, das sich auf den Busfahrten gewalttätig verhalten hatte. In anderen Fällen waren Großväter oder andere Verwandte bereit, bei »Arbeiten für das Gemeinwohl« zu helfen, die dem Kind nach Unterrichtsende auferlegt worden waren. Ein besonders wichtiger Beitrag von Seiten der Helfer liegt in einer positiven Stellungnahme zu den Fähigkeiten des Kindes. Dadurch wird ein positives Gegengewicht gegen den Teufelskreis der negativen Meinungen über das Kind aufgebaut. Öffentlichkeit im Kreis der Klassengemeinschaften
Der Lehrer sollte die Klassengemeinschaft über die Details des gewalttätigen Vorfalls informieren. Diese Berichterstattung dient nicht nur der Abschreckung, sondern stärkt auch die Führungsposition des Lehrers, bekräftigt die Verbindlichkeit der gemeinschaftlichen Werte und die Wiederherstellung einer guten Beziehung zwischen dem Täter, dem Opfer und der gesamten Gemeinschaft. Der Lehrer berichtet der Klasse über den geplanten Umgang mit dem Vorfall, über den Schutz der Verletzten und über die bereits durchgeführten Maßnahmen. Leistet der Täter eine Wiedergutmachungstat, so sollte der Lehrer die Klasse darüber informieren, dass der Vorfall »zu den Akten gelegt wurde«. In diesem Fall gilt die »Rechnung als beglichen«, und der Schüler ist wieder ein vollwertiges Mitglied der Gruppengemeinschaft. Die erste Mitteilung des Lehrers sollte unmittelbar nach dem problematischen Vorfall erfolgen. Beispiel »Wir haben von einem gewalttätigen Vorfall erfahren, bei dem ein Schüler einen seiner Mitschüler geschlagen hat und ihm gedroht hat, dass er ihn wieder verprügeln werde. In unserer Schule wollen wir solche Ereignisse nicht schweigend übergehen. Wir werden uns der Gewalt widersetzten. Wir werden Maßnahmen zum Schutz des verletzten Schülers und zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens ergreifen. Ich werde euch über unsere Entscheidungen und Maßnahmen weiter informieren!«
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Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt
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Später informiert der Lehrer die Klasse über vorbereitende Maßnahmen des Lehrpersonals und über die bereits durchgeführten Maßnahmen, z. B.: »Ich möchte euch von unseren Maßnahmen erzählen, die wir bezüglich des gestrigen gewalttätigen Vorfalls unternommen haben. Wir haben ein Gremium zusammengestellt, das über Reaktionsmöglichkeiten beraten wird. Dem Gremium gehören folgende Personen an: ich selbst, der Präsenzmentor und die Eltern des Kindes, das für die Gewalttat verantwortlich ist. Die Eltern sind in die Schule gekommen, und wir haben gemeinsam mögliche Maßnahmen besprochen. Zuerst haben wir dafür gesorgt, dass das verletzte Kind Schutz erhält. Es hat nun die Telefonnummern von Personen, die es jederzeit anrufen kann, sollte es sich wieder bedroht fühlen. Der gewalttätige Schüler wird in der kommenden Woche nach Unterrichtsende noch 20 Minuten in der Schule bleiben, um sicherzustellen, dass der bedrohte Schüler nach Hause gehen kann, ohne Angst haben zu müssen, verletzt zu werden.« Sollte über eine Wiedergutmachung in Zusammenarbeit mit dem Täter und seinen Eltern entschieden worden sein, berichtet der Lehrer der Klasse erneut über die abschließende Behandlung des Vorfalls: »Zu dem Vorfall von letzter Woche möchte ich euch Folgendes mitteilen: Der gewalttätige Schüler hat sich einverstanden erklärt, dass er sich gemeinsam mit seinen Eltern bei dem verletzten Kind und dessen Eltern entschuldigen wird. Ich habe ein rührendes Telefongespräch mit den Eltern des verletzten Kindes geführt. Sie meinten, dass die Schule auf die bestmögliche Art und Weise mit dem Vorfall umgegangen sei. Der gewalttätige Schüler konnte wählen, ob er in der nächsten Woche von einem seiner Eltern oder einem anderen Familienmitglied im Laufe des Schultages begleitet werden möchte oder ob er lieber drei Mal nachmittags nach Unterrichtsende ›Arbeiten für das Gemeinwohl‹ leisten möchte. Er hat sich für das Letztere entschieden, und wir haben schon ein Treffen mit unserer Bibliothekarin vereinbart. Wir sind nicht wütend oder nachtragend, und wir haben keine schlechte Meinung von ihm. Wir sehen ihn nach wie vor als einen von uns. Wir betrachten also die Angelegenheit als abgeschlossen.«
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Öffentlichkeit im Kreis der gesamten schulischen Gemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern
Die Behandlung von Gewaltvorfällen beschränkt sich nicht nur auf die Klassengemeinschaft. Sie ist die Angelegenheit der ganzen Schule, also von allen Lehrern, Eltern und Schülern. Wir messen der Veröffentlichung von außerordentlichen Vorfällen in der Schülerzeitschrift oder auf der Internetseite der Schule höchste Bedeutung bei. Außerdem kann auf der Lehrerversammlung oder bei Elternversammlungen wiederholt über die Vorfälle und den Umgang mit ihnen Bericht erstattet werden. Es folgen einige Beispiele zu Berichterstattungen auf der Internetseite der Schule2: Gruppen-Elektroschock Am Montagmittag, als der Hausmeister die Klassen abschloss, sah er den metallenen Stab eines Regenschirms in einer Steckdose stecken. Die Gespräche, die aus diesem Anlass in den Klassen geführt wurden, ergaben Folgendes: In der Pause hat ein Schüler den Regenschirm in eine Steckdose gesteckt. Er erzählte seinen Mitschülern von dem leichten Stromschlag, den er verspürt hatte, und schlug ihnen einen Versuch vor. Die Schüler bildeten einen Kreis, in dem sich alle an den Händen festhielten, und schlossen den Kreis, während der Erste den Regenschirm in der Steckdose anfasste. Die Kinder lösten sich nacheinander ab, den Regenschirm anzufassen. Etwa zehn Schüler beteiligten sich an diesem »Spiel«. Dann probierten die Schüler aus, was sie wohl spüren würden, wenn sie den Regenschirm nass machten und ihn dann in die Steckdose steckten … Zusätzlich zu den aktiven Teilnehmern gab es viele Mitschüler – fast alle Schüller der 7. Klasse –, die das Geschehen passiv beobachteten. Leider dachte kein einziger Schüler – weder die passiven noch die aktiven Teilnehmer – darüber nach, wie gefährlich eigentlich diese Aktion war und wie wichtig es gewesen wäre, sie sofort zu beenden oder wenigstens einem Lehrer davon zu berichten. Einige Schüler erzählten, dass sie auch zu Hause solche Versuche durchführen würden. Zu unserem Glück endete dieser 2 Die Beispiele wurden von der Internetseite der Yifat-Schule in Emek Yisrael entnommen.
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Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt
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Versuch ohne Verletzungen. Es handelt sich hier nicht um irgendeinen Witz, sondern um eine lebensgefährliche Aktion. Während des nächsten Naturkunde-Unterrichts wird das Thema »Eigenschaften und Vor- und Nachteile von Strom« behandelt werden. Die Kinder, die aktiv an dem Versuch teilgenommen haben, wurden zu einer Aussprache gebeten. Diese Gespräche sind noch nicht abgeschlossen. Eine Woche später wurde folgende Nachricht veröffentlicht: Es wurde ein Brief an alle Eltern der Siebtklässler verschickt, in dem der Vorfall beschrieben wurde. Folgende Maßnahmen wurden in Bezug auf die Schüler ergriffen, die sich an der Aktion beteiligt hatten: – Sie mussten drei Tage lang in der Schulbibliothek über das Thema Strom recherchieren und anschließend eine Hausarbeit über die Gefahren von Strom und die notwendigen Vorsichtsmaßnamen verfassen. – Nächsten Monat würde entschieden, ob diese Kinder an der geplanten Klassenfahrt teilnehmen können. – Ein weiterer Brief wurde an alle Eltern der beteiligten Schüler geschickt, um zu betonen, wie schwerwiegend der Vorfall ist, und um über die Maßnahmen zu berichten, die ergriffen wurden. Vandalen-Party Nach einer Feier zum Halbjahreswechsel, die in der Kulturhalle der Schule stattfand, gingen die Klassenlehrer der 12. Jahrgangsstufe zu ihren Klassenzimmern, um dort die Halbjahreszeugnisse auszuteilen. Zu ihrer Überraschung war der ganze Außenbereich mit Toilettenpapier »verziert« worden, das über Bäume und Sträucher und auf dem Vorplatz verstreut war. Die meisten Schüler saßen draußen und erfreuten sich an dem Schauspiel. Die Klassenlehrer entdeckten außerdem, dass Schuleigentum absichtlich zerstört worden war. Sie forderten die Schüler auf, den Dreck aufzusammeln, damit anschließend die Zeugnisse verteilt werden könnten. Zu ihrer Überraschung reagierten diese nicht. Erst nachdem die Lehrer deutlich gemacht hatten, dass sie die Zeugnisse nicht austeilen würden, solange der Schulbereich nicht aufgeräumt wäre, und dass die betroffenen Schüler zu einem Gespräch zitiert werden würden, fingen einige wenige an aufzuräumen. Am Montag fand eine Schülerversammlung der ganzen Stufe statt, bei der zwei Themen besprochen
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
wurden: erstens die herablassende Haltung der Schüler den Klassenlehrern gegenüber und zweitens die Häufung von Vorfällen, bei denen Schuleigentum beschädigt oder zerstört wurde. Nach dem Gespräch stellten die Schüler einen Ausschuss zusammen, dessen Aufgabe es war, eine Lösung zu finden. Nach einem gewissen Fortschritt in der Arbeit des Schülerausschusses bekamen die Schüler der 12. Klassen verspätet ihre Halbjahreszeugnisse. Folgende Entscheidungen wurden gefällt: – An alle Eltern der Stufe wurde ein Brief verschickt. Der Schaden wurde auf etwa 600 Euro geschätzt. – Während der Woche fanden Gespräche mit den beteiligten Schülern statt. Nach Abschluss der Gespräche und der Klärung aller Details, würde entschieden werden, was zu tun ist. Nach einigen Tagen wurde folgende Nachricht auf der Internetseite veröffentlicht: »In Folge der Ereignisse bezüglich der 12. Klassen, über die wir vor einigen Tagen berichtet haben, sind folgende Maßnahmen ergriffen worden: – Es wurde ein Treffen mit den am Vorfall beteiligten Schülern arrangiert. Während des Treffens erzählte jeder Schüler, welchen Anteil er an den Taten hatte. – Bei der Versammlung der Klassenlehrer und der Schulleitung, die am selben Tag stattfand, wurde entschieden, dass die zehn Schüler, die für den Vandalismus verantwortlich sind, nicht an der Klassenfahrt teilnehmen. Sie werden während dieser Tage in der Schule erscheinen, um hier Tätigkeiten zur Ausbesserung und Reparatur der Schäden zu verrichten und somit die Reparaturkosten zu minimieren. Die Schüler, die das Toilettenpapier auf dem Schulhof verteilt haben, werden am Tag vor der Abreise den Schulhof reinigen, dürfen jedoch an der Klassenfahrt teilnehmen. – Die Schüler haben der Schulleitung und den Klassenlehrern einen Entschuldigungsbrief geschickt, in dem sie ihre Taten bedauern, und um eine Änderung der Entscheidung gebeten. – Am Montag fand ein Treffen mit einigen Eltern statt, die darum baten, die Entscheidung über die Art der Bestrafung aufzuheben. Auf Bitten der Eltern hin fand eine lange Diskussion des Lehr-
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körpers der 12. Klassen gemeinsam mit der Schulleitung statt. Es wurde beschlossen, die vorher getroffenen Entscheidungen nicht zu ändern.« Kiosk-Einbruch auf einer Klassenfahrt Während einer Klassenreise fand ein Einbruch in den Kiosk der Jugendherberge statt. Es wurden Gespräche mit den Schülern durchgeführt, um den Sachverhalt aufzuklären, die Fahrt wurde abgebrochen, alle mussten nach Hause fahren. Zwei Wochen später wurde folgende Berichterstattung veröffentlicht: »Die Schüler, die an dem Einbruch beteiligt waren, wurden für drei Tage vom Unterricht suspendiert. Am Dienstag wurden die Schüler mit ihren Eltern in die Schule gebeten, um an einem Treffen mit einem Vertreter des Kultusministeriums, den Klassenlehrern und der Schulleitung teilzunehmen. Während der Sitzung wurde beschlossen, dass die Schule und die Eltern sich zusammenschließen sollten, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Es wurde ein Ausschuss von fünf Eltern und den Klassenlehrern eingerichtet, der über eine angemessene Reaktion entscheiden wird. Die Schüler haben an der Sitzung teilgenommen und die Eltern haben ihren Kindern erklärt, dass der Einbruch nicht nur einen schweren Schaden für den Kioskbesitzer bedeutet, sondern eine Verletzung aller darstellt: der Eltern, der Schule und der Schülergemeinschaft. Die beteiligten Schüler haben sich spontan zusammengesetzt und einen Entschuldigungsbrief verfasst, den sie auf eigene Initiative hin in allen Klassen der Schule verlesen haben. In dem Brief bitten sie alle Schüler der Schule um Entschuldigung für den Abbruch der Klassenfahrt und dafür, dass sie die Schule in Verruf gebracht haben. Am Montag traf sich der Ausschuss der Eltern und Klassenlehrer, um über die weiteren Maßnahmen zu beraten. Die Entschuldigungen wurden begrüßt. Es wurde beschlossen, dass die Schüler Arbeiten für das Wohl der Gemeinschaft verrichten sollen. Die Schüler werden nun in den nächsten Tagen mithelfen, im Haus für Notleidende in der Stadt Migdal HaEmek das Essen an die Bedürftigen auszuteilen. Jeder Schüler wird zehn Arbeitstage ableisten, damit gilt der Vorfall als abgegolten.«
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Wiedergutmachung Die Verbindung zweier Konzepte unter dem Titel »Öffentlichkeit und Wiedergutmachung« soll deren zentrale Rolle im Wiederherstellen der gestörten gemeinschaftlichen Beziehungen betonen. Diese Störung betrifft den Täter, der seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Frage stellt; das Opfer, das sich verraten fühlt, weil es nicht genügend Schutz durch die Gemeinschaft erhalten hat; und alle anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die ein Versäumnis des gegenseitigen Verantwortung erleben. Die öffentliche Stellungnahme der Autoritätsperson gegen die Gewalt und die Berichterstattung und damit die Veröffentlichung der Vorfälle sind wichtige Schritte für den Genesungsprozess der Gemeinschaft. Dieser Prozess wird sehr gefördert, wenn der Täter bereit ist, eine Wiedergutmachung und seinen Teil zur Behebung des angerichteten Schadens zu leisten. Eltern und Lehrer haben häufig das Gefühl, dass sie den Täter nicht wirklich zu einer Wiedergutmachungstat bewegen können. Die Hilflosigkeit der Autoritätspersonen kommt z. B. in einer nicht verpflichtenden Forderung der Eltern oder Lehrer zum Ausdruck, dass der Schüler sich für den Schaden entschuldigen soll. Dieser Forderung nach einer Entschuldigung wird jedoch oftmals nur pro forma Folge geleistet. Der herablassende Ton und die damit einhergehende Haltung, in der die erzwungene Entschuldigung oft vorgebracht wird, zeigen in Wirklichkeit eine Missachtung der Wertvorstellungen der Gemeinschaft. Klassenlehrer versuchen, ihre Hilflosigkeit zu überwinden, indem sie eine Strafe verhängen. Diese Bestrafung vermag es jedoch nicht, die gestörte Beziehung wiederherzustellen, sie kann außerdem die Kluft zwischen der bestrafenden Instanz und dem bestraften Schüler zusätzlich vertiefen. Ähnlich problematisch sehen wir es, wenn das Problem durch eine Psychotherapie für die in den Vorfall verwickelten Kinder (Täter und Opfer) gelöst werden soll: Dies ist die Individualisierung eines gemeinschaftlichen Problems und ein Verzicht darauf, die beschädigte Dreierbeziehung zwischen Täter, Opfer und der Gemeinschaft zu reparieren. Die verbreitete Hilflosigkeit gegenüber der Möglichkeit einer Wiedergutmachung entspringt einer Sichtweise der Autorität frü-
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Wiedergutmachung
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herer Zeiten, nach der der Täter seine Schuld eingestehen, Reue zeigen und Buße tun muss. Er muss sich »ehrlich« entschuldigen, der Schaden muss repariert werden und der Täter muss sich für eine Zeit von Vergnügungen fernhalten. Dies führt heutzutage zu einer fruchtlosen Konfrontation, bei der der Täter Schuld von sich weist, die Verantwortung anderen überlässt und einen Dialog verweigert. In seinen Augen würde seine Ehre verletzt, wenn er den Erwartungen der Erwachsenen nachgäbe. So ist es kein Wunder, dass diese dann oft von vornherein darauf verzichten, einen Wiedergutmachungsprozess in die Wege zu leiten, oder es bevorzugen, sich mit erzwungenen Entschuldigungsworten abzufinden. Wenn jedoch der Prozess der Wiedergutmachung entsprechend den Prinzipien der neuen Autorität eingeleitet wird, sieht die Lage anders aus. Der Erwachsene wendet sich als Repräsentant des Unterstützernetzes an das Kind. Dieses Unterstützernetz bietet dem Täter bei Wiedergutmachungen, die die Gemeinschaft betreffen, Halt und steht ihm tatkräftig bei. Vom Kind wird nicht erwartet, eigenständig Wiedergutmachungen zu leisten. Stattdessen nimmt es an Wiedergutmachungshandlungen teil, während die Eltern oder der Lehrer aktiv mitwirken und den Prozess anleiten. Vom Kind wird nicht gefordert, den Kopf zu senken und seine Schuld zuzugeben. Stattdessen legt der Erwachsene fest, dass es eine Verletzung gegeben hat und dass dafür eine Wiedergutmachung zu leisten ist. Nach den Prinzipien der neuen Autorität nehmen die Autoritätspersonen zum Vorfall Stellung, ohne dass dies vom Gehorsam oder vom Zugeständnis des Kindes abhängig ist. Ihre Aussage lautet: »Wir können dich nicht dazu zwingen, die Verantwortung für den Vorfall zu übernehmen oder die Verletzung wiedergutzumachen. Aber uns ist bewusst, dass eine Verletzung erfolgt ist, und es ist klar, dass dem eine Wiedergutmachung und Entschädigung folgen muss!« Die Formel »Verletzung m Wiedergutmachung« wird als oberstes Prinzip vorgestellt. Man kann das Kind nicht zwingen, dieses Prinzip gutzuheißen, aber die Erwachsenen und die gesamte Gemeinschaft sind diesem Prinzip verpflichtet. Die Autoritätsperson leitet den Prozess an und sorgt dafür, dass er stattfindet, auch wenn das Kind nicht einwilligt, einen Teil der Wiedergutmachung zu übernehmen. Unter diesen
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Bedingungen steigen die Chancen deutlich, dass das Kind sich am Wiedergutmachungsprozess beteiligen wird, eventuell auch erst später. Wiedergutmachungen stellen eine wertvolle Alternative zu Strafen dar. Im Gegensatz zur Bestrafung, an der nur die Autoritätsperson und das Kind beteiligt sind, nehmen an einer Wiedergutmachung der Lehrer, die Eltern, der Täter, das Opfer und das weitere Umfeld der Kinder teil. Im Gegensatz zur Bestrafung, deren Ziel Vergeltung und Abschreckung ist, besteht das Ziel der Wiedergutmachung darin, die Verinnerlichung der Wertvorstellungen gegen Gewalt zu fördern. Der Täter wird bei der Bestrafung an den Rand der Gesellschaft gedrängt, zugleich hat das Opfer in der Regel keinen Vorteil davon. Dagegen findet bei der Wiedergutmachung eine Reintegration des Täters in die Gemeinschaft statt, von der er sich durch sein gewalttätiges Verhalten abgesondert hat. Wiedergutmachungen sind ein herausragendes Beispiel für die neue Autorität, deren Handlungen auf gegenseitigem Vertrauen und auf der Bekräftigung der Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft beruhen. Durch die Wiedergutmachung stellen Eltern und Lehrer die Stärke der Gemeinschaft und ihre Führungsqualitäten unter Beweis und festigen dadurch ihre Autorität.
Wiedergutmachungshandlungen in Kindergärten Wiedergutmachungshandlungen können in allen Alterstufen angewendet werden. Die Beispiele der vorigen Kapitel bezogen sich auf Kinder zwischen 7 und 18 Jahren. In folgendem Abschnitt werden wir ein Interventionsprogramm beschreiben, das für Kindergärten erstellt wurde. Als wir uns die Durchführung dieser Intervention vornahmen, stand zur Debatte, ob schon in diesem frühen Alter diese Art von Maßnahmen angewendet werden kann. Wir wollten nicht nur überprüfen, wie die Kinder reagieren würden, sondern auch wie die Eltern und Kindergärtnerinnen die Intervention aufnehmen würden. Am Kindergartenjahresanfang stellten wir das Konzept bei einem Treffen von sechs Kindergärten und deren Elternschaft vor.
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Am Ende des Treffens wurde eine Anleitung ausgeteilt, wie sie hier abgedruckt ist: Wiedergutmachungshandlungen in Kindergärten Ziele Einen eindeutigen Standpunkt gegenüber jeder gewalttätigen Handlung beziehen Die Intervention wird bei der Vermittlung der Botschaft an die Kinder helfen, dass die Erwachsenen bei unannehmbaren Verhaltensweisen nicht zur Tagesordnung übergehen. Die Erwachsenen sind präsent, fühlen sich nicht durch das Kind bedroht und reagieren eindeutig auf Verhaltensweisen, die in ihren Augen unannehmbar sind. Die Stärkung der Autorität der Erzieher Die Intervention stärkt auf konstruktive Weise den Status und die gemeinschaftliche Autorität der Kindergärtnerin und der Eltern, ohne das Kind zu demütigen, auszugrenzen oder es als negativ oder gar krank festzuschreiben. Die Vermittlung der Botschaft: »Auf Verletzungen folgen Wiedergutmachungen« Die Intervention vermittelt dem Kind, dass für Gewalttaten ein Preis gezahlt werden muss: Wenn man jemanden verletzt, muss man diese Verletzung wiedergutmachen. Dies ist mit der Hilfe und der Ermutigung der für ihn verantwortlichen Erwachsenen möglich. Eine Alternative und eine Ergänzung zu Sanktionen und Bestrafungen Sanktionen und Bestrafungen (wie das »Time-out«) sind effektive Mittel im Kindergartenalter, aber sie erzeugen oft Widerstand. Eine Strafe führt nicht zur Verinnerlichung der Wertvorstellungen, die wir zu vermitteln suchen. Die vorliegende Intervention schlägt eine weitere Maßnahme vor – Wiedergutmachungshandlungen –, mit deren Hilfe die Wirksamkeit der bestehenden Mit-
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tel verstärkt werden kann, indem die Verinnerlichung der Werte gefördert wird und die Autoritätspersonen eine positive Führungsrolle übernehmen. Die Vergrößerung der Chancen zur Verinnerlichung der Wertvorstellungen beim Kind Anders als die Bestrafung, die beim Kind Widerstand hervorrufen kann, hat eine Wiedergutmachung gute Chancen, die positiven Stimmen im Kind anzusprechen, hierdurch wesentlich zur Verinnerlichung der erzieherischen Maßnahme beizutragen und den Erwerb von effektiven Bewältigungsstrategien für den weiteren Entwicklungsverlauf zu ermöglichen. Was ist eine Wiedergutmachung? Der Wiedergutmachungsprozess vermittelt allen Kindergartenkindern, dass unannehmbares Verhalten nicht automatisch durch eine Entschuldigung rückgängig gemacht werden kann, sondern dass eine Wiedergutmachungshandlung erforderlich sein kann, um den Schaden zu beheben. Eine vollständige Wiedergutmachung wird nur bei relativ schweren Gewalttaten oder bei wiederholten Vorfällen durchgeführt. Bei leichteren Vorfällen kann die Kindergärtnerin nach Abwägen der Situation entweder mit einer gewöhnlichen Disziplinarmaßnahme oder mit einer unvollständigen Wiedergutmachung reagieren. Der Wiedergutmachungsprozess Die Benennung des unannehmbaren Verhaltens und die Berichterstattung an die Eltern Nehmen wir an, dass ein Kind ein anderes Kind auf dem Spielplatz im Verlauf eines Streits gebissen hat. Die Kindergärtnerin wird die Kinder trennen und ihnen in ruhigem Tonfall sagen: »Ich weiß, dass du Joachim gebissen hast. Ich muss deinen Eltern erzählen, was vorgefallen ist, und ich werde mir zusammen mit Papa und Mama überlegen, was jetzt zu tun ist.« Die Mitteilung an die Eltern ist keine Drohung, sondern eine Darstellung der Tatsachen. Der Ton, in dem die Nachricht weiter-
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gegeben wird, muss diesen Unterschied widerspiegeln. Die weit verbreitete Art der Drohung, wie: »Das werde ich deinen Eltern erzählen!« ist für den Zweck dieser Intervention vollkommen unpassend. Die Kindergärtnerin legt fest, dass sie die Eltern über einen Vorfall, in den das Kind verwickelt war, informiert, ganz und gar unabhängig vom Verhalten des Kindes im weiteren Verlauf des Tages. Das Ziel der Berichterstattung liegt darin, die Bedeutung des Vorfalls zu kennzeichnen und dem Kind zu vermitteln, dass die Eltern und die Kindergärtnerin als Autoritätspersonen im Leben des Kindes zusammenarbeiten. Diese Kooperation zwischen den Eltern und der Kindergärtnerin dient der Stärkung der Autorität sowohl der Kindergärtnerin als auch der Eltern. Zu diesem Zeitpunkt wird die Kindergärtnerin das Kind nicht zu einer Entschuldigung auffordern. Kinder willigen direkt nach dem Vorfall nicht immer in eine Entschuldigung ein. Außerdem führt die Forderung nach einer Entschuldigung, wenn das Kind emotional noch mit dem Streit beschäftigt ist, oft zu einer unehrlichen Reaktion. »Bloße Worte« entsprechen aber gerade nicht den Werten, die von der Erzieherin vermittelt werden wollen. Durch die Benennung des Vorfalls und die Benachrichtigung der Eltern wird das »Prinzip des Aufschubs« angewendet: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«. Ein Aufschub beruhigt die erhitzten Gemüter, sofortige Reaktionen helfen oft nicht, sie können sogar zu einer Eskalation der Situation führen. Die Kindergärtnerin erzeugt diesen gewünschten Aufschub, indem sie das unannehmbare Verhalten benennt und dem Kind mitteilt, dass sie die Eltern benachrichtigen wird. Das Informieren der Eltern Die Kindergärtnerin wird die Eltern über das gewalttätige Verhalten des Kindes informieren (in einem Telefongespräch oder wenn die Eltern in den Kindergarten kommen, um ihr Kind abzuholen). Es ist wichtig, diese Berichterstattung der Kindergärtnerin als Bitte zur Zusammenarbeit zu verstehen. Die Eltern sollten die Anfrage der Kindergärtnerin deshalb nicht als Kritik an sich selbst oder an ihrem Kind auffassen. Es sollte also kein Grund
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bestehen, sich verteidigen zu müssen oder sich angegriffen zu fühlen. Wenn die Eltern kooperativ sind, können ihnen die folgenden Empfehlungen gegeben werden: Für die Eltern a) Ein kurzes Gespräch zwischen Ihnen und dem Kind Noch am gleichen Tag wäre es gut, wenn Sie das Kinderzimmer zu einem für Sie günstigen Zeitpunkt betreten, während sich Ihr Kind dort aufhält. Sie schließen die Tür hinter sich und setzen sich. Dann sagen Sie Ihrem Kind leise, freundlich und, das ist sehr wichtig, ohne Drohung: »Heute hast du ein Mädchen im Kindergarten gebissen. Das war nicht richtig. Wir können dir helfen, diese Tat wiedergutzu machen, weil du noch ein Kind bist und Hilfe brauchst. Morgen, wenn Mama dich zum Kindergarten bringt, wird sie der Kindergärtnerin sagen, dass ihr das Mädchen um Verzeihung bitten wollt. Die Kindergärtnerin wird dich mit Mama zum Mädchen führen und an deiner Seite stehen. Wir möchten, dass du dich entschuldigst, während Mama bei dir ist und dich ermutigt. Indem du das Mädchen gebissen hast, hast du nicht nur ihr wehgetan, sondern einen Fehler gegenüber dem ganzen Kindergarten gemacht. Deswegen möchten wir morgen ein kleines Geschenk mitbringen. Mama wird gemeinsam mit dir zur Kindergärtnerin gehen und ihr das Geschenk im Namen von uns dreien, als Familie, überbringen. Hast du eine Idee, was für ein Geschenk wir mitbringen können?« Sollte Ihr Kind einen Vorschlag für ein symbolisches Geschenk haben, ermutigen Sie es dazu. Sollte es keinen Vorschlag haben, können Sie ihm helfen, irgendeine Geschenkidee zu finden, z. B. ein selbst gemaltes Bild, ein Kuchen oder eine Süßigkeit. Nach dieser Mitteilung sollten Sie das Zimmer verlassen. Die Beziehung zum Kind bleibt unverändert, mit dem einzigen Unterschied, dass Sie für die Herstellung des Geschenks Zeit einplanen sollten. Es empfiehlt sich, dass derjenige Elternteil, der das Kind am nächsten Tag nicht zum Kindergarten bringt, diese Mitteilung macht, um beide Eltern mit einzubeziehen. Die Beteiligung bei-
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der Eltern vermittelt dem Kind die vereinigten Kräfte der elterlichen Autorität. Sollte Ihr Kind sich zu verteidigen suchen, Sie beschuldigen oder weinen, sagen Sie ihm: »Das ist keine Strafe, sondern ein positiver Schritt, den wir gemeinsam unternehmen, um den Schaden, den du angerichtet hast, wiedergutzumachen!« Wenn Ihr Kind die Schuld bei dem anderen Kind sucht (»Lisa hat aber angefangen …«), dann argumentieren Sie nicht. Sagen Sie: »Es geht nur darum, dass du die Regel des Kindergartens nicht eingehalten hast!« Schrecken sie vor möglichen Reaktionen des Kindes nicht zurück: Manche Kinder ignorieren die Anwesenheit der Eltern oder weigern sich, an der Wiedergutmachungstat mitzuwirken. Der Erfolg dieser Maßnahmen hängt nicht von der Zusammenarbeit Ihres Kindes ab. Elterliche Führung bedeutet, den Plan weiter zu verfolgen, unabhängig von der Bereitschaft des Kindes, daran teilzunehmen. Während unserer Arbeit mit Eltern und Lehrern in Schulen, haben wir dies oft beobachten können: Das Kind reagiert anfangs mit Protest, aber mit der Zeit macht sich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bemerkbar. Sollte das Kind sich der gemeinsamen Bitte um Verzeihung oder der Entschädigung für den Kindergarten widersetzen, empfiehlt es sich, ihm mitzuteilen, dass Sie, als seine Eltern und als diejenigen, die für es die Verantwortung tragen, sich in seinem Namen und im Namen der Familie bei dem verletzten Mädchen und bei der Kindergärtnerin entschuldigen werden, da es nicht bereit ist, dies gemeinsam mit Ihnen zu tun. Sie können dann entscheiden, ob es daneben von Ihnen eine Strafe auferlegt bekommt. Dabei ist es wichtig, die Bestrafung dem Alter des Kindes anzupassen und auf eine übersichtliche Zeitspanne zu beschränken. Sollte das Kind ein annehmbares symbolisches Geschenk vorgeschlagen haben, das die Familie kein Geld kostet, ist es wichtig, ihm bei der Vorbereitung des Geschenks zu helfen. Sollte es keinen Vorschlag haben, entscheiden Sie gemeinsam über ein symbolisches Geschenk und bereiten Sie es vor. Bieten Sie Ihrem Kind an, sich an den Vorbereitungen zu beteiligen.
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
Ein Brief sollte dem Geschenk beigefügt werden, in dem steht »Lieber Kindergarten —————— . Dieses Geschenk gilt als Wiedergutmachung. Es ist von —————— und seinen Eltern«. Sie sollten den Brief unterschreiben und Ihr Kind bitten, auch zu unterschreiben oder ein kleines Bild als Unterschrift zu malen. Sollte es damit nicht einverstanden sein, teilen Sie ihm mit, dass das Geschenk im Namen der ganzen Familie überreicht wird und dass es daher auch mit einbezogen ist. Fangen Sie nach dieser Aussage keine weitere Diskussion mit dem Kind an. Es ist wichtig zu betonen, dass Ihre gemeinsamen Handlungen dem Kind vermitteln, dass Sie ihm zur Seite stehen und dass es seine schwierige Situation nicht allein bewältigen muss. Dadurch stärken Sie das Kind und seinen Willen, Probleme zu bewältigen, und dies nicht nur, weil es dazu »gezwungen« wird. b) Die Wiedergutmachung im Kindergarten Mit Ihrer Ankunft im Kindergarten am nächsten Tag überreichen Sie der Kindergärtnerin das Geschenk mit dem Brief. Außerdem bitten Sie die Kindergärtnerin darum, das Mädchen, das gebissen wurde, darüber zu informieren, dass Sie gekommen sind, um im Namen Ihres Kindes und der Familie um Entschuldigung zu bitten. Wenn Ihr Kind sich hierzu bereit erklärt hat, begleitet die Kindergärtnerin sie beide nun zum Mädchen und Ihr Kind bittet dieses persönlich um Entschuldigung, während Sie als Eltern daneben stehen. Die Kindergärtnerin sollte dem Mädchen sagen, Sie hätten darum gebeten, auch ihren Eltern davon zu erzählen. Lob der Kindergärtnerin über die Wiedergutmachungstat – Das Kind wird auf zweierlei Weise für seine Wiedergutmachung gelobt. Nach einigen Minuten kann sich die Kindergärtnerin an es wenden und sagen: »Das ist etwas ganz Tolles, was du und deine Eltern gemacht haben! Ich möchte, dass du weißt, dass aller Groll nun verflogen ist! Alle Achtung!« Sollte das Kind sich von der Verantwortung lossagen und behaupten, dass es keinen Anteil daran habe, kann die Kindergärtnerin antworten: »Für mich
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bist du Teil deiner tollen Familie! Deine Familie hat etwas so Gutes für dich getan, das bedeutet für mich, dass auch du daran Teil hast!« Und hiermit sollte jegliche Diskussion mit dem Kind beendet werden. Während des Morgenkreises kann die Kindergärtnerin dann auf das Geschenk verweisen, das dem Kindergarten gegeben wurde, und sagen, dass das Kind das Geschenk gemeinsam seinen Eltern als Wiedergutmachung des Vorfalls vom Vortag mitgebracht hat. Sie sollte den Kindern außerdem erzählen, dass die Familie sich für den Vorfall entschuldigt hat und dass es deswegen keinen Grund mehr für irgendeinen Groll gegen das Kind gibt. Das Ziel dieser Mitteilung ist, die Wiedergutmachung öffentlich zu machen, allen Kindern gegenüber, vor allem aber auch denjenigen gegenüber, die im Kindergarten bereits unter Gewalttaten gelitten haben. Darüber hinaus soll durch diese Mitteilung die Angelegenheit als erledigt betrachtet werden, jeder Unmut gegenüber dem gewalttätigen Kind aufhören und ihm die Möglichkeit gegeben werden, sein Zugehörigkeitsgefühl zum Kindergarten zu verbessern. Nicht selten verhalten sich Kinder verletzend, weil sie Ablehnung oder ihrerseits Belästigungen erlitten haben. Oftmals führt das gewalttätige Verhalten zu einer erneuten und verstärkten Ablehnung des Kindes. Durch das öffentliche Bekanntmachen seiner Wiedergutmachung wird der Teufelskreis der Ablehnung durchbrochen und damit die Situation sowohl für das gewalttätige Kind als auch für seine Peergroup erleichtert.
Dieses Interventionsprogramm wurde einer Reihe von Kindergärten einen Monat nach Beginn des neuen Kindergartenjahres vorgeschlagen. Das Programm war nicht verpflichtend, sondern den Kindergärtnerinnen wurde die Möglichkeit gegeben, sich auf eigenen Wunsch und dem eigenen Tempo gemäß anzuschließen. Wir wollten wissen, ob Kindergärtnerinnen das Konzept der neuen Autorität, wie sie in dem Interventionsprogramm vorgestellt wird, für sich und für die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, als hilfreich empfinden. Die Kindergärtnerinnen erhielten Hilfestellung von zwei Psychologiestudenten für die Umsetzung der In-
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tervention, die innerhalb von sieben Monaten in drei der sechs Kindergärten eingeführt wurde. Die Kindergärtnerinnen berichteten, dass die Intervention zu einer Annäherung zwischen ihnen und den Eltern geführt habe und dass die Reaktionen der Kinder positiv gewesen seien. Die Intervention wurde in den unterschiedlichen Kindergärten auf verschiedene Weise umgesetzt, da jede Kindergärtnerin die Intervention ihrem persönlichen Stil anpasste. Wir werden nun die Variante der Kindergärtnerin vorstellen, die die Intervention am freizügigsten und originellsten umgesetzt hat.
Dorotheas Kindergarten Der Beginn der Intervention
Sobald Dorothea auf einen Vorfall von gewalttätigem oder erniedrigendem Verhalten stößt, pflegt sie jegliche Aktivität im Kindergarten zu unterbrechen, die Kinder zusammenzurufen und eine Diskussion zum Thema zu führen. Sie teilt den Kindern mit: »Es gab eben einen Vorfall, der den Regeln unseres Kindergartens widerspricht. Udo hat Niko angespuckt! Wir müssen entscheiden, was wir tun können, damit so etwas nicht wieder vorkommt!« Wenn der Junge behauptet, es sei nicht absichtlich gewesen, fragt sie die Gruppe: »Kann man unabsichtlich jemanden anspucken?« Wenn der Junge behauptet, dass das andere Kind angefangen habe, sagt sie: »In solch einem Fall musst du zu mir kommen und nicht spucken!« Mit Abschluss der gemeinsamen Besprechung sagt sie zu dem Kind, das sich daneben benommen hat: »Denk über das, was du getan hast, nach und erzähl uns allen am Ende des Tages, zu welchem Ergebnis du gekommen bist!« Bei weniger schwerwiegenden Vorfällen, die nicht mit der ganzen Kindergartengruppe diskutiert werden, sagt sie: »Ihr müsst miteinander sprechen und mich über eure Lösung zu dem Vorfall informieren!« Später geht sie auf die Kinder zu und fragt, ob sie schon eine Lösung gefunden haben. Allmählich begann Dorothea, Wiedergutmachungshandlungen zu initiieren. Sie lädt z. B. Kinder dazu ein, ein Bild als Entschädigung zu malen. Dorothea fragt das verletzte Kind: »Was
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Dorotheas Kindergarten
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kann dir helfen, den Vorfall zu überwinden?« Das gewalttätige Kind fragt sie: »Wie kannst du ihm helfen, den Vorfall zu überwinden?« Nach einigen Fällen wussten die Kinder, was sie vorschlagen und worum sie bitten konnten. Die Beteiligung der Eltern
Dorothea bezieht die Eltern mit ein berichtet ihnen über jeden bedeutsamen Vorfall, entweder wenn sie ihr Kind abholen oder per E-Mail. Auf die Frage, was sie tue, wenn die Eltern nicht mit ihr zusammenarbeiten wollten, antwortete sie: »Es gibt keine Eltern, die man nicht irgendwie erreichen kann. Man muss es nur versuchen. Wenn ich die Eltern kontinuierlich über die Ereignisse im Kindergarten informiere, die ihr Kind betreffen, entwickelt sich Vertrauen zwischen uns. Das ist nicht mit allen Eltern einfach, aber es ist machbar. Wenn ich die Eltern darum bitte, dass das Kind für den nächsten Tag ein Bild als Entschädigung malen soll, und sie es vergessen, dann sage ich ihnen: ›Das ist für Ihr Kind von großer Bedeutung. Bald wird es in die Schule kommen, und dort wird es viel mehr Verantwortung tragen müssen!‹« In einem Fall lehnte eine Mutter die Bitte ab, eine Entschädigung vorzubereiten. Dorothea rief sie mit einem besonderen Vorschlag an: Die Mutter möge nur drei Mal ihrer Bitte für eine Entschädigung nachkommen. Das wäre alles! Die Mutter stimmte zu. Dorothea erzählte, dass nach zwei Wiedergutmachungshandlungen in Zusammenarbeit mit der Mutter keine weitere Notwendigkeit für ein weitere bestanden habe. Die Übergabe der Verantwortung an die Kinder
Im Verlauf des Jahres, hörte Dorothea auf, den Eltern Informationsbriefe per E-Mail zukommen zu lassen, und übergab den Kindern die Verantwortung, ihren Eltern von dem Vorfall zu erzählen und am nächsten Tag einen Entschuldigungsbrief mitzubringen, den sie mit Hilfe der Eltern geschrieben hatten. Wann immer das Kind keinen Brief mitbrachte, informierte sie die Eltern, die das Kind in den Kindergarten brachten, über den Vorfall und bat darum, einige Minuten zu bleiben, um gemeinsam mit dem Kind
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Öffentlichkeit und Wiedergutmachung
einen Entschuldigungsbrief zu entwerfen. Die Kinder lernten diesen Ablauf ziemlich schnell und machten Dorothea selber darauf aufmerksam: »Sie muss mir einen Entschuldigungsbrief mitbringen!« Während des Morgenkreises stellten sich die Kinder neben die Kindergärtnerin, die dann den Entschuldigungsbrief vorlas. Danach überreichte das gewalttätige Kind vor aller Augen dem verletzten Kind den Brief. Die Entschuldigungsbriefe wurden mit der Zeit immer mehr verziert und schöner. Im Rahmen einer Ausstellung wurden die Briefe im Kindergarten aufgehängt. Eines der Kinder hatte auf den Umschlag sogar einen Ring als Geschenk geklebt. Es gab viel Aufregung unter den Kindern um die Briefe, sowohl unter denjenigen, die einen Brief mitbringen mussten, als auch bei denen, die einen Brief erhielten. Es folgen einige Beispiele. Ein Kind spielte mit einem Spielzeug und wollte es nicht mit drei anderen Kindergartenkindern teilen. Die wollten es deswegen schlagen, aber die Kindergärtnerin hielt sie im letzten Moment zurück. Dorothea nahm die drei Kinder zur Seite, sagte ihnen, dass sie im Begriff gewesen seien, etwas Verbotenes zu tun, und fragte sie, wie sie die Angelegenheit wiedergutmachen könnten. Die Kinder schlugen vor, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Dorothea erklärte sich einverstanden und sagte, dass die Kinder ihren Eltern von dem Vorfall berichten und gemeinsam mit ihnen einen Entschuldigungsbrief schreiben könnten. Am nächsten Morgen kam nur eines der Kinder mit einem Entschuldigungsbrief in den Kindergarten. Dorothea informierte die anderen Eltern und diese entwarfen gemeinsam mit ihrem Kind auf der Stelle einen Brief. Während des Morgenkreises bat sie die Kinder, von dem Vorfall und von der Wiedergutmachungstat zu erzählen. Sie pries die Kinder für ihren Mut und lobte ihre Eltern mit den abschließenden Worten: »Ihr drei habt tolle Familien!« Ein Mädchen wollte sich hinsetzen, da kam ein anderes Kind und zog ihm den Stuhl weg – aus Spaß. Dorothea versammelte alle Kinder. Sie überlegten zusammen, was hätte passieren können, und stellten mit einer Puppe auf dem Stuhl die Situation nach, was passiert, wenn man den Stuhl wegzieht. Das Kind schrieb einen
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Dorotheas Kindergarten
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Entschuldigungsbrief und las ihn während des Morgenkreises am nächsten Tag vor. Dorothea rief eines der Kinder und bat es, der Psychologiestudentin, die bei der Umsetzung der Intervention half, einen Entschuldigungsbrief zu zeigen, den es an besagtem Tag erhalten hatte. Ein anderes Mädchen hörte das und rief: »Ich habe auch einen Brief!« Dorothea war überrascht und fragte sie, von wem. Das Mädchen erzählte, dass eines der anderen Kinder ihr einen Brief geschrieben habe, nachdem es sie verflucht habe. Dorothea hatte von dem Vorfall gar nichts gewusst! Dies ist ein Beweis für die Verinnerlichung der Wiedergutmachungskultur und zeigt, dass diese Prinzipien schon im Kindergartenalter relevant sind.
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Kapitel VII Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt1
Um physische Gewalt von der Schule zu verbannen, ist es wichtig, die Schüler am Kampf gegen die Gewalt zu beteiligen. Das Mitwirken der Schüler ist darüber hinaus unentbehrlich, um psychischer Gewaltanwendung entgegenzuwirken. Psychische Gewalt kann in Form von Erniedrigungen, Ignorieren, Verbannen u. a. m. auftreten. Sie stellt eine besondere Herausforderung dar, denn sie ist viel schwieriger auszumachen und zu handhaben. Sie stellt Lehrer und Eltern vor vielschichtige erzieherische und moralische Probleme. Viele Lehrer meinen, dass die Auseinandersetzung mit Problemen wie Verbannung, psychischen Verletzungen oder Beschimpfungen außerhalb ihres Verantwortungsbereichs liegt. Sie denken, dass ihnen nicht die nötigen Mittel zur Verfügung stehen, um mit diesen Phänomenen fertig zu werden, und sie zweifeln, ob sie das Recht haben, sich in Bereiche einzumischen, die gemeinhin als Privatsphäre der Schüler gelten. Die Einschränkungen der Lehrer werden besonders deutlich, wenn man psychische Gewalt unter Disziplinschwierigkeiten einordnet. In diesem Fall ist eine klare Definition des Problems eindeutig festlegt, wann mit Strafmitteln einzugreifen ist und wann das Problem als erledigt gilt. Diese Voraussetzung liegt in der Regel bei psychischer Gewalt nicht vor, so dass sich Lehrer oft hilflos fühlen. Dies wird anders, wenn sie ihre Aufgabe gemäß der neuen Autorität definieren. Die Einsicht, dass Autorität nicht im 1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Georg Roessler, Yoni Tshouna und Keren Fatal-Asher geschrieben. Georg Roessler und Yoni Tshouna sind Vorsitzende der Organisation »SOS Gewalt«, die in Israel Schüler und Lehrpersonal zum gewaltfreien Kampf gegen Gewalt ausbildet.
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
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Erzwingen von Gehorsam oder in sofortigen Ergebnissen besteht, sondern dass sie auf beständiger Präsenz und Beharrlichkeit, Unterstützung und den Einbezug der öffentlichen Meinung aufbaut, eröffnet viele neue Handlungsmöglichkeiten. Wenn sich die Autorität auf Netzwerke und Bündnisse stützen kann, so verschafft ihr das einen wesentlichen Vorteil bei der Annäherung an die Schüler. Bei dieser Sichtweise befinden sich Lehrer und Schüler Schulter an Schulter im Kampf gegen Gewalt: Sie betrifft alle! Lehrer dürfen hierbei nicht auf ihre Verantwortung als Führungspersonen verzichten. Nur wenn sie sich an der Spitze des Kampfes gegen Gewalt platzieren, können sie das Vertrauen der Schüler gewinnen. Sündenbock2 Ronja ist ein außergewöhnliches Mädchen, das unter Sprachschwierigkeiten leidet. Sie kam in der zweiten Klasse in die gegenwärtige Schule. Seit Beginn des Schuljahrs war sie den Drangsalierungen einer Mädchengruppe ausgesetzt, die sich über sie lustig machte und sie demonstrativ verletzte. Die Mädchen verhängten auch einen Bann: Sobald Ronja in ihre Nähe kam, rannten sie weg und riefen ihr beleidigende Worte zu. Eines Tages sammelten sich diese Mädchen und griffen Ronja auf ihrem Heimweg an. Sie machten sich über sie her, zogen sie an den Haaren und beschimpften sie: »Verrückte!«, »Drecksack!« »Stinker!« Sie sagten ihr, dass alle sie hassten und dass sogar ihre Eltern es lieber gehabt hätten, dass sie nie geboren worden wäre. Ronja kam weinend nach Hause. Die Eltern fragten sie aus, und sie erzählte von dem Vorfall. Daraufhin wandten sich die Eltern an den Klassenlehrer. Der lud die Eltern der an dem Vorfall beteiligten Mädchen zu einem Treffen mit ihm und mit Ronjas Eltern ein. Die Eltern der drangsalierenden Mädchen waren schockiert und konnten nur schwer glauben, dass ihre Kinder in diesen Vorfall verwickelt waren. Der Klassenlehrer beharrte jedoch darauf, die Beweise seien eindeutig, und er selbst habe schon Anzeichen eines Banns in der Klasse verspürt. Er bat die Eltern, ihre Kinder nicht zu bestrafen, sondern mit ihnen zu einem Treffen der 2 Die zwei folgenden Beispiele entstammen den Aktionen des Klassenlehrers Meir Davidesku (»Mr. Präsent«) der Kaplan-Schule in Hadera, Israel.
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
gesamten Klassengemeinschaft und deren Eltern zu kommen. Während des Treffens würden sie eine konstruktive Lösung des Problems anvisieren. Er bat die Eltern auch, Ronja anzurufen, um ihr zu sagen, dass sie von dem Vorfall benachrichtigt worden seien und ihr Unterstützung versprächen. Einige der Eltern entschuldigten sich persönlich und im Namen ihrer Tochter bei Ronja und versprachen, auf jede erforderliche Weise zu helfen. Noch vor dem gemeinsamen Treffen riefen zwei der Mädchen Ronja an und drückten ihr Bedauern über ihr Verhalten aus. Einige Tage später versammelten sich in der Klasse etwa zwanzig Eltern und Lehrer. Die Schulleiterin eröffnete das Treffen und sagte: »Letzte Woche gab es einen schrecklichen Vorfall. Eine Gruppe von Mädchen dieser Klasse hat eine Klassenkameradin hinterhältig angegriffen, sie an den Haaren gezogen und sie auf schlimmste Weise gedemütigt und beleidigt. Das Mädchen wurde bereits vorher das Opfer von Ächtungen und psychischem Terror. Wir haben uns an die Eltern der in den Vorfall verwickelten Kinder gewandt. Diese haben sich bereit erklärt, entschlossen dagegen vorzugehen. Sie haben sich gemeinsam mit ihren Töchtern an das angegriffene Mädchen gewandt und sich bei ihr entschuldigt. Wir haben uns heute hier eingefunden, um gemeinsam Stellung gegen jede Art psychischer Gewalt zu beziehen, seien es Demütigungen, Beleidigungen, Einschüchterungen oder das Verhängen eines Banns durch andere Kinder.« Einige der Eltern und der Klassenlehrer zeigten sich erschüttert über den Vorfall. Zwei Eltern erzählten von ihren persönlichen schmerzlichen Erfahrungen, als sie in ihrer Kindheit unter einem Bann gelitten hatten. Im Verlauf des Treffens fing Ronjas Mutter an zu weinen, auch ein Mädchen weinte, das in den Angriff involviert gewesen war. Der Klassenlehrer erklärte, dass es nicht genug sei, dass der Bann aufgehoben werde. Es sei notwendig, dem Mädchen das Gefühl zu geben, dass sich die Klasse von Gewalt abwende und sich für sie einsetze. In den Tagen nach dem Treffen besuchten einige Mädchen Ronja zu Hause. Andere boten ihr an, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Zwei der Mädchen, die sie drangsaliert hatten, wurden zu ihren Freundinnen. Dieser Vorfall fand auch in anderen Klassen Widerhall, da Schüler gesehen hatten, wie die Eltern sich in der Klasse versammelt hatten, und nach der Bedeutung dieses Ereignisses fragten. Bei der
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nächsten Lehrerkonferenz wurde beschlossen, in allen Klassen eine Diskussion über diesen Vorfall anzuregen, ohne die Namen der involvierten Kinder zu nennen. Diese Klassengespräche zeichneten sich durch ein starkes Gemeinschaftsgefühl aus. Vorfälle von Ächtungen und Demütigungen aller Arten wurden angeprangert. In allen Klassenverbänden erklärten sich einige Schüler bereit, dafür zu sorgen, dass in Zukunft ein Bann aufgehoben und Demütigungen Einhalt geboten würde. Internet-Bann Ein Mädchen in der 6. Klasse verhängte einen Bann über ein anderes Mädchen, nachdem sie sich mit ihr um einen beliebten Jungen in der Klasse gestritten hatte. Ihr angesehener Status in der Klasse und ihr zentraler Platz in den Internet-Foren ermöglichten ihr, die meisten Mädchen der Klasse hierfür zu gewinnen. Glücklicherweise hatte auch der Klassenlehrer einen guten Stand bei den Kindern, und sie wussten, dass sie ihn über jedes Problem per E-Mail oder über ICQ (ein Internet-Nachrichten-Programm, durch das Jugendliche miteinander kommunizieren) informieren konnten. Jemand schickte dem Klassenlehrer eine Nachricht. Daraufhin führte er mehrere Gespräche mit dem Opfer und mit dem Mädchen, das den Bann verhängt hatte. Sie sagte, dass sie den Bann aufheben würde, bat aber den Klassenlehrer, die Angelegenheit vor der Klasse geheim zu halten. Der nahm jedoch diese Bedingung nicht an. Am nächsten Tag eröffnete er den Unterricht mit den Worten: »Steht alle auf! Ich habe etwas Schreckliches erfahren, das sich in dieser Klasse abgespielt hat. Ihr wisst, was ich von psychischen Verletzungen halte.« Die Schüler verstanden sofort, um was es sich handelte. Einer sagte: »Sie meinen sicherlich die Angelegenheit mit dem Bann.« Der Klassenlehrer antwortete ihm: »So etwas kann ich in meiner Klasse nicht dulden! Ich möchte bis heute Nachmittag eine Nachricht per E-Mail erhalten, dass der Bann aufgehoben ist!« In der Klasse herrschte Schweigen. Nach einigen Minuten forderte der Klassenlehrer die Schüler auf, sich zu setzen. Den Rest der Stunde widmete er dem Thema »Bann und Verbannung im Alten Testament«. Er betonte, dass Verbannung als die schwerste Strafe gelte, die es seit damals und bis heute gebe. Schon während der nächsten Pause wandten sich einige Schüler an das Opfer und nahmen wieder Kontakt mit
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
ihm auf. Eine der Schülerinnen kaufte ein Geschenk und ließ die ganze Klasse auf einer beiliegenden Karte unterschreiben.
Diese Beispiele weisen auf den großen Einfluss hin, den ein Lehrer auszuüben vermag, der Präsenz zeigt. Ein Lehrer, der es schafft, ins Leben der Schüler einbezogen zu sein, nimmt beharrlich gegen Erniedrigungen und Vorfälle wie das Verhängen eines Banns Stellung und weigert sich, gewalttätige Vorfälle zu ignorieren. Es kann jedoch nicht von allen Lehrern erwartet werden, einen Status innezuhaben, der es ihnen ermöglicht, solche Phänomene aufzudecken und einzudämmen. Lehrer wissen nur zu gut, dass psychische Gewalt meistens unterschwellig ausgeübt wird. Um solche Phänomene effektiv zu bekämpfen, ist es notwendig, die Schüler in den Kampf einzubeziehen und zu stärken, damit sie notfalls fähig sind, eigenständig zu handeln.
Das Rekrutieren der Schüler zum gewaltfreien Kampf gegen Gewalt Ein Vorfall, bei dem physische Gewalt eingesetzt wurde, kann häufig erfolgreich »von oben« geregelt werden. Bei der Auseinandersetzung mit psychischer Gewalt hängt jedoch der Erfolg von der Rekrutierung von Schülern und ihrer Mitarbeit ab. In den meisten Fällen kann der Lehrer mit seinen Maßnahmen »von oben« keine geeignete Antwort auf die Phänomene von Bann und Beschimpfungen liefern. Im schlimmsten Fall verschärft er sie sogar. Einem Schüler, der unter dem Bann oder unter Demütigungen anderer leidet, wird nur dann wirkliche Hilfe zuteil, wenn andere Schüler bereit sind, die Misshandlungen zu beenden. Ein von oben erteilter Auftrag zur Beendigung der psychischen Gewalt, auch wenn ihm Gehorsam geleistet wird, erreicht nur zum Teil das erwünschte Ziel. Einige Lehrer scheitern mit der Handhabung solcher Vorfälle, da sie alles selbst in die Hand nehmen. Andere versagen, weil sie die Regelung solcher Vorfälle ganz und gar den Schülern überlassen. Wenn ein Lehrer einschreitet, wird oftmals das schuldige Kind bestraft, ohne dass die anderen Kinder mit einbezogen
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Das Rekrutieren der Schüler zum gewaltfreien Kampf
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werden. Dadurch wird den Schülern vermittelt: »Wir nehmen uns des Problems an, kehrt ihr in die Alltagsroutine zurück!« Die Schlussfolgerung der Kinder lautet also: »Das ist nicht unsere Angelegenheit, das ist die Angelegenheit des Lehrkörpers.« Im anderen Fall vermittelt der Lehrer den Schülern: »Diese Probleme sind eure alleinige Angelegenheit.« Die Schlussfolgerung der Kinder lautet in diesem Fall: »Wir erhalten keinen Schutz vor den Mobbern!« Die Prinzipien der neuen Autorität ermöglichen eine andere Haltung, bei der der Lehrer die Kinder im gewaltfreien Kampf gegen Gewalt anzuleiten sucht. Er weiß genau, dass sein Einfluss ohne ihre Mitarbeit sehr begrenzt ist. Seine Aufgabe ist in diesem Fall zweifacher Art: selbst zu handeln, um den Schülern zu zeigen, dass sie nicht allein sind, und gleichzeitig die Kinder als seine Verbündeten im Kampf zu stärken. Das Rekrutieren der Kinder im Kampf gegen Gewalt ist eine erzieherische Aufgabe von höchster Wichtigkeit. Unsere Wertvorstellungen erhalten ein ganz anderes Gewicht, wenn anstatt wiederholter Erklärungen und gemeinschaftlicher Diskussionen die Schüler in den Kampf gegen Gewalt einbezogen werden. Gandhi betonte, dass die Teilnahme an einer Aktion des gewaltfreien Kampfes das Mitglied besser ausbilde und abhärte als jeder mündliche Überzeugungsversuch (Sharp, 1973). Dies entspricht der Absicht der Autoritätsperson in ihrer Arbeit mit Kindern: diese zum eigentlichen Handeln gegen Gewalt anzuleiten – als eigenständige Gruppe und als Teil einer breiten Front von Schülern, Lehrern und Eltern. Viele Interventionsprogramme zur Bekämpfung von Gewalt an Schulen basieren auf Aufklärungsaktionen, Überzeugungsversuchen, Problemlösungsstrategien, auf der Aneignung von Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Gefühlen in der Gruppengemeinschaft und zur gewaltfreien Kommunikation. Diese Mittel können das Bewusstsein über die Problematik schärfen und das Schulklima verbessern. Sie überzeugen jedoch vor allem die Schüler, die schon von vornherein überzeugt waren, d. h. jene, die sowieso vor Gewalt zurückschrecken. Um die gesamte Schülerschaft zu erreichen, müssen die Kinder darin gestärkt werden, sich tatsächlicher Gewalt zu widersetzten. Der gewaltfreie Kampf gegen Gewalt ist in
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
jeder Hinsicht ein Kampf. Er sollte nicht mit dem Versuch verwechselt werden, Probleme mit Hilfe von Dialog, Überzeugungskraft und gegenseitigem Verständnis zu lösen. Ein gewaltfreier Kampf basiert auf der Rekrutierung von Hilfe und dem Demonstrieren von Stärke, auch wenn es sich um eine ganz andere Stärke als die des Faustschlags handelt. Dies ist die Stärke, die durch beharrlichen Widerstand wächst, durch gegenseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Konventionen zu durchbrechen, die die Handlungsfreiheit der gewalttätigen Mitwirkenden einschränken.
Prinzipien des gewaltfreien Kampfes gegen Gewalt Schweigen vertieft die Isolation des Opfers
Die Herrschaft der Mobber setzt voraus, dass die Opfer isoliert sind und dass über das Verhalten der Mobber geschwiegen wird. Sie baut wesentlich auf scheinbar unantastbaren gesellschaftlichen Normen auf wie z. B. der Idee des Verpetzens oder der Geheimhaltung, auf Begriffen wie »Feigheit« oder »Mut«, auf Gewohnheiten, mit denen wir Gewaltvorfälle ignorieren und das Opfer gesellschaftlich isoliert wird. Diese Normen entsprechen nicht unbedingt den natürlichen Neigungen der Kinder, sondern sind Resultat von Verängstigung und Hilflosigkeit. Ähnlich wie andere repressive Systeme wenden die Mobber Verbote und schwerwiegende Strafen an, um jede Handlung zu unterdrücken, die ihre Herrschaft bedrohen könnte. Das schlimmste Vergehen unter Kindern ist das »Verpetzen«. Trotz dieser sehr verbreiteten Ansicht sind die meisten Kinder sich einig, dass man verantwortungsvoll handelt und niemanden »verpetzt«, wenn man über einen Schüler berichtet, der das Leben eines anderen Schülers bedroht hat. Dagegen herrscht kaum Einigkeit über die Berichterstattung von weniger extremen Vorfällen. Manchmal wird sogar die Berichterstattung über extreme Gewalttaten von Kindern als »Verpetzen« eingestuft. Das Interesse der Mobber besteht natürlich darin, jegliche Berichterstattungen als unannehmbares »Verpetzen« zu definieren, um jede mögliche Kommunikation mit der Lehrerschaft, die ihre eigene Herrschaft bedrohen könnte, zu minimieren. Auch »Feigheit« ist ein Konzept, das vor allem Mobbern
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Prinzipien des gewaltfreien Kampfes gegen Gewalt
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zugute kommt. Ein Kind, das z. B. von einem größeren Kind Hilfe erbittet, um sich vor den Mobbern zu schützten, wird als »Feigling« bezeichnet. Sollte das Kind es wagen, die Hilfe eines Erwachsenen zu erbitten, dann ist er nicht nur ein »Feigling«, sondern auch eine »Petze«. Diese Normen sorgen dafür, dass das Opfer isoliert bleibt und die Mobber ihre Herrschaft weiter ausüben können. Verpetzen oder Berichterstattung? Es folgt ein Gruppenspiel, das dazu dient, das Bewusstsein der Kinder in Bezug auf diese Normen zu schärfen und ihren Widerstand gegen diese Normen zu stärken. Dieses und andere Spiele werden im Rahmen eines dreitätigen Seminars durchgeführt, das die Schüler und den Lehrkörper im Kampf gegen Gewalt unter Anleitung von »SOS Gewalt«3 ausbildet. Ziele der Übung sind: – den Schülern dabei helfen zu verstehen, dass Normen, die das Petzen verbieten, keine Gültigkeit haben und nicht so selbstverständlich sind, wie man denken könnte bzw. wie Mobber es gern hätten; – das Verständnis zu fördern, dass das gewaltvolle Umfeld keine natürliche Gegebenheit darstellt, sondern nur mit stillschweigendem Einverständnis existieren kann; – zu verdeutlichen, wie Mobber die Opfer isolieren und ihre Herrschaft mit dem Tabu des »Verpetzens« aufrechterhalten; – die Schüler zu ermutigen, Normen festzulegen, die eine Zusammenarbeit untereinander und mit Erwachsenen fördern.
3 »SOS Gewalt – Zentrum für Gewaltstudien in Israel« ist seit einigen Jahren in Israel tätig und wurde mit Unterstützung der Gewalt Akademie Villigst (GAV) in Deutschland gegründet. Die Zentren wenden die Prinzipien des gewaltfreien Widerstands, die im politischen und gesellschaft lichen Kampf ihren Ursprung haben, im schulischen Kontext an. Die Übungen, die in diesem Kapitel beschrieben werden, entstammen den Klassenseminaren, die Teil eines schulischen Interventionsprogramms im Sinne des gewaltfreien Widerstands sind. Die Seminare beginnen unter Leitung Außenstehender, werden aber schrittweise der eigenständigen Anleitung schulischer Funktionsträger übergeben. Information zu den Zentren finden sie im Internet: www.soscenter.org.il und www.gewaltakademie.de
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Die Übung wird damit eröffnet, dass ein Schild vor die Klasse gestellt wird mit der Frage: »Wer legt die Regeln fest? Warum?« Die Schüler werden gebeten, die Frage aus ihrer Sicht zu beantworten. Die charakteristischen Antworten sind: Eltern, das Kultusministerium, die Polizei, das Gericht, die Regierung, der Lehrer oder die Schulleitung. Nach jeder Antwort fragt der Seminarleiter: »Warum dieser?« Alle Antworten werden an die Tafel geschrieben. Am Ende der Runde über die Frage, wer die Regeln festlegt, schreiben die Seminarleiter zehn Sätze an die Tafel. Jeder Satz bezieht sich auf einen Vorfall, der einem Erwachsenen berichtet wurde, z. B.: »Ein Schüler beschwert sich, dass ein anderer Schüler im Korridor jemandem einen harten Schlag versetzt hat«; »Eine Schülerin erzählt dem Klassenlehrer, dass ein Schüler an dem BH einer Mitschülerin gezogen hat«; »Ein Schüler erzählt seiner Lehrerin, wie ein Mitschüler während einer Prüfung abgeschrieben hat«; »Ein Schüler erzählt dem Schulleiter, dass ein anderes Kind gedroht hat, ihn nach der Schule zu verprügeln.« Alle Sätze werden vorgelesen, und es wird abgestimmt, ob der Vorfall als »Verpetzen« oder als »Berichterstattung« gilt. Am Ende der Abstimmung fassen die Seminarleiter die Ergebnisse zusammen und eröffnen eine Diskussion über die Argumente, die zur entsprechenden Entscheidung geführt haben. Der Seminarleiter fasst dann die Übung mit folgenden Worten zusammen: »In eurer Klasse gibt es Dinge, die ihr nicht duldet, wie zum Beispiel Bedrohungen mit einem Messer. Es gibt aber auch Dinge, die ihr bereit seid zu erdulden. Mit Eurer Abstimmung signalisiert ihr sozusagen den Mobbern der Schule, dass ihr weiterhin bereit seid, Prügeleien und das Ziehen an BHs zu dulden, aber dass ihr nicht bereit seid, eine Drohung mit einem Messer hinzunehmen. Ihr seid diejenigen, die die Grenzen setzen. Solange ihr bereit seid, Schläge und Erniedrigungen hinzunehmen, werdet ihr diese bekommen. Solltet ihr euch dazu entschließen, dem ein Ende zu setzen, sind wir bereit, euch im Kampf zu unterstützen. Das wird ein gewaltfreier Kampf sein, aber er wird nicht weniger energisch sein, nur weil er gewaltfrei ist. Im Gegenteil!« Die Reaktionen der Schüler sind meist eindeutig und zeigen, dass diese Übung ihnen hilft, die Willkür der Normen zu begreifen und die Interessenten von dieser Art von Normen auszumachen. Manchmal führt diese Übung zu der sofortigen Entscheidung, die abwegigen
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Prinzipien des gewaltfreien Kampfes gegen Gewalt
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Normen abzulehnen. Z. B. beschloss ein Junge, der hohes Ansehen in seiner Klasse genoss, seiner Lehrerin über einen Mobber in einer anderen Klasse Bericht zu erstatten, der regelmäßig einigen Schülern seiner Klasse ein Bein stellte, sie schubste und so zum Fallen brachte. Die Lehrerin lud den Mobber zu einem Gespräch ein und teilte ihm mit, dass er von nun an unter gezielter Aufsicht stehe. Als er der Schüler Gruppe traf, die er zu drangsalieren pflegte, rief er ihnen zu: »Ihr habt eine Petze unter Euch!« Darauf entgegnete ein Schüler der Gruppe: »Nicht nur eine! Wir sind eine ganze Klasse voller Petzen!« Die anderen Schüler der Gruppe beschlossen, diese Formulierung zu übernehmen und in ihrer Klasse publik zu machen. Die Klasse reagierte mit Begeisterung. Damit wurde die negative Bezeichnung zum Wahrzeichen der ganzen Klasse und symbolisierte ihre Entscheidung, keine Gewalt mehr zu dulden. Der gewaltfreie Kampf verpflichtet zu einer besonderen Solidarität
Ein isoliertes Kind leidet durch seine schwache Stellung gegenüber den Mobbern unter großen Ängsten. Das verändert sich, sobald es aus seiner Isolation befreit wird. Viele Menschen waren über den enormen Mut der Freiheitskämpfer im gewaltfreien Widerstand gegen massive Unterdrückung erstaunt, wie z. B. im Kampf um Unabhängigkeit in Indien oder im Kampf um Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser Mut entsteht nicht in der Seele des Einzelnen, sondern im Zusammenschluss der Gruppenmitglieder. Die Erkenntnis, dass es sich bei Unterdrückung um Willkür handelt, führt oftmals zu mutigen Handlungen Einzelner, die sich der Unterdrückung zu widersetzen suchen. Damit bringt sich der Betroffene aber oftmals in unnötige Gefahr und er riskiert eine schwere Niederlage im Kampf gegen Gewalt. »König der Schläge« Ralf war der »König der Schläge«. Er schaffte es, seine ganze Jahrgangsstufe in Angst zu versetzen und die Schüler seine Launen spüren zu lassen. Manchmal provozierte er systematisch einige seiner Mitschüler, und wenn einer von ihnen auf eine Art und Weise
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
reagierte, die ihm nicht passte, sagte er: »Neig deinen Kopf zum Schlag!« Erstaunlicherweise taten das die Schüler auch, weil sie sich vor noch extremerer Gewalt fürchteten. Nach einer Diskussion in der Klasse im Rahmen des Seminars zum Kampf gegen Gewalt kam es zu einem Aufruhr wegen der Erniedrigungen, die alle von Ralf einstecken mussten. Gustav war einer der Jungen, die Ralf zu provozieren pflegte. Er fasste sich ein Herz und beschloss, dass er als Pionier dem Mobbing widerstehen würde. Als Ralf ihm befahl »Neig deinen Kopf zum Schlag!«, hob Gustav den Kopf und schaute ihm geradewegs in die Augen. Ralf drohte, dass er es bereuen würde, wenn er nicht den Kopf neige. Gustav verharrte in seiner Stellung. Da stürzte Ralf sich erbarmungslos auf ihn, brach ihm die Nase und verletzte ihn an der Braue. Dieser Angriff hatte zur Folge, dass Ralf von der Schule suspendiert und bei der Polizei eine Akte gegen ihn angelegt wurde.
Es reicht nicht aus, das Bewusstsein für die Problematik zu schärfen und ein emotionales Betroffensein hervorzurufen. Es ist notwendig, sich gemeinsam gegen Gewalt zu organisieren.
Der Bann Der Bann ist ein weit verbreitetes Phänomen, besonders in den Schulklassen der Mittelstufe. Umfragen zu Gewalt zeigen, dass 30 % der Schüler Opfer eines Bannes werden. Das Phänomen ist unter Mädchen weiter verbreitet, auch wenn es unter Jungen nicht selten vorkommt (Benbenishty und Astor, 2005). Ein Bann kann tiefes Leid verursachen und ein Kind sogar in den Suizid treiben. Während eines Banns werden der Kontakt und die Kommunikation mit dem verbannten Schüler abgebrochen, man zeigt ihm die kalte Schulter, lädt ihn nicht zu Feiern oder Ausflügen ein und schickt ihm anonyme Beleidigungsbriefe. Oft wird der Bann als Kampfmittel um den Status in der Klasse verwendet. In diesem Fall wird der Bann von einer dominanten Person ausgesprochen, die sich in ihrem Status bedroht fühlt oder sich einen besseren Status verschaffen will, z. B. ein »aufsteigender Klassenstar« gegen die »Klassen-Königin«.
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Der Bann
Um die Schüler davon zu überzeugen, einen Bann nicht zu unterstützen, kann man sich mit einer Übung behelfen, die etwas von den Erfahrungen und den Gefühlen des Opfers vermittelt. Bei dieser Übung wird ein Freiwilliger für eine kurze Zeit ohne sein Wissen zum Opfer eines gespielten Banns. Der Bann wird während einer Party durchgeführt, die Teil des Seminars zum Kampf gegen Gewalt ist. Die Schüler werden gebeten, Musik, Knabbereien und Softdrinks mitzubringen. Die Seminarleiter wählen mit Hilfe des Lehrers unter den Freiwilligen einen Schüler aus, der zur »Klassenelite« gehört. Dieser Schüler verlässt kurz das Zimmer und wartet dort. Währenddessen erhält die Klasse die Anweisung, bei der Rückkehr des Schülers nicht mit ihm zu sprechen, ihn überhaupt nicht zu beachten. Die Seminarleiter wenden sich explizit an die engen Freunde des Schülers und bitten sie eindringlichst, nicht mit ihm zu sprechen oder ihm irgendwelche Zeichen zu geben, da dies sonst die Übung zunichte mache. Der Freiwillige wird in das Zimmer zurückgerufen, und die Party geht weiter. Die Schüler tanzen, essen, trinken und schenken dem Schüler systematisch keine Beachtung. Nach etwa zehn Minuten erklären die Seminarleiter den Bann für beendet und bitten die Teilnehmer, sich mit dem Opfer zu versöhnen. Die Reaktionen auf die Versöhnung sind oftmals sehr emotional. Selbst wenn der Bann gespielt war und nur eine kurze Weile gedauert hat, kann der verursachte Schmerz doch real sein. Jetzt werden die Schüler gebeten, sich in einem Kreis hinzusetzen und einander zu erzählen, was sie empfunden haben. Schüler erzählen, dass es ihnen schwergefallen sei, den Bann einzuhalten, dass sie sich aber dazu verpflichtet gefühlt hätten. Manchmal trauen sich einige Schüler, von ihrem Gefühl der Macht zu erzählen, das sie während des Banns empfunden haben. Das dominante Erlebnis ist die Selbstidentifikation mit dem Opfer. An dieser Stelle der Übung kann ein Lehrer oder ein Elternteil der Klasse von seinen persönlichen Erfahrungen eines Banns in seiner Kindheit erzählen. Auseinandersetzungen innerhalb der Peergroup gelten oftmals als etwas, was nicht mit Erwachsenen besprochen werden kann. Wenn ein Erwachsener auf diese persönliche Weise mit einbezogen wird, ist es einfacher, die Mauer zwischen Erwachsenen und Kindern zu durchbrechen und mehr
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Offenheit zu erzeugen. Das ist für den bevorstehenden Kampf wichtig, da verhängte Banne meist völlig vor der Erwachsenenwelt verheimlicht werden, die Erwachsenen aber vorzugsweise in den Kampf einbezogen werden sollten. Der nächste Schritt der Übung besteht aus einer Gruppendiskussion über die Fragen »Wie erkennt man einen Bann?«, »Wem nutzt der Bann?«, »Warum hält man sich an einen Bann?«, »Welcher Druck wird vom Organisator des Banns auf euch ausgeübt?« Allmählich reift die Einsicht, dass ein Bann ein Mittel der Unterdrückung ist, dessen Opfer nicht nur das Kind ist, über das ein Bann ausgesprochen wurde, sondern auch die Mehrheit der stillschweigenden Mitläufer in der Schülerschaft. Der Schüler, über den ein Bann verhängt worden ist, wird zum Aussätzigen, jeder, der mit ihm in Kontakt kommt, wird »angesteckt«. Durch diese Diskussion können praktische Vorgehensweisen gegen das Verhängen eines Banns erarbeitet werden. Die Klasse wird in Gruppen aufgeteilt. Deren Aufgabe ist es, Ideen zu entwickeln, wie ein Bann vermieden werden kann und wie ein existierender Bann aufgehoben werden kann. Die Schüler sollten sowohl auf das Verhalten des Einzelnen als auch auf das Gruppenverhalten eingehen. Diese zweigeteilte Definition soll verdeutlichen, dass die Einflusskraft des Einzelnen relativ gering ist, es sei denn, er verbündet sich mit anderen und nutzt die Stärke der Gruppe gegen den Bann. Der Seminarleiter bittet jeweils einen Repräsentanten, die Lösungswege vorzulesen, die in der Gruppe diskutiert wurden. Typische Ideen zum Verhalten von Einzelnen sind: a) Versuchen, dem Aussprechen eines Banns entgegenzuwirken, indem man sich persönlich dagegen einsetzt und sich bemüht, andere vom eigenen Standpunkt zu überzeugen; b) ermitteln und überprüfen, wer der Initiator des Banns ist und wem der Bann nutzt; c) die Eltern des Initiators heimlich informieren; d) mit dem Opfer heimlich Kontakt aufnehmen; e) die negativen Gerüchte über das Opfer mit anonymen Aktionen zu widerlegen suchen; f) einen geachteten Lehrer, den Jugendgruppenleiter oder den Schulleiter informieren.
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Der Bann
Während dieser Diskussion werden oftmals Zweifel geäußert, ob Außenstehende wie Eltern, Lehrer oder Jugendgruppenleiter informiert werden sollten. Diese Zweifel liefern die Gelegenheit, erneut die Fragen zu stellen: »Wer hat die Regel aufgestellt, dass es Verboten ist, Erwachsene zu informieren?«, »Wem nutzt diese Regel?« Während der Diskussion über Reaktionsmöglichkeiten einer Gruppe sollte betont werden, dass auch eine kleine Gruppe von drei oder vier Schülern in der Lage ist, einem Bann Einhalt zu gebieten, solange sie sich in ihren Aktionen abstimmen. Typische Ideen, die während dieser Phase der Diskussion geäußert werden, sind: a) Kettenbriefe gegen den Bann und die Verleumdungen aufsetzen; b) einen Tag und eine Stunde vereinbaren, an der die Gruppenmitglieder sich zu erkennen geben und den Bann durchbrechen werden; c) die Gruppe dahingehend organisieren, dass sie Außenstehende systematisch informiert; d) dem Opfer gemeinschaftlich Unterstützung leisten. Im Verlauf der Diskussion wird allzu deutlich, dass der Einzelne zwar Vorbereitungen treffen oder das Opfer unterstützen kann, dass aber die Handlungen einer ganzen Gruppe notwendig sind, um den Bann endgültig aufzuheben. Die Übung wird mit einer Zeremonie beendet, in der sich die Teilnehmer öffentlich gegen das Verhängen eines Banns aussprechen und sich dazu verpflichten, gegen solche Aktionen vorzugehen. Diese Zeremonie kann mit einer Abstimmung eingeleitet werden: »Wer ist dafür, den Bann als Verstoß gegen die Verhaltensregeln der Klasse zu definieren?« Die Seminarleiter lesen die Ergebnisse der Abstimmung vor und erklären sie zum entschiedenen Willen der Klasse. Jeder künftige Versuch, einen Bann zu initiieren, wird dementsprechend einen Verrat an der Klassengemeinschaft darstellen. Nach der Abstimmung kann der Seminarleiter sich mit der Frage an die Kinder wenden: »Wer ist bereit, sich dazu zu verpflichten, sich keinem weiteren Bann anzuschließen? Und seid ihr auch bereit, praktisch gegen einen bestehenden Bann vorzugehen?« Die Seminarleiter können nochmals betonen,
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
dass vier Kinder in einer Klasse, die bereit sind, eine solche Verpflichtung auf sich zu nehmen, ausreichen, um die Klasse vor zukünftigen Bannen zu immunisieren. Sie können die Formulierung der Verpflichtungserklärung an die Tafel schreiben. Die Kinder, die sich mit der Verpflichtung identifizieren, können dann aufstehen und die Erklärung mit ihrem Namen unterschreiben. Es hat bisher an keinem Seminar an Freiwilligen gefehlt, um genügend Unterschriften zu sammeln. Während des Seminars entstehen noch weitere Gelegenheiten, um Maßnahmen zu entwickeln, die Ausdruck des gemeinschaftlichen Kampfes gegen Gewalt sind. Beispiele hierfür sind folgende Vorschläge: a) ein bedrohtes Kind gemeinsam begleiten; b) die gemeinschaftliche Forderung, die Gewalt zu beenden; c) die Entscheidung einer Gruppe, Außenstehenden von der Gewalt zu erzählen; d) öffentliche Aktionen gegen Gewalt organisieren; und Maßnahmen veröffentlichen, die gegen das Mobbing unternommen wurden. Diese Handlungen konsolidieren die Klassengemeinschaft im gewaltfreien Kampf. Sie erzeugen eine Stimmung, in der die Gemeinschaft sich nicht mehr unterwürfig, sondern kämpferisch zusammenschließt.
Die Aneignung von Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung Deeskalation ist nicht nur eine Vermeidungsstrategie, die die Gefahr eines Wutausbruchs zu verringern sucht. Die überlegte Anwendung von Verhaltensstrategien, die einer Eskalation entgegenwirken, ist wesentlicher Teil des Kampfes und trägt viel zur Stärkung des gewaltfreien Lagers und des Unterstützernetzes bei. Diese Einsicht ist für die Stärkung der Kinder gegen die Gewaltherrschaft von großer Bedeutung. »Er hat mich ausgenutzt« Enno, ein 11-jähriger Junge, traf während der Nachmittagsstunden auf drei Klassenkameraden aus seiner Stufe, die mit Murmeln spielten. Er hielt an, schaute ihnen zu und grüßte Olaf, der in seiner Klasse war. Olaf reagierte provozierend: »Na, hast du dich in letz-
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Die Aneignung von Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung
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ter Zeit viel in den Arsch gefickt?« Enno, der nicht auf den Mund gefallen war, antwortete: »Jedes Mal nur mit einem! Nicht wie du, der es von der ganzen Bande erledigt bekommt!« Diese Antwort lieferte Olaf den Vorwand, von seinem Spiel aufzustehen und Enno unter dem Jubel seiner Spielkameraden kräftig zu verprügeln. Nachdem zufällig eine Frau vorbei kam und die Kinder voneinander trennte, ging Enno heulend nach Hause. Die Klassenkameraden riefen ihm nach: »Dein Glückstag, dass die Frau dich gerettet hat! Geh dich bei deinem Bruder ausheulen!« Die Frau, die ihn begleitete, streute unabsichtlich noch mehr Salz in seine Wunden: »Ja, erzähl das deinem Bruder! Das geschieht ihnen nur recht!« Das war das Letzte, was Enno in diesem Moment machen wollte. Drei Jahre später, während eines Seminars gegen Gewalt, erzählte Enno von diesem Vorfall. Die Seminarleiter erklärten daraufhin der Klassengemeinschaft das beliebte Verfahren von Mobbern: Sie fangen mit mündlichen Provokationen an in der Hoffnung, dass das Gegenüber mit der gleichen Münze antworten wird und damit einen Vorwand liefert, zu physischer Gewalt überzugehen. Enno sagte daraufhin: »Er hat mich also einfach nur ausgenutzt!«
Das Phänomen von Flüchen und Beleidigungen ist so weit verbreitet, dass manche Kinder ihren eigenen Namen viel seltener zu hören bekommen als beleidigende Schimpfnamen. Andere leiden unter tagtäglichen Beschimpfungen, die zu einem großen Teil den Lärm ausmachen, der in der Klasse, auf dem Schulhof und in den Gängen herrscht. Ein Schüler, der versucht, sich bei einem Lehrer zu beschweren, wird alsbald feststellen müssen, dass sich dadurch seine Lage nicht verbessert. Die Beschwerde bei einem Lehrer kann seine Not sogar noch verschärfen, sollten andere Kinder ihn in Verdacht haben, Informationsquelle oder »Petze« zu sein. Die gelegentlichen Tipps von Lehrern: »Sei erwachsen! Achte nicht darauf!« oder »Versuche, sein Freund zu werden!« sind weder hilfreich noch tröstlich. Allmählich wird das Opfer davon überzeugt sein, dass die Erniedrigungen Teil einer Weltordnung darstellen. Er gibt sich in sein Schicksal und ist manchmal sogar überzeugt davon, dass er wirklich »defekt« ist. Eine gezielte Übung gegen Beschimpfungen hat folgende Zielsetzung: 1. Fähigkeit zur Deeskalation verleihen; 2. den Kindern
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Mittel an die Hand geben, mit denen sie die Schärfe der Beschimpfungen mäßigen oder neutralisieren können; und 3. das Opfer aus seiner Isolation befreien. In der Atmosphäre des gewaltfreien Kampfes erhält gerade das Opfer, das als schwach dastehen sollte, die Anerkennung, während der Mobber, der andere zu erniedrigen sucht, als langweilig angesehen und verachtet wird. Die Klasse teilt sich in Gruppen auf, die gebeten werden, eine Liste von gängigen Beschimpfungen an die Tafel zu schreiben. Daneben werden die üblichen provozierenden Antworten geschrieben. Die Klassenlehrerin sollte aktiv an dieser Aufgabe teilnehmen und die Kinder dazu ermutigen, die Beschimpfungen in ihrer schärfsten Form aufzuschreiben. Nachdem genügend Beschimpfungen gesammelt wurden, findet ein Wettbewerb zwischen den Gruppen statt, wer die effektivsten Antworten erfinden kann. Die Antworten müssen zwei Kriterien gerecht werden: Sie müssen witzig sein, und sie müssen eine die Situation entschärfende Wirkung haben. Jede Gruppe wählt nun die drei besten Antworten und stellt sie der Klasse als Rollenspiel vor. Die Bewertung erfolgt entsprechend dem spontanen Beifall, den sie erzielen. Sollte es Zweifel geben, ob eine Antwort entschärfend oder anheizend wirkt, sollte der Seminarleiter sie zur erneuten Bewertung vorstellen. Diese Übung liefert eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Klassenclowns, ihr Bestes zu geben. Diese Kinder sind oftmals mit einem ganz besonders kreativen Humor begnadet. Nicht selten sind sie die Quelle der Schimpfnamen, die den Opfern beigelegt werden. Der Seminarleiter kann den Lehrer fragen, wer der Klassenclown ist, und ihn gezielt einer Gruppe zuzuordnen. Vor Beginn der Gruppenarbeit kann der Seminarleiter die Klassenclowns auch persönlich ansprechen und ihnen sagen, dass er von ihnen erwarte, ganz besonders »saftige« Antworten beizusteuern. Diese Aufforderung stellt eine Art Angebot dar, dass der Clown sich einer »Umschulung« unterzieht. Wenn er in der Vergangenheit im Dienste der Belästigungen und der Mobber stand, wird er nun gebeten, sich in den Dienst der Anti-Mobber zu stellen! Diese Umschulung der Clowns, die häufig die Mobbing-Phänomene tatkräftig begleiten, kann im Kampf gegen Gewalt das Gleichgewicht der Kräfte erheblich verändern. Der Clown macht eine besondere
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Die Aneignung von Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung
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Erfahrung, wenn er bei anderen nicht nur Gelächter auslöst, sondern wenn er wirkliche Anerkennung erhält. Am Seminarende kann der Seminarleiter jeden Klassenclown einzeln fragen, wie er sich in der neuen Rolle gefühlt hat und ob er auch zukünftig einen Beitrag in dieser Richtung leisten möchte. Der Leiter kann ihm sagen, dass er mit Hilfe seiner Kreativität zu einer der hervorstechenden Personen im Kampf gegen Gewalt an der Schule werden kann. Eine andere Version der Übung gegen Beschimpfungen ist die »Schutz-Übung«. Der Seminarleiter bestimmt einen Schüler und fordert diesen auf, ihn so heftig wie möglich zu beleidigen. Außerdem bestimmt er zwei Schüler, die während der Beschimpfung hinter ihm stehen und eine schützende Funktion übernehmen sollen. Der Seminarleiter reagiert nicht auf die Beschimpfungen, sondern hört sie sich wortlos an. Die Beschützer haben einige Sekunden Zeit, um sich eine passende Reaktion zu überlegen (oder: sich bei der Gruppe Rat zu holen), wie sie energisch antworten können. Die Beschützer werden auch gebeten, einige ernsthafte Antworten vorzubereiten, wie: »Das stört mich, dass du meinen Freund beleidigst. Ich bitte dich, damit aufzuhören!« Der Seminarleiter erklärt, dass selbst wenn diese Antwort nicht witzig ist, sie doch sehr effektiv sein kann, da sie den Angreifer mit seinem Lachen isoliert. Die ernsthafte Antwort der Umstehenden auf den Versuch, sich über einen Mitschüler lustig zu machen, führt dazu, dass dem Mobber das Lachen auf den Lippen gefriert. Dieser Misserfolg lässt Beschimpfungen unattraktiv werden und nimmt ihnen das Vergnügen, zumindest solange die Beschützer in der Gegend sind. Allmählich entwickelt sich eine Situation, in der Beschimpfungen immer langweiliger werden und die ganze Aufmerksamkeit nun den Antworten und den die Situation entschärfenden Schutzreaktionen gilt. Die Kinder werden gebeten, diese neuen Fertigkeiten in den folgenden Tagen zu üben und zum nächsten Seminartreffen weitere Beispiele aus ihrem Alltag mitzubringen. Helfer werden gebeten, Kinder, die unter Schimpfnamen leiden, zu beschützen, indem sie sich neben sie stellen und den Mobbern klarmachen, dass so etwas nicht mehr in ihrer Gesellschaft geduldet wird.
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Es folgen eine Liste von typischen Beschimpfungen und einige der Antworten, die während der Seminare erfunden wurden. Beschimpfung
Antwort
Fick dich!
1. Man sagt, Sport sei gesund. 2. Hast du diesbezüglich einen Tipp für mich? 3. Bin noch nicht im Alter, wo man damit anfängt … 1. Soll ich dir einen Termin machen? 2. Besser Arbeit als arbeitslos! 3. Leise! Sonst hört dich das Steueramt! 4. Tausende von Kunden können sich nicht irren … 5. Keine Hure – eine Businessfrau 6. Das Wesentliche ist doch, dass sie ihre Arbeit mag!
Hurensohn!
Ich hab deine Mutter gefickt!
1. Und schau dir das Ergebnis an (auf sich selbst zeigend)! 2. Was? Fährst du auf Ältere ab?
Schwuli!
1. Hauptsache stolz! 2. Mit den hübschen Jungs dieser Schule kann man ja nicht anders! 3. Ich soll bei »Brokeback Mountain 2« mitspielen!
Drecksack!
Dreck, Dreck … Hauptsache organisch.
Breite Front von Kindern und Erwachsenen für den Kampf Der Versuch, mit Gewalt im Allgemeinen fertig zu werden, und ganz besonders mit psychischer Gewalt, erfordert die aktive Zusammenarbeit zwischen Erwachsenen und Kindern. Kinder dürfen nicht einfach als nebensächliche Mitstreiter angesehen werden, deren Aufgabe sich auf die Lieferung von Informationen beschränkt. Diese Haltung ist bevormundend und kann negative
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Führungseigenschaften im Kampf gegen Gewalt fördern
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Auswirkungen haben, etwa dass die Kinder lustlos werden oder sich in ihre innere Welt verschließen. Um die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern aktiv zu fördern, müssen der Beitrag und die Selbständigkeit der Kinder respektiert werden. Nur dann werden Lehrer und Kinder sich im gleichen Lager befinden. Ein Ansatz zur respektvollen Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern enthält folgende Komponenten: – Die Lehrer sprechen sich konsequent und in aller Öffentlichkeit gegen Gewalt aus. Wenn die Lehrer ihren Teil übernehmen, die Aufsicht verstärken, entschlossen auf jede Gewalttat reagieren und deren Opfer zu Hilfe kommen, steigt das Vertrauen der Kinder in die Lehrer und ihre Bereitschaft, sich am Kampf zu beteiligen. – Die Lehrer sind – wenn möglich – jederzeit für die Schüler erreichbar, damit diese sich im Notfall möglichst leicht an einen Erwachsenen wenden können. Diese Erreichbarkeit erschöpft sich nicht nur in einer einmaligen Aufforderung. Sie erfordert praktische und sichere Kommunikationskanäle. – Die Lehrer respektieren die Autonomie der Kinder. – Die Lehrer gehen mit gutem Beispiel für den gemeinsamen Kampf voran, indem sie offen sind für das Engagement der Eltern, der Jugendleiter und anderer Funktionsträger. Die Öffnung der Schule für außerschulische Funktionsträger bewirkt eine Annäherung zwischen Lehrerschaft und Schülerschaft.
Führungseigenschaften im Kampf gegen Gewalt unter Kindern fördern Der Unterschied zwischen einem Konzept, das ausschließlich auf Dialog und gewaltfreie Kommunikation abzielt, und unserem Konzept eines Kampfes gegen Gewalt findet in der Art der jeweiligen Führungsrolle seinen Ausdruck. In einer dem ersten Konzept zugehörigen Intervention, die in den Vereinigten Staaten von Amerika und in einigen Ländern Europas an Einfluss gewonnen hat, werden z. B. in jeder Klasse zwei Repräsentanten gewählt, die einen Kurs über Mediationsverfahren absolvieren und als Streitschlichter fungieren. Ihre Aufgabe besteht darin, ihre Mediations-
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
dienste den Schülern anzubieten, die sich zerstritten haben. Das Konzept des Streitschlichters sieht jedoch vor, dass der Schlichter ausschließlich mit dem Einverständnis der Beteiligten tätig wird. Ihr Einflussvermögen verdanken sie ihrem gesellschaftlichen Status und ihren erlernten Vermittlerfähigkeiten. Im vorliegenden Konzept des Kampfes gegen Gewalt werden indessen die ausgewählten Führungskräfte in jeder Klasse »Starkmacher« genannt. Der Name steht wiederum symbolisch für das Programm, nämlich die Kinder im gewaltfreien Kampf gegen physische und psychische Gewalt anzuführen. Die Starkmacher repräsentieren eine besondere Art der Führungspersönlichkeit unter den Jugendlichen oder Kindern. Anders als Führungspersönlichkeiten, die ihre Stärke aus der geschlossenen Gesellschaft der Jugendlichen ziehen, werden Starkmacher dadurch charakterisiert, dass sie sich in der Welt der Jugend lichen bewegen und gleichzeitig Zugang zu der Welt der Erwachsenen haben. Dies ist nicht möglich, solange die Erwachsenenautorität abstrakt und abgehoben bleibt. Dann verstärkt sich unter den Jugendlichen das Bedürfnis, die Grenzen zwischen den zwei Welten klar abzustecken, mit der Folge einer immer stärkeren Abschottung der Jugendlichen, wobei sich die Hierarchien und Kontrollmittel unter ihnen langsam aber sicher verschärfen. Bei einer solchen Sachlage können Phänomene wie schwere Drohungen, das Terrorisieren einer Minderheit und der Ausschluss aus der Gemeinschaft erwartet werden. Je stärker die Erwachsenen jedoch die neue Autorität verkörpern, desto besser können sich unter den Jugendlichen Führungspersönlichkeiten entfalten, die sowohl eigenständig arbeiten können als auch zur Zusammenarbeit mit den Erwachsenen fähig sind. Diese Führungspersönlichkeiten unter den Jugendlichen werden sich bestimmt nicht dazu gedrängt fühlen, extreme Maßnahmen für den Aufbau ihres Status zu ergreifen. Die Starkmacher sind ein Team, das sich aus gewählten Repräsentanten aller Klassen zusammensetzt. Das Team organisiert sich und nimmt eine beharrliche, gewaltfreie Haltung gegenüber Drangsalierungen, Prügeleien, Drohungen, sexuellen Belästigungen, Erniedrigungen, Erpressungen und dem Verhängen von Bannen ein. Da sie eine gewählte Gruppe sind, haben sie die Befugnis
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Führungseigenschaften im Kampf gegen Gewalt fördern
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der anderen Schüler, eigenständig zu handeln oder den entsprechenden Verantwortlichen Bericht zu erstatten. Hierdurch werden die Starkmacher zur ersten Anlaufstelle für Kinder, die es nicht wagen würden, selbst einen Erwachsenen anzusprechen oder sich der Gewalt zu widersetzen. Die Starkmacher werden von den Schülern etwa zwei Wochen nach Abschluss des Seminars zum Kampf gegen Gewalt gewählt. Unsere Erfahrung zeigt, dass nach diesem Seminar die Bereitschaft höher ist, mit Erwachsenen zusammenzuarbeiten. Schüler, die gewählt werden, um den Kampf gegen Gewalt anzuführen und umzusetzen, erhalten Anerkennung und Unterstützung und werden nicht als Spitzel abgestempelt, die nur Werkzeuge in den Händen der Erwachsenen sind. Die Wahl wird von den Seminarleitern mit Hilfe des Klassenlehrers geleitet. Sie besprechen zusammen die erforderlichen Eigenschaften, die Starkmacher brauchen, um ihre Rolle erfolgreich auszufüllen. Es sollten möglichst anerkannte und einflussreiche Schüler gewählt werden. Die Seminarleiter vermitteln detaillierte Informationen über die Funktion eines Starkmachers und über das Starkmacher-Programm. Dieses Programm versammelt alle Starkmacher der gleichen Alterstufe zu einer einjährigen Ausbildung. Am Ende der Ausbildung unternehmen die Absolventen einen Ausflug gemeinsam mit den Starkmachern anderer Schulen. Der Ausflug trägt zur Konsolidierung der breiteren Gemeinschaft im Kampf gegen Gewalt bei und liefert dadurch den Starkmachern weitere Unterstützung. Starkmacher haben viele Wirkungsbereiche: – Sie symbolisieren die Gesinnung des Kampfes gegen Gewalt. Der Aufbau des Teams soll sicherstellen, dass diese Gesinnung nicht einschläft. – Sie sind gewählte Führungspersönlichkeiten, die als Gruppe handeln können, sollten die Handlungen eines Einzelnen unzureichend sein. – Sie entwickeln in der Ausbildung praktische Fähigkeiten für den Umgang mit verschiedenen Gewaltphänomenen. Zusätzlich erfahren sie die Ergebnisse des Gewalt-Fragebogens, der von allen Schülern der Schule ausgefüllt wird. Dadurch lernen sie, welchen Stellenwert Gewalt in ihrer Klasse, ihrer Stufe und ihrer Schule zurzeit hat.
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
– Sie nehmen Kontakt mit anderen Aktivisten des Kampfes gegen Gewalt auf, z. B. zu anderen Gruppen von Starkmachern aus höheren Altersstufen, zu den verantwortlichen Funktionsträgern für den Kampf gegen Gewalt innerhalb der Schule, zu Eltern oder zu Ortspolizisten. – Sie wechseln sich in der Leitung des Forums zum Thema Gewalt auf der schulischen Internetseite ab. Durch diese Aufgabe haben sie einerseits Einfluss auf die Art der Kommunikation zum Thema Gewalt und andererseits wird ihnen so ermöglicht, ihre Maßnahmen zu veröffentlichen. – Sie erhalten eine Ausbildung zur Vermittlung und Mediation, um sowohl Kindern untereinander helfen zu können oder aber um bei Konflikten zwischen Kindern und Erwachsenen zu vermitteln. So können Starkmacher z. B. vorschlagen, zwischen einem Schüler und der Schulleitung zu vermitteln, so dass er eine Wiedergutmachung leisten und dadurch eine schärfere Bestrafung vermeiden kann. Damit werden die Starkmacher auch zu einem möglichen Hilfsmittel derjenigen Mobber, die sich mit einem Vermittlungsgesuch an die Starkmacher wenden können. Die Ausbildung der Starkmacher ist eine der größten Herausforderungen für das Konzept der neuen Autorität. Die Starkmacher vertreten die Werte einer ganzen Gruppe von Schülern, die den moralischen Vorstellungen der neuen Autorität entsprechen. Mit Hilfe der Starkmacher können die Kinder an der Umsetzung der Werte mitarbeiten: Deeskalation, gemeinsamer Kampf, Transparenz, die Nutzung der öffentlichen Meinung und der Aufbau von Unterstützernetzen unter den Schülern.
Die zentrale Stellung des Schülers bei der Umsetzung der neuen Autorität Bei den Diskussionen zur Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt stellt sich oftmals eine kritische Frage, die schon mehrmals an unseren Ansatz gestellt wurde: Verleitet ein Konzept, das sich auf die Wiederherstellung der elterlichen Autorität und der
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Die Stellung des Schülers bei der Umsetzung der Autorität
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Lehrerautorität konzentriert, nicht zu einer Vernachlässigung des Kindes, welches doch eigentlich im Zentrum der Bemühungen jeder erzieherischer oder therapeutischer Intervention stehen sollte? Die Kritik, die sich hinter dieser Frage versteckt, hat ihre Berechtigung nur, wenn sie sich auf die Wiederherstellung einer Form von Autorität in der Logik früherer Zeiten bezieht. Die neue Autorität verleiht dem Kind einen außergewöhnlichen autonomen Status. Sie bezieht sich dabei systematisch sowohl auf seine Interessen als auch auf seine Bedürfnisse. Autorität und Selbständigkeit
In der Logik der traditionellen Autorität stehen sich Autorität und Selbständigkeit wie in einem Nullsummenspiel gegenüber: je stärker die Autorität des Erwachsenen, desto weniger Selbständigkeit für das Kind und umgekehrt. Autorität wurde durch Gehorsam – und nur durch ihn – validiert. Diese Sachlage ist bei der neuen Autorität grundlegend anders zu betrachten: Die Autorität wird nicht mehr am Grad von Gehorsam gemessen, sondern an der Fähigkeit der Autoritätsperson, Legitimation und Unterstützung zu erhalten und mit Beharrlichkeit gegen destruktive Verhaltensweisen vorzugehen. Dieser Standpunkt verändert die Art und Weise, in der eine Autoritätsperson mit einem Kind spricht. Eltern und Lehrer drängen das Kind nicht mehr in die Enge (»Entweder du gehorchst, oder …«), sondern legen ihre Maßnahmen fest, während sie den Handlungsfreiraum und das Selbstwertgefühl des Kindes zu bewahren suchen. Auf diese Weise eröffnet sich ein Weg, auf dem das Kind von seinem machtorientierten Kampf ablassen und selbständig seine positiven Stimmen zur Geltung bringen kann. Diese Selbständigkeit erfährt einen zusätzlichen Spielraum dadurch, dass der Repräsentant der neuen Autorität für seine eskalierenden Reaktionen verantwortlich ist. Er muss so handeln, dass eine machtorientierte und verletzende Reaktion verhindert wird. Er vermeidet Botschaften, die implizieren könnten, dass aus der Auseinandersetzung einer als Sieger und der andere als Verlierer hervorgehen würde. Er verpflichtet sich sowohl vor dem Kind als auch vor seinen Helfern, ohne jede Gewaltanwendung
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
oder Erniedrigung zu handeln. Manchmal wählt die Autoritätsperson sogar einen Weg, der in der engstirnigen Welt des Nullsummenspiels als Verlust gelten würde. Sie kann z. B. ihr Bedauern über einen Wutanfall aussprechen oder dazu bereit sein, Beleidigungen wegzustecken, ohne zu reagieren. Somit befreit sich die Autoritätsperson von dem Zwang, dem Kind zeigen zu müssen, wer der Stärkere ist. Allmählich kann dann auch das Kind von diesem Zwang ablassen, und seine Reaktionen selbständig abwägen. Eigentlich kann das Nullsummenspiel nur dann weiterexistieren, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht. Deswegen bleibt das Kind, sobald der Erwachsene auf diesen Wettkampf verzichtet, ohne Spielpartner. Die deeskalierenden Maßnahmen der Autoritätsperson sind eine wiederholte Einladung an das Kind, sich dem Veränderungsprozess anzuschließen. Der Erwachsene verlangt keine Gegenseitigkeit (nach dem Motto: »Ich habe auf etwas verzichtet, jetzt bist du dran!«), sondern ergreift einseitige Maßnahmen zur Versöhnung – ohne jegliches Aufrechnen. Diese Haltung stellt eine fortwährende Aufforderung an die positiven Stimmen im Kind dar. Da das Kind nicht verpflichtet ist zu reagieren, kann es ganz autonom seine Reaktionen und den Zeitpunkt seiner Reaktionen bestimmen: Es kann heute reagieren, morgen oder an jedem beliebigen anderen Tag. Dieser Handlungsspielraum ermöglicht es dem Kind, seine potenziellen positiven Reaktionen nicht mehr als Ausdruck seines Gehorsams zu erleben, sondern als Ausdruck seines freien Willens. Die Ausdehnung der Betrachtungsweisen des Kindes
Bei einer machtorientierten Auseinandersetzung engen sich die gegenseitigen Betrachtungsweisen immer mehr ein. Das Kind sieht den Erwachsenen nur noch als den, der ihm seine Autorität aufzwingen will. Der Erwachsene erlebt das Kind nur noch als widerspenstig, ausweichend und oppositionell. Die anderen Charakterzüge und Verhaltensweisen, die nicht auf der »Anzeigetafel« des Kampfes angezeigt werden, und andere Gesichtspunkte der Beziehung verschwinden völlig aus dem Wahrnehmungsfeld. Diese Einengung der Betrachtungsweise zieht auch eine Reduzierung
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Die Stellung des Schülers bei der Umsetzung der Autorität
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der Reaktionsmöglichkeiten nach sich: Beide Seiten werden durch den Konflikt in Rollen gezwungen und verhalten sich innerhalb festgefahrener Muster. Der Repräsentant der neuen Autorität versucht demgegenüber, sich aus dieser einengenden Sichtweise zu befreien. Er nutzt die Helfer nicht nur, um seine eigene Stärke aufzubauen, sondern auch als Zeugen für die positiven Seiten des Kindes. Diese Seiten müssen sich nicht auf positive Verhaltensweisen im Rahmen des Konflikts beziehen. Die Helfer können sich auf andere Verhaltensweisen berufen, die zeigen, dass das Kind vielseitiger und komplexer in seinen Charakterzügen ist, als man in der Auseinandersetzung annehmen könnte. Diese Ausdehnung der Sichtweisen wird z. B. im Dokumentationsheft manifestiert, das wir im dritten Kapitel beschrieben haben. Dort werden positive Aspekte des Kindes festgehalten, während die Aufzeichnungen zu den negativen Verhaltensweisen nach einer gewissen Zeit entfernt werden. Auch das Kind wird eingeladen, sich eine umfassendere Sichtweise anzueignen. Dem Kind wird z. B. angeboten, Beiträge zur Gestaltung des Heftes zu leisten. Außerdem beziehen sich die Helfer in den Gesprächen mit dem Kind auf alle Ereignisse (positive und negative), die dokumentiert werden. Hierbei werden Aussagen vermieden, die die positiven Seiten des Kindes relativieren, wie z. B.: »Siehst du, wenn du nur wolltest, könntest du auch ein gutes Kind sein!« Stattdessen geht es um Aussagen wie: »Auch diese positiven Seiten sind Teil von dir!« Die umfassende Betrachtungsweise lädt beide Seiten des Konflikts dazu ein, ihre Sichtweise zu ändern. Die Eltern werden aufgefordert, die positiven Seiten stärker in den Blick zu nehmen. Das Kind wird dazu aufgefordert, das positive Bild wahrzunehmen, das sich in den Augen der Eltern widerspiegelt. Die Sorge um den guten Ruf des Kindes
Ein bedeutender Beitrag der Helfer besteht darin, mit dem Kind über den möglichen Verlust seines guten Rufes zu sprechen und dem Kind seine Hilfe anzubieten, um diesen wiederherzustellen. Der Helfer betont, dass der schlechte Ruf dadurch zustande kommt, dass die guten Seiten des Kindes unbeachtet bleiben, weil nur die problematischen Verhaltensweisen betrachtet werden. Der
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Die Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Helfer kann seine Hilfe anbieten, um den guten Ruf des Kindes durch eine gemeinsam geplante und ausgeführte Maßnahme wiederherzustellen. Sollte das Kind einen solchen Vorschlag ablehnen, kann der Helfer die ersten Schritte auch allein angehen, indem er sagt: »Wenn du zu einem späteren Zeitpunkt mitmachen willst, werde ich mich darüber freuen. Ich würde mich aber auch freuen, wenn du meine Aktion einfach nicht kaputt machst!« Die Tatsache, dass der Helfer bereit ist, einseitig zu handeln, ohne die Forderung, dass das Kind mit gleicher Münze zurückzahlt, bedeutet eine offene Einladung an das Kind, sich den Bemühungen anzuschließen. Auch wenn das Kind nicht ausdrücklich reagieren sollte, kann davon ausgegangen werden, dass eine solche Aktion die positiven Stimmen im Kind verstärkt. Solche Maßnahmen können auch von Eltern oder Lehrern unternommen werden. Wiedergutmachungen
Die Beteiligung des Kindes an Wiedergutmachungshandlungen ist ein eindrucksvolles Mittel, um die positiven Stimmen im Kind zu verstärken. Die Anfrage des Erwachsenen enthält keine Anschuldigung, sondern ist ein Vorschlag zu einer gemeinsamen Aktion. Der Erwachsene nimmt hierbei einen Teil der Last auf sich, um die Wiedergutmachung zu realisieren. Der Unterschied zwischen der traditionellen Autorität und der neuen Autorität wird bei solch einer Gelegenheit nur allzu deutlich. Die Botschaft in der Logik der früheren Autorität lautet: »Du zahlst für den Schaden, den du angerichtet hast!« Die Botschaft im Sinne der neuen Autorität lautet: »Lass uns die Angelegenheit gemeinsam wiedergutmachen!« In der ersten Botschaft stehen sich der Erwachsene und das Kind feindlich gegenüber. Das Kind wird aufgefordert, allein für seine Sünden Sühne zu leisten. Seine Zusammenarbeit wird so Ausdruck seiner Niederlage. In der zweiten Botschaft befinden sich der Erwachsene und das Kind im gleichen Boot. Dem Kind wird die Möglichkeit angeboten, sich an der Wiedergutmachung des Schadens zu beteiligen. Im diesem Fall ist die Zusammenarbeit Ausdruck der Verbundenheit.
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Die Stellung des Schülers bei der Umsetzung der Autorität
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Die Beteiligung des Kindes im Kampf gegen Gewalt
Die positiven Stimmen im Kind verstärken sich, wenn es gelingt, das Kind zum gemeinsamen Kampf gegen Gewalt zu rekrutieren. Wir haben einen konstruktiven Verlauf bei der »Umschulung« der Klassenclowns beschrieben. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein Klassenclown, der sich durch das Erfinden origineller Antworten auf Beschimpfungen ausgezeichnet hat, einfach wieder seine alte Position in der Gesellschaft der Mobber einnehmen wird. Durch die Wiederaufnahme der alten Rolle, als Dienstleister der Mobber, würde sein gesellschaftliches Ansehen schweren Schaden erleiden. Auf ähnliche Weise machen Kinder, die sich vielleicht in der Vergangenheit auf die Seite der Mobber gestellt haben, oft eine moralisch wertvolle Erfahrung, sobald sie sich an einer Arbeitsgruppe beteiligen, die gemeinsam gegen Gewalt kämpft. In diesen Fällen entdecken die Kinder, dass sie über neue Wertvorstellungen verfügen, die ihnen vorher nicht zugänglich waren. Neue Autorität ist so im Kern ein Versuch, moralische Werte (wieder) zu finden und weiterzuentwickeln.
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Kapitel VIII Die neue Autorität im Gemeinwesen1
Die Tatsache, dass der Aufbau von Unterstützernetzen von so zentraler Bedeutung ist, kann einen Dominoeffekt erzeugen, so dass die Prinzipien der neuen Autorität wie selbstverständlich zu einem einflussreichen Faktor innerhalb des Gemeinwesens werden. Wir haben gesehen, wie sich die Beziehungen zwischen Schule, Elternhaus und verschiedenen Funktionsträgern innerhalb der Gemeinde verstärken können. Durch diese Kontakte exportiert sozusagen die Schule die Prinzipien der neuen Autorität. Schrittweise bildet sich aus Begriffen wie Eskalationsvorbeugung, gemeinsamer Kampf, gewaltfreier Widerstand, Sorge und Aufsicht von Eltern und Lehrern eine gemeinsame Sprache bei den Bemühungen der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsträger, gegen destruktive Phänomene unter Jugendlichen vorzugehen.
Elternpatrouille Mittlerweile liegen weltweite Erfahrungen vor, wie sich Eltern organisiert haben, um Kontrollgänge in ihrer Nachbarschaft durchzuführen, um Phänomenen wie Vandalismus, Gewalt, Herumstreunen, Alkohol- und Drogenkonsum bis hin zu Komasaufen entgegenzuwirken. Trotzdem erzeugt die Idee einer »Patrouille« bei vielen Eltern zunächst Verlegenheit, ein Gefühl fehlender Legitimation und Zweifel an der Effektivität solch einer Maßnahme. Die Lage ändert sich, wenn Eltern die Prinzipien der neuen Autorität nachvollziehen können. Diese Prinzipien liefern passende Antworten auf die Vorbehalte der Eltern und eröffnen diesen da1 Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Ziv Gilad, Yigal Kenigsweld, Idan Amiel und Martin Lemme geschrieben.
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Elternpatrouille
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durch die Möglichkeit, Elternpatrouillen in ein beständiges und einflussreiches Mittel zu verwandeln. Der Übergang von der »Ich«-Stimme zur »Wir«-Stimme
Vielen Eltern fällt es schwer, sich einer Patrouille anzuschließen, da sie die Reaktionen der Kinder auf die Anwesenheit der Eltern an ihren Vergnügungsorten befürchten: »Er wird mich umbringen, wenn ich dort erscheine!«, »Ich werde sie in schreckliche Verlegenheit bringen!« Eltern befürchten auch, dass andere Kinder ihr Kind schikanieren werden, wenn sie am Aufenthaltsort der Jugendlichen erscheinen. Der Übergang von der »Ich«-Stimme zur »Wir«-Stimme liefert eine Antwort auf diese Befürchtungen. Eltern können nun ihrem Kind sagen: »Die Eltern der Nachbarschaft haben sich zusammengetan, da wir uns in letzter Zeit über die Ereignisse bei euren nächtlichen Treffen Sorgen machen. Wir haben gemeinsam beschlossen, eure Aufenthaltsorte im Auge zu behalten.« Der Übergang von der persönlichen Meinung eines Elternpaars zur gemeinsamen Entscheidung vieler Eltern wird erleichtert und unterstützt, wenn die Eltern dem Kind ein Dokument vorlegen, das von allen beteiligten Eltern unterschrieben ist. An diesem Punkt sollten die Eltern aufhören, die Sachlage zu erklären oder darüber zu diskutieren. Sollte das Kind weiterhin protestieren, können die Eltern leise, aber bestimmt die Worte wiederholen: »Wir haben das gemeinsam beschlossen.« Falls die Eltern während einer Patrouille ihr Kind antreffen, sollten sie jede persönliche Kontaktaufnahme mit dem Kind vermeiden und als Repräsentanten der ganzen Elternschaft auftreten. Um diese Haltung zu betonen, können Eltern der Jugendgruppe z. B. Folgendes mitteilen: »Wir sind im Namen der Eltern unserer Nachbarschaft hier und handeln als deren Repräsentanten.« Eltern sollten bereit sein, sich gegenseitig zu schützen, um direkte Auseinandersetzungen mit dem eigenen Kind während der Patrouille oder danach zu vermeiden. Sollte das Kind z. B. am Tag nach der Patrouille ungebührlich reagieren, können die anderen Teilnehmer der Patrouille das Kind anrufen und ihm sagen, dass dies eine Angelegenheit aller Eltern ist und dass die Eltern der Freunde des Kindes ebenso an den Streifen teilnehmen wie seine eigenen Eltern. Der Über-
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gang zur »Wir«-Stimme ist nicht nur ein Feigenblatt, das den Eltern dabei helfen kann, ihre Verlegenheit zu verdecken. Die »Wir«Stimme ändert die Grundlage der elterlichen Autorität. Diese wird nun erlebt als etwas, das eine breite Basis besitzt und allgemeine Zustimmung erhält. Dadurch wird eine Auseinandersetzung ermöglicht selbst mit solchen Phänomenen, die längst unter Jugendlichen zur Norm geworden sind. Von nun an können Eltern auf die ständig vorgebrachte Behauptung »Alle machen das so!« eine klare Antwort geben: »Und wir alle widersetzen uns dem!« Die Teilnahme an den Streifen macht deutlich, dass die Eltern erkannt haben, dass sie nicht länger an einer vor den Blicken anderer geschützten Privatsphäre ihres Hauses festhalten können, wenn sie ihr Kind beschützen wollen. Ihre Schutzmaßnahmen müssen sich auf alle Lebensbereiche des Kindes erstrecken, auch auf die Straße. Die gemeinsam durchgeführten elterlichen Maßnahmen haben eine viel weiter reichende Wirkung, als nur die dort lauernden Gefahren einzuschränken. Sie schützen die Eltern auch vor der Isolation und dem »Privatsphären-Reflex«, die ihre Autorität untergraben. Wer die »Feuerprobe« einer Elternpatrouille durchsteht, wird von nun an nicht mehr tatenlos zusehen, wenn das Kind zu nächtlicher Stunde verschwindet. Präsenz und Aufsicht
Um eine Elternpatrouille zu organisieren, muss man sich entscheiden, die allgemeine Norm, dass Eltern keinen Fuß in das Territorium der Jugendlichen setzten dürften, zu durchbrechen. Eltern sind dann bereit, dieses Tabu zu entweihen, wenn sie begreifen, dass geheime und anonyme Vergnügungen besondere Gefahren in sich bergen. Oftmals ist ein die Gemeinde erschütterndes Ereignis notwendig, damit Eltern zu dieser Einsicht gelangen und aktiv werden. Eine Vergewaltigung, extreme Gewaltausbrüche oder ein Todesfall nach Komasaufen können konkrete Auslöser für die Organisation von Elternpatrouillen sein. In diesen Fällen hat das Opfer – und die Gemeinde – einen hohen Preis bezahlt. Es empfiehlt sich, solchen Vorfällen vorzubeugen, insbesondere wenn sie vorauszusehen sind. Es gibt unter den Eltern die Befürchtung, dass die Jugendlichen als Folge der Elternpatrouillen ihre Aktivi-
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Elternpatrouille
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täten heimlich fortsetzen oder sich einfach einen anderen Aufenthaltsort suchen. Diese Befürchtung bestätigt sich jedoch nicht: Die meisten Jugendlichen halten sich weiterhin an den üblichen Orten auf, auch wenn die Elternpatrouille eingeführt wird. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die meisten Jugendlichen sich nicht den Gefahren verbotener Versuchungen aussetzen möchten. Meist werden viele durch den Gruppenzwang mitgezogen. Es ist sogar anzunehmen, dass die Mehrheit der Jugendlichen die neue Situation gutheißen wird, da der Einfluss derjenigen abnimmt, die sie in problematische Aktionen mitziehen. Wenn man sie fragt, äußern die Jugendlichen, insbesondere die Mädchen, dass sich mit dem Erscheinen der Erwachsenen an den Vergnügungsorten ihr Sicherheitsgefühl verstärkt hat. Die Präsenz der Eltern beeinflusst nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Inhaber der Vergnügungsorte. Der Besitzer eines Kiosks kann einer Elternpatrouille gegenüber nicht gleichgültig bleiben, da sein Kiosk nun unter der Aufsicht der Eltern steht. Die Eltern können ihren Einfluss weiter verstärken, indem sie dem Inhaber vermitteln: »Wir haben beschlossen, Ihr Geschäft im Auge zu behalten. Sollten Jugendliche, die bei Ihnen etwas kaufen, unser Misstrauen wecken, werden wir deren Eltern benachrichtigen!« Manche Eltern glauben, dass die Jugendlichen ihre Aktivitäten einfach an einem anderen Ort fortsetzen werden. Es wurde aber wiederholt nachgewiesen, dass die Bereitschaft von Jugendlichen, Verbote zu überschreiten, eng damit verbunden ist, inwieweit Versuchungen innerhalb ihrer Reichweite existieren. Nehmen die Versuchungen ab, so werden die meisten Jugendlichen nicht nach anderen Möglichkeiten suchen, um verbotenen Aktivitäten nachzugehen. »Miteinander – gewaltfreie Kommunikation in Haste«2 So nennt sich eine Aktion gegen destruktive und eskalierende Verhaltensweisen in einem Osnabrücker Stadtteil. Seit Jahren hatten die 2 Autor dieses Beispiels ist Martin Lemme, stellvertretend für den Verein ahimsa e. V., der mit dem Projekt beauftragt worden war. Die Durchführung wurde von Angela Eberding, Ruth Tillner und Martin Lemme realisiert.
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Anwohner in diesem Stadtteil über nächtliche Ruhestörungen berichtet, Provokationen und Beleidigungen, Vandalismus in Vorgärten, an öffentlichen Einrichtungen und Plätzen sowie über Funde von benutzten Spritzen und zerschlagenen Flaschen. Auch Drogenhandel hat in diesem Stadtteil bereits eine Geschichte. Vor vielen Jahren schon hatten sich daher Anwohner und Vereine an einem runden Tisch zusammen gefunden, an dem überlegt wurde, wie diesen Vorfällen begegnet werden könnte. Vertreter öffentlicher Institutionen (Kommune, Polizei, Polizeipräventionsvertreter …) hatten an dieser Zusammenkunft ebenso teilgenommen wie das Jugendzentrum vor Ort, das oft für Eskalationen verantwortlich gemacht wurde. Es waren administrative Maßnahmen wie abendliche Polizeipatrouillen, Kameraüberwachung betroffener Plätze und ein Wachdienst an den Wochenenden eingerichtet worden. Die Maßnahmen zeigten Wirkungen, allerdings lediglich vorübergehender Art, da sie als begrenzte Projekte initiiert worden waren. Nach Ablauf zeigten sich bald wieder die bekannten Ärgernisse. Daher wurde beim runden Tisch beschlossen, eine Initiative der Anwohner und Vereine zu entwickeln, die dauerhaft sein sollte. Der von uns mitgetragene Verein »ahimsa« wurde eingeladen, die Prinzipien des gewaltlosen Widerstands und mögliche Handlungsideen in dieser Runde vorzustellen; es wurden Projektmittel für ein Jahr bewilligt. Das Besondere des Projekts zeigte sich bereits im Vorfeld, denn neben Stiftungsgeldern und Mitteln der Stadt stammte ein nicht unerheblicher Anteil von privaten Spendern, die von den Anwohnern angesprochen und gewonnen werden konnten. Die grundsätzliche Ausrichtung des Projekts war und ist, dass ein möglichst großer Zusammenschluss von Personen (Bewohnern des Stadtteils) und Institutionen sich in der Öffentlichkeit gegen das als destruktiv erlebte Verhalten wenden solle und dazu an zentralen und markanten Punkten in größerer Anzahl hartnäckig, deeskalierend und wiederholt auftaucht. Zudem wurden Veranstaltungen anstrebt, die die öffentliche Meinung aktivierten. Auf diese Art und Weise sollten Begegnung und Beziehungsaufbau frühzeitig, vor dem Beginn von Eskalationen, gesucht werden. Es wurde dabei vereinbart, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen (häufig mit Migrationshintergrund) nicht von Plätzen und Orten des Stadtteils zu vertreiben, sondern sie auf ein gutes Miteinander anzusprechen.
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Elternpatrouille
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So bildete sich ein Initiativkreis, überwiegend aus betroffenen und interessierten Anwohnern. In gemeinsamen Treffen wurden deeskalierendes Verhalten eingeübt, die Grundlagen gewaltfreien Handelns erarbeitet sowie praktische Vorgehensweisen überlegt. Als Handlungsstränge wurden vorbereitet: 1. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre wollten die betroffenen Anwohner direkt den Kontakt zu Jugendlichen an deren Orten aufnehmen, um zu zeigen, dass sie ein Interesse an einem friedlichen Miteinander im Stadtteil haben. 2. Zugleich wollten sie damit deutlich machen, dass die Treffpunkte dieser Gruppen Orte öffentlichen Interesses sind, somit auch eine gegenseitige Rücksichtnahme benötigen. Die Orte sollten für die Öffentlichkeit wieder zu allen Tages- und Nachtzeiten zugänglich gemacht werden. 3. Sensibilisierung der Öffentlichkeit, um eine fokussierte und vergrößerte Aufmerksamkeit auf die Vorgänge zu richten. Damit sollten noch zögernde Anwohner ermutigt werden, sich aktiv für ein gutes Miteinander zu beteiligen. Es sollte Integration (nicht Ausgrenzung) als Botschaft vermittelt werden. 4. Dazu sollte eine möglichst große und umfangreiche Vernetzung aller Beteiligten Personen, Institutionen und Organe erreicht werden, Berichterstattungen und Informationen sollten über die städtische Zeitung wie auch das Stadtteil-Info verbreitet werden. 5. Es wurde auch überlegt, darüber hinaus ggf. die Familien bestimmter Jugendlicher freundlich zu besuchen, um für das familiäre Einwirken auf die Ereignisse zu sensibilisieren. Der Aktionskreis gab sich den Namen »Miteinander – Gewaltfreie Kommunikation in Haste«. Damit sollte ausgedrückt werden, dass es nicht nur um die Beendigung destruktiver Verhaltensweisen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehe, sondern dass die Initiative das Besondere und Lebenswerte des Stadtteils hervorheben solle. Ein Lehrer, der als Anwohner und Sprecher im Aktionskreis mitwirkte, initiierte eine Schüleraktion für einen Button, der als Wiedererkennungszeichen eingesetzt wurde, um die Aufmerksamkeit für das Projekt zu erhöhen. Es entstanden die sogenannten »Haster Rundgänge«: Der Initiativkreis traf sich zu unterschiedlichen Zeiten an Freitag- und Samstag-
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abenden zu einem Gang durch den Stadtteil, insbesondere zu den markanten Treffpunkten von Jugendlichen. Gezielt wurden die Menschen (Jugendliche wie Erwachsene), denen die Gruppe begegnete, angesprochen, Ideen und Ziele der Aktion wurden mitgeteilt. Dabei wurde bewusst darauf geachtet, den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie gern vor Ort gesehen sind, verbunden mit der Bitte, auf die Ruhe der Anwohner genau so zu achten wie auf zerstörerische und destruk tive Verhaltensweisen – seien es die eigenen oder die von anderen. Die Aktionen wurden jeweils im örtlichen Info-Brief angekündigt, den jeder Haushalt im Stadtteil erhielt, z. T. auch in der Lokalzeitung veröffentlicht. Es nahmen auch Einzelpersonen an diesen Rundgängen teil, die die Aktion begrüßten und so ihre Unterstützung zeigten. Eine Handlungsanleitung für deeskalierendes Verhalten bei diesen Rundgängen stand zur Verfügung, in den ersten Monaten wurden diese Gänge von Coaches begleitet, die modellhaft die Kontaktaufnahme übernahmen. Das Projekt wurde auf dem Sommerfest des Stadtteils durch einen Infostand, durch aktives Ansprechen der Besucher und eine Präsentation auf einer Bühne bekannt gemacht. Um die Basis der zu vergrößern, wurde im nächsten Schritt überlegt, die Vereine und Institutionen im Stadtteil anzusprechen, um jeweils eine Patenschaft für diese Rundgänge zu übernehmen. Das Jahr 2008 war in der Rückschau deutlich ruhiger als die vorherigen. Die Anwohner berichteten, dass es weniger ruhestörenden Lärm und kaum Vandalismus gegeben habe. Durch die Begegnungen mit den Jugendlichen konnten manche Missverständnisse geklärt werden. So wurde manche Ruhestörung erklärbarer dadurch, dass nicht die Lautstärke, sondern der Schall die Beeinträchtigung darstellte. Durch die wiederholten Kontaktaufnahmen mit den Jugendlichen konnten derartige Störungen abgemildert werden. Es gab noch den interessanten Effekt, dass sich Jugendliche und Erwachsene in Folge der Rundgänge auch tagsüber wiedererkannten. Die Jugendliche grüßten die Anwohner freundlich, die sie einige Tage zuvor bei einem der Rundgänge kennen gelernt hatten. Aufgrund dieser positiven Entwicklung wurden keine weiteren Schritte vereinbart, sie schienen nicht notwendig. Die Beteiligten des Aktionskreises berichteten von einem gestiegenen Gefühl der Sicherheit im Umgang mit den bekannten Schwierigkeiten sowie der gewonnenen positiven persönlichen Erfahrungen.
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Allerdings zeigten sich auch Schwierigkeiten. Obwohl einzelne Anwohner an den Rundgängen teilnahmen, blieb der Aktionskreis auf eine kleine Gruppe beschränkt. Die Kooperation der Vereine, auch bei der Übernahme von Patenschaften für die Rundgänge, war bisher geringer als erhofft. Die Beteiligung von Institutionen, die z. T. direkt betroffen waren (z. B. Schule), konnte nur sporadisch erreicht werden. Auch fehlte in diesem ersten Jahr die klare und eindeutige politische Unterstützung. So gab es z. B. in der bisherigen Aktionszeit keine Stellungnahme, mit der die Kommune zur Beteiligung aufgerufen hätte. Die Berichterstattung der Zeitung stellte sich als sehr wechselhaft dar, eine kontinuierliche Begleitung durch eine Person konnte nicht gewährleistet werden. So wurde der Aktionskreis in einem Artikel als »Bürgerwehr des Stadtteils« beschrieben. Diese Schwierigkeiten werden in den entsprechenden Gremien und bei den jeweiligen Personen thematisiert werden, um im laufenden Jahr die Aktivitäten erweitern zu können. Der Aktionskreis hat es sich auch nach Projektablauf zur Aufgabe gemacht, sich weiter aktiv für die Initiative und die entwickelte Grundhaltung einzusetzen. Autorität ohne Überlegenheit oder Machtdemonstration
Die Teilnehmer der Elternstreifen sollten sowohl unnötiges Einmischen in die Aktivitäten der Jugendlichen als auch Machtdemonstrationen vermeiden, die vermitteln könnten: »Ihr werdet genau das tun, was wir euch sagen!« Das Maß, in dem sich die Patrouille einmischt, sollte minimal bleiben, es sei denn, sie stoßen wirklich auf problematische Verhaltensweisen. Die Anweisungen an die Teilnehmer der Patrouille sollten drei verschiedene Interventionsgrade definieren, ähnlich den drei elterlichen Graden der wachsamen Sorge, die wir im zweiten Kapitel dargelegt haben: – Der niedrigste Grad beinhaltet Aktivitäten der Eltern, deren Ziel es ist, gesehen zu werden und aus der Ferne zu beobachten. Die Patrouille erreicht den Aufenthaltsort, hält sich dort eine kurze Weile auf, um einen Eindruck von den Aktivitäten zu erhalten und den Jugendlichen zu ermöglichen, ihre Präsenz zu registrieren, und macht sich dann wieder auf den Weg. Solange kein Grund zur Sorge besteht, sollte dieser Interventionsgrad beibehalten werden. Im Zweifelsfall können die Patrouil-
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lierenden ihren Aufenthalt ausdehnen oder den Ort später noch ein Mal aufsuchen. – Der zweite Grad ist notwendig, sobald die Patrouille Aktivitäten beobachtet, die problematische Entwicklungen andeuten. Sie können z. B. einen Jugendlichen sehen, der mit einigen Bierdosen dasitzt, oder lautstarke Gespräche hören, die auf erhitzte Gemüter hinweisen. In diesem Fall sollten die Patrouillierenden zur direkten Befragung übergehen. Sie sollten mit den Jugendlichen Kontakt aufnehmen, sie fragen, wie es ihnen geht und was ihre Pläne für den weiteren Verlauf des Abends sind. Sie sollten offen die beunruhigenden Aktivitäten ansprechen, den Jugendlichen ihre Sorge mitteilen und ihnen sagen, dass sie in der Nähe bleiben werden. Ein drohender, predigender oder befehlender Tonfall sollte vermieden werden. Falls die Jugendlichen provozierend reagieren, kann sich die Patrouille ein wenig entfernen und einen deutlich sichtbaren Beobachtungsposten einnehmen. – Der dritte Grad ist dann notwendig, wenn die Patrouille problematische Verhaltensweisen beobachtet, die ein Eingreifen erfordern. Die Patrouillierenden sollten sich nähern und bekannt geben, dass sie solange vor Ort bleiben werden, bis das problematische Verhalten abgebrochen wird. Parallel sollten sie telefonisch Kontakt mit den Eltern der involvierten Jugendlichen und mit anderen Funktionsträgern der Gemeinde aufnehmen. Die Verknüpfung dieser zwei Maßnahmen ermöglicht einerseits, die drohende Gefahr einzuschränken, und andererseits, eine Eskalation der Situation zu vermeiden. Autorität als Netzwerk
Die »Waffen« der Elternpatrouille sind ihr Handy und ein Adress- und Telefonbuch. Die Tatsache, dass die Elternpatrouille in Zweiergruppen arbeitet, ermöglicht eine bequeme Arbeitsteilung: Einer nimmt mit den Jugendlichen Kontakt auf, der andere telefoniert, bittet um Rat, holt Hilfe und hinterlässt telefonisch Nachrichten. Während der Ausbildung der Patrouilleteilnehmer sollten Handlungsregeln für verschiedene Begebenheiten erstellt und eingeübt werden. Eltern sollten einige wichtige Telefonnummern
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Elternpatrouille
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und Adressen mit sich tragen: die Nummern der Eltern der Jugendlichen in der Nachbarschaft, die der Teilnehmer der Elternpatrouille, die des Ortspolizisten, die anderer Funktionsträger innerhalb des Gemeinwesens, wie z. B. der Repräsentanten des Schulkomitees, der Mitglieder der Elternvertretung, des Jugendamts, des Gemeindevorsitzenden. Wenn die Kontaktpersonen nicht erreichbar sind, sollte eine telefonische Nachricht oder eine Textnachricht (SMS) hinterlassen werden. Diese Maßnahmen stellen schon für sich eine wichtige Intervention dar. Die Eltern der Jugendlichen sollten gefragt werden, ob sie zum Ort des Geschehens kommen können oder ob sie mit ihrem Kind am Telefon sprechen möchten. Im Notfall, z. B. wenn ein Jugendlicher betrunken ist, sollte er oder sie nach Hause begleitet werden. Die vielen Telefonate erzeugen das Gefühl eines engmaschigen Netzwerks. Die Kontaktaufnahme mit anderen Autoritätspersonen stärkt die Autorität der Patrouillierenden. Die Jugendlichen begreifen nun, dass sie nicht nur die Elternpatrouille vor sich haben, sondern dass sie es mit einem ganzen Netzwerk der Autoritätsträger innerhalb des Gemeinwesens zu tun haben. Beständigkeit, die Stärkung der Eltern und das Ausweiten der Kontakte
Anders als die Autoritätsperson früherer Zeiten hat die neue Autorität nicht das Ziel, mittels einer machtvollen Auseinandersetzung eine klare Entscheidung herbeizuführen. Stattdessen beruht sie auf Standfestigkeit und Beständigkeit. Das nächtliche Treffen reicht daher in kritischen Fällen nicht aus. Am nächsten Tag sollte der Kontakt mit dem Jugendlichen, seinen Eltern und anderen Funktionsträgern innerhalb der Gemeinde weiter verfolgt werden. Das Tagebuch der Elternpatrouille dient dazu, die nächtlichen Ereignisse festzuhalten und Details über die Beteiligten zu notieren, so dass die weitere Kontaktaufnahme erleichtert wird. Die anschließenden Gespräche müssen nicht unbedingt von denselben Eltern durchgeführt werden, die am vorigen Abend patrouilliert haben. Diese Aufgabe kann auch z. B. von dem Vorsitzenden der Elternpatrouille übernommen werden. Beim anschließenden Gespräch mit den Eltern fragt der Repräsentant der Patrouille, ob der
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
Jugendliche gut nach Hause gekommen ist und ob den nächt lichen Ereignissen noch weitere problematische Verhaltensweisen gefolgt sind. Die Patrouille kann anbieten, einen Hausbesuch abzustatten, um mit dem Jugendlichen und seinen Eltern zu sprechen. Ein solcher Besuch befreit die Eltern aus ihrer Isolation und stärkt daher ihre Autorität. In besonderen Fällen können weitere Funktionsträger angerufen werden (Jugendgruppenleiter, Jugendgerichtshilfe, das Sozialamt, Repräsentanten der Schule u. a.). Auf diese Weise weitet sich das Netzwerk, das den Jugendlichen und seine Eltern umschließt und unterstützt, innerhalb der Nachbarschaft und der Gemeinde immer mehr aus. Das Erkunden problematischer Gegenden in der Nachbarschaft
Ein wichtiger Beitrag der Elternpatrouille ist das systematische Erkunden der Nachbarschaft. Die Patrouille sammelt Informationen über die Vergnügungsorte und Aktivitäten der Jugendlichen und teilt diese den Eltern mit. Langsam aber sicher verlieren Eltern ihre Ahnungslosigkeit und ändern ihren Standpunkt. Ein Beispiel hierfür ist die veränderte Wahrnehmung des Phänomens des »Herumhängens«. Normalerweise identifizieren sich viele Eltern mit der Forderung der Jugendlichen, einfach nur »herumzuhängen«, und unterstützen sie darin, auch wenn dies heimlich oder an abgelegenen Orten geschieht. Sobald aber Eltern Informationen erhalten, dass problematische Vorgänge bei diesen Treffen stattfinden, verstehen sie, dass ein gewisses Maß an Präsenz der Erwachsenen notwendig ist. In den meisten Fällen finden sich die Jugendlichen mit der Aufsicht ab, besonders wenn sie merken, dass die Eltern entschlossen sind, dass ihre Aufsicht nicht aufdringlich ist und der Freiraum der Jugendlichen für ihre unabhängigen Aktivitäten weiterhin groß genug bleibt. Wir haben oftmals erlebt, wie Eltern, die schon lange hoffnungslos und demoralisiert waren, in Folge ihrer Erfahrungen im konstruktiven Kampf gegen destruktives Verhalten und Gefahren der Jugendlichen sich wieder aufgerafft, ihre Stärke entdeckt und ein Gefühl der Berufung entwickelt haben. Die Befreiung aus der Isolation und die Wiederherstellung der elterlichen Präsenz im Leben des Kindes, das sich schon längst an die Abwesenheit der
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Elternpatrouille
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Autoritätspersonen gewöhnt hat, stellt ein bedeutende Erfahrung dar. Dieses Erlebnis verstärkt sich ungemein, wenn Eltern nicht nur isoliert handeln, sondern sich in eine Gemeinschaft eingegliedert wissen. Ein Kibbuz entdeckt seine Stärke Wiederholter Vandalismus, Gewalt und gefährliche Verhaltensweisen unter Jugendlichen weckten tiefe Sorge und Missmut bei den Kibbuzmitgliedern. Nach einigen besonders schwerwiegenden Vorfällen wurde ein »Vandalismusausschuss« gegründet, dessen Ziel es war, die bisher vorherrschende Toleranz gegenüber den Jugendlichen, die den Kibbuz charakterisierte, einzuschränken. Der Ausschuss führte Nachforschungen durch, um die verantwortlichen Vandalen ausfindig zu machen, erstattete bei der Polizei Anzeige und drängte darauf, die am Vorfall beteiligten Jugendlichen in ein Internat zu schicken. Diese Aktionen stellten den Versuch dar, im herrschenden Chaos eine Autorität zu etablieren, wie sie in früheren Zeiten üblich gewesen war. Dies geschieht oft, wenn das Fass zum Überlaufen gebracht wurde. Der Wunsch, die schwierigen Kinder wegzuschicken, war Ausdruck des ohnmächtigen Gefühls, dass das normale Schulsystem des Kibbuz nicht in der Lage war, sich einer Auseinandersetzung mit ihnen zu stellen. Der Schulrat stimmte aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus dieser Maßnahme zu. Daraufhin kam es zu einer Spaltung zwischen den »normalen« Schülern, die der Aufsicht des Schulrats unterstanden, und den gewalttätigen Jugendlichen, die dem Vandalismusausschuss unterstanden. Dieser bat darum, die Gewalttäter aus dem Kibbuz zu entfernen. Schon bald wurde diese Initiative kritisiert. Viele Kibbuzmitglieder lehnten sich gegen den Ausschuss auf und sahen dessen Maßnahmen als Versuch an, einen »Polizeistaat« innerhalb des Kibbuz zu gründen. Die Entscheidungen des Ausschusses wurden auf Schritt und Tritt behindert und untergraben. Die Kinder, die in Internate geschickt worden waren, wurden wieder zurückgeholt und als Opfer des unnachgiebigen Systems betrachtet. Innerhalb kürzester Zeit wurde allzu deutlich, dass eine grundlegende Änderung notwendig war. Als Erstes wurde der Name des Ausschusses von »Vandalismusausschuss« in »Vermittlungsausschuss« »geändert. Die Änderung des Namens wurde von den Mitgliedern des Ausschusses selbst initiiert
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und war das Ergebnis ihrer Einsicht, dass die Autorität im Kibbuz anders strukturiert werden müsse. Zur gleichen Zeit fing das Direktorat des Kibbuz an, systematisch alle Vorfälle von Vandalismus, Alkoholkonsum, nächtlichen Ausschreitungen und Gewalttaten der Jugendlichen zu veröffentlichen. Das Direktorat sicherte dem Schulrat seine volle Unterstützung zu, forderte im Gegenzug aber, dass es bei der Handhabung der problematischen Jugendlichen eingeschaltet würde. Statt der unausgesprochenen Trennung zwischen dem Schulrat für die »normalen« Kinder und dem Vandalismus- bzw. Vermittlungsausschuss für die problematischen Kinder entwickelte sich nun ein enges Netzwerk, bestehend aus dem Schulrat, dem Ausschuss und dem Direktoriat des Kibbuz. Das Netzwerk beruhte darauf, dass alle Informationen weitergeleitet und die Handlungen abgestimmt wurden. Die gemeinsame Präsenz und Aufsicht der Erwachsenen innerhalb des Kibbuz wurde hierdurch langsam wieder rehabilitiert. Es herrschte ein allgemeines Gefühl vor, dass das Kibbuzgelände zwar während des Tages allen zur Verfügung stand, dass es aber zur nächtlichen Stunde nur den Jugendlichen gehörte. Sie veranstalteten laute Partys, warfen Sprengkapseln umher, zerstörten Kibbuzeigentum und verdreckten das Gelände. Unter den Randalierenden befanden sich nicht nur Teenager, sondern auch Drittund Viertklässler. Vor diesem Hintergrund wurde der Vorschlag entwickelt, eine Elternpatrouille zu gründen, die nachts auf dem Gelände Präsenz demonstrieren würde. Die Initiatoren der Elternpatrouille schlugen vor, dass die Teilnehmer, die sich zu Elternstreifen bereit erklärten, mit leichten Fahrzeugen (Club-Cars) umherfahren würden. Um die Bereitschaft der Eltern zu vergrößern, sich an den Patrouillen zu beteiligen, beschlossen das Direktorat, dass die Teilnehmer an der Patrouille am nächsten Tag von der Arbeit befreit würden oder dass ihnen der Arbeitsaufwand erstattet würde. Die Initiatoren der Elternpatrouille waren von dieser Idee nicht begeistert. Sie erkannten aber, dass sich in diesem Vorschlag der geschwächte Gemeinschaftsgeist des Kibbuz widerspiegelte. Die Verantwortung für die Patrouillen wurde einer Organisatorin übergeben, die sich mit den Prinzipien der elterlichen Präsenz und des gewaltfreien Widerstands identifizierte. Ihr Ziel bestand nicht nur darin, mittels der Elternpatrouillen die nächtliche Ruhe wiederherzustellen, sondern
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auch darin, die Umsetzung der Prinzipien der neuen Autorität in anderen Bereichen des Kibbuzlebens zu fördern. Bei einigen Gruppentreffen sollte das Programm den Kibbuzmitgliedern vorgestellt werden. Diese Treffen erwiesen sich als sehr hilfreich: Einerseits konnten immer mehr Kibbuzmitglieder von der Idee überzeugt werden, andererseits wurde der Protest gegen das Programm klarer und dadurch leichter zu berücksichtigen. Drei Einwände wurden vor allem vorgebracht: 1. Manche Eltern wollten nicht, dass andere Erwachsene ihre Kinder disziplinierten. 2. Manche sorgten sich um die Unabhängigkeit der Jugendlichen. Dieser Einwand war besonders unter den Jugendleitern verbreitet und natürlich unter den Jugendlichen selbst. 3. Einige Eltern waren besorgt, dass die Berichterstattung der Patrouillierenden in falsche Hände geraten würde und ihre Kinder öffentlich schlechtgemacht würden. Die Initiatoren des Programms waren so klug, die Einwände mit großer Vorsicht zu behandeln. Sie betonten, dass die Patrouillierenden nicht die Verantwortung für die Disziplinierung der Kinder tragen würden, sondern dass sie sich mit ihrer Präsenz vor Ort und der genauen Berichterstattung der Ereignisse begnügen würden. Sie baten die besorgten Eltern, die Anweisungen an die Patrouillierenden durchzulesen und zu kommentieren, um problematischen Zwischenfällen vorzubeugen. Außerdem wurde vorgeschlagen, Bereiche zu definieren, wie das Jugendzentrum, die außerhalb des Einsatzbereichs der Elternpatrouille und stattdessen unter direkter Verantwortung der Jugendleiter stehen würden, um die Unabhängigkeit der Jugendlichen zu gewährleisten. Um der Sorge Rechnung zu tragen, dass die Kinder für ihr Verhalten öffentlich schlechtgemacht würden, wurde beschlossen, dass die Namensliste von der Programmleiterin verwahrt würde, die allein befugt war, die Eltern und die verantwortlichen Instanzen zu informieren. Die übrigen Proteste, vor allem von Seiten der Jugendlichen selbst, verstummten allmählich, als die Elternpatrouille ihre Arbeit aufnahm. An Wochentagen wurde bis um 2 Uhr nachts patrouilliert, am Wochenende bis in die frühen Morgenstunden. Die Patrouillierenden nahmen mit den Jugendlichen Kontakt auf, fragten sie, wie es ihnen gehe, und häufig entwickelte sich daraus ein gutes Gespräch. Oft kamen sie einem Jugendlichen zu Hilfe, der ein Problem hatte:
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Sie riefen z. B. die Eltern an und boten an, den Jugendlichen nach Hause zu bringen, wenn sie ihn in betrunkenem Zustand vorfanden. Einmal leistete ein Patrouillierender, der Rettungssanitäter war, Erste Hilfe, als eine betrunkene Jugendliche ohnmächtig wurde. Waren die Zusammenkünfte der Jugendlichen besonders laut, so blieb die Patrouille vor Ort, bis ein annehmbarer Kompromiss gefunden wurde. Eines Nachts wurde beobachtet, wie sich mehrere Kinder verdächtig verhielten. Die Patrouillierenden nährten sich und fragten nach ihrem Tun. Die Kinder versuchten, abzuwiegeln und die Angelegenheit herunterzuspielen. Die Patrouillierenden gingen weiter, spürten aber, dass irgendetwas vor sich ging. Diese Besorgnis führte sie eine Stunde später an den Ort zurück. Die Kinder waren immer noch dort und antworteten wieder beruhigend auf die Fragen der Patrouillierenden. Am nächsten Tag fand ein Kind sein demoliertes Fahrrad auf dem Gelände, auf dem sich am Abend zuvor die Gruppe aufgehalten hatte. Die Programmleiterin wandte sich an die Patrouillierenden des besagten Abends und erhielt Informationen über das nächtliche Treffen. Die am Vorfall beteiligten Kinder wurden zu einem Gespräch eingeladen. Dabei stellte sich heraus, dass sie das Fahrrad vom Dach der Sporthalle geworfen hatten. Die Eltern der am Vorfall beteiligten Kinder initiierten daraufhin eine Wiedergutmachung: Die Kinder schrieben einen Entschuldigungsbrief, spendeten Geld für den Kauf eines neuen Fahrrads und übergaben den Brief und das Geld dem Jungen. Die Patrouille legte auch einen Bericht offen über eine andere, besonders junge Kindergruppe, die nachts beträchtlichen Lärm gemacht hatte, wobei mit Sprengkörpern und Luftgewehren hantiert worden war. Die Programmleiterin wandte sich daraufhin an die Eltern der Kinder und bat, die gefährlichen Materialien zu konfiszieren. Da die Eltern nicht auf ihre Bitte reagierten, beschloss das Direktorat des Kibbuz, den Besitz von Sprengkörpern, Feuerwerkskörpern, Luftgewehren und Luftpistolen zu verbieten. Hierzu wurde eine Nachricht an alle Eltern des Kibbuz verschickt, mit der Aufforderung, alle verbotenen Materialien dem Direktorat zu übergeben. Eltern, deren Kinder im Verdacht standen, solche Materialien zu besitzen, erhielten die Mitteilung, dass das Direktorat darüber informiert worden sei, dass sich entsprechende Materialien in den Händen der Kinder befänden, diese Information aber nicht weiter verfolgt worden sei. Diese Eltern,
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die sich vorher vor einer Konfrontation mit ihrem Kind gefürchtet hatten, fühlten sich nun durch die Aufforderung verpflichtet, alle Materialien einzusammeln und sie an einen bestimmten Sammelort zu bringen. Das Ergebnis dieser Aktion war ein beträchtliches Munitionslager. Außerdem wurde beschlossen, die Eltern, deren Kinder an dem nächtlichen Lärm beteiligt gewesen waren, zu einem Kurs über die Prinzipien von elterlicher Präsenz und wachsamer Sorge zu verpflichten. Diese Forderung wurde von allen drei Gremien unterstützt: dem Direktorat dem Schulrat und dem Vermittlungssausschuss. Die Eltern akzeptierten diese Entscheidung. Im Laufe des Kurses beschlossen sie, der Kindergruppe weitere gemeinsame Aktivitäten zu verbieten und dadurch die Gruppe aufzulösen. Die Entschlossenheit der Eltern führte tatsächlich zu einer Auflösung der problematischen Gruppe. Dies erleichterte die Auseinandersetzung mit den Kindern sowohl zu Hause als auch in der Schule und im Jugendzentrum wesentlich. Die Zusammenarbeit der drei verantwortlichen Gremien (Schulrat, Direktorat und Vermittlungsausschuss) und die zunehmende Unterstützung der Kibbuzmitglieder bestärkte die Programmleiter auch in der Auseinandersetzung mit ganz besonders schweren Fällen. Die Jugendlichen, die in der Vergangenheit durch den Vandalismusausschuss erfolglos zur Räson gebracht worden waren, wurden nun dazu verpflichtet, sich einer zeitbegrenzten Behandlung in einem darauf spezialisierten Internat zu unterziehen. Dieses Mal wurde die Entscheidung frühzeitig abgesprochen und von allen drei Gremien unterstützt. Die Jugendlichen wurden tatsächlich für einige Monate in ein Internat geschickt. Während dieser Zeit bereitete sich der Kibbuz auf ihre Rückkehr vor. Unter anderem wurde die Aufsicht in ihren verschiedenen Lebensbereichen verstärkt. Dank des Internataufenthalts und der sorgfältigen Vorbereitungen konnten die Jugendlichen bei ihrer Rückkehr viel besser in den Kibbuz integriert werden. Die Tatsache, dass der zweite Versuch der Eingliederung dieser Jugendlichen gelang, verdeutlicht den Unterschied zwischen den verschiedenen Sichtweisen der alten und der neuen Autorität. Der erste Versuch trug den Charakter einer machtorientierten Autorität, die von oben herab handelt, deren Maßnahmen nicht abgesprochen werden, die keine allgemeine Unterstützung erhalten und strafender bzw. unterwerfender Natur sind. Der zweite
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
Versuch begann mit der Rekrutierung eines breiten Unterstützernetzes und dem Aufbau eines Beaufsichtigungsnetzwerks. Ähnliche Maßnahmen in derselben Angelegenheit konnten in Verbindung mit der neuen Autorität akzeptiert werden und gelingen, während die gleiche Initiative in Verbindung mit der traditionellen Autoritätsausübung versagt hatte. Ein Jahr nach Beginn des Interventionsprogramms waren die Errungenschaften allen deutlich sichtbar. Gewalttätige Vorfälle, Vandalismus, nächtlichen Ruhestörungen und zügellose Verhaltensweisen hatten stark abgenommen. Die Unterstützung des Programms nahm immer mehr zu. Die meisten Kinder fingen an, die Patrouillen als positiven Faktor zu betrachten, der ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, ohne ihre Autonomie einzuschränken. Anfangs wurde solch eine Resonanz vor allem unter den Mädchen hörbar, breitete sich später aber ähnlich unter vielen Jungen aus. Die Bereitschaft, an den Patrouillen teilzunehmen, nahm zu: Zu Anfang des Programms waren 30 Kibbuzmitglieder Teil der Patrouille. Am Ende des ersten Jahres hatte das Programm etwa 80 Teilnehmer. Die meisten Mitwirkenden arbeiteten ehrenamtlich. Die Freiwilligenarbeit breitete sich auch auf andere Lebensbereiche des Kibbuz aus. Eine vielversprechende Initiative war die Bitte junger Erwachsener (in der Mehrzahl Studenten), stärker in die Arbeit mit der jüngeren Generation einbezogen zu werden. Diese Initiative nahm eine alte Tradition des Kibbuz wieder auf. Diese Traditionserneuerung weist auf das Potenzial hin, das im Gemeindeleben steckt, dessen Geist vielleicht zeitweilig einschläft, aber doch nicht gänzlich abstirbt. Die Kibbuzmitglieder hatten nicht den Eindruck, dass der Kibbuz eine revolutionäre Entwicklung durchlief, sondern erlebten die Veränderungen als Wiederentdeckung ihrer eigenen Stärke.
Die Gemeindepolizei Der Polizist in seiner stereotypen Rolle ist vielleicht die deutlichste Verkörperung der Autorität früherer Zeiten. Er ist mit Zeichen der Macht und Herrschaft ausgestattet, erwartet unmittelbaren Gehorsam, verwendet einen Stock und eine Trillerpfeife, um das Gesetz durchzusetzen. Das Gefängnis als ultimatives Mittel ver-
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Der Gemeindepolizist in der Schule
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körpert mehr als alles andere die strafende Macht der früheren Autorität. Mütter, die ihre kleinen Kinder zu bändigen suchen, drohen manchmal: »Wenn du nicht sofort aufhörst, rufe ich die Polizei!« Der Polizist ist in heutigen Zeiten auch zu einem Symbol für den Missbrauch von Autorität geworden. Das Bild des grausamen Polizisten und der Menschen, die ihm ausgeliefert sind, ist ein gängiges Klischee in Film und Fernsehen. Die moderne Polizei scheut keine Mühe, um dieses negative Klischee zu ändern. Der Wunsch der Polizei nach einem anderen Image ist ein gutes Beispiel für das Bedürfnis der Gesellschaft im Allgemeinen, ein Autoritätsbild zu finden, das den Werten der freiheitsliebenden Gesellschaft entspricht. Ein Wirkungsbereich, der für den Aufbau eines neuen Images ideal ist, liegt im gemeinsamen Wirken der Polizei mit anderen Funktionsträgern der Gesellschaft, z. B. der Schule. Die folgende Beschreibung stellt einen Teil eines Versuchsprojekts vor, das Bild der Gemeindepolizei durch ihre Arbeit innerhalb der Schulen neu zu gestalten.
Der Gemeindepolizist in der Schule Anders als der normale Polizist, der nur in Notfällen in die Schule gerufen wird, strebt der Gemeindepolizist an, in der Schule allseits bekannt und erreichbar zu sein. Das Programm »Sichere Schule«3 sieht vor, dass sich der Polizist mit dem Schulleiter trifft, dass er vor Schülern, Eltern und Lehrern Vorträge hält und eine feste Polizeisprechstunde anbietet. Gemeindepolizisten, die an diesem Projekt teilnehmen, besuchen regelmäßig die Schule. Sie nehmen sporadisch Kontakt zu problematischen Kindern auf, geben ihnen ihre Visitenkarte und laden ihre Eltern zu einem Kennenlerngespräch ein. Die Annäherung zwischen Polizei und Schule soll das Stigma der Polizei aufheben und es der Bevölkerung erleichtern, sich im Notfall an die Polizei zu wenden. Normalerweise 3 Dieses Programm wird seit einigen Jahren an israelischen Schulen angeboten. Die Verbesserung des Programms durch die Übernahme der Prinzipien der neuen Autorität wird zurzeit von der israelischen Polizei in Erwägung gezogen.
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
bedeutet das Einschalten der Polizei, dass die Schule bei ihrem Erziehungsauftrag versagt hat. Deswegen ist eine Schule, an der die Polizei auftaucht, häufig mit einem negativen Image behaftet, als Ort, an dem Gewalt und Verbrechen herrschen. Demgegenüber kann das Einbeziehen der Polizei in akuten Fällen die Beharrlichkeit der Schule ausdrücken, sich mit den vorliegenden Problemen auseinanderzusetzen, wenn die Polizei auch sonst einen integralen Bestandteil des fortwährenden schulischen Kampfes gegen Gewalt und Verbrechen darstellt. Der Gemeindepolizist beginnt seine Aktivitäten an der Schule mit einem Treffen mit dem Schulleiter. Ziel dieses Treffens ist es, den Polizisten bei der Erneuerung und Stärkung der Erwachsenenautorität in der Schule und im Gemeinwesen einzubeziehen. Während des Treffens unterschreiben die Schule und der Polizist einen Vertrag zum gemeinsamen Kampf gegen Gewalt. Weitere Treffen mit den Lehrern sollen verdeutlichen, dass der Polizist sich nicht nur dem Schutz der Schüler verpflichtet sieht, sondern auch dem Schutz der Lehrer. Der Polizist wird hierdurch Teil des Unterstützernetzes, das den Lehrern hilft, die Bedrohungen und Verletzungen durch Schüler oder Eltern abzuwenden. Die Botschaft des Polizisten an die Lehrer ist: »Solange Sie sich nicht sicher fühlen, werden die Schüler sich ganz gewiss auch nicht sicher fühlen können!« Diese Botschaft verstärkt die Bereitschaft der Lehrer, die Hilfe des Polizisten in Anspruch zu nehmen, wenn ein Lehrer oder ein Schüler bedroht wird. Der Polizist hält auch einen Vortrag vor den Schülern. Dieser Vortag hat zwei Ziele: Informationen über die Gefahren und die strafrechtlichen Aspekte bestimmter problematischer Verhaltensweisen zu liefern und einen Kommunikationskanal zu den Schülern herzustellen. Hierfür sollte der Polizist die Rufnummer der Gemeindepolizei angeben, über die Hilfe herbeigerufen werden kann. Er wendet sich außerdem an die Schüler, um sie für freiwillige Aufgaben – wie z. B. eine persönliche Verpflichtung – zu gewinnen und dadurch ihr Engagement zu fördern. Der Polizist kann seine Präsenz und seine Erreichbarkeit für die Schüler verbessern, wenn er auch das Internet als Kommunikationsmedium verwendet. So kann er z. B. auf der Internetseite der Schule über die Arbeit Freiwilliger, über den Umgang mit problematischen
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Der Gemeindepolizist in der Schule
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Vorfällen und über die verschiedenen Bereiche des Programms gegen Gewalt und Drogen berichten. Die Schüler können ihrerseits per E-Mail oder SMS Hilfegesuche an den Polizisten senden. Das Prinzip der Öffentlichkeit, das die neue Autorität kennzeichnet, sieht auch vor, dass der Polizist über alle problematischen Vorfälle und deren Handhabung Bericht erstattet. Diese Veröffentlichungen enthalten natürlich nicht die Namen der involvierten Schüler, aber sie können Details zu dem Angriff, zu den Disziplinarmaßnahmen und zu den durchgeführten Wiedergutmachungstaten beinhalten. Der Polizist sollte betonen, dass die Benachrichtigung der Polizei nicht notwendigerweise bedeutet, dass ein Verfahren eröffnet oder eine Akte angelegt wird, sondern dass es weitere Möglichkeiten der Wiedergutmachung gibt. Die Treffen mit der Schülervertretung haben eine ähnliche Zielsetzung. Der Polizist bemüht sich um einen Dialog mit den Schülern. Dieser zielt darauf ab, die Sprecher der Schülerschaft in den Kampf gegen Gewalt mit einzubeziehen. Er bittet um Unterstützung durch Freiwillige in Form von »persönlichen Verpflichtungen« der Schüler, berichtet über seine Tätigkeiten innerhalb der Schule und versucht herauszufinden, wie Schüler in Not ermutigt werden können, sich an die Gemeindepolizei zu wenden. Auf diese Weise vermittelt der Polizist sowohl ein Gefühl der Gemeinsamkeit im Kampf gegen Gewalt, als auch ein Gefühl der Sicherheit durch seine Aufsichtsfunktion. Er hört auf, eine distanzierte und strafende Instanz zu sein, die aufzusuchen bedeutet, dass man ein Verräter ist. Stattdessen wird er zu einer positiven Autoritätsperson, die jeden stärkt, der um seine Hilfe bittet. Der Gemeindepolizist trifft sich auch mit der Elternvertretung. Ähnlich wie beim Klassenlehrer, der schon zu Jahresbeginn mit den Eltern Kontakt aufnimmt, sollte der erste Kontakt nicht in einer Krisenzeit geknüpft werden. Stattdessen sollte von vornherein eine breite Basis für die Zusammenarbeit zwischen Elternschaft und Gemeindepolizei angestrebt werden. Ein solches Bündnis hilft, die Einstellung zu ändern, dass die Einbeziehung der Polizei eine Schande für die Schule bedeute. Die Zusammenarbeit zwischen der Gemeindepolizei, der Schule und den Eltern kommt durch einen Vortrag vor den Eltern besonders zur Geltung. Der Gemeindepolizist und ein Experte in Sachen elterlicher Autorität
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
können gemeinsam das Interventionsprogramm an der Schule vorstellen und Maßnahmen zur Stärkung der elterlichen Präsenz und wachsamen Sorge vorschlagen. Bei der Handhabung eines problematischen Vorfalls sollte der Polizist Sorge tragen, nicht nur während der akuten Handhabung des Vorfalls, sondern auch danach präsent zu sein. Er sollte in seiner wachsamen Sorge Beharrlichkeit und Beständigkeit vermitteln. Das Prinzip der drei Kontaktaufnahmen hilft dabei, diese beständige Präsenz in die Tat umzusetzen. Dieses Prinzip sieht vor, dass der Polizist bei einem Einsatz mindestens drei Mal mit dem Schüler und/oder seinen Eltern Kontakt aufnimmt. Nach einer Gewalttat eines Schülers spricht der Polizist mit dem Schüler und seinen Eltern und gibt ihnen bekannt, dass er sich weiterhin über die Angelegenheit informieren wird. Beim ersten Gespräch verdeutlicht er dabei dem Kind und seinen Eltern, dass die polizeiliche Handhabung des Vorfalls davon abhängt, wie das Kind sich nun verhalten wird und ob es zu einer Wiedergutmachung bereit ist. Der zweite Kontakt sollte nach ein bis zwei Tagen erfolgen: Der Polizist spricht unter vier Augen oder am Telefon mit dem Kind und fragt, ob sich die Situation beruhigt hat. Nach diesem Gespräch ruft er die Eltern an, erzählt ihnen vom Inhalt des Gesprächs mit dem Kind und fragt nach der Situation des Kindes zu Hause. Sollte der Polizist den Eindruck haben, dass es den Eltern schwerfällt, das Kind zu beaufsichtigen, kann er die Eltern an eine Elterngruppe verweisen, die im Rahmen der Schule oder des Gemeindezentrums die Umsetzung der Prinzipien der neuen Autorität einübt. Der dritte Kontakt sollte nach ein bis zwei Wochen aufgenommen werden. Während dieser Kontaktaufnahme fragt der Polizist das Kind, wie es in Zukunft solche Vorfälle vermeiden will. Es besteht keine Notwendigkeit, dass alle drei Kontaktaufnahmen von demselben Polizisten unternommen werden. Das zweite oder dritte Mal kann dies auch ein anderer Polizist tun. Er sollte in diesem Fall den Eltern und dem Kind mitteilen, dass er über die Details des Vorfalls informiert wurde und die Weiterverfolgung des Vorfalls gemeinsam mit dem Polizisten der Schule durchführt. Auf diese Weise wird vermittelt, dass die Handhabung eines Vorfalls nicht die Angelegenheit eines einzelnen Polizisten ist, sondern dass dieser immer Vertreter der Gemeindepolizei
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Der Gemeindepolizist in der Schule
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ist. Mit jeder Kontaktaufnahme erhält seine Intervention mehr Gewicht. Er zeigt, dass er nicht nur für Notfälle zuständig ist, dass er ist ständig präsent, und genießt den Rückhalt der Eltern und anderer Erwachsener innerhalb des Gemeinwesens. Entscheidend ist die Stellung des Gemeindepolizisten an der Seite der Schule bei der Forderung nach Wiedergutmachungen. Es können ganz besonders gute Ergebnisse erzielt werden, wenn die Repräsentanten der Schule sich an die Eltern wenden, um diese für eine Wiedergutmachung zu gewinnen, während der Polizist zu einem etwas späteren Zeitpunkt die Eltern anruft, um die Bedeutsamkeit dieser Maßnahmen zu betonen und klarzustellen, dass die Wiedergutmachung durchaus den Status des Jugendlichen angesichts seines Vergehens ändern kann. Er macht den Eltern und dem Jugendlichen deutlich, dass die Wiedergutmachung gegenüber dem Geschädigten und gegenüber der Gemeinde eine zentrale Rolle spielt bei der Überlegung, ob ein Verfahren gegen den Jugendlichen eröffnet wird oder ob es eingestellt wird. Auf diese Weise stärkt der Polizist die Autorität sowohl der Schule als auch der Eltern. Das Fördern von Wiedergutmachungen und die Einbeziehung der Eltern sind auch Bestandteil eines Interventionsprogramms für schwerwiegende Fälle (»Family Group Conferences«), das in Israel landesweit von der Kriminalabteilung für Jugendstrafrecht angeleitet wird. Die Einwilligung des Geschädigten ist Voraussetzung dafür, dass der Täter in das Programm aufgenommen wird. Im ersten Stadium versammeln sich der Täter, seine Eltern, der Geschädigte – falls er einwilligt –, Repräsentanten der Familie des Geschädigten und ein Sozialpädagoge der Jugendgerichtshilfe. Das Familienoberhaupt des Täters erläutert, was vorgefallen ist und wessen sein Kind beschuldigt wird. Daraufhin schildert der Geschädigte oder sein Vertreter den Vorfall aus seiner Sicht. Ziel des Gesprächs ist es, den Vorfall so zur Sprache zu bringen, dass dem Täter ermöglicht wird, die schwerwiegenden Folgen seiner Tat einzusehen. Im zweiten Stadium versammelt sich der Täter mit seiner Familie und anderen Helfern, um Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu besprechen und ein Rehabilitationsprogramm zu erstellen. Im dritten Stadium treffen sich alle Teilnehmer erneut, um das vorgeschlagene Programm zu prüfen und zu genehmigen.
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
Die volle Umsetzung des Programms ermöglicht dem Täter, das Strafverfahren gegen ihn aufzuheben. Es wird jedoch wieder aufgenommen, sollte der Jugendliche die Maßnahmen zur Wiedergutmachung nicht vollständig verfolgen. Die Effizienz solcher Interventionsprogramme wurde in Israel und in anderen Ländern überprüft: Es hat sich erwiesen, dass sich im Verlauf dieser Intervention das Sicherheitsgefühl des Geschädigten wesentlich verbessert und dass es seltener zu Wiederholungstaten kommt als bei Jugendlichen, deren Straftaten wie gewöhnlich vor Gericht verhandelt werden. Das Programm »Family Group Conferences« kommt bei relativ schwerwiegenden Delikten zum Einsatz, bei denen eine Anzeige bei der Polizei erstattet wurde und ein Strafverfahren gegen den Täter eröffnet werden soll. In diesen Fällen übernimmt die Polizei gänzlich die Behandlung des Falls. Die Handhabung eines Vorfalls in gemeinsamer Verantwortung der Schule und des Gemeindepolizisten sieht anders aus. Hier trägt in erster Linie die Schule die Verantwortung für die Handhabung des Vorfalls. Das Treffen zwischen dem Polizisten, dem Täter, dem Verletzten, den Eltern und Lehrern findet auf dem Schulgelände statt und stärkt dadurch die Autorität der Schule. Dies trägt auch dazu bei, dass das Zugehörigkeitsgefühl des Täters zur Schulgemeinschaft gestärkt und eine Annäherung zwischen den Eltern und den Lehrern gefördert wird. Das Engagement des Gemeindepolizisten für die Wiedergutmachungen dient dazu, den Einsatz solcher Maßnahmen durch die Polizei zu befürworten und somit das Image der Polizei zu verändern: Der Polizist wird nicht mehr nur als eine bedrohliche und strafende Instanz angesehen, sondern auch als Autoritätsperson, die das Gemeinwohl fördert. Der Unterschied zwischen den Handlungen eines Gemeindepolizisten, der die neue Autorität repräsentiert, gegenüber der Logik der Autorität früherer Zeiten kommt besonders stark in der Art seines Kontakts mit einem Jugendlichen zum Ausdruck, der ein Delikt begangen hat. In der traditionellen Sichtweise besteht die wesentliche Aufgabe eines Polizisten darin, andere vor möglichen Straftaten abzuschrecken und den Straftäter der Gesetzeskraft zu unterwerfen. Der Polizist will also dem Jugendlichen zeigen, dass die Hand des Gesetzes stärker ist als seine eigene. Der
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Der Gemeindepolizist in der Schule
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Vorfall wird als Nullsummenspiel aufgefasst, dessen Ausgang entscheiden wird, wer stärker ist. Dementsprechend muss ein Polizist gegenüber einem draufgängerischen und herablassenden Jugendlichen mit aller Macht seine Autorität durchsetzen, ganz besonders dann, wenn sich der Jugendliche in Anwesenheit anderer Kinder oder Erwachsener unangebracht verhält. Die Herausforderung besteht in der Logik der neuen Autorität jedoch darin, trotz dieser Machtstellung eine Eskalation der Situation durch einen überzogenen Machtanspruch zu vermeiden. Viele Gemeindepolizisten fragen sich, ob sie in solchen Situationen nicht verpflichtet sind, in erster Linie als Polizisten zu agieren und erst danach die Rolle eines Gemeindepolizisten einzunehmen. Dies ist durchaus richtig. Es besteht kein Zweifel, dass die allererste Aufgabe eines Polizisten darin liegt, dem gesetzwidrigen Verhalten Einhalt zu gebieten. Entsprechend handelt der Polizist zuerst in seiner Funktion als Polizist und setzt seine Stärke und Macht entsprechend der Notwendigkeit ein, um die Gefahr abzuwenden. Nachdem jedoch die akute Gefahr vorüber ist, kann der Polizist wieder deeskalierend als Gemeindepolizist in Aktion treten. In dieser Funktion versucht er nicht, den Jugendlichen zu besiegen. Er stellt ein Bindeglied innerhalb eines Netzwerks dar, dessen Aufgabe es ist, für den Schutz der Kinder und der Erwachsenen zu sorgen und den problematischen Jugendlichen zu beaufsichtigen. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen einem regulären Polizisten und einem Gemeindepolizisten während eines Vorfalls in der Schule besteht darin, wie die Öffentlichkeit eingebunden wird. Herkömmlicherweise bemüht sich die Schule, die Information über das Eintreffen der Polizei in der Schule geheim zu halten. Sie ist daran interessiert, den Vorfall so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Lage ist anders, sobald sich der Gemeindepolizist und der Schulleiter als Partner bei der Verwirklichung der neuen Autorität innerhalb der Schule und in der Gemeinde sehen. Beide Seiten werden dann daran interessiert sein, diese Zusammenarbeit zu veröffentlichen. Dies entspricht von Seiten der Schule den Prinzipien der Transparenz und der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt. Von Seiten des Gemeindepolizisten zeigt die Veröffentlichung, dass seine Vorgehensweise nicht
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
mehr der einer isolierten, machtorientierten Autorität entspricht, sondern dass er Teil eines Netzwerks ist, das den Kindern und den Erwachsenen Schutz bietet. Anders als Veröffentlichungen, deren einziges Ziel darin besteht, über die Ereignisse zu berichten, stellt die Veröffentlichung nun Teil des gemeinsamen Kampfes gegen die Gewalt dar. Die Bereitschaft der Polizei, die Prinzipien der neuen Autorität zu übernehmen und in der Funktion des Gemeindepolizisten anzuwenden, könnte weitreichende Folgen haben. Der Polizist wird dadurch nicht nur zu einer zentralen Figur im Kampf gegen Gewalt und Kriminalität, sondern auch zu einem Symbol unserer Kultur und nimmt somit Einfluss auf das Bild der Autoritätsperson in der Gesellschaft im Allgemeinen. Wenn ein Polizist dabei versagt, auf traditionelle Weise mit Phänomenen der Gewalt fertig zu werden, findet diese Niederlage in allen Autoritätsfiguren der Gesellschaft starken Widerhall. Angesichts solchen Versagens breitet sich eine bedrückte Stimmung der Ineffizienz, Hilflosigkeit und Ohnmacht aus. Eltern, Lehrer, Schulleiter und andere Funktionsträger beugen sich dieser Realität und gewöhnen sich daran, die negativen Phänomene als unabänderlich zu betrachten. Wenn die Polizei eingreift und das Phänomen trotzdem weiter existiert, verstärkt sich diese Meinung: »Wenn selbst die Polizei nichts erreichen kann, was können wir dann schon selbst tun?« Unter diesen Umständen verursacht jeder Eingriff der Polizei weiteren Schaden, da er keine Lösung bietet. Dies kann die tiefe Abneigung von Eltern, Lehrern und Schulleitern erklären, sich an die Polizei zu wenden. Die Situation sieht anders aus, wenn der Polizist im Sinne der neuen Autorität handelt. In diesem Fall wird er nicht als letzte Instanz hinzugezogen, sondern er ist ein ständiger Begleiter im fortwährenden Kampf. Es besteht nicht mehr die Erwartung, dass der Polizist durch sein Auftreten Angst einflößt und einschüchtert. Er repräsentiert nun eine Art von Autorität, die sich durch die Zusammenarbeit mit anderen innerhalb eines Netzwerks auszeichnet. Die Schlussfolgerung für Eltern und Lehrer wird entsprechend sein: »Wenn selbst der Polizist seine Autorität mittels Selbstbeherrschung, Beharrlichkeit und in Zusammenarbeit mit anderen ausführt, dann kann ich das vielleicht auch!«
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Der Gemeindepolizist in der Schule
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Eine Intervention in der »Schule für Schulabbrecher« Die Gemeindepolizei hatte entschieden, sich in ihrer Arbeit auf die »Schule für Schulabbrecher« zu konzentrieren, eine Schule für Schüler, die zuvor wegen ihres Verhaltens von anderen Schulen verwiesen worden waren. An dieser Schule kam es häufig zu Vandalismus- und Gewaltvorfällen. Nachdem sich der Gemeindepolizist beim Schulpersonal und der Elternvertretung vorgestellt hatte, kam er regelmäßig in die Schule. Er ging auf dem Schulgelände umher, nahm mit Schülern Kontakt auf und verteilte seine Visitenkarte, vor allem an die Schüler, die vom Schulpersonal als problematisch oder als schutzbedürftig bezeichnet worden waren. Er förderte die Gründung eines »Präsenzteams«, das aus Eltern und Freiwilligen bestand, die vor und nach dem Unterricht kamen und sich vor dem Schultor und auf dem Schulgelände aufhielten. Einer der Freiwilligen war dafür zuständig, Schüler zu begleiten, die in gewalttätige Vorfälle verwickelt gewesen waren. Der Polizist rief die Eltern der Jugendlichen an, die verpflichtet waren, in Begleitung nach Hause zu gehen. Er fragte sie, ob ihr Kind gut zu Hause angekommen sei. Dadurch wurde sichergestellt, dass eine kontinuierliche Aufsicht existierte, die in der Schule begann und auf den Straßen und zu Hause fortgeführt wurde. Die Eltern, die sich oftmals isoliert und schwach fühlten, standen nun mit dem Gemeindepolizisten, den Freiwilligen des Präsenzteams und der Schule in Kontakt. Dadurch wurden die Voraussetzungen für eine Erneuerung der Autorität aller Beteiligten geschaffen. Der Status, den der Polizist unter den Schülern, den Eltern und dem Schulpersonal erhielt, ermöglichte ihm auch, auf Gruppenebene effizient eingreifen zu können. Der Polizist initiierte ein Gespräch mit den Schülern einer besonders schwierigen Klasse. Er bat darum, dass sie ihm von Gewaltvorfällen berichteten, ohne die Namen der besagten Schüler zu nennen. Er betonte, dass sein Ziel nicht sei, die Jugendlichen zu bestrafen, sondern dass er allen Schutz zusichern wolle. Die Schüler kamen seiner Bitte nach und der Gemeindepolizist berichtete dem Schulleiter und der Lehrerschaft über die Ergebnisse. Daraufhin wurde beschlossen, ein Treffen mit den Eltern der Klasse zu organisieren. Die Eltern hörten sich die Berichterstattung an, ihnen wurde die strafrechtliche Bedeutung der verschiedenen Vorfälle erläutert. Das Elterntreffen dehnte sich zu einem Seminar mit sieben Sitzungen aus. Während des Seminars
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
entwickelten die Eltern mit Hilfe des Polizisten und des Repräsentanten der Schule ein Programm zur gemeinsamen Beaufsichtigung ihrer Kinder. Die Eltern fühlten sich gestärkt, da sie sich als Teil einer Gruppe erlebten, gemeinsam über Maßnahmen entschieden und diese zusammen ausführten. Das verbesserte Bündnis mit der Schule verstärkte auch die Beteiligung der Eltern in anderen schulischen Aufgabenbereichen. Während eines abschließenden Treffens am Schuljahresende wurde die Klasse als diejenige mit den besten schulischen Leistungen und mit dem besten Verhalten ausgezeichnet.
Wir möchten betonen, dass die Veränderung von Handlungen im Sinne der traditionellen Autorität zu Handlungsweisen der neuen Autorität nicht glatt verläuft und oftmals neue Probleme entstehen können. Polizisten können »vergessen«, dass sie zuerst als Polizisten agieren müssen und erst dann die Funktion eines Gemeindepolizisten innehaben. Wir möchten schließlich nicht, dass ein Polizist, der einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt, als Erstes über Telefon das Unterstützernetzwerk anruft. Er muss sofort handeln, oftmals auch unter Machtanwendung, um Verbrechen und Verletzungen zu verhindern. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, wie ein Polizist, der als Vermittler fungiert, seine primäre Aufgabe vernachlässigen kann: »Sei zu allererst ein Polizist!« An einer Schule wurde die Mutter eines 10-jährigen Jungen eingeladen, ihren Sohn von der Schule abzuholen, da dieser einen anderen Schüler geschlagen hatte. Die Mutter kam entrüstet in die Schule und überschüttete die Schulleiterin mit einem Schwall von Beschimpfungen und Beleidigungen. Die Schulleiterin rief daraufhin die Polizei an. Der Polizist, der in die Schule kam, beschloss, die Schulleiterin, die Mutter und den Schüler zusammenzubringen, um einen Dialog in Gang zu setzen und eine Lösung zu finden. Er handelte gegen den Willen der Schulleiterin, die darum gebeten hatte, die Mutter vom Schulgelände zu verweisen. Als die Mutter sah, dass die Schulleiterin ihr den Zutritt zu ihrem Zimmer verwehrte, eskalierte ihr Verhalten noch mehr. Am Ende des Vorfalls fühlte sich die Schulleiterin erniedrigt und betrogen, während die Mutter und ihr Sohn aus unerwarteter Richtung darin bestätigt worden wa-
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Autorität und Gemeindeleben
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ren, dass ihre Reaktionen weder durch die Schule noch durch die Polizei einzudämmen waren. Die Schulleiterin wandte sich daraufhin an die Polizeidienststelle und bat darum, dem Polizisten ausrichten zu lassen, dass er in erster Linie als Polizist zum Schutz aller Beteiligten handeln müsse und erst dann als Gemeindepolizist fungieren könne.
Solche und andere Vorfälle verweisen auf mögliche Probleme, mit denen sich die Gemeindepolizei bei der Gestaltung ihrer Rolle befassen muss. Wir meinen, dass solch eine Veränderung nur dann gelingen kann, wenn der Gemeindepolizist diesen weiteren Aspekt als zusätzliches effizientes Mittel für seine Arbeit betrachtet, das ihm Wirkungsmöglichkeiten erschließt, in denen sich die konventionellen Mittel als unzureichend erwiesen haben. Die Rolle des Polizisten sollte jedoch dabei nicht an Status einbüßen und er sollte sich in seiner Sicherheit nicht bedroht fühlen. Der Ausdruck: »Sei zu allererst Polizist und erst dann Gemeindepolizist!« gibt eine Richtung bei der Lösung der möglichen Probleme vor. Ein Polizist, der nach diesem Grundsatz handelt, wird gute Erfahrungen als Gemeindepolizist sammeln können. In diesem Fall wird er gewahr werden, dass die Ergänzung zum Gemeindepolizisten seine Position stärkt und seinen Einfluss vergrößert.
Autorität und Gemeindeleben Autoritätsstrukturen früherer Zeiten hatten die Form einer Pyramide: Die führende Autoritätsperson stand an der Spitze und beherrschte die Ebene unter ihr, diese beherrschte wiederum die Ebene unter sich usw. Eine Autoritätsperson war allein für ihren Autoritätsbereich verantwortlich. Jeder Eingriff durch andere, gleichgestellte Autoritätspersonen – ganz zu schweigen von Untergebenen – wurde als problematisch und unvertretbar angesehen. Das Ziel der Autoritätsperson war, jeden Kontakt zwischen ihren Untergebenen und den Untergebenen benachbarter Pyramiden zu vermeiden. Der »Herrscher« war nur seinem direkten Vorgesetzten Rechenschaft schuldig. Die Beziehung zwischen den Untergebenen und der Autoritätsperson war von Abhängigkeit
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
und Gehorsam geprägt. Die einzige Möglichkeit, eine Veränderung herbeizuführen, bestand in einem Aufstand, der die Autoritätsperson von ihrem hohen Sockel stürzte. Die Struktur der neuen Autorität hat die Form eines Netzwerks. Die Autoritätsperson bezieht ihre Stärke und ihren Einfluss von allen Personen im Netzwerk, die ihr die Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe zur Verfügung stellen. Dieses Netzwerk ist besonders in außergewöhnlichen Situationen nötig, da dann meist ungewöhnliche Maßnahmen erforderlich sind. Eine zentrale Funktion besteht in der Informationsweitergabe und der gegenseitigen Unterstützung: Eltern stehen in kontinuierlichem Kontakt mit anderen Eltern, mit der Schule und anderen Funktionsträgern innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds. Dieses Netzwerk ermöglicht die Ausbreitung der Autorität ähnlich wie ein Hologramm: An jedem Knotenpunkt des Netzwerks kann die Autorität der anderen Knotenpunkte betrachtet und unterstützt werden. Und umgekehrt: Alle Knotenpunkte innerhalb des Netzwerks spiegeln die Autorität zurück auf den einzelnen Knotenpunkt. Dadurch stärkt jeder Repräsentant das Netzwerk, das Netzwerk wiederum stärkt jeden Repräsentanten. Die Ausdehnung der neuen Autorität durch das Unterstützernetz
Eine Möglichkeit zur Ausweitung des Handlungsspielraums der neuen Autorität innerhalb des Gemeinwesens besteht darin, dass Menschen aus der Gemeinde als Teilnehmer einer Helfergruppe fungieren. Eltern, die anderen Eltern Hilfe geleistet haben, erzählten oftmals, dass sie daraufhin selbst anfingen, ähnliche Bewältigungsstrategien anzuwenden, um mit dem problematischen Verhalten ihrer eigenen Kinder fertig zu werden. Ein Helfer erzählte: »Ich hatte das Gefühl: Wenn meine Freunde, die vollkommen verängstigt gewesen waren, dazu fähig sind, ein Sit-in durchzuführen, dann sind auch wir dazu fähig!« Nicht nur Eltern werden von anderen Eltern »angesteckt«, auch Lehrer von Eltern, Eltern von Lehrern und Gemeindemitglieder von anderen Gemeindemitgliedern. Die Tatsache, dass Lehrer und andere Funktionsträger oftmals auch selbst Eltern sind, ermöglicht sogar ein »sich selbst anstecken«.
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Autorität und Gemeindeleben
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Die Verbreitung der neuen Autorität durch die Öffentlichkeitsarbeit
Die neue Autorität beruft sich auf den gezielten Einsatz von Öffentlichkeit und Veröffentlichungen. Hierdurch werden die Auswirkungen und die Art der Maßnahmen der neuen Autorität der ganzen Gemeinde bekannt. Eltern, die die Berichterstattungen auf der Internetseite der Schule lesen, können z. B. Interesse daran äußern, eine Elterngruppe zur elterlichen Sorge und Aufsicht zu gründen. Die Veröffentlichung erhöht auch die Bereitschaft der Kinder, über Vorfälle Bericht zu erstatten und Hilfe zu suchen. Der öffentliche Auftritt der Lehrer im Kampf gegen Gewalt hat eine ähnliche Wirkung: Sie rekrutieren weitere Lehrer und Eltern und verstärken die Bereitschaft der Schüler, um Hilfe zu bitten. Die zentrale Rolle der Schule
Die Schule ist ein Ort, an dem sich natürlicherweise Eltern aus der ganzen Nachbarschaft zusammenfinden. Ereignisse wie die Eröffnung des Schuljahrs oder ein Elternsprechtag an der Schule enthalten ein enormes Potenzial, die Verbreitung der neuen Autorität zu fördern. Die Schule ist der optimale Ort für den Beginn von Gruppeninitiativen zur Wiederherstellung der elterlichen Autorität oder zur Förderung der gemeinschaftlichen Beaufsichtigung der Kinder. Die Schule kann darüber hinaus viel zur Verbreitung beitragen: Führende Schulpersonen bieten sich als Kandidat für Ämter innerhalb des Gemeinderats oder des Kultusministerium auf regionaler Ebene an. Hierdurch verbreitet sich die Sichtweise der neuen Autorität auch auf höheren Ebenen: Eine Person, die die Prinzipien im kleineren Forum der schulischen Gemeinschaft angewendet hat, wird besonders dafür geeignet sein, eine ähnliche Funktion in der Anleitung des weiteren gesellschaftlichen Umfelds zu übernehmen. Bewusstseinsstärkung
Die Organisation einer Gemeinde im Sinne der neuen Autorität bedarf der Verknüpfung zweier Faktoren: ein steigendes Bewusstsein von Dringlichkeit und ein reifendes Gefühl für die eigenen
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Die neue Autorität im Gemeinwesen
Handlungsmöglichkeiten. Die Einsicht, dass eine effektivere Autorität nötig ist, entsteht oftmals durch Ereignisse, die die Gemeinde erschüttern. Die meisten Kommunen, die sich an uns wandten, mussten schwere Vorfälle von Gewalt, Vandalismus oder andere extreme Probleme erleiden, bevor sie die Initiative ergriffen. Diese Ereignisse bleiben als fortwährende Mahnung, »wohin die Dinge führen können« im Gedächtnis. Manchmal wird nach solchen Ereignissen beschlossen, mit eiserner Hand zu reagieren, z. B. Anzeige bei der Polizei zu erstatten, die zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter führt. Diese Eingriffe können kurzzeitig Ruhe einkehren lassen. Solch ein impulsiver Hilferuf an das Gesetz kann jedoch innerhalb der Gemeinde Dispute verursachen und die Atmosphäre von Misstrauen und gegenseitigen Schuldzuweisungen verschärfen, besonders dann, wenn für die Maßnahmen vorher keine breite Unterstützung eingeholt wurde. Zusätzlich nehmen nach solch extremen Ereignissen die anfangs entstandene Wachsamkeit und das Abschreckungsvermögen schnell wieder ab. Daher sollten solch unruhige Zeiten innerhalb der Gemeinde als Gelegenheit genutzt werden, um das Konzept der neuen Autorität einzuführen und entsprechende Handlungsmodelle zu begründen. Es ist auch ohne dramatische Ereignisse möglich, das Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen. Zwei Wege haben sich hierfür als effizient erwiesen: Zum einen sollten problematische Vorfälle systematisch veröffentlicht werden. Zum anderen geht es darum, sie Bedürfnisse der Bevölkerung durch aktive Umfragen aufzudecken und zu ermutigen, diese Bedürfnisse zu äußern. Die systematische Veröffentlichung problematischer Vorfälle erhöht allmählich die Bereitschaft der Gemeindemitglieder zu handeln. Sobald der Schleier des Geheimnisses um die Vorfälle gelüftet wird und die Gewohnheit durchbrochen wird, die Angelegenheiten zu verheimlichen und zu vertuschen, entsteht eine willkommene Unruhe innerhalb der Gemeinde. Nicht selten werden der Ortsvorsitzende oder der Schulleiter unter Druck gesetzt, die Veröffentlichungen einzustellen, selbst wenn sie die Anonymität der Beteiligten berücksichtigen. Es ist eine regelrechte Prüfung für das Führungsvermögen des Vorsitzenden, diesem Druck standzuhalten. Eine Führungspersönlichkeit, die dazu bereit ist, den
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Bewohnern des Ortes zu erklären, dass die Veröffentlichung der Vorfälle notwendig ist, um eine weitere Verschlechterung der Lage zu vermeiden, wird meist eine breite Unterstützung für ihre Initiative einholen können. Der Ortsvorsitzende kann auch die Notlage und die Bedürfnisse der Bevölkerung verdeutlichen, indem er sich direkt an die Gruppe wendet, die unter der Situation leidet. Er kann z. B. eine Umfrage an den Schulen befürworten. Die Veröffent lichung der Ergebnisse einer solchen Umfrage stellt eine gute Gelegenheit dar, um die Lehrer und die Eltern zusammenzurufen und sie zum organisierten Kampf gegen Gewalt zu rekrutieren. Meist besteht gar keine Notwendigkeit einer formellen Umfrage. Eine informelle Ansprache, die dazu ermutigt, die eigene Not auszusprechen, reicht oft vollkommen aus. Hier ein Beispiel: Doris, Schulleiterin einer Grundschule, beobachtete, dass ihr 11-jähriger Sohn seit einigen Monaten die üblichen Vergnügungsorte und den Sportplatz im Ortszentrum nicht mehr besuchte. Sie befragte ihn eindringlich dazu, und er erzählte ihr, dass eine Gruppe von Jugendlichen den Sportplatz in Beschlag genommen habe und systematisch jedes Kind von dort vertreibe, das nicht der Gruppe angehöre. Diese Gruppe hatte mit ähnlichem Mobbing auch an anderen Vergnügungsorten Kinder vertrieben. Doris rief daraufhin einige Eltern an, deren Kinder mit Sicherheit nicht zu der Mobbinggruppe gehörten. Sie erzählte ihnen von ihrer Entdeckung und bat darum, dass auch sie ihre Kinder befragen sollten. Diese Umfrage ergab, dass viele Kinder schon längere Zeit unter schweren Belästigungen litten. Doris wandte sich daraufhin an das Kultusministerium auf Landesebene und an den Ortsvorsitzenden und bat beide, zu einer Elternversammlung der Schule zu kommen. Während dieses Treffens wurde eine breite Unterstützung eingeholt, um die Aktivitäten an den öffentlichen Aufenthaltsorten wie den Sportplätzen zu regeln, Maßnahmen zur Verstärkung der Erwachsenenpräsenz zu ergreifen und den Kindern, die unter den Mobbern litten, anonyme Wege zur Berichterstattung zu ermöglichen. Nach der Elternversammlung wurden Klassendiskussionen initiiert, in deren Verlauf weitere Vorfälle von Belästigungen bekannt wurden. Es wurden einige Telefonnummern und E-Mail-Adressen bekannt gegeben, die diejenigen Kindern anrufen konnten, die unter Drangsalierungen
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litten oder die während eines Vorfalls anwesend waren, bei dem ein anderes Kind schikaniert wurde. Die Eltern der involvierten aggressiven Kinder wurden zu einem Treffen mit Doris und mit zwei Vertretern des Kultusministeriums eingeladen. Die Teilnehmer des Treffens achteten darauf, den Eltern keine Vorwürfe zu machen, sondern sie in die Bemühungen einzubeziehen. Die Eltern willigten ein, unverzüglich den Ort des Geschehens aufzusuchen, sollten sie über einen Vorfall informiert werden. Die tatsächliche Zusammenarbeit war begrenzt, aber der öffentliche Charakter der Maßnahmen, die Ansprechpartner, die per Telefon oder E-Mail erreichbar waren, die Präsenz der Erwachsenen an den verschiedenen Aufenthaltsorten und die Veröffentlichung der Vorfälle und deren Handhabung verbannte den Einfluss der Mobber von den öffentlichen Bereichen des Ortes. Das Leitgremium und seine Aufgaben
Ähnlich wie an der Schule spielt das Leitgremium auch innerhalb der Gemeinde eine zentrale Rolle, um die neue Autorität zu implementieren. Das Gemeindeleitgremium sollte zwischen vier und zehn Mitgliedern zählen, unter ihnen der Ortsvorsitzende, Repräsentanten des Kultusministeriums auf Landesebene, der schulischen Einrichtungen und der Elternvertretung. Dieses Leitgremium ist dafür verantwortlich, ein Forum zu schaffen um: 1. Bitten und Hilfsgesuche anzunehmen; 2. Unterstützernetze aufzubauen; 3. Freiwillige zu rekrutieren und effektiv innerhalb des Gemeinwesens einzusetzen; 4. relevante Informationen zu erfassen und zu veröffentlichen; und 5. entsprechende Maßnahmen zur Aufsicht, Präsenz und Wiedergutmachung anzuleiten. Zusätzlich muss das Leitgremium dafür sorgen, dass die Prinzipien der neuen Autorität verbreitet werden und als gemeinsame Sprache eine Grundlage für die ganze Gemeinde bilden. Bitten und Hilfegesuche
Der Aufbau von praktikablen und annehmbaren Kommunikationskanälen und Kontaktmöglichkeiten ist einer der besten Wege, um rasch den Status des Leitgremiums als Autorität innerhalb der
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Gemeinde einzurichten. Die Telefonliste, E-Mail-Adressen und ein Dienstplan müssen für alle einsehbar sein. Jedes Gesuch muss beantwortet werden, entweder indem die Präsenz der Autoritätskörper unmittelbar angeboten wird oder indem später auf die Anfrage reagiert wird. Das Leitgremium trägt auch die Verantwortung dafür, die wesentlichen Gesuche und deren entsprechende Handhabung zu veröffentlichen. Das Erfassen und Veröffentlichen von Informationen
Das Leitgremium muss Sorge tragen, Informationen weiterzuleiten und das Aufsichtsnetzwerk auf verschiedene Weise zu verstärken: 1. Die Zielsetzungen des gemeinsamen Kampfes sollten öffentlich bekannt gemacht und spezifische Phänomene benannt werden, die im Zentrum der Anstrengungen stehen; 2. Es sollten klare Regelungen festgelegt werden, wem Bericht erstattet werden muss und wer für die Behandlung unterschiedlicher Fälle zuständig ist; 3. Die Kontakte mit den entsprechenden pädagogischen und therapeutischen Einrichtungen sollten regelmäßig gepflegt werden; 4. Die Eltern und, falls notwendig, andere Familienmitglieder der involvierten Kinder sollten in den Kampf gegen Gewalt miteinbezogen werden; 5. Die Vorfälle und deren Handhabung sollten berichtet und veröffentlicht werden; und 6. Maßnahmen zur Verstärkung der Präsenz und der Aufsicht innerhalb der Gemeinde sollten initiiert und organisiert werden. Das Leitgremium in einem bestimmten Ort legte vier wesentliche Wirkungsbereiche für ihren Kampf fest: Vandalismus, Gewaltanwendung, fahrlässiges Autofahren und nächtliche Ruhestörungen. In einem Schreiben, das während einer Elternversammlung in der Schule verteilt und besprochen worden war, wurden Kriterien festgelegt, mit welchem Schweregrad ein Vorfall eingestuft werden sollte, welche Regelungen zur Berichterstattung in verschiedenen Situationen gelten sollten und welche Maßnahmen zu verfolgen war. Der Schweregrad (leicht, mittel, hoch) wurde von der Art der Verletzung, von der Häufigkeit solchen Verhaltens bei besagtem Jugendlichen und von der Zusammenarbeit von Seiten der Eltern abhängig gemacht. Der Dienstplan, die Telefonnummern und die E-Mail-
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Adressen wurden allgemein bekannt gegeben. Bei einem Vorfall sollte der Diensthabende drei Adressaten informieren: die Eltern des Jugendlichen, die verantwortlichen schulischen Kräfte und das Leitgremium. Das Leitgremium seinerseits würde dann einen Plan über weitere Maßnahmen erstellen. Sollte durch die Handhabung eines als leicht eingestuften Vorfalls (unter Einbeziehung des Jugendlichen, seiner Eltern und der schulischen Instanzen) keine Verbesserung erreicht werden, würde man zu Maßnahmen des höheren Schweregrads übergehen, die u. a. einen formellen Brief an die Eltern und die Involvierung weiterer Funktionsträger beinhalten würden (z. B. das Amt für Jugendgerichtsbarkeit oder den Gemeindepolizisten). Jeder Vorfall mittleren oder hohen Schweregrads wurde in der örtlichen Zeitung veröffentlicht. Das Leitgremium stand in regelmäßigem Kontakt mit der Gemeindepolizei, mit dem Sozialamt und mit dem schulpsychologischen Dienst. Während problematischer Zeiten (an Wochenenden, an Feiertagen und in den Ferien) sorgte das Leitgremium außerdem für eine verstärkte Erwachsenenpräsenz an den beliebten Vergnügungsorten der Jugendlichen. Wiedergutmachungen
Das Leitgremium eignet sich gut dafür, Wiedergutmachungen zu initiieren. Es kann dem Jugendlichen und den Eltern deutlich machen, dass die Entscheidung, ob die Behandlung in die Hände des Gesetzes weitergeleitet wird oder ob eine Chance besteht, die Strafakte zu löschen, wesentlich von der Bereitschaft des Jugendlichen abhängt, bei Maßnahmen zur Wiedergutmachung seiner Tat zu kooperieren. »Wir haben ein Auto gefunden!« Ein Auto, das im Stadtgebiet geparkt worden war, wurde morgens etliche Meter weiter die Straße herunter mit zertrümmerter Windschutzscheibe aufgefunden. Eine Mutter hörte von ihrer Tochter, dass ihr Sohn, der Bruder der Jugendlichen, in die Angelegenheit verwickelt war. Die Mutter stand in gutem Kontakt mit dem Oberschulratsvorsitzenden des Ortes und beschloss, den Schulrat um Hilfe zu bitten. Während eines eindringlichen Gesprächs mit ihrem 12-jährigen Sohn Uwe stellte sich heraus, dass er und zwei seiner
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Freunde gedacht hatten, das Auto sei besitzerlos, sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, »kleinere Steine« auf die Windschutzscheibe zu werfen. Als zu ihrer Überraschung die Windschutzscheibe zersprang, setzte sich einer der Jungen in das Auto und ließ es die Straße hinabrollen, bis die anderen Jungen ihn davon abbrachten, weil er mit dem Auto im Straßengraben enden könnte. Das Leitgremium lud die Kinder und ihre Eltern zu einem Gespräch ein, um zu sehen, ob sie zu einer Wiedergutmachungstat bereit seien. Die Sitzung verlief turbulent: Eines der Kinder leugnete, an dem Vorfall beteiligt gewesen zu sein, und behauptete, nur zugeschaut zu haben. Seine Mutter unterstützte ihn hierin energisch. Sie behauptete, dass ihr Sohn ungerecht beschuldigt werde. Trotzdem wurde eine Übereinkunft getroffen, die Folgendes festhielt: Die Kosten für den Schaden, der am Auto entstanden war, sollten durch die Eltern gedeckt werden, die Kinder erklärten sich bereit, für drei Tage dem Autobesitzer bei Streich- und Gartenarbeiten zu helfen. Der Junge, der seine Beteiligung am Vorfall geleugnet hatte, willigte ein, sich an der Wiedergutmachungstat zu beteiligen, um »seinen Freunden zu helfen«. Die Mutter stimmte unter einigem Druck zu, sich an der Bezahlung zu beteiligen, hielt aber ihr Wort nicht. Nach Abschluss der Angelegenheit hegten die Beteiligten Groll gegen die Mutter, die sich nicht an der Bezahlung beteiligt hatte, und zu einem gewissen Grad auch gegen ihren Sohn, der zwar an der Wiedergutmachung mitgewirkt, nicht aber seine Schuld zugegeben hatte. Dem Leitgremium wurde deswegen nach einer Überprüfung der Maßnahmen vorgeschlagen, einen Brief an die drei beteiligten Kinder und ihre Eltern mit folgendem Inhalt zu senden: »Wir möchten Euch dafür auszeichnen, Uwe, Sebastian und Tom, dass Ihr Euch bereit erklärt habt, konstruktiv an der Wiedergutmachung des Schadens mitzuwirken, den die Familie D. erlitten hat. Wir sehen hiermit die Angelegenheit als abgeschlossen an und haben keine weiteren Forderungen an Euch. Eure Wiedergutmachungstat hat die Kluft, die sich durch den angerichteten Schaden zwischen Euch und der Gemeinde aufgetan hatte, überbrückt, und wir betrachten Euch in jeder Hinsicht als Kinder unserer Gemeinde. Ihr habt Euch alle gleichermaßen an der Wiedergutmachung beteiligt, selbst wenn Tom aus unserer Sicht nicht die volle Verantwor-
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tung für sein Tun übernommen hat. Unserer Meinung nach hat auch er durch seine Teilnahme an der Wiedergutmachung den Schandfleck beseitigt. Wir möchten auch denjenigen Eurer Eltern danken, die mit uns zusammengearbeitet haben und dazu bereit waren, sich an der Bezahlung des Schadens zu beteiligen.« Die Einführung eines einheitlichen Sprachgebrauchs
Das Leitgremium leitet alle Mitwirkenden in der Auseinandersetzung mit den negativen Phänomenen innerhalb des Gemeinwesens an und ist für die Koordination und Abstimmung von Maßnahmen zuständig. Die große Anzahl an Mitwirkenden, die unterschiedlichen Interessen und Aufgabenbereiche, die alle berücksichtigt werden müssen, erschweren es oftmals, einen tatkräftigen Gemeinschaftsgeist kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Unter diesen Umständen können die Anstrengungen in eine Sisyphusarbeit ausarten, da die anfängliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit und das Zusammengehörigkeitsgefühl allmählich abebben. Die Lage ist eine andere, wenn das Leitgremium bei allen Mitarbeitern einen einheitlichen Sprachgebrauch einführen kann. Der einheitliche Sprachgebrauch verhindert den Verschleiß, der bei der Informationsübergabe innerhalb einer langen Kommunikationskette schnell auftritt. Worte wie »neue Autorität«, »Aufsicht« und »Präsenz« sind gute Kandidaten, um die Kommunikation zu erleichtern. Zwei Merkmale lassen das Konzept der neuen Autorität für besonders geeignet erscheinen: Es bewirkt bei den meisten Autoritätspersonen eine positive Reaktion, dass sie solch eine Art der Autorität brauchen, bejahen und als praktikabel ansehen. Zum anderen verbreitet es sich auf verschiedenen Ebenen, da sich alle Mitwirkenden (Eltern, Lehrer u. a.) gegenseitig stärken. Hindernisse bei der Einführung der neuen Autorität in das Gemeinwesen
Jede Initiative einer gemeinsamen Aufsicht ruft bei einigen Bürgern Protest hervor, der seinen Ursprung im »Privatsphären-Reflex« hat. Dieser Protest kommt allzu deutlich in der Frage zum Ausdruck »Wer hat euch hierfür autorisiert?« oder aber »Wer hat
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mich dafür autorisiert?« Die erste Frage drückt den Protest darüber aus, dass Gemeindemitglieder sich das Recht herausnehmen, über die Kinder anderer Leute zu bestimmen. Die zweite Frage ist Ausdruck dessen, dass die Erziehungsperson oder der Funktionsträger innerhalb des Gemeinwesens Zweifel daran hegt, ob er oder sie legitimiert ist, über seine oder andere Kinder zu bestimmen. Einige Eltern werden also nur voller Skepsis an Initiativen mitwirken, wie z. B. der Elternpatrouille, der Veröffentlichung problematischer Vorfälle oder dem Versuch einer Wiedergutmachung. Sie könnten diese unterschiedlichen Maßnahmen als Eingriff in ihre Privatsphäre oder als unannehmbare Autoritätsausübung ihren Kindern gegenüber betrachten. Ähnlich werden andere Funktionsträger das Gefühl haben, dass die an sie gestellte Forderung, sich aktiv an dem Aufsichtsprogramm der Jugendlichen zu beteiligen, von ihrem eigentlichen Aufgabenbereich stark abweicht. Um eine Antwort auf diese Bedenken zu finden, ist es notwendig, den Begriff der Autorisierung zu klären, der eine der Grundlagen der neuen Autorität darstellt. Wir haben gesehen, dass – anders als bei der Autorität früherer Zeiten – ein Repräsentant der neuen Autorität seine Autorität nicht als selbstverständlich betrachtet oder die Autorität automatisch seiner Aufgabe entspringt (vgl. Kap. I). Dies ist besonders dann der Fall, wenn Normen gelten, die in gewissen Lebensbereichen keine Einmischung dulden. Diese schwierige Lage kann sich innerhalb der Familie entwickeln, aber auch an der Schule oder im Gemeinwesen der Stadt. Innerhalb der Familie hat sich in solchen Fällen das Kind daran gewöhnt, dass es nicht dazu befragt wird, wo, mit wem und bis wann es sich außerhalb des Hauses aufhält. Innerhalb der Schule kommt dies z. B. zum Ausdruck, wenn es für die Kinder normal ist, dass die Lehrer kein Recht besitzen, in Rangeleien auf dem Schulhof oder während der Busfahrten einzugreifen. Im Gemeinwesen kann man beobachten, dass die Jugendlichen gewohnt sind, dass zu nächtlicher Stunde die Aufenthaltsorte in der Stadt ihnen allein gehören. Um mit diesen Situationen fertig zu werden und die Beantwortung der Fragen »Wer hat hierfür die Befugnis erteilt?« oder »Wer hat mir die Befugnis dazu erteilt?« voranzutreiben, muss die Autoritätsperson für ihre Initiativen Unterstützung einholen. Eine Autoritätsperson, die es schafft, ein breites
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Unterstützernetz zu rekrutieren, wird aus dem Gefühl heraus handeln können, dass sie für die Aufgabe befugt wurde. Sie fühlt sich dann dazu verpflichtet, ihre Autorität in die bestehenden Graubereiche auszudehnen. Auch die Gemeindemitglieder werden nun anders reagieren: Die Mehrheit, die vorher am Rande der Geschehnisse gestanden hat, wird nun bereit sein, sich gegenseitig zu unterstützen. Die zuvor protestierende Minderheit wird dadurch Entscheidungen zu bestimmten Maßnahmen leichter akzeptieren können. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die anfängliche Haltung, dass manche Eltern eine Entscheidung nur passiv oder mit Missmut hinnehmen, sich relativ schnell in eine positive Haltung ändern kann. Viele Eltern verwandeln sich bald nach Beginn des Programms und mit dem steigenden Gefühl der Sicherheit aller, einschließlich der Kinder, in Befürworter der Ideen der neuen Autorität. Die Autorisierung auf Gemeindeebene wird von den entsprechenden Entwicklungen innerhalb der Schule und den Familien gefördert. Die Rekrutierung der Eltern und der Lehrer innerhalb der Schule ist ein Sprungbrett für ähnliche Initiativen innerhalb des Gemeinwesens. Autorität wird dadurch in einem Bottom-upProzess, der von unten nach oben vonstatten geht, gewonnen. Der Lehrkörper und die Elternschaft, die an dem Aufbau der neuen Autorität in der Schule beteiligt waren, werden den Gemeindevorsitzenden dabei unterstützen können und ihn eventuell sogar dazu auffordern, ähnliche Maßnahmen auf Gemeindeebene zu ergreifen. Der Gemeindevorsitzende spielt nicht nur eine passive Rolle bei der Förderung der Unterstützung und Hilfe, er ergreift auch klare Initiativen. Hierfür stehen ihm Möglichkeiten zur Veröffentlichung von Mitteilungen, öffentliche Einrichtungen, Kontakte mit außergemeindlichen Funktionsträgern, der Zugang zu besonderen Geldern und verschiedene organisatorische Mittel zur Verfügung. Der durchdachte Einsatz dieser Hilfsquellen kann eine positive öffentliche Meinung erzeugen, die eine breite Basis für freiwillige Helfer bietet. Diese Unterstützung kann wiederum den existierenden Protest überwinden und selbst ablehnende Eltern in die beabsichtigte Richtung mitziehen. Die weit verbreitete Neigung, die Eltern der auffälligen Kinder für alles verantwortlich zu machen, kann es den Führungskräf-
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ten erschweren, zum Besten aller zu handeln: »Die Kinder spiegeln nur das wider, was sie zu Hause vorgelebt bekommen!«, »Die haben das Problem erzeugt und erwarten nun, dass wir es lösen!« Beschuldigungen verhärten die Fronten. Manchmal tut sich ein Abgrund zwischen den verschiedenen Parteien auf: Auf der einen Seite stehen die polemisierenden Ämter des Gemeinwesens und der schulischen Einrichtungen, auf der anderen Seite die »widerspenstigen Eltern«, die bemüht sind, den in ihren Augen groben Eingriff in ihre Privatangelegenheiten abzuwenden. Diese Konfrontationen innerhalb der Gemeinde entsprechen den Konfrontationen zwischen Eltern und Lehrern in der Schule. Ähnlich wie in der Schule, kann ein negativer Dominoeffekt entstehen, der die Autorität der Erwachsenen innerhalb der ganzen Gemeinde untergräbt. Um diese Spannungen zu lösen, ist es notwendig, dass die Gemeindefunktionäre sich um ehrliche Zusammenarbeit mit den Eltern bemühen. Die Annahme, dass Eltern jede Anfrage zurückweisen würden, hat sich in der Realität nicht bestätigt. Wir müssen uns daran erinnern, dass die elterliche Haltung Ergebnis ihrer Hilflosigkeit, Isolation und Ängste ist. Bittere Erfahrungen haben diese Eltern pessimistisch und misstrauisch werden lassen. Sie haben oft am eigenen Leib erfahren, dass Eingriffe von außen weiteres Unheil mit sich bringen. In dieser Lage konzentriert sich ihr einziger Wunsch darauf, eine weitere Erschütterung zu vermeiden und Ruhe zu haben. Aber selbst diese hilflosen Eltern können positiv darauf reagieren, wenn sie mit Respekt behandelt werden und wenn ein ernsthafter Versuch gemacht wird, eine gemeinschaftliche Lösung zu finden. Die anschuldigende Haltung muss dabei überwunden werden. Die Forschung zur systemischen Behandlung auffälliger Jugendlicher liefert einen eindeutigen Beweis für die Möglichkeit, auch protestierende Eltern oder Eltern, die alle Hoffnung verloren haben, zur Zusammenarbeit zu motivieren, ihnen die Prinzipien von Aufsicht und Präsenz beizubringen und dadurch die Zukunft ihrer Kinder deutlich zu verbessern (Borduin et al., 1995; Schaeffer und Borduin, 2005; Borduin, 2009). Auch unter den schwer zu überzeugenden Gemeindemitgliedern wird es positive Stimmen geben. Daran sollte man sich er-
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innern, wenn man Teile dieser Gruppe rekrutieren möchte. In jeder Elterngruppe werden manche weniger und manche besser ansprechbar sein. Anstatt davon auszugehen, dass die Gruppe in ihrer feindseligen Haltung eine Einheit bildet, und über sie als ein ganzes negatives Kollektiv zu sprechen, sollte jeder Einzelne persönlich angesprochen werden und sollten Maßnahmen ergriffen werden, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Hierdurch wird die Zugehörigkeit zu einer negativen Kerngruppe aufgelöst. Ein Teil der Eltern kann dann leichter von den angestrebten Maßnahmen überzeugt werden. Diese Änderungen sollten es ermöglichen, selbst mit dem Kern der schwierigsten Elterngruppe eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu erreichen. Auch bei ihnen kann man davon ausgehen, dass sie positive elterliche Absichten hegen. Oft ist ihr größter Wunsch, als ehrbare Eltern mit gutem Willen anerkannt und respektiert zu werden. Eine Anfrage, die ihnen die Gelegenheit gibt, ihre elterlichen Wünsche zu verwirklichen, wird nicht auf taube Ohren stoßen. Solange die schulischen Repräsentanten an ihrer vorwurfsvollen Haltung festhalten, neigen sie dazu, den Eltern der problematischen Kinder negative Attribute beizulegen: Die Eltern versuchten, jede Mitteilung abzulehnen, die ihre Ruhe stören könnte. Diese Lehrer haben oft die bittere Erfahrung gemacht, dass jede Anfrage an diese Eltern nur eine grobe und ablehnende Reaktion ausgelöst hat: »Das ist Ihr Problem!« Diese Reaktion stärkt wiederum die schlechte Meinung über die Eltern. Es herrscht die Überzeugung, dass die Eltern alle Verantwortung auf andere abschieben wollen. Wir können diese Art der Reaktion jedoch auch anders verstehen, wenn wir uns daran erinnern, dass die Mitteilungen der Lehrer ebenfalls oft von beschuldigenden Andeutungen begleitet werden. Wenn die Lehrerin sich entscheidet, ihr Anliegen entgegenkommender zu formulieren, um das zerrüttete Bündnis mit den Eltern zu erneuern, kann sie z. B. sagen: »Wir möchten mit Ihnen in Kontakt treten und Sie laufend informieren. Wir beabsichtigen nicht, die Verantwortung für das Verhalten Ihres Kindes auf Sie abzuwälzen. Stattdessen möchten wir eine gemeinsame Lösung finden.« Eine Anfrage dieser Art kann das Misstrauen mildern und die Eltern aus ihrer Isolation befreien. Danach kann eine bescheidene Bitte ausgesprochen werden: »Wenn Sie
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Ihrem Kind sagen: ›Wir wissen, dass du gestern in Gesellschaft deiner Freunde das und das getan hast‹, verbessert sich Ihr Status als Eltern. Das Kind versteht dann, dass Sie nicht allein sind, sondern dass Sie mit uns in Verbindung stehen.« Eine positive Reaktion auf diese bescheidene Bitte kann dann den Weg für weitere gemeinsame Maßnahmen ebnen. Langsam, aber sicher wird dadurch ein gemeinsames Programm zur Verbesserung der Aufsicht erstellt. Ein weiterer Weg, um die Eltern der problematischen Kinder zu rekrutieren, besteht darin, ihnen konstruktive Alternativen zu einem strafrechtlichen Verfahren anzubieten. Ganz besonders in kleineren Ortschaften wird jede Strafanzeige, die die Gemeinde bei der Polizei erstattet, von den Eltern als Verrat an ihnen und ihren Kindern empfunden. Die Situation ist eine andere, wenn den Eltern und dem Jugendlichen vorgeschlagen wird, eine Wiedergutmachung als Alternative zur Eröffnung eines strafrechtlichen Verfahrens zu erwägen. Selbst Eltern, die normalerweise jeder Anfrage misstrauisch begegnen, werden eher zu einer Zusammenarbeit bereit sein, wenn hervorgehoben wird, dass hierdurch ein Strafverfahren vermieden werden kann. Oft kann selbst dann noch eine Zusammenarbeit erwirkt werden, wenn die Polizei schon involviert wurde. Wiedergutmachung als Versüßung der Bestrafung Nachdem in das Gemeindezentrum eingebrochen und die darin befindliche Einrichtung zerstört worden war, berief der Gemeindevorsitzende eine Notversammlung ein. In der Einladung stand, dass während der Versammlung eine Entscheidung gefällt werden würde, ob man die Polizei einbeziehen solle oder ob innerhalb der Gemeinde entschiedenere Maßnahmen ergriffen werden sollten. Während der Versammlung wurde die Benachrichtigung der Polizei allgemein befürwortet. Die Verdächtigten waren dem Vorsitzenden bekannt, und es war nicht schwer, den Gemeindepolizisten zu beauftragen, sie ausfindig zu machen. Es wurden vier Jugendliche festgenommen und es wurde ein Strafverfahren gegen sie eröffnet. Der Gemeindevorsitzende stand in engem Kontakt mit dem Gemeindepolizisten, der die Befragungen durchgeführt hatte, und erhielt dessen Zusage, das Verfahren einzustellen, sollten sich die Jugendlichen zu einer Zusammenarbeit bereit erklären. Die Bedingungen
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dazu lauteten: eine Wiedergutmachung zu leisten und bis zu ihrer Einberufung in die Armee (die Jugendlichen waren 16 und 17 Jahre alt) an keinen weiteren gewalttätigen Vorfällen teilzunehmen. Anfangs waren die Eltern der Jugendlichen sehr verärgert über das eröffnete Strafverfahren. Als sie aber den guten Willen des Gemeindevorsitzenden sahen, der sich um die Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens bemühte, waren auch sie zu einer Zusammenarbeit bereit. Die vier Jugendlichen erklärten sich mit den Bedingungen einverstanden und engagierten sich für eine Wiedergutmachungstat: Streich- und Reinigungsarbeiten im Gemeindezentrum und eine Woche Mitarbeit bei der Gestaltung der Ortschaft im Auftrag der Stadtverwaltung. Streitereien Das Direktorat eines Kibbuz beschloss gemeinsam mit dem Schulrat, die Präsenz der Erwachsenen an den Vergnügungsorten der Jugendlichen zu verstärken und eine bestimmte Gruppe Jugendlicher intensiv zu beaufsichtigen, die in eine Reihe von problematischen Vorfällen verwickelt gewesen war. Diesen Maßnahmen war eine systematische Rekrutierung der Eltern für das Interventionsprogramm vorangegangen. Der Vorsitzende des Schulrates und der Coach, der sich auf die Einführung der neuen Autorität innerhalb des Gemeinwesens spezialisiert hatte, beschlossen, sich einzeln mit den Eltern zu treffen. Dieser Beschluss entstammte dem Eindruck, dass die sozialen Beziehungen innerhalb des Kibbuz so erschüttert waren, dass jedes größere Gruppentreffen nur in einer hitztigen Debatte enden würde. Die Treffen mit den Eltern hatten das Ziel, eine breite Unterstützung für das Aufsichtsprogramm einzuholen und einige Eltern zu finden, die bereit wären, eine aktivere Rolle zu übernehmen. Diese Vorbereitungen lohnten sich: Das Programm wurde bei einer Generalversammlung mit großer Mehrheit genehmigt. Zusätzlich erklärten sich viele Eltern bereit, bei der Verwirklichung des Programms mitzuwirken und sich für unterschiedliche erzieherische Maßnahmen zu engagieren. Zur Überraschung vieler verliefen die Sommerferien das erste Mal seit vielen Jahren ruhig. Außerdem wurden verschiedene Kinder, die zuvor nicht integriert werden konnten, wieder in die schulischen Einrichtungen eingegliedert. Ein besonders wichtiger Erfolg war die Wiederbelebung des
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Jugendzentrums, das wieder zu einem belebten Treffpunkt wurde. Nach einem Jahr machte sich jedoch eine Krise bemerkbar, die das ganze Projekt in Frage stellte. Die Kluft hatte sich nach folgendem Vorfall aufgetan: Ein Jugendlicher der »problematischen Jugendgruppe« randalierte im Jugendzentrum, woraufhin der verantwortliche Jugendleiter die Mutter anrief und sie darum bat, ihren Sohn abzuholen. Die Mutter ließ sich jedoch geraume Zeit, worauf der Leiter die Geduld verlor und den Jugendlichen des Jugendzentrums verwies. Der Jugendliche war in seiner Clique beliebt. Er fühlte sich gedemütigt, kam nicht mehr in das Jugendzentrum und zog einige seiner Freunde mit sich. Einige Eltern waren mit der Handhabung der Angelegenheit durch die Leitung des Jugendzentrums unzufrieden, die sich ihrer Meinung nach der Verantwortung für die Jugendlichen entzogen hatte. Aus Protest stellten sie die Zahlung des Monatsbeitrags zur Finanzierung des Jugendzentrums ein. Die Jugendgruppe fing an, im Kibbuz umherzustreunen und einen Ort zu suchen, an dem sie sich absondern und ungestört aufhalten konnten. Einer der Eltern war für einige unbenutzte Gebäude zuständig, in denen früher eine Fabrik untergebracht war. Er erlaubte den Jugendlichen, eines der Gebäude zu benutzen. Er behauptete, dass er so wenigstens wisse, wo sich sein Sohn und dessen Freunde aufhielten. Die Lage könne sich doch nur verschlimmern, würde man die Jugendlichen umherstreunen lassen. Die anderen Kinder wandten sich an ihre Eltern, diese wandten sich an den Kibbuzvorsitzenden und baten um Erlaubnis, dass die Jugendlichen den Ort nutzen könnten, die sich nicht im Jugendzentrum zurechtfänden. Die Jugendlichen zeigten guten Willen und Kreativität in der Gestaltung des Aufenthaltsorts. Dies stärkte die Eltern darin, die Bitte ihrer Kinder zu unterstützen. Die Erzieher des Kibbuz dagegen hofften, dass der Kibbuzvorsitzende sein Veto zu dieser »Beschlagnahmung« des Gebäudes einlegen würde, das sich ohne Absprache in einen Aufenthaltsort für die Jugendlichen verwandelt hatte. Aber der Vorsitzende, der ein angenehmer Mensch war und Konfrontationen zu vermeiden suchte, enttäuschte die Erzieher und »rief die Eltern nicht zur Ordnung«. In der Vollversammlung wurde beschlossen, den Jugendlichen die Benutzung für eine begrenzte Zeit zu ermöglichen, bis ein Weg gefunden würde, wie sie wieder in die Jugendarbeit des Kibbuz integriert werden könnten.
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Die Erzieher, die sich aktiv an dem Programm zur Wiederherstellung der Erwachsenenpräsenz innerhalb des Kibbuz eingesetzt hatten und sich der positiven Ergebnisse bewusst waren, sahen dies mit großer Sorge. Sie fanden, dass die Genehmigung des Aufenthaltsorts sowohl die streunenden Jugendlichen als auch die Aktivitäten des Jugendzentrums bedrohte. Repräsentanten des Schulrates suchten den Aufenthaltsort der Jugendlichen während der Morgenstunden auf und fanden dort eine Wasserpfeife und erste Anzeichen von Vandalismus in den benachbarten Gebäuden. Die Ruhephase, die entstanden war, solange die Jugendlichen den neuen Aufenthaltsort instand setzten und verschönerten, schien ein Ende zu haben und weiterer Vandalismus war absehbar. Die Erzieher fürchteten, dass die Fortsetzung der Gruppentreffen ohne Aufsicht bald eine Verschlechterung ihres Verhaltens mit sich bringen würde. Zusätzlich sahen sie mit Sorge, wie der Aufenthaltsort auch bei anderen Kindern an Popularität gewann, die zuvor noch das Jugendzentrum besucht hatten. Einige von ihnen stellten sogar Überlegungen über einen eigenen Aufenthaltsort an. Allmählich bildeten sich zwei Lager, die sich gegenseitig beschuldigten, für das Scheitern des Jugendzentrums und für die Entstehung des neuen Problems verantwortlich zu sein. Dem einen Lager gehörten die Eltern der Kinder an, die den neuen Aufenthaltsort eingerichtet hatten. Sie beschuldigten die Erzieher, dass sie das Jugendzentrum nicht attraktiv genug gestaltet hätten und dass sie durch ihr autoritäres Verhalten die Jugendlichen dazu bewegt hätten, das Jugendzentrum zu verlassen. Das andere Lager bestand vor allem aus Erziehern, die ihrerseits die Eltern verantwortlich machten für das problematische Verhalten ihrer Kinder. Sie beschuldigten die Eltern außerdem, den Kindern unter allen Umständen Schutz zu gewähren und eine Norm gutzuheißen, in der unabänderliche Tatsachen geschaffen wurden. Die beiden entgegengesetzten Lager drohten zu einem Status quo zu werden. Die Erzieher wollten die problematische Jugendgruppe loswerden. Die Eltern ihrerseits sahen in dem neuen Aufenthaltsort das kleinere Übel. Alle gewahrten währenddessen die Verschlechterung des Verhaltens der Jugendlichen und hofften insgeheim, dass sich ihre Befürchtungen einer weiteren Verschlechterung nicht bewahrheiten würden.
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Die Initiative zur Lösung dieser Krise wurde vom Schulratsvorsitzenden und dem Coach ergriffen. Sie hatten im vorangegangenen Jahr auch eine Lösung für die Probleme dieser Jugendgruppe gefunden. Bei einem Treffen, an dem der Coach, Mitglieder des Schulrates und der eine Autor dieses Buches teilnahmen, wurde allzu deutlich, dass die Kluft zwischen den Lagern überbrückt werden musste, z. B. durch positive Anfragen von Seiten der Erzieher an die Eltern der Jugendlichen. Anfangs schien diese Möglichkeit versperrt. Einige der Mitglieder des Schulrats behandelten die Eltern hart und unnachgiebig, und als die Idee der gemeinsamen Beaufsichtigung aufkam, riefen sie empört aus: »Die wollen das wir ihre Kinder beaufsichtigen!« Diese vergiftete Atmosphäre änderte sich, als die Frage aufkam: »Was ist eigentlich der verborgene Wunsch dieser Eltern?« Eines der Schulratsmitglieder sagte daraufhin: »Sie möchten eine Bestätigung erhalten dafür, dass sie gute Eltern sind und dass ihre Kinder nicht abgestempelt werden!« Diese empathische Aussage ermöglichte die ersten Schritte zur Überwindung der Krise: Informationssammlung und Dokumentation Es wurde beschlossen, dem Aufenthaltsort der Jugendlichen und dessen Umgebung einige Besuche abzustatten, um die sich verschlechternde Situation zu dokumentieren. Ziel dieser Dokumentation war, die Eltern und das Direktorat davon zu überzeugen, dass sie gemeinsam eine intensivere Beaufsichtigung der Aktivitäten der Jugendlichen verfolgen sollten. Die vereinzelte Rekrutierung der Eltern der Jugendlichen Es wurde beschlossen, sich persönlich und respektvoll an die Eltern zu wenden, um ein gemeinsames Aufsichtsprogramm vorzuschlagen, mit dem die Aktivitäten der Jugendlichen verfolgt werden könnten. Es wurde beschlossen, dass eine Person den Kontakt mit den Eltern initiieren sollte, die einen guten Draht zu ihnen hatte, um Vorurteile und unüberbrückbare Meinungsunterschiede zu vermeiden. Diese Person sollte den Eltern die Unterstützung des Kibbuz anbieten und von den Aktivitäten der Jugendlichen erzählen. Vorbeugende Maßnahmen sollten ergriffen werden, anstatt passiv auf vorhersehbare Ereignisse zu warten. Es wurde betont, dass die Eltern
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als Personen betrachtet werden müssten, die positive und legitime elterliche Hoffnungen hegten. Rekrutierung des Kibbuzvorsitzenden Die Erzieher waren über die Entscheidung des Vorsitzenden enttäuscht gewesen, die vorliegende Situation so zu belassen. Sie fanden den Vorsitzenden zu nachgiebig. Da dieser bei den meisten Eltern sehr anerkannt war, beschloss der Schulrat, ihn erneut anzusprechen, ihm die besorgniserregenden Dokumentationen zu den Aktivitäten der Jugendlichen vorzulegen, um seine Hilfe zu bitten und so die Kluft zu den Eltern zu überbrücken. Die »Institutionalisierung« des neuen Aufenthaltsorts Die neue Zielsetzung war nun nicht, den Aufenthaltsort zu verbieten und die Eltern und Jugendlichen zur Ordnung zu rufen. Stattdessen bestand das Ziel darin, ein Bündnis zwischen den Eltern und den Schulinstanzen zu errichten, um den Aufenthaltsort der Jugendlichen zu »institutionalisieren« und unter eine gemeinsame Aufsicht zu stellen. Hiermit würde das Ausmaß der Gefahr verringert und die Basis für einen neuen Lösungsweg gelegt werden, die in ihrem Wesen den erprobten Lösungen des letzten Jahres sehr ähnlich war. Eine Anerkennung des Aufenthaltsorts, der dann unter der Aufsicht der Erwachsenen stände, würde außerdem seine Attraktivität für die Kinder des Jugendzentrums verringern, da seine wesentliche Anziehungskraft darauf beruhte, dass es außerhalb jeglicher Aufsicht lag. Diese Maßnahmen entspannten sehr bald die Konfliktsituation. In Folge der persönlichen Treffen erklärten sich die Eltern bereit, die Jugendlichen an ihrem neuen Aufenthaltsort zu besuchen. Später folgten dann einige Besuche der Jugendleiter, der Erzieher und zuallerletzt auch des Kibbuzvorsitzenden. Sie setzten sich zu den Jugendlichen, tranken mit ihnen Kaffee und besprachen mit ihnen ihre Bedürfnisse. Zur Überraschung aller waren es gerade die Jugendlichen, die eine sehr vielversprechende Idee vorbrachten: Sie baten darum, das Jugendzentrum der ältern Oberstufenschüler (11. und 12. Klasse) von den jüngeren Kindern zu trennen. Diese Bitte zeigte, dass sie bereit waren, sich mit den anderen Gleichaltrigen zusam-
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menzutun, dass sie sich aber nicht gemeinsam mit den jüngeren Kindern im Jugendzentrum aufhalten wollten. Nach dem Besuch des Kibbuzvorsitzenden verlor der Aufenthaltsort rasch an Bedeutsamkeit und Anziehungskraft. Das Direktorat traf die Entscheidung, die Bitte der Jugendlichen zu respektieren, eine Bitte, der sich auch eine einflussreiche Mädchengruppe anschloss. Das Auftauen der bis dahin eisigen Beziehung war auch unter den aufgebrachten Eltern zu verspüren. Man beschloss, gemeinsame Treffen für die Erzieher, die Eltern und die Jugendlichen der höheren Klassen zu organisieren, um Übereinkünfte zu treffen, wie die Leiter des Jugendzentrums und die Eltern in Fällen von unangebrachtem Verhalten der Kinder zusammenarbeiten könnten. Die Kibbuzgemeinschaft überwand dadurch diese Krise mit einem gestärkten Gefühl der Gemeinschaft.
Der Kreis der neuen Autorität schließt sich Am Anfang dieses Buches haben wir die Notwendigkeit eines neuen Autoritätsimages erörtert, das in einer freiheitsliebenden und pluralistischen Gesellschaft als legitim, umsetzbar und effektiv gelten könnte. Wir haben dargelegt, wie die Autorität früherer Zeiten ihre Tragfähigkeit verloren hat, um ihre Funktion über die Generationen hinweg auszufüllen. Wir haben feststellen müssen, dass der Wunsch, die alten Verhältnisse wiederherzustellen, ein Traum ist. Der Versuch, die traditionelle Autorität wiederherzustellen, hat sich als nicht realisierbar erwiesen, da er zu einer machtorientierten Haltung und eskalierenden Reaktionen führt. Die wirkliche Prüfung der neuen Autorität, deren grundlegende Prinzipien wir in diesem Buch vorgestellt haben, liegt in ihrer Legitimation und in der Möglichkeit, diesen Weg beständig weiter zu verfolgen. Wir haben oft sehr positive Reaktionen von Seiten der Eltern und Lehrer auf dieses Modell der Autorität erhalten und auf die Mittel und Wege, die wir für dessen Verwirklichung entwickelt haben. Das Geheimnis der Stärke der neuen Autorität liegt jedoch nicht nur darin, dass sie ein positives Echo auslöst, sondern auch darin, dass ihre Prinzipien eine ansteckende Wirkung haben: Die-
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jenigen, die sie zu verwirklichen suchen, entdecken, dass sie sich alle gegenseitig stärken können und sich die Prinzipien der neuen Autorität so weiter auf andere Bereiche übertragen lassen. In gewisser Weise ist der Aufbau dieses Buches irreführend: Das Buch ist in einer Abfolge geschrieben, beginnend mit der Einzelperson und mit der Gemeinschaft endend – von den einzelnen Eltern über die Schule bis hin zur Ebene des Gemeinwesens. Diese Abfolge ergibt sich aus der Tatsache, das ein Wort dem anderen folgt, ein Satz dem anderen, ein Kapitel dem anderen. Dies sind technische Einschränkungen des Schreibens. Wir betrachten das Modell jedoch als kreisförmig. Idealerweise sollte man an jeder Stelle anfangen können zu lesen und nicht unbedingt am Anfang des Buches, da die Idee einheitlich ist und jede Ausführung immer nur einen anderen Aspekt des Modells verdeutlicht. Wir hoffen, dass die Leser sich zu allererst einen Eindruck von der Idee als Ganzes verschaffen können, um dann den für sie relevanten Aspekt zu vertiefen. Eltern werden das Buch als Eltern lesen, Lehrer als Lehrer und andere Gemeindevertreter eben als Gemeindevertreter. Oft vereinen sich auch zu unserer Freude verschiedene Aspekte in einem Leser. Lehrer oder Funktionsträger innerhalb der Gemeinde sind oftmals auch Eltern, und die Schule stellt nicht selten eine Zwischenstation auf dem Weg zu Führungspositionen innerhalb des Gemeinwesens dar. Entsprechend dieser Sichtweise, die eben viele Gesichtspunkte integriert, möchten wir das Kapitel zur Gemeinde und das ganze Buch mit einem wichtigen Kriterium abschließen, um den Erfolg der Intervention auf der Ebene der Gemeinde zu beurteilen: Der Erfolg sollte nicht nur daran gemessen werden, inwieweit das Konzept der neuen Autorität innerhalb des Gemeinwesens umgesetzt wird, sondern auch, inwieweit der einzelne Elternteil, der einzelne Lehrer, das kleine ElternLehrer-Team ebenso wie Schulen, Elterngruppen usw. das Konzept übernehmen. Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch einige Einsichten, Wege zur Verwirklichung und mögliche Lösungen vermitteln konnten, um dieses anspruchsvolle Kriterium zu realisieren.
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