Ökotourismus in Mexiko: Der neue Umgang mit Natur in Lachatao, einer indigenen Gemeinde in Oaxaca 9783839447239

The volume shows that ecotourism as a »return to nature« not only affects tourists, but also an indigenous community in

213 110 21MB

German Pages 336 Year 2019

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Table of contents :
Editorial
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Danksagungen
Vorwort
1. Einleitung
Einleitungstext
1.1 Ökotourismus aus ethnologischer Perspektive
1.2 Indigene Naturbeziehungen
1.3 Gemeindebasierter Ökotourismus und Gender
1.4 „Rückkehr zur Natur“: Naturen als Transformationsprozesse von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Territorium
2. La Sierra Juárez – Pioniere im Umweltschutz
Einleitung
2.1 Oaxaca: Lo tiene todo
2.2 (Umwelt-)Geschichte der Sierra Juárez
2.3 Gemeinden der Sierra Juárez: Pioniere im Umweltschutz
3. Ökotourismus: Theoretisches Konzept und lokale Umsetzung
Einleitung
3.1 Ökotourismus: Staatliche Initiativen in der Sierra Juárez
3.2 Ökotourismus: Lokale Antworten
3.3 Landrechtskontrolle und Internationalisierung
3.4 Cada pueblo un mundo: Gemeindespezifische Auswirkungen
4. Von der Forschung zur schriftlichen Arbeit: Methoden, Analysen und Reflexionen
Einleitung
4.1 Besonderheiten der Forschung zu Ökotourismus
4.2 „Biografie“ der Methoden
4.3 Selbstreflexion: Über Rollenzuweisungen, Positionierungen und die Mitkonstitution des Forschungsgegenstandes
4.4 Verfassen der Arbeit
5. Viva la naturaleza al máximo: Die performative Herstellung von Naturen
5.1 Ökotourismus und die Veränderung der Naturbeziehungen: Naturen als konzeptueller Ansatz
5.2 Lachatao, un insuperable lugar para regresar a la Naturaleza: Rückkehr zur Natur
5.3 Éste es un área virgen: Umwelt als unberührte Natur
5.4 De vuelta al origen: Spirituelle Naturinszenierungen
5.5 Todo natural: Natürlichkeit des Landlebens
6. Naturen als Mittel der Neuverhandlung von Gemeinschaft und Territorium
6.1 Ökotourismus und die Transformation der Gemeinschaft durch Naturen: Konzeptuelle Ausgangspunkte
6.2 Eres o no eres de Lachatao: Neuverhandlung von Zugehörigkeit durch die Naturen
6.3 Me gusta separar la basura: Naturen als Mittel der Aushandlung geschlechtsspezifischer Differenzen
6.4 Son organizados, son unidos: Neuverhandlung der sozialen Institutionen durch die Naturen
6.5 Ecoturismo es territorio también: Neuverhandlung des Territoriums durch die Naturen
7. Naturen: Transformationsprozesse von Zugehörigkeit, sozialer Organisation und Territorium
Einleitung
7.1 Naturen: Multiplizierung und Normierung der Naturbeziehungen
7.2 Naturen zur Aushandlung sozialer Beziehungen und von Zugehörigkeit
7.3 Naturen und geschlechtsspezifische Zuweisungen
7.4 Naturen transformieren soziale Institutionen
7.5 Naturen als Neupositionierung gegenüber dem Staat und der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft
Literaturverzeichnis
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Ökotourismus in Mexiko: Der neue Umgang mit Natur in Lachatao, einer indigenen Gemeinde in Oaxaca
 9783839447239

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Saskia Walther Ökotourismus in Mexiko

UmweltEthnologie  | Band 2

Editorial Die Schriftenreihe UmweltEthnologie versammelt Studien, die auf ethnographischen Methoden basieren, emische Perspektiven reflektieren und zur umweltbezogenen Theoriebildung beitragen. Die Reihe geht von einem breiten Umweltbegriff aus, der sowohl die soziale, vom Menschen geschaffene, als auch die »natürliche« Umwelt inkludiert. Mit dieser großen thematischen Bandbreite bildet die Reihe die Vielfalt von kulturspezifischen Lebenswelten und Praktiken weltweit ab. Ziel der Reihe ist es auch, ethnologische Studien mit Umweltbezug zu bündeln und den Dialog mit interdisziplinären und internationalen Debatten zu fördern. Damit leisten die in der UmweltEthnologie erscheinenden Schriften einzigartige Beiträge zu drängenden umweltbezogenen Fragen der Gegenwart. Die Reihe wird herausgegeben von Eveline Dürr, Frank Heidemann, Oliver D. Liebig und Martin Sökefeld.

Saskia Walther (Dr. phil.), geb. 1978, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. Ihre Interessenschwerpunkte liegen im Bereich der Mensch-Umwelt-Beziehungen, Globalisierungsphänomene, Genderforschung, dem Tourismus sowie dem Praxisbezug der Ethnologie.

Saskia Walther

Ökotourismus in Mexiko Der neue Umgang mit Natur in Lachatao, einer indigenen Gemeinde in Oaxaca

Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Die Promotion wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des DFG Projekts (DU 209/16-1) gefördert und mit dem Originaltitel der Dissertation »Die Transformationen indigener Naturbeziehungen: Ökologische Diskurse, Ökotourismus und Geschlechterbeziehungen in Mexiko« im November 2017 abgeschlossen. Mit bestem Dank für das Korrektorat, Lektorat und den Satz an das Lektorat Freiburg, Peter Welk.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Equinoccio«-Fest auf der Valenciana, Lachatao, 2013, Aufnahme: Saskia Walther Lektorat, Korrektorat & Satz: Lektorat Freiburg, Peter Welk Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4723-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4723-9 https://doi.org/10.14361/9783839447239 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis | 7 Abkürzungsverzeichnis | 9 Danksagungen | 13 Vorwort | 15 1

Einleitung | 17

1.1 1.2 1.3 1.4

Ökotourismus aus ethnologischer Perspektive | 22 Indigene Naturbeziehungen | 24 Gemeindebasierter Ökotourismus und Gender | 26 „Rückkehr zur Natur“: Naturen als Transformationsprozesse von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Territorium | 29

La Sierra Juárez – Pioniere im Umweltschutz | 33 2.1 Oaxaca: Lo tiene todo | 35 2.2 (Umwelt-)Geschichte der Sierra Juárez | 46 2.3 Gemeinden der Sierra Juárez: Pioniere im Umweltschutz | 57

2

3

Ökotourismus: Theoretisches Konzept und lokale Umsetzung | 69

3.1 3.2 3.3 3.4

Ökotourismus: Staatliche Initiativen in der Sierra Juárez | 78 Ökotourismus: Lokale Antworten | 83 Landrechtskontrolle und Internationalisierung | 88 Cada pueblo un mundo: Gemeindespezifische Auswirkungen | 92

4

Von der Forschung zur schriftlichen Arbeit: Methoden, Analysen und Reflexionen | 111

4.1 Besonderheiten der Forschung zu Ökotourismus | 112 4.2 „Biografie“ der Methoden | 119 4.3 Selbstreflexion: Über Rollenzuweisungen, Positionierungen und die Mitkonstitution des Forschungsgegenstandes | 139 4.4 Verfassen der Arbeit | 144

5

Viva la naturaleza al máximo: Die performative Herstellung von Naturen | 149

5.1 Ökotourismus und die Veränderung der Naturbeziehungen: Naturen als konzeptueller Ansatz | 149 5.2 Lachatao, un insuperable lugar para regresar a la Naturaleza: Rückkehr zur Natur | 158 5.3 Éste es un área virgen: Umwelt als unberührte Natur | 163 5.4 De vuelta al origen: Spirituelle Naturinszenierungen | 175 5.5 Todo natural: Natürlichkeit des Landlebens | 189 6

Naturen als Mittel der Neuverhandlung von Gemeinschaft und Territorium | 213

6.1 Ökotourismus und die Transformation der Gemeinschaft durch Naturen: Konzeptuelle Ausgangspunkte | 213 6.2 Eres o no eres de Lachatao: Neuverhandlung von Zugehörigkeit durch die Naturen | 222 6.3 Me gusta separar la basura: Naturen als Mittel der Aushandlung geschlechtsspezifischer Differenzen | 240 6.4 Son organizados, son unidos: Neuverhandlung der sozialen Institutionen durch die Naturen | 255 6.5 Ecoturismo es territorio también: Neuverhandlung des Territoriums durch die Naturen | 272 7

Naturen: Transformationsprozesse von Zugehörigkeit, sozialer Organisation und Territorium | 289

7.1 Naturen: Multiplizierung und Normierung der Naturbeziehungen | 291 7.2 Naturen zur Aushandlung sozialer Beziehungen und von Zugehörigkeit | 293 7.3 Naturen und geschlechtsspezifische Zuweisungen | 296 7.4 Naturen transformieren soziale Institutionen | 297 7.5 Naturen als Neupositionierung gegenüber dem Staat und der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft | 299 Literaturverzeichnis | 301

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11:

Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24:

Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Tía Magali | 18 Werbeplakat der CDI: „Auf zur Eroberung der Sierra“ | 34 Ökosysteme des Bundesstaats Oaxaca | 36 Ethnolinguistische Gruppen und municipios in Oaxaca | 38 La Sierra Juárez, Oaxaca | 47 Ex Hacienda de 5 Señores bei Lachatao | 51 Karte der Valle Centrales von der Tourismusbehörde | 79 Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Leo | 99 Tourismusbüro im Dorfzentrum Lachataos | 108 Fotoprojekt: Von den Gemeindemitgliedern für die Ausstellung ausgewählte Fotos | 138 Fotoprojekt: Einladungskarte (mit den 12 von der Gemeinde für den Kalender ausgewählten Fotos) für die Fotoausstellung in Lachatao | 139 Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Amar | 164 Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Sancho | 169 Logo des Ökotourismusprojekts in Lachatao | 176 Fotoprojekt: Fotografie der Valenciana von Don Olivero | 184 Equinoccio-Fest auf der Valenciana, Lachatao | 186 Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Xochil | 189 Fotoprojekt: Fotografie von Penelope | 194 Fotoprojekt: Fotografie von Don Olivero | 202 Fotoprojekt: Fotografie von Ramón | 207 Aufforderung zur Plastikvermeidung im Dorfladen, Lachatao | 230 Öffentlicher Mülleimer im Dorfzentrum Lachataos | 232 Dorfzentrum Lachataos mit Restaurant | 242 Mülltrennung in einem Privathaushalt, Lachatao | 244

8 | Ökotourismus in Mexiko

Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27:

Gedenkfeier zum 96. Jubiläum der Schlacht in Las Vigas | 279 Wassertankwagen vor dem Rathaus, Lachatao | 281 Karte der Pueblos Mancomunados | 284

Abkürzungsverzeichnis

AIE APPO CBT CEDICAM CDI CIESAS COCEI CONAGUA CONASUPO CONABIO CONAFOR CONANP CONAPO CONEVAL DIF DIGEPO ECOSUR EFC EZLN FAPATUX FONART ICCA ILO INAH

Año Internacional del Ecoturismo Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca Community-based Tourism Centro de Desarrollo Integral Campesino de la Mixteca Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social Coalición Obrera Campesina y Estudiantil del Istmo Comisión Nacional del Agua Compañía Nacional de Subsistencias Populares Comisión Nacional para el Conocimiento y Uso de la Biodiversidad Comisión Nacional Forestal Comisión Nacional de Áreas Naturales Protegidas Consejo Nacional de Población Consejo Nacional de Evaluación de la Política de Desarrollo Social Sistema Nacional para el Desarrollo Integral de la Familia Dirección General de Población del Estado de Oaxaca El Colegio de la Frontera Sur Empresas Forestales Comunitarias Ejército Zapatista de Liberación Nacional Fábrica de Papel Tuxtepec Fondo Nacional para el Fomento de las Artesanías Indigenous Community-Conserved Areas International Labour Organisation Instituto Nacional de Antropología e Historia

10 | Ökotourismus in Mexiko

INEGI INI ITRI IUCN ITB IYE MICI OET OLAROP ODRENASJI OT PAN PETR PIDER POPMI PRI PROCYMAF PSA PTAZI REDD+

REDSJO RITA SAGARPA SE SECTUR SEDESOL SEMARNAP SEMARNAT SUNEO TEK TIES

Instituto Nacional de Estadística y Geografía Instituto Nacional Indigenista (bis 2003, danach CDI) Indigenous Tourism Rights International International Union for Conservation of Nature Internationale Tourismus-Börse International Year of Ecotourism Ministerio de Comercio e Industrias Ordenamiento Ecológico del Territorio Organización de Lachatenses Radicados en la Ciudad de Oaxaca y Periferia La Organización en Defensa de los Recursos Naturales y Desarrollo Social de la Sierra Juárez Ordenamiento Territorial Partido Acción Nacional Programa de Ecoturismo y Turismo Rural Programa Integral para el Desarrollo Rural Programa de Organización Productiva para las Mujeres Indígenas Partido Revolucionario Institucional Programa de Desarrollo Forestal Comunitario Pagos por Servicios Ambientales Programa de Turismo Alternativo en Zonas Indígenas Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation and the role of conservation, sustainable management of forests and enhancement of forest carbon stocks in developing countries Red Integradora de Ecoturismo de la Sierra Juárez de Oaxaca Red Indígena de Turismo de México Secretaría de Agricultura, Ganadería, Desarrollo Rural, Pesca y Alimentación Secretaría de Economía Secretaría de Turismo Secretaría de Desarrollo Social Secretaría de Medio Ambiente, Recursos Naturales y Pesca Secretaría de Medio Ambiente y Recursos Naturales (vor 2000: SEMARNAP) Sistema de Universidades Estatales de Oaxaca Tradicional Ecological Knowledge The International Ecotourism Society

Abkürzungsverzeichnis | 11

UNAM UNESCO UNEP UNIEF UNSIJ UNOFOC UPAF UZACHI WIPO WTO WWF

Universidad Nacional Autónoma de México United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Environment Programme Unidades Industriales de Explotación Forestal Universidad de la Sierra Juárez Unión Nacional de Organizaciones de Forestería Comunal Unidad de Producción para el Aprovechamiento Forestal de Pueblos Mancomunados Unión de Comunidades Productoras Forestales Zapoteco-Chinanteca World Intellectual Property Organization World Tourism Organization Worldwide Fund for Nature (Fondo Mundial para la Naturaleza)

Danksagungen Gracias a la vida, que me ha dado tanto… Liedtext von Violeta Parra

An dieser Stelle möchte ich meinen Dank aussprechen an alle, die mich über lange oder kürzere Zeit bei der Entstehung dieses Buchs begleitet haben. Allen voran gilt mein Dank Prof. Eveline Dürr, die das Forschungsprojekt initiierte, in all seinen Etappen eng begleitete und mich in wissenschaftlicher und persönlicher Weise immer unterstützte. Mein besonderer Dank gilt den Gemeindemitgliedern Lachataos für ihre Gastfreundschaft und Unterstützung in der Forschung sowie für die vielen wundervollen Momente, die wir gemeinsam erleben durften, allen voran Juan, Tía Cela und Tío Joel, Vero sowie Oscar und Rosi. Gleichermaßen möchte ich meinen FreundInnen in Oaxaca danken, für ihren Zuspruch und Optimismus sowie für die bis heute andauernden Freundschaften, vor allem Betty, Maru, Judit, Magali, Marcela, Coral und Manuel. Ganz besonders danke ich Rebecca Hofmann für die vielen gemeinsamen Diskussionen, ihre beständige Begleitung der Arbeit von der Entstehung bis zum Ende und vor allem für die daraus entstandene Freundschaft. Besonders möchte ich mich auch bei meinem KollegInnen am Institut für Ethnologie in München sowie am Freiburger Institut für Ethnologie für den wissenschaftlichen Austausch und die vielen anregenden Gespräche bedanken, unter anderem Anna Grieser, Oliver Liebig, Rosa Lehmann und Prof. Judith Schlehe, Anna Meiser, Martin Büdel und Ingo Rohrer, Monique Fritzsche für die Mithilfe bei den Übersetzungen, Johannes Sturm für seine Hilfe mit den Abbildungen sowie Jenny Kunz und Peter Welk für das Lektorat und die Formatierung der Arbeit. Von ganzem Herzen möchte ich meinem Vater danken, der mich immer bei meinen Vorhaben und so auch bei dieser Dissertation unterstützt hat, und seiner Frau Irina, sowie Frau Simon. Und schließlich danke ich Pawel sowie Lina und meinen engsten FreundInnen, vor allem Anna, Feli, Jula, Yvonne, Catherine, Susi,

14 | Ökotourismus in Mexiko

Anette, Esther, Baharak, Eli und Oliver für deren Unterstützung und Hilfe bei den Korrekturen, aber vor allem für deren Freundschaften, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass ich diese Dissertation verwirklichen konnte. Zuletzt danke ich Manu für die Begleitung und den Blick in eine gemeinsame Zukunft – und widme dieses Buch dem Leben in seiner (be-)ständigen Veränderung: Cambia, todo cambia […] pero no cambia... Liedtext von Mercedes Sosa

Vorwort

Der erste Band der Reihe UmweltEthnologie, herausgegeben vom Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, widmet sich dem Ökotourismus, der nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit eine gewichtige Rolle spielt. Die „Rückkehr zur Natur“ wird dabei mit vielfältigen Erwartungen verknüpft und reicht von individueller Sinnsuche bis zur Hoffnung auf einen Ausweg aus der globalen ökologischen Krise. Darüber hinaus geht es aber auch um kulturelle Werte, die häufig mit einer spezifischen Nähe zur „Natur“ in Verbindung gebracht werden, wobei nicht selten die indigene Bevölkerung als Projektionsfläche dient. Die Verbreitung ökotouristischer Projekte wird allerdings auch von der Annahme befördert, Tourismus könne gezielt als Instrument der Entwicklungsförderung und Armutsreduzierung eingesetzt werden. Damit treten wirkmächtige Institutionen wie die UN und die Weltbank auf den Plan, die staatliche Subventionen fördern und entsprechende Maßnahmen in marginalisierten, häufig indigenen Regionen implementieren. Die vorliegende Studie greift diese vielschichtige Entwicklung auf und befasst sich mit den Auswirkungen eines gemeindebasierten Ökotourismusprojekts im südlichen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, wo Indigenität und Naturverbundenheit sowohl von lokalen AkteurInnen als auch von Seiten des Staates strategisch in Wert gesetzt werden. Basierend auf einer in mehrere Phasen unterteilte, insgesamt 17 Monate währenden Feldforschung untersucht Frau Walther in der zapotekischen Gemeinde Santa Catarina Lachatao, welche Wirkmacht das gemeindebasierte Ökotourismusprojekt auf lokaler Ebene entfaltet, insbesondere hinsichtlich Naturwahrnehmung, Geschlechterbeziehungen und interner Stratifizierung. Frau Walther entwickelt dazu einen eigenen Ansatz, in welchem sie drei Naturen unterscheidet, die jeweils unterschiedliche Aspekte zur Geltung bringen: die unberührte und schützenswerte Natur, die spirituelle Natur sowie die „Natürlichkeit des Landlebens“. Diese Naturen begründen ein normatives Ordnungssystem in der Gemeinde, das tief in die Lebenswelten der EinwohnerInnen hineinreicht und zu Geschlechter-

16 | Ökotourismus in Mexiko

rollen, Spiritualität und Gemeindezugehörigkeit, aber auch zu Migration, interner Verwaltung und Landkonflikten in Beziehung gesetzt wird. Damit zeigt dieser Band nicht nur ethnographisch nuanciert und mit gendersensiblem Blick die Wechselbeziehungen zwischen der physischen und sozialen Umwelt auf; vielmehr arbeitet Frau Walther vorbildlich die historischen Bedingungen für diese Entwicklung einschließlich der nicht-intendierten Folgen heraus und analysiert das Beziehungsgeflecht zwischen globalen Direktiven, staatlichen Entwicklungsbestrebungen und lokalen Antworten auf diese Interventionen. Mit dieser Perspektivenvielfalt leistet dieser Band einen differenzierten und substanziellen Beitrag zum Forschungsfeld des Ökotourismus in Lateinamerika und darüber hinaus. Eveline Dürr, Februar 2019

1 Einleitung

Abbildung 1 zeigt das Dorfzentrum von Santa Catarina Lachatao, einer kleinen zapotekischen Gemeinde, die Teil des Gemeindeverbunds der Pueblos Mancomunados1 ist und in der Sierra Juárez in Oaxaca, einem südlichen Bundesstaat Mexikos liegt. Seit 2008 ist Ökotourismus ein wichtiges Merkmal Lachataos, gefördert durch den mexikanischen Staat als Strukturentwicklung für indigene Gemeinden. In Lachatao führt Ökotourismus – entgegen der Zielsetzung des Programmes – jedoch in erster Linie nicht dazu, die Emigration zu verhindern und nachhaltige ökonomische Einnahmen für die Gemeinden zu generieren, sondern setzt weitreichende soziokulturelle Prozesse in Gang. Diese stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Ökotourismus führt vor allem zu neuen Umgangsweisen mit der Natur, wodurch aber nicht nur die Natur verändert wird, sondern auch die sozialen Verhältnisse und Zugehörigkeiten innerhalb der Gemeinde neu verhandelt werden. Damit geht einher, dass sich das Verhältnis zwischen lokal ansässigen und abgewanderten Gemeindemitgliedern ändert und lokale Organisationsformen angepasst werden. Das Buch zeigt diese transformative Kraft des Ökotourismus auf, welcher – weit über die Zielsetzung des Konzepts hinaus – unvorhersehbare lokale Dynamiken in Gang gesetzt hat.

1

Die Pueblos Mancomunados stellen einen Verbund von acht Gemeinden dar, die sich ein Territorium von 29.430 Hektar teilen und im Distrikt Ixtlán in der Sierra Juárez liegen.

18 | Ökotourismus in Mexiko

Abbildung 1: Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Tía Magali, 2014, Titel: „Meine ganze Kindheit“2

Abbildung 1 wurde von Tía Magali, einer Frau der Gemeinde aufgenommen und mit „Meine ganze Kindheit“ betitelt. Der Titel deutet auf die „Kultur der Migration“ (Cohen 2004) hin, die das südliche Mexiko seit langem prägt und sich auch im Leben der Fotografin widerspiegelt, die erst vor wenigen Jahren in die Gemeinde zurückgekehrt ist. Die hohe Abwanderung stellt die Region vor große soziokulturelle und politische Probleme (Pauli 2008; Kearney und Besserer 2004; Velásquez 2004; Hirsch 2003), welchen der mexikanische Staat durch die Förderung des indigenen Ökotourismus entgegenzuwirken verspricht. Dies ist besonders im Waldgebiet der Sierra Juárez der Fall, das durch die Nähe zum touristischen Zentrum der Kolonialstadt Oaxaca und aufgrund der besonderen Biodiversität prädestiniert erscheint, um die beständig wachsende Nachfrage nach Naturtourismus zu decken. Bereits ab Ende der 1980er Jahre wurden hier die ersten Ökotourismusprojekte initiiert, um vor allem der jüngeren Bevölkerung langfristige ökonomische Perspektiven in ihren Gemeinden zu ermöglichen. Zugleich soll Ökotourismus zum Schutz der lokalen Wälder beitra-

2

Bei den Namen aller ForschungsteilnehmerInnen handelt es sich um Pseudonyme.

Einleitung | 19

gen, die als einer der globalen Biodiversitäts-Hotspots klassifiziert wurden (Conservation International 2017). Einige Gemeinden der Region sind bereits seit den 1980er Jahren international bekannt für die gemeindebasierte nachhaltige Forstwirtschaft und den Umweltschutz und sind mittlerweile führend im gemeindebasierten Ökotourismus. Das gilt auch für die Pueblos Mancomunados, die 2016 auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin (ITB) für sozialverantwortlichen Tourismus ausgezeichnet wurden. Aus ethnologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie sich der Ökotourismus als globales Konzept im lokalen Kontext indigener3 Gemeinden auswirkt. Anhand der Fotografie von Tía Magali lassen sich zentrale Themen dieses Buches vorstellen: zum einen die ökotouristische Repräsentation einer idyllischen Dorfgemeinschaft inmitten der Natur; zum anderen die Bedeutung der Zugehörigkeit zur Gemeinde im Kontext der Migration. Zudem verweist das Foto auf die angewandten visuellen Forschungsmethoden, die auch eine Ausstellung der von den Gemeindemitgliedern angefertigten Fotografien im Dorf beinhalteten. Im Zuge dieser Ausstellung wurde Tía Magali für das Foto „Toda mi infancia“ als beste Fotografin ausgezeichnet. Die Fotografie zeigt das Dorfzentrum, das idyllisch in die umgebende Landschaft eingebettet ist. Dies knüpft an die globalen Vorstellungen im indigenen Ökotourismus an, in welchen die Beziehung der Menschen zur Umwelt im Zentrum der touristischen Repräsentation steht (Urry 1992, S. 14). Diese Beziehung wird als eine enge Verbundenheit zu Land und Natur imaginiert, die auf Subsistenzwirtschaft und einer spirituellen Naturbeziehung aufbaut (Zeppel 2006, S. 12). Diese Zuschreibungen erfahren auch die ökotouristischen Gemeinden der Sierra Juárez, die als „Pioniere im Umweltschutz“ gelten. Deren Lebensweise und der Schutz der „unberührten“4 Wälder werden dem Leben in der Stadt Oaxaca

3

Hier sei auf die Komplexität des Begriffs der Indigenität verwiesen (vgl. bezüglich Mesoamerika: Dürr und Kammler 2019, S. 81–85; Allgemein: Niezen 2003). Im Rahmen dieser Arbeit orientiere ich mich an der Definition, die sich an der Eigenidentifikation der AkteurInnen orientiert.

4

Das Konzept von „unberührter“ bzw. „ursprünglicher“ Natur entstammt der für die westliche Geistesgeschichte als grundlegend zu erachtenden Kultur-Natur-Dichotomie. Insbesondere die Darlegungen von Jean-Jacques Rousseau über die „ursprüngliche“ Natur sind grundlegend für die heutigen ökologischen und ethischen Naturdiskurse (Schiemann 2011). Bei der Charakterisierung „ursprünglicher“ oder „unberührter“ Natur handelt es sich um einen Begriff der Ästhetik und nicht der Empirie (vgl. Gleitner 1999). Bei der Verwendung des Begriffes „unberührt“ bzw. „ursprünglich“ beziehe ich mich folglich auf die Zuschreibung des Konzepts zur natürlichen Umwelt

20 | Ökotourismus in Mexiko

entgegengesetzt, das als dreckig und die Umwelt verschmutzend gilt. Die Inszenierung der dörflichen Umgebung der ökotouristischen Gemeinden in der Sierra Juárez knüpft daran an. Dieser Kontrast weckte auch mein Interesse, sodass ich einige dieser ökotouristischen Gemeinden auf der Suche nach einem geeigneten Feldforschungsort bei einer ersten explorativen Feldforschung im Jahr 2011 besuchte. Dabei stachen mir die „Natürlichkeit“ der dörflichen Umgebung, die Sauberkeit und die zur Mülltrennung auffordernden Abfalleimer in den Dorfzentren ins Auge. Dies geht mit einer auffälligen Menschenleere einher. So trifft man in den Gemeinden in erster Linie Frauen an, die die BesucherInnen5 in Empfang nehmen und über den Umweltschutz in der jeweiligen Gemeinde berichten. Unweigerlich stellt man sich die Frage, wie die Gemeinden eine so auffällige, natürliche und saubere Umgebung in ihren Dörfern erschaffen, wer dafür zuständig ist und welche Bedeutung dies für die Gemeindemitglieder hat. Die Wahl des Feldforschungsortes fiel dann auf Santa Catarina Lachatao, weil dort der Ökotourismus zu jener Zeit intensiv vorangetrieben wurde, was es mir ermöglichte, die damit verbundenen Prozesse mitzuverfolgen. Für meine Arbeit ergaben sich somit aus der Verknüpfung der Themenfelder Ökotourismus, (indigene) Naturbeziehungen und Gender zunächst folgende forschungsleitende Fragen: Wie wirkt sich der Ökotourismus auf die Naturbeziehungen6 in einer indigenen Gemeinde aus, und welche geschlechtsspezifischen Unterschiede existieren? Welche neuen, naturbezogenen Praktiken werden umgesetzt, welche bekannten Praktiken werden mit neuen Bedeutungen versehen, und wie werden diese dargestellt? Diese Fragestellungen wurden richtungsweisend für das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Die Transformationen indigener Naturbeziehungen: Ökologische Diskurse, Ökotourismus und Geschlechterbeziehungen in Mexiko“.7 Den Ergebnissen liegt eine Feldforschung

und nicht auf den Zustand der Natur. Der besseren Lesbarkeit halber verzichte ich dabei im Folgenden auf die Verwendung von Ausrufezeichen. 5

An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Schreibweise mit Binnen-I kein binäres Geschlechterverständnis impliziert, sondern alle Geschlechter einschließt.

6

Ich verstehe unter dem Begriff „Naturbeziehung(en)“ – der immer im Plural zu verstehen ist – die von einzelnen Personen gelebten Bedeutungs- und Praxissysteme, die in einem Bezug zur Umwelt stehen und diese mit generieren.

7

Das Forschungsprojekt wurde unter der Leitung von Prof. Eveline Dürr im Förderzeitraum von Juli 2013 bis Juli 2016 von der DFG finanziert (DU 209/16-1). Das vorliegende Buch stellt die Ergebnisse des Forschungsprojekts dar, die als Dissertation

Einleitung | 21

zugrunde, die ich zwischen Mai 2012 und Mai 2014 durchführte. Sie untergliederte sich in mehrere Phasen, wobei sich die empirische Datenerhebung und Analyse nach dem Prinzip der grounded theory abwechselten und ineinander griffen (Strübing 2008). Für meine Forschung stellte der Tourismus den von Naomi Leite und Nelson Graburn postulierten „point of entry“ dar (Leite und Graburn 2009, S. 46). Dies betrifft einerseits den konkreten Zugang zum Feld, der (aufgrund der Erfahrung touristischer Gemeinden mit Fremden) dadurch erleichtert sein kann. Andererseits bietet Tourismus Zugang zu weiteren Themenfeldern, die als lokale Konsequenzen von globalen (touristischen) Entwicklungen zu verstehen sind, aber nur im weitesten Sinne mit dem Tourismus zusammenhängen. Gerade Ökotourismus stellt ein komplexes Feld dar, da dieser – über eine reine Wirtschaftsform hinaus – durch seine Programmatik als ein politischer Prozess zu verstehen ist, der gesellschaftliche Veränderungsprozesse einer ökologischen, sozialen und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung herbeiführen soll (Honey 2008; Strasdas 2001). Dadurch treffen im Ökotourismus verschiedenste Perspektiven auf Natur, Entwicklung und Kultur im Kontext ungleicher Machtverhältnisse aufeinander, die – wie in diesem Buch aufgezeigt wird – komplexe Wechselwirkungen entstehen lassen. So zeigte sich auch im Verlauf der Forschung, dass der Fokus auf die geschlechtsspezifischen Dynamiken vor Ort weniger entscheidend war als die Dynamiken, die sich im Hinblick auf Abwanderung, Landrechtskonflikte und Ressourcennutzung beobachten ließen. Diese Bereiche sind nicht nur als wichtige soziopolitische Rahmenbedingungen zu verstehen, sondern stehen in direkter Verbindung zum Ökotourismus. Aus diesem Grund berücksichtigte ich die Landrechts- und Ressourcenkonflikte mit den Nachbargemeinden als weitere wichtige Dimension. Die ersten Forschungsergebnisse führten dazu, dass ich die internen Aushandlungsprozesse um soziopolitischen Einfluss und die Frage nach der Zugehörigkeit im Kontext der Stadt-Land-Migration als Forschungsschwerpunkte mit in Betracht zog. Hier zeigte sich, dass die soziale Unterscheidung zwischen den in der Stadt Oaxaca (los de la ciudad) und den im Dorf lebenden Gemeindemitgliedern8

„‚Rückkehr zur Natur‘ – Ökotourismus in Lachatao, einer indigenen Gemeinde in Mexiko. Naturen als Transformationsprozesse von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Territorium“ 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) eingereicht wurde. 8

Unter Gemeindemitgliedern verstehe ich Personen, die über eine formale Zugehörigkeit der Gemeinde verfügen, sowie Personen, die keine formale Zugehörigkeit haben, sich aber selbst der Gemeinde zugehörig fühlen und von dieser auch als zugehörig anerkannt werden (aber häufig außerhalb der Gemeinde leben). Diese Zugehörigkeit

22 | Ökotourismus in Mexiko

(los del pueblo) ein zentrales Kriterium innerhalb der Gemeinde ist. Dies veranlasste mich, das Forschungsfeld auf den urbanen Raum zu erweitern und damit die translokale Zusammensetzung der Gemeinde zu berücksichtigen. Um die Schwerpunktsetzungen der vorliegenden Studie (Ökotourismus, [indigene] Naturbeziehungen und Gender) in die ethnologische Diskussion einzubetten, wird zunächst die für diese drei Themenfelder relevante Literatur dargestellt, auf welche sich die Arbeit in den anschließenden Kapiteln bezieht.

1.1 ÖKOTOURISMUS AUS ETHNOLOGISCHER PERSPEKTIVE Wie Robert Fletcher im jüngst erschienenen Buch zu Ökotourismus, „Romancing the Wild“ schreibt, ist Ökotourismus nicht nur als ein materieller, sondern auch als ein kultureller bzw. diskursiver Prozess zu verstehen, der bestimmte Vorstellungen, Normen und Werte transportiert (Fletcher 2014, S. 3). Daran schließt die Frage an, wie sich Ökotourismus auf die Naturbeziehungen der lokalen Bevölkerung auswirkt (Jamal und Stronza 2008; Vivanco 2002). Dies wird in einer umfangreichen Literatur über die Nachhaltigkeit von Ökotourismus behandelt (Fennell 2008; Honey 2008), die sich vor allem auf die Frage konzentriert, inwiefern Ökotourismus zum Naturschutz und zur Umweltbildung der lokalen Bevölkerung beträgt (Mbaiwa und Stronza 2009; Horwich und Lyon 1998) und welche Zugangsbeschränkungen in Bezug auf die natürlichen Ressourcen entstehen (Olson 2012; Brondo und Woods 2007). Häufig wird dabei die Umwelt bzw. die Natur als unabhängig von Kultur und menschlicher Gesellschaft beschrieben, und es wird untersucht, inwiefern Ökotourismus seiner Programmatik einer soziokulturellen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit gerecht wird (Björk 2007; Yelvington 2004, S. 494). Vor allem in Bezug auf indigenen Ökotourismus werden die Konflikte zwischen touristischer Nutzung und indigenen Subsistenzpraktiken erörtert, beispielsweise der Jagd – Themen, die schon in den ersten Sammelbänden zu indigenem Tourismus behandelt wurden (Hinch und Butler 1996). Die Verdrängung lokaler Umweltpraktiken durch Ökotourismus wurde folglich von einer Reihe AutorInnen in den Vordergrund gestellt. „Ecotourism as a Western Construct“ (Cater 2007) lenkt den Fokus auf Ökotourismus als „form of governance“, welche die Vielfalt menschlicher Naturbezie-

wird demensprechend beständig verhandelt und ist graduell zu unterscheiden, d.h. Gemeindemitglieder werden je nach Kriterium und Kontext als mehr oder weniger zugehörig angesehen.

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hungen nach westlichem Standard und neoliberaler Marktlogik nivelliert (Medina 2015, 2010; Cater 2007; West und Carrier 2004). Die AutorInnen dieser Ansätze gehen davon aus, dass das Konzept einer globalen Umwelt sowie westliche, naturwissenschaftliche Herangehensweisen und Verhaltensnormen wie Naturschutz die lokalen Naturbeziehungen und Praktiken verdrängen (Milton 1997, S. 493; Ingold 1993). Das Konzept der Umwelt (environment) wird zur Bezugsgröße, welche die Bedingungen des menschlichen Lebens und dessen Reproduktion reguliert und menschliche Handlungen durch Normalisierungsstrategien (wie Umweltschutz oder Mülltrennung) standardisiert (Ulloa 2005, S. 94–95). Ökotourismus, Naturschutz und die Errichtung von Naturschutzgebieten werden gemäß diesen Ansätzen als Bestandteil kapitalistischer Markterschließung diskutiert (Brockington 2008; Brockington et al. 2008). Dies bezieht sich auf die Tatsache, dass die Verteilungskämpfe und Nutzungskonflikte über natürliche Ressourcen sich kontinuierlich zuspitzen und herrschende Ungleichheiten noch weiter verstärken. So hat auch nach 20 Jahren die Aussage von Philippe Descola und Gísli Pálsson nichts an ihrer Gültigkeit verloren: „The issues of environmental responsibility, the ethics and politics of nature, refuses to respect any cultural boundaries; witness the recent growth in environmentalist movement on the international scene and the recurring tension between Western science and local epistemologies. Nature is no longer a local affair; the village green is nothing less than the entire globe.“ (Descola und Pálsson 1996, S. 13)

Indigene Eliten entwickeln hier vielfältige Strategien, um mit diesen Dynamiken umzugehen, die sich auch am Ökotourismus aufzeigen lassen. Die Gefahr, angesichts dieser globalen (touristischen) Prozesse die Kontrolle über den Naturraum zu verlieren, wird auch von indigenen Eliten in der Sierra Juárez diskutiert. Sie verbinden Ökotourismus mit lokalen Konzepten einer gemeindebasierten Organisation und der Philosophie einer gelebten Gemeinschaftlichkeit (comunalidad) und reklamieren eine spezifische Naturbeziehung für sich. Diese steht im Mittelpunkt touristischer Repräsentationen und transformiert lokale Naturbeziehungen. Hier zeigt sich, was eine Vielzahl an Studien weltweit feststellt: dass Tourismus als Katalysator bei der Herstellung von kultureller Differenz dient (vgl. Canessa 2012; Scarangella 2010; Tilley 1997). In Bezug auf Ethnizität bzw. Indigenität vermerkt schon 1994 van der Berghe, dass der Tourismus im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu einer „renaissance of native cultures or the recreation of ethnicity“ führe (van den Berghe 1994, S. 17). Die Herstellung kultureller Differenz wird auch in den ökotouristischen Gemeinden der Sierra Juárez in erster Linie anhand der Naturbeziehungen hergestellt.

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1.2 INDIGENE NATURBEZIEHUNGEN Ökotouristische Repräsentationen indigener Gruppen knüpfen an globale Diskurse über Indigenität an, die Naturnähe – im Sinne des „ecological native“ (Ulloa 2005) bzw. des „indio verde“ (Dumoulin 2005; Rossbach de Olmos, 2004) – als politisches Symbol etabliert haben. Die Naturverbundenheit hat sich seit den 1980er Jahren als ein Hauptdifferenzierungskriterium für indigene Gruppen entwickelt und steht im Zusammenhang mit globalen Umweltschutzbewegungen (Conklin und Graham 1995, S. 697).9 Auch wenn Indigene in diesen globalen ökologischen Diskursen – Astrid Ulloa spricht hier von eco-governmentality – häufig nur als Stereotype auftauchen, verbessert dies dennoch ihre Verhandlungsposition (Ulloa 2005, S. 95–98). Weltweit eignen sich Indigene diese idealisierenden Vorstellungen an und verwenden sie für spezifische Zwecke, insbesondere in der Umweltpolitik sowie in Landrechts- und Ressourcenkonflikten (Erazo 2013; Ulloa 2005; Rossbach de Olmos 2004). Dies lässt sich in Mexiko vielfach beobachten, etwa mit Blick auf Menschenrechte, die Einforderung territorialer Rechtsansprüche sowie im Rahmen von politisch motivierten Umweltbewegungen (Doane 2007; Nash 2005, 2001; Stephen 2002; Stavenhagen 2002, 1997; Carruthers 1996). Auch in der Sierra Juárez greifen indigene Eliten in Ressourcenkonflikten auf Konzepte einer spezifischen (indigenen) Naturverbundenheit zurück, die sie sich kreativ aneignen, mit lokalen Konzepten verbinden und für ihre eigenen Interessen nutzbar machen (Dürr und Walther 2015). Die Ausdifferenzierungen hin zu einer lokalen indigenen Naturverbundenheit, 10 in

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Die Allianzenbildung von westlichen Umweltschutzorganisationen und indigenen Gruppen im Sinne von „ecopolitics“ nahm in den 1980er Jahren in Brasilien ihren Anfang, als indigene Ressourcennutzung als mit Umweltschutzprinzipien übereinstimmend angesehen wurde. Dies führte zu einer Internationalisierung lokaler Umweltund Landrechtskonflikte in Brasilien, die neue Formen transnationaler und transkultureller Begegnungs- und Verhandlungsräume schuf. Kent Redford (Redford 1991) prägte den Begriff ecologically noble savage als strategische Identitätspolitik indigener Gruppen und globale Imagination bzw. Repräsentation „der“ Amazonasindianer (Conklin und Graham 1995).

10 Die Indigenen zugeschriebene Naturverbundenheit impliziert, dass diese selbst als näher an der Natur und ihre Lebensweise als „natürlicher“ empfunden wird. Es handelt sich hier um die Zuschreibung und Aneignung westlicher Konzepte von „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ und nicht um konkrete Lebensweisen. Im vorliegenden Buch wird zugunsten der besseren Lesbarkeit auf eine Kennzeichnung des konstruktiven Charakters von „Natur“ und „Natürlichkeit“ durch Anführungszeichen verzichtet.

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diesem Fall als Zapotecos Serranos, betreffen auch den indigenen Ökotourismus. Dieser ist nicht unabhängig von indigenen Bewegungen und gesellschaftlichen Verteilungskämpfen zu verstehen, sondern steht häufig in direktem Zusammenhang damit. Auf diese soziopolitische Dimension von indigenem Ökotourismus haben bereits einige AutorInnen hingewiesen, beispielsweise Heather Zeppel, die feststellt: „For many indigenous groups, ecotourism is used to reinforce land claims, acknowledge cultural identity and land ownership, and regain their rights to access or use tribal land and resources“ (Zeppel 2006, S. 12). Dies befördert zugleich, dass Indigenität in den Fokus von Tourismus gerät, wie auch Andrew Canessa feststellt: „[Indigenity] seems to be better represented in tourists’ notions of the ‚Other‘ than in any other lived reality“ (Canessa 2012, S. 111). Die vielfältigen Auswirkungen dieser Prozesse auf die Repräsentationen von indigenen Gruppen im Rahmen von Ökotourismus sind in einigen ethnologischen Studien dargestellt worden (García-Frapolli et al. 2008; Hernandez Cruz et al. 2005; Burns 2004; Foucat 2002; Strasdas 2001). Sie werden zur globalen Projektionsfläche des „Edlen Wilden“, zum Zielort der Suche und Sehnsucht nach „echter“ Natur und einem „traditionellen“ Leben in Harmonie mit ihr (vgl. Meiser und Dürr 2014; Trupp und Trupp 2009; Dove 2006; Milton 2006).11 Obwohl in Oaxaca indigene Gemeinden durch die offizielle Anerkennung der usos y costumbres12 sowie des gemeindeverwalteten Landes gesetzlich über den Landbesitz und die Wirtschaftsformen verfügen, sind diese von internationalen Konzernen und staatlichen Initiativen beständig bedroht. Die Gemeinden als Orte sowie das Territorium sind hier als relational zu verstehen und stehen – entgegen der romantisierenden Zuschreibungen als autonom und unabhängig – in

11 Bei den Bezeichnungen eines „authentischen“, „traditionellen“ Lebens handelt es sich um eurozentristische Konzepte, die auf der Dichotomie von „modern“ und „traditionell“ aufbauen und ihren Ursprung in der Moderne haben. Was jeweils als „traditionell“ und „authentisch“ bzw. „modern“ verstanden wird, wird kontextspezifisch sozial hergestellt und hängt von den jeweiligen Diskursen, Deutungshoheiten und herrschenden Machtbeziehungen ab. 12 Usos y costumbres bezeichnet die politische Selbstverwaltung indigener Gemeinschaften nach indigenen Organisationsprinzipien und der Anwendung des Gewohnheitsrechts. Sie ist vom mexikanischen Staat durch die 1994 und 2001 vollzogenen Verfassungsreformen zugesichert, in welchen die mexikanische Nation als multiethnisch und plurikulturell definiert und der indigenen Bevölkerung Sonderrechte zugesprochen wurden (Degen 2008, S. 84–89). Im Folgenden wird zwecks besserer Lesbarkeit auf die Kennzeichnung von „traditionell“ mit Anführungsstrichen verzichtet.

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komplexen Verhältnissen zu staatlichen und transnationalen Akteuren (Erazo 2013).13 Hugh Raffles definiert indigene Territorien folgendermaßen: „[Locality] is, rather, a set of relations, an ongoing politics, a density, in which places are discursively and imaginatively materialized and enacted through the practices of variously positioned people and political economies“ (Raffles 1999, S. 324). Das vorliegende Buch stellt diese Prozesse anhand des Ökotourismus dar und legt den Fokus auf die Handlungsperspektive der Gemeindemitglieder von Lachatao. Wie sich in der Forschung zeigte, nutzen auch hier Gemeinden staatlich geförderten Ökotourismus dazu, ihre Interessen gegenüber dem Staat sowie anderen Gemeinden zu vertreten. Wie ich aufzeigen werde, spielt dabei eine performative Herstellung von Natur eine wichtige Rolle, beispielsweise von Naturschutzpraktiken und spirituellen Naturkonzepten. Sie wirkt sich entscheidend auf die sozialen Beziehungen in der Gemeinde aus, die immer geschlechtsspezifisch zu verstehen sind.

1.3 GEMEINDEBASIERTER ÖKOTOURISMUS UND GENDER Die ethnologische Literatur zu gemeindebasiertem Ökotourismus behandelt häufig die Veränderungen der lokalen Gemeinschaften. Dabei wurde vielfach herausgestellt, dass das idealisierende Bild von Community-based Tourism (CBT) – gemäß dem Gemeinden als homogene Gemeinschaftsform, die durch ein harmonisches Zusammenleben gleichberechtigter Mitglieder bestimmt sei – nicht mit der Heterogenität und den internen Machtverhältnissen von Gemeinden bzw. Gemeinschaften übereinstimmt (Baptista 2014; Salazar 2012, S. 12). Dies betrifft auch die Geschlechterverhältnisse, die durch den Ökotourismus – und vor allem durch die darin praktizierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – verändert werden. Die kritische, gendersensible Umweltforschung behandelt vor allem die Themen Ressourcenkonflikte (Rocheleau et al. 2006) und gemeindebasierten Naturschutz (Agrawal und Gibson 2001), nur wenige Werke hingegen Ökotou-

13 Erazo kritisiert zu Recht, dass häufig Konzepte von Ortsbezogenheit und TEK (traditional ecological knowledge) dafür verwendet werden, um Orte und Territorien als autonome Einheiten zu beschreiben, und dass die transnationalen Prozesse, die diese im Verlauf der Geschichte erschaffen haben, nicht thematisiert werden (Erazo 2013, S. 16). Diese Darstellungsweisen werden auch von indigenen AkteurInnen angeeignet und angewandt.

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rismus.14 In der Literatur zu Ökotourismus betrachten einzelne Forschungen das Thema in Bezug auf Gender, beispielsweise Pierre Walter (Walter 2011), Regina Scheyvens (Scheyvens 2007, 2000) oder Margret und Melissa Swain (Swain und Swain 2004; Dilly 2003). Die AutorInnen bemerken eine „general gender blindness“ (Walter 2011, S. 159) beim formulierten Nachhaltigkeitsanspruch des Konzepts Ökotourismus, der die Arbeitsteilung, die Geschlechterbeziehungen sowie den ungleichen Zugang zu natürlichen und soziokulturellen Ressourcen zumeist nicht berücksichtigt. Daraus folgt, dass sich häufig die bereits bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht verringern, sondern sogar noch verstärken und sich der Arbeitsaufwand für Frauen erhöht (Walter 2011; Gentry 2007; Scheyvens 2007, S. 193).15 Trotz der Partizipation von Frauen sind diese weder gleichermaßen an der Planung und Entwicklung noch an der Gewinnverteilung oder an Entscheidungsprozessen beteiligt (Scheyvens 2007, S. 188). Jedoch weisen Studien (wie die von Armanda Stronza) nach, dass durch die Partizipation von Frauen deren Mitbestimmungsrechte und Integration in Gemeinde- und Haushaltsangelegenheiten gestärkt werden können (Stronza 2005, S. 185). Diese Prozesse sind jedoch nicht konfliktfrei, da nicht alle Haushalts- oder Gemeindemitglieder diese emanzipatorischen Entwicklungen begrüßen.16 Finanzielle Einnahmen, die Frauen im Ökotourismus erwirtschaften, bedeuten auch nicht automatisch eine Zunahme an (politischer) Partizipation für die Frauen. Sie können sogar das Gegenteil bewirken, beispielsweise wenn die Frauen ihre Einnahmen oder Gewinne an die männlichen Haushaltsvorstände (jefes de familia) abgeben müssen. Auch werden die gemeindebasierten Investitionen, die durch den Ökotourismus übernommen werden, in erster Linie durch

14 Geschlechterspezifische Forschungen in Mexiko behandeln Themen kultureller und biologischer Diversität (Kothari 2003), agrobiologischer Diversität (Greenberg 2003), der Ethnobotanik (Anderson 2010) sowie kulturelle Adaptionsweisen an eine – vor allem im Zuge des Klimawandels – veränderte Umwelt (Hackfort 2015; Büchler und Zapata Martelo 2009; Donato et al. 2008). 15 Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede Ökotourismus mit sich bringt, wird sonst nur am Rande angesprochen, beispielsweise in den Arbeiten von Avila Foucat zu Ökotourismus im Küstenort Ventanilla in Oaxaca (2002) sowie in Sammelbänden zum gemeindebasierten Ökotourismus von Martha Honey (2008), Armanda Strona und William Durham (2008) sowie Heather Zeppel (2006). 16 Die durch diese Prozesse bedingten lokalspezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen werden in der Literatur zu Mexiko und Guatemala umfassend behandelt (Mexiko: Pereiro Pérez 2015, 2013; Stephen 2005, 1993; Nash 1993; Guatemala: Little 2005, 2003).

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die männlichen Repräsentanten in der Gemeindevollversammlung (asamblea) beschlossen. Die Forschungsergebnisse zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Ökotourismus zeigen, dass westliche Konzepte wie Empowerment17 zu kurz greifen, um die soziokulturellen Dynamiken angemessen zu verstehen. Hinzu kommt, dass diese Studien den Fokus allein auf die Frauen legen (Prichard 2004). In der vorliegenden Studie werden hingegen beide Geschlechter in den Blick genommen und (über die Arbeitsteilung hinaus) die Symbolisierung von umweltbezogenen Praktiken und Rollenzuweisungen untersucht. Besonders berücksichtigt werden die ästhetischen und moralischen Vorstellungen, die Gemeindemitglieder über den Umgang mit der Natur und die damit zusammenhängenden Zuständigkeiten entwickeln. Dabei zeigt sich, dass sich die sozialen Zuweisungen von umweltbezogenen Praktiken nicht nur zwischen Frauen und Männern unterscheiden, sondern auch dazu verwendet werden, Differenzen innerhalb dieser Gruppen herzustellen. Dies knüpft an die Forschungen von Tazim Jamal und Amanda Stronza an, die feststellen, dass Ökotourismus nicht nur die Mensch-Umwelt-Beziehungen verändert, sondern darüber hinaus soziale Beziehungen auf neue Art und Weise organsiert (Jamal und Stronza 2008, S. 324). In anderen Studien wurden die sozial perzipierten Veränderungen aus der emischen Perspektive dargestellt (Hunt und Stronza 2011; Stronza und Gordillo 2008) sowie die Auswirkungen von Ökotourismus auf Ethnizitäts- bzw. Indigenitätskonstruktionen (Stronza 2008) in den Mittelpunkt gerückt. Diese Forschungen erweitert das vorliegende Buch durch seinen Fokus auf die Neuverhandlung von Zugehörigkeit im Kontext der Migration. Das Konzept von Zugehörigkeit ermöglicht es – im Gegensatz zur Kategorie der formalen Gemeindemitgliedschaft (die viele, auch in der Gemeinde lebende, Mitglieder nicht innehaben) –, die emotional empfundene Zugehörigkeit darzustellen und die Praktiken zu fokussieren, durch die sie zum Ausdruck gebracht, zu- oder abgesprochen wird (Dürr 2011, S. 238). Wie im Folgenden aufgezeigt wird, spielt dabei in Lachatao die Natur eine entscheidende Rolle.

17 Zur Diskussion über Empowerment als analytisches Konzept für die Bewertung von Ökotourismus, auch in geschlechtsspezifischer Hinsicht, siehe Pierre Walter (2011, S. 164–166) sowie Regina Scheyvens (1999).

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1.4 „RÜCKKEHR ZUR NATUR“: NATUREN ALS TRANSFORMATIONSPROZESSE VON GEMEINSCHAFT, ZUGEHÖRIGKEIT UND TERRITORIUM Die zentrale Bedeutung von Natur in ökotouristischen Identitätspolitiken verdeutlicht sich in dem Solgan „Rückkehr zur Natur“, der in einer der Werbebroschüren Lachataos zu finden ist. Er dient nicht nur als Motto für die TouristInnen, sondern vor allem als Leitlinie der Gemeindemitglieder und, wie im Fall der Fotografin Tía Magali, zu einer Rückkehr in das Dorf. Die Heimkehr wird durch die ökotouristischen Prozesse somit auch zu einer „Rückkehr zur Natur“. Das mit dem Begriff Natur (naturaleza) verbundene Bedeutungsfeld ist extrem vielseitig. In dieser Arbeit wird er äquivalent zum Begriff Umwelt (el medio ambiente) zur Bezeichnung der physischen Umwelt verwendet, auch wenn diese, wie noch aufgezeigt wird, keinesfalls von der sozialen Umwelt zu trennen ist. Implizit ist dem Begriff von Natur in diesem Kontext häufig die Anlehnung an touristische Konzepte einer romantischen Natur im Sinne der Natur-Kultur-Dichotomie. Um die Veränderungen lokaler Naturbeziehungen nachvollziehbar zu machen, wird in der vorliegenden Studie der konzeptuelle Ansatz von Naturen entwickelt. Der Ansatz dient dazu, die Trennung zwischen dem physischen Naturraum und den ihm zugewiesenen kulturellen Bedeutungen aufzuheben und – durch die Fokussierung auf Praktiken und Performanzen – die wechselseitigen Wirkungszusammenhänge darzustellen. Indem die performative Herstellung der Naturen fokussiert wird, ist es möglich, die verschiedenen auf die Natur bezogenen Bedeutungs- und Praxissysteme sowie die damit verbundenen Normen räumlich und sozial beschreibbar zu machen. Die Naturen, die wegen der Differenzierung lokaler Naturbeziehungen also im Plural stehen, sind an verschiedene physische Räume gebunden und mit touristischen Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit verbunden. Aufgrund der Dateninterpretation habe ich für die weitere Analyse drei Naturen differenziert: erstens eine „unberührte schützenswerte Natur“ (éste es un área virgen); zweitens eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen); sowie drittens die „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural). Diese drei Naturen sind in Bezug sowohl auf den Raum als auch auf die Praktiken oder Bedeutungen als eine Art Ordnungssystem zu verstehen, das durch performative Handlungen von verschiedenen Personen immer wieder neu hergestellt wird. Im Zusammenhang damit stehen umweltbezogene Normen, die im Ökotourismus mit einer ästhetischen Gestaltung von Natur in Verbindung stehen und mit dem theoretischen Ansatz des ro-

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mantic tourist gaze von John Urry erfasst werden können (Larsen 2014; Urry 1992). Diese Studie greift diesen Ansatz auf, fokussiert aber auf die angeeignete Form des tourist gaze, wie Gemeindemitglieder touristische Vorstellungen und Betrachtungen von Natur übernehmen und mit lokalen Konzepten verbinden. Wie die vorangestellte Fotografie von Tía Magali verdeutlicht, stehen dabei die lokale Perzeption der Gemeindemitglieder und ihre Aneignung touristischer Vorstellungen und Praktiken (wie auch das Fotografieren selbst) im Mittelpunkt. Die Gliederung dieses Buches spiegelt den Forschungsprozess wider. Zunächst wird der/die LeserIn in den Kontext der Feldforschung, die Region der Sierra Juárez eingeführt. Nur durch das Wissen über die (Umwelt-)Geschichte der Region im Kontext der bundesstaatlichen und nationalen Politik Mexikos ist es möglich, die gegenwärtigen Entwicklungen hin zu „Pionieren im Umweltschutz“ und zur internationalen Bekanntheit der Gemeinden im Ökotourismus zu verstehen (Kapitel 2). Daran anschließend wird Ökotourismus als theoretisches Konzept erläutert und in seiner lokalen Konzeption als staatlich initiierte Strukturentwicklungsmaßnahme in indigenen Regionen vorgestellt. Wie diese staatlichen Initiativen von lokalen AkteurInnen im Rahmen von internationalen Debatten zu indigenem Ökotourismus perzipiert und diskutiert werden, zeigen erste Einblicke in die lokalen Diskussionen um Ökotourismus. Im Zuge dieser Debatten werden das Konzept des Ökotourismus lokal erweitert und gewisse Vereinbarungen zur lokalen Umsetzung getroffen. Dennoch sind die Auswirkungen von Ökotourismusprojekten in der Sierra Juárez extrem unterschiedlich, wie weiter aufgezeigt wird. Dies wird am Ökotourismusprojekt der Feldforschungsgemeinde Santa Catarina Lachatao verdeutlicht, die in ihrem verwaltungspolitischen Kontext der Pueblos Mancomunados situiert wird (Kapitel 3). Nach dieser Einführung in den regionalen Kontext und das Thema Ökotourismus folgt die Darstellung der Forschung. Angefangen mit dem Zugang zum Feld und den Besonderheiten einer ethnologischen Forschung in einer ökotouristischen Gemeinde werden die angewandten Methoden dargestellt. Dabei wird ein selbstreflexiver Blick auf meine Rolle in der Gemeinde sowie auf die Mitkonstitution des Forschungsgegenstands und die Ergebnisse dieser Arbeit geworfen, die besonders am Beispiel des Fotoprojekts diskutiert werden (Kapitel 4). Dies führt zur Darstellung der zentralen Ergebnisse zu den auf die Natur bezogenen Transformationsprozesse sowie ihrer soziokulturellen Auswirkungen. Um diese Prozesse darzustellen, wird der konzeptuelle Ansatz der Naturen entwickelt, der anschließend mit den empirischen Ergebnissen in Verbindung gesetzt wird bzw. diese systematisiert und analysiert (Kapitel 5). Anhand der drei Naturen ergibt sich die Binnengliederung dieses Kapitels in eine „unberühr-

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te schützenswerte Natur“ (éste es un área virgen), eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen) sowie die „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural). Daran anknüpfend werden die soziokulturellen und politischen Dynamiken fokussiert, die mit der Herstellung dieser Naturen einhergehen (Kapitel 6). Hier wird deutlich, wie untrennbar die auf die Natur bezogenen Prozesse mit sozialen Prozessen und der Verhandlung von Machtverhältnissen verwoben sind. Die Naturen dienen hier zur Neuverhandlung der Gemeinschaft sowie des Territoriums. Um dies beschreibbar zu machen, wird der konzeptuelle Ansatz der Naturen mit dem Konzept von Zugehörigkeit (belonging) und der lokalen Gemeindeorganisation verbunden. Zugehörigkeit wird auch durch kulturelle Repräsentationen hergestellt, die in Lachatao besonders auf die Natur bezogen sind, Frauen und Männer unterschiedlich betreffen und von ihnen zur Positionierung verwendet werden. Diese Dynamiken führen zu einer Transformation – nicht nur der Gemeinschaft und von deren internen Beziehungen zwischen Stadt und Land, sondern darüber hinaus auch der sozialen Organisationsformen und Institutionen innerhalb der Gemeinde. Diese stehen in engem Zusammenhang mit dem Territorium und führen schließlich dazu, dass dieses durch die Naturen neu formiert und in Besitz genommen wird. Abschließend werde ich die daraus gewonnenen Ergebnisse zusammenführen und darlegen, dass Ökotourismus als staatliches Konzept eine lokale Wirkmacht entfaltet, die weit weniger mit Ökologie und Tourismus zu tun hat als vielmehr mit lokalen Differenzierungen: der Naturbeziehungen, der Gemeinschaft und von deren Gemeindeinstitutionen. Hand in Hand mit der Ausdifferenzierung der Naturbeziehungen verändern sich die soziale Zugehörigkeit und Zusammensetzung der Gemeinde sowie die Institutionen der Gemeindeverwaltung im Kontext der Migration. Die Sozialstruktur der Gemeinde wird heterogener, die sozialen Beziehungen und gemeindeinternen Organisationsformen differenzieren sich stärker aus. Es zeigt sich, dass lokale AkteurInnen das globale Konzept Ökotourismus für ihre spezifisch lokalen Belange benutzen, insbesondere dafür, die Zugehörigkeit zur Gemeinde neu auszuhandeln und das Territorium zu kontrollieren (Kapitel 7).

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La Sierra Juárez – Pioniere im Umweltschutz

A la Conquista de la Sierra1 – so lautet der offizielle Werbeslogan der mexikanischen Behörde für indigene Angelegenheiten (CDI, Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas), die den Ökotourismus in der Sierra Juárez im Bundesstaat Oaxaca propagiert (CDI 2010). Dies knüpft unverkennbar an die koloniale Imagination von ursprünglichen, unberührten Naturlandschaften und deren BewohnerInnen an, die es „touristisch“ zu entdecken und zu erobern gilt. Veranschaulicht wird dieser Entdeckungsmythos auf dem dazugehörigen Plakat durch den weiten Blick über die bewaldete Gebirgsregion (siehe Abbildung 1). Die Gemeinden der Sierra Juárez sind in der Region sowie international für ihr besonderes Umweltbewusstsein, die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder sowie den Ökotourismus bekannt. Neben der „intakten“ Natur werden die Gemeinden durch ihre soziale Organisation und ihre Wirtschaftsweisen als harmonisch und „ursprünglich“ charakterisiert. Sie bieten dadurch ein Gegenbild, das sich massiv von anderen ländlichen Regionen Oaxacas und Mexikos unterscheidet, die von Umweltzerstörung, Armut und sozialen Konflikten geprägt sind. Um diese Entwicklung nachvollziehen zu können, wird im folgenden Unterkapitel (2.1) zunächst die naturräumliche und kulturelle Diversität des Bundesstaats Oaxaca dargestellt. Dass gerade die Gemeinden der Sierra Juárez als Pioniere des Umweltschutzes gelten, lässt sich nur durch die besonderen geschichtlichen Entwicklungen in der Region verstehen.

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„Auf zur Eroberung der Sierra“.

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Abbildung 2: „Auf zur Eroberung der Sierra“

Quelle: Werbeplakat des CDI Oaxaca, 2014

Die Sierra Juárez ist, im Vergleich zu anderen Regionen, einerseits durch einen relativ geringen kolonialen Einfluss geprägt, andererseits jedoch durch enge Kontakte zu staatlichen Institutionen gekennzeichnet. Die Aufrechterhaltung und Ausdifferenzierung lokaler Strukturen durch eine ausgeprägte politische Allianzbildung bedingt die Entwicklung verhältnismäßig einflussreicher Gemeinden und einer spezifischen forest culture. Diese Entwicklungen werden in Kapitel 2.2 in einem geschichtlichen Abriss über die wichtigsten politischen, sozialen und ökonomischen Einflussfaktoren sowie die involvierten Beteiligten dargestellt: von der Kolonialzeit (2.2.1) über die Modernisierung und die Hochphase der Minentätigkeit (2.2.2) bis hin zur kommerziellen Forstwirtschaft und Entwicklung einer spezifischen forest culture (2.2.3). Die lokale forest culture und die besondere Biodiversität der Gebirgsregion führen dazu, dass hier ökologische Diskurse, Umweltschutz und nachhaltige Wirtschaftsweisen von besonderer

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Bedeutung sind und von lokalen Gemeinden propagiert werden. Führende Gemeinden der Sierra Juárez sind daher weit über die Region hinaus für Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften bekannt geworden (2.3). Sie entwickelten ein kulturelles Selbstverständnis, das in besonderer Weise mit gemeindebasierten Umweltschutzpraktiken verbunden wird (2.3.1). Die „indigene“ Naturbeziehung verwenden führenden Gemeinden der Region identitätspolitisch dafür, soziopolitische Allianzen zu schließen und sich gegen staatliche und internationale Interessen und Interventionen zur Wehr zu setzen. Ihre politische Handlungsfähigkeit zeigt sich klar am Beispiel der Minenproteste in der Region (2.3.3).

2.1 OAXACA: LO TIENE TODO 2 2.1.1 Naturräumliche Biodiversität „Oaxaca ist wie ein quesillo“3 – so erklärten mir häufig Oaxaqueños die soziopolitische Situation Oaxacas durch die Metapher des typisch oaxaqueñischen (allerdings in Puebla hergestellten) Käses. Der Käse besteht aus einem unentwirrbar erscheinenden Knäuel verschiedener Stränge, die ineinander verwickelt sind. Die Metapher des quesillo veranschaulicht die soziokulturelle und politische Heterogenität der Bevölkerung, die zu einer (auch für die beteiligten Personen) häufig undurchschaubaren Komplexität wechselnder strategischer Allianzen und konfliktiver Fragmentierungen führt. Diese Komplexität spiegelt sich auch in der Diversität der Naturräume wider, die durch unterschiedlichste Vegetations- und Klimazonen auf engem Raum gekennzeichnet sind. Der Staat Oaxaca, einer der südlichen Bundesstaaten Mexikos, bedeckt eine Fläche von 95.364 km². Er bedeckt nur ca. 4,8 Prozent des mexikanischen Staatsgebiets, was aber mehr als einem Viertel der Fläche Deutschlands (357.022 km²) entspricht. Oaxaca grenzt im Norden an die Bundesstaaten Puebla und Guerrero, im Osten an Veracruz, im Südosten an den südlichsten Bundesstaat Chiapas und wird im Süden durch ca. 600 km Küstenlinie begrenzt. Der allergrößte Teil des Staates besteht aus Gebirgsregionen: der Sierra Madre Oriental (im Osten), der Sierra Madre del Sur (im Süden) und der Sierra Atravesada. Die Gebirge weisen Höhen von bis zu 3.750 m auf, mit dem höchsten Berg Cerro Nube, Quie Yelaag auf Zapotekisch, in der Sierra Madre del Sur. Aufgrund der vielgestaltigen

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„Oaxaca hat alles“.

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„Oaxaca es como el quesillo“.

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Geografie und der großen Höhenunterschiede umfasst Oaxaca unterschiedliche Klima- und Vegetationszonen, die von gemäßigten Pinienwäldern über Nebelwälder (bosque mesófilo) und wüstenartige Hochebenen mit Kakteengewächsen bis hin zu tropischen Küstenwäldern in den tiefer gelegenen Regionen des größten Flusses Oaxacas, dem Papaloapan, und zur Pazifikküste reichen. Oaxaca gilt deswegen als der artenreichste Staat Mexikos und wird als Beispiel par excellence für die Vielfalt der Natur- und Kulturräume Mexikos herangezogen. Der Staat wurde weltweit als eine der 16 Regionen mit der höchsten Biodiversität (Megadiversität) ausgezeichnet (Ramales Osorio und Portillo Martín 2010, S. 1).4 Abbildung 3: Ökosysteme des Bundesstaats Oaxaca

Quelle: Eigene Darstellung

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Laut WWF (Worldwide Fund for Nature) ist Oaxaca die Region Mexikos mit der höchsten Biodiversität und beheimatet fast die Hälfte aller Pflanzenarten und Vegetationstypen sowie 40 Prozent aller Säugetiere, 63 Prozent der Vogelarten, 26 Prozent der Reptilien sowie 23 Prozent aller Süßwasserfische ganz Mexikos (Oviedo 2002, S. 9). Der Staat Oaxaca integriert dies in seine Repräsentationspolitk und feiert seit 2003 immer am 22. Juni den „staatlichen Tag des Naturreichtums in Oaxaca“ (Día Estatal de la Riqueza Natural de Oaxaca), um den Schutz der Biodiversität zu propagieren (vgl. Vélez Ascencio 2015b).

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Nicht nur deswegen, sondern auch wegen seiner kulturellen Diversität und der von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärten Kolonialstadt Oaxaca ist der Bundesstaat ein Tourismusmagnet. Im Norden der ca. 255.000 Einwohner zählenden Hauptstadt liegt das Gebirge der Sierra Juárez 5, die Teil der Sierra Madre Oriental ist. Sie ist wegen ihrer ungewöhnlich hohen Biodiversität auf sehr geringem Raum als einer der 17 globalen Biodiversitäts-Hotspots (Conservation International 2017) klassifziert und vom WWF als Nummer 101 der 200 ecoregions der Welt ausgezeichnet (Ramales Osorio und Portillo Martín 2010, S. 2; Oviedo 2002; Bray 1991, S. 14). Die außergewöhnliche Biodiversität und die Vielzahl an Ökosystemen der Sierra Juárez resultieren aus der komplexen Geografie der Gebirgsregion, die sich von 1.600 bis 3.210 m (höchste Erhebung ist der Cerro Pelón) erstreckt und durch tief eingeschnittene Täler sowie diverse Gebirgszüge und Mikroklimata geprägt ist. Die Vegetation besteht aus weitläufigen Waldgebieten, die ungefähr eine Fläche von ca. 200.000 ha bedecken (etwas kleiner als das Saarland). Sie bestehen aus tropischen Regenwäldern in den tiefer gelegenen Gebieten, Pinien- und Eichenwäldern in den gemäßigten Zonen sowie Nebelwäldern in den höheren Lagen, die eine große Diversität endemischer Flora und Fauna sowie viele bedrohte Spezies aufweisen. 2.1.2 Soziokulturelle Diversität Unter den Bundesstaaten Mexikos ist Oaxaca einer der ärmsten und verzeichnet den höchsten indigenen Bevölkerungsanteil. Er ist ländlich geprägt, größtenteils auf Subsistenzlandwirtschaft ausgerichtet und kaum industrialisiert. Eine Besonderheit stellt dar, dass sich ländliche Gemeinden über die Kolonialzeit hinweg eigene Ländereien zur Subistenzwirtschaft sichern konnten, was vor allem der gebirgigen Geomorphologie zu verdanken ist, welche eine großräumige Plantagenwirtschaft und damit verbundene Enteignungen größtenteils verhindert hat. Dies hatte zur Folge, dass bis heute die Mehrheit der Bevölkerung kleinteilige Subsistenzlandwirtschaft auf kommunalen Ländereien betreibt bzw. in informellen Beschäftigungsverhältnissen arbeitet.

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Die Sierra Juárez ist ungefähr 300 km lang und 75 km breit und weist eine durchschnittliche Höhe von ca. 3.000 m auf (Bray 1991, S. 14).

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Abbildung 4: Ethnolinguistische Gruppen und municipios in Oaxaca

Quelle: INAH Oaxaca, 2002 (Barabas et al. 2010, S. 22)

Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen gehören der Tourismus, der sich jedoch auf wenige Ballungzentren wie die Stadt Oaxaca und die Pazifikküste konzentriert. In den ländlichen Gebieten setzt sich das Einkommen vor allem aus staatlichen Transferleistungen sowie den Rücküberweisungen (remesas) von migrierten Verwandten zusammen, was in vielen Fällen die Haupteinnahmequelle von Haushalten in Oaxaca ist (CONEVAL 2011, S. 123). Im ersten Halbjahr 2016 wurden 685.800.00 USD nach Oaxaca überwiesen, was bedeutet, dass jeder neunzehnte Dollar, der von den USA nach Mexiko gesendet wurde, von einem oaxaqueñischen municipio oder Haushalt empfangen wurde (Silva 2016).6 Damit gehört Oaxaca in Mexiko zu den Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil an Rücküberweisungen, die im Jahr 2015 7,4 Prozent des gesam-

6

Insgesamt wurden 2016 25 Milliarden USD von den USA nach Mexiko überwiesen (Romans und Gillespie 2016).

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ten Bruttoinlandprodukts ausmachten.7 Das hängt damit zusammen, dass Oaxaca seit langem eine sehr hohe Emigrationsrate aufweist. In der Sierra Juárez lässt sich schon seit den 1930er Jahren eine hohe Abwanderung in die Stadt Oaxaca, auf die Zuckerrohrfelder in Veracruz und nach Mexiko-Stadt verzeichnen (Fox und Rivera-Salgado 2004a, S. 9). Die Migration in die USA begann ab den 1940er Jahren und wurde durch bilaterale Gastarbeiterabkommen, u.a. dem Bracero-Programm (1942–1964), extrem angekurbelt.8 Daran nahmen besonders viele ZapotekInnen und MixtekInnen aus Oaxaca sowie P’urépechas aus Michoacán teil. In den Anfängen war die Migration zumeist zirkulär: Viele Arbeitskräfte arbeiteten nur für einen bestimmten Zeitraum zumeist als Erntehelfer in Baja California und in den USA. Der Hauptmigrationsstrom erfolgte bis in die 1980er Jahre vor allem in die großen Städte und Ballungszentren Mexikos sowie in das nördliche Kalifornien, nach Oregon und Washington (Fox und Rivera-Salgado 2004a, S. 9). Erst durch die zunehmende Kriminalisierung und die hohen Kosten und Gefahren der Grenzüberschreitungen ist die zirkuläre Migration rückläufig geworden, und viele MexikanerInnen bleiben nun dauerhaft in den USA.9 Die zapotekischen MigrantInnengruppen in den USA sind seit den 1970er Jahren gut organisiert und stehen in engem Kontakt zu den Herkunftgemeinden. So entwickelte sich ein transkultureller Raum, der als „Oaxacalifornia“ bezeichnet wird und in der Organisation Frente Indígena Oaxaqueño Binactional (FIOB) zusammengeschlossen ist (Domínguez Santos 2004; Fox und RiveraSalgado 2004b). Die Dörfer in Oaxaca sind somit als deterritorialisiert und transnational zu verstehen, da die migrierten Gemeindemitglieder (die auch in den mexikanischen Großstädten gut organisiert sind) einen erheblichen Einfluss ausüben. Sie spielen eine entscheidende Rolle für die Ökonomie, die Verwaltung

7

Damit steht Oaxaca nach Michoacán mit 9,9 Prozent und Guerrero mit 7,8 Prozent an dritter Stelle im nationalen Vergleich. Die jährlichen Statistiken des Bevölkerungsministeriums über Migration und Rücküberweisungen geben an, dass im Jahr 2015 2,3 Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts Mexikos durch Rücküberweisungen erzeugt wurden (Citlalli 2017).

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Das Bracero-Programm wurde 1942 aufgrund der gestiegenen Nachfrage nach Arbeitskräften in den USA durch den Zweiten Weltkrieg aufgelegt, in dem bis 1964 über 4,5 Millionen mexikanische Arbeitskräfte zeitlich befristet im Billiglohnsektor angestellt wurden, insbesondere in der wenig qualifizierten Saisonarbeit, beispielsweise als Erntehelfer (Bundeszentrale für politische Bildung 2008).

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Für detaillierte Informationen zur Migration aus Oaxaca und zu den soziokulturellen Auswirkungen auf die Vereinigungen von Migranten in den USA sowie in den Herkunftsgemeinden siehe Kearney und Besserer 2004.

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und die Lokalpolitik der Gemeinden. Die Dorfgemeinschaften verzeichnen somit einen hohen Bevölkerungsrückgang besonders bei jüngeren Menschen. Dadurch ändert sich ihre politische Strukturierung, und teilweise übernehmen auch Frauen politische und religiöse Ämter (Aquino Centeno 2009, S. 37).10 Jedoch steigen durch eine Verschärfung der Einwanderungspolitik und der Kontrollen von „illegalen“ EinwanderInnen in den USA die Zahlen der Personen erheblich, die nach Mexiko zurückkehren. In den letzten sechs Jahren remigrierten ca. 2 Mio. zumeist junge MexikanerInnen zwischen 20 und 34 Jahren, die größtenteils aus Michoacán, Oaxaca, Guerrero und Guanajuato stammten (CONAPO 2016, S. 73). Die zumeist unfreiwillige Rückkehr von jungen, zumeist schlecht ausgebildeten Männern führt zu erheblichen Schwierigkeiten, diese wieder in die mexikanische Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt oder in dörfliche Strukturen einzugliedern. Viele Gemeinden Oaxacas weisen einen geringen „Entwicklungsstand“ auf, der in Mexiko anhand des Marginación Index ermittelt wird. Dieser Marginalisierungsgrad (grado de marginación) wird anhand der Kriterien von Bildung, Wohnraum, Einkommen und Größe der Gemeinde (Zugang zu Infrastruktur, Wasser- und Abwasserversorgung) bemessen (CONAPO 2010). Nach Angaben der Statistikbehörde INEGI (Instituto Nacional de Estadística y Geografía) nimmt Oaxaca bei Alphabetisierung und Bildung (Grund- und weiterführende Schulen), Gesundheitsversorgung sowie fließendem Wasser und Abwassersystemen, Elektrizität und Internet einen der untersten Ränge bzw. den untersten Rang in ganz Mexiko ein (INEGI 2010, S. 50–60). So haben beispielsweise nach wie vor 5,7 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Elektrizität (INEGI 2014, S. 52). Die Sierra Juárez weist im Vergleich zu anderen Regionen Oaxacas einen höheren „Entwicklungsstand“ auf, wobei auch dort die Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinden extrem sind.11 Nicht nur die Lebensbedingungen sind in Oaxaca extrem unterschiedlich, sondern auch die kulturelle Diversität innerhalb der Bevölkerung. Sie ist ein zen-

10 Dies belegt eine Vielzahl an Studien (vgl. Dalton 2012; Pauli 2008; HondagneuSotelo 2006, S. 66; Hirsch 2003, S. 384). 11 Die 67 municipios der Sierra Norte werden gemäß des mexikanischen MarginaciónIndexes aus dem Jahr 2010 ungefähr zu jeweils einem Drittel als sehr stark unterentwickelt (marginación muy alta in 21 municipios), als stark unterentwicklt (marginación alta, 20 municipios) sowie als „mittel“ unterentwickelt (marginación media, 24 municipios) eingestuft, wohingegen beispielsweise weit über die Hälfte der municipios der Sierra Sur als stark unterentwickelt gilt (46 der 70 municipios wurden hier unter marginación muy alta eingeordndet) (DIGEPO 2011).

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trales Charakteristikum des Bundesstaates, was identitätspolitisch in engem Zusammenhang mit dem Tourismus steht. Der Werbeslogan der Tourismusbehörde, Oaxaca lo tiene todo („Oaxaca hat alles“), bezieht sich somit nicht nur auf die Vielzahl der Naturräume, sondern auch auf die Vielfalt der „Kulturen“. Diese wird auf unterschiedliche Weise touristisch inszeniert, wie durch die jährliche Darbietung der Guelaguetza, einem Volksfest in der Stadt Oaxaca, das jährlich Tausende meist inländische TouristInnen anzieht. Die Guelaguetza stellt das wichtigste Kulturereignis Oaxacas dar, zu dessen Anlass Tanzensembles indigener Gruppen aus den acht Regionen Oaxacas folkloristische Tänze darbieten. Über die touristische Bedeutung hinaus spielt dies eine wichtige Rolle für die Integrationspolitik des mexikanischen Staats, die stark lokal ausgerichteten Regionen miteinander zu verbinden und die heterogene Bevölkerung in den Bundesstaat zu integrieren (Kummels und Brust 2004). Oaxaca ist der Bundesstaat mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung, der nach Angaben der statistischen Bundesbehörde Mexikos INEGI in der Zensuserhebung aus dem Jahr 2010 bei 34,2 Prozent lag (1.165.186 SprecherInnen).12 Offiziell werden in Oaxaca Sprachen aus 16 der 62 offiziell anerkannten indigenen linguistischen Sprachgruppen Mexikos13 gesprochen (vgl. Abbildung 4). Zapotekisch14 und Mixtekisch sind dabei die größten Sprachgruppen, mit 362.947 zapotektischen (31 Prozent) und 264.047 mixtektischen SprecherInnen (23 Prozent), wobei statistisch nur Personen über fünf Jahre berücksichtigt werden (INEGI 2014, S. 46). Im Gegensatz zu den USA, wo indigene Gruppen selbst die Kriterien über ihre Zugehörigkeit festlegen, definiert in Mexiko der

12 Die Zensusdaten wurden über die Jahre sehr unregelmäßig erhoben und müssen als unzuverlässig angesehen werden; darauf machen auch Alica Barabas und Miguel Bartolome aufmerksam, zwei in Oaxaca arbeitende EthnologInnen (Barabas und Bartolomé 1999a, S. 11). 13 Die offiziell anerkannten Sprachgruppen in Oaxaca sind amuzgo, cuicateco, chatino, chananteco, chocholteco, chontal, huave, ixcateco, mazateco, mixe, mixteco, náhuatl o mexicano, triqui, zapoteco und zoque sowie einige tzotiles-SprecherInnen in Chimalapas (Barabas und Bartolomé 1999b). 14 Zapotekisch gehört zur Sprachfamilie Otomangue und hat einen außergewöhnlichen Variantenreichtum. Die heutigen vier Sprachfamilien werden gemäß ihren regionalen Vorkommen unterschieden: zapoteco de los Valles Centrales, zapoteco de la Sierra Norte, zapoteco de la Sierra Sur und zapoteco del Istmo. Die Gruppen haben kein gemeinsames Ethnonym, und die jeweilige Sprachbezeichnung der meisten Gruppen wäre am ehesten zu übersetzen als „Menschen des Wortes“ (gente de la palabra) oder „das echte Wort“ (palabra verdadera) (Barabas 1999, S. 59).

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Staat die Kategorie pueblos indígenas. Während früher die staatliche indigene Behörde INI (Instituto Nacional Indigenista) Indigenität nur über die Sprachfertigkeit definierte, berücksichtigt die CDI (Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas) seit 2003 weitere Kriterien wie die Eigenidentifikation der Personen und die usos y costumbres (wörtlich übersetzt die „Sitten und Bräuche“). Indigenität wird in Mexiko also nicht mehr mit der Fähigkeit gleichgesetzt, eine indigene Sprache zu sprechen, da viele sich als indigen identifizierende Personen gar keine indigene Sprache beherrschen; umgekehrt müssen sich SprecherInnen indigener Sprachen nicht notwendigerweise als indigen identifizieren. Gründe dafür sind, dass SprecherInnen der gleichen Sprachgruppe häufig keine gemeinsame kulturelle Identität aufweisen und die Sprachgruppen räumlich sehr weit verteilt sein können (Dürr 2005, S. 99). Die Zahlen sind demnach als eine Art Orientierung zu verstehen und müssen weder mit der Selbstidentifikation der Personen noch mit der Anerkennung dieses Status durch andere Gruppen übereinstimmen. Die Angabe, dass 45,9 Prozent der EinwohnerInnen Oaxacas in Haushalten leben, in denen die Mutter oder der Vater eine indigene Sprache spricht, veranlasst manche EthnologInnen dazu, davon auszugehen, dass somit die Hälfte der Bevölkerung als indigen zu bezeichnen ist (Barabas und Bartolomé 1990). In ganz Oaxaca finden sich starke Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Sprachgruppen sowie ausgeprägte Hierarchien, die historisch gewachsen sind und in die prähispanische und Kolonialzeit zurückreichen. Sie stehen auch in engem Zusammenhang mit der Landverteilung. In der Sierra Juárez sind die ZapotekInnen nach den ChinantekInnen und Mixe die größten SprecherInnengruppe (Barabas 1999, S. 81). Die verschiedenen Sprachgruppen sind in sich sehr heterogen, und selbst die SprecherInnen benachbarter Gemeinden, die derselben Sprache zugehörig sind, können sich häufig nicht in dieser verständigen (Clarke 2000, S. 161). Die ZapotekInnen der Sierra Juárez sprechen eine eigene Sprache des Zapotekischen (Zapoteco de la Sierra Juárez/Norte)15 und identifizieren sich im Gegensatz zu den ZapotekInnen der Valles Centrales und der Sierra Sur sowie dem Zapotektisch des Isthmus als Los Serranos („aus den Bergen stammend“). Die ZapotekInnen haben als solche

15 Die Sprachgruppe Zapotekisch weist unterschiedliche Sprachen auf, die sich untereinander nicht verständlich sind, und wird weiter in das Zapotekisch der Sierra Juárez/ Sierra Norte, das Zapotekisch der Sierra Sur, das Zapotekisch der Valle Centrales sowie das Zapotekisch des Isthmus unterteilt (SIL International).

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gegenwärtig keine überregionale gemeinsame Identität (Barabas 1999, S. 60).16 Die Abgrenzung als Zapotecos Serranos gegenüber den Zapotecos de los Valles geht bis in die präkoloniale Zeit zurück (Chance 1989, S. 10). Auch das heute von Serranos bewohnte Gebiet der Sierra Juárez ist im Wesentlichen mit jenem vor der Kolonialzeit identisch (Barabas 1999, S. 81). Die regionale Identität als Zapotecos Serranos wird heute weniger über die Sprache formuliert (da viele keine Sprachkenntnisse mehr besitzen), sondern durch das Territorium, spezifische kulturelle Charakteristika und die gemeinsame Deszendenz definiert. Eine wichtige Identifikationsfigur für die Region ist Benito Juárez 17 (1806–1872), Zapoteke aus Guelatao und erster und bislang einziger indigener Präsident Mexikos (1858–1872). Das entscheidende Identitätskriterium konstituiert sich jedoch in erster Linie über die jeweilige Gemeinde (Barabas 1999, S. 60). Dies hängt mit der geografischen Unzugänglichkeit der Gebirgsregion sowie der historisch gewachsenen politischen Fragmentierung zusammen, die mit der Metapher des quesillo beschrieben wird. Die große soziokulturelle Diversität der Bevölkerung hat sich auch durch die kolonialstaatliche Politik des encapsulamiento comunitario („gemeinschaftliche Einkapselung“) verstärkt, welches eine Kommunikation unter den Gemeinden weitestgehend verhinderte. Die Beziehungen zwischen Gemeinden sind häufig unfreundlich, wenn nicht sogar feindlich, und führen nicht selten zu gewaltsamen Konflikten (Greenberg 1989). Dies liegt vielfach in territorialen Grenzstreitigkeiten zwischen den Gemeinden begründet, die sich häufig bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lassen (Dennis 1987). Derzeit werden für den gesamten Staat Oaxaca mehrere hundert Agrarkonflikte verzeichnet, die sich auf verschiedene Gebietsansprüche berufen (Ignacio 2017; Arellanas Meixueiro 2012). Die durch die territorialen und historischen Besonderheiten weitgehende Erhaltung der kommunalen Subsistenzwirtschaft und Parzellierung der Ländereien hat zu einer politischen Heterogenität des Bundesstaats geführt, die sich in der Verwaltungsstruktur von 570 municipios widerspiegelt (vgl. Abbildung 4; vgl. Clarke

16 Es gab einige Versuche, eine überregionale Identitätsbewegung als ZapotekInnen zu entwickleln, beispielsweise das Treffen des „Encuentro de Pueblos Zapotecos“ in Tlacochahuaya im Oktober 1997 (Barabas 1999, S. 61). 17 Benito Juárez war Verfassungsrichter und Präsident Mexikos zwischen 1858 und 1872. Er war ein liberaler Reformer, und seine Gesetzesänderungen waren ein zentraler Streitpunkt zwischen Liberalen und Konservativen, die in dem Bürgerkrieg (guerra de reforma) von 1857 bis 1861 ausgefochten wurden.

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2000). Diese stellen ein Drittel aller municipios Mexikos dar, was die Zergliederung und Komplexität der politischen Verwaltung in Oaxaca verdeutlicht.18 Mehr als 70 Prozent der municipios in Oaxaca haben seit den Verfassungsreformen von 1995 die Verwaltung nach Gewohnheitsrecht (usos y costumbres)19 gewählt, was zumindest theoretisch den Ausschluss der Parteien von Gemeindewahlen beinhaltet (Anaya-Muñoz 2005, S. 231, 585). Dies bedeutet, jedenfalls de jure, die politische Selbstverwaltung indigener Gemeinschaften unter Gewohnheitsrecht, umfassende Selbstbestimmungsrechte sowie eine partielle Kontrolle über die natürlichen Ressourcen und eine Mitentscheidung über Entwicklungsprogramme (Hausotter 2010; Anaya-Muñoz 2005, S. 232). Die Autonomie über den Landbesitz und die Art des Wirtschaftens wird jedoch durch andere nationalstaatliche und staatliche Gesetze und Eingriffe de facto eingeschränkt. Daran zeigen sich die Widersprüche des staatlichen Diskurses, der zwar die kulturelle Differenz der Bevölkerung per Verfassung anerkannt, aber nicht deren Rechte über grundlegende Ressourcen in ökonomischen und politischen Prozessen verteidigt, sondern sogar unterminiert (Aquino Centeno 2010). Analysen von Menschenrechtsorganisationen lassen keinen Zweifel daran, in welch geringem Maße die Regierung für die Einhaltung der Rechte eintritt, sondern diese sogar offensiv verletzt. Dazu gehört neben der Missachtung der Gesetze und der verbreiteten Korruption auch die Gewaltanwendung gegenüber sozialen Bewegungen seit den 1970er/80er Jahren (Eisenstadt 2007, S. 54). Die Verwaltung nach den usos y costumbres in Oaxaca geht auf die Verfassungsänderungen des mexikanischen Staats zurück, der 1990 als einer der ersten die „Rechte indigener Völker“ des Artikels 169 der ILO (International Labour Organisation) unterzeichnete. Seit 1992 werden die mexikanische Nation als plurikulturell definiert und der Schutz indigener Völker (Sprachen, Bräuche, Ressourcen, soziale Organisation u.a.) rechtlich gewährleistet (Castellanos Guerrero et al. 2007, S. 315–

18 Derzeit werden die 31 Bundesstaaten Mexikos in insgesamt 2.445 municipios untergliedert. 19 Die politische Verwaltung und Wahl nach den usos y costumbres unterscheidet sich (trotz großer Unterschiede zwischen den municipios) vom nationalen, parteienbasierten Modell – durch eine offene Wahl der politischen Repräsentanten und dadurch, dass die höchste politische Autorität die Gemeindevollversammlung (asamblea) ist. Die politische Organisation beruht auf den Prinzipien des Konsenses, kollektiver Gemeindearbeit (tequio) und der Abwesenheit politischer Parteien. Das System wird aufgrund der Exklusion von Frauen und von Minoritäten von den Wahlprozessen kritisiert (Anaya-Muñoz 2004, S. 419).

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316).20 Damit wurde ein Paradigmenwechsel eingeläutet, der die Plurikulturalität lateinamerikanischer Staaten positiv bewertet. Die kulturelle Vielfalt wurde bis in die 1980er Jahre als Problem der Nationalstaatenbildung angesehen, dem durch eine Assimilationspolitik der Mestizaje21 Abhilfe geboten werden sollte. Die Reformen von 1990 sind nur durch die Allianzenbildung indigener Eliten mit führenden politischen Entscheidungsträgern der PRI (Partido Revolucionario Institucional)22 in Oaxaca zu verstehen. Diese Kooperation seitens der PRI, die über 70 Jahre (von 1929 bis 2000) uneingeschränkte Hegemonie ausübte, mit indigenen Eliten ist als eine neokorporatische Strategie anzusehen, die darauf abzielte, den seit den 1970er Jahren beginnenden Machtverlust der Partei aufzuhalten und der zunehmenden Mobilisierung indigener Bewegungen unter dem Einfluss der Zapatistas23 entgegenzuwirken (Anaya-Muñoz 2004, S. 426–429). Analysen zeigen, dass die Verfassungsreformen als ein dialektischer Prozess zwischen indigenen Agierenden und Regierungseliten anzusehen sind, der Allianzen zwischen beiden Seiten stärkte und von gegenseitigem Interesse war (Anaya-Muñoz 2004, 2005; Sieder 2002). Daran zeigt sich der politische Ein-

20 Die Anerkennung der usos y costumbres geht auf die 1995 und 1997/98 vollzogenen Reformen des Gouverneurs Diódoro Carrasco Altamirano (1992–1998) zurück. Im Zuge dessen wurden die pluriethnische Zusammensetzung des Bundesstaates, traditionelle Verwaltungs- und Rechtsprechungssysteme, die unbezahlte Gemeindearbeit (tequio) sowie die usos y costumbres als elektorale Praktiken für Gemeinden (comunidades) und Landkreise (municipios) anerkannt (Anaya-Muñoz 2005). 21 Mestizaje bezeichnet den Prozess der Vermischung der indigenen (damals als „indianisch“ bezeichneten) und der europäischen Bevölkerung in kultureller und biologischer Hinsicht. Als ideologischer Begriff des 20. Jahrhunderts wurde Mestizaje in Mexiko als Nationenkonzept propagiert, mit dem Ziel, eine kulturell homogene Nationalbevölkerung unter der Dominanz der spanischsprachigen Bevölkerung zu erschaffen. 22 Politische Partei Mexikos, die als Schlusspunkt der Mexikanischen Revolution ab 1929 bis 2000 uneingeschränkte Hegemonie ausübte, bis sie im Jahr 2000 die Präsidentschaft der PAN (Partido Acción National) unter dem Präsidenten Vicente Fox überlassen musste. Bei den Wahlen 2012 erlangte sie mit der Allianz Compromiso por México wieder die Regierungsmehrheit im Senat und der Abgeordnetenkammer und stellt mit Enrique Peña Nieto den derzeitigen Präsidenten. 23 Indigene Gruppen Oaxacas, die in der öffentlichen Debatte um die Anerkennung indigener Autonomie eine wichtige Rolle spielten, insbesondere in den Verhandlungen zwischen der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) und dem mexikanischen Staat in San Andrés de Larráinzar in Chiapas (Anaya-Muñoz 2004, S. 426).

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fluss indigener Eliten, die ihre Interessen durch Zugriff auf staatliche Strukturen vorantreiben. Diese Kooperation zwischen staatlichen und lokalen Strukturen ist in der Sierra Juárez besonders ausgeprägt und steht in besonderer Verbindung zu den soziopolitischen Entwicklungen bei der Ressourcennutzung in der Region. Die historische Entwicklung der Nutzung natürlicher Ressourcen durch die verschiedenen involvierten Akteure ist maßgeblich für die gegenwärtige Rolle der Sierra Juárez als Zentrum des Naturschutzes und des Ökotourismus verantwortlich. Sie wird im Folgenden dargestellt.

2.2 (UMWELT-)GESCHICHTE DER SIERRA JUÁREZ Geschichte prägt sich in die Landschaft ein, formt sie und macht sie zur Wissensquelle über die Wirtschaftsformen und soziopolitischen Geschehnisse der Zeit. Die Berglandschaft der Sierra Juárez veränderte sich über die Jahrhunderte, die Anteile der Waldfläche variierten, die Ansiedlung von Gemeinden war aufgrund von Bevölkerungsrückgang, Umsiedlungen und Neugründungen Schwankungen unterworfen, und die Wirtschaftsformen wandelten sich (Subsistenzlandwirtschaft, Holzkohleproduktion, Zucht von Koschenillenläusen 24 oder Gold- und Silber-Bergbau) (Mathews 2011, S. 63–64). Die verschiedenen Wirtschaftsformen und der Kontakt mit externen Akteuren prägten nicht nur die Landschaft, sondern auch die soziale Organisation der Gemeinden. Dies führte dazu, dass sich eine besondere Form von Forstwirtschaft entwickelte, die stark mit der Identität der Gemeinden und deren Organisationsformen verbunden ist und von David Bray als forest culture bezeichnet wurde (Bray 1991, S. 18; vgl. Mathews 2011). Diese spezifische forest culture ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich gerade in der Sierra Juárez Ökotourismus entwickelte und internationale Bekanntheit erlangen konnte.

24 Oaxaca war Weltmarktführer des Färbemittels Karmin (grana) im 17. und 18. Jahrhundert, das aus dem roten Farbstoff der Koschenillenlaus gewonnen wird, die auf Nopal (Feigenkakteen) gezüchtet wurden. Sie stellten nach Silber das wichtigste Handelsprodukt Oaxacas dar (Chance 1989, S. 105–107).

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Abbildung 5: La Sierra Juárez, Oaxaca, 2014

Quelle: Eigene Aufnahme

2.2.1 Die Conquista und die Kolonialzeit Als die Spanier Anfang des 16. Jahrhunderts in der Sierra Juárez ankamen, waren – entgegen der heutigen touristischen Darstellung der Region als unberührtes Naturparadies –, viele der jetzigen Waldgebiete landwirtschaftlich intensiv genutzt und die Siedlungen durch umfangreiche Handelsnetzwerke mit ganz Mesoamerika verbunden (Mathews 2011, S. 68; Barabas 1999, S. 65; Chance 1989). Aufgrund mangelnder systematischer archäologischer Ausgrabungen und nur weniger erhaltener kolonialer Quellen (vier Lienzos25 wurden bislang gefunden) ist die prähispanische Geschichte nur partiell rekonstruierbar. 26 Entscheidend ist, dass die Bevölkerung der Region schon damals in engem Austausch mit

25 Lienzos sind zumeist im späten 16. Jahrhundert auf Leinen gemalte kartografische Dokumente, die angesichts der spansichen Eroberung mit dem Ziel angefertigt wurden Gebietsansprüche zu sichern. 26 Einen Meilenstein stellt das Werk von John Chance dar, das sich mit der prähispanischen und frühen Kolonialgeschichte der Sierra Juárez/Norte beschäftigt (Chance 1978, 1989).

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Los Valles und Monte Albán stand.27 Monte Albán, heute eine touristische Attraktion und monumentales Zeugnis der zapotekischen „Hochkultur“, stellte zwischen 300 und 900 n. Chr. das wichtigste politische und religiöse Machtzentrum der Region dar. Die jüngst entdeckten archäologischen Funde in Lachatao, dem Feldforschungsort, geben Zeugnis davon, dass auch in der Sierra Juárez große architektonische Anlagen zapotekischen Ursprungs existierten (vgl. Kapitel 5.4).28 Die Anwesenheit der Spanier in der Sierra Juárez lässt sich bis in das Jahr 1525 zurückdatieren, als San Ildefonso Villa Alta gründete und Ländereien in Encomiendas29 verwaltet wurden. Allerdings war die Präsenz der spanischen Krone aufgrund der niedrigen wirtschaftlichen Rentabilität der Gebirgsregion im Vergleich zu anderen Gebieten wenig ausgeprägt. Die Kolonialverwaltung behandelte jede Gemeinde als eine eigene Verwaltungseinheit – als eine abgeschlossene república de indios, die durch das System der indirect rule organisiert war. Damit sollten die Allianzenbildung mit anderen Gemeinden verhindert und stattdessen die Gemeinden gegeneinander ausgespielt werden (Chance 1989, S. 10). Dennoch kam es aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen, von Epidemien und der Abgabenlast an das koloniale Encomienda- bzw. RepartimientoSystem30 zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert zu drastischen demografischen Veränderungen: Dreißig Gemeinden der Sierra Juárez verschwanden komplett,

27 Dies ergeben archäologische Studien, die auf Funden der Distrikte Villa Alta und Ixtlán aufbauen und belegen, dass die Bevölkerung der Sierra Juárez schon in der klassischen Periode (500–700 n. Chr.) in Verbindung mit Monte Albán stand (Winter 1997, S. 13). 28 Die Ruinen wurden 2013 durch die Gemeindemitglieder Lachataos anlässlich der Arbeiten bei einem tequio auf dem Berg der Valenciana entdeckt. Ich hatte das Glück, bei dem Fund vor Ort zu sein und die gemeindeinternen Diskussionen über das prähispanische Erbe, den Umgang damit sowie das Misstrauen gegenüber der mexikanischen Regierungsinstitution verfolgen zu können, die für Archäologie, Anthropologie und Geschichte zuständig ist (INAH, Instituto Nacional de Antropología y Historia) – sowie die Furcht vor Grabräubern. 29 Im Encomienda-System sprach die spanische Krone jedem Konquistador Land und eine Zahl unterworfener Indigener zu, deren Arbeitskraft er im Gegenzug für Versorgung und Christianisierung ausbeuten konnte. Es wurde 1542 im Zuge der Nuevas Leyes de las Indias durch das Repartimiento-System ersetzt (Assies 2008, S. 35). 30 Als Repartimiento werden verschiedene Institutionen der Kolonialzeit verstanden, die zur Ausbeutung der indigenen Bevölkerung dienten, z.B. durch nicht entlohnte Zwangsarbeit, Zwangsabgaben oder die erzwungene Produktion bestimmter Güter.

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und die Bevölkerung ging um 60 Prozent zurück (Chance 1989, S. 66–74). Die verbliebenen Gemeinden waren in das Repatrimiento-System31 integriert, das die Abgabe von landwirtschaftlichen Produkten, die Zucht von Koschenillenläusen 32 sowie die Herstellung von Textilien (vor allem durch Frauen) erzwang und durch das System der indirect rule die Festigung des lokalen Kazikensystems beförderte (Chance 1989, S. 105–107). Die Sierra Juárez nahm so auch Anteil am „Goldenen Zeitalter“ der Stadt Oaxaca (zwischen 1750 und 1820), die durch den boomenden Textilhandel, die Produktion der Koschenillenläuse und Seidenraupen und die Verarbeitung von Textilien zu einem kommerziellen Zentrum der Kolonialzeit wurde (Chance 1989, S. 144). In manchen Gemeinden wurde die Subsistenzwirtschaft zu Gunsten der Produktion der Koschenillenläuse weitgehend reduziert; andere waren vor allem im Bergbau tätig. Die aufwendigen, aus Cantera-Steinen erbauten Dominikanerkirchen in der Region sind bis heute Zeichen der politischen Macht und des internationalen wirtschaftlichen Austauschs dieser Zeit (Mathews 2011, S. 68; vgl. Abbildung 1). Jedoch führten die Kolonialherrschaft der Spanier und die Unterdrückung durch das Repartimiento-System allein in der Sierra Juárez zu mindestens neun Rebellionen. Schon hier zeigt sich die politische Handlungsfähigkeit der Gemeinden in der Sierra, die strategische Allianzen auch über die Sprachgruppen hinweg schlossen (Barabas 1999, S. 69; Chance 1989, S. 110).33

31 Das System repartimientos de efectos/de mercanía ist in Bezug auf die Arbeitsleistungen nicht mit dem herkömmlichen Repartimiento-System zu verwechseln. Es verpflichtete die lokale Bevölkerung zur Produktion bestimmter Produkte sowie zum Kauf von Waren, die die Spanier zu überteuerten Preisen anboten (Chance 1989, S. 103). Es war das vorherrschende System bis zur Unabhängigkeit und wurde kontrovers als Ausbeutung oder Entwicklung ländlicher Regionen verhandelt, die so zur Produktion geführt würden (Chance 1989, S. 103–111). 32 Die Produktion brach im 19. Jahrhundert mit der Konkurrenz aus Guatemala sowie den ab 1850 billigeren künstlichen Färbemitteln zusammen (Chance 1989, S. 106– 107). 33 Die Serranos schlossen sich in mehreren Kämpfen gegen die Spanier zusammen, unter anderem bei der Rebellion von Tehuantepc, Nejapa und Villa Alta um 1660 (frühere Rebellionen hatten 1550 und 1570 stattgefunden), die aus Koalitionen von über zwanzig zapotekischen, mixtekischen und chontalen Gemeinden bestand (Barabas 1999, S. 69).

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2.2.2 Die Modernisierung der Sierra: Minenboom und politische Allianzen Nach der Unabhängigkeit Mexikos (1810) und dem Niedergang der Koschenillenzucht um 1850 wurden die höchsten Erträge der Region durch die Gold- und Silbermine in Natividad bei Ixtlán erwirtschaftet. Die Sierra Juárez blieb dadurch in internationale Handelsnetzwerke eingebunden und konnte, durch mächtige lokale Kaziken, eigene Interessen bis zur bundesstaatlichen Ebene durchsetzen. Die politisch gut vernetzten Gemeinden nutzten ihre politischen Kontakte zu Porfirio Díaz34, um die gemeindebasierten Landbesitzverhältnisse weitgehend zu erhalten sowie Investitionen in die Industrialisierung und die Integration in internationale Handelsnetzwerke durchzusetzen (Mathews 2011, S. 72). Dies steht im Gegensatz zu Los Valles, wo es im Zuge der liberalen Reformen unter Porfirio Díaz zu externer Akkumulation von Landbesitz kam. Der Erfolg der lokalen Kaziken zeigt sich in ihren massiven Investitionen in die Minentätigkeit sowie den Bau der Textilfabrik Fábrica de Xía35 im Distrikt Ixtlán (Mathews 2011, S. 72). Die wichtigste ökonomische Einnahmequelle der Region war lange Zeit die Mine von Natividad, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und seit Anfang des 19. Jahrhunderts von der spanischen Kolonialmacht betrieben wurde (Fuente Carrasco und Barkin 2013, S. 136). Durch den Investitionsschub in den Bergbau des Porfiriats wurde sie zur größten Mine Oaxacas ausgebaut und war für die sozioökonomische Entwicklung der Region von entscheidender Bedeutung (Clarke 2000, S. 30). Die Gemeinde Natividad entwickelte sich als wichtiger Handelsumschlagplatz und wurde zum infrastrukturellen Knotenpunkt der Region (Chassen 1985, S. 29).

34 José de la Cruz Porfirio Díaz Mori (*15.09.1830 in Oaxaca – †02.07.1915 Paris) war ein mexikanischer General und Politiker, der Mexiko in neun Amtsperioden von 1876/77–1880 und 1884–1911 regierte. Diese historische Epoche seiner Regierungszeit wird als „Porfiriat“ bezeichnet. Mittels eines repressiven diktatorischen Regierungsstils führte er eine rasche, durch Auslandskapital getragene Modernisierung herbei. Diese Entwicklungsdiktatur, die mit enormen Landaneignungen einherging, war Hauptauslöser der Mexikanischen Revolution. 35 Die Fábrica de Xía liegt auf dem Gemeindeterritorium von San Juan Chicomizuchil und Ixtepeji, die an das Territorium Santa Catarina Lachataos, dem Feldforschungsort, angrenzen, und war eine der drei wichtigen Textilfabriken Oaxacas während des Porfiriats. Sie wurde mit Kapital aus Großbritannien finanziert, beschäftigte ungefähr 570 Arbeiter und gehörte zu Mowatt y Grandison (Chassen 1985, S. 30).

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Abbildung 6: Ex Hacienda de 5 Señores bei Lachatao

Quelle: Tourismusbroschüre Lachatao, 2014

Der Bergbau führte zu einem Zuzug von Facharbeitern und Privatinvestoren (zumeist Mestizen) sowie von Wanderarbeitern aus umliegenden Gemeinden. Damit ging ein reger Warenaustausch zwischen Los Valles und dem Markt von Natividad einher, in den auch die Gemeinde Lachatao involviert war, die etwa vier bis fünf Gehstunden von Natividad entlang des Handelsweges (camino real) liegt. Der Transport wurde mit Maultier- und Esel-Karawanen von Los Valles (zumeist vom Handelzentrum Tlacolula) bis in die Sierra organisiert. Der Abbau von Edelmetall beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Mine in Natividad, sondern es existierten viele kleinere gemeinde- oder familienbetriebene Minen sowie illegale Schürftätigkeiten ohne die erforderlichen Konzessionen in alten Minenschächten oder Flüssen (Mathews 2011, S. 74). Beispielsweise befinden sich auf dem Gemeindeterritorium von Lachatao mindestens sechs alte Minen, und viele ältere Gemeindemitglieder berichten über die Beschwerlichkeit und die Gefahren der Arbeit. Die verlassenen Minenschächte sowie die Ruinen der Ex Hacienda de 5 Señores nahe Lachataos geben Zeugnis von der „industrialisierten“ Weise der Metallextraktion und dienen heute als Touristenattraktion. Die Gemeinden, die (wie auch Lachatao) Bergbau betrieben, profitierten davon auf vielerlei Weise: vom Zuzug von Mestizen und deren Kapitalinvestitionen, von einem regen Handel und der Verkehrsanbindung, aber auch von den politischen Netzwerken, die sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung entwi-

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ckelten. Mathews stellt in seiner Analyse der Forstwirtschaft in Ixtlán fest, dass die Gemeinden, die am Minenboom des 19. Jahrhunderts teilhatten, heute eher über legale Landtitel großer Ländereien verfügen. Ihre politisch-ökonomischen Netzwerke sind entscheidend, um die weitere Entwicklung der Gemeinden zu verstehen, und ermöglichten es überhaupt erst, dass sich dort gemeindebasierte Holzwirtschaft und Ökotourismus in der heutigen Form entwickeln konnten (allen voran in Ixtlán, Capulálpam de Méndez sowie in den Pueblos Mancomunados) (Mathews 2011, S. 74). Führende Gemeinden der Region sind seither zentrale politische Akteure, deren politischer Einfluss teils von nationalstaatlicher Tragweite ist. Auch während der Mexikanischen Revolution (1910–1917)36, die zu weitreichenden Transformationen politischer, sozialer und ökonomischer Verhältnisse in ganz Mexiko führte, kam der Sierra Juárez eine außergewöhnliche Bedeutung zu: Im Jahr 1911 wurde das Batallón Sierra Juárez gegründet, dessen dritte Kompanie von dem aus Lachatao stammenden General Isaac Ibarra 37 angeführt wurde. Sie wurde gegründet, um den Arbeiteraufstand der Textilfabrik Xía nahe Lachataos niederzuschlagen, und sollte der „Friedensstiftung“ dienen (Chassen 1985, S. 45). Die ausbrechenden Unruhen ließen die alten Konflikte zwischen den Gemeinden über Arbeits- und Landbesitzverhältnisse aufflammen, die Gefolgschaft der caudillos38 in Frage stellen diese und kriegerisch bekämpfen. Im folgenden Bürgerkrieg zwischen 1912 und 1925 wurden viele Dörfer komplett zerstört, tausende Menschen verloren ihr Leben, und es entstanden Fehden zwischen Gemeinden, die bis heute anhalten (Mathews 2011, S. 78). Der Mythos der Mexikanischen Revolution in der Sierra Juárez wurde durch verschiedene lokale Geschichtsschreiber, unter anderem den aus Lachatao stammenden General Ibarra, festgehalten und wichtiger Bestandteil des kollektiven nationalen Gedächtnisses der Gemeinden (Ibarra 1975). Die 1930er Jahre waren in der Sierra von einer ökonomischen Depression geprägt, da der Bergbau und der Handel fast vollständig zum Erliegen kamen. Die Demonetarisierung der Wirtschaft führte zu einer ausschließlichen Abhän-

36 Hauptgrund für den Ausbruch der Mexikanischen Revolution bzw. des damit verbundenen Bürgerkrieges (1910–1917) war die immense Landkonzentration, die die Landlosigkeit und Verarmung weiter Teile der mexikanischen Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts bedingte (87 Prozent des Agrarlandes war im Besitz von 0,2 Prozent der Landbesitzenden) (Assies 2008, S. 38–39). 37 General Isaac M. Ibarra, ein Führer der oaxaqueñischen Souveränitätsbewegung, wurde im Jahr 1923 Interimsgouverneur des Bundesstaats Oaxaca. 38 Als caudillos werden autoritäre politische und militärische Führer bezeichnet.

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gigkeit von der Subsistenzwirtschaft und zu einer Isolation von internationalen Handelsnetzwerken. Nach der vergangenen Blütezeit der Koschenillenzucht, des Bergbaus und des politischen Einflusses war dies eine eher ungewöhnliche Situation für die Region, die zu einer hohen Abwanderung führte. Entgegen der Stereotypisierung indigener Gemeinden als abgeschieden und autark waren die Dorfgemeinschaften der Sierra Juárez nur für kurze Zeit auf die Subsistenzlandwirtschaft beschränkt, was sich durch die in den 1950er Jahren beginnende kommerzielle Ausbeutung der Wälder erneut ändern sollte. Die Forstwirtschaft läutete in der Sierra eine neue Ära von internationaler Bedeutung ein (Bray 1991). 2.2.3 Die Entstehung der forest culture Die Nutzung der Wälder in der Sierra Juárez beschränkte sich bis zum Beginn der kommerziellen Forstwirtschaft in den 1950er Jahren auf die Brennholznutzung und die Holzkohleherstellung, die zwar illegal war, aber vom Staat weitestgehend geduldet wurde, sowie auf die Jagd und Sammeltätigkeiten (Mathews 2011, S. 52). Die staatliche Aneignung der Wälder in der Sierra Juárez und die damit verbundene Kontrolle der Territorien wurde ab den 1930er Jahren vorangetrieben. Durch die Erlassung eines forstwirtschaftlichen Gesetzes 1926 mussten alle wirtschaftlichen Tätigkeiten in einem staatlich autorisierten Wirtschaftsplan dargelegt werden. Der kontrollierte Umgang mit der Natur wurde mit gesellschaftlicher Ordnung und Bürgerpflichten als nationales Projekt formuliert und dem moralischen Verfall des Porfiriats und dem Chaos der Revolution entgegengesetzt. Diese Haltung wurde explizit in der Sierra Juárez verbreitet: In einer Rede in Guelatao hatte der damalige Präsident Mexikos, Lazaro Cárdenaz (Präsidentschaft 1934–1940),39 schon 1937 an das staatsbürgerliche Verantwortungsbewusstsein appelliert, die Natur zu schützen (Mathews 2011, S. 97–98). Unter dem Vorwand des Umweltschutzes wurde ein Kontroll- und Überwachungssystem entwickelt, das lokale Wirtschaftsformen wie Brandrodungsfeldbau oder nicht genehmigtes Holzfällen kriminalisierte und die Wälder quasi verstaatlichte. Die Folge davon war, dass die indigene Bevölkerung durch die Zu-

39 Lázaro Cárdenas del Río (1895–1970) war General während der Mexikanischen Revolution und Präsident Mexikos von 1934 bis 1940. Er war die Gründungsfigur der „Partei der institutionalisierten Revolution“ PRI, die von 1929 bis 2000 als „offizielle Partei“ (quasi als Einheitspartei) Mexiko regierte. Seine Präsidentschaft wird bis heute positiv rezipiert, vor allem wegen der von ihm durchgeführten Landreformen und der Verstaatlichungen der Ölindustrie.

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schreibung umweltzerstörender Praktiken als „unterentwickelt“ stigmatisiert wurde. Um ihre Praktiken durch staatliche Regelungen und Entwicklungshilfe zu modernisieren, wurde die Institution des comisariado de bienes comunales (Kommissariat der Kommunalgüter) gegründet, mit dem Ziel, die Verwaltung der Wälder und Territorien vom zivilreligiösen Ämtersystem zu trennen und unter staatliche Kontrolle zu bringen (Mathews 2011, S. 95–97). Die nationalstaatliche Politik vollzog hier einen Richtungswechsel in der „Umdeutung“ der Sierra Juárez, indem diese von einem Industriezentrum des Bergbaus im 19./20. Jahrhundert zu einer „unterentwickelten“ peripheren Region deklariert wurde, deren wichtigste Aufgaben der Naturschutz und die „moderne“ Nutzung der natürlichen Ressourcen sei: „These programs classified one of the most densely populated and politically active parts of Oaxaca as a remote, backward, and definitively peripheral area, appropriate for improved agriculture and forestry, justifying relatively low levels of state investment in a politically problematic region.“ (Mathews 2011, S. 98)

Um die Wälder Mexikos stärker ökonomisch für die nationale Entwicklung zu nutzen, wurde ab den 1950er Jahren die industrielle Rodung durch Unidades Industriales de Explotación Forestal (UNIEF) vorangetrieben (Bray 1991, S. 16). Die kommerzielle Nutzung der Wälder wurde in der Sierra Juárez ab Mitte der 1950er Jahre durch die Papierfabrik Fábrica de Papel Tuxtepec (FAPATUX) in Tuxtepec und die Firma Maderas de Oaxaca in den Pueblos Mancomunados betrieben. Die beiden Firmen kooperierten mit den jeweiligen Vertretern der comisariados de los bienes comunales der Gemeinden, wenn auch in sehr ungleichen Kräfteverhältnissen.40 Zugleich belegen Dokumente, dass es schon ab 1942 auch privatwirtschaftlich genutzte Sägewerke gab, beispielswiese in Lachatao, das von führenden Gemeindemitgliedern geleitet wurde (Poe 2009, S. 52). Dies bestärkte die gemeindeinterne Klassenbildung von wirtschaftlich erfolgreichen Geschäftsleuten, die über wichtige politische Allianzen verfügten, und von Gemeindemitgliedern mit nur geringem politischem und ökonomischem Kapital. Die Zuordnung der Personen zu den als Kontrahenten dargestellten Akteuren, den Firmen, den staatlichen Institutionen und der politischen Verwaltung der Ge-

40 Die Papierfabik FAPATUX hatte die Konzessionen für 251.823 ha von der mexikanischen Zentralregierung ab 1956 für den Zeitraum von 25 Jahren zugesprochen bekommen; die Firma Madres de Oaxaca auf dem Territorium der Pueblos Mancomunados hatte die Konzessionen von 1957 bis 1976 inne (Fuente Carrasco und Barkin 2011, S. 102; Clarke 2000, S. 98–99).

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meinden war schon damals nicht klar. Dadurch entstanden bis heute andauernde komplexe politische Allianzen und Netzwerke. Die kommerzielle Nutzung der Wälder und deren Zerstörung lässt sich also nicht ausschließlich externen Akteuren zuzuschreiben – wie im aktuellen lokalen Diskurs häufig behauptet. Diese historische Entwicklung war jedoch entscheidend für die weite Verbreitung von „westlichem“ Umweltwissen in der Region, das mit lokalen Praktiken verbunden wurde und das Verständnis der Natur, der eigenen Identität sowie der politischen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, grundlegend veränderte (Mathews 2011, S. 95). In den 1970er Jahren formierte sich in Gemeinden in ganz Mexiko (insbesondere in Oaxaca, Michoacán und Jalisco) Widerstand gegen die ausbeuterischen Praktiken der forstwirtschaftlichen Firmen (Bray 1991). Berühmt wurde der Widerstand gegen die größte in der Sierra Juárez tätige Firma FAPATUX im Jahr 1981, der maßgeblich durch die gemeindeübergreifende Organistion ODRENASJI (La Organización en Defensa de los Recursos Naturales y Desarollo Social de la Sierra Juárez) organisiert wurde. ODRENASJI wurde 1980 von den Generalversammlungen von 13 Gemeinden der Sierra Juárez in Guelatao gegründet, veranstaltete 1981 den ersten Kongress gemeindebasierter Forstwirtschaft und bewirkte, dass die Kontrolle der Wälder fortan in den Händen der Gemeinden lag (Clarke 2000, S. 98–99). Sie war ein zentraler politischer Akteur bei der Etablierung gemeindebasierter nachhaltiger Forstwirtschaft, die folglich vom mexikanischen Staat logistisch und technisch unterstützt wurde (Bray 1991, S. 15). Dadurch formierte sich eine gemeindeübergreifende indigene Elite, die Allianzen mit Studentenbewegungen und gut ausgebildeten, zumeist in den Städten lebenden Gemeindepersönlichkeiten einging und von den wichtigsten Gemeinden der Region unterstützt wurde. Die soziale Protestbewegung gegen die erneute Vergabe der Konzessionen in der Sierra Norte zählt zu den ersten Umweltschutzbewegungen in Mexiko, die sich aus unterschiedlichen sozialen Klassen, indigenen Bauernbewegungen und einer städtischen Mittelschicht formierte. Diese Gruppierungen verfolgten jeweils unterschiedliche Motive, die im Falle der lokalen Bevölkerung in der Kontrolle der Territorien und der Verfügung über die natürlichen Ressourcen lagen (Burstein et al. 2002, S. 10). Diese Entwicklungen waren eine Auswirkung der „demokratischen Öffnung“ Mexikos unter dem Präsidenten Luis Echeverría Álvarez (Amtszeit 1970–1976), die mit der Übertragung von Rechten an lokale Verwaltungsstrukturen einherging, wie die staatliche Anerkennung gemeindebasierter Forstwirtschaft (Empresas Forestales Comunales, EFC) zeigt (Poe 2009, S. 51; Chapela 2007, S. 127–128). EFC sind gemeindebasierte Wirtschaftsunternehmen, die durch das Ämtersystem der Gemeinden verwaltet werden und deren Gewinne an die Gemeinde

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bzw. an die registrierten comuneros/as weiterverteilt werden. Sie wurden durch das Forstwirtschaftsgesetz 1986 rechtlich möglich (vgl. Chapela 2007, 2005, 1999; Bray et al. 2005; Bray 1991) und werden durch Schulungen, technische Unterstützung und Kreditvergaben seitens der staatlichen Forstwirtschaftspolitik unterstützt (Merino Pérez 2003, S. 61).41 Die Gemeinden, die gemeindebasierte Forstwirtschaft betrieben, waren und sind gut vernetzt und übten über die Nationale Organisation UNOFOC (Unión Nacional de Organizaciones de Forestería Comunal) politischen Einfluss aus, der eine positive Präsenz von (indigenen) Gemeinden in der mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit bedingte und zur weltweiten Führungsrolle Mexikos in der gemeindebasierten Forstwirtschaft beigetragen hat (Merino 2016, S. 238; Toledo 2001, S. 483). Die gemeindebasierte Forstwirtschaft wird zumeist als Erfolg beschrieben, der Arbeitsplätze und finanzielle Einnahmen schafft, die in die Gemeindeinfrastruktur, in Straßen, Schulen, Krankenhäuser, Gemeindefeste investiert wird und so zur Entwicklung der Gemeinden beiträgt (Merino 2016, S. 239). Die der gemeindebasierten Forstwirtschaft zugeschriebenen Charakteristika, demokratisch, dezentral, sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltig zu sein, erweisen sich jedoch in der Realität zumeist als haltlos. Anstatt zur Dezentralisierung und Demokratisierung beizutragen, kommt es zur Zentralisierung der Verwaltung, zur Entdemokratisierung der Entscheidungsprozesse durch klientelistische Netzwerke mit staatlichen Behörden und zur mangelhaften Redistribution der Gewinne sowie zu Korruption (Poe 2009, S. 44–46). Paradigmatisch für die Konflikte um die Forstwirtschaft sind die Pueblos Mancomunados, deren gemeinsame Nutzung der Wälder sich bis in das Jahr 1615 zurückverfolgen lässt (Poe 2009, S. 34). Die Konflikte sind dort besonders ausgeprägt, da sich acht Gemeinden ein Territorium teilen und somit „alles allen gehört, aber nicht alle gleichermaßen profitieren“, wie Gemeindemitglieder aus Lachatao beklagen. Die Landtitel der Pueblos Mancomunados sind terrenos comunales, die auf präkoloniale Titel zurückgehen und 1961 durch ein Regierungsdekret als rechtlicher Zusammenschluss formalisiert wurden. Ältere Personen aus der Gemeinde Lachatao erklärten mir häufig, dass die Konflikte um die gemeinsame Nutzung der natürlichen

41 Die Verwaltung der EFC besteht aus verschiedenen Posten, die dem comisariado untergeordnet sind und durch den Aufsichtsrat (consejo de vigilancia) kontrolliert werden. Die Ämter werden durch die asamblea (Gemeindevollversammlung) zumeist für einen Zeitraum von drei Jahren besetzt und bestehen aus dem forstlichen Koordinator (coordinador forestal), dem Vorsteher der Wälder (jefe del monte), dem Verwalter (administrador), einem Sägewerk und einer Schreinerei sowie einem agrar- und forstwirtschaftlichen Koordinator (coordinador agroforestal) (Chapela 2007, S. 135).

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Ressourcen zwar seit jeher bestanden, sich aber durch die erheblichen ökonomischen Gewinne der EFC extrem zugespitzt hätten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass führende Gemeinden der Sierra Juárez eine spezifische forest culture entwickelten, die sich trotz des externen Drucks, interner Konflikte und der Kritik an der mangelhaften Umsetzung von Nachhaltigkeitskriterien als Markenzeichen der Region durchsetzte. So sind viele der EFC mit internationalen Nachhaltigkeitszertifikaten wie dem des FSC (Forest Stewardship Council) zertifiziert (Merino 2016, S. 239; Martin et al. 2011, S. 259). Das Wissen über die Bedeutung und Nutzung der Wälder wurde jedoch nicht nur durch die staatlichen forstwirtschaftlichen Institutionen an die Gemeinden vermittelt. Vielmehr ist es ein Wissen, das die Gemeinden in Kooperation mit staatlichen Institutionen und deren Diskursen erst herstellten. Dies zeigt wiederum die soziopolitische Macht der Gemeinden, die mit den staatlichen Institutionen, mit deren Regulierungen und Machtverhältnissen kooperierten. So übte nicht nur der Staat Druck auf die Gemeinden aus, sondern auch die Gemeinden auf die Staatsbeamten: „the political and environmental histories of indigenous forest communities have placed continuous pressure on the authority of the forest service and the Mexican state“ (Mathews 2011, S. 37).

2.3 GEMEINDEN DER SIERRA JUÁREZ: PIONIERE IM UMWELTSCHUTZ 2.3.1 Gemeindebasierter Naturschutz Die Forstwirtschaft betreibenden Gemeinden der Sierra Juárez können durch ihre forest culture auf eine weitreichende Erfahrung mit staatlichen Institutionen zurückgreifen, die sich zunehmend internationalisiert und auf den Umweltschutz ausrichtet. Viele von ihnen etablierten seit den 1990er Jahren gemeindebasierte Naturschutzgebiete (Martin et al. 2011). Dies geht auf die konzeptuellen Grundlagen der Umweltschutzbewegung in Mexiko zurück, die sich von USamerikanischen bzw. europäischen Ansätzen dadurch unterscheiden, dass sie sich stark auf traditionelle landwirtschaftliche Praktiken und indigenes Wissen beziehen. Umweltschutz wird hier mit Konzepten nachhaltiger Entwicklung und alternativen Formen der Landwirtschaft verbunden, etwa agroecología und

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ethnoecología42 (Burstein et al. 2002, S. 10). Die lokalen Nutzungen werden in diesem Kontext als Inbegriff von Nachhaltigkeit diskutiert, was damit begründet wird, dass indigene Gruppen häufig in Gebieten mit besonders hoher Biodiversität leben bzw. lebten (Maffi 2005; Posey 2001, S. 381; Toledo 2001). Der Zusammenhang zwischen biologischer und kultureller Diversität wird par excellence am Beispiel Oaxaca diskutiert, da dieser Bundesstaat die höchste Biodiversität und zugleich die größte kulturelle Diversität in Mexiko aufweist (Ávila Blomberg 2008; Maffi 2001; Toledo 2001, S. 475–479). Demensprechend werden indigene Gruppen als Vorreiter für eine nachhaltige Lebensweise verstanden: „Die indigenen Völker Mexikos haben eine Schlüsselrolle bei der Entstehung eines neuen Gesellschaftsmodells inne, in welchem versucht wird, sich der weltweiten Zivilisationsund Umweltkrise zu stellen.“ (Boege und Vidriales Chan 2008, S. 14, Übersetzung durch die Autorin)

Diese Ansätze werden seitens nationaler und internationaler Akteure, von akademischen Aktivisten, sozialen Bewegungen, staatlichen Programmen sowie der indigenen Bevölkerung selbst propagiert und politisch nutzbar gemacht (Kleiche-Dray und Waast 2016, S. 92). Der politische Richtungswechsel zum Umweltschutz und Erhalt der Biodiversität in den Waldgebieten der Sierra Juárez war auch durch den Einnahmeverlust der Forstwirtschaft begünstigt, der durch das Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens und den Einbruch des mexikanischen Markts durch billiges Holz aus Kanada und den USA entstand (Merino 2016, S. 235). Mit der Regierungsübernahme durch die PAN43 im Jahr 2000 wurde die Umweltzerstörung verstärkt problematisiert, und unzählige Programme wurden initiiert, die ländliche Entwicklung mit Naturschutz in Verbindung setzen. Dementsprechend wurde der nationale Plan für Nachhaltige Entwicklung, der eine Vielzahl an nachhaltigen, auf ökologischen Prinzipien aufbauenden Entwicklungsprogrammen für den ländlichen Raum beinhaltet, im Jahr 2000 nach inter-

42 Die Schule der ethnoecología geht auf den einflussreichen Agrarwissenschaftler Efrain Hernándesz Xolocotzi (1913–1991) aus Chapingo zurück. Zu agroecology und ethnoecology vgl. Martinez-Alier et al. 2016, S. 37. 43 Die PAN (Partido Acción Nacional) ist eine christdemokratisch-konservative Partei, die neben der PRI und der PRD eine der wichtigsten Parteien Mexikos darstellt. Sie wurde 1939 gegründet und konnte die jahrzehntelange Herrschaft der PRI durch die Wahlen von Vicente Fox (2000) und Felipe Calderón (2006) als PAN-Präsidenten unterbrechen.

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nationalen Standards der Agenda 21 konzipiert (Merino 2016, S. 240). Im Zeitraum 2000–2012 wurden die öffentlichen Ausgaben für den Erhalt der Wälder um 7.000 Prozent erhöht, wobei 70 Prozent in Wiederaufforstung und 12 Prozent in umweltbezogene Leistungen (PSA, Pagos por servicios ambientales)44 investiert wurden (Oviedo 2002, S. 5; vgl. Aquino Centeno 2018). Die Programme werden von unterschiedlichen mexikanischen Behörden initiiert und weisen häufig sehr widersprüchliche Tendenzen auf. So unterstützt beispielsweise das mexikanische Amt für Umwelt und natürliche Ressourcen (SEMARNAT, Secretaría de Medio Ambiente, Recursos Naturales y Pesca) einerseits den großangelegten Ressourcenabbau, insbesondere Bergbau und industrielle Landwirtschaft, fördert aber auf der anderen Seite partizipative Ansätze und indigenes Wissen als Grundsteine für die ländliche Entwicklung. Das Umweltministerium hebt explizit die Rolle der indigenen Bevölkerung für den Umweltschutz hervor: „Das Hauptanliegen des Programms Indigene Völker und Umwelt 2007 – 2012 ist es sicherzustellen, dass im Inneren des Umweltsektors eine differenzierte Sichtweise auf die indigenen Völker und deren Organisationen anhand von Mechanismen arrangiert und verbreitet wird, die der ursprünglichen Bevölkerung die Gleichberechtigung bezüglich des Zugangs zu und der Kontrolle über die Ressourcen sowie die gerechte Aufteilung der Erträge garantiert als auch ebenfalls den Respekt vor den gewohnheitsmäßigen Nutzungsformen, die nachhaltige Handhabung der natürlichen Ressourcen und das damit verbundene traditionelle Wissen.“ (SEMARNAT 2012, Übersetzung durch die Autorin)

Insbesondere in Oaxaca sind indigene Gemeinden unumgängliche Partner bei Umweltschutzmaßnahmen, da sie im Besitz von fast 80 Prozent des Landes sind (Oviedo 2002, S. 5). Dies führt dazu, dass Oaxaca bei der Entwicklung von gemeindebasierten Naturschutzgebieten weltweit führend ist. Diese sind mittlerweile international als Indigenous and Community Conserved Areas (ICCA)45 offiziell anerkannt und werden seit 2003 aktiv durch die Regierungsbehörde

44 Die Kompensationszahlungen werden vom mexikanischen Staat für umweltbezogene Leistungen wie Kohlendioxidproduktion (REDD+), Wasserschutz und die Erhaltung der Biodiversität an Gemeinden gezahlt und durch das Programm ProÁrbol koordiniert (Chapela 2007; SAO 2003). 45 ICCA werden offiziell von der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature) definiert als „natural and/or modified ecosystems including significant biodiversity values, ecological benefits and cultural values voluntarily conserved by indigenous and local communitites, both sedentary and mobile, through customary laws or other effective means“ (IUCN/CEESP 2008).

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CONANP unterstützt (Comisión Nacional de Áreas Naturales Protegidas) (Martin et al. 2011, S. 251). Diese Form des Naturmanagements baut auf traditionellen Landnutzungs- und Naturschutzpraktiken auf und kombiniert diese mit „westlichen“ Vorstellungen. Sie wird mittlerweile international als älteste Form von Naturschutz anerkannt und als Alternative zu konventionellen Schutzpraktiken propagiert (Boege-Schmidt 2008, S. 4; Bray et al. 2007; Bray et al. 2005; Chapela 2007, 2005, 1999; Haenn 2005; Kettler 2001). Zunehmend werden auch verschiedene Naturschutzformen kombiniert, wie sich an dem seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich erweiterten Mittelamerikanischen Biologischen Korridor46 zeigt. Er soll bald auch die Ökosysteme der Sierra Juárez umfassen, die wegen ihrer Nebelwälder eine besonders wichtige Stellung einnehmen (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 70). Im Zuge dessen wird die Formalisierung von gemeindeorganisierten Naturschutzgebieten finanziell sowie durch wissenschaftliche Forschungen über die Biodiversität in den Gemeindeländern unterstützt (CONABIO, Comisión Nacional para el Conocimiento y Uso de la Biodiversidad 2014). Die Gemeinden werden dadurch zu Managern ihres eigenen Territoriums, was durch differenzierte Nutzungspläne47 (Ordenamiento Ambiental) festgelegt wird, die den Umgang mit den natürlichen Ressourcen und den kommunalen Umgang damit regeln. Diese Nutzungspläne implizieren eine Kartografierung der natürlichen Ressourcen, legen deren Wertschöpfung fest und beinhalten auch ausgewiesene Schutzgebiete (Ortega Ponce 2004, S. 20). Spezifisch an den Nutzungsplänen der forstwirtschaftlichen Gemeinden der Sierra Juárez ist, dass sie kommunal konzipiert werden, d.h. dass die Gemeindemitglieder partizipativ in

46 Das Gebiet zwischen Südmexiko und Panama ist mit 7 Prozent der weltweiten biologischen Vielfalt auf nur 0,51 Prozent der Erdoberfläche eine der wichtigsten Biodiversitätsregionen der Welt. Mitte der 1990er Jahre errichteten die sieben Regierungen Mittelamerikas und Mexikos den Mittelamerikanischen Biologischen Korridor mit dem Ziel, die Biodiversität der Region besser schützen und nachhaltig wirtschaftlich nutzen zu können (Kolbe-Weber 2008, S. 59–61). Der Biologische Korridor wird seitdem beständig erweitert. 47 Die Nutzungspläne wurden ab den 1990er Jahren in Mexiko vorangetrieben und untergliedern sich in das Ordenamiento Ecológico del Territorio (OET) zum Zweck des Umweltschutzes und der nachhalitgen Ressourcennutzung (vom Umweltamt SEMARNAT) und das Ordenamiento Territorial (OT) (vom Ministerium für soziale Entwicklung SEDESOL), das sich als politisches Instrument versteht, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung des Territoriums voranzutreiben (Sánchez Salazar et al. 2013, S. 27).

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die Konzeption, Durchführung und Zielsetzung der Pläne involviert sind. Um diese zu erstellen, kooperieren die Gemeinden eng mit Regierungsinstitutionen, Universitäten und NGOs (Sánchez Salazar et al. 2013, S. 28; Burstein et al. 2002, S. 47). 2.3.2 Die Aufwertung lokalen Umweltwissens Die lokalen Eliten sind sich zunehmend über den Wert der natürlichen Ressourcen und der globalen Bedeutung der Biodiversität ihrer Territorien bewusst. Sie sind die führenden Gemeindemitglieder der Dorfgemeinschaften, die über politischen Einfluss verfügen, zum Teil gut ausgebildet sind, häufig Migrationserfahrung haben und teils in der Stadt Oaxaca leben. Sie übernehmen häufig führende Ämter in den Gemeinden und stammen aus den seit Generationen einflussreichen Familien der Gemeinden (Oligarchie). Vor allem das lokale ökologische Wissen (TEK, traditional ecological knowledge) stellt nicht nur für den Naturschutz, sondern auch in ökonomischer Hinsicht ein prominentes Thema dar. Aufgrund der öffentlichen Debatten zu Bioprospektion (bioprospecting) und von Vorwürfen der Biopiraterie (biopiracy)48 in der Sierra Juárez stellen Gemeinden zunehmend rechtliche Forderungen in der Zusammenarbeit mit internationalen Akteuren. Beispielsweise forderte die lokale Organisation UZACHI 49 in ihrer Zusammenarbeit mit dem Schweizer Pharmakonzern Sandoz (heute Novar-

48 Als prominentes Beispiel kann das Chiapas ICBG Project gelten, das eine großangelegte Bioprospecting-Forschung in Kooperation mit der lokalen Bevölkerung und deren langfristige Gewinnbeteiligung zu pharmazeutisch nutzbaren Wirkstoffen in Chiapas vorsah. Das Projekt wurde von der University of Georgia (USA) in Kooperation mit der mexikanischen Universität El Colegio de la Frontera Sur (ECOSUR) und dem Biotechnologiekonzern Molecular Nature Ltd. aus Wales (UK) initiiert. Es konnte jedoch aufgrund des Protests lokaler indigener Organisationen (dem Verbund traditioneller indigener HeilerInnen und Hebammen, Consejo Estatal de Parteras y Médicos Indígenas Tradicionales de Chiapas), die Vorwürfe der Biopiraterie erhoben, nicht weitergeführt werden und wurde 1998 abgebrochen (Berlin und Berlin 2004; RAFI 1999). 49 UZACHI (Unión de Comunidades Productoras Forestales Zaptotecas-Chinantecas) stellt einen Zusammenschluss der drei zapotektischen Gemeinden Capulálpam de Méndez, Santiago Xiacuí und La Trinidad sowie der chinantekischen Gemeinde Santiago Comaltepec dar, um die Kontrolle und ökonomische Wertschöpfung ihrer Territorien gegenüber dem mexikanischen Staat durchzusetzen (Burstein et al. 2002, S. 47).

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tis), dass die ForscherInnen nur mit Sondergenehmigung Zugang zum Gemeindeterritorium erhielten und in ihren Feldforschungen eng mit Gemeindemitgliedern kooperierten. Das Projekt beinhaltete die wissenschaftliche Ausbildung von Gemeindemitgliedern zu BiologInnen, um das bioprospecting auf ihrem eigenen Gebiet selbst durchführen zu können, sowie eine relativ hohe Gewinnbeteiligung der Gemeinde. Aufgrund der mangelnden Rentabilität der Forschungen wurde der Vertrag seitens Sandoz im Jahr 1999 nicht weiter verlängert (Chapela 2007, S. 137–138). Daran zeigt sich die selbstbewusste Verhandlungsposition der Gemeinden, die als ein Resultat der engen Verbindungen der Region zu nationalen und internationalen Prozessen und der damit einhergehenden Elitenbildung zu verstehen ist. Dies birgt jedoch auch Probleme für die jeweiligen Gemeinden, wie sich an den Korruptionsvorwürfen zeigt, denen die mit den Konzernen kooperierenden Gemeindemitglieder sowie die MitarbeiterInnen von UZACHI ausgesetzt waren (Oviedo 2002, S. 30). In globalen Diskursen wird der Verlust der Biodiversität häufig mit jenem des lokalen Umweltwissens (TEK) und lokaler kultureller Praktiken in Beziehung gesetzt. Es wird festgestellt, dass sich die Agrobiodiversität in ländlichen Gebieten Mexikos reduziert, was vor allem auf die Vernachlässigung der Subsistenzproduktion und die verheerenden Auswirkungen der Revolución Verde zurückzuführen ist. Sie wurde seit den 1970er Jahren zur „Modernisierung“ der kleinbäuerlichen Landwirtschaft im Rahmen des ländlichen Entwicklungsprogramms Programa Integral para el Desarrollo Rural (PIDER) in großem Stil vorangetrieben (Kleiche-Dray und Waast 2016, S. 97). Vor allem in Oaxaca, das als Bundesstaat mit der höchsten Agrobiodiversität und als kulturhistorisches Zentrum der Kultivierung von Mais in Mexiko gilt, wird dies kritisch diskutiert und versucht, durch agrarwirtschaftliche Programme entgegenzuwirken, die indigene Subsistenzpraktiken als Basis für eine nachhaltige Landwirtschaft verstehen (Kleiche-Dray und Waast 2016, S. 91; Toledo 1992). Diese Entwicklungen gehen auch auf die agrarwissenschaftlichen Forschungen der Universität Chapingo in den 1980er Jahren zurück, die mittels partizipativer Methoden eng mit der ländlichen Bevölkerung zusammenarbeiten. Die Tendenz, nachhaltige Landwirtschaft entwicklungspolitisch zu fördern (greening of aid), betrifft verstärkt Frauen und verbindet politische Ziele einer ökologischen, nachhaltigen Entwicklung mit Geschlechtergerechtigkeit und Empowerment (Vinz 2005, S. 7; Braidotti et al. 1994, S. 11). Dies geht auf die internationale Anerkennung insbesondere indigener Frauen zurück, die in internationalen Dokumenten wie der Biodiversitätskonvention (CDB) oder der Agenda 21 als zentrale Akteurinnen für einen nachhaltigen Umweltschutz erwähnt werden (Ulloa 2007, S. 22). Ihr besonderer Beitrag zum Erhalt der Biodiversität und Umwelt schlägt sich auf der nati-

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onalen Ebene lateinamerikanischer Staaten in Umweltschutzprogrammen und der Entwicklungsarbeit nieder (Ulloa 2007). Die Behörde für die Indigene Bevölkerung (CDI) beispielsweise unterstützt explizit Frauen bei der Produktion, der Herstellung und beim Verkauf von „ökologisch“ erzeugten Produkten und traditioneller Medizin.50 Die Unterstützung von Frauen in landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten51 in Oaxaca steht auch im Zusammenhang mit der hohen Emigration (von mehrheitlich Männern), der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (die die Männer zur Lohnarbeit verpflichtet) und der Ansicht, dass Frauen verlässlicher, verantwortungsbewusster und kooperativer seien. Die beschriebenen Entwicklungen lassen die Gemeinden der Sierra Juárez zu Laboratorien für gemeindebasierten nachhaltigen Naturschutz und nachhaltige Forstwirtschaft werden (Bray et al. 2005; Bray 1991). Sie avancieren zum Vorbild einer naturverbundenen indigenen Lebensweise, in welcher nachhaltige Umweltschutzmaßnahmen wie die Wiederaufforstung in Bezug zu traditionellen Organisationsweisen wie die Gemeinschaftsarbeit (tequios)52 oder die guelaguetza53 gesetzt werden. Der Beitrag indigener Gemeinden zum Umweltschutz in Oaxaca wird international rezipiert, wie die Preisverleihung des international renommierten Goldman Environmental Prize an den Mixteken Jesús León Santos zeigt. 54 Dadurch

50 Beispielsweise unterstützt das Programm POPMI (Programa de Organización Productiva para las Mujeres Indígenas) explizit Frauen in einkommenschaffenden Maßnahmen. Sie werden auch explizit in dem traditionellen, biologischen Anbau in Hausgärten und der Herstellung von traditioneller Medizin seitens des CDI unterstützt (Rebollar-Domínguez et al. 2008; CDI/POPMI). 51 Kritische TheoretikerInnen diskutieren die Verpflichtung von Frauen in der umweltbezogenen Entwicklungszusammenarbeit als „Feminisierung der Umweltverantwortung“ (Vinz 2005, S. 8). 52 Tequios sind eine von den Gemeindemitgliedern unentgeltlich erbrachte Arbeitsleistung, durch die wichtige Infrastrukturarbeiten umgesetzt werden; sie gelten als spezifisch indigene Organisationsformen. Tequios können als „short-term volunteer work toward some specific end“ definiert werden (Eisenstadt 2007, S. 63; vgl. Kapitel 6.4.2). 53 Als guelaguetza wird der reziproke Austausch von Arbeitsleistungen bezeichnet. Sie stellt ein zentrales Prinzip gegenseitiger Hilfeleistungen dar, z.B. bei der Ernte oder der Aussaat, das vor allem über das System ritueller Verwandschaft (compadrazgo) organisiert wird (vgl. Dürr 2002, 1996, S. 222–228; Barabas 1999, S. 82). 54 Jesús León Santos organisierte die Wiederaufforstung in der Mixteka in Oaxaca in Form eines tequio und ist Mitbegründer von CEDICAM (Centro de Desarrollo Integ-

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werden idealisierte Vorstellungen einer „indigenen“ Nähe zur Natur und der intrinsischen Motivation bestärkt, diese zu schützen, was in zunehmender Weise von den Indigenen selbst etabliert und im Kontext indigener Identitätspolitiken eingesetzt wird (Rossbach de Olmos 2004, S. 554). 2.3.3 Sí a la vida – no a la minería: Lokale Umweltproteste 55 Als indigen klassifizierte Wirtschaftsweisen wie die gemeindebasierte Forstwirtschaft oder Subsistenzlandwirtschaft werden mit modernen Nachhaltigkeitsdiskursen in Verbindung gesetzt und dienen als Bezugspunkt für Umweltbewegungen in Mexiko sowie ganz Lateinamerika (Martinez-Alier et al. 2016, S. 37). Dies zeigt sich z.B. an der sich formierenden Protestbewegung in der Sierra Juárez, die sich gegen die Wiederinbetriebnahme der Mine in Natividad richtet. Hier tritt die Widersprüchlichkeit der Ressourcenpolitik des mexikanischen Staats voll in Erscheinung. So fördert dieser nicht nur nachhaltige Wirtschaftsformen, Naturschutz und Ökotourismus in der Sierra Juárez, sondern betreibt – in einer Region, deren außergewöhnliche Biodiversität weltweit einzigartig ist – parallel eine auf Extraktivismus basierende Ressourcenpolitik. Darin wird der Abbau von Rohstoffen vor dem Biodiversitätsschutz und Umweltkompensationszahlungen als Motor für die nationale Entwicklung priorisiert (Merino 2016, S. 237). Dies ist eine Reaktion auf die weltweit steigende Nachfrage nach Bodenschätzen, die auch vor indigenen Territorien nicht Halt macht. Gegenwärtig ist ein Viertel des gesamten mexikanischen Staatsgebiets durch Konzessionen an internationale Minengesellschaften vergeben (Fuente Carrasco und Barkin 2013, S. 127). Möglich gemacht hatte diese staatliche Ressourcenpolitik Präsident Carlos Salinas de Gortari (Amtszeit 1988–1994), der den Artikel 27 reformierte, welcher alle unter der Erdoberfläche liegenden Ressourcen als Staatsbesitz ausweist; er verabschiedete außerdem das Minengesetz von 1993 und Gesetze zur Förderung von Kapitalinvestitionen internationaler Firmen (Fuente Carrasco und Barkin 2013, S. 127). Seitdem wurden, vor allem unter den Regierungen der Präsidenten Vicente Fox (Amtszeit 2000–2006) und Felipe Calderon (2006–2012) über 51 Millionen ha des mexikanischen Territoriums konzessioniert (Bacon 2012). In Oaxaca wurden nach Angaben des Wirtschaftsamts (Secretaría de Economía, SE) bis 2011 Konzessionen bereits über 779.000 ha (ca. 8 Prozent

ral Campesino de la Mixteca). In den lokalen Diskussionen um die Preisverleihung wurde kritisch angemerkt, dass keine Einzelperson den Preis für gemeinschaftlich organisierten Naturschutz erhalten dürfe. 55 „Ja zum Leben – Nein zur Minentätigkeit“.

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des Bundesstaats) in erster Linie an kanadische und US-amerikanische Minengesellschaften vergeben (Fuente Carrasco und Barkin 2013, S.127). Jedoch sind nur zwei der insgesamt 33 Minen in Betrieb, in welchen es vielfach zu gewalttätigen Konflikten kommt.56 Diese Entwicklungen zeigen sich auch in der Sierra Juárez, die, wie bereits dargestellt, seit der Kolonialzeit für den Bergbau bekannt war und als lukratives Gebiet ins Visier geologischer Untersuchungen geriet. Zwar ist der Rohstoffabbau in Natividad seit 1989 wegen mangelnder Erträge zum Erliegen gekommen, jedoch weisen die ab 1993 (ohne die Genehmigung der Gemeinden) durchgeführten Bodenproben hohe Gold- und Silbervorkommen auf. Folglich wurden zwischen 2000 und 2006 Konzessionen für die Wiederinbetriebnahme der Mine in Natividad und Schürfrechte für ca. 54 Millionen ha Gemeindeländereien für 50 Jahre an das kanadische Minenunternehmen Continuum Resources Ltd. vergeben (Fuente Carrasco und Barkin 2013, S. 136–137). Der mexikanische Staat betreibt damit einen fundamental widersprüchlichen Diskurs: Während er einerseits die Rechte der indigenen Bevölkerung gemäß der ILO-Konventionen und der autonomen Verwaltung in Oaxaca nach usos y costumbres billigt, vergibt er andererseits Konzessionen der Schürfrechte, ohne das Recht der lokalen Bevölkerung auf vorhergehende Anhörungen (consulta previa) einzuhalten. Der Abbau von Rohstoffen wird als Modernisierung und „nachhaltige Entwicklung“ peripherer Regionen diskursiv eingerahmt, deren ökologische Auswirkungen durch technologisches Know-how begrenzbar seien und durch die sozioökonomischen Vorteile für die BewohnerInnen ausgeglichen würden. Diese Versprechungen bewahrheiten sich jedoch nicht, sondern – ganz im Gegenteil – verstärken soziale, ökologische und langfristig auch ökonomische Probleme. So spitzen sich die sozialen Umweltkonflikte in Mexiko (Toledo et al. 2015) sowie in ganz Lateinamerika angesichts der Zunahme des Extraktivismus und der Green Economy einer neoliberalen Wirtschaftspolitik extrem zu (Castro et al. 2016; Carruthers 2008). Auch in der Sierra Juárez formiert sich gegenwärtig eine Protestbewegung gegen die Wiederinbetriebnahme der Mine in Natividad, die sich aus führenden Gemeinden der Region zusammensetzt, darunter Lachatao. Angeführt wird der Widerstand von der Gemeinde Capulálpam de Méndez, auf deren Territorium

56 Die in Betrieb stehenden Minen sind El Águila in San Pedro Totolapan, betrieben von der US-amerikanischen Minengesellschaft Gold Resource Corp., sowie die Mine San José in San José del Progreso, die dem kanadischen Unternehmen Fortuna Silver Mines zugehörig ist. Im Jahr 2009 wurden bei Protesten in San José del Progreso zwei Menschen getötet (vgl. Bacon 2012).

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ein Großteil der Bodenschätze liegt. Diese Gemeinde erhob 2007 Klage gegen die Minengesellschaften und staatlichen Behörden, unter anderem gegen das Bundesministerium für Umwelt und Rohstoffe (SEMARNAT) und die Bundesverwaltung für Umweltschutz (PROFEPA), über die bislang noch nicht entschieden ist. Als Argumentationsgrundlage dienten die von der Gemeinde initiierten Forschungen über die Verschmutzung des Grundwassers und das Versiegen von Quellen, was durch die frühere Minentätigkeit bedingt ist (Aquino Centeno 2010). Neben der Zerstörung des Naturraums beriefen die Kläger sich auf die Missachtung indigener Rechte, insbesondere der consulta previa (Mraz Bartra 2014, S. 80). Die Gemeinde Capulálpam, die auch in der nachhaltigen Forstwirtschaft und im Ökotourismus tätig ist, betreibt eine starke Öffentlichkeitsarbeit, um über die Thematik aufzuklären und der Politik der Minengesellschaften entgegenzuwirken (die den Gemeinden umfassende Versprechungen zu Sozialleistungen und Infrastruktur machen). Hier kommt der gut ausgebildeten Elite der Gemeinde (den sogenannten profesionistas) eine wichtige Rolle zu, indem diese ihr soziopolitisches Kapital und ihre Professionalität, z.B. als Biologen, Anthropologen oder Rechtsanwälte zu Gunsten der Gemeinden einsetzt. Zudem arbeiten die Gemeinden beim Aufbau der Protestbewegung mit internationalen Akteuren und NGOs zusammen. Im Zuge dessen wurden mehrere Foren veranstaltet, in denen sich die vom Bergbau betroffenen Gemeinden des Rio Grande versammelten. Im Jahr 2013 richtete Capulálpam in Kooperation mit zahlreichen NGOs den internationalen Kongress Sí a la vida – no a la minera aus, zu dem 300–400 TeilnehmerInnen anreisten, auch aus anderen mittelamerikanischen Ländern. Die Gemeinde Capulálpam avancierte so zum Fürsprecher der AntiMinen-Protestbewegungen der Region, die sich explizit auf eine spezifisch indigene Beziehung zur Natur stützen, die nicht rein utilitaristisch und ökonomisch zu verstehen ist. Dies verdeutlicht sich in der Aussage des Leiters des comisariado de los bienes comunales in Capulálpam, Francisco García, zitiert in einem Zeitungsartikel: „Es war [schon immer] ein schwieriger Weg, den wir gemeinsam gehen. Der kollektive Geist von Capulálpam ist wie ein Band, das uns zusammenhält. Unsere spirituellen Werte als indígenas sind mit unserer Erde, unserem Wasser und unseren Territorien verbunden und gehen weit über den reinen Geldwert hinaus.“ (Martínez 2014, Übersetzung durch die Autorin)

Daran zeigt sich, dass die Umweltkonflikte zu einer verstärkten Sichtbarkeit der Gemeinden führen, die nicht nur den städtischen Raum Oaxaca, sondern durch internationale Vernetzung mit umweltpolitischen Protestbewegungen auch eine

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globale Öffentlichkeit erreichen. In der Repräsentation knüpfen die Gemeinden an die gemeindebasierte Forstwirtschaft und den kommunalen Umweltschutz an und beanspruchen das Recht, die Biodiversität der Region dauerhaft zu erhalten. Fürsprecher der Gemeinden proklamieren, eine lokalspezifische nachhaltige Entwicklung voranzutreiben, die sich von den modernisierungstheoretischen Konzepten der Regierung abhebt. Im Mittelpunkt steht das Territorium, das als Zentrum der lokalen Identität und als Existenzgrundlage gesehen wird und nicht unabhängig von der kulturellen und soziopolitischen Organisation der Gemeinden verstanden werden kann (Fuente Carrasco und Barkin 2013). In der Argumentation verbinden sie indigene und ökologischen Vorstellungen, die sie auf die lokale Umwelt beziehen, wie es auch der jüngst erschienene Sammelband zu environmental governance in Lateinamerika vermerkt: „due to a convergence between indigenous communitarian views and environmental discourses, an interesting ecoterritorial turn in socioenvironmental struggles has come about“ (Castro et al. 2016, S. 9). Die sozialen indigenen Bewegungen in Mexiko weisen somit eine neue Qualität auf, indem sie die klassischen Themen der Land- und Menschenrechte mit der nachhaltigen Entwicklung in den indigenen Gemeinden in Verbindung setzen. „[R]ecent political processes have been demonstrating that the best way to defend the human rights of indigenous peoples is encouraging self-organization and the economic improvement of local communities and that this situation is only possible through correct sustainable management of natural resources. Thus all these new social movements are actually aware that the defense of their culture and modes of life is linked to controlling and managing the lands and natural resources as well as to their socioeconomic relations with the markets and the entire society.“ (Toledo 2001, S. 484)

In Anlehnung daran positionieren sich die Gemeinden der Sierra Juárez als Pioniere des Umweltschutzes und Vorbilder für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Position entwickelte sich, wie dieser geschichtliche Abriss zeigt, in enger Verbindung zu externen Akteuren, insbesondere mit dem mexikanischen Staat. Die staatliche Modernisierungspolitik angesichts des problema indio hat dazu ebenso beigetragen wie die Zugeständnisse „indigener Rechte“ Ende des 20. Jahrhunderts sowie die Ressourcen- und Umweltpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Diese Entwicklungen sind die Grundlage für die Entstehung des Ökotourismus in der Region – der im Spannungsfeld staatlicher Entwicklungspolitik und lokaler Aneignung gegenwärtige Prozesse weiter dynamisiert. Die Geschichte der Region zeigt deutlich, wie – durch die enge Interaktion mit staatlichen Strukturen und Wirtschaftspraktiken – sich führende Gemeinden der Sierra

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Juárez diese zu Nutze machten. Nur dadurch haben sie ihre jetzige Position als Pioniere des Umweltschutzes und Vorreiter im Ökotourismus erlangt, was es ihnen ermöglicht, ihre soziopolitische Stellung als Mittel gegen staatliche und internationale Interessen einzusetzen.

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Ökotourismus: Theoretisches Konzept und lokale Umsetzung Around the world, ecotourism has been hailed as a panacea: a way to fund conservation and scientific research, protect fragile and pristine ecosystems, benefit rural communities, promote developments in poor countries, enhance ecological and cultural travel industry, satisfy and educate the discriminating tourist, and, some claim, build world peace. Honey 2008a, S. 4

So beschreibt Martha Honey die vielfältigen Erwartungen an Ökotourismus, die diesen somit zum Allheilmittel (v)erklären. Obwohl sich Ökotourismus mittlerweile weltweit als Terminus etabliert hat, gibt es keinen verbindlichen Kriterienkatalog, der die Bezeichnung regelt. Unzählige Definitionsversuche wurden seitens der Wissenschaft sowie der Tourismusindustrie vorgelegt, die trotz ähnlicher Kriterien (Zanotti und Chernela 2008, S. 496; Burns 2004, S. 13) eher die Heterogenität der Zielsetzungen und zugrundeliegenden Konzepte veranschaulichen als zu einer allgemeingültigen Definition führen (Fennell 2001)1. Die unterschiedlichen Zielsetzungen und Quellen, aus denen sich das Konzept speist, verunmöglichen eine verbindliche Definition von Ökotourismus, sodass der Begriff ein „unresolved definitional conitinuum“ bleibt (Higham 2007, S. 5). Daran ver-

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Fennell stellt allein für das Jahr 2001 85 Begriffsdefinitionen von Ökotourismus vor, was angesichts dessen, dass es sich um einen relativ jungen Forschungsgegenstand handelt (ab den 1980er Jahren), beachtlich und kontraproduktiv zugleich ist (Gale und Hill 2009, S. 5).

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deutlicht sich das Spannungsfeld von Ökotourismus, das einerseits als globales Konzept nachhaltiger Entwicklung verhandelt wird und andererseits eine lokale Praxis darstellt, die sich je nach nationalen Kontexten, Initiatoren, den beteiligten Personen und lokaler (Tourismus-)Geschichte sehr unterschiedlich gestaltet. Im Folgenden wird dieses Spannungsfeld zwischen konzeptueller Programmatik und lokaler Umsetzung am Beispiel Oaxacas dargestellt. In Lateinamerika wurde Ökotourismus in seinen Anfängen vor allem als politisches Mittel verstanden, um ein öffentliches Umweltbewusstsein zu schaffen und eine wirtschaftliche Alternative zu umweltzerstörenden Praktiken zu bieten (Ceballos-Lascuráin 1993). Der Begriff Ökotourismus wurde maßgeblich vom Mexikaner Hector Ceballos-Lascuráin2 geprägt, dessen Definition 1992 auch von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) übernommen wurde: „Ecotourism is environmentally responsible travel and visitation to relatively undisturbed natural areas, in order to enjoy and appreciate nature (and any accompanying cultural features – both past and present) that promotes conservation, has low visitor impact, and provides for beneficially active socioeconomic involvement of local populations.“ (CeballosLascuráin 1996, S. 21)

Dies ist eine der ersten Begriffsdefinitionen von Ökotourismus und wurde formuliert, um die touristische Entwicklung auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán für den Schutz der Sümpfe als Brutstätte für Flamingos nutzbar zu machen (Honey 2008a, S. 15). Damit wurde Ökotourismus als Mittel nachhaltiger Entwicklung in ökologischer und sozioökonomischer Hinsicht propagiert und der Widerspruch zwischen Naturschutz und regionaler Entwicklung zurückgewiesen. Dies wurde institutionell 1992 seitens der IUCN in einem ÖkotourismusConsultancy-Programm verankert, das Ökotourismus als zentrales Mittel des Umweltschutzes deklarierte (Honey 2008a, S. 16; Caballos-Lascuráin 1996). Ökotourismus wird darin als ökonomischer Anreiz für die lokale Bevölkerung verstanden, um diese von umweltschädigenden Praktiken und Ressourcenausbeutung abzuhalten und stattdessen für den Erhalt der Biodiversität zu motivieren (Mbaiwa und Stronza 2009, S. 336). Der grundlegende Gedanke dabei ist, dass lokale Gemeinschaften den Erhalt der Natur oder natürlicher Ressourcen am ehesten anstreben, wenn sie davon profitieren können.

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Zu dieser Zeit gründete Hector Ceballos-Lascuráin die NGO PRONATURE in Mexiko. Der Begriff Ökotourismus wurde erstmals 1965 von Hetzer definiert (Hetzer 1970).

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Dieses Konzept ging aus der Tourismuskritik der 1960/70er Jahre hervor und begründet sich in dem Vorhaben, Umweltschutz und Entwicklungshilfe miteinander zu verbinden und verstärkt die lokale Bevölkerung partizipativ einzubinden (Butcher 2007). Dabei entwickelte sich ein Konsens darüber, dass Ökotourismus als politisches Konzept bestimmte Werte befördern sollte, wie Umweltschutz, gemeindebasierte Organisationsweisen und soziale Nachhaltigkeit (Gale und Hill 2009, S. 6; Weaver und Lawton 2007). Diese programmatische Ausrichtung von Ökotourismus konzentriert sich auf drei prinzipielle Ziele: 1) die negativen ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Massentourismus zu minimieren; 2) einen positiven Beitrag zum Umweltschutz zu leisten; sowie 3) die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung zu verbessern (Mbaiwa und Stronza 2009, S. 336; Wearing und Neil 1999). Auch wird gemäß dem Nachhaltigkeitsprinzip die Beteiligung von Frauen am Ökotourismus gefordert; jedoch bleiben zumeist konkrete Maßnahmen aus, um ihre gleichberechtigte Anteilnahme und politische Mitentscheidung zu bewirken (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 28, 63). Seit den 1990er Jahren reagiert auch der mexikanische Staat auf die zunehmende Kritik an touristischen Großprojekten3 und folgt dem weltweiten Trend, alternative Tourismusformen wie Öko- und Naturtourismus staatlich zu fördern (Walther und Dürr 2019).4 Im Nationalen Entwicklungsplan der mexikanischen Regierung (Plan Nacional del Desarrollo 2013–2018) wird Ökotourismus als Komplementierung von großangelegten Tourismusprojekten im Stil von sol y playa (Badeurlaub) als eine investitionsarme Form von alternativem Tourismus propagiert. Dabei werden unter dem Begriff ecoturismo in Mexiko umgangssprachlich unterschiedliche alternative Tourismusformen verstanden, die im weitesten Sinne mit Natur zu tun haben und häufig kombiniert werden (Fuente Car-

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Die touristische Entwicklung in Mexiko konzentrierte sich seit Ende der 1960er Jahre auf die Top-down-Errichtung von touristischen Großprojekten, die sich als sol y playa auf Badeurlaub spezialisierten, wie die Riviera Maya an der Karibikküste sowie Acapulco und Ixtapa‐ Zihuatanejo an der Pazifikküste. Sie stellten großangelegte Modernisierungsprojekte des mexikanischen Staats dar, die der wirtschaftlichen Entwicklung peripherer Regionen und internationalen Kapitalinvestitionen dienen sollten. Die Tourismuszentren sollten dem seit dem Ende des mexikanischen Wirtschaftswunders in den 1980er Jahren verstärkt auftretenden Problem der Landflucht und der damit bedingten Konzentration der Bevölkerung und Wirtschaft auf wenige urbane Zentren entgegenwirken (Brenner 2010, 2005, 2003).

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Nach Angaben der UNWTO von 2004 ist der weltweite Anstieg an Naturtourismus dreimal höher als die allgemeine touristische Entwicklung (Honey 2008a, S. 7).

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rasco und Ramos Morales 2013, S. 68; Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 8). Dies hängt auch mit der Förderung verschiedener Programme zusammen, die alle für sich beanspruchen, sozial, ökologisch und kulturell nachhaltig zu sein, wie es die Agenda 21 des mexikanischen Staats für touristische Entwicklung vorgibt (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 14). Um dem greenwashing von Ökotourismus Abhilfe zu leisten, wurde in den letzten Jahren eine unübersichtliche Anzahl an Zertifizierungen eingeführt, die jedoch alle unterschiedliche Kriterien heranziehen (Honey 2008b, 2002; Medina 2005). In Mexiko etablierte sich das staatliche Zertifikat der NORMA 133, das auf einem umfassenden Kriterienkatalog aufbaut und in gemeindebasierten Ökotourismusprojekten die soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit zu garantieren verspricht. So sollen die Glaubhaftigkeit mexikanischer Ökotourismusprojekte auf dem Weltmarkt etabliert und zugleich die nachhaltige Strukturentwicklung ländlicher Gegenden gefördert werden (Honey 2008a). Dadurch rücken indigene Gemeinden in den Mittelpunkt ökotouristischer Entwicklungen und werden als entscheidend für einen nachhaltigen Tourismus und somit einen gelingenden Umweltschutz angesehen (Björk 2007, S. 41; Butcher 2007, S. 188). Die indigene Naturverbundenheit dient hier als zentrales Repräsentationsmittel und darüber hinaus als wichtiges Argument für die Implementierung von Ökotourismus (Pereiro Pérez 2015; Meiser und Dürr 2014, S. 159–160; Trupp und Trupp 2009; Conklin und Graham 1995). Die lokale Bevölkerung ist in diesem Feld ökotouristischer Entwicklungen und Diskurse widersprüchlichen Zuschreibungen ausgesetzt. Während konventionelle Naturschutzdiskurse sie einerseits als die Umwelt zerstörend und rückschrittlich betrachten (z.B. wegen Brandrodungsfeldbau), wird sie andererseits, durch den Tourismus verstärkt, als in harmonischem Verhältnis zur Natur lebend oder gar als deren Teil repräsentiert. Dabei dient das Konzept des biologischen und kulturellen Erbes (el patrimonio biocultural) als Vermarktungsstrategie, die die artenreichen Naturräume und die kulturelle Diversität Mexikos gleichermaßen touristisch propagiert (Fuente Carrasco und Barkin 2015). Die stereotypisierenden Repräsentationen der indigenen Bevölkerung als besonders naturverbunden werden mit der besonderen Biodiversität der Region verknüpft und als Aushängeschild der biologischen und kulturellen Diversität (Megadiversität) Mexikos herangezogen. Die indigene Bevölkerung wird gemäß dieser Ansätze nicht nur als entscheidend für die Erhaltung der Umwelt angesehen, sondern auch als für den Bestand der Biodiversität verantwortlich erklärt (Robson und Berkes 2010, S. 197; Maffi 2005, 2001; Toledo 2001). Diesen Richtungswechsel – indigene Wirtschaftsweisen als die Biodiversität fördernd und nicht, gemäß konventioneller Naturschutzansätze, als umweltschädigend anzusehen – macht die Tou-

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rismusbranche für sich nutzbar. Dies zeigt sich auch im Abschlussbericht des World Ecotourism Summit, der anlässlich des International Year of Ecotourism5 im Jahr 2002 in Quebec abgehalten wurde: „Recognize the cultural diversity associated with many natural areas, particularly because of the historical presence of local and indigenous communities, of which some have maintained their traditional knowledge, uses and practices, many of which have proven to be sustainable over the centuries. […] Affirm that different forms of tourism, especially ecotourism, if managed in a sustainable manner, can represent a valuable economic opportunity for local and indigenous populations and their cultures and for the conservation and sustainable use of nature for future generations and can be a leading source of revenues for protected areas.“ (World Tourism Organization et al. 2002, S. 66)

Dies stellt eine entscheidende Veränderung der Rolle der indigenen Bevölkerung im Tourismus dar, die nicht mehr (wie bislang) bei herkömmlichen Tourismusprojekten im Sinne von „Export von Exotik und exzellenten Dienstleistungen“ (Baumhackl 2006, S. 166) als folkloristische Tourismusattraktion durch Tänze, Kunsthandwerk und kulinarische Spezialitäten in Szene gesetzt wird, sondern auch selbst wichtige touristische Prozesse mitbestimmt. Treten indigene AkteurInnen als Verwalter ihrer eigenen Projekte auf, so wird in der Literatur häufig von indigenem Ökotourismus gesprochen. Wenngleich sich auch in diesem Feld bislang keine einheitlichen Definitionen durchsetzen konnten, wird indigener Ökotourismus zumeist verstanden als „nature-based attractions and tours, owned by tribal groups, which feature indigenous cultural knowledge and practices linked to the land“ (Zeppel 2006, S. 24). Häufig werden ihm die Charakteristika gemeindebasiert, partizipativ, nachhaltig, distributiv und ökologisch zugewiesen (Pereiro Pérez 2015, S. 27). Als konzeptueller Ausgangspunkt von indigenous tourism kann gelten, dass sich kulturelle Selbstbestimmung und ökonomischer Erfolg wechselseitig begünstigen und so zum Erhalt indigener Kultur beitragen sollen: „[C]ultural survival contributes to economic success and economic success contributes to cultural survival“ (Butler und Hinch 2007, S. 3). Der entscheidende Aspekt bei der Differenzierung verschiedener indigener Ökotourismusformen ist die unterschiedlich ausgeprägte Kontrolle, die indigene Gruppen bzw. Akteure über die Projekte und touristischen Prozesse haben. Dies ist von ihrem jeweiligen legalen Status, der Anerkennung indigener Rechte und der Ver-

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Das International Year of Ecotourism (IYE) wurde vom United Nations Environment Programme (UNEP) und der World Tourism Organisation (WTO) unter der Leitung der Vereinten Nationen (Resolution 53/200) angeleitet.

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fügung über indigene Territorien abhängig (Pereiro Pérez 2015; Stronza und Durham 2008; Notzke 2006). Aufgrund ihres häufig marginalisierten Status sind indigene Gruppen zumeist in besonderem Maße auf die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von staatlichen Institutionen und NGOs auf finanzieller sowie logistischer Ebene in Form von Ausbildung, Sprache oder Marketing angewiesen (Zeppel 2006, S. 12, 20). Indigener Tourismus in Mexiko ist in der Regel gemeindebasiert (community-based tourism, CBT) und wird charakterisiert durch eine konsensbasierte Entscheidungsfindung, die lokale Kontrolle der touristischen Entwicklung, Empowerment6 sowie eine symmetrische Beziehung zwischen TouristInnen und Gemeinden (vgl. Salazar 2012, S. 10). Daraus wird geschlossen, dass der Tourismus den Gemeindeinteressen dienlich sei und alle Gemeindemitglieder gleichermaßen davon profitierten (Neudorfer 2007, S. 45). Dieses idealisierende Bild des CBT beruht auf der weitverbreiteten Stereotypisierung von community als „homogener“ Gemeinschaftsform, die durch ein harmonisches Zusammenleben gleichberechtigter Mitglieder bestimmt sei (Baptista 2014; Salazar 2012, S. 12). Dies verdeutlicht sich, wie später aufgezeigt wird, im indigenen Ökotourismus der Sierra Juárez anhand eines lokalen Konzepts von Gemeinschaft, das als comunalidad bezeichnet wird. Damit geht einher, dass die Gemeinde selbst einschließlich ihrer Traditionen und soziopolitischen Organisationsweisen zur touristischen Attraktion wird. „Community-based tourism is about self-determination, but also about creating a new product: authentic experience of indigenous or rural lifestyles“ (Strasdas 2001, S. 149). Dieses „authentische Erlebnis“ wird auch durch die Begegnung zwischen BesucherInnen und der lokalen Bevölkerung hergestellt, die als respektvoll, jenseits neokolonialer Exotisierungen und primär ökonomischer Interessen verstanden wird (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013; Neudorfer 2007, S. 45). Allein in Mexiko existieren 31 Programme, die speziell alternativen Tourismus (Naturtourismus, Ökotourismus, turismo rural, Abenteuertourismus) in indigenen Gemeinden fördern, aber untereinander nicht koordiniert sind (Gasca Zamora et al. 2010, S. 78–79). Darüber hinaus haben Gemeinden Zugriff auf zahlreiche weiterführende Programme, die eine nachhaltige Strukturentwicklung im Zusammenhang mit Tourismus fördern. Eine vom mexikanischen Umweltamt (SEMARNAT) aufgestellte Liste beinhaltet 70 Regierungsprogramme, die

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Zudem sind eurozentrische „universalistische“ Konzepte wie Empowerment, Nachhaltigkeit oder Armutsreduzierung aus einer ethnologischen und postkolonialen Perspektive heraus zu relativieren, da sie ganz unterschiedlich verstanden werden (vgl. Tucker und Boonabaana 2012, S. 438).

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produktive Maßnahmen in Kultur und Umweltschutz unterstützen, die als der Förderung von Naturtourismus dienlich angesehen werden. 7 Zentral für die Anfangsfinanzierung der ökotouristischen Infrastruktur (Unterkünfte, Restaurants etc.) ist das von der Tourismusbehörde (SECTUR) geleitete Programa de Ecoturismo y Turismo Rural (PETR) sowie das Programm Turismo Alternativo en Zonas Indígenas (PTAZI), das speziell für indigene Gemeinden von der Behörde für indigene Angelegenheiten (CDI) unterstützt wird.8 Konzeptuell beinhalten die Programme, Ökotourismus als Einkommen schaffende Maßnahme zu fördern, daneben die Umwelt zu schützen und gleichermaßen die indigene Kultur zu stärken (Fuente Carrasco und Barkin 2015, S. 3). Die Zielsetzung des Programmes wird folgendermaßen beschrieben: „Durch alternativen Tourismus, insbesondere den Öko- und ländlichen Tourismus, soll zur Entwicklung der indigenen Bevölkerung beigetragen werden, indem das vorhandene Potenzial in den indigenen Regionen durch Projekte genutzt wird, die das Ziel haben, die natürlichen und kulturellen Ressourcen neu zu bewerten, zu erhalten und nachhaltig zu nutzen.“ (CDI 2008, S. 3, Übersetzung durch die Autorin)

Das Programm hat seine Vorläufer in dem vom INI (Instituto Nacional Indigenista, 1948 gegründeten Vorgängerinstitut des heutigen CDI) initiierten Konzept, zur nachhaltigen Entwicklung in indigenen Gemeinden (Pueblos indígenas, ecología, y producción para el desarollo sustentable). Schon 1989 nahm das INI erstmals Ökotourismus und agroecología in das Repertoire auf, wenn auch nur mit wenig Fördermitteln (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 16). Erst anlässlich des Internationalen Jahres des Ökotourismus 2002 förderte die mexikanische Regierung verstärkt Ökotourismus, sodass zwischen 2001 und 2006 262 Ökotourismusprojekte in indigenen Gemeinden mit einer Summe von über 121 Millionen Pesos (ca. 5,9 Mio. €) unterstützt wurden (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 18). Eine im Jahr 2004 durchgeführte Studie der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) ergab jedoch, dass nur ein Bruchteil der Projekte auch in Betrieb waren. Viele Gemeinden hatten grund-

7 8

Vgl. SEMARNAT 2014. Das Programm wird seit 2006 von der Nationalen Behörde für die Indigene Bevölkerung, CDI (Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas), geleitet. Als Partizipationskriterium der Gemeinden werden 40 Prozent indigener Sprachgebrauch vorgegeben (CDI 2008). Weitere finanzielle Unterstützungen leisten das Secretaría de Turismo y Desarrollo Económico sowie das COINDIO-CONAFOR, Instituto de Ecología.

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legende Probleme mit der Organisation, Finanzierung, Technik und Werbung (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 20). Dies hatte zur Folge, dass die touristische Infrastruktur unzureichend aufgebaut wurde, z.B. keine bezugsfertigen Unterkünfte zur Verfügung standen und weder klare Zuständigkeiten des Personals noch Fachkenntnisse existierten. Im Jahr 2007 wurde das Programm neu konzipiert und sieht seitdem Ausbildungsprogramme für die lokale Bevölkerung sowie eine Projektevaluation vor. Zudem müssen die Gemeinden ein Konzept sowie einen Zeitplan für die touristische Entwicklung vorlegen, was aufgrund der Komplexität der Antragstellung die Hilfe externer ExpertInnen, sogenannter asesores oder consultores erfordert. Diesen wird in den Gemeinden ein geringes Ansehen zuteil, da sie durch ihren Kontakt zu den staatlichen Institutionen und ihr Wissen über die bürokratischen Abläufe Zugang zu Geldern haben und es nicht selten zu Korruption und zu Betrug an den Gemeinden kommt. Um Missbrauch zu verhindern, ist die weitere Förderung der Projekte davon abhängig, inwieweit die Projektplanung umgesetzt wurde. Neben der finanziellen Förderung für die touristische Infrastruktur wie Unterkünfte werden Schulungen für die MitarbeiterInnen im Ökotourismus sowie für die gesamte Gemeinde angeboten. Oaxaca ist aufgrund seiner besonderen Biodiversität und der geringen wirtschaftlichen Entwicklung ein Zentrum der staatlichen Förderung von Ökotourismus. Daran zeigt sich die „soziale“ Politik des mexikanischen Staats, welche der schlechten sozioökonomischen Situation und der hohen Abwanderungsrate ländlicher Gebiete etwas entgegensetzen will. Die Emigration hat sich durch die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Auswirkungen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) und die Abwertung des Pesos noch verstärkt. Zwischen 2001 und 2006 erhielt Oaxaca die höchste Fördersumme für Ökotourismus in Mexiko, die insgesamt bei 23,25 Prozent der staatlichen Förderung in diesem Bereich lag (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 100– 101). Ein Großteil dieser Gelder fließt in die touristische Entwicklung der Sierra Juárez, die im Entwicklungsplan des Bundesstaats Oaxaca 2011 (Gobierno del Estado de Oaxaca 2011) explizit hervorgehoben wird (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 68). Angesichts globaler Umweltzerstörung und eines zunehmenden Umweltbewusstseins in Mexiko wird der Bundesstaat Oaxaca touristisch als „Essenz“ des Landes inszeniert, die sich durch eine außergewöhnliche biologische und kulturelle Diversität auszeichnet. Dies knüpft an die lange touristische Tradition der Region an, die sich bislang auf die Kolonialstadt Oaxaca de Juárez (die seit 1978 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt) und die nahegelegenen zapotekischen Ausgrabungsstätten (Monte Albán und Mitla) konzentrierte. Die Stadt liegt in

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einem Tal der Sierra Madre del Sur, das seit prähispanischer Zeit eine wichtige Handelsroute beherbergt und durch die Lage auf 1.550 Metern über den Meeresspiegel ein angenehmes gemäßigtes Klima aufweist. Der hohe Anteil indigener Bevölkerung bedingt, dass sich Oaxaca seither zum „Mekka der mexikanischen Volkskunst“ entwickelt hat (Kummels und Brust 2004, S. 479). Die kulturelle Diversität wurde schon in den 1970er Jahren durch Kunsthandwerk, Tänze und kulinarische Produkte vor der Kulisse von Oaxacas Kolonialarchitektur zur touristischen Attraktion. Insbesondere die Produktion von Kunsthandwerk wurde ab den 1950er Jahren durch verschiedene Regierungsprogramme – allen voran die der damaligen Behörde für die indigene Bevölkerung (INI) – sowie den FONART (Fondo Nacional para el Fomento de las Artesanías) stark gefördert (Kummels und Brust 2004, S. 468). Bis heute stellen Produktion, Vertrieb und Verkauf von Kunsthandwerk einen großen Beschäftigungszweig in der Stadt dar (Hernández Díaz 2001). Mittlerweile stellt die folkloristisch in Szene gesetzte kulturelle Diversität Oaxacas eine der Hauptattraktionen des Bundesstaats dar, die durch das bereits erwähnte Fest der Guelaguetza in der Stadt Oaxaca international repräsentiert wird (vgl. Kapitel 2.1.2). Im Jahr 2013 zählte die Stadt mit ca. 255.000 EinwohnerInnen mehr als 1,3 Millionen TouristInnen; davon waren 89 Prozent BinnentouristInnen (Secretaría de Turismo y Desarrollo Económico 2014). (Pro Jahr kommen somit ca. 50 TouristInnen je EinwohnerIn.) Der Tourismus ist folglich der wichtigste und dynamischste Wirtschaftsbereich der Stadt und stellt einen Großteil der Arbeitsplätze: 77 Prozent der Bevölkerung arbeiten im Dienstleistungsbereich, im Handel, in der Gastronomie und Hotellerie. Die im Jahr 2006 aufgetretenen Konflikte der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca)9 führten zwar zu einem extremen Einbruch des Tourismus, der sich jedoch seit 2008 wieder etwas erholt hat (Gobierno del Estado de Oaxaca 2011, S. 188).

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Die APPO stellte eine soziale Bewegung von mehr als 300 Organisationen dar, die die Stadt Oaxaca im Jahr 2006 als Protest gegen die herrschende Politik für über sechs Monate einnahm und selbstorganisiert verwaltete, bis es zur gewaltsamen Räumung kam (Stephen 2013, S. 3).

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3.1 ÖKOTOURISMUS: STAATLICHE INITIATIVEN IN DER SIERRA JUÁREZ In Mexiko ist die indigene Bevölkerung schon seit dem Indigenismo10 im Visier staatlicher Entwicklungsvorhaben. Wie im letzten Kapitel dargelegt wurde, kann insbesondere die Sierra Juárez auf eine lange Geschichte staatlicher Interventionen zurückblicken, die sich im Ökotourismus fortführen. Die Sierra Juárez ist die mit Abstand führende Region für Naturtourismus in Oaxaca. Im Jahre 2013 besuchten sie ca. 72.000 der insgesamt über 103.000 NaturtouristInnen in Oaxaca; davon waren 91 Prozent mexikanische BinnentouristInnen (SECTUR 2014). Die verhältnismäßig wenigen internationalen TouristInnen stammten 2011 zu 56 Prozent aus Europa und zu 31 Prozent aus den USA (Comité de Ecoturismo Lachatao 2011, S. 137). Die ersten gemeindebasierten Ökotourismusprojekte entwickelten sich hier Mitte der 1990er Jahre. Vorreiter waren die Pueblos Mancomunados, die im Jahr 1998 die erste touristische Unterkunft turist yuu11 in Benito Juárez bauten (Gasca Zamora et al. 2010, S. 84). Sie verfügten schon damals durch die renommierte gemeindebasierte Holzwirtschaft über gute Regierungskontakte und gelangten so an staatliche Unterstützung beim Aufbau von Unterkünften (cabañas) in verschiedenen Gemeinden, die durch ein mehr als 100 km langes Wegenetz untereinander verbunden sind (Gasca Zamora et al. 2010, S. 85). Zur Verwaltung des Projekts gründeten sie im selben Jahr das Unternehmen Expediciones Sierra Norte, dessen kollektiver Eigentümer der Verbund der Pueblos Mancomunados ist (Gasca Zamora et al. 2010, S. 85). Dieser Entwicklung folgten viele Gemeinden der Sierra Juárez, sodass im Jahr 2013 24 von ihnen Ökotourismusprojekte betrieben, größtenteils im Distrikt Ixtlán. Die Statistiken der regionalen Koordinationsstelle des CDI in

10 Indigenismo (Indigenismus) bezeichnet ein politisches Programm, das in Mexiko verstärkt durch das 1944 gegründete Institut für die indigene Bevölkerung (INI) mit dem Ziel vorangetrieben wurde, die indigene Bevölkerung durch eine dementsprechende Bildung-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik in die nationale Kultur zu assimilieren (vgl. Korbaek und Sámano-Rentería 2007). 11 Turist yuu ist Zapotekisch der Sierra und bedeutet „Haus des Touristen“.

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Abbildung 7: Karte der Valles Centrales von der Tourismusbehörde

Quelle: SECTUR, 2012

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Guelatao verzeichnen Investitionen von allein ca. 94 Millionen Pesos (ca. 4,59 Mio. €) in den Jahren 2008–2013 für den Ausbau der touristischen Infrastruktur, Weiterbildungsmaßnahmen und Werbung (vgl. Abbildung 7).12 Capulálpam ist durch die Auszeichnung als Pueblo Mágico (2008) die Gemeinde mit den höchsten Besucherzahlen, die sich in kurzer Zeit vervierfacht haben. Während vor der Auszeichnung im Jahr 2007 ca. 4.850 TouristInnen die 1.313 EinwohnerInnen zählende Gemeinde besuchten (SAGARPA 2009, S. 75), waren es 2013 schon 20.467 TouristInnen (CDI Guelatao 2014). Capulálpam ist eines von mittlerweile 83 (2016) Pueblos Mágicos, die seit 2001 von der nationalen Tourismusbehörde ausgewählt wurden, um historisch bedeutsame Orte beim Ausbau einer touristischen Infrastruktur konzeptuell und finanziell zu unterstützen. In der Beschreibung der Tourismusbehörde werden die Pueblos Mágicos wie folgt beschrieben: „Orte, die über symbolische Attribute wie Legenden, Geschichte, transzendentale Gegebenheiten und Alltäglichkeit verfügen, eine Magie, die [den Betrachter] bei jeder der soziokulturellen Veranstaltungen erfasst, die heutzutage eine große Chance für die touristische Nutzung bieten. Das Programm ‚Magische Dörfer‘ trägt dazu bei, jene Ortschaften des Landes neu zu bewerten, die sich schon immer allesamt im kollektiven Gedächtnis der Nation befanden, und die neue und andersartige Alternativen für nationale und internationale Besucher repräsentieren.“ (SECTUR 2014, Übersetzung durch die Autorin)

Die touristische Vermarktung knüpft an die in Mexiko weit verbreiteten Vorstellungen eines „tiefen“, „mystischen“ México Profundo (Bonfil Batalla 1994) an, das das prähispanische Erbe in Form der soziokulturellen Werte und Lebensweisen in den Pueblos Originarios erhalten hat (Fuente Carrasco und Barkin 2015, S. 3). Dies erklärt auch, dass die BesucherInnen der Region zum allergrößten Teil mexikanische BinnentouristInnen sind: In Capulálpam machen sie sogar über 97 Prozent der Gäste aus (CDI Guelatao 2014). Die Sierra Juárez ist jedoch weit über Mexiko hinaus bekannt und wird in (inter-)nationalen Reiseführern als herausragende Region für gemeindebasierten indigenen Ökotourismus geführt. Vor allem die Pueblos Mancomunados sowie das Pueblo Mágico Capulálpam sind durch die umfassende staatliche Unterstützung prominente Vorbilder für

12 Zusätzlich wurden durch die Behörde CONAFOR 5 Millionen Pesos (ca. 245.000 €) jährlich (in der Periode 2001–2009) zum Aufbau von Ökotourismus in ganz Oaxaca ausgeschüttet – und im Jahr 2011 weitere 9 Millionen Pesos (ca. 440.000 €) von der Tourismusbehörde (SECTUR) über das Programm für alternativen Tourismus (Programa de Turismo Alternativo) (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 71).

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den mexikanischen Ökotourismus. Sie erhielten schon 2002 den US-amerikanischen CondeNast Traveler Magazine Ecotourism Award (Poe 2009, S. 60). Im Jahr 2016 gewannen sie, wie bereits erwähnt, sogar den internationalen TO DO!Wettbewerb des sozialverantwortlichen Tourismus auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin.13 Bei der dortigen Preisverleihung stellte Angelina Martínez Pérez, die Repräsentantin der Pueblos Mancomunados, die selbstbestimmte Entwicklung als zentrales Charakteristikum dar, welches es ermögliche, Ökotourismus in Einklang mit der kulturellen Identität zu betreiben.14 Diese Identität liegt in der soziopolitischen Geschichte der Sierra Juárez begründet (Kapitel 2.2), die begünstigte, dass vor allem die bereits in der Forstwirtschaft tätigen Gemeinden über einen großen politischen Einfluss verfügten und dadurch die touristische Entwicklung größtenteils selbst steuern konnten, allen voran Capulálpam de Méndez, Ixtlán de Juárez, die Pueblos Mancomunados sowie Ixtepeji (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 71).15 Viele der weniger bekannten Ökotourismusprojekte werden jedoch von nur wenigen TouristInnen besucht und sind nicht rentabel. Ein Grund dafür ist die geringe Differen-

13 Der TO-DO!-Preis wird im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs auf der ITB verliehen. Er wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, forum anders reisen e.V., der ITB Berlin, Studiosus Reisen München und der Schweizerischen Stiftung für Solidarität im Tourismus unterstützt. Als wichtigstes Kriterium des Preises wird herangezogen, inwieweit die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung bei der Planung und Umsetzung touristischer Angebote berücksichtigt werden (vgl. ITB Berlin). 14 Angelina Martinez Pérez erklärte in ihrer Projektpräsentation: „Throughout this history, we have learned two important lessons: 1) it is not wise to place in the hands of others the development and own welfare, and 2) mastering new situations, such as starting and maintaining a tourism business, is only achieved when the people appropriate the situation, the only way you learn; and from this it is possible to develop a coherent strategic thinking with the goals emanating from our cultural identity“ (Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. 2016). 15 Diese Gemeinden werden explizit vom Programm für gemeindebasierte Forstwirtschaft (PROCYMAF, Programa de Desarrollo Forestal Comunitario) des mexikanischen Umweltamts (SEMARNAT) sowie von internationalen Organisationen wie dem WWF und der Comisión Ambiental de América del Norte beim Aufbau des Ökotourismus unterstützt und sind auch Vorreiter beim Bezug von Umweltdienstleistungen (PSA, pagos por servicios ambientales) (Gasca Zamora et al. 2010, S. 49).

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zierung der Projekte: Die Architektur der touristischen Unterkünfte16 (cabañas) ist weitestgehend identisch, und das touristische Angebot besteht größtenteils aus geführten Wanderungen, Mountainbike-Touren oder Ausritten sowie aus Seilrutschen (tirolesa) und der regionalen Küche. Um einer Gleichförmigkeit der Projekte entgegenzuwirken, wird die Profilbildung ihres ökotouristischen Angebots seitens der Tourismusbehörde (SECTUR) unterstützt. Sie fördert neuerdings auch die ökotouristischen Gemeinden bei gemeinsamen Vermarktungsstrategien durch eine neue touristische Route in der Sierra Juárez. Touristische Routen sind ein zentrales Vermarktungsmittel in Mexiko. In Oaxaca gibt es mehrere davon, die geografisch oder auch thematisch organisiert sind und verschiedene Gemeinden zu einer touristischen Attraktion zusammenschließen, etwa die Ruta de los Caminos del Mezcal oder die Ruta Mágica de las Artesanías. Nun soll auch die Sierra Juárez dementsprechend vermarktet werden. Um die touristische Profilbildung voranzutreiben, nehmen die Gemeinden seit 2014 an regelmäßigen Workshops in Kooperation mit der UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) teil. Sie werden dadurch bei der Ausrichtung ihrer Projekte unterstützt und legen einen stärkeren Fokus auf die lokale Kultur, die Geschichte (Dominikanerkirchen) oder die interkulturelle Begegnung. Die Einrichtung einer neuen Tourismusroute soll zugleich dazu dienen, die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden zu verbessern und so deren kompetitiven und häufig misstrauischen Beziehungen entgegenzutreten. Der öffentliche Diskurs über alternativen Tourismus als Medium nachhaltiger Entwicklung ländlicher Regionen in Oaxaca darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Fördersummen im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen (wie dem Bergbau) sehr gering sind. Einige AutorInnen werfen der mexikanischen Regierung daher vor, alternative Tourismusentwicklung nur „vorsätzlich“ zu fördern und die krisenhafte Situation auf dem Land nicht wirklich lösen zu wollen (Garduño Mendoza et al. 2009, S. 26).

16 Die Richtlinien für architektonische Bauten sind durch die nationale Tourismusbehörde (SECTUR) festgelegt. Sie sehen Mauern aus rustikalen Lehmsteinen (adobe) sowie Holztüren, Fenster und Kacheln für die sanitären Einrichtungen vor (Gasca Zamora et al. 2010, S. 87).

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3.2 ÖKOTOURISMUS: LOKALE ANTWORTEN Durch den soziopolitischen Einfluss führender Gemeinden in der Region setzten diese sich früh aktiv mit dem Ökotourismus auseinander. Dies zeigt sich am schon im Jahr 1999 veranstalteten Workshop zu gemeindebasiertem, nachhaltigem Heritage-Tourismus (El Turismo Patrimonial Comunitario Sustentable), der in der Gemeinde Ixtlán veranstaltet wurde.17 Das im Rahmen dieses ersten Treffens formulierte Dokument „Reise ins Zentrum der comunalidad, eine Anleitung für die Anerkennung des Eigenen“ (Viaje al Centro de la Comunalidad; una guía para el reconocimiento de lo propio) legt die Richtlinien für Ökotourismus in der Region fest. Es basiert auf dem lokalen Konzept der comunalidad und legt den Fokus auf eine Anerkennung und Neubewertung des kollektiven Gemeindelebens in all seinen Aspekten: in der Natur, den Wirtschaftsweisen (Landwirtschaft, Forstwirtschaft) sowie den sozialen Institutionen, im Cargosystem, in der asamblea (Gemeindevollversammlung) und im tequio (Gemeinschaftsarbeit) (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 73). Damit wurde das kulturelle Erbe (patrimonio cultural) ebenso wie das Naturerbe (patrimonio natural) zum Bestandteil des touristischen Konzepts. Die wichtigste Grundlage der comunalidad stellt der „uneigennützige“ Dienst für die Gemeinschaft dar, mit dem Ziel des Allgemeinwohls (el bien común). Die Orientierung am Gemeinwohl wird als Alternative zur kapitalistischen Logik von individueller Gewinnmaximierung verstanden und mit Aspekten von Nachhaltigkeit (sustentabilidad) in sozialer, kultureller und ökologischer Hinsicht verbunden (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 72). Frauen und Männer der Gemeinden werden folglich – gemäß ihren geschlechtsspezifischen Aufgabenbereichen – für das Wohl ihrer jeweiligen Dorfgemeinschaft verpflichtet. 3.2.1 Comunalidad als gelebte Gemeindephilosophie In Anlehnung daran einigten sich die führenden Gemeinden auf eine lokalspezifische Form von Ökotourismus, die (ähnlich der Forstwirtschaft) gemeindebasiert organisiert ist und auf lokalen „indigenen“ Organisationsformen aufbaut. Sie greift auf die Begriffe indigen (indígena) und Gemeinde (comunidad)

17 Der Workshop wurde als ein Thema nachhaltiger Entwicklung durch den Verein Proyectos de Desarrollo Sierra Norte mit Unterstützung weiterer Organisationen durchgeführt. Daran nahmen RepräsentantInnen von am Ökotourismus interessierten Gemeinden der Region teil, um über die Möglichkeiten ökotouristischer Entwicklung in der Region zu diskutieren.

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zurück, die als Brenngläser globaler stereotyper Zuschreibungen dienen und folglich die Dorfgemeinschaften als Gegenpole zu staatlichen Institutionen, Individualismus und kapitalistischer Marktwirtschaft darstellen (Mathews 2011, S. 7–8). Die usos y costumbres werden in diesen Diskursen als positive Identitätsmarker indigener bzw. zapotekischer Gemeinden (im Gegensatz zu parteienbasierten Regierungen)18 herangezogen und als Ausdruck der kulturellen Resistenz gegen den Kolonialismus als „authentisch“ angesehen (vgl. Clifford 2004). Gemäß den usos y costumbres wird die politische Verwaltung durch das Cargosystem organisiert, einer Ämterhierarchie, deren erfolgreiches Durchlaufen für das Prestige eines Gemeindemitglieds von entscheidender Bedeutung ist. Heute wie früher hängt der Status eines Mannes (sowie im zunehmenden Maße auch einer Frau) vom erfolgreichen Durchlaufen der cargos (ziviler sowie religiöser Ämter) ab. Ein Mann, der alle cargos erfolgreich bekleidet hat, wird persona de cola (im zapoteco serrano: bene xban) genannt (Barabas 1999, S. 87) und gilt als ehrenwerte Gemeindepersönlichkeit, die ihre Verantwortung für die Gemeinde im Sinne des Allgemeinwohls (el bien común) unter Beweis gestellt hat. Im Zuge der touristischen Repräsentation werden die usos y costumbres zunehmend im Sinne einer harmonischen und demokratischen Gemeindeverwaltung idealisiert und romantisiert, die sich an kollektiven Werten orientiert und auf anderen epistemologischen bzw. ontologischen Prinzipien basiert. Diese Neubewertung lokaler Gemeinschaftsformen wird vor allem durch die indigenen Anthropologen Jaime Martínez Luna (2010), Floriberto Díaz Gómez (2007) und Benjamín Maldonado Alvarado (2002) vorangetrieben, die das Gemeindeleben als comunalicracia bzw. comunalidad im Sinne einer gelebten Philosophie beschreiben (vgl. Ramos Morales 2011). Comunalidad kann als ein Ethos gelebter Gemeinschaftlichkeit verstanden werden und basiert auf dem geteilten Territorium (terrenos comunales), der unbezahlten Gemeinschaftsarbeit (tequio), der Gemeindeverwaltung mittels der usos y costumbres sowie dem Festzyklus (Martínez Luna 2010; Díaz Gómez 2007). Díaz Gomez definiert die folgenden Aspekte als grundlegend für den Fortbestand des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in der comunalidad: die Erde als Mutter und Territorium; der Konsens in der Gemeindevollversammlung zur Entscheidungsfindung; die kostenfreie Übernahme von Verwaltungsaufgaben zur Ausübung von Autorität; die Gemeinschaftsarbeit (tequio) als erholsame Tätigkeit; und die Riten und Zeremonien als Ausdruck des Gemeinschaftlichen. Dabei unterscheidet er die „indigene“ Gemeinschaft (comunalidad indígena) grundlegend von der „westlichen“ (comunalidad occidental), indem sich die „indigene“ von der „westlichen“ Ge-

18 Vgl. die in Kapitel 2.1.2 beschriebenen Rechtsreformen in Oaxaca.

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meinschaft durch ein festgelegtes angestammtes Territorium, eine gemeinsame orale Geschichte, eine eigene lokale Sprache, spezifische politische, kulturelle, soziale, religiöse und ökonomische Organisationsformen sowie eine kommunale Verwaltung und Gesetzgebung abhebt (Díaz Gómez 2007, S. 39–40). Grundlegender Bestandteil des Konzepts ist die Komplementarität der Geschlechter, gemäß derer die Beziehung zwischen Frauen und Männern als harmonisches, sich gegenseitig ergänzendes Gleichgewicht idealisiert wird (Méndez 2007, S. 39). Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, laut welcher die Frauen für den reproduktiven Bereich der Familie und die Männer für den Lohnerwerb und die Gemeindeverwaltung zuständig sind, wird dementsprechend als charakteristisch bzw. „ursprünglich“ für die Kultur der Zapotecos Serranos und der comunalidad dargestellt (vgl. Kapitel 5.2 und 6.3).19 Im Zuge dieser Debatten um comunalidad beschlossen die lokalen Eliten, die Ökotourismusprojekte durch die lokalen soziopolitischen Organisationsprinzipien zu verwalten. Dementsprechend werden sie von einem unentgeltlich arbeitenden Komitee (comité de ecoturismo) geleitet, das alle ein bis drei Jahre wechselt. Es setzt sich aus einem/einer PräsidentIn (presidente/a), einem/einer SekretärIn (secretario/a) und einem/einer SchatzmeisterIn (tesorero/a) zusammen und wird von der Gemeindevollversammlung (asamblea) gewählt. Das Komitee ist für die Verwaltung, Konzeption und Durchführung des Projekts verantwortlich und steht in engem Kontakt zu den staatlichen Förderungsinstitutionen – denen gegenüber es auch rechenschaftspflichtig ist – und der gesamten Dorfgemeinschaft, die bei wichtigen Entscheidungen einbezogen wird. Die Gewinne aus dem Tourismus sollen in die Weiterentwicklung des Projekts investiert oder an die Dorfgemeinschaft umverteilt werden, beispielsweise durch finanzielle Beihilfen zu Infrastrukturmaßnahmen oder zur Unterstützung der Schulkinder. Die Ämter des Komitees werden zumeist unentgeltlich besetzt, wohingegen einzelne Tätigkeiten wie das Führen von Wanderungen oder die Arbeit in den Tourismusunterkünften häufig pro Einsatz entlohnt werden (Gasca Zamora et al. 2010, S. 100). Die bezahlten Tätigkeiten werden in erster Linie von Männern übernommen, während Frauen vor allem für die Serviceleistungen zuständig sind (Essenszubereitung, Restaurantarbeit, Säubern der touristischen Unterkünfte etc.). Die im Ökotourismus arbeitenden Gemeindemitglieder werden in Schulungen ausgebildet, die von den staatlichen Programmen angeboten werden. Sie umfassen Serviceleistungen, die Administration der Projekte, die Werbung in

19 Vgl. auch die Parallelen zu den Frauenbewegungen der Zapatistas (Falquet 2001, S. 170).

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sozialen Medien, die Führung von Wanderungen oder Erste Hilfe.20 Erklärtes Ziel ist es, die Abwanderung der jüngeren Gemeindemitglieder zu verhindern und so zur Professionalisierung der Projekte und zur nachhaltigen Entwicklung der Gemeinden beizutragen. Jedoch müssen wegen der Ämterrotation immer wieder neue Personen in den verschiedenen Tätigkeiten geschult werden, was von den Regierungsinstitutionen (sowie teilweise von Gemeindemitgliedern selbst) als ein grundlegendes Problem für die Weiterentwicklung der Projekte angesehen wird (Gasca Zamora et al. 2010, S. 91). Daran zeigen sich die Widersprüche bei der lokalen Aneignung des Konzepts Ökotourismus, das einerseits als eine lokale Alternative zu „westlichen“ Wirtschaftsformen konzeptualisiert wird und andererseits zugleich ein Bestandteil davon ist. 3.2.2 Lokale Debatten und strukturelle Erweiterungen Die gemeindebasierte Organisation weist einige Schwierigkeiten auf, da die häufigen Wechsel der verantwortlichen Personen eine Kontinuität und langfristige Planung erschweren und die Projekte häufig ökonomisch unrentabel sind. Eine privatwirtschaftliche Führung unter den Prämissen von Gewinnmaximierung, Effizienz und Rentabilität wird als Gefahr für den Zusammenhalt der Gemeinden und der lokalen Organisationsformen durch die usos y costumbres angesehen. Dies geht auf die modernisierungstheoretischen Diskurse zurück, die die indigene Bevölkerung und deren „rückständige“ Wirtschaftsweisen, den kollektiven Landbesitz sowie das Ämtersystem als el problema indio im Sinne eines Hemmnisses für den nationalen Fortschritt betrachteten (Korbaek und Sámano-Rentería 2007). Durch die oben beschriebene Neubewertung der gemeindebasierten Organisationsweisen im Sinne der comunalidad wird der Ökotourismus als Gefahr dafür gewertet: „Die kollektive Nutzung der kommunalen Ressourcen, die nicht entlohnte Arbeit, die Reziprozität und die kollektiven Entscheidungen anhand der Gemeindevollversammlungen werden durch die Prämissen, die der Tourismus als wirtschaftliche Aktivität auferlegt, unter Druck gesetzt.“ (Gasca Zamora et al. 2010, S. 113, Übersetzung durch die Autorin)

20 Die Workshops werden von der Tourismusbehörde des Bundesstaats Oaxaca (Secretaría de Turismo del estado de Oaxaca), der Behörde für die indigene Bevölkerung (CDI) und der Forstwirtschaftlichen Behörde (CONAFOR) organisiert.

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Dass indigene Vertreter sich aktiv mit dem Ökotourismus auseinandersetzen, die konzeptuellen Grundlagen kritisch betrachten und mit lokalen Konzepten und Organisationsweisen verbinden, zeigt sich auch an einem Kongress unter dem Titel El turismo y la comunalidad im Jahr 2010 in Guelatao in der Sierra Juárez (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 75–76). Dabei wurde die Komplexität der kommunalen Organisation von Ökotourismusprojekten zwischen kollektiver Organisation und marktwirtschaftlichem Effizienzstreben ins Zentrum gestellt. Es wurden verschiedene Strategien diskutiert, die einerseits das Wohl der Gemeinden und deren Kontrolle über die touristischen Prozesse als oberstes Prinzip anerkennen, gleichermaßen aber auch eine Kontinuität, Flexibilität, Effektivität und Effizienz ermöglichen. Auch wurde anerkannt, dass die touristische Entwicklung eine langfristige Planung erfordert, die in Form eines plan de desarrollo turístico municipial festgelegt wird. Dieser muss von der Gemeindevollversammlung befürwortet werden, was eine Kontrolle der touristischen Prozesse durch die gesamte Gemeinde ermöglicht. Diese zu behalten wurde als das leitende Prinzip herausgearbeitet, und Vorschläge, die Ökotourismusprojekte durch privatwirtschaftliche BetreiberInnen leiten zu lassen, wurden zurückgewiesen. Um die Rentabilität der Projekte zu verbessern, arbeiteten die Ökotourismusgemeinden auf dem Kongress 2010 drei zentrale Punkt heraus: 1) die Weiterbildung der Gemeindemitglieder; 2) den Ausbau der touristischen Infrastruktur; und 3) die Verbesserung der Vermarktung (Fuente Carrasco und Ramos Mario o. J., S. 18). Zudem wurde dem Ökotourismus das Potential zugesprochen, weitere indirekte Einkommen schaffende Maßnahmen zu bewirken, die im Rahmen von familienbasierten Geschäften oder Kooperativen die finanzielle Situation in den Dörfern generell verbesserten. Faktisch aber passen die Gemeinden das Cargosystem flexibel den neuen Anforderungen eines marktwirtschaftlichen Ökotourismusprojekts an. Einige von ihnen sind dazu übergegangen, den Mitgliedern der Ökotourismuskomitees regelmäßige Gehälter zu zahlen sowie deren Amtszeit über die vorgesehene Zeit von einem Jahr hinaus zu verlängern. Die Bezahlung von cargos im Ökotourismus ist ein in der Region und den Gemeinden sehr kontrovers diskutiertes Thema. Da die erfolgreiche Leitung eines Ökotourismusprojekts viel Engagement und Zeit für Fortbildungen, Netzwerkarbeit mit Regierungsinstitutionen in Oaxaca und anderen Gemeinden erfordert, hat es sich eingebürgert, dass die im Komitee arbeitenden Personen Geld für bestimmte Tätigkeiten oder auch ein monatliches Gehalt bekommen. Von den insgesamt 21 Ökotourismusprojekten (2010) haben zwei die Prinzipien „moderner“ Unternehmensführung übernommen. Prototyp der Region ist das Projekt in Ixtlán de Juárez, das seit 2002 die Macht der asamblea dezentralisiert hat und die MitarbeiterInnen in Unterneh-

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mensführung und Administration mit einem regelmäßigen Gehalt entlohnt. Allerdings werden sie durch einen Verwaltungsrat (consejo de administración) und einen Aufsichtsrat (consejo de vigilancia) bei der Durchführung beraten und kontrolliert. Diese Institutionen setzen sich aus Gemeindemitgliedern zusammen, die durch die Gemeindevollversammlung (asamblea) gewählt werden und somit als Bindeglieder zwischen der Ökotourismusfirma und der Gemeinde fungieren (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 73).

3.3 LANDRECHTSKONTROLLE UND INTERNATIONALISIERUNG Ökotourismus wird von indigenen Eliten weltweit als zweischneidiges Schwert verstanden (Pereiro Pérez 2015, S. 30). KritikerInnen sehen die Gefahr, dass durch den global vorangetrieben Ökotourismus (internationale Tourismusbranche, internationale Geldgeber und nationale Entwicklungsprogramme) vormals abgelegene Gebiete marktwirtschaftlich erschlossen werden und damit indigenes biokulturelles Wissen sowie kollektive Besitz- und Landrechte unterminiert werden (Notzke 2006, S. 204; Johnston 2000, S. 90). Demgegenüber sehen (indigene) Befürworter den Ökotourismus als Möglichkeit an, Einnahmen zu generieren und der hohen Abwanderung entgegenzuwirken. Zudem wird diskutiert, inwiefern Ökotourismus in kreativer Weise genutzt werden kann, um die Zugangsrechte zu Ressourcen und Land sowie indigene Lebensweisen und Rechte zu proklamieren und zu verteidigen (Notzke 2006, S. 204; Ryan 2005, S. 4). Dabei wird gezielt der Vermarktungsvorteil „indigene Kultur“ genutzt, der sich mittlerweile als touristische Attraktion auf dem Markt etabliert hat (Pereiro Pérez 2015; Notzke 2006). Auch in Oaxaca werden diese Themen von indigenen VertreterInnen im internationalen Rahmen diskutiert. Dies zeigt sich am im März 2002 veranstalteten internationalen Forum zu indigenem Tourismus (Foro Internacional Indígena de Turismo) in Oaxaca, das ökotouristische Gemeinden der Sierra Juárez in Kooperation mit NGOs ausrichteten (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 74).21 Bei dem Treffen waren etwa 200 VertreterInnen indigener Gruppen aus 13 Ländern Lateinamerikas anwesend. Das Hauptanliegen bestand darin, sich – anlässlich des International Year of Ecotourism (IYE) – gegenüber globalen Dis-

21 Das Forum war durch die Initiative der NGOs Indigenous Tourism Rights International (ITRI), Third World Network sowie Tourism Concern zustande gekommen (Pereiro Pérez 2015, S. 22; Zeppel 2006, S. 15–16; Vivanco 2002).

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kussionen zu Ökotourismus zu positionieren und durch die Berufung auf indigene Rechte eine aktive, entscheidungstragende Rolle in diesen Prozessen einzufordern (Zeppel 2006, S. 16–17; Vivanco 2002). Die Haltung indigener Gruppen gegenüber Ökotourismus wurde in der Declaración de Oaxaca sobre el turismo indígena festgehalten, die die Gefahren benennt, dass (unter dem Denkmantel nachhaltiger „grüner“ Entwicklung) durch Ökotourismus Naturlandschaften in indigenen Territorien erschlossen werden und damit der Weg für konventionellen Massentourismus und Enteignungen indigener Gruppen geebnet wird (vgl. Zeppel 2006, S. 16; Vivanco 2002). In der Erklärung sprechen sich indigene Vertreter vehement gegen (nicht von ihnen kontrollierten) Ökotourismus aus, der eine neoliberale Markterschließung, Kommodifizierung und Aneignung indigener Territorien darstelle: „Wir unterstreichen unsere tiefgreifende Uneinigkeit mit den Grundannahmen des AIE [Año Internacional del Ecoturismo], welche die indigenen Gemeinden als Gegenstand ihrer Entwicklungspläne begreifen und unsere Ländereien als kommerzielle Ressourcen zum Verkauf auf den globalen Märkten freigeben. Innerhalb dieses angeblich allgemeingültigen ökonomischen Rahmens führt der Tourismus den Wettbewerb des Marktes ein, eignet sich unsere Leute und unsere Ländereien wie Konsumgüter an und setzt unsere Pflanzen, Tiere und unser traditionelles Wissen der Plünderung von außerhalb aus. Man darf den AIE nicht zur Legitimierung der Invasion indigener Gebiete und Gemeinschaften heranziehen. […] Wir indigenen Völker sind keine Gegenstände der Tourismusentwicklung. Wir sind selbstbestimmte Akteure mit Rechten und Verantwortlichkeiten für unsere Territorien und die Initiativen, die man in ihnen durchzuführen beabsichtigt. Das bedeutet, dass wir dafür verantwortlich sind, unsere Territorien und die indigenen Gemeinden gegen die von den Regierungen, Privatunternehmen, NGOs und Spezialisten auferlegten Entwicklungsprojekte zu verteidigen.“ (Instituto de Naturaleza y la Sociedad de Oaxaca 2002, S. 1–2, Übersetzung durch die Autorin)

Indigene AkteurInnen treten hier als aktive ProtagonistInnen auf, die sich tourismuspolitisch engagieren. Indigene und bäuerliche Organisationen gründeten folglich im Jahr 2002 den Zusammenschluss Red Indígena de Turismo de México (RITA)22, wodurch sie sich von der staatlichen Behörde CDI emanzipierten, die maßgeblich für die Förderung von indigenem Ökotourismus in Mexiko zuständig ist. Sie stehen in Kooperation mit internationalen Geberinstitutionen und

22 Der Zusammenschluss bestand bei seiner Gründung aus 32 Ökotourismusprojekten. Mittlerweile gehören der Organisation über 150 indigene derartige Projekte (2012) in ganz Mexiko an (RITA).

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beteiligen sich an globalen Debatten über indigene Rechte, wie intellectual property rights, Umweltschutz und Emissionshandel (REDD+).23 Ein internationaler Austausch wird auch von staatlichen Behörden unterstützt, wie der Besuch von Ökotourismusgemeinden der Sierra Juárez in Costa Rica zeigt.24 Auch führende Gemeindeeliten treiben die regionale sowie internationale Vernetzung voran, was sich an der von ihnen 2013 organisierten Ökotourismusmesse in OaxacaStadt zeigt, bei deren Ausrichtung sie durch SECTUR und das CDI unterstützt wurden (Fuente Carrasco und Ramos Morales 2013, S. 74). Diese Treffen dienen der (inter-)nationalen Vernetzung von Ökotourismus betreibenden Gemeinden und stärken die Artikulation von „indigener Kultur“, die eine wichtige Argumentationsgrundlage in der Auseinandersetzung um indigene Rechte, Ressourcen- und Landrechtskonflikte darstellt. Auch in der Sierra Juárez steht der Ökotourismus im Zusammenhang mit der Landrechtsverteidigung, was sich an den Protesten führender Ökotourismusgemeinden gegen die geplante Minentätigkeit in der Region ablesen lässt. Im Jahr 2012 organisierten sie erstmals ein Fest in Tierra Caliente nahe der Mine Natividad, indem sie sich öffentlich gegen deren Wiederinbetriebnahme aussprachen. Das seitdem jährlich stattfindende Fest wurde von den Gemeinden Capulálpam de Méndez, Santa Catarina Lachatao, San Pablo Guelatao, Santa María Yahuiche und San Miguel Amatlán gemeinsam initiiert, die im Umkreis des Flusses Río Grande liegen, dessen Verschmutzung durch die vergangene Minentätigkeit nachgewiesen wurde (Fuente Carrasco und Barkin 2013; Aquino Centeno 2010, 2009). Ökotourismus wird von diesen Gemeinden als alternative wirtschaftliche Entwicklung vorgestellt, die im Einklang mit lokalen Werten und Naturschutz stehe. Im Jahr 2013 wurde das Fest zugleich als Anlass genommen, eine neue Wanderroute einzuweihen, die die ökotouristischen Gemeinden der Sierra Juárez (REDSJO, Red de Ecoturismo de la Sierra Juárez de Oaxaca) miteinander verbindet und auf diese Art ihre gegenseitige Solidarisierung bestärken soll. Der Bürgermeister von Capulálpam bekräftigte dies in seiner öffentlichen Ansprache:

23 Beispielsweise partizipierten VertreterInnen in Workshops zu geistigem Eigentum, etwa im November 2015 in Panama, der von der panamaischen Regierung (Ministerio de Comercio e Industrias, MICI) und der Weltorganisation für geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organization, WIPO) organisiert wurde (Ministerio de Comercio e Industrias 2015). 24 Der Besuch von im Ökotourismus tätigen Gemeindemitgliedern der Sierra Juárez in Costa Rica 2011 und 2018 wurde nach Aussage einer Forschungsteilnehmerin von der Tourismusbehörde (SECTUR) und dem CDI organisiert. Costa Rica gilt weltweit als Vorreiter im Ökotourismus (vgl. Honey 2003).

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„Ja, weil wir andere Organisationsformen haben und andere Produktionsweisen. Wir haben andere Wege, ökonomisch voranzukommen. Heute findet die Präsentation einer neuen ökotouristischen Route statt. Diese wiederum ermöglicht es uns erfreulicherweise, unter Rücksichtnahme auf unsere natürlichen Ressourcen und unsere Ökosysteme wirtschaftlichen Nutzen zu erlangen. Und wir sehen uns nicht gezwungen, unseren Wäldern ein Ende zu setzen, wir sehen uns nicht gezwungen, auf unsere Flüsse einzuwirken. Es gibt andere Wege, um voranzukommen. Ich glaube, wenn wir uns organisieren, werden wir das erreichen.“ (Presidente de Capulálpam de Méndez_Fiesta de Tierra Caliente_25.5.2013)25

Mit den spezifischen Organisations- und Wirtschaftsformen bezieht er sich auf die regional „gelebte Philosophie“ der comunalidad (vgl. Kapitel 3.1.2). Die zugrundeliegenden Prinzipien des „uneigennützigen“ Diensts an der Gemeinschaft – durch die Gemeinschaftsarbeit (tequio) und die fiesta – wurden zugleich durch die Festlichkeiten in Tierra Caliente als kulturelles Merkmal der Region unter Beweis gestellt. Neben Essen und Getränken für alle BesucherInnen wurde eine Prozession vollzogen und um Regen gebeten (pedir el agua), was von spirituellen SpezialistInnen aus Lachatao auf Zapotekisch vollzogen wurde. Dieses Ritual stand früher im Kontext des Agrarzyklus und wurde um den Tag des Heiligen Kreuzes (3. Mai) auf heiligen Bergen abgehalten. Beim Fest in Tierra Caliente wird die spirituelle Beziehung zur Umwelt betont, und indem die lokale Natur als wesentlicher Bestandteil der lokalen Kultur dargestellt wird, wird eine Trennung von Natur und Kultur zurückgewiesen. Damit wird der Anspruch bekräftigt, über die lokale Natur zu verfügen. Sie wird von den Einheimischen nicht als ökonomisch nutzbare Ressource verstanden, sondern als kommunaler Landbesitz (los bienes comunes), der seit jeher einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur impliziert. Dementsprechend soll das lokale Prinzip des Gemeinwohls (el bien común) durch Gemeinschaftssinn und Verantwortungsbewusstsein im Sinne der comunalidad privatwirtschaftliche, primär an Gewinnmaximierung orientierte Umgangsweisen mit der Natur und den natürlichen Ressourcen verhindern. Dies drückte Jaime Luna, indigener Anthropologe aus der nahe gelegenen Gemeinde Guelatao, anlässlich des Equinoccio-Festes in Lachatao 2015 wie folgt aus: „Seht nicht im Baum die Ware. Seht nicht das Geschäft. Seht nicht in der Autorität die Macht. Seht nicht im Spiel den Wettkampf. Seht nicht im Wasser etwas Verkäufliches. Fühlt die Luft, auf dass sie spirituell entstehen kann. [...] Uns als Teil der Natur zu fühlen

25 Alle Interviews wurden auf Spanisch geführt. Die in diesem Buch publizierten Auszüge wurden von der Autorin und Monique Fritzsche übersetzt.

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ist vielleicht das Herrlichste, und es sollte unsere Denkweise nähren.“ (Jaime Luna_Equinoccio-Lachatao_21.3.2015)

In seiner Rede appelliert Jaime Luna an die BesucherInnen, sich auf die Kultur der Zapotecos Serranos rückzubesinnen (vgl. Martínez Luna 2010). Ökotourismus als hegemoniales, westliches Konzept wird gemäß diesem in der Sierra verbreiteten „sozialromantischen“ Diskurs hingegen als alternative Entwicklung propagiert, die lokale Organisationsweisen und kollektive Identitätsprozesse stärkt. De facto unterscheiden sich die Auswirkungen des Ökotourismus zwischen den Gemeinden jedoch erheblich.

3.4 CADA PUEBLO UN MUNDO: GEMEINDESPEZIFISCHE AUSWIRKUNGEN 26 Trotz einer ähnlichen soziopolitischen Organisation der Gemeinden und der Vorgaben der staatlichen Behörden unterscheiden sich die Ökotourismusprojekte zwischen den Gemeinden sehr. Viele bleiben erfolglos, was der Tatsache geschuldet ist, dass sie auf engem Raum um die TouristInnen konkurrieren. Die Konkurrenz wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Angebote der Gemeinden wenig voneinander abheben. Zudem sind die Gemeinden nicht gleich gut an das Verkehrsnetz angebunden und verfügen über unterschiedliche interne und externe Unterstützung der Projekte, was sich besonders deutlich auf Werbung und Internetauftritte auswirkt. Viele der Gemeinden verfügen nur über geringe finanzielle Mittel und technische Ressourcen und weisen einen Mangel an Fachkräften auf, sodass die Projekte oft nicht weitergeführt werden. Dies hat zur Folge, dass manche Gemeinden sehr hohe BesucherInnenzahlen aufweisen, wie das bereits erwähnte Pueblo Mágico Capulálpam, das 2013 von 20.467 TouristInnen besucht wurde. Dagegen konnte beispielsweise Lachatao nur 2.555 und die Gemeinde Analco nur 625 TouristInnen verbuchen (CDI Guelatao 2014). Die sozialen Auswirkungen der Projekte sind gleichermaßen heterogen und betreffen die Gemeindemitglieder in unterschiedlicher Weise. Während Mitglieder der Ökotourismuskomitees – bei funktionierenden Projekten – gewisse ökonomische Einnahmen erwirtschaften, Zugang zu verschiedenen Schulungen haben und in Kontakt zu regionalen, nationalen und teilweise sogar internationalen Netzwerken stehen, ist der Großteil nicht direkt in die Ökotourismusprojekte involviert und erzielt keine direkten Gewinne. Da es keine offiziellen Regelungen gibt, wie

26 „Jedes Dorf eine Welt“.

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genau die Gewinndistribution vonstattengehen soll, begünstigt es das System, dass Posten und Einkünfte häufig nur innerhalb von familiären und klientelistischen Strukturen weitergegeben werden oder einzelne Personen und Familien sich den Kollektivbesitz aneignen (vgl. Gasca Zamora et al. 2010, S. 114–116). Die undurchsichtige Gewinndistribution und Korruptionsvorwürfe sind jedoch kein spezifisches Problem des Ökotourismus, sondern treten gleichermaßen bei anderen gemeindebasierten Unternehmen wie der Holzwirtschaft auf und verstärken gemeindeinterne Konflikte. Statistiken des INEGI zufolge hat sich trotz über zehn Jahren Ökotourismus in den Gemeinden der Pueblos Mancomunados deren „Marginalisierungsstand“ (grado de marginación) nicht wesentlich geändert, welcher nach wie vor zwischen hoch und mittel (alto y medio) eingestuft wird. Auch die Abwanderungsrate in die Städte und in die USA hat sich durch den Ökotourismus nicht geändert. So verlassen die meisten jungen Gemeindemitglieder spätestens nach der Grundschule (primaria) die Gemeinden (Gasca Zamora et al. 2010). Studien über Ökotourismus in Chiapas kommen zu dem Ergebnis, dass die Abwanderung der jüngeren Generation durch ökotouristische Projekte nicht reduziert, sondern sogar noch verstärkt wird (Hernandez Cruz et al. 2005, S. 623). Für die Sierra Juárez liegen hierzu keine genauen Zahlen vor. Zudem halten sich die ökonomischen Gewinne aufgrund der geringen BesucherInnenzahlen in Grenzen und sind wegen deren saisonaler Fluktuation unregelmäßig, sodass selbst Personen, die in den Komitees tätig sind, noch zusätzliche Einnahmequellen benötigen, um ihre Familien versorgen zu können.27 Hinzu kommt, dass vor allem Personen im Ökotourismus tätig sind, die Migrationserfahrungen in den USA gesammelt haben und wegen ihrer Erfahrungen im Umgang mit Fremden sowie ihrer Sprachkenntnisse als besser dafür geeignet angesehen werden. Dadurch profitieren diese Personen und ihre Familien in besonderem Maße, und somit wird die Migrationserfahrung zur (ökonomischen) Ressource. Die Auswirkungen der hohen Emigration in der Gegend sind vielfältig und wirken sich auch auf die Geschlechterrollen aus, die durch den Ökotourismus noch weiter dynamisiert werden. Ein Großteil der anfallenden Arbeiten liegt, wie generell im Tourismus (Ferguson 2009; Kinnaird und Hall 1994), im traditionellen Aufgabenbereich von Frauen und umfasst die Zubereitung von Speisen, die Bedienung der Gäste sowie das Putzen. Jedoch haben Frauen durch den Ökotourismus auch vermehrt die Möglichkeit, an Workshops teilzunehmen und selbst

27 Der Großteil der BesucherInnen kommt um Weihnachten, zu Ostern, in den Sommerferien zwischen Juli und August sowie während anderer Schulferien (CDI Guelatao 2014).

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finanzielle Einnahmen zu erwirtschaften. Zudem kommt es durch die geringe Zahl der EinwohnerInnen und die hohe Abwanderung der Männer dazu, dass Frauen teilweise Aufgaben übernehmen, die eigentlich Männern zugeteilt sind (Aquino Centeno 2009, S. 37). So üben manchmal auch Frauen die als männlich klassifizierte Tätigkeit der Tourismusführerin aus, wie ich in Lachatao und Capulálpam feststellen konnte, was in der Literatur auch für andere Gemeinden der Region festgehalten wurde (Gasca Zamora et al. 2010, S. 94; Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 94). Allerdings ist die Integration der Frauen in die männerdominierten Felder sporadisch und nicht formaler Art, d.h. Frauen sind zumeist keine offiziellen Mitglieder der Tourismuskomitees und nach Angaben einer Studie zu Ökotourismus in Oaxaca aus dem Jahr 2007 im Gegensatz zu Männern nur zu 16 Prozent in die erwerbsbringenden Tätigkeiten im Ökotourismus involviert (Palomino Villavicencio und López Pardo 2007, S. 130). Wie die lokale Redewendung „Jedes Dorf eine Welt“ veranschaulicht, sind diese soziokulturellen Dynamiken von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich. Um die jeweilige ökotouristische Entwicklung einer Gemeinde nachvollziehen zu können, ist es entscheidend, den jeweiligen soziopolitischen Kontext zu kennen. 3.4.1 Ökotourismus in den Pueblos Mancomunados: Landrechtskonflikte sowie regionale Umorientierung und Allianzen Die Pueblos Mancomunados stellen einen Verbund von acht Gemeinden dar, die im Distrikt Ixtlán liegen, der mit dem Distrikt Villa Alta die Verwaltungseinheit der Sierra Norte darstellt. Der Verbund reicht zumindest bis in das Jahr 1615 zurück, ist aber erst seit 1961 rechtlich formalisiert und steht im Zusammenhang mit der Kontrolle des Territoriums gegenüber Ixtepeji sowie Los Valles (Poe 2009, S. 34). Die Pueblos Mancomunados bestehen aus den drei Gründungsgemeinden (municipios) Santa Catarina Lachatao (dem Feldforschungsort), Amaltán und Yavesía sowie den fünf – diesen administrativ und rechtlich untergeordneten – Orten (agencias) Latuvi, Benito Juárez und La Neveria (die Lachatao zugehörig sind) sowie Cuajimoloyas und Llano Grande (die zu Amatlán gehören). Die Besonderheit dieses Gemeindeverbundes besteht darin, dass er vor dem politischen und agrarpolitischen Recht als geopolitische Einheit gilt, in welcher ein Territorium von 29.430 Hektar (knapp 30 km²) geteilt wird (Ramales Osorio und Portillo Martín 2010, S. 2). Das Gebiet ist reich an Pinien- und Eichenwäldern, und hier befindet sich auch die Wasserscheide des Papaloapan-Flusses, einem der wichtigsten Flüsse Mexikos für Wasserkraft und Bewässerung.

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In den Pueblos Mancomunados wurde nicht nur das erste Ökotourismusprojekt gegründet (vgl. Kapitel 3.1), sondern auch der erste Verbund von Ökotourismus betreibenden Gemeinden in Mexiko, die Expediciones Sierra Norte. Er bestand ursprünglich aus sieben Ökotourismusprojekten der Gemeinden Benito Juárez, Cuajimoloyas und Llano Grande (1998 gegründet), Latuvi und Lachatao (beide 1999 gegründet), La Nevería (2000 gegründet) und San Miguel Amatlán (2002 gegründet). Yavesía, die achte Gemeinde, kooperierte nicht mit den anderen und gründete ein eigenes Ökotourismusprojekt (Gasca Zamora et al. 2010, S. 87).28 Die einzelnen Projekte sind zwar gemeindebasiert, aber im Unternehmen Expediciones Sierra Norte zusammengeschlossen, das ein Tourismusbüro in Oaxaca-Stadt führt. Die Projekte in Benito Juárez und Cuajimoloyas entwickelten sich aufgrund der verkehrstechnisch günstigeren Lage sehr schnell, wohingegen der Ökotourismus in den municipios wie auch in Lachatao erst später gezielt vorangetrieben wurde. Die Pueblos Mancomunados sind seit den 1980er Jahren führend in der Entwicklung gemeindebasierter Unternehmen (empresas comunales), was die Gründung des Ökotourismusverbunds beförderte. Wie bereits erwähnt, schließt diese Entwicklung an die in den 1980er Jahren international bekannt gewordene gemeindebasierte Forstwirtschaftsvereinigung (UPAF Pueblos Mancomunados, Unidad de Producción para el Approvechamiento Forestal de Pueblos Mancomunados) an, die nach wie vor den Hauptwirtschaftszweig der Pueblos Mancomunados darstellt (Kapitel 2.2.3). Sie betreibt ein Sägewerk und eine Möbelmanufaktur, die mittlerweile im Tal von Oaxaca (Valles Centrales) angesiedelt sind,29 sowie eine Trinkwasserabfüllanlage und eine Minengesellschaft (Poe

28 Yavesía übte von Anfang an Widerstand dagegen aus, dass das Territorium ab 1961 durch die gemeinsame Institution des comisariado de los bienes comunales verwaltet wurde, und behielt die politische Verwaltung durch den representante comunal (trotz der offiziellen Nichtanerkennung) bei. Damit ging einher, dass die ciudadanos/as von Yavesía nicht den offiziellen Status als comuneros/as der Pueblos Mancomunados übertragen bekamen und somit keine legalen Rechtsansprüche formulieren können, aber auch über eine partielle (soziale und ökonomische) Autonomie verfügen (Poe 2009, S. 39–40). Seither versucht Yavesía, aus dem Verbund auszutreten, was zu erheblichen Konflikten zwischen Yavesía und den beiden municipios Lachatao und Amatlán geführt hat, worüber viele ältere Gemeindemitglieder aus Lachatao berichteten. 29 Das Sägewerk auf dem Gemeindeterritorium in Las Vigas wurde im Jahr 2005 in das Tal von Oaxaca verlegt, was von vielen Gemeindemitgliedern Lachataos kritisiert wird, da damit das vorgegebene Ziel missachtet wurde, Arbeitsplätze für die Dorfbe-

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2009, S. 58–59). Zudem produziert und verkauft sie Trockenfrüchte und Pilze. Die Entscheidungen über die vier Wirtschaftsbereiche (Forstwirtschaft, Minentätigkeit, Ökotourismus und Trinkwasserabfüllung) werden durch die Versammlung aller comuneros/as (s.u.) getroffen – im Jahr 2010 waren es 1.901 (Gasca Zamora et al. 2010, S. 70–71). Das gemeinsame Territorium wird nach dem Prinzip der usos y costumbres durch das comisariado de los bienes comunales verwaltet, welches das wichtigste politische Verwaltungsorgan darstellt und dem auch der Ökotourismus untergeordnet ist. Es wird von der Gemeindevollversammlung der eingetragenen comuneros/as für den Zeitraum von drei Jahren gewählt. Diese sind registrierte, zumeist männliche Haushaltsvorstände, die über eingetragene Landrechte verfügen und gehen auf die agrarwirtschaftlichen Reformen in der Sierra Juárez in den 1940er Jahren zurück, als in den Listen des Instituto de Reforma Agraria die männlichen Gemeindemitglieder verzeichnet wurden und so deren Wahlrecht und später ihre finanzielle Teilhabe an den erwirtschafteten Erträgen der Gemeindeländereien gesichert wurden. Während anfänglich ein Großteil der männlichen Gemeindemitglieder in den Listen aufgeführt war, wurden es im Laufe der Zeit immer weniger, was zur Folge hat, dass heute viele Gemeindemitglieder über keine legalen Landrechtstitel mehr verfügen. Sie tragen somit auch nicht den Titel als comuneros/as, sondern sind nur als ciudadanos/as ihrer jeweiligen Gemeinde eingetragen, was sie faktisch aus der politischen Entscheidungsfindung und ökonomischen Gewinndistribution des Gemeindeverbunds ausschließt (Mathews 2011, S. 95–97). Dies ist ein entscheidendes Problem in den Verteilungskonflikten innerhalb von Gemeinden und im Falle der Pueblos Mancomunados ein zentraler Streitpunkt zwischen ihnen. Die Verwaltung durch die usos y costumbres erlaubt es hier, gewisse Bevölkerungsgruppen strukturell zu diskriminieren und systematisch von politischen Prozessen auszuschließen. Dies führt im ganzen Bundesstaat Oaxaca zu sehr vielen Konflikten auf munizipaler Ebene, da in 21 Prozent der municipios Gemeindemitglieder, die außerhalb der cabecera municipal leben (Kreishauptstadt eines municipio, dem die agencias untergeordnet sind), sowie in 18 Prozent der municipios Frauen systematisch von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind (vgl. Eisenstadt 2007, S. 63). Die Konflikte in den Pueblos Mancomunados sind vielschichtig, sie drehen sich neben der ungleichen Gewinndistribution, den ungleichen politischen Rechten der Mitglieder

wohnerInnen zu schaffen, und die Gemeindebasiertheit nicht gegeben sei (vgl. Poe 2009, S. 40).

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(comuneros/as) sowie der wirtschaftlichen und politischen Verwaltung 30 auch um die territoriale Ordnung. So fordern die municipios Yavesía und Lachatao die Selbstverwaltung eigener Territorien; einige der agencias stellen hingegen ihre politisch-administrative Unterordnung unter die municipios in Frage. Dies stellt keine Seltenheit im Staat Oaxaca dar, wo die heftigsten Konflikte über die Ressourcenverteilung zwischen den cabeceras der municipios und den agencias stattfinden. Diese Konflikte treten häufiger in den durch die usos y costumbres verwalteten municipios auf, da diese durch die Flexibilität des Systems über keine festgelegten institutionellen Lösungen verfügen (Eisenstadt 2007, S. 65, 69). In den Pueblos Mancomunados sind diese Probleme durch das geteilte Territorium und die acht Gemeinden noch komplexer und wirken sich vielfältig auf die ökonomischen, politischen und sozialen Aspekte des Lebens aus. Sie betreffen folglich auch den Ökotourismus. Das Ökotourismusprojekt von Lachatao war anfänglich Teil und (Mit-)Träger der Expediciones Sierra Norte. Noch 2014 wurde Lachatao in der Projektbeschreibung und der Werbung der Pueblos Mancomunados aufgeführt, wobei es faktisch jedoch zu keiner Kooperation mehr kam und Lachatao sein Ökotourismusprojekt unabhängig von den Expediciones Sierra Norte organisierte. Mittlerweile wird Lachatao nicht mehr auf deren Webseite aufgeführt.31 Die Desintegration Lachataos liegt in den Ressourcenkonflikten zwischen den Gemeinden begründet, die 2009 ihren Höhepunkt erreichten. Als Gründe für den Austritt aus dem Gemeindeverbund wurden mir von führenden Gemeindemitgliedern Lachataos die Zerstörung der Wälder durch die Nicht-Einhaltung der vereinbarten Nachhaltigkeitskriterien des forstwirtschaftlichen Unternehmens und der Trinkwasseranlage der Pueblos Mancomunados genannt, die mangelnde Gewinnbeteiligung an den erwirtschafteten Erträgen sowie generell korrupte Praktiken in der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen. Konflikte dieser Art sind innerhalb von municipios in Oaxaca weit verbreitet und häufig auf familienbedingte Monopolstellungen zurückzuführen, die durch die Allianzen und Kooperationen mit der PRI historisch gewachsen sind (Kazikentum) sowie im System der usos y costumbres weiter ihre Wirkung haben (vgl. Eisenstadt 2007, S. 57). Rechtlich ist eine Aufteilung des gemeinsamen Territoriums sehr problematisch, und die

30 So wird beispielsweise die Managerposition der empresa comunitaria der Pueblos Mancomunados (gerente) bezahlt, was von vielen Personen als „Verfall“ der Traditionen diskutiert wird. Hinzu kommt, dass die Manager zumeist keine Gemeindemitglieder (und teilweise noch nicht einmal aus Oaxaca) sind, sondern externe Fachkräfte, die von den Gemeinden angestellt werden (Poe 2009, S. 40). 31 Vgl. http://sierranorte.org.mx/ [25.02.2019].

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gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Verfügungsrechte laufen seit Jahren. Wie im Verlauf der Arbeit erklärt wird, wirken sich die Ressourcenkonflikte in vielfältiger Weise auf den Ökotourismus in Lachatao aus (vgl. Kapitel 6.2). Eine Konsequenz daraus stellte die regionale Umorientierung des Ortes dar, die seit dem Jahr 2007 den Aufbau eines weiteren Ökotourismusverbundes (REDSJO) vorangetrieben hat. Das Netzwerk besteht aus dem Zusammenschluss regional und verkehrstechnisch gut miteinander verbundener Gemeinden32 und wurde 2009 offiziell formalisiert. Seit 2010 betreibt dieser Verbund ebenfalls ein Tourismusbüro in Oaxaca-Stadt und übertrifft mittlerweile die jährlichen BesucherInnenzahlen der Pueblos Mancomunados.33 3.4.2 Santa Catarina Lachatao „Ich kann Ihnen erklären, wie Sie hinkommen. Sie können vom Monumento aus ein Taxi nehmen. Ein Taxi aus Itxlán. Ungefähr nach 52 Kilometern kommt ein Ort, der als Río Grande oder Puente de Fierro bekannt ist, von dort aus [...] können Sie mit der camioneta mixta nach Lachatao fahren. [...] Also Lachatao ist gekennzeichnet durch die Art der Personen, die in der Gemeinde leben. [...] In Lachatao gibt es eine andere Kultur, (…) in Bezug auf Respekt, auf Sitten und Bräuche und auf die Bildung, die man hat.“ (Fotoprojekt_ Leo_15.3.2014)

So erklärte Leo anhand der folgenden, von ihm selbst aufgenommenen Fotografie, wie er einer fremden Person die Gemeinde vorstellen würde. Das Dorf befindet sich auf 2.104 Metern Höhe mit Blick auf das Tal des Río Grande. In 62 km Entfernung von der Stadt Oaxaca ist die Gemeinde, größtenteils über Teerstraßen, in ca. 1,5 Stunden relativ gut zu erreichen. Lachatao liegt an der nördlichen Außengrenze des Territoriums der Pueblos Mancomunados und grenzt direkt an die Gemeinde Amaltán an, sodass die Siedlungen unmittelbar ineinander übergehen und die Grenzziehung umstritten ist.

32 Im Jahr 2014 waren dies die Gemeinden Ixtlán de Juárez, Capulálpam de Méndez, Santa Catarina Ixtepeji, Santa Catarina Lachatao, San Juan Evangelista Analco, La Trinidad, San Pedro Nexicho und Santa María Yahuiche. 33 Nach Angaben des CDI in Guelatao lagen die BesucherInnenzahlen im Jahr 2013 bei 52.992 im Red Sierra Juárez, wohingegen die Pueblos Mancomunados 15.301 BesucherInnen aufwiesen (CDI Guelatao 2014).

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Abbildung 8: Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Leo, 2014, Titel: „ Die Weisheit, die Kultur und die Werte sind ein heiliges Vermächtnis unserer Vorfahren, die Tränen vergossen haben, Schreie, Plagen, Wunden und Tode erlitten haben, für die Liebe zu ihren Nachfolgern.“

Nach Angaben des Zensus des Gesundheitszentrums (2013) setzen sich die 177 Gemeindemitglieder zum Großteil aus älteren Personen zwischen 45 und 65 Jahren zusammen, gefolgt von den Ältesten (über 65 Jahre) und den Kindern (25 Prozent), sodass der Teil der erwerbsfähigen Erwachsenen sich nur auf 38 Prozent beläuft (Guzmán Platas 2013). Insgesamt leben in der Gemeinde nach offiziellen Angaben aus dem Jahr 2013 86 Männer und 114 Frauen. Die Bevölkerung lebt größtenteils in kleineren Nuklearfamilienverbänden von ca. vier bis fünf Personen in etwa siebzig Haushalten. Fast jede dieser Familien hat mehrere Familienmitglieder, die in größeren mexikanischen Städten und den USA leben. Die Tätigkeitsfelder in der Gemeinde bestehen aus einer Kombination verschiedener subsistenz- und erwerbswirtschaftlicher Tätigkeiten. Die Männer gehen Erwerbstätigkeiten nach und arbeiten häufig als Tagelöhner auf dem Feld oder im Bauwesen, teilweise als Zimmermann, Schreiner oder Maurer, häufig auch außerhalb der Gemeinde. Die Frauen hingegen gehen in erster Linie häuslichen und reproduktiven Tätigkeiten nach. Die Landwirtschaft stellt nach wie vor

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die wichtigste wirtschaftliche Tätigkeit in Lachatao dar und trägt nach einer Studie aus dem Jahr 2014 70 Prozent zum erwirtschafteten Einkommen bei (ohne die remesas zu berücksichtigen) (Rojas Serrano 2014, S. 149). Einige der Männer haben sich 2013 zu einer Produktionskooperative für Gemüse zusammengeschlossen, die von einem in der Gemeinde lebenden Agrarökonom angeleitet wird. Ein Großteil der Familien (61 Prozent) verfügt über den mexikanischen Mindestlohn – dieser lag in Oaxaca 2017 bei 80 Pesos, ca. 4 € pro Tag –, die restlichen verdienen etwas mehr (Guzmán Platas 2013, S. 27). Hinzu kommen die finanzielle Unterstützung von Kindern einkommensschwacher Familien und alleinerziehender Mütter durch das Programm oportunidades34 des mexikanischen Staats, die Unterstützung von älteren Personen durch das Programm 70 y más35 sowie Lebensmittelhilfen, sogenannte despensas36. Wie in fast allen Gemeinden Mexikos, so stellen auch hier die Rücküberwiesungen (remesas) der emigrierten Gemeindemitglieder eine wichtige Einnahmequelle dar, die ihre in der Gemeinde verbliebenen Familienmitglieder und die Gemeinde selbst finanziell unterstützt. Ein Großteil der Abgewanderten lebt in Oaxaca-Stadt, Mexiko-Stadt und Monterrey sowie in Los Angeles. Einige von ihnen sind in Vereinen zusammengeschlossen und engagieren sich für die Gemeinde. Die wichtigste Vereinigung stellt die der migrierten Lachatenses in Oaxaca dar (OLAROP, Organización de Lachatenses Radicados en la Ciudad de Oaxaca y Periferia), die in engem Kontakt zur Gemeinde und zur Gemeindepolitik steht. Weitere Vereinigungen emigrierter Gemeindemitglieder, die die Gemeinde finanziell besonders bei der Ausrichtung der Patronatsfeste unterstützen, bestehen in Mexiko-Stadt und Monterrey. Die Vereinigung der Lachatenses in Kalifornien hat (aufgrund der Remigration führender Personen) mittlerweile an Bedeutung verloren, und ihr mangelndes Engagement wird häufig beklagt. Über die emigrierten Gemeindemitglieder existieren keine Statistiken. Nach Schätzung der Gemeindeautoritäten leben ca. 300 Lachatenses in Oaxaca, 500 in Mexiko-Stadt und Monterrey und weitere 100 in Los Angeles. Zieht man ältere Statistiken heran, so müssten es eigentlich viel mehr Personen sein, von denen viele

34 Das Programm wird vom SEDESOL (Secretaría de Desarrollo Social) geleitet und bietet finanzielle Unterstützung für die Schulausbildung von Kindern ökonomisch schwacher Familien. 35 Das Programm wird ebenfalls vom SEDESOL geleitet und unterstützt Menschen über 70 Jahre mit 500 Pesos (ca. 25 €) monatlich. 36 Die Lebensmittelhilfen werden vom DIF (Sistema Nacional para el Desarrollo Integral de la Familia) an einkommensschwache Familien mit Kindern verteilt und enthalten Grundnahrungsmittel wie Bohnen, Reis, Milchpulver und Öl.

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jedoch die Beziehung zur Gemeinde nicht aufrechterhalten haben. Allein eine Statistik aus dem Jahr 1930 spricht von über 1.061 Lachatenes in Oaxaca-Stadt (Secretaría de la Economía Nacional 1930, S. 758).37 In den Angaben des INEGI, die den Verbund der Pueblos Mancomunados als eine Einheit berechnen, wird ein drastischer Bevölkerungsrückgang verzeichnet, gemäß dem sich die dortigen EinwohnerInnen zwischen 1980 und 2005 um fast die Hälfte reduziert haben (1980: 4.216 EinwohnerInnen, 2005: 2.518 EinwohnerInnen). Der Bevölkerungsrückgang betrifft vor allem die municipios und weniger die agencias, da letztere verkehrstechnisch günstiger gelegen sind und dementsprechend bessere Wirtschaftsstrukturen aufbauen konnten (was sich auch in den Ökotourismusprojekten widerspiegelt).38 Diese Entwicklungen verstärken die politischen Konflikte und dienen den agencias als Argument, die administrative und rechtliche Unterordnung unter die kleineren municipios in Frage zu stellen. Wie Lachatao waren diese früher den agencias, die eher Gehöften glichen, zahlenmäßig weit überlegen und stellten wichtige Handels- und Wirtschaftszentren dar. Geschichte: Minentätigkeit und Migration Lachatao war im 19. und 20. Jahrhundert ein ökonomisches Zentrum, das für seine Minen und regen Handelstätigkeiten bekannt war. Es wies regional eine der höchsten Beschäftigungen im Bergbau auf, wobei viele der Gemeindemitglieder auch in der Mine in Natividad arbeiteten (Secretaría de la Economía Nacional 1930, S. 782).39 Zudem stellte die Gemeinde einen wichtigen Knotenpunkt des Handels zwischen den Valles und Natividad dar. Nach der Revolution wurden Abbau und Weiterverarbeitung von Silber und Gold in der Ex Hacienda de 5 Señores eingestellt, die auf dem Territorium der Pueblos Mancomunados

37 Die Männer arbeiten häufig als Arbeiter/Tagelöhner und die Mädchen als Haushaltshilfen bei wohlhabenden Familien, die ebenfalls häufig aus Lachatao stammen. Viele der Männer Lachataos arbeiten in der Textilfabrik in Etla in der Nähe der Stadt Oaxaca. Sie lag ursprünglich nahe Lachatao in Xia in der Sierra Juárez und beschäftigte schon damals viele Personen aus Lachatao sowie Ixtepeji. Nach der Revolution wurde sie in die Valles verlegt, wohin ihr viele Gemeindemitglieder aus Lachatao folgten. 38 Im gesamten municipio Lachatao inklusive seiner agencias lebten im Jahr 2005 ca. 1.100 Personen, wobei die Einwohnerzahlen der agencias Latuvi (499), Benito Juárez (318) sowie La Nevería (77) die von Lachatao als cabecera mit seinen nur 151 EinwohnerInnen (2005) überstiegen (Poe 2009, S. 27). 39 Lachatao verzeichnete nach den Gemeinden Capulálpam de Méndez, Xiacuí und San Antonio die höchste Beschäftigungsrate in der Minentätigkeit (51 Arbeiter, in Capulálpam 209) (Secretaría de la Economía Nacional 1930, S. 782).

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liegt. Mächtige Ruinen zeugen bis heute von den technischen Möglichkeiten und hohen Produktionsmengen der Mine (vgl. Abbildung 6). In der Folgezeit wurden viele weitere Minen eröffnet, und viele Menschen versuchten ihr Glück auf der Suche nach Gold. Der Zensus von 1930 lässt erkennen, dass schon damals einige US-Amerikaner in der Gemeinde lebten, die in die Minentätigkeit investierten. Der Höhepunkt wurde in den 1960er Jahren erreicht, als hier mindestens sechs Minen betrieben wurden (García Morales 2016). Davon zeugen heute noch die Kipploren und Schienen, die im Dorfzentrum vor dem Museum aufgestellt sind. Die stillgelegt Mine San Juan wird auf Führungen mit TouristInnen besucht, die in die Minenschächte abgeseilt werden (rapel). Die rege Handelstätigkeit und der Zuzug von mestizischen Facharbeitern und Investoren führten zu soziokulturellen Veränderungen, etwa zur Verdrängung des Zapotekischen und zur Verbreitung mestizischer Kultur – Prozesse, die auch in anderen Gemeinden der Region festzustellen sind (Mathews 2011). Nach Angaben von älteren Gemeindemitgliedern reichten die Siedlungsgrenzen des Dorfes weit über die jetzigen hinaus, und viele Familien betrieben Landwirtschaft auf teilweise weit entfernen Gehöften (sogenannten ranchos) im Wald. Die Emigration von Männern (vor allem als Erntehelfer in die USA) erfolgte ab den 1940er Jahren durch das Bracero-Programm, was zu einer zirkulären Migration vieler Männer der Gemeinde führte (Kapitel 2.1.2). Diese verstärkte sich nach Angaben der Ältesten noch weiter durch einen Hurrikan, der im Jahr 1944 wütete, die Ernten und Felder durch Erdrutsche zerstörte und viele Einwohner zwang, die Gemeinde zu verlassen. Die Emigration in die USA nahm nach dem Ende des Bracero-Programms noch weiter zu und erreichte in den 1980er und 1990er Jahren ihren Höhepunkt, der zu einer so drastischen Entvölkerung von Lachatao führte, dass ein über neun Jahre lang funktionierendes Blumenanbauprojekt wegen des Mangels an ArbeiterInnn schließen musste.40 Ein Großteil der Lachatenes, die sich als los paisanos41 bezeichnen, lebt seither außerhalb der Gemeinde, wobei einige von ihnen die Gemeinde sowie ihre Häuser und Grundstücke in regelmäßigen Abständen besuchen und manche sich im fortgeschrittenen Alter hier auch wieder dauerhaft niedergelassen haben. Der Großteil der erwachsenen in Lachatao lebenden Gemeindemitglieder – Männer

40 In dem Projekt waren 17 Personen angestellt gewesen, die Schnittblumen in 13 Gewächshäusern angebaut hatten (Rojas Serrano 2014, S. 138). 41 Los paisanos dient als Hauptidentifikationskategorie und als kulturelles Kapital im Emigrationskontext der Stadt sowie dem Aufbau von sozialen Netzwerken auch zwischen verschiedenen Gemeinden, deren Mitglieder sich gemeinsam als paisanos identifizieren (Rojas Serrano 2014, S. 141; Barabas 1999, S. 88).

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wie Frauen – hat außerhalb der Gemeinde in den USA, in Mexiko-Stadt und in der Stadt Oaxaca gelebt, und viele sind erst vor einigen Jahren in die Gemeinde zurückgekehrt. Heute arbeiten viele der emigrierten Gemeindemitglieder in gehobenen Posten in den Städten als LehrerInnen, UniversitätsprofessorInnen oder AnwältInnen und verfügen daher über beträchtliches soziopolitisches und ökonomisches Kapital. Sie werden seitens der Gemeinde aufgrund ihrer Ausbildungen als profesionistas bezeichnet. Diese spezifische Migrationsstruktur ist durch den großen Einfluss der Gemeinde als cabecera municipal (Verwaltungszentrum) zu erklären, wovon einige Gemeindemitglieder stark profitiert haben. Dies schlug sich schon früh in der Gründung einer renommierten Schule (primaria) in Lachatao nieder, die ein hohes Bildungsideal vermittelte und den SchülerInnen aus bessergestellten Familien eine gute Ausbildung oder sogar ein Studium ermöglichte. Personen aus Lachatao berufen sich auf diese Bildungskultur als besonderes „kulturelles“ Merkmal ihrer Gemeinde, wie die Äußerungen von Leo zu Anfang dieses Unterkapitels verdeutlichen. Dies steht im Zusammenhang mit der nahegelegenen Gemeinde Guelatao, dem Geburtsort von Benito Juárez (Kapitel 2.1.2), der seit dem Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río (Amtszeit 1934– 1940) als wichtiger nationaler Identitätspunkt gilt. Cárdenas del Río gründete dort 1938 neben einem Internat für indigene Kinder ein Krankenhaus und ein landwirtschaftliches Forschungszentrum und sagte Guelatao die Unabhängigkeit von der Nachbargemeinde Ixtlán zu (Mathews 2011, S. 96; Barabas 1999, S. 80). Soziopolitische Verwaltung der Gemeinde Die geringe Bevölkerungszahl als Folge der Abwanderung wirkt sich entscheidend auf die soziopolitische Organisation der Gemeinde aus, die durch die usos y costumbres regiert wird. Die cargos des Ämtersystems sind größtenteils unentgeltlich, wobei der mexikanische Staat die höchsten Posten des Gemeinderats (cabildo) durch monatliche Diäten unterstützt, die jedoch sehr gering sind. Die cargos stehen in einer Hierarchie, die von einfachen Hilfspolizeiarbeiten (topiles) über religiöse Aufgaben (cargo de la iglesia)42 bis hin zu höheren Posten der Gemeindeverwaltung organisiert sind. Der Gemeinderat in Santa Catarina Lachatao setzt sich aus dem/der BürgermeisterIn (presidente/a), drei Gemeinderatsvorsitzen – die 1) das Gemeindefinanzwesen 2) die Bautätigkeiten sowie 3)

42 Die religiöse Zugehörigkeit eines Großteils der Gemeindemitglieder ist katholisch. Einige wenige Familien sind AnhängerInnen von protestantischen Freikirchen (die jedoch über kein eigenes Gebäude in der Gemeinde verfügen). Ihr Stand in der Gemeinde ist erschwert, ihre Beteiligung an Dorffesten und anderen Gemeindeangelegenheiten ist gering, und sie beklagen, diskriminiert zu werden.

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Gesundheit und Schule verwalten (regidor/a de hacienda, regidor/a de obras, regidor/a de salud y educación) –, dem/der síndico/a (rechtliche Gemeindeinstanz und PolizeivorsteherIn) und dem/der alcalde (GemeindevorsteherIn) zusammen. Sie werden alle für eine Wahlperiode von drei Jahren durch die asamblea gewählt. Alle Posten des Gemeinderats verfügen über einen Vertreter (suplente), der gegebenenfalls auch die zweite Hälfte der Regierungszeit übernimmt. Die „ehrenwerten“ Gemeindemitglieder bilden (nach erfolgreichem Durchlaufen der Ämterhierarchie) zudem einen Ältestenrat (los caracterizados), der bei wichtigen Entscheidungen eine Beratungsfunktion ausübt. Um soziales Prestige als ehrenwertes Gemeindemitglied anzuhäufen, sind neben der erfolgreichen Erfüllung der cargos auch die finanzielle Unterstützung der Gemeinde bei den fiestas sowie die regelmäßige Teilnahme an der kollektiven Gemeinschaftsarbeit der tequios erforderlich. Zudem verfügt Lachatao über einen Posten für die territoriale Verwaltung (comisariado de los bienes comunales), der aufgrund von Lachataos Zugehörigkeit zu den Pueblos Mancomunados (und der formalen Verwaltung des Territoriums durch deren comisariado de los bienes comunales) rechtlich umstritten ist. Gerade wegen der komplizierten politischen Verhältnisse und rechtlichen Auseinandersetzung mit den Pueblos Mancomunados kommt diesem Posten in Lachatao eine besondere Bedeutung zu. Die anderen Gemeindeaufgaben werden durch Komitees organisiert. Es gibt Komitees für den Ökotourismus (comité del ecoturismo), das Gesundheitszentrum (comité del centro de salud), die Schule (comité de la escuela), die Eltern (comité de los padres de familia), und je nach Bedarf werden neue Komitees gegründet, beispielsweise für die archäologische Ausgrabungsstätte (comité de la Valenciana) oder die Überwachung des Waldes (comité de la vigilancia). Die Ländereien der Gemeinde sind terrenos comunales, für die eingetragene comuneros/as (vererbbare) Nutzungsrechte innehaben. Die Landnutzung erfolgt somit über private „Eigentümer“, die die Nutzungsrechte genießen und diese zumeist patrilinear vererben. Frauen verfügen normalerweise aufgrund der Erbfolge über keine Nutzungsrechte und haben somit nicht den Titel comuneras inne, was sie von wichtigen Entscheidungen ausschließt und bezüglich der Subsistenzproduktion von den Männern abhängig macht. Der kommunale Landbesitz ist also nicht gleich verteilt, und auch in Lachatao dominieren einzelne Familien die Nutzungsrechte großer Ländereien, wohingegen andere Gemeindemitglieder über gar kein Land verfügen. Die hohe Abwanderung in der Region erschwert die Aufrechterhaltung des Cargosystems, sodass es dementsprechend angepasst wird. Die wesentliche Anpassungsstrategie ist die Integration von Frauen, die zumeist die religiösen cargos (de la iglesia) sowie die niederen cargos ihrer

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emigrierten Männer übernehmen (Aquino Centeno 2009, S. 37; Barabas 1999, S. 87). Offizielle Aufgaben, die Frauen in Gemeinden übernehmen, stehen im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der Kindererziehung und werden über Komitees organisiert. In manchen Gemeinden Oaxacas bekleiden Frauen auch höhere cargos bis hin zu presidentas (Dalton 2003). Dies ist auch in Lachatao der Fall, wo Tía Lorena von 2002 bis 2004 Präsidentin war und schon oft Frauen den Posten des Gemeinderatsvorsitzes für Gesundheit und Bildung (regidora de salud y educación) sowie andere höhere Posten innehatten. Dies wird als Zeichen der Geschlechtergerechtigkeit und Fortschrittlichkeit der Gemeinde gewertet und in Kontrast zu anderen Gemeinden gesetzt, in welchen Frauen jegliches Recht auf politische Partizipation verwehrt ist. Eine weitere gängige Praxis zur Aufrechterhaltung des Cargosystems besteht darin, emigrierte (also nicht in der Gemeinde lebende) Gemeindemitglieder für cargos zu nominieren, die dann die Wahl haben, diese selbst zu bekleiden (was häufig aufgrund der Arbeits- und Familienverhältnisse nicht möglich ist) oder eine andere Person für die Übernahme des Postens zu bezahlen. Dies betrifft vor allem wohlhabende Gemeindemitglieder, die in den Städten Oaxaca, MexikoStadt oder in den USA leben, aber über Grundstücke in der Gemeinde verfügen, deren Nutzungsrechte sie nicht verlieren möchten. Sie stehen durch ihre Rechte und Pflichten (derechos y obligaciones) in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Gemeinde. Häufig werden niedere cargos, wie die der topiles, aufgrund des Mangels an Erwachsenen an Jugendliche vergeben. Die zunehmende Komplexität und Bürokratisierung der Gemeindeverwaltung führt in vielen Gemeinden zu einer Vergabe hoher Posten an Personen mit Bildung und politischen Kontakten sowie zu einem Verzicht auf das erfolgreiche Durchlaufen des Cargosystems. So ist es auch in Lachatao, wo der Gemeinderat in zwei Amtszeiten während meiner Feldforschung größtenteils aus migrierten Gemeindemitgliedern bestand und beide Präsidenten aus Oaxaca-Stadt stammten. Beide hatten vor ihrer Amtsübernahme nie längere Zeit in der Gemeinde gelebt und die Ämterhierarchie nicht absolviert. Die politischen sowie soziokulturellen Prozesse sind nicht ohne den Einfluss der emigrierten oder zurückgekehrten Gemeindemitglieder zu verstehen, die mit der Gemeinde in wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen stehen. So sind die Gemeinden einerseits finanziell, organisatorisch und politisch von den MigrantInnen abhängig, die einen entscheidenden Anteil an der Ökonomie der Dörfer haben. Andererseits sind auch die MigrantInnen von der Gemeinde abhängig: hinsichtlich der Nutzungsrechte am Land und der Besitzrechte von Häusern sowie in Bezug auf die Zugehörigkeit. Dieses wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis führt zu beständigen Aushandlungen der Kräfteverhältnisse, die sich, wie

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im empirischen Teil der Arbeit aufgezeigt wird, besonders markant am Ökotourismus abzeichnen. Ökotourismus: El bien común? 43 Das Ökotourismusprojekt in Lachatao wurde 1999 auf Initiative von emigrierten Gemeindemitgliedern aus Oaxaca-Stadt, Mexiko-Stadt und Los Angeles gegründet. Bis heute kündet ein gusseisernes Schild an der ersten von ihnen erbauten touristischen Unterkunft von ihrer Initiative. Das Projekt war jedoch bis 2007 kaum in Betrieb. Wie häufig war es ein Projekt, das von „außen“ initiiert wurde und mehr vom Prestigebedürfnis der emigrierten Gemeindemitglieder zeugte als von der Initiative der ansässigen Gemeinde. Dies änderte sich 2007 mit dem Wechsel des Gemeinderats, der das Projekt wieder aufnahm und gezielt vorantrieb. In Lachatao diente die erfolgreiche Führung des Ökotourismus durch das 2007 eingesetzte Komitee als Argument für die Verlängerung der Amtstätigkeit durch die asamblea bis zum Jahr 2016. Diese Entscheidung wurde nach Angaben von Personen, die im Ökotourismuskomitee arbeiten, ausdrücklich von staatlicher Seite durch das CDI empfohlen, um eine nachhaltige Rentabilität zu gewährleisten, wobei die letzte Finanzierungsphase sogar mit der Verpflichtung verbunden war, die Arbeit mit demselben erfolgreichen Komitee durchzuführen. Dies verdeutlicht die bereits angesprochenen Konflikte und Widersprüche bei der lokalen Verwaltung des Ökotourismusprojekts. Dies stellte das Ökotourismuskomitee vor die schwierige Aufgabe, die traditionelle Gemeindeverwaltung als spezifisch kulturelles Element der Gemeinden der Sierra Juárez touristisch zu repräsentieren, andererseits aber sich selbst nicht an diese Traditionen zu halten. Das Projekt erhielt die maximale Förderung des CDI, welches die Finanzierung des Projektes in allen drei Etappen mit ca. 90 Prozent der Gesamtausgaben übernahm (CDI 2015). Im Jahr 2011 wurde die dritte Etappe bewilligt. Die restlichen Anteile wurden von der Gemeinde übernommen. Konkret bedeutete das, dass sich die Gemeindemitglieder durch tequios am Aufbau des Projekts beteiligten, indem sie unbezahlte Arbeitsleistungen übernahmen (z.B. die Herstellung von Lehmziegeln [adobe] für die touristischen Unterkünfte). Die touristische Infrastruktur wurde kontinuierlich erweitert, und Schulungen wurden für die Gemeindemitglieder in den Bereichen Administration, Werbung, Serviceleistungen, Putzen und Bedienung sowie in der Zubereitung von Essen und Getränken angeboten. Seit 2010 wird die logistische und konzeptuelle Ausrichtung des Ökotourismusprojekts durch ein Ehepaar aus Oaxaca unterstützt: Salvatore und Frida dienen als BeraterInnen (asesores, consultores), die die komplexen Antragstel-

43 „Das Gemeinwohl“.

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lungen und Konzeptionen des Projekts fachmännisch durchführen, und leben größtenteils in der Gemeinde. Das Ökotourismuskomitee nutzt ihr Expertenwissen sowie das von weiteren „externen“ Personen, die je nach Bedarf partiell in das Projekt integriert werden, wie die Dichterin Elisabeth, die mehrere Dichterfestivals in der Gemeinde organisiert hat,44 oder emigrierte Gemeindemitglieder aus der Stadt Oaxaca. Heute besteht die touristische Infrastruktur aus drei cabañas (mit jeweils zwei Unterkünften) am nördlichen Dorfrand mit Blick über das ganze Dorf, einem Restaurant, einem Gemeinschaftsraum, einem Museum und einem temazcal (Dampfbad) sowie einem Tourismusbüro und drei weiteren Unterkünften im Dorfzentrum. Im Jahr 2014 wurde die letzte Etappe der infrastrukturellen Förderung durch das CDI mit dem Bau einer Gemeinschaftsunterkunft (cabaña multifamiliar) abgeschlossen. Insgesamt bietet das Projekt Unterbringungsmöglichkeiten für mehr als fünfzig Personen. Sie wurden dem BesucherInnenprofil der Gemeinde angepasst, das häufig aus großen Gruppen besteht, die zuvor aus Mangel an touristischen Unterkünften in Privathaushalten untergebracht worden waren. Heute gilt der Ökotourismus in Lachatao als eines der erfolgreichsten Projekte der Region. Zwar weist das Projekt nur eine relativ geringe Besucherzahl auf (2.555 BesucherInnen im Jahr 2013)45, jedoch zeigen die Statistiken die höchste Aufenthaltsdauer und Rückkehrquote von TouristInnen in der Region. Hinzu kommt, dass die BesucherInnenzahl kontinuierlich steigt und die Projektkonzeptionen erfolgreich umgesetzt wurden. Die Einnahmen bleiben jedoch aufgrund der Investitionen in den Aufbau des Projekts, der Bezahlung einiger Mitarbeiter und der geringen BesucherInnenzahl relativ gering. Im Jahr 2013 lagen sie bei nur ca. 800.000 Pesos (ca. 39.650 €), die in den weiteren Aufbau des Projekts investiert wurden – im Vergleich zu Capulálpam, das mit ca. 3.420.730 Pesos (ca. 167.930 €) die höchsten Einnahmen verbuchen konnte (CDI Guelatao 2014). Die Preise in den Ökotourismusprojekten der Sierra Juárez sind überall ähnlich und liegen bei 500 Pesos (ca. 25 €) je Nacht für eine Privatunterkunft und 150 Pesos (ca. 7,50 €) für die Unterbringung in einem Gruppenzimmer sowie mode-

44 Elisabeth organisierte 2012 und 2013 ein Dichterfestival (Festival de la Paz), zu dem DichterInnen aus ganz Mexiko einige Tage in der Gemeinde verbrachten, was deren idealisierende Repräsentation befördert hat. 45 Dies wären durchschnittlich sieben BesucherInnen pro Tag, faktisch jedoch schwankt der Tourismus saisonal sehr stark, sodass zeitweise auch gar keine TouristInnen im Dorf sind.

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raten Preisen für Essen (50 Pesos [ca. 2,50 €] für ein Mittagessen) und die geführten Wanderungen (200 Pesos [ca. 10 €] für einen Guide). Abbildung 9: Tourismusbüro im Dorfzentrum Lachataos, 2012

Quelle: Eigene Aufnahme

Der übergroße Anteil von 87,5 Prozent der BesucherInnen im Jahr 2013 sind (wie überall in der Region) BinnentouristInnen, die größtenteils mit eigenen Autos oder öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Sie haben weniger Interesse an den die Gemeinden verbindenden Wanderrouten, die in erster Linie von den westlichen TouristInnen genutzt werden. Aufgrund des geringen Anteils an ausländischen BesucherInnen wird derzeit das Angebotsprofil der Ökotourismusprojekte an die Bedürfnisse der mexikanischen BinnentouristInnen angepasst, die als Familien, vor allem aber als Universitätsstudierende in Gruppen anreisen und konsumfreudiger sind als ausländische TouristInnen. Dies spiegelt sich in der Projekterweiterung Lachataos wider, die durch die cabañas multifamiliares Unterbringungsmöglichkeiten für große Familien und Gruppen bietet und eine Erweiterung von Aufenthaltsplätzen mit Grillmöglichkeiten und Kinderspielplätzen vorsieht. Das touristische Angebot Lachataos besteht aus den typischen ökotouristischen Tätigkeiten der Region, unterscheidet sich jedoch von anderen Projekten durch eine größere kulturelle und geschichtliche Ausrichtung. Als wichtigste Zeugnisse gelten die Dominikanerkirche aus dem 16. Jahrhundert und das Rat-

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haus (erbaut 1934), die vom einstigen politischen Einfluss des municipios künden. Die Geschichte der Gemeinde wird im Gemeindemuseum ausgestellt, in dem sich archäologische Objekte aus prähispanischer Zeit, barocke Kirchenausstattungen und Objekte der mexikanischen Revolution befinden. Die Museumsgründung geht auf die Zusammenarbeit mit dem bereits genannten Paar aus Oaxaca zurück. Neben geschichtlichen Führungen und Erläuterungen der im Dorf praktizierten usos y costumbres bietet die Gemeinde Anwendungen in traditioneller Medizin in Form von Massagen, rituellen Reinigungen (limpias) und Schwitzhütten (temazcales) an. Ein weiterer Bestandteil des touristischen Angebots ist der Festtagskalender der Gemeinde, der neben den Patronatsfesten der Heiligen Catarina (am 25. November) sowie der Asunción de María (am 15. August) zahlreiche weitere Feste vorsieht.46 Der Erfolg des Ökotourismusprojekts zeigt sich daran, dass Lachatao im Jahr 2015 für die Auszeichnung zum Pueblo Mágico vorgeschlagen wurde. Als Hauptkriterien für diese Vorauswahl wurden die ländliche Idylle, die ursprüngliche Architektur aus Adobehäusern, die gepflasterten Straßen, die alte Dominikanerkirche, die Freundlichkeit der BewohnerInnen und das Naturerlebnis hervorgehoben. In der Gemeinde wurde die Bewerbung kontrovers diskutiert, wobei die Aufnahmekapazität47 und der Verlust der Kontrolle über die touristischen Prozesse im Zentrum der Debatte standen. Die Entscheidung, sich dennoch zu bewerben, wurde durch die asamblea abgestimmt und argumentativ mit dem Plan de Desarrollo Turístico Municipal untermauert, der die Kontrolle der touristischen Prozesse als oberste Prämisse festlegt. In einem Interview in einer Lokalzeitung äußerte sich der Präsident des Ökotourismus in Lachatao, Diego, über Vor- und Nachteile der Bewerbung:

46 In der touristischen Werbung werden zudem die Feierlichkeiten Lachataos aufgeführt: Das Equinoccio-Fest im Zeitraum der Tag- und Nachtgleiche am 21. März, die Osterwoche (Semana Santa), das Dichterfestival im Mai (Festival de la Poesía, das von der in der Gemeinde lebenden Dichterin Elisabeth seit 2012 organisiert wird), ein klassisches Musikfestival im Juli (Festival Cultural Musical Beene Rule) sowie die Weihnachtsfestlichkeiten (posadas). 47 Die Aufnahmekapazitäten sind ein zentrales Kriterium für die ökologische und soziale Nachhaltigkeit im Ökotourismus. Lachatao, das mit ca. 200 EinwohnerInnen im Jahr 2013 2.555 BesucherInnen verzeichnete, müsste im Falle einer Nominierung als Pueblo Mágico mit einem enormen BesucherInnenzuwachs rechnen. Im Vergleich besuchten das Pueblo Mágico Capulálpam über 20.000 TouristInnen (2010) (CDI Guelatao 2014).

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„[…] und schlussendlich hat man sich dafür entschieden, weil wir diejenigen sein werden, die alles lenken. Des Weiteren war das auch wichtig, da der Tourismus seine Schattenseite hat, sonst wäre es zu viel des Guten, und selbst wenn er einen wirtschaftlichen Ertrag hervorbringt, so erzeugt er auch einen kulturellen Verschleiß.“ (Diego 2015, zitiert nach Vélez Ascencio 2015a, Übersetzung durch die Autorin)

Der Befürchtung des „kulturellen Verschleißes“ begegnet die führende Gemeindeelite mit einer Stärkung und Neukonzeption der lokalen Kultur, die sich vor allem auf die besondere Naturbeziehung konzentriert. Sie beruft sich auf den starken Zusammenhalt Lachataos und greift dabei auf die Repräsentation der Gemeinde als comunalidad zurück. Im Ökotourismus tätig zu sein wird als Dienst an der Gemeinschaft (servir al pueblo) verstanden, was von der Bestätigung der Gemeinde (durch die asamblea) abhängt und sich am Gemeinwohl orientiert (el bien común). Die von ihm perzipierte breite Zustimmung zum Projekt bringt Diego wie folgt zum Ausdruck. „Aber die Leute sind mit dem Projekt verheiratet. Wenn du über die tequios in La Valenciana nachdenkst und in 5 Señores... Alle gehen da hin und [helfen mit den] Adobesteinen. Wenn es sie nicht interessieren würde, dann kämen sie nicht. Wenn der Wald sie nicht interessieren würde, gingen sie nicht hin. Also glaube ich, da ist es so. Ich will sagen, diejenigen, die viel reden und kritisieren und das alles, das sind in der Regel die Auswärtigen aus Oaxaca. Aber die Leute von hier wissen wirklich, wie die Sache läuft, nicht?“ (Interview_Diego_14.4.2014)

Die Teilnahme an den tequios wird in diesem Zusammenhang als zentrales Organisationsprinzip indigener Gemeinden dargestellt und von Diego als Ausdruck der Zustimmung zum Projekt gewertet. Die Kritik am Ökotourismus weist er den in Oaxaca lebenden Gemeindemitgliedern, den Außenstehenden (los de afuera) zu. Diese idealisierte Repräsentation „der“ Gemeinde, die das Ökotourismusprojekt kollektiv unterstütze, erwies sich jedoch im Verlauf der Feldforschung als wesentlich komplexer. Vielmehr existieren unterschiedliche Positionen, die das Gemeinwohl (el bien común) zur Diskussion stellen. Diese heterogenen Meinungen und Aushandlungsprozesse entfachen sich insbesondere am Ökotourismus und den Beziehungen zur Natur. Der Ökotourismus wirkt hier als ein Katalysator, der weitreichende Transformationen in der Gemeinde auslöst, welche die Natur und die Gemeinschaft gleichermaßen betreffen. Diese soziokulturellen Aushandlungsprozesse in Bezug auf die Natur zu erklären stellt eine Hauptmotivation des Buches dar.

4

Von der Forschung zur schriftlichen Arbeit: Methoden, Analysen und Reflexionen We are a new person who has gone through recreation and, if we do not feel renewed, the whole point of tourism has been missed. Graburn 2001, S. 47

„Point of tourism“ ließe sich an dieser Stelle ohne Weiteres durch „point of anthropology“ ersetzen. Auch wenn die Unterschiede zwischen Tourismus und ethnologischer Forschung mittlerweile weitreichend diskutiert worden sind (Burns 2004; Burns 1999) und der Zweck einer ethnologischen Feldforschung (anders als im Tourismus) in einem Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis besteht, zeigt die Parallelsetzung von „recreation“ und „feeling renewed“ dennoch wichtige Aspekte auf. Der Feldforschungsprozess kann durch eine dichte Teilnahme (Spittler 2001) einer „zweiten Sozialisation“1 des/der Forschers/in auf einem unbekannten Feld (in einer unbekannten Gemeinschaft) gleichkommen und stellt somit eine tiefgreifende persönliche Erfahrung dar, die mit einer „Erneuerung“ (wenn auch nicht „Erholung“) einhergeht, die die Grundlage der Wissensgenerierung darstellt. Eine postmoderne Ethnologie macht dies reflexiv zum Thema und begreift ethnologische Wissensproduktion als interaktiven, wechselseitigen Prozess, an dem die ForschungsteilnehmerInnen sowie der/die ForscherIn gleichermaßen beteiligt sind. Ethnologisches Wissen kann – nach der Writing-

1

Karl-Heinz Kohl merkt an, dass es sich nicht um eine „zweite Sozialisation“ im eigentlichen Sinne handele, da der/die Feldforscher/in nicht als Kind, sondern als durch seine „primäre Sozialisation“ geprägter Mensch mit eigenen kulturellen Werten und Verhaltensweisen ins „Feld“ trete, was dazu führe, dass diese Selbstverständlichkeiten in Frauge gestellt werden könnten (Kohl 2011, S. 116).

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Culture-Debatte und der Krise der Repräsentation – nur dann eine „ethnographic authority“ (Clifford 1993) für sich beanspruchen, wenn eine kritische Reflexion über die eigene AutorInnenschaft, die Mitherstellung des „Feldes“ und die Forschungsergebnisse erfolgt (Clifford und Marcus 1986). „A reflexive approach is thus important in that [by] focusing on how ethnographic knowledge about how individuals experience reality is produced, through the intersubjectivity between researchers and their research contexts, we may arrive at a closer understanding of the worlds that other people live in.“ (Pink 2013, S. 36)

Die Reflexion des Forschungskontextes, des Zugangs zum Feld, der Rollenzuschreibungen an EthnologInnen, des Verlaufs der Forschung und der Methoden sowie die Analyse der Daten sind heute eine Grundlage ethnologischer Forschung. Die Ergebnisse sind ein Produkt der Beziehung des/der Forschers/in und der ForschungsteilnehmerInnen, die untereinander eine Version der Realität „aushandeln“ (Pink 2013, S. 37). Die Methoden können in der Ethnologie insofern im Sinne „ethnografischer Strategien“ verstanden werden, die dem Forschungsgegenstand und der Fragestellung angepasst werden. Sie sind dabei durch die beteiligten Subjekte – mich selbst als Forscherin sowie meine ForschungsteilnehmerInnen – und unsere Wahrnehmungen, Erwartungen und Vorstellungen mitgeprägt (Josephides 1997, S. 32). Die „Biographie der Methoden“ (Pink 2013, S. 51) zeigt auf, wie die Methoden im Verlauf der Forschung abgeändert, miteinander verknüpft und zeitlich aufeinander aufgebaut werden. Dies ermöglicht es (methodisch sowie zeitlich), erhobene Daten zu vergleichen und zu triangulieren – also wechselseitig zueinander in Bezug zu setzen – und hilft somit dabei, Verzerrungen und Irrtümer im Forschungsprozess zu identifizieren und zu revidieren (Schirmer 2009, S. 63).

4.1 BESONDERHEITEN DER FORSCHUNG ZU ÖKOTOURISMUS 4.1.1 Zugangsschwierigkeiten und erste Konstitution des Feldes Läuft man durch die touristische Altstadt Oaxacas, so fällt die Vielzahl an „ökologischen“ Produkten ins Auge – Werbungen mit dem Slogan todo natural werden sowohl für Obst, Gemüse, Kaffee und Naturkosmetik verwendet als auch dafür, die Attraktivität der Ökotourismusprojekte in der nahegelegenen Sierra Juá-

Methoden, Analysen und Reflexionen | 113

rez zu beschreiben. Darin spiegelt sich der globale Trend eines „Zurück zur Natur“ wider, der ländliche Lebensweisen, lokale Produkte und Wirtschaftsweisen als natürlich und ursprünglich anpreist (Dürr und Walther 2015). Auch der Ökotourismus in Oaxaca verspricht die Erfahrung eines authentischen Lebens auf dem Land: „Viva la naturaleza al máximo“, wie es der Slogan des Ökotourismusprojekts in Lachatao auf den Punkt bringt. Die Suche nach einem geeigneten Feldforschungsort stellte sich jedoch wider Erwarten als kompliziert heraus. Zwar bieten viele Gemeinden Ökotourismus an, sie telefonisch oder per E-Mail zu kontaktieren ist jedoch schwierig, und bei spontanen Besuchen stellte sich heraus, dass viele Projekte gar nicht in Betrieb sind. Meine ersten Versuche, Zugang zu einer Gemeinde zu erlangen, prallten an Fassaden repräsentationspolitischer Diskurse ab, sei es in den Tourismusbüros in der Stadt oder in Gesprächen mit Gemeindemitgliedern bei explorativen Besuchen in Dörfern. Auch in Oaxaca lebende Personen aus ökotouristischen Gemeinden stellten sich nur bedingt zur Verfügung, Kontakte zu ihren Gemeinden herzustellen. Dies liegt auch an der äußerst komplexen politischen Situation nicht nur zwischen verschiedenen, sondern auch innerhalb von Gemeinden, die häufig von Konflikten geprägt ist. Dies wird durch Ressourcenkonflikte und die multiplen Interessen externer sowie interner Akteure und von deren Allianzen noch verstärkt, was ein allgemeines Misstrauen gegenüber Forschungen und „Entwicklungsprojekten“ fördert, das den Feldzugang zusätzlich erschwert. Die bis in die Kolonialzeit zurückreichenden Erfahrungen, von externen Institutionen und Personen übervorteilt und benachteiligt zu werden, zeigen hier ihre Wirkung und werden durch gegenwärtige „Skandale“ wie das Chiapas ICBG Project weiter geschürt (vgl. Kapitel 2.3.2). Auch ethnologische Forschungen haben dementsprechend einen schlechten Ruf, weil die Interessen der ForschungsteilnehmerInnen von (indigenen) Gruppen häufig weder in der Planung, Antragstellung und Umsetzung der Forschungen noch bei der Verbreitung und Verwertung der Forschungsergebnisse berücksichtigt werden (Kressing 2014, S. 323). In Mexiko gilt die Ethnologie meist als eng mit staatlichen Institutionen verwoben und ist häufig sozialpolitisch positioniert und anwendungsbezogen (Krotz 1993; Batalla 1988). Zwar hat sich das Paradigma paternalistischer Entwicklungsansätze des Indigenismo hin zu entwicklungskritischen, postkolonialen Ansätzen verschoben, die partizipativ angelegt sind (etnodesarrollo) (Rios und Solís González 2009; Stavenhagen 2001); dies tut jedoch einem generellen Misstrauen gegenüber EthnologInnen keinen Abbruch. In der Sierra Norte wird dem mit einer starken Kontrolle begegnet, indem lokale Führungspersonen und indigene Eliten ethnologische Forschungen für ihre Zwecke mit-initiieren (beispielsweise um Landrechtsansprüche zu legitimieren) oder sogar selbst durch-

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führen (vgl. Kapitel 5.3). Dies zeigt sich auch an der Entwicklung einer indigenen Ethnologie, wie das Beispiel der bereits erwähnten zapotekischen Ethnologen Jaime Martínez Luna (Martínez Luna 2010), Floriberto Díaz Gómez (Díaz Gómez 2007) und Benjamín Maldonado Alvarado (Maldonado Alvarado 2002) verdeutlicht. Sie fordern eine Dekolonialisierung der Wissenschaft, indem sie vorherrschende epistemologische Prinzipien in Frage stellen und in Bezug auf die Naturbeziehungen einen grundlegenden Paradigmenwechsel fordern, der sich gegen eine Trennung von Natur und Kultur wendet (vgl. Restrepo und Escobar 2016; Martínez Luna 2010; Plumwood 2007). Auch in institutionellen Kontexten wie dem CIESAS (Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social) oder dem INAH (Instituto Nacional de Antropología e Historia) arbeiten EthnologInnen, die teils aus indigenen Gemeinden stammen, neue epistemologische Prämissen fordern und sich häufig sozialpolitisch engagieren. So zielführend und gewinnbringend eine Kooperation (bei Wissensaustausch, Publikationsmöglichkeiten, Netzwerken etc.) auch erscheint, so komplex und schwierig gestaltet sie sich in der Realität. Diese Erfahrung machte auch ich, als ich damit konfrontiert wurde, dass mexikanische (und indigene) WissenschaftlerInnen an einer Zusammenarbeit wenig interessiert waren und meinem Forschungsvorhaben eher skeptisch gegenüberstanden. Sie rieten mir ab, über das konfliktbehaftete Thema der Naturbeziehungen zu forschen, und beriefen sich in ihrer Argumentation auf die komplexen soziopolitischen Verhältnisse und Fragmentierungen der Gemeinden, die durch die Ressourcenkonflikte um die Konzessionen für die Minentätigkeit noch verstärkt würden. So entpuppte sich der Kontakt zu einem lokalen Ethnologen wider Erwarten nicht als Gatekeeper, sondern als „Gatecloser“: Eine Forschung in einer von mir anfänglich ausgewählten Gemeinde sei aufgrund der brisanten politischen Lage um die geplante Minentätigkeit in der Region nicht zu empfehlen, für die Gemeinde nicht förderlich und zudem für mich nicht ungefährlich, so sein Rat an mich. Die Beziehung zu mexikanischen EthnologInnen ist vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten komplex. Dies bezieht sich einerseits auf die ungleichen Machtverhältnisse in der globalen geopolitischen Wissensproduktion, wie sie auch von renommierten lateinamerikanischen EthnologInnen kritisiert werden (Restrepo und Escobar 2016; Cardoso de Oliveira 1999; Krotz 1997). „By ‚dominant anthropologies‘ we mean the discursive formations and institutional practices that have been associated with the normalization of anthropology under academic modalities chiefly in the United States, Britain and France. Hence, ‚dominant anthropologies‘ include the diverse processes of professionalization and institutionalization that accompanied the consolidation of disciplinary canons and subjectivities, and through which

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anthropologists recognize themselves and are recognized by others as such.“ (Restrepo und Escobar 2016, S. 102)

Zudem stehen lokale WissenschaftlerInnen in äußerst komplexen Beziehungen zu „ihren“ ForschungsteilnehmerInnen und Gemeinden, die durch die geografische und kulturelle Nähe eine besondere Sensibilität erfordern (vgl. Krotz 1997, S. 244). Aus einer postkolonialen Perspektive können Forschungen einer fremden WissenschaftlerIn in „ihrem“ Forschungsgebiet von den WissenschaftlerInnen als potentiell schädigend eingeschätzt werden (Konkurrenz um die Deutungshoheit, Unkontrollierbarkeit der Forschungsergebnisse und Distribution etc.). So war ich vor die Aufgabe gestellt, mir ohne die Hilfe lokaler EthnologInnen eine geeignete Feldforschungsgemeinde suchen zu müssen. Dafür nutzte ich meine „zwangsläufige“ Wartezeit in Oaxaca-Stadt, die mir Einblicke in die engen sozialen Migrationsnetzwerke zwischen den Gemeinden der Sierra Juárez und den (häufig in der zweiten Generation) in der Stadt lebenden migrierten Gemeindemitgliedern bot. Viele von diesen, insbesondere Männer, verfügen über weitreichende soziopolitische Netzwerke in anderen Gemeinden, die durch fiestas und Basketballturniere2 gefestigt werden – so auch ein Freund aus Oaxaca, der mit dem ehemaligen Bürgermeister der Gemeinde Santa Catarina Lachatao bekannt war, der sich sehr für den Ökotourismus interessiert. Mein Freund stellte den Kontakt zwischen uns her, und so begegnete ich einer Person aus Lachatao das erste Mal in einem Café in der historischen Altstadt Oaxacas.

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Die Zusammengehörigkeit der Gemeinden als Pueblos Serranos Zapotecos, aber auch die Konkurrenz untereinander sind stark ausgeprägt und spiegeln sich in vielfältigen soziokulturellen Aspekten und Konflikten wider. Der Zusammenhalt zwischen den Gemeinden wird durch zentrale soziale Institutionen aufrechterhalten, die einen reziproken Austausch beinhalten und zur Konsolidierung führen. Zentrale Institutionen sind die Musikkapellen (bandas) für die religiösen Feste, die Patronatsfeste der Gemeinden, Schulveranstaltungen innerhalb bestimmter Regionen sowie Sportveranstaltungen, besonders Basketball. So kommt dem regionalen Basketballturnier Copa de Benito Juárez in Guelatao, das seit 1977 jährlich um den 21. März veranstaltet wird, eine zentrale Rolle bei der regionalen Identitätsbildung und soziokulturellen Zugehörigkeit zu.

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4.1.2 Erste Begegnungen und Aushandlungen: Ökotourismus als Stadt-Land-Phänomen Die Gemeinden der Sierra Juárez sind entgegen ihrer ökotouristischen Repräsentation als abgeschiedene, vermeintlich homogene Gemeinden in unberührter Natur von einer hohen Abwanderung und generell einer enormen Mobilität der Gemeindemitglieder gekennzeichnet. Sie sind als deterritorialisierte, transnationale Gemeinschaften zu verstehen (Kearney und Besserer 2004). Mein Forschungsinteresse am Ökotourismus erforderte es, vom konkreten physischen Raum des Dorfes auszugehen und die damit zusammenhängenden soziokulturellen Prozesse zu fokussieren. Obwohl sich die Lebensbereiche des Dorfes und der Stadt vielfältig durchdringen und von zirkulären Migrationsnetzwerken sowie translokalen/globalen Prozessen geprägt sind (transnationale Akteure, sozialen Medien etc.), stellen die Gemeinden die wichtigste lokale sowie transnationale, soziale, kulturelle und geopolitische Einheit in der Region dar (Kearney und Besserer 2004, S. 450). Die Gemeinde als soziale Gemeinschaft, die sich als politische Verwaltungseinheit eines Dorfes (municipio oder agencia) einem konkreten geografischen Ort zugehörig fühlt, konstituiert somit mein Forschungsfeld. Gemäß diesem postmodernen Verständnis ist das „Feld“ nicht als physischer Ort zu verstehen, der feststeht und in Raum und Zeit beschreibbar wäre, sondern als ein soziales Gefüge, das nicht als gegeben vorausgesetzt wird, sondern erst im Forschungsprozess gemeinsam mit allen an der Forschung Beteiligten hergestellt wird. Das „Feld“ ist somit ein prozessuales Ereignis,: „the field as event is constantly in a process of becoming, rather than being understood as fixed (‚being‘) in space and time“ (Coleman und Collins 2006, S. 12). Das Feld konstituierte sich somit durch den Feldforschungsprozess und die Frage, welche Akteure für die soziokulturellen Aushandlungsprozesse über Ökotourismus und „Natur“ von Bedeutung sind. Dies sind in Lachatao die DorfbewohnerInnen, die häufig mobile translokale AkteurInnen sind, die in zirkulären Migrationszusammenhängen zwischen dem Dorf und der Stadt Oaxaca (sowie Mexiko-Stadt) leben, außerdem staatliche Institutionen und, wenn auch in geringerem Maße, TouristInnen. Dies implizierte die Erweiterung des Forschungsfeldes über die Gemeinde hinaus auf die in der Stadt lebenden Gemeindemitglieder, die maßgeblich an den soziokulturellen Aushandlungsprozessen beteiligt sind. Um die Transformation der Naturbeziehungen teilnehmend beobachten zu können, legte ich den Fokus jedoch auf die konkrete Interaktion der Gemeindemitglieder mit dem Naturraum. Insofern ist dieses Buch indirekt ein Plädoyer für eine stationäre Feldforschung über längere Zeit, die die lokalen Prozesse in ihrer

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translokalen Wechselbeziehung zu den migrierten Gemeindemitgliedern in der Stadt sowie im weiteren Sinne zu staatlichen Institution und transnationalen AkteurInnen untersucht. Dass lokale AkteurInnen sich mit in der Literatur zu Ökotourismus diskutierten zentralen Themenfeldern wie der Revitalisierung der Traditionen und der lokalen Geschichte auseinandersetzen, zeigte sich schon in der ersten Begegnung mit Ángel, einem ehemaligen Bürgermeister der Gemeinde Lachatao. Eine ethnologische Forschung, so erklärte er in unserem ersten Gespräch, sehe er als förderlich an, da sie bereits in der Gemeinde durchgeführte Forschungen über lokale Biodiversität, Flora und Fauna ergänzen könne. Hier zeigt sich eine zentrale Verbindungslinie zwischen der Ethnologie und dem Tourismus: die Nutzbarkeit von (speziellem) ethnologischem Wissen für die touristische Repräsentation sowie das Interesse lokaler (indigener) AkteurInnen, dies für sich nutzbar zu machen. Auch verfolgte Ángel das Anliegen, die Verankerung des Projekts in der Gemeinde durch eine ethnologische Forschung zu „evaluieren“ und dabei die emische Haltung aller Gemeindemitglieder zu berücksichtigen. Diese wird auch in der Literatur als entscheidend für Erfolg oder Misserfolg von Ökotourismusprojekten angesehen (Stronza 2001, S. 274–276). Anwendungsbezogene ethnologische Forschung im Tourismus wird demgemäß als förderlich verstanden, um touristische Prozesse „nachhaltig“ auszurichten, nicht nur für die beteiligten Gemeinden, sondern auch für die Tourismusindustrie und die TouristInnen (Burns 2004, S. 16–17).3 Diese Tendenz zeigt sich in zahlreichen Fällen, in welchen EthnologInnen an der Projektentwicklung von gemeindebasierten (Öko-) Tourismusprojekten beteiligt waren und das Anliegen verfolgten, ethnologisches Wissen für die Entwicklung von Tourismuskonzepten nutzbar zu machen (Stronza 2001; Belsky 1999). Die Forschungsvorhaben werden häufig in Bezug auf ihre Themen und Zielsetzungen partizipativ gestaltet, was die ForscherInnen in besonderer Weise mit den Forderungen und Vorstellungen der lokalen AkteurInnen konfrontiert (Ryan 2005, S. 2). Mein Forschungsinteresse an der Transformation der Naturbeziehungen implizierte, dass ich mich zugleich von einer anwendungsorientierten Forschung distanzierte und klarstellte, dass ich keine Evaluation des Ökotourismusprojekts anstrebte. Ángels Akzeptanz dieser nicht auf die Weiterentwicklung des Projekts zielenden Forschung stellte die Weichen, die mir einen „holistischen“ Zugang zu Ökotourismus und den Prozessen in der „ganzen“ Gemeinde sowie in der Stadt ermöglichten.

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Davon zeugt auch eine Sonderausgabe in den Annals of Political Practice aus dem Jahr 2005: Tourism and Applied Anthropologists (Wallace 2009).

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Zum ersten Kontakt mit der Gemeinde kam es kurz nach besagtem Gespräch, als mir Ángel nach einer nächtlichen Autofahrt durch strömenden Regen die hinter einer Kurve schemenhaft erkennbaren Lichter des Ortes als „Eso es mi pueblo!“4 vorstellte. Kurz darauf befand ich mich in einer Situation, die ich noch häufig erleben sollte: Die Männer des Ökotourismuskomitees saßen bis spät in die Nacht (es war schon 23 Uhr) vor der Cafeteria am Basketballplatz und besprachen bei atole de maíz (ein typisches mexikanisches Heißgetränk aus Maismehl) und pan tipio (süßes Brot) das Tageswerk. Vorstellungen von ländlicher Ruhe und Abgeschiedenheit wurden somit schon an diesem ersten Abend revidiert, angesichts der nächtlichen Aktivitäten von Gemeindemitgliedern, der hohen Mobilität einzelner AkteurInnen und der engen Netzwerke zwischen Stadt und Land. 4.1.3 Forschungsverlauf Mein Aufenthalt in Oaxaca begann mit einer vorbereitenden sechswöchigen explorativen Feldforschung im Jahr 2011. Die Aufenthalte in der Gemeinde Lachatao fanden zwischen Mai 2012 und Mai 2014 statt und gliederten sich in mehrere Abschnitte, wobei sich empirische Feldforschungs- mit Analysephasen nach dem Grundprinzip der grounded theory abwechselten und ineinandergriffen (Strübing 2008; Glaser und Strauss 1998 [1967]). Die Aufenthaltszeit in der Gemeinde betrug insgesamt ca. 17 Monate, in drei Feldforschungsphasen von drei, acht und sechs Monaten. Im Sommer 2014 und im Frühjahr 2015 sowie 2018 besuchte ich die Gemeinde nochmals für kürzere Zeit. Die mehrmonatigen Aufenthalte zwischen den Feldforschungsphasen waren einer ersten Analyse der Daten und der weiteren Konzeption der Forschung gewidmet, die von wissenschaftlichen Fachgesprächen mit der Projektleiterin sowie Kolloquien und Diskussionen auf wissenschaftlichen Fachkongressen begleitet wurden. Die Projektleiterin Prof. Dr. Eveline Dürr betreute die Feldforschung durch Rücksprachen per EMail, Skype sowie durch einen Feldbesuch in Lachatao im Herbst 2013, anlässlich dessen das Projekt auf der CIPIAL-Konferenz (Primer Congreso International de los pueblos indígenas de América Latina, 28.–31.10.2013) in Oaxaca vorgestellt wurde. Der wechselseitige Prozess von dichter Teilnahme am Gemeindegeschehen und der reflexiven Analyse des Beobachteten war nicht nur durch die systematischen Analysephasen zwischen den Feldforschungsaufenthalten gegeben, sondern auch durch die regelmäßigen Aufenthalte in der Stadt und die Treffen mit

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„Das ist mein Dorf!“

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den emigrierten Gemeindemitgliedern. Sind am Anfang die Nähe zur und die Integration in die Gemeinde das Hauptanliegen jeder Feldforschung und entscheidend für die Erhebung qualitätsvoller Daten, so ist gleichermaßen die Abstandnahme zentral für die reflexive Beobachtung und Gestaltung des Forschungsprozesses. „Sight and surveillance depend on detachment and distance. Getting perspective on something entails withdrawal from intimacy“ (Conquergood 2003, S. 357). Die Ortswechsel zwischen der Gemeinde und Oaxaca begünstigten das Herstellen einer Balance zwischen Teilnahme und Beobachtung sowie zwischen Nähe und Distanz.

4.2 „BIOGRAFIE“ DER METHODEN 4.2.1 Ausgangspunkt Ökotourismus Die Gemeinde und das Gemeindeterritorium erschlossen sich mir zunächst über die touristische Repräsentation von Gemeindemitgliedern, die im Ökotourismus tätig sind. Die Rolle des Gatekeepers wurde in der Literatur vielfach behandelt, entscheidet er/sie doch, wie man das Feld betritt, welche anfänglichen Kontakte man schließt und welche Art der Informationen einem zunächst zugänglich gemacht werden (Illius 2003, S. 79–81; Fischer 2002). Ángel als Gatekeeper und mein Forschungsvorhaben positionierten mich im Kontext des Ökotourismus und der zugehörigen Interessengruppen. Nicht zuletzt durch Ángels großen Einfluss stimmten der Bürgermeister (presidente) und die asamblea dem Forschungsvorhaben zu. Dies spiegelte sich auch in meiner Unterbringung in der Gemeinde wider, bei einem pensionierten Ehepaar, das 2008 in die Gemeinde remigriert war und zum Kreis der im Ökotourismus Tätigen gehörte. Gleichermaßen wurde ich dadurch im politischen Feld der Gemeinde positioniert, was mir den Kontakt zu einigen wenigen Gemeindemitgliedern erschwerte, die im Streit mit den im Ökotourismus tätigen Personen standen. Deren Positionen konnte ich nur über Gespräche mit anderen rekonstruieren, da sie Gespräche mit mir ablehnten. Um die Aneignungs- und Übersetzungsprozesse global zirkulierender ökologischer Diskurse in ihrer Wirkmacht auf der lokalen Ebene zu untersuchen, folgte ich deren Verbreitung in der Gemeinde. Meine Teilnahme ging zunächst vom Ökotourismus aus und erweiterte sich von dort ausgehend auf weitere damit in Verbindung stehende Tätigkeitsbereiche, etwa die Land- und Forstwirtschaft sowie die institutionelle Organisation der Gemeinde (cargos und Komitees). Die diskursive und performative Herstellung von „Natur“ im Kontext des Ökotou-

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rismus konnte ich auf touristischen Führungen und Repräsentationen des Ökotourismusprojekts teilnehmend beobachten. Hier zeigte sich, wie touristische Imaginationen und Praktiken auf der lokalen Ebene in der Interaktion zwischen den BesucherInnen und den MitarbeiterInnen im Ökotourismus hergestellt werden. Dies eröffnete mir Einblicke, wie in der touristischen Begegnungssituation Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit interaktiv hergestellt werden. Die erste Zeit verbrachte ich ausschließlich mit teilnehmender Beobachtung, um eine größtmögliche Offenheit für die emischen Sinnzusammenhänge und interaktiven Bedeutungszuweisungen an die Natur zu erhalten. Die teilnehmende Beobachtung im Sinne einer dichten Teilnahme (Spittler 2001) stellt im „klassischen“ ethnologischen Sinne die Grundlage der Forschung und der Weiterentwicklung aller weiteren Methoden dar. In Anlehnung an Clifford Geertz’ Begriff der dichten Beschreibung plädiert Spittler für eine dichte Teilnahme, die über die teilnehmende Beobachtung hinaus eine ganzheitliche (An-)Teilnahme des/der Ethnologen/in am „Feld“ beinhaltet. Davon ausgehend verbrachte ich viel Zeit auf touristischen Führungen, arbeitete im Restaurant als Bedienung mit, putzte, kochte und organisierte touristische Veranstaltungen. Damit ging das Erlernen von körperlichen Fähigkeiten und der sinnlichen Wahrnehmung einher. Zudem wurde ich in die verschiedenen Aufgabengebiete eingewiesen, was mir Einblicke dahingehend bot, welche Aspekte als wichtig angesehen werden. Die teilnehmende Beobachtung und die schriftlichen Notizen entwickelten sich im Laufe der Forschung von der unsystematischen Deskription hin zu einer fokussierten Beobachtung der als relevant ermittelten Felder und schließlich zur selektiven Beobachtung, um die ermittelten Bedeutungszusammenhänge, Praktiken und Verhaltensweisen zu überprüfen (Spradley 1980, S. 34). Teilnehmende Beobachtung ist in doppelter Hinsicht als prozesshaft zu verstehen: zum einen hinsichtlich der zunehmenden Konkretisierung der Beobachtung; zum anderen in Bezug auf die eigene Teilnahme – wie der/die ForscherIn zum/zur TeilnehmerIn in einem Feld wird, welche Rollenzuweisungen vor sich gehen und wie Beziehungen zu den Personen im Feld aufgebaut werden. Vor allem ermöglichte es mir die dichte Teilnahme, den persönlichen Kontakt zu einzelnen Gemeindemitgliedern zu intensivieren und Vertrauen zu schaffen, indem ich so herrschende Vorurteile revidieren konnte, dass („westliche“) WissenschaftlerInnen (profesionistas) die dörflichen Lebensweisen und Arbeiten als „unterentwickelt“ abwerten. Dies beinhaltet auch eine emotionale Teilnahme, indem die Emotive – „kulturell konstruierte und meist mit Begriffen belegte Emotionen“ – nachvollzogen werden, die wichtig für das Verständnis des fremden Kontextes sind (Heidemann 2011, S. 45–46). Diese sind vor allem im Hinblick auf die natürliche Umwelt/Natur von besonderer Bedeutung, da Natur kein neutrales Terrain ist, son-

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dern ein Ort der gelebten Erfahrung, der vor allem über symbolische Bedeutungszuschreibungen und Emotionen konstituiert wird (Milton 2002). Um erste Einblicke in emische Sinnzusammenhänge zu erhalten und zugleich eine größtmögliche Offenheit zu erhalten, führte ich in dieser ersten Phase vereinzelt narrative Interviews. Im Gegensatz zum Beschreiben oder Argumentieren liegt das Erzählen der kognitiven Verarbeitung von Erfahrung am nächsten und zeigt so die Orientierungsstrukturen auf, die Handlungen zugrunde liegen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 92 ff.). In den freien Erzählungen bleiben die subjektive Logik der InterviewpartnerInnen sowie die Erzählroutinen erhalten. Dies ermöglicht es, Einblicke in die narrativen Muster zu erhalten, die in Bezug zur Natur gesetzt werden, und gibt Aufschlüsse über die Heterogenität des Feldes (Mayring 2002, S. 72 ff.). Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte anhand des Schneeballprinzips und des Grundsatzes der größtmöglichen Differenz entsprechend sozialer Kategorien von Gender, Klasse (ökonomische Verhältnisse), Bildung, Familienstand, Position in der Gemeinde, Migrationsgeschichte, Wohnort und beruflichen Tätigkeiten. Dies umfasste Interviews mit MitarbeiterInnen im Ökotourismus, Zugezogenen und in Mexiko-Stadt und Oaxaca lebenden Gemeindemitgliedern sowie TouristInnen. Ein zentrales Element, um Prestige und Anerkennung in „indigenen“ Gemeinden zu erlangen, ist die Teilnahme an tequios. Deren kollektive Gemeinschaftsarbeit stellt ein wichtiges Organisationsprinzip dar, um Gemeindeaufgaben wie Infrastrukturarbeiten umzusetzen, und wird im Zuge der Aufwertung „indigener Kultur“ von Gemeindeeliten positiv bewertet. Kollektive Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft wird seitens lokaler Führungspersonen als Gegensatz zu negativ bewertetem Individualismus, Egoismus und der Zerrüttung der gemeinschaftlichen Werte verstanden. Für den/die Einzelne/n dient es dazu, den Einsatz für die Gemeinschaft unter Beweis zu stellen. Auch für mich stellten die tequios einen günstigen Zugang zur Gemeinde dar, da ich so die Rolle als Touristin und Wissenschaftlerin überwinden sowie meinen Einsatz für die Gemeinde und meine Befürwortung „kollektiver Organisationsweisen“ öffentlich demonstrieren konnte. Vor allem dienten die tequios der teilnehmenden Beobachtung, da sie mir entscheidende Einblicke in die soziale Organisation und geschlechtsspezifische Zuweisungen (Aufgabenfelder) sowie das körperliche Nachempfinden der jeweiligen Aufgabenfelder ermöglichte. Eine weitere Tätigkeit meiner Feldforschung bestand in täglichen Spaziergängen durch das Dorf, bei denen ich verschiedene DorfbewohnerInnen traf, die weniger in das Gemeindeleben integriert sind. Viele (ältere) Gemeindemitglieder, vor allem Frauen, bewegen sich in erster Linie im Umkreis ihrer Häuser und Felder, die verstreut um das Dorfzentrum liegen. Um sie anzutreffen, ist es not-

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wendig, sie dort zu besuchen und auf dem Weg zu ihren täglichen Aktivitäten zu begleiten. Auch wenn viele Gemeindemitglieder – insbesondere jüngere Männer – viele Wege mit dem Auto zurücklegen, ist das Gehen nach wie vor grundlegender Bestandteil des Alltags vor allem weniger wohlhabender Gemeindemitglieder. Wie Tim Ingold feststellt, ist Gehen auch eine Praxis ethnologischer Forschung: „Walking around is fundamental to the everyday practice of social life“ und „to much anthropological fieldwork“ (Lee und Ingold 2006, S. 67). Diese gemeinsamen Wege erweiterten sich zu mehrstündigen Fußmärschen mit Gemeindemitgliedern, die weit entfernt auf ranchos leben. Ob kurze Spaziergänge im Dorf oder lange Wanderungen im Wald, sie stellten einen „ungestörten“ Raum für informelle Gespräche dar und ermöglichten es mir, die Bedeutungszuschreibungen an den Naturraum sowie die darauf bezogenen Praktiken und Performanzen teilnehmend zu beobachten und Rückfragen zu stellen. Das gemeinsame Laufen stellte durch die körperliche Erfahrung und die Sinneswahrnehmungen der Natur einen guten Zugang zu emotionalen Bedeutungszuschreibungen dar, der über rein diskursive Methoden nicht möglich gewesen wäre (vgl. Lee und Ingold 2006). So wird beispielsweise das Laufen von jüngeren Gemeindemitgliedern, die im Ökotourismus tätig sind und über eine relativ gute Bildung verfügen, häufig als gesundheitsfördernde umweltschonende Bewegung bewertet, von älteren Menschen mit geringerer Bildung hingegen mangels Auto als notwendiges Übel. Hier zeigte sich schon die extreme Heterogenität der Gemeinde auch innerhalb der Gruppe der Frauen und Männer. 4.2.2 Geschlechtsspezifische Umweltbeziehungen „Gender shapes the interactions in our settings; it shapes entrée, trust, research roles, and relationships – the entire epistemological field through which we, as fieldworkers, identify our methodological experiences“ (Warren und Hackney 2000, S. 3). Schon Margret Mead machte in den 1930er Jahren darauf aufmerksam, dass sich die eigene Geschlechterzugehörigkeit entscheidend auf die Datenerhebung auswirkt (vgl. Mead 1986). Seitdem ist vor allem aus der Perspektive von Forscherinnen beschrieben worden, wie ihre Rolle als Frau den Zugang zum Feld und zu gewissen Informationen ermöglicht, andere Türen hingegen verschließt, die Verhaltensweisen der ForschungsteilnehmerInnen prägt und die Wahrnehmung des/der ForscherIn mitbestimmt (vgl. Bernard 2018; Warren und Hackney 2000). Dies macht sich besonders bei einem Forschungsdesign bemerkbar, das geschlechtsspezifische Unterschiede in den Fokus nimmt. Mein Anliegen, die Umweltbeziehungen von Frauen und Männern zu untersuchen, machte es notwendig, gleichermaßen Informationen über beide Geschlechter-

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gruppen zu erlangen. Klar war dabei von Anfang an, dass sich der Zugang zu den männlichen Bereichen um ein Vielfaches schwieriger gestalten würde als zu den weiblichen. Optimal wäre hier ein Forscherteam mit einem männlichen Kollegen gewesen. Jedoch machte ich (wie vor mir schon andere Ethnologinnen) die Erfahrung, dass meine Rolle als Frau mir nach anfänglichen Schwierigkeiten einen relativ guten Zugang zu männlichen Bereichen eröffnete (vgl. Golde 1986a). Die Zugangsbeschränkungen – insbesondere zu politischen Bereichen der Männer – wurden durch sexistische Zuschreibungen als „weiße Frau“ bis zu einem gewissen Grad aufgehoben (vgl. Warren und Hackney 2000, S. 24). Dass das generelle Misstrauen gegenüber Fremden durch meine Rolle als Frau (und damit die Ansicht, dass ich „ungefährlich“, „unpolitisch“ und „schutzbedürftig“ sei) ausgeglichen werden kann, beschrieb auch schon Peggy Golde in ihrer Forschung zu einer Nahua-Gemeinde in Mexiko in den 1970er Jahren (vgl. Golde 1986b, S. 79). Eine Schwierigkeit in der Feldforschung besteht darin, sich den gesellschaftlichen Geschlechternormen bis zu einem gewissen Grad anzupassen, zugleich aber so wenig Bewegungsfreiheit wie möglich in Bezug auf die Forschung einzubüßen. Dies ist ein beständiger Balanceakt, der immer wieder neu erfolgt und nur durch aufmerksame Beobachtung möglich ist. „Lack of awareness of norms can impede access, entrée, and relationship formation; thus the […] anthropologist should strive for awareness of informant’s expectations“ (Warren und Hackney 2000, S. 59). Reflektiert man diese Erwartungen, so zeigen sich die scharf definierten Geschlechterrollen und Machtverhältnisse in ländlichen Gemeinden – diese umfassen die alltäglichen Tätigkeiten, Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräume. Um mir einen gewissen Respekt und Vertrauen zu erarbeiten, konzentrierte ich mich am Anfang auf den Bereich der Frauen und erweiterte dann die Teilnahme auf die den Männern zugeordneten Feldern. Ich nahm gezielt an frauenund männerspezifischen Tätigkeiten teil – zum einen in offiziellen, gemeindeorganisierten Tätigkeitsfeldern (tequios, cargos und comités), zum anderen in informellen, privaten Bereichen. Dabei lenkte ich das Augenmerk darauf, wie verschiedene Tätigkeiten mit ökologischen Diskursen und „Natur“ in Verbindung gesetzt werden und wie sie von Frauen und Männern unterschiedlich ausgeübt und delegiert werden. Meine Teilnahme an klassischen Aufgabenfeldern von Frauen, den Küchen- und Haushaltstätigkeiten, am Putzen oder an der Kinderbetreuung wurde befürwortet, wodurch ich mir im Verlauf der Zeit Anerkennung und Vertrauen erarbeiten konnte. Mir wurden verschiedene Aufgaben zugewiesen, was es mir ermöglichte, deren Bewertung nachzuvollziehen sowie ein Verständnis darüber zu erlangen, wie soziale Hierarchien durch die Zuweisung und

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Übernahme von Tätigkeiten gefestigt und auch subversiv unterwandert werden können. Die Performance von „genderkonformem“ Verhalten ermöglichte es mir, die Reaktionen der Männer sowie der Frauen auf mein Verhalten zu beobachten. Interessant war es hierbei im Auge zu behalten, welche Personen mir welche Rollen zuwiesen (oder auch absprachen) und wie sie mein Verhalten bewerteten. Daran zeigte sich die extreme Heterogenität auch innerhalb der Geschlechtergruppen, die durch den sozialen Status der Familie, ihr Alter, ihre Bildung und weitere Kategorien hergestellt wird. So bewerteten manche Frauen beispielsweise meine Anwesenheit in Männerrunden als unangebracht, andere hingegen als emanzipiert und vorbildhaft. In öffentlichen Situationen kehrten sich somit die Rollen um, indem ich selbst als Forscherin zum Objekt der Beobachtung durch die ForschungsteilnehmerInnen wurde. Durch meine dichte Teilnahme und Performanz „kultureller Verhaltensweisen“ – beispielsweise die Verteilung von Essen an männliche Gemeindemitglieder bei tequios als weiße Frau und Forscherin – nahm ich nicht nur eine kulturell andere Rolle ein, sondern stellte gleichermaßen die Differenz „kulturellen Verhaltens“ unter Beweis: „[T]he fieldworker identifies the display of Indian distinctiveness in a public performative space“ (Halstead 2008, S. 12). Nicht nur ich vollziehe als Forscherin dadurch einen Rollenwechsel, sondern auch die ForschungsteilnehmerInnen: Indem sie meine Verhaltensweisen in Relation zu ihren geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen stellen, reflektieren sie über „kulturelle“ Unterschiede und eigene Verhaltensnormen. Meine Anwesenheit und Teilnahme an Gemeindeaktivitäten verstärkte so den reflexiven Umgang mit der „eigenen“ Kultur und deren Performanz in Abgrenzung von „Fremden“ – dies betraf insbesondere die Geschlechterrollen. Beispielsweise erklärten mir die Frauen regelmäßig, dass es ihre Aufgabe sei, die Männer durch nahrhafte Wegzehrung bei den tequios zu unterstützen. Nur durch meinen Sonderstatus als weiße deutsche Wissenschaftlerin war eine Partizipation an männlichen Tätigkeiten überhaupt erst möglich. In diesem Fall kam mir die Identitätspolitik der Gemeinde zugute, sich als „fortschrittlich“ in Geschlechterfragen zu verstehen, wofür als Beweis die politische Aktivität von Frauen in der Gemeinde angeführt wird. Dies ermöglichte es mir (wenn auch mit gewissen Einschränkungen), bei Tätigkeiten und tequios dabei zu sein, an welchen ansonsten ausschließlich Männer teilnahmen. Dadurch erhielt ich Einblick in Männern zugeordnete Räume wie den Wald (el monte), von dem Frauen größtenteils ausgeschlossen sind. Es handelt sich hier um eine Vergeschlechtlichung des Raumes, die durch soziale Praktiken erst hergestellt wird und der Reformulierung von Männlichkeit dient. Allerdings bedeutet der räumliche Zugang zu männlichen Bereichen nicht automatisch, dass ich gleichermaßen

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auch einen Zugang zur Bedeutungswelt und zum Umweltverständnis der Männer erlangen konnte (Warren und Hackney 2000, S. 6). Zwar konnte ich die unmittelbare Interaktion der Männer und die Performanz von Männlichkeit im Sinne von doing gender (West und Zimmerman 1987) in Bezug auf die Umwelt/Natur teilnehmend beobachten und zugleich mein Verständnis von den Konfliktfeldern der Landrechte und der Ressourcennutzung erweitern. Jedoch wirkte sich meine Präsenz stark auf ihr Verhalten aus, und die lokalpolitisch sensiblen Themen, die normalerweise in diesen männlichen Räumen diskutiert werden, wurden nur unter Vorbehalt hervorgebracht. Entgegen der öffentlichen Repräsentation der Gemeinde, „geschlechtergerecht“ (igualdad de género) zu sein, war mein Eindringen in männlich dominierte Bereiche von einer generellen Skepsis begleitet. Viele der Männer und auch der Frauen befürworteten dies (zumindest implizit) nicht. Aus deren Verhaltensweisen und Bemerkungen konnte ich schließen, dass der „Rollenwechsel“ das generelle Misstrauen stärkte. Auch dieses war gegendert und bezog sich seitens vieler Frauen auf die Vorstellung, dass ich sexuelle Beziehungen zu den Männern eingehen könnte; die Männer hingegen waren skeptisch, inwiefern mein Wissen über brisante territoriale Fragen gegebenenfalls gegen die Gemeinde verwendet werden könnte. Hier wirkte sich meine Rolle als Frau jedoch „positiv“ aus, da Frauen generell eher eine apolitische Haltung zugeschrieben wird und sie damit weniger Spionagevorwürfen ausgesetzt sind (Warren und Hackney 2000, S. 19). Meine Anwesenheit in diesen männlichen Domänen wirkte sich stark auf die soziale Interaktion aus: auf den Umgang der Männer untereinander, die Zurschaustellung gewisser Fähigkeiten sowie auf ihre Erklärungen über Umwelt, Gemeindepolitik und Männerbereiche. So konnte ich beobachten, wie die Männer in Konkurrenz über ihre körperliche Fitness, ihre Expertise über das Gemeindeterritorium und die Natur oder über technische Fähigkeiten wie Baumfällen gerieten. Insofern ermöglichte es mir gerade mein Frausein, die Performanz von Männlichkeit in Bezug zur Natur in verdichteter Weise zu beobachten. Die mit dem Naturraum verbundenen politisch brisanten Themen wurden (wenn möglich) in meiner Gegenwart außen vor gelassen. Dahingegen wurden die Gespräche häufig mit Anmerkungen über „typisch“ männliche und „typisch“ weibliche Verhaltensweisen sowie sexuellen Anspielungen durchzogen (doble sentido). Den sexistischen Verhaltensweisen begegnete ich zumeist mit Humor und blieb in der Rolle der höflichen Wissenschaftlerin, nicht zuletzt aus Dankbarkeit, mich in meiner Forschung zu unterstützen und um die Beziehungen zum Wohle der Forschung nicht zu belasten (vgl. Gurney 1985). Dies brachte mir interessante Einblicke in die Zuschreibungen über mich als Frau: Unsicherheit über meine körperlichen Kapazitäten sowie das Absprechen

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von technischem Verständnis, praktischer Problemlösung und politischen Kenntnissen. Meine Anwesenheit in diesen Feldern wurde zwar – wegen meiner Forschertätigkeit – von den Autoritäten gebilligt, aber nicht von allen Gemeindemitgliedern gleichermaßen unterstützt. So wurde ich einmal bei einem Männern vorbehaltenen tequio von einem männlichen Gemeindemitglied öffentlich dahingehend diffamiert, dass ich die soziale Ordnung der Gemeinde durch mein unangebrachtes Verhalten stören würde und „gefälligst zu den Frauen in die Küche gehen sollte, um das Essen [für die Männer]“ vorzubereiten. Andere Männer setzten sich in dieser Situation für mich ein und legitimierten meine Anwesenheit durch meine Rolle als Forscherin. Wie sich die Männer gegenüber meiner Anwesenheit positionierten, verlief entlang der politischen Konfliktlinien in der Gemeinde. Somit zeigte sich durch meine Anwesenheit die Fragmentierung der Gemeinde deutlich auch anhand von Genderfragen. Ich bewegte mich in diesen männlichen Bereichen mit großer Vorsicht, da mein Verhalten vor allem seitens der Frauen beständig kontrolliert wurde und Gerüchte um sexuelle Beziehungen ein wesentliches Mittel sozialer Kontrolle darstellen. Von der Gemeinde akzeptiert zu sein bedeutet gleichermaßen, dass diese ein mehr oder weniger rollenkonformes Verhalten erwartet. Dies führt zwangsläufig zu einer beständigen Abwägung des eigenen Handelns: „The dilemma for the anthropologist lies in balancing the community’s need to absorb and control her, with her own need for independence for action“ (Golde 1986a, S. 8). Von Einladungen, Wanderungen oder Autofahrten mit Männern ohne die Kontrolle Dritter sowie vom längeren Zusammensein in Männerrunden bei Festen sah ich daher in den meisten Fällen ab. Ausnahmen machte ich nach Abwägungen vor allem bei renommierten Gemeindepersönlichkeiten, die ein Expertentum in Umweltfragen innehaben, das als Legitimation für gemeinsame Ausflüge zu wichtigen Orten im Gemeindeterritorium diente. Zumeist waren informelle Gespräche mit Männern daher auf den öffentlichen Raum im Dorf reduziert und somit sozial kontrolliert. Dahingegen wurden längere Zweiergespräche im Rahmen von Interviews als „legitim“ angesehen, da sie nicht als persönlich, sondern als professioneller Bestandteil der Forschung deklariert wurden und somit als „unverfänglich“ galten. Da ich die meisten Interviews am Ende der Feldforschung durchführte, waren diese Gesprächssituationen durch die bereits gewachsenen Vertrauensbeziehungen offen und ungezwungen. Im Gegensatz zu vielen Frauen hatten die meisten Männer keine erkennbaren Hemmungen, formelle Interviews zu geben, sondern forderten dies im Gegenteil sogar ein. In den Interviews erlebte ich eine große Offenheit vieler Männer, die die von mir versicherte Vertraulichkeit der Daten dafür nutzten, sich dezidiert politisch zu positionieren – auch gegenüber anderen Gemeindemitgliedern.

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Wenngleich die Tagesabläufe und Aufgabenbereiche geschlechtsspezifisch organisiert sind, unterscheiden sie sich fundamental je nach sozialem Status, Familienstand, Bildung, Migrationsgeschichte und Alter. Diese Heterogenität innerhalb der Geschlechtergruppen kann mittels intersektionaler Ansätze erfasst werden. Diese Ansätze verdeutlichen, dass sich die Auseinandersetzung mit Geschlechterunterschieden (auch im Hinblick auf die eigene ForscherInnenrolle) differenziert hat: „toward a global-, race-, and ethnicity-informed vision of gender and of anthropological authorship“ (Warren und Hackney 2000, S. 56). Diese Differenz der Dorfbewohner spiegelt sich auch in den Bedeutungszuweisungen an die Umwelt und in der Aneignung ökologischer Diskurse wider. Aufbauend auf ersten Analyseergebnissen richtete ich mein Augenmerk auf die Verknüpfung verschiedener Bereiche mit Vorstellungen von „Natürlichkeit“ (lo natural) im Sinne einer qualitativen und ästhetischen Kategorie, was von James Spradley als fokussierte teilnehmende Beobachtung beschrieben wurde (Spradley 1980). Die sich daraus erschließenden Felder (wie Sauberkeit und Mülltrennung als weibliche oder Subsistenzwirtschaft und Umweltbildung als männliche Tätigkeiten) wurden dann in Bezug auf die gemeindeinterne, insbesondere geschlechtsspezifische Organisation (Zuständigkeitsbereiche, Verantwortungen, Zugangsbereiche und Beschränkungen) untersucht. Wegen der größeren Skepsis, mit der mir in männlichen Bereichen entgegengetreten wurde, bauen die Ergebnisse über die Umweltbeziehung der Männer stärker auf Beobachtungen und formellen Interviews auf und wurden weniger durch informelle Gespräche gewonnen. Die Einblicke in weibliche Aufgabenbereiche und das weibliche Verständnis von Natur basieren stärker auf teilnehmender Beobachtung bzw. dichter Teilnahme sowie informellen Alltagsgesprächen. Zudem führte ich Gruppendiskussionen (Gruppengespräche) mit verschiedenen „homogenen“ Realgruppen durch, also mit Menschen, die auch im Alltag eine soziale Gruppe bilden, wie mit der Gruppe, die die Casa del día (Tagesstätte für Ältere) besuchen, oder mit den SozialhilfeempfängerInnen (vgl. Schirmer 2005, S. 95). In den Gruppendiskussionen nutzte ich Erzählaufforderungen zu umweltbezogenen Themen, die gerade in der Gemeinde diskutiert wurden (wie die Mülltrennung) sowie verschiedene visuelle Medien (Flyer zum Ökotourismus) und die Fotografien des Fotoprojekts im Sinne der Photo elicitation (Lapenta 2011; Kesselhut 2008, S. 8; Harper 2002). Die Gruppengespräche erzeugten jedoch nicht den gewünschten Effekt der Selbstvergessenheit und eines „natürlichen“ Gesprächsflusses (Meuser 1998, S. 176), sondern eine künstliche Atmosphäre, in der einige WortführerInnen das Thema darlegten und sich andere – trotz Erzählaufforderungen – nicht zu Wort meldeten. Das Anliegen, durch die Gruppengespräche nachvollziehen zu können, wie kollektive Orientierungen,

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Wissensbestände und Werthaltungen in Bezug auf die Natur verhandelt werden, stellte sich als schwierig heraus, da eine ungezwungene „offene“ Diskussionskultur in diesen Gruppenkontexten nicht üblich ist. Das „Misslingen“ dieser „künstlichen“ Gruppendiskussion offenbarte vor allem die Differenzen und Machtdimensionen in den Geschlechterverhältnissen (bei gemischtgeschlechtlichen Gruppen) sowie innerhalb der Geschlechtergruppen (bei nur weiblichen oder nur männlichen Gruppen), die es gemäß intersektionaler Ansätze ermöglichten, lokal verhandelte Differenzkategorien induktiv zu ermitteln beziehungsweise zu bestätigen. Im klassischen Sinne ist hier die dichte Teilnahme über längere Zeit hinweg in verschiedenen kollektiven und privaten Kontexten zentral. Auch wenn das Thema unter Umständen nicht umfassend und explizit besprochen wird, ist es sehr aufschlussreich zu vergleichen, wann welche Personen wie über Natur gesprochen haben und wie meine Anwesenheit oder die Anwendung von verschiedenen Methoden die Diskurse beeinflussten (Methodentriangulation). Dies bestätigt einmal mehr, dass Methoden im Sinne „ethnografischer Strategien“ der Eigendynamik des Feldes entsprechend angewendet werden sollten und diese mit erkennbar machen. 4.2.3 El pueblo zwischen Stadt und Land Im Verlauf der Forschung erweiterte ich die Themenfelder und Räume, indem ich dem Interaktionsradius verschiedener ForschungsteilnehmerInnen folgte. Wichtige Einblicke in das Gemeindeleben – sowie die Herstellung sozialer Kohärenz – konnte ich durch die Teilnahme an gemeinsamen Ausflügen bekommen. Bei manchen dieser Ausflüge, wie zu den Sportwettkämpfen der Grundschulen in weiter entfernten Gemeinden der Region, war der Großteil der Familien mit ihren Kindern dabei, bei einer Pilgerfahrt nach Juquila nur einige Familien, wohingegen bei den Ausflügen zu den Basketballturnieren in Guelatao fast die gesamte Gemeinde anwesend war. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich meine Zugehörigkeit zur Gemeinde öffentlich unter Beweis stellen, und die Gemeinde konnte meine Anwesenheit repräsentationspolitisch nutzen. Dies war insbesondere in politischen Kontexten von Bedeutung, wie bei der Begleitung der Autoritäten (cabildos) Lachataos bei deren Amtseinführung (toma de protesta) in den agencias oder bei den Protestveranstaltungen gegen den Bergbau. Zudem konnte ich die Beziehungen zu einzelnen weiblichen Gemeindemitgliedern intensivieren, wodurch sich freundschaftliche Verhältnisse entwickelten, die mir vertrauliche Einblicke in die Geschlechterverhältnisse und das Gemeindeleben, die kollektiven Prozesse und die Aushandlung von sozialen Differenzen boten.

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Wie bereits erwähnt, sind die soziokulturellen Prozesse der Gemeinde unter Berücksichtigung der (zirkulären) Migrationsbewegungen und der Mobilität einzelner Gemeindemitglieder zu verstehen. Deren soziale und räumliche Mobilität ist extrem unterschiedlich und spiegelt die soziale Heterogenität der Gemeinde wider. Die Unterscheidung zwischen in Oaxaca-Stadt lebenden Gemeindemitgliedern (los de la ciudad) und jenen im Dorf (los del pueblo) ist ein zentrales Differenzkriterium innerhalb der Gemeinde. Im Spannungsfeld zwischen dem Dorf und der Stadt zeigt sich die Komplexität der sozialen und politischen Organisation der Gemeinde, was eine Erweiterung meiner Forschung auf den urbanen Raum erforderte. Sie umfasste die regelmäßige Teilnahme an formellen und informellen sozialen Organisationsformen der StädterInnen, den monatlichen Treffen der Gruppe der OLAROP (Organización de Lachatenses Radicados en la Ciudad de Oaxaca y Periferia) sowie den wöchentlich stattfindenden Zapotekisch-Unterricht einiger Gemeindemitglieder bei einer alten Frau, die auch aus Lachatao stammt, und private Besuche bei einzelnen Gemeindemitgliedern. Die Erweiterung des Feldes auf den urbanen Raum bot mir zentrale Einblicke in die Heterogenität der Gemeinde, die internen Streitigkeiten und politischen Prozesse. Teilweise gestalteten sich die Kontakte zu los de la ciudad aufgrund meiner Zuordnung zu los del pueblo schwierig – insbesondere, was den Kontakt zu politischen Eliten betraf. Meine offizielle Erlaubnis des Vorsitzenden der OLAROP, an den monatlichen Treffen teilzunehmen, wurde von den Mitgliedern in unterschiedlichem Maße befürwortet, da ich dort „ungefilterte“ Einblicke in die Perspektive der StädterInnen erhielt. Auch in diesem Fall war meine Rolle als Frau aufgrund der bereits dargelegten sexistischen Vorurteile eher von Vorteil. Zudem bot die gemeinsame Fortbewegung – hier die regelmäßigen Fahrten nach Oaxaca – eine günstige Gelegenheit, informelle Gespräche zu führen. Auf den Autofahrten entstand häufig eine ungestörte Gesprächsatmosphäre mit führenden Gemeindepersönlichkeiten, die sich ansonsten aufgrund ihrer vielfältigen Verantwortlichkeiten und hohen Mobilität außerhalb des Dorfes nur selten ergab. Die Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hingegen stellten auch durch die teilweise langen Wartezeiten eine gute Gelegenheit dar, an Gruppengesprächen teilzuhaben und neue Kontakte zu schließen. Den Großteil der Informationen ermittelte ich aus der teilnehmenden Beobachtung in verschiedensten Bereichen: im Ökotourismus, bei den tequios und der dichten Teilnahme am Alltag der verschiedenen Gemeindemitglieder, bei Gemeindefesten und Ausflügen sowie in Gesprächen mit und Besuchen bei den migrierten StädterInnen. Die Informationen, Überlegungen und Reflexionen hielt ich in Gedächtnisprotokollen und Tagebuchaufschrieben fest, die in den Analysephasen dazu dienten, die relevanten Themenfelder für die Interviewleitfäden

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und die visuellen Methoden induktiv zu ermitteln. Für den abschließenden Analyse- und Schreibprozess dienten sie als Erinnerungshilfe und ermöglichten es, den Verlauf der Forschung und die Forschungsergebnisse reflexiv nachvollziehen zu können. Eine zentrale Forschungsmethode stellten qualitative Interviews dar. Ein Interview ist als eine Form der Beziehungsausübung zu verstehen, die sowohl produktiv als auch kontra-produktiv sein kann (Skinner 2012, S. 6). Eine Interviewsituation bedeutet eine gewisse Formalisierung der Beziehung und bedingt eine Hierarchie, die sich erheblich auf den Gesprächsverlauf und die Gesprächsinhalte auswirken kann. Dies ist besonders relevant, wenn ForschungsteilnehmerInnen wenig Selbstbewusstsein im Hinblick auf die sprachliche, repräsentative Darstellung von Inhalten haben. Im Kontext ländlicher Gemeinden betrifft dies häufig Frauen, deren Unsicherheit im Gegensatz zur hohen Eloquenz vieler Männer steht, die im Rahmen von Gemeindeversammlungen (asambleas) früh erlernen, öffentlich zu reden und politisch zu repräsentieren. Um die Beziehung zu den ForschungsteilnehmerInnen möglichst ungestört aufzubauen, führte ich deswegen den größten Teil der Interviews erst in der letzten Feldforschungsphase durch. Dies bot auch den Vorteil, dass sie im Sinne des ethnographischen Interviews in die Alltagskommunikation mit den ForschungsteilnehmerInnen eingebettet waren (vgl. Spradley 1979). Der relativ lange Aufenthalt in der Gemeinde und die geringe Einwohnerzahl bedingten, dass ich meine InterviewpartnerInnen in den allermeisten Fällen bereits gut kannte und wir eine gewisse Vertrauensbeziehung aufgebaut hatten. Durch die Triangulation verschiedener Daten, die ich in informellen Gesprächen, narrativen Interviews und durch teilnehmende Beobachtung erhoben hatte, erstellte ich die Leitfäden für die themenzentrierten Interviews. Die Themenfelder eines Leitfadens dienten hierbei nur zur Orientierung und wurden je nach GesprächspartnerIn unterschiedlich stark in den Fokus gestellt. Die Erzählungen ermöglichten es mir, Einblicke in ihre alltäglichen Erlebniswelten zu erlangen sowie repräsentative Muster aufzudecken (etwa den Rückgriff auf ökologische Diskurse und Natur) und dadurch die sinnhafte Rekonstruktion in der Interviewsituation nachzuvollziehen. Durch die Analyse konnte ich Einblicke in die lokalen Epistemologien, Bedeutungszuweisungen und Sinnstrukturen ermitteln (Chase 2003, S. 276). So zeigte sich, dass ökologische Diskurse und Vorstellungen von Natur weniger mit ökologischen Praktiken als mit sozialen Zuschreibungen und Subjektpositionen in Verbindung stehen und gerade hier Gender eine wesentliche Rolle spielt. Um die Prozesse in der Gemeinde regional einordnen zu können, besuchte ich zahlreiche Veranstaltungen in Oaxaca-Stadt und den umliegenden Gemein-

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den in der Sierra Juárez; insbesondere die „biologischen Märkte“ (mercados orgánicos) in Oaxaca und Ixtlán de Juárez. Auf ihnen lernte ich ExpertInnen in gewissen Umweltthemen kennen, wie die OrganisatorInnen der Märkte, und eine Vielzahl an ProduzentInnen biologischer Produkte, die ich auf ihren Farmen besuchen konnte und so auch Einblicke in die Zertifizierungsprozesse erlangte. Eine weitere Informationsquelle stellt die institutionelle Vermittlung ökologischer Diskurse dar, die ich bei verschiedenen Schulungen zu Ökotourismus und Umweltschutz mitverfolgen konnte, wie sie vom mexikanischen Ökotourismusprogramm für indigene Gemeinden (PTAZI) angeboten werden. Neben den Regierungsinstitutionen vermitteln besonders mexikanische Universitäten seit den 1980er Jahren ökologische Praktiken und Diskurse an Gemeinden und führen dort auch Forschungen durch. Sie arbeiten eng mit den Gemeinden zusammen und versuchen, durch partizipative Methoden eine nachhaltige Landwirtschaft und Umweltschutz zu fördern (vgl. Kapitel 2.3.1). Die Kooperation der Gemeinde Lachatao mit wissenschaftlichen Institutionen, insbesondere der nahe gelegenen Universität Ixtlán (UNSIJ, Universidad de la Sierra Juárez), ermöglichte es mir, Kontakte zu mexikanischen WissenschaftlerInnen zu knüpfen und sie bei Forschungen in den Gemeinden zu begleiten. Dadurch boten sich mir interessante Einblicke in die Wissensvermittlung und die vorherrschenden wissenschaftlichen Diskurse sowie in die Aneignungs- und Übersetzungspraktiken in der Gemeinde. Der Zugang zu und die Weitervermittlung von Wissen innerhalb sozialer Beziehungen in Lachatao sowie in formellen Gemeindeorganisationen wie der Gemeindevollversammlung (asamblea) wurden so für mich nachvollziehbar. Zudem ermöglichten mir diese Kontakte einen interdisziplinären Austausch und eine institutionelle Anbindung an die Universität Ixtlán. Die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Gespräche können als „extension of the field“ angesehen werden – nicht nur dahingehend, wie sie sich auf die Dorfgemeinschaft, sondern auch, wie sie sich auf den weiteren Forschungsverlauf, die Fokussierungen und mein Verständnis von Zusammenhängen auswirkten (vgl. Halstead 2008, S. 9). Darüber hinaus dienten diese Begegnungen zur Auswahl von InterviewpartnerInnen für ExpertInneninterviews, welche ich mit WissenschaftlerInnen, VertreterInnen verschiedener Regierungsinstitutionen des CDI und von SECTUR sowie mit NGOs und Personen führte, die im Umfeld des Ökotourismus und anderer umweltbezogener Themenfelder arbeiten. Wichtige InterviewpartnerInnen waren auch der Leiter des indigenen Radiosenders XEGLO – la Voz de la Sierra Juarez und der indigene Anthropologe Jaime Luna aus Guelatao. Gemäß dem Prinzip des theoretical sampling wählte ich die ExpertInnen aufgrund ihrer Tätigkeitsfelder und ihres ExpertInnenwissens „sukzessive im Wechsel von Erhebung, Entwicklung theoretischer Kategorien und weiterer

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Erhebungen aus“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 178). Die Auswahl der relevanten Personen, Gruppen, Interaktionen, Praktiken und Ereignisse verfolgte das Ziel, die Heterogenität des Untersuchungsfeldes umfangreich abzudecken und damit eine qualitative Repräsentation aufzuzeigen (Kruse 2011, 82 ff.). 4.2.4 Visuelle Methoden: Fotografie Fotografie ist nicht nur Bestandteil fast jeder ethnologischen Feldforschung, 5 sondern auch von zentraler Bedeutung im Tourismus, nimmt doch das Fotografieren einen wichtigen Stellenwert bei jeder Reise ein und stellt das zentrale Medium touristischer Werbung dar. Obwohl Fotografieren eine geläufige Praxis in Feldforschungen ist, wird das Potential visueller Medien (wie Fotografie, Video etc.) in ethnologischen Forschungen außerhalb der Visuellen Anthropologie selten ausgeschöpft (vgl. Banks und Ruby 2011). Gerade in einer Forschung zu Tourismus liegt es jedoch nahe, die Fotografie als soziale Praxis in den Blick zu nehmen, die Beziehungen mitprägt sowie einen Machtaspekt beinhaltet und deren soziokulturelle Auswirkungen normative, ästhetische und diskursive Aspekte umfassen. Im Hinblick auf die lokalen Naturbeziehungen stellt sich die Frage, welche Rolle die Fotografie dabei spielt, die Natur verändert wahrzunehmen, neu zu bewerten sowie ästhetische und moralische Werte mit ihr zu verbinden. „Images are everywhere“ – so lautet der erste Satz des Grundlagenwerks von Sara Pink zur Visuellen Anthropologie (Pink 2013, S. 1). Dies betrifft auch Lachatao, wo Fotografien einen grundlegenden Bestandteil der touristischen Repräsentation darstellen und das Fotografieren eine bei vielen Gemeindemitgliedern (vor allem den „Städtern“) etablierte Praxis ist. Fotografiert werden vor allem mit dem Smartphone nicht nur Personen und Feste, sondern auch die dörfliche Umgebung und die Natur. Die Fotografien werden vielfach in sozialen Netzwerken wie Facebook geteilt und kommentiert. Sie geben dadurch Einblicke, mit welchen Bedeutungsinhalten ForschungsteilnehmerInnen die Umwelt versehen. Besonders geeignet sind diese Fotografien, um in Gesprächen die dominanten Diskurse um „Natur“ aufzuzeigen und die normativen Dimensionen der auf die Natur bezogenen Werte, Einstellungen und ästhetischen Vorstellungen offenzulegen (vgl. Gold und Revill 2004, S. 241–242). Als methodisches Werkzeug of-

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Das Fotografieren ist eine gängige ethnologische Praxis, sei es zu dokumentarischen Zwecken, zur Untermauerung von Forschungsergebnissen, zur Rekapitulation sozialer Situationen, als Forschungsmethode oder zur Evokation eigener Erinnerungen. Zur Fotografie in der ethnologischen Feldforschung siehe Pink (2013); sowie Ball und Smith (2001).

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fenbaren sie Informationen, die andernfalls nicht zugänglich wären: „Images encode data about values, norms and practices that are often inaccessible to other forms of collecting and reporting information“ (O’Reilly 2005, S. 159). In der Ethnologie wurden Bilder und Fotografien seit der Krise der Repräsentation kritisch betrachtet, da sie lange Zeit als Abbilder einer angeblich „objektiven“ Wirklichkeit zu dokumentarischen Zwecken eingesetzt wurden und zur Institutionalisierung von Machtbeziehungen durch ethnologische Forschung dienten. Hier wurde vor allem auf die problematische Rolle von Fotografien in der Rassentheorie des 19. Jahrhunderts und ihrer Verbindung zu Kolonialismus und Rassismus diskutiert. Bilder bzw. Fotografien tragen jedoch keine Bedeutung in sich, sondern sind indexikal und können einen „excess of meaning“ beinhalten, was ihre Vermittlung und Interpretation mehrdeutig macht (Ball und Smith 2001, S. 309). Vielmehr wird ihre Bedeutung situativ durch die Verbalisierung in Gesprächen hergestellt (Harper 2012, S. 158). Ihnen wird deswegen eine „unkontrollierbare“ semiotische Bedeutungskraft zugewiesen, was ihre wissenschaftliche Verwendung in der Ethnologie erschwere und mit zu einer „iconophobic relationship“ der Ethnologie gegenüber der Fotografie beitrage (Edwards 2011, S. 171). Mit dem Visual Turn6 wurde das Potential von Fotografien bzw. Bildern in der wissenschaftlichen Forschung neu bewertet, zum einen im Hinblick auf die Erforschung von Bildern und visuellen Systemen,7 zum anderen hinsichtlich der Verwendung von visuellen Methoden. Mittlerweile gehören visuelle Methoden wie Photo elicitation und Photovoice zum Methodenkatalog der Visuellen Anthropologie und der Visuellen Soziologie (Harper 2012, S. 206). Sie werden zwar bislang nicht systematisch in der ethnologischen Forschung verwendet, aber derzeit entsteht eine Neubewertung und kreative Nutzung von Visualität, Bildern, Tech-

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Der Visual Turn erweitert im Sinne der Cultural Studies den Fokus über den Bildgegenstand hinaus (der im Zentrum des Pictoral/Iconic Turn steht), indem er die gesamte Komplexität des visuellen Regimes und der Visualisierungsvorgänge zum Forschungsgegenstand erhebt und die kulturellen und historischen Prozesse des Wahrnehmens sowie von Herstellung, Verbreitung und Verbot oder Manipulation von Bildern thematisiert. „Ins Visier kommt damit der umfassendere Bedingungszusammenhang von Visualisierungsvorgängen in ihren kulturspezifischen Techniken und Praktiken, aber auch in ihren gesellschaftlichen Machtverhältnissen“ (Bachmann-Medick 2008, S. 11).

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Visuelle Systeme sind nicht nur auf die Produktion von Fotogrfien bezogen, sondern bezeichnen den Prozess, wie Menschen visuelle Objekte produzieren, perzipieren und darüber kommunizieren (Morphy und Banks 1997, S. 21).

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nologien sowie den Wahrnehmungsweisen und der Erfahrung von Bildern als Teil des ethnografischen Prozesses (Pink 2013). Die Frage, wie ökologische Diskurse und damit die zusammenhängenden Werte bzw. Wahrnehmungsweisen der Natur angeeignet werden, lenkte meinen Blick auf die visuellen Repräsentationen von Natur in der Gemeinde Lachatao. Die Datengenerierung mit Hilfe visueller Medien wird als Photo elicitation bezeichnet und eignet sich dafür, Gespräche zu führen und Diskussionen zu entfachen und dadurch Einblicke in emische Bedeutungszuweisungen zu Bildern zu ermitteln (Harper 2012, 2002; Lapenta 2011; Kesselhut 2008; Collier und Collier 1986).8 Die Bezeichnung Photo elicitation ist wörtlich genommen irreführend, da es nicht darum geht, Bedeutungsinhalte der ForschungsteilnehmerInnen durch die Fotografien zu „extrahieren“, sondern es handelt sich hierbei um einen gemeinsamen Prozess der Wissensherstellung, der sich qualitativ von anderen Wissensformen und deren Herstellung unterscheidet (Pink 2013, S. 92; Harper 2002, S. 13). Dabei dient das Bild als eine Brücke, um sich über die verschiedenen Perzeptionen und Verständnisse des Bildinhalts auszutauschen und nachzuvollziehen, wie Sinn und Bedeutung hergestellt werden (Harper 2012, S. 157). Fotografien, die im Rahmen von Forschungsprozessen entstehen oder „gefunden“ werden, sind somit nicht als Antworten auf wissenschaftliche Fragen zu verstehen, sondern als „routes to knowledge and tools through which we can encounter and imagine other people’s worlds“ (Pink 2013, S. 39). Indem sich beide – der/die ForscherIn sowie die ForschungteilnehmerIn – im Gespräch immer wieder auf die Fotografien beziehen können, zeigen sich ihr jeweiliger Bezugsrahmen und somit auch die Vorannahmen des/der Forschers/Forscherin (Bignante 2010, S. 34; Pink 2007). Zudem sind Fotografien nicht als rein visuell, sondern als multisensorisch zu verstehen; sie haben die Fähigkeit, persönliche Erfahrungen und affektive Bezüge des/der Perzipienten/in mit dem Bildgegenstand zu wecken. Sie können so den/die ForschungsteilnehmerIn unterstützen, Sinnstrukturen über persönliche Narrationen herzustellen und sich weniger an den antizipierten Erwartungen des/der Forschers/Forscherin über abstrakte Konzepte und Erklärungen zu orientieren, die häufig nicht mit der eigenen Lebenswelt verbunden sind (Robinson 2002). Dadurch können sie hel-

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Die Methode geht auf John Collier zurück, der sie in den 1950er Jahren entwickelte und 1967 in einem Buch zur Visual Anthropology als „photo interviewing“ beschreibt (Collier 1967). Ein Anwendungsbeispiel der Methode in der Umweltwahrnehmung stellt die Arbeit von Bignante über die Repräsentation „natürlicher Ressourcen“ der Massai dar (vgl. Bignante 2010).

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fen, die ForschungsteilnehmerInnen zu emanzipieren und die ungleichen Machtbeziehungen der Interviewsituation abzubauen (Bignante 2010, S. 23). Im Rahmen von informellen Situationen ergriff ich häufig die Gelegenheit, über Fotografien und visuelle Sekundärmedien (beispielsweise Werbebroschüren des Ökotourismus) zu sprechen. Dies ermöglichte es mir, visuell gekoppelte Bedeutungszuweisungen der ForschungsteilnehmerInnen nachzuvollziehen, die ich in Form von Protokollen festhielt. Dafür eigneten sich besonders die in öffentlichen Räumen vorhandenen Fotos, z.B. im Rathaus oder im Ökotourismusbüro sowie auf Werbeflyern oder Internetseiten. Dies bot die Gelegenheit, Gespräche mit verschiedenen Personen über dieselben Fotos zu führen und die unterschiedlichen Aussagen vergleichen zu können. Auch in Interviews machte ich die Erfahrung, dass die Bilder die ForschungsteilnehmerInnen animierten, von persönlichen Erlebnissen, sinnlichen Perzeptionen und gekoppelten Affekten zu erzählen, die mir andernfalls nicht zugänglich gewesen wären (Pink 2013, S. 92). Die Wahrnehmung und die Bedeutungszuschreibungen von ForschungsteilnehmerInnen nachzuvollziehen – „get [...] behind the eyes of the subjects and immerse [...] oneself in the activity itself“ (Harper 2012, S. 177) – ist zwar angesichts postmoderner Realitätstheorien ein nie zu erreichendes Ideal; dennoch bleibt es das Ziel einer ethnologischen Forschung, sich diesem anzunähern. Nicht nur das Gespräch über Bilder, sondern auch die fotografische Praxis bietet unmittelbare Einblicke in die Perzeption der Umwelt, und die Entscheidungen darüber, welche Bildinhalte fotografiert werden, geben Aufschluss über Bewertungen. Durch die teilnehmende Beobachtung und das gemeinsame Fotografieren mit den ForschungsteilnehmerInnen auf Wanderungen und Festen konnte ich nachvollziehen, aufgrund welcher Kriterien und für welchen Zweck Fotografien gemacht werden. Dies eignet sich besonders im Hinblick auf die Natur: „The method of walking and photographing is becoming increasingly popular in research that seeks to both represent the experiences of, and issues related to, particular environments“ (Pink 2013, S. 86). Dass die visuelle Wahrnehmung nicht von anderen Sinneswahrnehmungen getrennt, sondern mit diesen verwoben ist, ließ sich besonders gut bei den gemeinsamen Spaziergängen erfahren. Durch sie konnte ich teilnehmend beobachten, welche Wahrnehmungen einer Aufnahme zugrunde liegen (so erwähnte beispielsweise ein Teilnehmer des Fotografieprojekts, dass er den Wind abbilden wolle). Meine Kenntnisse über die Orte und Wege des Dorfes machten es möglich, die Sinneseindrücke und Wahrnehmungen der ForschungsteilnehmerInnen mit meinen zu vergleichen und meine sinnlichen Erfahrungen als Methode mit einzusetzen. Ethnologisches Wissen wird immer auch durch die körperlichen Erfahrungen des/der Feldforschers/ Feldforscherin konstituiert –

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insbesondere im Hinblick auf die Naturwahrnehmung sind sie zentral, da die „Welt“ nur durch den Körper erfahrbar wird (Moore und Sanders 2014). Der unmittelbarste Zugang zu emischen Erfahrungen der Umwelt ist am ehesten durch Fotografien möglich, die von den ForschungsteilnehmerInnen selbst angefertigt worden sind. Auch als community-based image production oder Photovoice bezeichnet, versteht man darunter die partizipative Herstellung von Fotografien oder Filmen (Pink 2013, S. 96–102; Harper 2012, S. 188–206).9 Diese bieten den Vorteil, dass nicht nur die Interpretation des Bildinhalts nachvollzogen, sondern auch über die Auswahl der Motive und des Bildausschnitts gesprochen werden kann. Außerdem können die Fotografien dem/der ForscherIn Zugang zu Orten und Kontexten verschaffen, zu denen er/sie normalerweise keinen Zugang hätte (Pink 2013, S. 96). Um diese Vorzüge visueller Methoden auszuschöpfen, konzipierte ich ein partizipatives Fotoprojekt, an dem 22 Frauen und Männer im Alter zwischen acht und 63 Jahren teilnahmen, indem sie Fotografien zu vorgegebenen Fragen anfertigten. Die Vorbereitung des Projektes verlief über mehrere Monate, die Umsetzung (das Fotografieren sowie die Interviews) wurde in den letzten Monaten der Feldforschung mit einer Ausstellung der Fotografien im März 2014 abgeschlossen. Hier lässt sich die „Biografie der Methoden“ nachvollziehen, da das Projekt nur auf der Grundlage der ermittelten Ergebnisse über die fotografischen Praktiken in der Gemeinde sowie über ersten Analysen möglich war. Die fotografischen Anleitungen konnten so induktiv aufgrund der bereits gesammelten Ergebnisse über relevante Bedeutungszuschreibungen an die Umwelt erfolgen. Der Umstand, dass das Fotografieren eine in der Gemeinde etablierte Praxis von TouristInnen und StädterInnen ist, die meisten Gemeindemitglieder im Dorf jedoch keine Kameras besitzen, motivierte diese, sich trotz ihrer Unsicherheit bei der Handhabung von Kameras Zeit zu nehmen, um an dem Projekt teilzunehmen. Ich machte die Erfahrung, dass die visuellen Methoden besonders bei jüngeren Gemeindemitgliedern auf Interesse stießen und ich sie so vor allem durch das Fotoprojekt als ForschungsteilnehmerInnen gewinnen konnte. Marginalisier-

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Die Methode geht maßgeblich auf Wang zurück (Wang 2005). Anfangs wurde sie als Mittel von Empowerment verstanden, wobei häufig nicht differenziert wurde, was darunter im jeweiligen Fall zu verstehen sei (Harper 2012, S. 193). „Photovoice is based on the assumption that photographing one’s world is empowering because it leads to greater awareness of both assets and problems of communities or research situations“ (Harper 2012, S. 202). Mittlerweile haben sich partizipative visuelle Methoden vor allem zur Wissensgenerierung etabliert, die gegenstandsorientiert für gewisse Fragestellungen sinnvoll sind, für andere aber weniger (Pink 2013, S. 52).

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te Personen der Gemeinde, insbesondere Frauen, zeigten weniger Interesse daran, was sie mit ihrer Unsicherheit im Umgang mit der Kamera und mit Zeitmangel erklärten. Insgesamt nahmen 14 weibliche und acht männliche Fotografen an dem Projekt teil, wovon fünf TeilnehmerInnen unter 17 Jahre alt waren. Der geringere Anteil an Männern lag in deren Zeitmangel begründet, da viele zwar Interesse äußerten, dann aber keine Zeit fanden. Das Fotoprojekt bestand darin, Fotografien zu einigen Fragen anzufertigen und mit mir im Rahmen eines Interviews zu besprechen. Die Fragen betrafen unterschiedliche, auf die Gemeinde und die Natur bezogene Themenfelder, die induktiv ermittelt wurden.10 Beim anschließenden Gespräch wurden die Fragen und die dazu angefertigten Fotografien besprochen. Um Einblicke zu erlangen, wie Bedeutung, Wissen und Repräsentation anhand von Fotografien hergestellt werden, waren die Interviews narrativ ausgerichtet. Die Fotografien provozierten so freie Erzählungen und offenbarten darüber narrative Muster, Assoziationsprozesse sowie normative und ästhetische Haltungen. Dies ermöglichte es mir, zum einen den fotografischen Prozess sowie zum anderen die Herstellung von Bedeutung durch die Fotografien zu verstehen, worüber sich mir unerwartete Bedeutungs- und Repräsentationsweisen der Natur erschlossen. „If we understand photographs as emerging from photographic moments that were meaningful to the people who took them within a particular experiential narrative of events and of movements in a specific environment, one task is to engage with the image to explore these meanings. Yet photographic meanings will be renegotiated and remade in the interview context and this remaking are part of the process of creating ethnographic knowledge.“ (Pink 2013, S. 99)

10 Die fotografischen Anleitungen waren: 1. Machen Sie ein Foto von ihrem Lieblingsort in Lachatao; 2. Machen Sie ein Foto von der Natur; 3. Machen Sie ein Foto von der Gemeinde für eine Person, die diese nicht kennt; 4. Machen Sie ein Foto vom Naturverhältnis von Frauen (wo halten sie sich auf, was gefällt ihnen?); 5. Machen Sie ein Foto vom Naturverhältnis von Männern (s.o.); 6. Machen Sie ein Foto von einem Ort in der Gemeinde bzw. in der Natur, der Sie an die Vergangenheit erinnert; 7. Machen Sie ein Foto von einem Ort in der Gemeinde, der sich im Vergleich zu früher verändert hat; 8. Machen Sie ein Foto eines Ortes in Lachatao, dem Sie eine Bedeutung für die Zukunft zusprechen; 9. Machen Sie ein Foto von einer Arbeit, die Sie in der Natur (el campo, el monte) verrichtet haben; 10. Machen Sie ein Foto von einem Ort in der Natur, an dem Sie sich besonders wohl fühlen; 11. Machen Sie ein Foto eines Ortes in der Natur, der ihnen Angst macht; 12. Machen Sie ein Foto des wichtigsten Ortes in Lachatao.

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Die Repräsentation bzw. „Beantwortung“ der fotografischen Fragen findet so in zweifacher Weise statt: erstens visuell durch das Fotografieren und die Wahl des Fotomotivs; und zweitens diskursiv durch die narrativen Darstellungen im Interview. Diese „doppelte“ Beantwortung bzw. Darstellung zeigte die Kopplung von Bildinhalten und der Narration bzw. Interpretation im Interview und ermöglichte mir es auch, gegebenenfalls Rückfragen über meine eigene Perzeption zu stellen. Abbildung 10: Fotoprojekt: Von den Gemeindemitgliedern für die Ausstellung ausgewählte Fotos, 2014

Eine zentrale Motivation für die ForschungsteilnehmerInnen stellten die geplante Ausstellung der Fotografien im Dorf sowie der Druck von Kalendern und Postkarten mit den Fotos für sie selbst und den Verkauf in der Gemeinde dar. Die TeilnehmerInnen wählten eines ihrer Fotos für die Ausstellung aus und gaben ihm einen Titel. (Für die von jedem/jeder TeilnehmerIn ausgewählten Fotografien für die Ausstellung vgl. Abbildung 10.) Die Gespräche über die Auswahl der Fotografien und Titel erbrachten Einblicke in die Kriterien, nach welchen diese vonstatten ging und wie die Fotos durch die Kombination mit einem Titel repräsentiert werden sollten. In der Ausstellung zeigte sich, wie stark die Perzeption durch den Titel gesteuert wird. So löste beispielsweise die am Anfang der Arbeit stehende Fotografie des Dorfzentrums, „Meine ganze Kindheit“ (Todo mi infancia) von Tía Magali, viele Gespräche darüber aus, wie sich das Dorf verändert habe.

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Die Ausstellung diente zugleich der Auswahl der beliebtesten zwölf Fotografien (für die zwölf Kalendermonate) durch Mitglieder der gesamten Gemeinde mit Hilfe von Fragebögen (vgl. die zwölf ausgewählten Fotografien in Abbildung 11). Die Postkarten und Kalender wurden der Gemeinde zu mehreren Hundert Exemplaren im Anschluss an die Feldforschung geschenkt, womit ich die Reziprozitätsbeziehung zwischen mir als Forscherin und der Gemeinde festigen konnte (vgl. Pink 2013; Lapenta 2011). Abbildung 11: Fotoprojekt: Einladungskarte (mit den 12 von der Gemeinde für den Kalender ausgewählten Fotos) für die Vernissage in der Gemeinde Lachatao am 20.03.2014 zum Equinoccio-Fest

Im Rahmen der Ausstellung (die am 20.03.2014 zeitgleich mit dem EquinoccioFest stattfand) boten mir die Gespräche der Gemeindemitglieder Einblicke in deren Perzeptionsweisen, ästhetische Vorstellungen und Werte. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede, wie verschiedene Personengruppen über Fotografien sprechen oder sie verwenden, um über andere Dinge zu sprechen. Das Fotopro-

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jekt zeigte und produzierte zugleich eine visuelle Kommunikation11 in der Gemeinde, die sich um die dörfliche Repräsentation und die Natur drehte. Diese Forschungsmethode trug einen wesentlichen Anteil zur Herstellung und Konfiguration des Forschungsgegenstands bei und verstärkte die visuelle und diskursive Repräsentation der Gemeinde durch Natur und eine damit einhergehende Naturästhetik. Insbesondere das Fotoprojekt erreichte durch den Verkauf der Postkarten und Kalender eine gewisse Öffentlichkeit und unterstützte so auch die auf Natur bezogene Identitätspolitik der Gemeinde.

4.3 SELBSTREFLEXION: ÜBER ROLLENZUWEISUNGEN, POSITIONIERUNGEN UND DIE MITKONSTITUTION DES FORSCHUNGSGEGENSTANDES Das Bewusstsein über die eigene Rolle in der Feldforschung ist ein wichtiges analytisches Mittel, um den Austausch über Ideen, Vorstellungen und Wahrnehmungen nachzuvollziehen: „the ‚self‘ as informant and as a mediator between one and another cultural context moves away from the fantasy of an objective neutral fieldworker“ (Mand 2004, S. 37). So geht eine kritische qualitative Forschung davon aus, dass die Persönlichkeit des Feldforschers bzw. der Feldforscherin sowie „die Interaktion des Forschers mit seinen ‚Gegenständen‘ […] systematisch als Moment der ‚Herstellung‘ des ‚Gegenstandes‘ selbst reflektiert [werden muss]“ (Kardoff 1995, S. 4). 4.3.1 Zwischen Touristin und Ethnologin Die Differenzierung zwischen TouristInnen und EthnologInnen bestimmt eine Debatte, die mit der Zunahme des Tourismus bis in abgelegene Regionen notwendig wurde (Crick 1995). Die Frage der Differenzierung stellt sich um so mehr bei der ethnologischen Forschung in einem touristischen Ort. So unterschied ich mich äußerlich wenig von anderen westeuropäischen oder angloamerikanischen TouristInnen: weiß, mittleres Alter, ohne männliche Begleitung, in Outdoorkleidung mit Rucksack. Die Unterscheidung zwischen EthnologInnen und TouristInnen ist seitens der lokalen Bevölkerung weniger von Bedeutung als 11 Zur visuellen Kommunikation vgl. O’Reilly 2005, S. 164. Frühe Beispiele sind die Arbeiten von Sol Worth, der sich der visuellen Kommunikation durch „found data“ im Feld zuwandte und die zugrundeliegenden visuellen Kodes analysierte (Worth 1980).

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für die Definition des Faches, da beide Gruppen gleichermaßen als Fremde/r klassifiziert werden: „[a] temporal sojourner who does not share the essential qualities of the host group“ (Nash 1989 [1974], S. 44; vgl. Gemeinsamer Arbeitskreis Tourismus und Ethnologie (GATE e.V.) 2005). Mag der Fremdheitsstatus für beide Gruppen gleichermaßen zutreffen, so wird er meiner Erfahrung nach jedoch graduell differenziert: Hierbei spielen die Länge des Aufenthalts, die Rückkehr, wie die Intensität und Art der Interaktion mit der Gemeinde eine entscheidende Rolle. Die Zuschreibungen an den/die ForscherIn ändern sich im Verlauf der Forschung und sind zentral für das Verständnis der erhobenen Daten. Die anfängliche Einordnung als Touristin wurde durch meine Mithilfe im Ökotourismus sowie meine Teilnahme an den tequios und anderen Gemeindetätigkeiten (z.B. Bedienen im Restaurant, Küchenarbeit) revidiert. Die dichte Teilnahme ermöglichte es mir, bis zu einem gewissen Grad die üblichen sozialen Interaktionsformen zwischen TouristInnen bzw. anderen WissenschaftlerInnen und den Gemeindemitgliedern zu durchbrechen. Besonders die wiederkehrenden Aufenthalte im Verlauf von drei Jahren waren förderlich, um meine Repräsentation bzw. Position als „der Gemeinde zugehörig“ zu festigen, die sich im Hinblick auf die Phasen meiner An- und Abwesenheit von der Mobilität anderer Gemeindemitglieder nicht wesentlich unterschied. Mobilität und zirkuläre Remigration befördern einen gewissen Umgang mit „Fremden“ und deren „partieller“ Integration in das Gemeindeleben – was auch für mich den Zugang erleichterte. Fremdheit ist hier relativ zu verstehen, da sie seitens der Gemeindemitglieder im Sinne von „nicht zugehörig sein“ je nach Situation und Person neu bestimmt wird. Zu unterscheiden und Unterschiede zu benennen – etwas als „eigen“ oder „fremd“ zu definieren – ist grundlegend für das menschliche Denken und Wahrnehmen (Kohl 2011, S. 199) – eine Frage, die sich durch den Tourismus auf neue Art und Weise stellt. Aufgrund meiner Forschung wurde mir ein Expertinnenstatus in Bezug auf Ökotourismus zugewiesen, der mir zum einen detaillierte Einblicke in die ökotouristischen Prozesse ermöglichte. Zum anderen bewirkte diese Rolle, dass ich häufig um Rat gefragt wurde. Rat zu erteilen war aufgrund meiner mangelnden Kenntnisse über Tourismuswirtschaft und meiner Rolle als Ethnologin schwierig und stellte einen Balanceakt dar, bei dem ich Ratschläge nicht komplett verweigern konnte und zugleich versuchen musste, meine Rolle als Lernende zu betonen und den Expertinnenstatus an Gemeindemitglieder selbst zu delegieren. Als Nachweis für meinen Status als Lernende diente vor allem die teilnehmende Beobachtung an verschiedensten Gemeindeaktivitäten. Wie sich schon beim ersten Gespräch mit Ángel zeigte, sind sich führende Gemeindepersönlichkeiten der Bedeutung ethnologischen Wissens im Ökotourismus bewusst. Dies hatte zur

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Folge, dass mir gegenüber häufig gezielt kulturelle Aspekte vorgestellt und betont wurden, die als repräsentativ angesehen werden. Meine Anwesenheit diente somit (ähnlich wie die von TouristInnen) dazu, sich der eigenen kulturellen Charakteristika zu versichern. In repräsentativen Situationen wurde mir häufig die Rolle als Kulturvermittlerin (cultural broker) zugewiesen. Ich wurde mit „ella es de Lachatao“ vorgestellt und häufig spontan in informellen oder formellen Kontexten aufgefordert, mich vor TouristInnen oder anderen BesucherInnen zu gewissen „repräsentativen“ Themen wie tequios oder dem Umweltbewusstsein in der Gemeinde zu äußern. Bei Gemeinderepräsentationen, insbesondere im Kontext des Ökotourismus, wurde die längerfristige Anwesenheit von mir und anderen Personen, wie der bereits erwähnten Dichterin oder den Ökotourismusberatern Frida und Salvatore, dazu verwendet, die Gemeinde als weltoffen und attraktiv für Menschen aus der ganzen Welt darzustellen. Das Interesse an und die Verwendung von ethnologischem Wissen zu repräsentativen Zwecken zeigten sich besonders an der Integration von mir als Ethnologin und des indigenen Anthropologen Jaime Luna in einer öffentlichen Gesprächsrunde zu den usos y costumbres in der Gemeinde. Diese war Bestandteil des offiziellen Programms des Equinoccio-Fests 2015 und zeigt, wie führende Gemeindepersönlichkeiten strategische Allianzen zu WissenschaftlerInnen knüpfen und diese für sich nutzbar machen. Aufgrund meiner Kontakte zu den Gemeindemitgliedern in Oaxaca bestand seitens der führenden Gemeindepersönlichkeiten im Dorf das Interesse, über die dortigen Vorkommnisse und Haltungen gegenüber dem Dorf informiert zu werden. Dies stellte für mich eine beständige Gratwanderung im machtpolitischen Kontext der Gemeinde dar, in der ich mich mit Vorsicht bewegte und auf den Berufsethos der Anonymitätspflicht berief. Dennoch wurde ich als Interessenvertreterin des Dorfes wahrgenommen und klar auf der Seite los del pueblo positioniert. Dadurch, dass ich bei repräsentativen Gemeindeveranstaltungen wie Festen, Sportveranstaltungen oder politischen Ereignissen mit der Gemeinde auftrat, wurde ich auch im weiteren regionalen Kontext Lachatao zugeordnet, was dazu führte, dass andere Gemeinden mir mit Vorbehalt begegneten (vor allem in Bezug auf Ressourcenkonflikte). 4.3.2 Mitkonstitution des Feldes und der Forschungsergebnisse – Gemeindefotografin Meine Anwesenheit als Ethnologin in Lachatao wirkte sich jedoch nicht nur auf das Verhalten sowie die diskursiven und performativen Praktiken der ForschungsteilnehmerInnen aus, sondern auch als Person und Wissenschaftlerin war

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ich (bzw. bin ich nach wie vor) an den Identitätsprozessen der Gemeinde und der Aneignung von umweltbezogenen Diskursen beteiligt. Ich gestaltete das Feld, die Debatten um umweltbewusstes Verhalten, ökologische Praktiken und Normen sowie die damit verbundenen Emotionen und Affekte (Emotive) durch mein Interesse und meinen persönlichen Bezug zum Thema mit. Dabei spielten meine Sozialisation zur Zeit der Umweltbewegungen der 1980er und 1990er Jahre in Deutschland, mein Interesse am Umweltschutz und meine affektive „Naturverbundenheit“ eine Rolle, die sich in Gesprächen und Verhaltensweisen zeigten (beispielsweise in meinen häufigen Joggingläufen in den Wald). Dabei verstärkte ich die idealisierenden Diskurse über das natürliche und ursprüngliche Leben in der Gemeinde und wirkte wie ein Katalysator, der die Ausdifferenzierung von persönlichen Haltungen bzw. Repräsentationen der Gemeindemitglieder zum Thema Natur verstärkte. Insbesondere mein Interesse an der Fotografie, die fotografische Dokumentation von Gemeindeaktivitäten und das oben beschriebene Fotoprojekt verstärkten gewisse identitätspolitische Prozesse, vor allem in Bezug auf die Natur. Über die positive Rolle der Fotografie in Feldforschungen wurde schon hinreichend geschrieben (Pink 2013, S. 64–68). Auch in meiner Forschung erwies sich das Fotografieren – unabhängig von der bereits beschriebenen visuellen Methodik – als integrative soziale Praxis, die mich nach kurzer Zeit zur „Gemeindefotografin“ machte. Dies ermöglichte es mir zum einen, das Ökotourismuskomitee mit Fotografien für die Werbung des Projektes und Anträge beim CDI zu unterstützen. Zum anderen konnte ich dadurch in Kontakt zu den Gemeindemitgliedern und BesucherInnen treten und die Beziehungen durch das Verschenken von Fotografien festigen. Zum dritten ermöglichte mir das Fotografieren (zum Beispiel bei Veranstaltungen), meine Positionen im Raum ohne weiteres zu wechseln, was sich als sehr günstig für die teilnehmende Beobachtung und das Knüpfen von Kontakten darstellte. Als Fotografin aufzutreten bot mir auch die Möglichkeit, bei privaten Einladungen wie zu Geburtstagsfeiern und Hochzeiten im reziproken Austausch Fotos verschenken zu können – was mit dazu führte, dass ich häufig mit der Bitte zu fotografieren zu Festen eingeladen wurde, was mir viele interessante Einblicke und neue Kontakte ermöglichte. Ein zentrales Element in meiner Forschung stellte das Fotoprojekt dar. Der gemeindeinterne Prozess, sich reflexiv mit den lokalen Naturbeziehungen auseinanderzusetzen, wurde durch die Forschung und insbesondere durch das Fotoprojekt gestärkt und erweiterte sich über den Ökotourismus hinaus auf weitere Personen. Damit förderte ich die Werte und Normen, die damit in Verbindung stehen, sowie jene Personengruppen, welche diese vertreten, insbesondere im Ökotourismus.

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4.4 VERFASSEN DER ARBEIT 4.4.1 Auswertung Die Auswertung der Daten erfolgte intervenierend zwischen den Feldforschungsaufenthalten und diente der Reflexion des Forschungsprozesses sowie der gegenstandsorientierten Konzeption des Methodeneinsatzes. Zudem wurden die Analyseergebnisse auf internationalen Konferenzen, in Workshops und Kolloquien vorgestellt sowie mit WissenschaftlerInnen und Peers verschiedener Disziplinen in Deutschland und Mexiko diskutiert. Über achtzig Interviews, Hunderte von Seiten Tagebuchaufschriebe, Beobachtungsprotokolle, Tausende von Fotografien und Videoaufzeichnungen, kistenweise Sekundärmaterial wie Werbeflyer oder Zeitungsauschnitte – die Frage, wie man mit der unglaublichen Fülle an Daten umgehen kann, stellt sich bei den meisten Feldforschungen. Dem Umfang der Daten vollkommen gerecht zu werden ist aus ökonomischen und zeitlichen Gründen nicht möglich. Um die Heterogenität indigener Naturbeziehungen abzubilden, orientierte ich mich bei der Analyse am Prinzip der maximalen strukturellen Variation (Kruse 2011, S. 87; Kleining 1982). In der abschließenden Phase wurden die ausgewählten verschriftlichten Daten (insbesondere die Interviews) im Hinblick auf Unterschiede und Ähnlichkeiten systematisch kontrastiert und gemäß der grounded theory kodiert (Glaser und Strauss 1998 [1967]). Um die Datenmengen handhabbar zu machen, griff ich teilweise auf das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse zurück (Mayring 2003). Die gegenstandsbezogene Kodierung erfolgte durch offene, axiale und schließlich selektive Kodes, die in der Praxis miteinander kombiniert und während des Analyseprozesses beständig weiterentwickelt wurden. Vor allem durch die reflexive Kontextualisierung der Daten und deren wechselseitige Triangulierung zeigte sich, wie Personen in verschiedenen Kontexten ökologische Diskurse mit verschiedenen Praktiken in Verbindung setzten. Zentraler Bestandteil der Datenauswertung sind die Reflexion der Rolle und die Position als Forscherin im Feld, wofür ich auf die Tagebuchaufschriebe und Interviewprotokolle zurückgriff. Für die Analyse der verschriftlichten Daten, Feldtagebücher, Beobachtungsprotokolle und Interviewtranskripte nutzte ich neben klassischen Auswertungsverfahren das computergestützte Auswertungsprogramm MAXQDA. In der Literatur werden verschiedene Erwartungen an die Verwendung von Software für die Analyse qualitativer Daten diskutiert. Die „realistischen Hoffnungen“ beziehen sich auf eine größere Schnelligkeit bei der Auswertung, eine bessere Nachvollziehbarkeit der Qualität der Analyse durch die Dokumentation sowie eine

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Verbesserung der Konsistenz in der Auswertung (Weitzman 2000). Zudem wird eine höhere Transparenz des Forschungsprozesses diskutiert, da die Daten so besser organisiert und verwaltet werden und der Prozess der Textanalyse bis hin zur Entwicklung der Kategorien transparent und nachvollziehbar wird (Flick 2014, S. 470). Meiner Erfahrung nach begünstigt das Verfahren vor allem einen systematischen Vergleich durch die Zuordnung von Variablen zu den ForschungsteilnehmerInnen (Gender, Alter, Migrationskontext) sowie zur Art der Quelle (informelle Gesprächsnotizen, formelle Repräsentationssituationen sowie verschiedene Interviewtypen: Fotoprojekt, Leitfadeninterviews, ExpertInneninterviews und narrative Interviews). Von Nachteil ist jedoch ein sehr großer Zeitaufwand, der notwendig ist, um die Daten nutzbar und vergleichbar zu machen. Zudem kann die logische und graphische Darstellungsstruktur des Programms zu einem inflationären Anwachsen der Kodes und einer gewissen Mechanik bei der Kodierung führen, was den Analyseprozess eher behindert. Auch impliziert die Darstellungsweise des Programms eine Dekontextualisierung der Daten, was die Kombination mit anderen Auswertungsverfahren nahelegt. Um die theorierelevanten Entscheidungen während des Analyseprozesses nachvollziehbar zu machen, fertigte ich Memos an. Sie sind das wichtigste Werkzeug beim freien Nachdenken über die Daten sowie für eine gegenstandsorientierte Theoriegenerierung und sind auch strukturell in das Programm MAXQDA aufgenommen worden (Strübing 2008, 34 f.).12 4.4.2 Darstellung – Schreibprozess „Das, was Ihr macht, ist gut, aber es ist eine andere Sache, es ist die Theorie und nicht die Praxis. Es hat nicht viel mit der Praxis zu tun, denn wir sind mit anderen Problemen konfrontiert, wir verwenden andere Konzepte.“ (Ángel_Gesprächsnotiz_13.2.2014)

So äußerte sich Ángel in einem Gespräch über die Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen und ihre Nützlichkeit für die lokale Praxis. Die wissenschaftlichen Konzepte und Begriffe korrespondierten nicht mit lokalen Konzepten („tenemos otros conceptos“), weswegen ein Dialog schwierig sei und schließlich nur sie selbst ihre Probleme lösen könnten. Darin spiegeln sich grundlegende Schwierigkeiten ethnologischer Arbeit wider: emische Konzepte nur aus dem „Eigenen“ heraus verstehen zu können; die Frage, für welches Publikum geschrieben wird; die Problematik, wie die Ergeb-

12 Zur Diskussion über die computergestützte Auswertung qualitativer Daten vgl. Flick (2014, S. 451–487).

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nisse „präsentiert“ werden; sowie der Umstand, dass die eigenen Forschungsinteressen nicht mit denen der Gastgesellschaft übereinstimmen müssen (Heidemann 2011, S. 47). Dies wirft Fragen der Repräsentation und der Ethik auf, die sich bei jeder ethnologischen Arbeit erneut stellen. Jeder Text ist eine Verdichtung und Reduktion von persönlich erlebten Erfahrungen auf wenige Seiten, die Wiedergabe von Zitaten aus stundenlangen Gesprächen, die immer als „partial truths“ (im Sinne von „Teilwahrheiten“ und „parteiische[n] Wahrheiten“) zu verstehen sind (Clifford und Marcus 1986). Ein ethnologischer Text basiert auf „ethnografischen Momenten“; diese sind immer als „multiple constituted“ (Halstead 2008, S. 2) zu verstehen, da sie auf in der Vergangenheit beobachteten Situationen basieren, die jedoch im Analyseprozess neu verstanden und eingeordnet werden. Insofern ist ein ethnologischer Text das Produkt eines doppelten Erlebens und Beobachtens, der teilnehmenden Beobachtung in der Feldforschung und der „teilnehmenden Erinnerung“ in der Analyse. Als Endprodukt entsteht ein Text, der die kontextuellen Bedingungen der Übersetzungsprozesse – seine Grundlagen, Erkenntnisprozesse und die Autorenschaft – reflektiert und in einem ethnografischen Präsens darstellt (Halstead 2008, S. 2). Das ethnografische Präsens ist auch als zentrale Darstellungsform des vorliegenden Textes gewählt, will damit aber nicht die Objektivität und Allgemeingültigkeit oder gar „Geschichtslosigkeit“ der Ergebnisse repräsentieren, sondern ist Ausdruck der beschriebenen ethnologischen Wissensproduktion. Das ethnologische Wissen wird dialogisch hergestellt, worin sich Konstruktionen des „Eigenen“ und des „Fremden“ aufs Engste miteinander verbinden (Clifford 1986, S. 23). Dies gilt für den vorliegenden Text gleichermaßen wie für die Personen aus Lachatao, die ihrerseits kulturell Fremdes und Eigenes in dialogischen Prozessen aushandeln. Dies soll jedoch nicht den Sinn ethnologischer Forschung in Frage stellen, sondern vielmehr dafür plädieren, die komplexen interaktiven und kontextbedingten Prozesse mit ihren Schwierigkeiten offenzulegen: „[The] text itself becomes a reflexive critique of its own foundations, practices and achievments“ (Josephides 2012, S. 89). Hier stimme ich mit Narmala Halstead darin überein, dass die ethnologische Wissensproduktion sich gerade durch diese Reflexivität des Wissensproduktionsprozesses auszeichnet (Halstead 2008, S. 4). Dabei geht es vor allem darum, die interaktiven Prozesse kultureller Phänomene und ethnologischer Wissensproduktion verständlich zu machen und aufzuzeigen, dass sie multiperspektivisch, machtdurchdrungen und inkongruent sind (Clifford 1986, S. 15). Daran verdeutlicht sich, wie ich als deutsche Wissenschaftlerin und Frau an der Konstruktion des Feldes sowie an der diskursiven Performanz und Interaktion der beteiligten Personen und somit der vorliegenden Ergebnisse mitbeteiligt bin.

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4.4.3 Ethische Fragen In der Feldforschung sowie bei der Verschriftlichung der Ergebnisse ist der/die EthnologIn kontinuierlich mit ethischen Fragen konfrontiert. Diese können nie abschließend beantwortet werden, da sie ihre Dynamik erst im Feld und im Kontakt mit spezifischen Personen, Kontexten und Institutionen entwickeln (Flick 2014, S. 69). Eine Forschungsethik äußert sich in der Reflexion und Sensibilität für Grenzen, die sich an den lokalen, emischen Kriterien orientieren. Ein respektvoller Umgang impliziert, Gespräche an kritischen Punkten nicht zu forcieren oder Stellungnahmen einzufordern und Gespräche in möglichst flachen Hierarchien zu halten, in denen die ForschungsteilnehmerInnen frei entscheiden können, was sie erzählen und was sie lieber verschweigen möchten. Gleichermaßen entschied ich mich dagegen, sozialen Situationen beizuwohnen, in denen ich offensichtlich durch meine Anwesenheit störte. Dies war häufiger der Fall bei Männergruppen, die nach kollektiven Ereignissen wie tequios zustande kommen und einen wichtigen Raum darstellen, um über gemeindepolitische Angelegenheiten zu sprechen. In diesen Situationen erforderte es großes Feingefühl, um zu wissen, ob bzw. wie lange meine Anwesenheit geduldet wurde. Ein ethischer Umgang impliziert Respekt vor der Selbstbestimmung der beteiligten Personen sowie den Regeln der Gemeindepolitik und nicht, als deutsche Wissenschaftlerin auf ein „Recht an Informationen“ zu bestehen. Dass meine Anwesenheit in der asamblea (größtenteils) geduldet wurde, wurde mir gegenüber als Vertrauensbeweis dargestellt, da dort kritische gemeindepolitische Themen besprochen werden und die Anwesenden aufgrund der Konflikte mit den benachbarten Gemeinden und staatlichen Behörden zur Geheimhaltung aufgefordert sind. Wie bereits ausgeführt, spielte dabei meine Rolle als weibliche Ethnologin auch eine Rolle (vgl. Kapitel 4.2.2). Die Konflikte um die Ressourcennutzung der Wälder und Quellen sowie den Bergbau sind politisch brisant und durch ökonomische Interessen verschiedenster Akteure (Gemeinden, mehrere staatliche Behörden, NGOs etc.) aufgeheizt. Politisch brisante Aspekte sowie gemeindeinterne Konflikte, deren Weitergabe nicht im Sinne der ForschungsteilnehmerInnen liegen, habe ich nicht in den Text aufgenommen. Sie flossen jedoch als Kontextwissen in die Analyse ein und erweiterten mein Verständnis der gemeindeinternen und lokalpolitischen Prozesse. Wie Frank Heidemann impliziert, galt meine „primäre Loyalität […] der untersuchten Gruppe und nicht der eigenen Herkunftsgesellschaft (also implizit euro-amerikanischen Wissenschaftsbetrieben)“ (Heidemann 2011, S. 47). In diesem Werk habe ich weitestmöglich versucht, die Gedanken, Bewertungen und Äußerungen von den soziodemografischen Daten zu trennen, um ein-

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zelne Personen nicht erkennbar zu machen. Kritische Aussagen habe ich im Hinblick auf die politischen Spannungen in der Gemeinde zum Schutz der jeweiligen Person nicht personengebunden dargestellt. Bei den Namen handelt es sich um Pseudonyme; auch wenn aufgrund der geringen Größe der Gemeinde und der jeweiligen politischen Position die Namen der einzelnen Personen leicht zu ermitteln sind, gewährleistet dies dennoch eine gewisse Anonymität. Auch die Namen der TeilnehmerInnen des Fotoprojekts sind anonymisiert. Die postkoloniale Frage bleibt zentral und stellt sich bei jeder Forschungsarbeit erneut: Wie positioniert man sich als EthnologIn in einem lokalen Feld, und welchen Nutzen hat die lokale Bevölkerung davon? Wie das an den Anfang gestellte Zitat aufzeigt, wurden diese Fragen auch von den ForschungsteilnehmerInnen selbst gestellt. Als EthnologInnen sind wir demnach dazu aufgefordert, in einen Dialog zu treten. In Lachatao stellte das Fotoprojekt eine gute Möglichkeit dar, mein Forschungsinteresse an Naturwahrnehmungen mit dem Gemeindeinteresse an (ökotouristischer) Repräsentation zu verbinden. Jedoch bleibt auch hier, in einer so günstigen Interessenkoalition, zu reflektieren, dass Interessen des „Gemeinwohls“ in keiner Weise unumstritten sind und nicht mit den Partikularinteressen einzelner Personen übereinstimmen müssen. Abschließend transferiert diese wissenschaftliche Arbeit meine persönliche Erfahrung der Feldforschung, die vielfältigen Begegnungen und die ‚Vielzahl der Stimmen‘ in den eigenen Erfahrungshorizont und reflektiert diesen Prozess gemäß einer postmodernen Ethnologie selbstreflexiv (Kohl 2011, S. 129).

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Viva la naturaleza al máximo: Die performative Herstellung von Naturen

5.1 ÖKOTOURISMUS UND DIE VERÄNDERUNG DER NATURBEZIEHUNGEN: NATUREN ALS KONZEPTUELLER ANSATZ „Viva la naturaleza al máximo“1 – so lautet der Werbeslogan des Ökotourismusprojekts in Lachatao und verdeutlicht damit die zentrale Stellung der Natur (naturaleza) als touristisches Angebot. In der Literatur zu Ökotourismus werden besonders zwei Aspekte zur Beziehung zwischen Mensch und Natur diskutiert: Zum einen wird der Frage nachgegangen, inwiefern Ökotourismus zur Entwicklung eines nachhaltigen Umweltschutzes beiträgt (West und Carrier 2004), zum anderen, inwiefern dadurch lokale Naturbeziehungen verändert werden (Jamal und Stronza 2008; Vivanco 2002). Der zweite Punkt wird häufig unter dem Gesichtspunkt der Kommodifizierung diskutiert (Medina 2015; Igoe 2010; Cater 2007). Daran zeigt sich die programmatische Ausrichtung von Ökotourismus und ökotouristischer Forschung, die auf einer konzeptuellen Trennung von Natur und Kultur aufbaut und davon ausgeht, dass Menschen (und ihre Kultur) die Umwelt zerstören, diese also als schützenswerte Natur vor der menschlichen Kultur bewahrt werden müsse (Dove und Carpenter 2008, S. 3). Zweifellos verändert Ökotourismus die lokalen Naturbeziehungen, indem neue Praktiken etabliert werden (beispielsweise Naturschutz oder Mülltrennung) und traditionelle Praktiken verboten, neu bewertet oder revitalisiert werden (z.B. Subsistenzlandwirtschaft). Um diese Veränderungsprozesse aus einer akteurszentrierten Perspektive zu verstehen, ist die Ebene der Praxis von zentraler Bedeutung. Ethnologische Herangehensweisen wie jene von Kay Milton zeigen, dass das Verständnis der Umwelt eng mit den Praktiken und diese wiederum mit

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„Lebe die Natur bis zum Maximum“.

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der Lebensweise in Verbindung stehen (Milton 1997, S. 490). Folglich wirkt sich der Ökotourismus auch auf das Verständnis von Umwelt und der persönlichen Beziehung zu ihr aus. Um diese Prozesse in der Gemeinde Lachatao beschreibbar zu machen, wird in der vorliegenden Arbeit der konzeptuelle Ansatz von Naturen entwickelt. Dabei gehe ich von einer performativen Herstellung von Naturen aus, die nicht nur diskursiv repräsentiert, sondern vor allem durch Praktiken und Bedeutungszuweisungen von verschiedenen Akteuren konstituiert werden. Ausgangspunkt ist ein Verständnis der natürlichen Umwelt bzw. der Natur als „kulturell mitstrukturierter, dynamischer Interaktionspartner des Menschen“, der somit als relational zu verstehen ist (Gingrich und Mader 2002, S. 22). Auch Abram und Lien sprechen davon, dass die Natur nicht unabhängig vom Menschen zu verstehen ist, sondern sich durch Handlungen und Bedeutungszuweisen konstituiert: „Nature is produced, enacted or performed, discursively as well as in material and relational practices“ (Abram und Lien 2011, S. 12). So wird ein physischer Ort in der Natur, wie die Valenciana in Lachatao, diskursiv als prähispanische Stätte und Symbol von Natur gekennzeichnet. Er wird folglich durch bestimmte Handlungen gestaltet, von Gestrüpp und Abfall befreit. Dadurch werden die Verhaltensweisen der Gemeindemitglieder normativ organisiert und ihre Wahrnehmung emotional geprägt. So wird nicht nur der Ort „hergestellt“, mit Bedeutung versehen und materiell gestaltet, sondern auch die Menschen selbst verändern sich durch ihre Beziehung zu diesem Ort. Dementsprechend wird die Vorstellung von Natur vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen erschaffen und in Abhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Kontexten modifiziert (Cosgrove 2008). Die Natur wird somit nicht nur durch physische Merkmale bestimmt, sondern konstituiert sich auch durch symbolische Bedeutungszuschreibungen und Emotionen (Chhetri et al. 2004; Milton 2002). Wie bereits erwähnt, werden „westliche“ Konzepte von Natur, 2 die auch mit dem Ökotourismus transportiert werden, nicht einfach übernommen, sondern mit lokalen Konzepten verbunden, die dadurch verändert werden. Um diese Transformationsprozesse und Multiplikationen der lokalen Naturbeziehungen be-

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Kay Milton macht darauf aufmerksam, dass auch das „westliche“ Konzept von „Natur“, das als multipel zu verstehen ist, nicht immer im Gegensatz zu „Kultur“ steht. Durch die unterschiedlichen Arten der Interaktion mit der Umwelt wird diese auf unterschiedliche Weise erfahren, bekannt und kategorisierbar. Die Konzepte von „Natur“ sind dementsprechend auch innerhalb einer Gesellschaft immer komplex und vielseitig: „[C]oncepts of nature in industrial societies are complex and ambiguous, as they will be, to varying degrees, in any society whose members engage with their environment in diverse ways“ (Milton 1997, S. 490).

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schreibbar zu machen, ist es sinnvoll, von Naturen im Plural zu sprechen. Wie ich aufzeigen werde, sind diese an verschiedene physische Räume gebunden und stehen alle mit touristischen romantisierenden Vorstellungen von Natur (im Sinne einer, schützenswerten Natur) in Verbindung. Sie unterscheiden sich jedoch durch die Verknüpfung mit verschiedenen lokalen Konzepten, Bedeutungen und Praktiken sowie durch die involvierten Beteiligten. Aufgrund der Datenanalyse konnte ich in Lachatao drei Naturen differenzieren: 1) eine „unberührte schützenswerte Natur“ (éste es un área virgen); 2) eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen); sowie 3) die „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural). Die Trennung zwischen diesen Naturen ist weder in Bezug auf den Raum noch bei den Praktiken oder Bedeutungen feststehend, sondern als eine Art Ordnungssystem zu verstehen, das von verschiedenen AkteurInnen durch sich wiederholende Handlungen hergestellt wird. Der konzeptuelle Ansatz von Naturen ermöglicht es so, die situative Zusammenstellung von Konzepten, Bedeutungen und Praktiken in Bezug zur Umwelt zu beschreiben. So kann beispielsweise die Subsistenzlandwirtschaft je nach Kontext und Personen als Ausdruck eines natürlichen Lebens auf dem Land, als „rückständige“ umweltschädigende Wirtschaftsweise oder als Zeichen einer spirituellen Beziehung zur Umwelt dargestellt werden. Der Fokus dieses Ansatzes liegt auf den Praktiken und ihrer Repräsentation, wie es auch Abram und Lien beschreiben: „Hence, a focus on performativity involves a shift from questions of correspondence between the ‚said‘ and the ‚done‘ to a concern with how realities are being done linguistically, materially, corporeally and so on“ (Abram und Lien 2011, S. 8). Wie ich aufzeigen werde, werden die Naturen in Lachatao durch diskursive, materielle und körperliche Praktiken hergestellt sowie anhand touristischer Normen organisiert und visuell gestaltet. Geht man von einem relationalen Raumverständnis aus, so werden Räume – und somit auch die Naturen – durch soziales Handeln performativ hergestellt. Durch die Wiederholungen von Handlungen entstehen räumliche Arrangements, die symbolisch markiert werden und damit zusammenhängende Normen vermitteln, die nicht von Machtverhältnissen losgelöst zu betrachten sind (Löw 2015 [2001], S. 210–218).3 Die Naturen sind somit soziale wie auch natürliche Räu-

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Ein soziologisches Raumverständnis geht von einem relationalen Konzept von Raum aus, in dem der Raum als (An-)Ordnung von Körpern (also von Objekten und Lebewesen) verstanden wird, die sich durch Handlungen beständig verändert. Dies unterscheidet sich von einem absoluten Raumverständnis, welches Raum und Körper als voneinander unabhängig versteht (Löw 2015 [2001], S. 158). Martina Löw verwendet den Begriff der (An-)Ordnung in doppeldeutiger Weise: einmal, um auf die Ordnung

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me, die von verschiedenen Personen durch Handlungen hergestellt werden, die mit touristischen Normen und Symbolisierungen in Verbindung stehen. Die beteiligen Personen greifen hier auf verschiedene Praktiken, Konzepte und Referenzrahmen zurück, die mit ökonomischen und politischen Interessen verbunden sind. Wie unterschiedlich die Möglichkeiten dieser Individuen sind, auf die Natur bezogene Handlungen zu praktizieren und normativ zu repräsentieren, lässt sich durch intersektionale Ansätze erklären. Um diese zentralen Aspekte der Naturen in Lachatao greifbar zu machen, wird auf die theoretischen Ansätze des tourist gaze von John Urry (1992) sowie auf Konzepte von Kommodifizierung als Bestandteil einer symbolischen Ökonomie von Sahron Zukin (1995) Bezug genommen. Der tourist gaze bezeichnet die touristischen Wahrnehmungsmuster, die je nach Tourismusform unterschiedlich und immer als multipel zu verstehen sind (Larsen 2014, S. 305). Im Ökotourismus ist vor allem ein romantisierender Blick auf die Natur (romantic tourist gaze) bestimmend, der mit verschiedenen Diskursen über Natur in Verbindung steht und von diesen autorisiert wird. Wie in diesem Buch aufgezeigt wird, müssen unterschiedliche Anstrengungen unternommen werden, um den Eindruck einer touristisch attraktiven unberührten Natur und Natürlichkeit zu vermitteln. Dabei zeigt sich in Lachatao, dass die Visualität ein leitendes Element im Tourismus ist: „[T]he organizing sense in tourism is the visual“ (Larsen 2014, S. 305). Dies konzeptualisierte John Urry als the tourist gaze4, demgemäß Tourismus in erster Linie als „a way of seeing“ und „sightseeing“ verstanden wird (Urry 1990). Grundlegend für das Konzept ist, dass der tourist gaze als touristische (Seh-)Erwartung durch bestimmte Repräsentationen und Technologien (Praktiken) hergestellt wird und sich individuell in dem/der TouristIn sowie in den Personen, die im Tourismus tätig sind, als ein „way of seeing“ manifestiert (Larsen 2014, S. 305). In dem vorliegenden Werk stehen die Sichtweisen und Aneignungen dieser touristischen Vorstellungen und

und Struktur von Räumen hinzuweisen, die durch die Wiederholung von Handlungen manifestiert werden; zum anderen, um die Handlungsdimension der Anordnung zum Ausdruck zu bringen (Löw 2015 [2001], S. 131). 4

Das Konzept wurde seit seiner Entstehung im Jahr 1990 beständig von John Urry erweitert und in Bezug zu verschiedenen theoretischen Ansätzen dargestellt. Larsen beschreibt die Entwicklung des Konzepts von der ersten Version, die die soziokulturelle Ordnung beschreibt, über die zweite Version, die den tourist gaze als globales ordnendes Konzept darstellt, bis zu den neueren Versionen, die ihn als embodiment verstehen und in Bezug zur globalen Ordnung von Ressourcen (in erster Linie Öl) stellen (Larsen 2014).

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Normen seitens der lokalen Bevölkerung im Fokus und weniger die touristischen Seh-Erwartungen und Vorstellungen. Diese lokalen Perspektiven werden in der Literatur auch als local gaze oder counter gaze bezeichnet (Larsen 2014, S. 308). Nach Darya Maoz ist dieser als „wechselseitig“ zu verstehen, da er zwischen lokalen und der Antizipation touristischer Sichtweisen changiert und diese verbindet: „[T]he local gaze is based on a more complex, two-sided picture, where both the tourist and local gazes exist, affecting and feeding each other, resulting in what is termed ‚the mutual gaze‘“ (Maoz 2006, S. 222). In Lachatao zeigt sich die wechselseitige Konstitution des local gaze nicht nur in der touristischen Begegnungssituation, sondern insbesondere im Hinblick auf die Natur und die Zuschreibungen bestimmter Naturbeziehungen auf die BesucherInnen sowie die lokale Bevölkerung. Selbstverständlich kann man nicht von ‚dem‘ local gaze sprechen, sondern von verschiedenen Perspektiven, die verschiedenen Personen in unterschiedlicher Weise zugänglich sind. Welche „ways of seeing“, ästhetischen Normen und Praktiken sich durchsetzen, ist umkämpft und zeugt von den lokalen Machtverhältnissen, die sich im Zugang zu westlichen Diskursen, Geldern und Kontakten ausprägen. Wie Gemeindemitglieder über die Natur sprechen, gibt Aufschluss über ihre soziale Position und verdeutlicht so die Heterogenität der Gemeinde. Durch eine intersektionale Perspektive können hier nicht nur Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den Blick genommen, sondern auch andere Kategorien analysiert werden, durch welche Ungleichheitsverhältnisse produziert werden. Die in der Literatur beschriebenen „klassischen“ Differenzkategorien von Geschlecht (Gender), Klasse und race5 werden (je nach theoreti-

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Das Konzept der Rasse steht mit der kolonialen Expansion Europas in Verbindung. Es wurde zur Erklärung der Andersartigkeit der Menschen außerhalb Europas sowie zur Legitimierung von deren Unterwerfung herangezogen und zeigt die Verwobenheit von Politik und Wissenschaft. Mittlerweile gehen WissenschaftlerInnen davon aus, dass es keine Rassen – im Sinne von biologischen Gegebenheiten geteilter physischer und genetischer Merkmale – gibt, da die Varianz innerhalb sogenannter Rassen genauso groß ist wie zwischen ihnen. Dennoch existiert das Konzept von Rasse als sozialer Zuschreibung und diskursiver Konstruktion. Es wird dazu verwendet, Menschen nach physischen Merkmalen zu kategorisieren, die zumeist zur sozialen Ausgrenzung herangezogen werden (Sökefeld 2007, S. 43–45). Die Konstruktion von Rassen in Mexiko geht gleichermaßen auf die Kolonialzeit zurück und stellt die Grundlage des politischen Konzepts der Mestizaje als Vermischung der indigenen mit der spanischen Bevölkerung dar (Knight 1990). Rassismus spielt in Mexiko eine entscheidende Rolle bei der Organisation des sozialen Lebens, was durch die Überlegenheit der whiteness charakterisiert ist (Moreno Figueroa 2010).

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scher Ausrichtung) um weitere Kategorien erweitert (Degele und Winker 2007) S. 2). In Lachatao ist der tourist gaze und somit die Fähigkeit, die Naturen zu repräsentieren und damit „herzustellen“, nicht nur abhängig von Geschlecht, Klasse und race, sondern auch von der Migrationserfahrung der Gemeindemitglieder. Diese Prozesse bedingen neue privilegierte Subjektpositionen (environmental subjects), die durch das umweltbezogene Wissen der Naturen noch verstärkt werden (vgl. Kapitel 6.1). Wie sich in Lachatao zeigte, sind die touristischen Vorstellungen und visuellen Wahrnehmungen einer schönen und ursprünglichen Naturlandschaft sowie der natürlichen Lebensweise der Gemeindemitglieder richtungsweisend im Ökotourismus und führen zu einer gezielten Gestaltung der Natur und der dörflichen Umwelt. Diese bewusste Gestaltung der Umwelt aufgrund touristischer Kriterien wird von Urry als visual resource management bezeichnet (Urry 1992, S. 19). Demnach werden die visuell als jeweils störend klassifizierten Elemente beseitigt. Im Ökotourismus befördert dies eine Naturästhetik, die sich am Ideal einer ursprünglichen und unberührten Natur orientiert und durch einen romantisierenden Blick auf die Natur (romantic tourist gaze) bestimmt wird. Damit geht die Annahme einher, dass eine romantisierende Naturwahrnehmung den Naturschutz befördern würde (Urry 1992, S. 9). Laut Igoe steht die Ästhetisierung von Natur im Zusammenhang mit visueller Repräsentation von Natur, insbesondere in digitalen Kommunikationsmedien: „Images are not merely representations of late capitalist realities, they are an indispensable part of those realities. They are not different and separate from the conditions that they portray, they are produced by them and, in turn, define and reproduce them.“ (Igoe 2010, S. 376)

Dies zeigt sich anhand der touristischen Werbefotografien auch in Lachatao, die sich darauf auswirken, wie die Umwelt gestaltet wird und welche ästhetischen Naturvorstellungen Gemeindemitglieder entwickeln. Wie ich aufzeigen werde, verdeutlicht sich dies besonders am von mir initiierten Gemeindefotoprojekt. Die Touristifizierung und Ästhetisierung der Natur und dörflichen Umgebung führen dazu, dass Gemeindemitglieder die Natur und Naturbeziehungen durch alltägliche Praktiken auf „neue“ Art und Weise hervorbringen. Dies steht im Zusammenhang mit der von Hobsbawm und Ranger beschriebenen invention of tradition (Hobsbawm und Ranger 1992).6 In Lachatao steht diese in Bezug zu prähis-

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„‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate cer-

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panischen Vorstellungen und verdeutlicht, dass touristische Repräsentationen nicht von politischen zu trennen, sondern grundlegender Bestandteil von Identitätspolitik sind. Dies schließt an die Arbeiten von Michael Hall und Hazel Tucker an, die Tourismus als zentrale impulsgebende politische Ressource in postkolonialen Staaten beschreiben, die entsprechend umkämpft ist (Hall und Tucker 2004). Dies trifft in Lachatao auch für den Ökotourismus zu, durch den Gemeindepersönlichkeiten die Natur bzw. Natürlichkeit identitätspolitisch sowie ökonomisch nutzbar machen. Die ökonomische Wertschöpfung von Natur im Tourismus wird in der Literatur häufig unter dem Aspekt der Kommodifizierung verortet.7 Häufig wird diese jedoch reduktionistisch behandelt: Durch die Zuweisung von ökonomischem Wert an „Natur“ und „Kultur“ gehe deren „ursprüngliche“ Bedeutung verloren, was schließlich zu einem Verlust der Kultur bzw. der traditionellen Naturbeziehung führe (Ruiz-Ballesteros und Hernandez-Ramirez 2010, S. 211; Stronza 2001, S. 270).8 Diese Ansicht ist jedoch unzureichend, weil hiermit die Tatsache übergangen wird, dass die lokale Bevölkerung in vielfältigen, komplexen Beziehungen zur Umwelt steht, die nicht einfach austauschbar sind (Vivanco 2001, S. 90–91). Wie Erik Cohen schon 1988 feststellte, verlieren touristische Produkte nicht einfach ihren früheren Wert, sondern werden vielmehr umgewertet.

tain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past“ (Hobsbawm und Ranger 1992, S. 1). 7

Die Debatte über die Kommodifizierung von Natur und natürlichen Ressourcen steht unter dem Einfluss postkolonialer Theorien, die Ökotourismus als eine Form von Öko-Kolonialismus (oder als Neoliberalisierung der Natur) ansehen und den Diskurs über „tourism as a form of imperialism“ (Nash 1989 [1974]) der 1970er Jahre weiterführen.

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Die frühesten Arbeiten, die den Aspekt der Kommodifizierung im Tourismus behandeln, wurden von Greenwood im ersten ethnologischen Sammelband zu Tourismus von Valene Smith behandelt (Greenwood 1989 [1974]). Wichtige Arbeiten zu diesem Thema wurden auch von Erik Cohen verfasst. Er definiert Kommodifizierung wie folgt: „Commodification is a process by which things (and activities) come to be evaluated primarily in terms of their exchange value, in a context of trade, thereby becoming goods (and services); developed exchange systems in which the exchange value of things (and activities) is stated in terms of prices form a market“ (Cohen 1988, S. 380).

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„Tourist-oriented products frequently acquire new meanings for the locals, as they become a diacritical mark of their ethnic or cultural identity, a vehicle of self-representation before an external public. However, old meanings do not thereby necessarily disappear, but may remain salient, on a different level, for an internal public, despite commoditization.“ (Cohen 1988, S. 383)

Dies lässt sich auch auf die Natur übertragen. Wie Studien aufzeigen, verändern und multiplizieren Kommodifizierungsprozesse die Wahrnehmung, Bewertung und Verhaltensweisen in Bezug auf die Natur (Ruiz-Ballesteros und HernandezRamirez 2010; Stronza 2001). Hier spielen Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle dabei, welche Praktiken sich durchsetzen, verboten oder gefördert werden und welche Personengruppen wie davon betroffen sind. In der Literatur wird dies häufig unter dem Stichwort von Nutzungskonflikten diskutiert, indem lokale Praktiken der Naturnutzung, wie Jagd oder Brandrodungsfeldbau, der touristischen Nutzung der Natur als entgegengesetzt verstanden und verboten werden (Vivanco 2001, S. 90–91). Wie das Beispiel Lachatao zeigt, werden vereinzelt „natürliche“ Produkte oder Praktiken mit ökonomischem Wert versehen (wie landwirtschaftliche Produkte oder turismo rural). Vor allem aber werden Praktiken (wie Naturschutz), die Natur und die dörfliche Umgebung (die visuell gemäß des visual resource management in Szene gesetzt wird) symbolisch bedeutend und durch den Ökotourismus ökonomisch genutzt. Hier kommt es zu Nutzungskonflikten. Lokale Eliten der Region sprechen sich dezidiert gegen die Kommodifizierung natürlicher Ressourcen durch externe Akteure aus, indem sie in Rückgriff auf postkoloniale Argumente einer als „westlich“ verstandenen Kommerzialisierung der Naturbeziehung eigene Konzepte von Naturschutz und Ressourcennutzung entgegensetzen. Diese werden von ihnen in einen Bezug zum Konzept der comunalidad der Zapotecos Serranos gesetzt, das als Grundlage der kommunalen Ressourcennutzung in Form der gemeindebasierten Holzwirtschaft sowie des gemeindebasierten Ökotourismus diskutiert wird (vgl. Kapitel 3.1.2). Führende Gemeindepersönlichkeiten repräsentieren den spezifischen Ökotourismus ihrer Gemeinden in diesem Sinne als Alternative zur kommerziellen Wertschöpfung natürlicher Ressourcen. Damit geht einher, was in der Literatur zu Ökotourismus vielfach beschrieben wurde: Nicht nur die Natur wird zur touristischen Attraktion, sondern auch die Gemeinde selbst, einschließlich ihrer Traditionen (Neudorfer 2007, S. 45). Im Falle der Sierra Juárez steht die soziale Organisation der Gemeinden im Sinne der comunalidad im Vordergrund – insbesondere die Verwaltung des Territoriums und die nachhaltige Ressourcennutzung (Forstwirtschaft, Naturschutz und Ökotourismus). Die Naturbeziehung wird hier zum zent-

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ralen Charakteristikum (branding) in der touristischen Repräsentation. Sie steht unter dem Einfluss touristischer Vorstellungen einer ursprünglichen Natur und traditioneller Lebensweisen in den pueblos indígenas und knüpft an die touristische Suche nach dem „Authentischen“9 im Sinne des Unberührten, Ursprünglichen und Natürlichen an (MacCannell 2004, 1999). „Authenticity is thought to be elsewhere: in other historical periods and in other cultures, in purer, simpler lifestyles“ (MacCannell 1999, S. 3). Wie ich aufzeigen werde, werden die Natur und die lokale natürliche Lebensweise im Sinne eines „purer simpler lifestyle“ in Lachatao zum zentralen Differenzmerkmal der Gemeinde. Dies wird von den Gemeindemitgliedern repräsentiert und performativ dargestellt, wobei seitens der führenden Personen im Ökotourismus darauf abgezielt wird, visuelle sowie emotionale Bilder bei den TouristInnen zu erzeugen. Dies steht im Zusammenhang mit der von Sharon Zukin beschriebenen smbolischen Ökonomie (Zukin 1995). Zukin, die das Konzept mit Bezug auf die Imagepolitik als Marketingstrategie von Städten entwickelte, stellt dar, inwiefern „kulturelle Symbole […] materielle Konsequenzen“ haben (Zukin 1995, S. 268). Die „Produktion“ von Symbolen und immateriellen Produkten wie auch Konzepten beruht demnach auf symbolischen Unterscheidungen und wirkt sich sozial und ökonomisch aus (vgl. Lash und Urry 1994). Dies zeigt sich auch in der „Imagepolitik“ von Ökotourismusgemeinden in der Sierra Juárez, wo der Lebensweise im Sinne der comunalidad einen symbolischen Wert zugeschrieben wird, der (im Gegensatz zum Diskurs) nicht von einem ökonomischen Wert zu trennen ist. Die Naturen in Lachatao – als schützenswerte bzw. traditionelle und spirituelle Natur oder als Natürlichkeit des alltäglichen Lebens – werden also durch verschiedene Beteiligte und Referenzsysteme performativ sowie symbolisch materiell hergestellt. Wie Hobbs darstellt, führt erst diese Performanz zur Erschaffung der Naturen sowie zur Erzeugung des Wissens darüber im alltäglichen Leben: „[p]erformance as a way of broadening out understandings of the way nature, and nature knowledge, is created and re-created through everyday action“ (Hobbs 2011, S. 126–127). Im Folgenden werde ich darstellen, wie verschiedene AkteurInnen in Lachatao durch alltägliche Praktiken, die mit touristischen Vor-

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Das Konzept von „Authentizität“, in dem die Entfremdung des Individuums von Gesellschaft und Natur im Gegensatz zur Ursprünglichkeit und Authentizität des „Edlen Wilden“ („Rousseau-Komplex“) definiert wurde, hat seinen Ursprung in der Moderne (Trupp und Trupp 2009, S. 15). Die Debatte um Authentizität im Tourismus hat seinen Ursprung in den 1970er Jahren, als das Konzept erstmals von MacCannell (MacCannell 1973) verwendet und seitdem vielfach konzeptuell und analytisch weiterentwickelt wurde (MacCannell 2004), auch von Erik Cohen (2012, 1988).

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stellungen von Natur in Verbindung stehen, die lokalen Beziehungen zur Umwelt gestalten. Diese Transformationsprozesse der Naturen ermöglichen es, die Handlungsperspektiven der Beteiligten verständlich zu machen und analytisch mit den theoretischen Ansätzen des tourist gaze sowie einer symbolischen Ökonomie in Verbindung zu setzen. Die Auswirkungen sind für die Gemeindemitglieder sehr unterschiedlich und stehen im Zusammenhang mit den intersektionalen Ungleichheitsverhältnissen (vgl. Kapitel 6.1). Zunächst werde ich die touristischen Prozesse in Lachatao in den sozialen Kontext der Migration einbetten. Das ist notwendig, da das Verhältnis der Gemeinde zu den emigrierten Gemeindemitgliedern entscheidend ist, um die Entstehung der Naturen als soziale Räume nachvollziehen zu können. Ich bezeichne die emigrierten Gemeindemitglieder als die „ersten“ TouristInnen, wobei ich mich an der Rolle orientiere, die ihnen seitens der in der Gemeinde lebenden Personen zugewiesen wird. Diese steht im Widerspruch zu deren Selbstbezeichnung als los/las Lachatenses (Personen aus Lachatao) und deutet auf die komplexen sozialen Prozesse hin, die mit dem Ökotourismus einhergehen. Zunächst wird der Ökotourismus im Kontext der Migration in Lachatao vorgestellt (Kapitel 5.2), gefolgt von der Ausführung der drei Naturen, die sich induktiv aus der Datenanalyse ableiten und diese in schematisierter Weise ordnen. Beginnend mit dem Konzept einer „unberührten, schützenswerten Natur“ (un área virgen) (Kapitel 5.3), werden die ökotouristischen Prozesse beschrieben, die in enger Verbindung zur Programmatik von Ökotourismus und den Regierungsprogrammen steht. Folglich werde ich die Natur so darstellen, wie sie mit der lokalen Vergangenheit und traditionellen Konzepten in Verbindung gesetzt wird (de vuelta al origen) (Kapitel 5.4). Als letzte der Naturen werde ich das natürliche dörfliche Leben im Einklang mit der Natur (todo natural) beschreiben (Kapitel 5.5).

5.2 LACHATAO, UN INSUPERABLE LUGAR PARA REGRESAR A LA NATURALEZA: RÜCKKEHR ZUR NATUR 10 In der neuesten Ökotourismusbroschüre Lachataos aus dem Jahr 2016 heißt es: „Lachatao, ein unvergleichlicher Ort, um zur Natur zurückzukehren und von ihr zu lernen, wobei man in Geschichten und Erinnerungen eintaucht, die von Magie durchdrungen sind“ (Lachatao Expediciones 2014, Übersetzung der Autorin).

10 „Lachatao, ein unvergleichlicher Ort, um zur Natur zurückzukehren“ (Lachatao Expediciones 2014, Übersetzung der Autorin).

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Die Gemeinde knüpft damit an ein romantisches Naturkonzept an, das weltweit ein grundlegender Bestandteil der ökotouristischen Repräsentation ist. Angesichts der enormen Umweltprobleme in Mexiko ist dieses „Zurück zur Natur“ nicht nur ein attraktives Motto für US-amerikanische und europäische TouristInnen, sondern zunehmend auch von Interesse für eine wachsende Zahl von BinnentouristInnen, die vornehmlich aus urbanen Ballungszentren kommen (vgl. Kapitel 3.1; vgl. Baumhackl 2006, S. 185). Auch in Lachatao stellen die in die Stadt emigrierten Gemeindemitglieder die größte Gruppe unter den BesucherInnen, die eine idealisierende Darstellung der Gemeinde im Sinne der comunalidad und einer entsprechenden symbolischen Ökonomie befördern. 5.2.1 Die StädterInnen als TouristInnen „Also ich für meinen Fall gehe lieber ins Dorf als ins Kino. So fühle ich mich wohl. Dort fühle ich mich wohl. Tatsächlich ist das für mich wie ein Zufluchtsort, alles ist vergessen. Alles und nichts weiterzudenken, als dass ich an einem Ort bin, der rundum von Natur umgeben ist. Für mich ist das, als ob alle Personen zu meiner Familie gehören würden.“ (Interview_Penelope_27.3.2013)

So die Aussage von Penelope, einer alleinstehenden Frau Mitte 40 aus Oaxaca, die Lachatao seit ihrer Kindheit nicht mehr besucht hatte. Seit einigen Jahren hat sich ihre Beziehung zur Gemeinde jedoch grundlegend geändert. Sie besucht das Dorf jeden Monat, nimmt an tequios und Dorffesten teil. Ihre „Wiederentdeckung“ der Gemeinde verlief parallel zum Ausbau des Ökotourismusprojekts und geht auf das Jahr 2008 zurück. Die damalige Gemeinderegierung trieb nicht nur den Ökotourismus voran, sondern intensivierte den Kontakt zu migrierten Gemeindemitgliedern. Das damalige cabildo kontaktierte die gut ausgebildeten migrierten Lachatenses in ganz Mexiko (vor allem in Oaxaca-Stadt, MexikoStadt sowie Monterrey) und den USA (vor allem Kalifornien) – sogenannte profesionistas –, um sie für Gemeindeangelegenheiten zu gewinnen. Die in Oaxaca lebenden profesionistas organisierten sich neu und gründeten den Verein der OLAROP (vgl. Kapitel 3.3). Sie engagierten sich fortan verstärkt in Gemeindeangelegenheiten, und führende profesionistas aus Oaxaca organisierten in Kooperation mit dem Komitee des Ökotourismus Ausflüge in die Gemeinde. Bei diesen Ausflügen führen die verantwortlichen Gemeindepersönlichkeiten die Emigrierten durch das Dorf und klären sie über das hiesige Leben und die Kultur auf. Sie präsentieren die Gemeinde in ihrer Zusammengehörigkeit, sozialen Organisation und Kultur sowie in ihrer Geschichte in Anlehnung an die romantisierenden Diskurse der comunalidad. Das Bild von Zusammengehörigkeit und Ge-

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meinsinn wird von vielen migrierten Gemeindemitgliedern artikuliert, wie es beispielsweise Penelope im Verlauf des Interviews weiter ausführt: „Außerdem, im Falle der Personen, die nur ihre persönlichen Interessen sehen, sie verpassen die Gelegenheit, im Dorf zu sein. Sie verpassen die Gelegenheit, im Dorf getröstet zu werden, (…) dazuzugehören.“ (Interview_Penelope_27.3.2013)

Penelope beschreibt ausführlich, wie die ersten Besuche der migrierten Gemeindemitglieder im Dorf verliefen, die sich nicht wesentlich von touristischen Führungen unterschieden. Die wichtigen historischen Gebäude und Orte in der Gemeinde wurden besucht, die Grenzziehungen zu den Nachbargemeinden erläutert sowie die historische Bedeutung des Dorfes dargestellt. Durch diese neue Begegnung mit dem Dorf als Herkunftsort begannen viele der migrierten Gemeindemitglieder, sich vermehrt für die Gemeindegeschichte, die Feste und Traditionen zu interessieren und rehabilitierten die Nutzungsrechte von Grundstücken und Häusern ihrer Familien. Ihr Engagement wurde seitens der damaligen Gemeinderegierung gefördert, die sie vermehrt zur Übernahme von cargos und zur Teilnahme an Gemeindeaktivitäten wie tequios oder fiestas verpflichtete. Migrierte Gemeindemitglieder – nicht nur aus Oaxaca, sondern auch aus anderen mexikanischen Großstädten und den USA – entdeckten so „ihre“ Gemeinde neu. Dabei spielten die medialen Repräsentationen des Dorfes und der Natur in den sozialen Netzwerken eine entscheidende Rolle. Lachatao verfügt wegen des Ökotourismus über eine offizielle Webseite und ein Facebookprofil. Hier werden die Natur Lachataos, das „natürliche“ Leben im Dorf und das touristische Angebot durch das Ökotourismuskomitee repräsentiert. Aber auch die emigrierten sowie in zunehmender Weise jene Gemeindemitglieder, die im Dorf leben, präsentieren hier die Gemeinde und ihr Leben darin. Durch die Internetpräsenz des Ökotourismus kommen auch jüngere Nachfahren von EmigrantInnen mit der Gemeinde und einzelnen BewohnerInnen in Berührung und stehen mit ihnen in beständigem digitalem Austausch. Einige von ihnen, die Lachatao bislang nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen, besuchen das Dorf auf der Suche nach dem Ursprung ihrer Vorfahren. Dies betrifft nicht nur jüngere Personen aus mexikanischen Städten, sondern auch die zweite Generation von EmigrantInnen aus den USA, die die US-amerikanische Nationalität haben und deswegen verhältnismäßig unproblematisch die Grenze überqueren können. Sie nehmen die ökotouristischen Angebote wahr und begeistern sich für die Natur, die sie auf Wanderungen oder Mountainbike-Ausflügen erleben, sowie für die Kultur der Gemeinde. Einige von ihnen kommen im Auftrag ihrer Eltern mit dem Anliegen, Grundstücksverhältnisse zu klären und Bauvorhaben in die Wege zu leiten. Die

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emigrierten Gemeindemitglieder stellen zusammen mit den BinnentouristInnen die wichtigste BesucherInnengruppe der Gemeinde dar. Durch ihre „Wiederentdeckung“ der Gemeinde und ihr Interesse am Ökotourismus werden sie zu zentralen AkteurInnen in den Aushandlungsprozessen der Naturen. Das Verhältnis der DorfbewohnerInnen zu den emigrierten Gemeindemitgliedern ist komplex und wird in Kapitel 6 näher beleuchtet. An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass das verstärkte Interesse und Engagement der Emigranten die sozialen Differenzierungen zwischen den beiden Gruppen verstärkt und darin der Bezug zur Natur eine entscheidende Rolle spielt. Aufgrund der zirkulären Migrationsnetzwerke sind jedoch die Zugehörigkeiten – „die aus dem Dorf“ (los del pueblo) und „die aus der Stadt“ (los de la ciudad) – häufig uneindeutig und bis zu einem gewissen Punkt verhandelbar. 11 Zentral ist, dass sich durch den Ökotourismus mehr Personen unterschiedlicher Herkunft, sozialer Klassen und finanzieller Ressourcen als zuvor der Gemeinde zugehörig fühlen und den Anspruch erheben, sie zu repräsentieren. 5.2.2 „Von der Natur lernen“ Wie der bereits erwähnte Slogan „Lachatao, ein unvergleichlicher Ort, um zur Natur zurückzukehren und von ihr zu lernen […]“ (Lachatao Expediciones 2014, Übersetzung durch die Autorin) zum Ausdruck bringt, sollen die BesucherInnen zur „Natur“ zurückkehren, um von ihr zu lernen. Damit sind nicht nur die migrierten Gemeindemitglieder angesprochen, sondern auch externe BesucherInnen.

11 So lebten viele der jetzt im Dorf lebenden Gemeindemitglieder lange Zeit in MexikoStadt, Oaxaca-Stadt oder anderen mexikanischen Großstädten, oder sie verbrachten einige Zeit in den USA. Dabei handelt es sich sowohl um ältere Gemeindemitglieder, die ihren Lebensabend in der Gemeinde verbringen, als auch um Jüngere, die in den Städten großgeworden sind und sich dann für ein Leben auf dem Land entschieden haben. Viele von ihnen leben in zirkulären Migrationsnetzwerken und leben mal im Dorf und mal in der Stadt – insbesondere im nahen Oaxaca – sowie zu einem geringeren Teil in den USA (was jedoch wegen der hohen Kosten und großen Gefahren des Grenzübertritts sowie einer verschlechterten ökonomischen Lage in den USA seltener geworden ist). Die Situation lateinamerikanischer MigrantInnen in den USA hat sich durch die rigide Migrationspolitik und die Kriminalisierung von MigrantInnen („ZeroTolerance“ Immigration Policy, 2018) unter dem seit 2017 regierenden US-Präsidenten Donald Trump extrem verschlechtert. Der Grenzübertritt ist durch die Militarisierung der Grenze und das Vorhaben, diese mit einer Mauer zu „sichern“, extrem riskanter geworden (vgl. Kapitel 2.1).

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Häufig handelt es sich bei ihnen um Gruppen von Studierenden, die die Gemeinde zu Studienzwecken mit ihren ProfessorInnen besuchen. Sie werden von den ÖkotourismusführerInnen über die besondere Natur und außergewöhnliche Biodiversität in der Region unterrichtet. Vor allem aber stellen die ÖkotourismusführerInnen das besondere Umweltbewusstsein der Gemeinde ins Zentrum. Der Erhalt der Natur wird von lokalen Eliten auf eine Stufe mit dem Erhalt der Kultur der pueblos indígenas/originarios gestellt. „Was wir vorhaben, ist, dass es kein leerer Besuch ist, dass es kein sinnloser Besuch ist, sondern dass die Leute, die kommen, etwas lernen und begreifen, dass das, was Mexiko besitzt, seine indigenen Gemeinden sind. Und was Mexiko tief in sich trägt, mit seinen ursprünglichen Völkern, lohnt sich eben wirklich zu schützen, nicht wahr?“ (Öffentliche Präsentation_Diego_16.1.2013)

So Diego, der Präsident des Ökotourismusprojekts, in der Willkommensansprache an eine Gruppe von Studierenden der Universidad del Mar, die an der Küste des Bundesstaates Oaxaca in Huatulco liegt. Sie saßen in dem Raum, der in der Gemeinde als sala de educación ambiental (wörtlich übersetzt „Umweltbildungsraum“) bezeichnet wird, und folgten der PowerPoint-Präsentation, in der Diego die Gemeinde und das Ökotourismusprojekt vorstellte. In der Präsentation, die zum obligatorischen Programm eines Gemeindebesuchs von größeren Gruppen gehört, werden die Geschichte des Ökotourismusprojekts und dessen Charakteristika, seine Gemeindebasiertheit und die besondere Naturbeziehung explizit hervorgehoben. Diego zeigte Fotografien der zentralen Orte der Gemeinde, von der Dominikanerkirche und dem Rathaus im Dorfzentrum bis hin zu den touristischen Attraktionen in der Natur. Er stellte die Wissensvermittlung über lo que es la Naturaleza als Hauptanliegen des Ökotourismusprojekts dar, und führte im weiteren Verlauf der Rede fort: „Das ist es also, was wir uns zum Ziel gesetzt haben, dass die Leute auch etwas gelernt haben, wenn sie wieder gehen. Und nicht, dass die Leute nur kommen und sagen: ‚Wie schön ist doch die Natur, wie fruchtbar, das ist herrlich. Es ist sehr kalt oder es ist sehr warm, und das war’s, nicht wahr? Dass wir ihnen die Tragweite vermitteln, die die Natur innehat. Unsere Vision ist: täglich eine einzigartige und unvergessliche Erfahrung mit fähigem Personal anzubieten, indem wir die natürlichen Ressourcen und die Kultur unserer Gemeinde nutzen.“ (Öffentliche Präsentation_Diego_16.1.2013)

Als Zielsetzung des Ökotourismus stellt er den „Genuss“ der natürlichen Ressourcen und der Kultur dar (aprovechando los recursos naturales y la cultura).

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Die Bezeichnung der Natur als „natürliche Ressource“ zeigt, dass sich Diego am Diskurs um deren kommerzielle Nutzung durch die Holzwirtschaft in der Region orientiert. Ökotourismus wird von ihm als alternative Ressourcennutzung verstanden, die dem Schutz der Natur wie der Kultur gleichermaßen dienlich sei. Die Wertschätzung der Natur als lo que es la Naturaleza wird von führenden Gemeindepersönlichkeiten als notwendiger Umkehrschluss zur Umweltzerstörung durch die Holzwirtschaft und die Lebensweise in den Städten formuliert. Sie beziehen sich darin auf globale Umweltschutzdiskurse, die die Region als Biodiversitätshotspot auszeichnen und die Zerstörung der Wälder anprangern (vgl. Kapitel 2.3). So führt Diego in einem Interview weiter aus: „Wir können schon sagen, hör mal, auch unsere Berge sind etwas wert, nicht? Und zwar nicht nur Pinien für das Holz. Sie sind wertvoll vom biologischen Sinn her und in all seiner Tragweite. Bis hin zu heimischen Arten, Vögeln, Reptilien, alles, was es hier gibt, Orchideen. Und die sind nicht ökonomisch gesehen wertvoll, nicht wahr? Sondern sie sind eben als Natur wertvoll.“ (Interview_Diego_14.4.2014)

Der Bewusstseinswandel hin zu „que nuestros cerros valen“, wie Diego es ausdrückt, führt zu einer veränderten Bewertung der Umwelt unter Gesichtspunkten der endemischen Artenvielfalt und Biodiversität. Diese Neubewertung wird nicht nur von den Eliten im Ökotourismus formuliert, sondern führt zu einer performativen Herstellung von Naturen im Sinne von unberührter Natur.

5.3 ÉSTE ES UN ÁREA VIRGEN: UMWELT ALS UNBERÜHRTE NATUR 12 „Da erinnere ich mich an die Vergangenheit auf diesem Foto, weil dieses Foto zeigt, wo der Mensch noch nicht war, um die Gegend zu erschließen. Das ist eine unberührte Gegend. Der Mensch war hier noch nicht.“ (Fotoprojekt_Amar_11.3.2014)

So erklärte Amar, ein anerkanntes Gemeindemitglied und früherer síndico, seine Fotografie „La luna en un día de parranda“ („Der Mond an einem Festtag“). Das Bild gewann den zweiten Preis in der Fotoausstellung in der Gemeinde, was von den meisten TeilnehmerInnen damit begründet wurde, dass es die unberührte, „jungfräuliche“ Natur darstelle, die noch frei von menschlichen Einflüssen sei. Für deren Schutz stehe Lachatao ein, so der offizielle Gemeindediskurs.

12 „Das ist eine unberührte Gegend“.

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Abbildung 12: Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Amar, 2014, Titel: „Der Mond an einem Festtag“

Unberührte Natur ist auch zentraler Gegenstand in der touristischen Repräsentation. Sie wird aber ganz entgegen der Bezeichnung als unberührt durch Praktiken performativ hergestellt, sozial verhandelt und materiell verändert. An diesem Prozess sind vor allem die lokalen NaturführerInnen beteiligt. 5.3.1 Die NaturführerInnen: Die Entstehung einer umweltpolitischen Elite „Das ist ja offensichtlich, oder? Und zwar unabhängig davon, wer der Vorstand ist, läuft das Gemeindeprojekt weiter. Ob man es Ökotourismus nennt oder [...] den Wald an sich. Das eine geht mit dem anderen Hand in Hand, aufgrund dessen, dass der Ökotourismus hinter dem Thema des Umweltschutzes steht, nicht?“ (Interview_Diego_14.4.2014)

So erklärte mir Diego, dass der Umweltschutz Grundlage und das Ziel des Projekts darstelle, egal welches Komitee für die Verwaltung des Ökotourismus zuständig sei. Umweltschutz wird zum wichtigen Thema in der Gemeinde, was vor allem durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten vermittelt

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wird, etwa mit der nahegelegenen Universität in Ixtlán (Universidad de la Sierra Juárez, UNSIJ).13 In der Zusammenarbeit mit Gemeinden organisieren die Universitäten häufig Workshops zur Umweltbildung der gesamten Bevölkerung, um ihrem Anspruch auf „partizipative Forschung“ gerecht zu werden. Sie müssen dabei mit der Dorfverwaltung kooperieren, welche die Forschungsvorhaben genehmigen muss, und arbeiten außerdem eng mit den NaturführerInnen zusammen, da diese für die Repräsentation der Natur gegenüber Fremden zuständig sind. Die NaturführerInnen kommen durch die Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen mit naturwissenschaftlichen Diskursen und Konzepten in Berührung. Sie nehmen auch einen gewissen Einfluss auf die Forschungen und befürworten praxisbezogene Projekte, die sie als förderlich für den Ökotourismus ansehen. In Lachatao wurden in Kooperation mit verschiedenen Universitäten Studien über die lokale Flora und Fauna wie Fledermausarten oder Reptilien angefertigt. Einige der Studienergebnisse sind anschaulich aufbereitet, wie ein Faltblatt über die lokalen Vogelarten mit ihren lateinischen sowie zapotekischen Bezeichnungen, das von UNSIJ herausgegeben wurde. Zudem werden die naturwissenschaftliche Forschung über die lokale Natur sowie die Einrichtung von Naturschutzgebieten in ökotouristischen Gemeinden explizit durch Universitäten, Regierungsprogramme und internationale Umweltorganisationen gefördert. In den betreffenden Programmen wird dies damit begründet, dass dadurch der Ökotourismus professionalisiert und somit gestärkt werde. Durch dieses gesteigerte Interesse an naturwissenschaftlicher Forschung kommt den NaturführerInnen eine zentrale Rolle in der Interaktion mit WissenschaftlerInnen und Regierungsinstitutionen zu. Sie nutzen diese Kontakte und ihr Wissen, um ihr soziales und ökonomisches Kapitel anzureichern und für den Ökotourismus einzusetzen. Wie sich Ökotourismus, die Wissensgenerierung über die lokale Umwelt und die Bildung einer lokalen Elite an NaturführerInnen wechselseitig bedingen, zeigt sich an der Förderung ökotouristischer Gemeinden durch ein Programm der Behörde CONABIO. Es verfolgt ein partizipatives Umweltschutzkonzept, das

13 Die Universität wurde 2005 gegründet und gehört zu den vom Bundesstaat Oaxaca finanzierten öffentlichen Universitäten (SUNEO, Sistema de Universidades Estatales de Oaxaca), die die höhere Bildung in ländlichen Regionen gewährleisten, durch anwendungsbezogene Studiengänge zur Entwicklung der Regionen beitragen und damit die Abwanderung von Jugendlichen in die Städte verhindern sollen. Das Bildungsangebot der Universität in Ixtlán besteht aus angewandten Umweltwissenschaften wie Forstwirtschaft, Biologie sowie natural resource technology; vgl. http://www.unsij. edu.mx/nuestrauniversidad.html [10.01.2019].

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die Ausbildung lokaler ExpertInnen beinhaltet, die für die biologischen Forschungen und die Kontrolle innerhalb der Schutzgebiete14 mitverantwortlich sind (comité de vigilancia). Über einen Zeitraum von vier Jahren dokumentieren die lokalen ExpertInnen zusammen mit WissenschaftlerInnen die Biodiversität in einem abgesteckten Bereich des Gemeindeterritoriums. Die daraus erworbenen Kenntnisse dienen der wissenschaftlichen Forschung und der Wissensgenerierung über die Biodiversität in den Gemeinden sowie der Ausbildung weiterer lokaler ExpertInnen. In diesem Rahmen waren einige im Ökotourismus tätige Männer Lachataos im Jahr 2015 bei einem Workshop im Bundesstaat Colima, wo sie nicht nur Zugang zu weiterem umweltbezogenem Wissen erlangen, sondern sich auch mit anderen Gemeinden vernetzen konnten. Es handelt sich hier um Personen, die bereits durch den Ökotourismus als NaturführerInnen ausgebildet wurden und ihr Wissen über die Natur durch die Teilnahme an Programmen und Forschungen dieser Art beständig erweitern. Der Großteil sind Männer mittleren und jugendlichen Alters, viele davon haben Migrationserfahrung und lebten einige Zeit in den USA. Die Migrationserfahrung kommt ihnen hier zugute, da ihnen deswegen eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Fremden zugewiesen wird oder sie diese für sich beanspruchen, und weil sie über Englischkenntnisse verfügen. In Lachatao zeichnen sich klare Hierarchien zwischen den NaturführerInnen ab. Sie werden für touristische Führungen vom Ökotourismuskomitee bezahlt (jeweils 250 Pesos – ca. 12 €), dem sie größtenteils selbst angehören, was einen attraktiven Nebenverdienst ausmacht. Die NaturführerInnen werden so zu einer in Umweltthemen gut ausgebildeten Elite, die politischen Einfluss nimmt und die Anliegen der Gemeinde gegenüber externen Interessen in verstärktem Maße vertritt. Dafür nutzen sie ihr Umweltwissen sowie die Kontakte zu WissenschaftlerInnen, staatlichen Institutionen, NGOs oder einfach den BesucherInnen im Ökotourismus. Wie naturbezogenes Wissen und externe Kontakte von führenden Gemeindemitgliedern für lokale Interessen nutzbar gemacht werden, verdeutlicht sich an der Teilnahme Lachataos am Forschungsprojekt zu comunalidad. Es behandelte die gemeindebasierte Verwaltung und den Schutz der natürlichen Ressourcen aus der Perspektive der Gemeinden unter dem theoretischen Schwerpunkt der

14 Der mexikanische Staat klassifiziert verschiedene Schutzgebiete, darunter gemeindebasierte (ICCA, Indigenous and Community-Conserved Areas) (Martin et al. 2011; vgl. Kapitel 2.3.1). Eine formelle Anerkennung von ausgewiesenen Schutzgebieten ist jedoch in Lachatao wegen des geteilten Territoriums mit den Pueblos Mancomunados rechtlich nur in Kooperation mit diesen möglich (mit dem comisariado de bienes comunales de los Pueblos Mancomunados).

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Justicia Ambiental.15 Das Projekt war partizipativ angelegt und beinhaltete Gespräche mit der Dorfgemeinschaft über die usos y costumbres sowie die gemeindebasierte Holzwirtschaft (empresas comunitarias), mit dem Ziel, die Philosophie der comunalidad mit den alltäglichen Erfahrungen der Gemeinde in Bezug zu setzen und die autonome, nachhaltige Ressourcennutzung indigener Gemeinden sowie deren politische Verhandlungsposition zu verbessern. Die wissenschaftliche Prämisse der Veranstalter ging davon aus, dass indigene bzw. lokale Organisationsweisen eine nachhaltigere, umweltschonendere Ressourcennutzung gewährleisten und individuelles Gewinnstreben durch den kommunalen Landbesitz sowie gemeindebasierte Wirtschaftspraktiken verhindert werden könnten, die sich am Prinzip des Gemeinwohls orientieren (Rojas Serrano 2014; Rojas Serrano et al. 2014; vgl. Kapitel 3.1.2). Diese commons-Perspektive geht davon aus, dass eine Dezentralisierung der Ressourcennutzung durch lokale Institutionen sowie die Rückführung der Eigentums- und Nutzungsrechte an lokale Gemeinschaften eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten würde (Ostrom 1990). Wissenschaftliche Arbeiten, die diese Argumentationslinie vertreten, sowie das Forschungsprojekt zur comunalidad dienen lokalen Gemeinden als identitätspolitisches Mittel gegenüber externen Interessen.16 Durch diese Prozesse vernetzen sich die NaturführerInnen mit KollegInnen aus verschiedenen Gemeinden und lokalen NGOs. Sie tauschen sich über umweltpolitische Themen sowie die Intentionen staatlicher und externer Akteure aus. Sie entwickeln ein kritisches Bewusstsein für die umweltpolitischen Interessenlagen und die Nutzbarkeit wissenschaftlicher Forschungen, beispielsweise im Rahmen von intellectual property rights (vgl. Kapitel 2.3.2). So diskutierten führende Gemeindepersönlichkeiten Lachataos, ob sie am CONABIO-Programm teilnehmen wollten, da es von Coca-Cola mitfinanziert wird und sie über die Probleme mit dem Ankauf von Wasserrechten seitens Coca-Cola in Chiapas informiert waren. Dies führte zur kurzzeitigen Diskussion darüber, den Verkauf von Coca-Cola in der Gemeinde zu verbieten, was sich jedoch nicht durchsetzen ließ. Auch damit avancierten die NaturführerInnen zu einer neuen umweltpoliti-

15 Das Projekt Soluciones locales para la gobernanza y la justicia ambiental wurde von elf Universitäten (vier europäischen und sieben lateinamerikanischen) geleitet. Die Forschung in Lachatao wurde von Mario Fuente (Ciencias Ambientales) von der UNSJI sowie von David Barkin, Wirtschaftswissenschaftler an der Universidad Autónoma Metropolitana-Xochimilco in Mexiko-Stadt durchgeführt. Zum Projekt Gobernanza Ambiental en América Latina y el Caribe para el Uso Sostenible y Equitativo de los Recursos Naturales (2011–2015) (vgl. Hogenboom et al. 2015). 16 Als Beispiel kann die Doktorarbeit von Coral Rojas Serrano (2014) dienen.

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schen Elite, die staatliche Programme und Wissensbildungsprozesse nicht nur für die touristische Repräsentation, sondern auch für die umweltpolitische Positionierung der Gemeinde einsetzen. Sie nutzen diese staatlichen Programme, richten sich aber nicht unbedingt nach staatlichen Interessen. Der Ökotourismus fungiert als Türöffner zu zentralen politischen Institutionen und befähigt eine lokale Elite dazu, sich in (inter-)nationalen Räumen zu bewegen.17 Dies verdeutlicht die Aussage von Diego über den Ökotourismus in Lachatao: „Der Ökotourismus hat sehr viel ermöglicht, an vielen Orten, nicht? Seien wir mal ehrlich, der Ökotourismus in Lachatao bedeutet, mit den wichtigen Leuten von hier auf Du und Du zu sein. Das ist nicht irgendeine Sache, Lachatao ist bedeutend im Ökotourismus.“ (Interview_Diego_14.4.2014)

Dadurch ändern sich ihr Verständnis und ihre Bewertungen der lokalen Natur, die in einen globalen und nationalen Bezugsrahmen gestellt werden. Dies zeigt sich klar anhand der Fotografie von Sancho, einem Familienvater Ende 30, Naturführer und angesehenem Gemeindemitglied. Das nachfolgende Foto zeigt eine lokale Flechtenart in Nahaufnahme, die er als fotografische „Antwort“ auf die Frage nach dem seiner Ansicht nach wichtigsten Ort in/für Lachatao fotografiert hatte. Er führte dies aus, indem er darauf verwies, dass das Moos vielleicht nur hier gedeihe und man es deswegen schützen müsse: „Ich finde, es [das Moos] ist wichtig, weil es auch geschützt werden müsste, nicht? Weil, unter Umständen ist es eine Pflanze, die es sonst nicht mehr gibt. Und sie könnte also vom Aussterben bedroht sein. Es könnte wichtig sein, sie zu schützen.“ (Fotoprojekt_Sancho_16.1.2014)

Sancho rekurrierte hier auf einen Naturschutzgedanken, der auf dem Konzept der Artenvielfalt und des Artensterbens aufbaut und Pflanzen bzw. Tiere aufgrund ihrer Einzigartigkeit als schützenswert versteht. Die lokale Natur wird in ihrer globalen Bedeutung als Biodiversität repräsentiert, und damit wird der Gemeinde eine globale Verantwortung zugewiesen, sie zu schützen. Das Bild und die Aussagen Sanchos zeugen davon, dass er die Gemeinde über das Konzept der schützenswerten Biodiversität und der endemischen Artenvielfalt in einen globalen Bezugsrahmen stellt.

17 Einige der NaturführerInnen nahmen beispielsweise 2018 an einer von der mexikanischen Tourismusbehörde (SECTUR) finanzierten Weiterbildung in Costa Rica teil, das als vorbildlich für den Ökotourismus gilt.

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Abbildung 13: Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Sancho, 2014, Titel: „Immerwährender Schnee“

5.3.2 Lo que es la naturaleza: Die Performanz von Natur 18 „Ich kannte [den Wald] vor sechzig Jahren. Nein, siebzig, zweiundsiebzig Jahre ist es her, seit ich den Wald kennenlernte. Und ich sage ihnen [den jungen Dorfbewohnern]: ‚Du warst da noch gar nicht geboren. Damals, sieh mal, [...] ich beschreibe dir mal, wie das war. Den Weg entlangzulaufen war wie in einen Tunnel hineinzugehen, weil die Bäume haben da komplett zugemacht. Und die Leute machten dort tequios, um die Äste zu entfernen, um auf den Wegen durchzukommen, die in den Wald führten.‘ (…) Und die Eichhörnchen sprangen von der einen Seite auf die andere und sprangen, und noch mehr Eichhörnchen. Und es erhoben sich Tausende von Tauben. Tausende von Vögeln erhoben sich hier und da. Da wanderte man im Wald. Das ist der Wald, wie ich ihn kennengelernt habe.“ (Interview_Ramíres_26.1.2014)

So beschreibt Maestro Ramíres, ein mittlerweile über 80 Jahre alter Lehrer aus Lachatao, der seit Langem in Oaxaca lebt, den Wald, wie er früher gewesen sei.

18 „Was die Natur bedeutet“.

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Seine Darstellungen decken sich mit jenen anderer älterer Männer der Gemeinde, die den ursprünglichen Zustand der Wälder mit einer Fülle an Flora und Fauna vor die kommerzielle Ausbeutung der Wälder ab den 1950er Jahren datieren. Der jetzige Zustand des Waldes wird von ihnen als zerstört und krank bewertet, was mit den unverantwortlichen massiven Rodungen erklärt wird (vgl. Kapitel 2.2.3 und 3.3.1). Im Gegensatz zu den jüngeren NaturführerInnen beanspruchen sie für sich, el monte in seinem ursprünglichen Zustand zu kennen, und nutzen diese Kenntnis, um ihre Stellung und ihren Einfluss gegenüber den jüngeren Gemeindemitgliedern zu behaupten. Diese verwenden das Wissen über el monte in diesem „paradiesischen Urzustand“ als Argumentationslinie in den politischen Ressourcenkonflikten sowie in der touristischen Repräsentation. Wie bereits ausgeführt, werden die Natur und das Naturerlebnis durch Diskurse, Methoden und Praktiken erst hergestellt und wahrgenommen (Jamal et al. 2003, S. 161). Vor allem bei den geführten Wanderungen sowie in informellen Begegnungssituationen im Dorf steht die Natur im Mittelpunkt der Begegnungssituation zwischen NaturführerInnen und BesucherInnen. Die staatliche Tourismusbehörde unterstützt die Professionalisierung des Angebots durch Workshops. Darin werden die NaturführerInnen mit ökologischen Themen wie Klimawandel oder Biodiversität sowie im Umgang mit den BesucherInnen unterrichtet. Sie werden explizit dazu aufgefordert, das vermittelte „naturwissenschaftliche“ mit dem „lokalen“ Wissen über die spezifischen Orte und lokalen Gebräuche (las costumbres) in Verbindung zu bringen und die touristischen Führungen mit Erzählungen über Legenden, die lokale Geschichte und die lokale Verwendung von Pflanzen anzureichern. Die Konstruktion eines lokalspezifischen Wissens über die Natur entspricht den Bedürfnissen der TouristInnen, etwas über die besondere „indigene“ Naturbeziehung der Gemeinden zu lernen. Vorstellungen über diese „Naturnähe“ werden durch die indigene Behörde (CDI) geprägt, die neben den indigenen Sprachen das Umweltwissen über die traditionelle Medizin als Charakteristikum indigener Gemeinden gezielt fördert.19 Ziel ist es dabei, ein unvergessliches Naturerlebnis zu schaffen, das sich von dem anderer Gemeinden unterscheidet – je spezifischer, desto besser.

19 Beispielsweise gibt es im bekannten Pueblo Mágico Capulálpam de Méndez ein Zentrum für traditionelle Medizin, das Bestandteil der touristischen Repräsentation ist (vgl. Centro Integral de Medicina Tradicional de Capulálpam de Méndez 2017). Auch in Lachatao werden traditionelle Behandlungen durch limpias (rituelle Reinigungen), Massagen oder temascales (Schwitzhütten) angeboten und als Ausdruck der lokalen Tradition und Naturnähe dargestellt.

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Bei ihren Naturführungen auf dem Gemeindeterritorium verbinden die FührerInnen naturwissenschaftliches mit traditionellem ökologischem Wissen (TEK, traditional ecological knowledge), das je nachdem ergänzend oder kontrastiv einander gegenübergestellt wird und damit diese Einordnung von getrennt gedachten Wissensformen reproduziert. Die Repräsentation der Natur verläuft interaktiv, indem die NaturführerInnen auf die Fragen der BesucherInnen eingehen, die explizit das Besondere und Authentische der Naturbeziehungen erfahren wollen (dies betrifft Binnen- ebenso wie internationale TouristInnen). Die Bedeutung der lokalen Natur wird anhand bestimmter Pflanzen entlang des Weges verdeutlicht und darauf hingewiesen, dass diese erhalten werden müssen, um die globale Biodiversität zu schützen. Die Auswahl der Pflanzen richtet sich nach ihrer touristischen Attraktivität, daher werden die TouristInnen gezielt auf die Orchideen oder Bromelien aufmerksam gemacht und darüber aufgeklärt, dass diese nicht (wie in vielen anderen Gemeinden) in die Städte verkauft würden. Andere Pflanzen werden mit Erklärungen ihres lokalen Gebrauchs in der traditionellen Medizin oder lokalen Küche mit ihrer zapotekischen Bezeichnung präsentiert. Pflanzen werden in endemische und nicht-endemische Pflanzen neu klassifiziert, was auf die Zusammenarbeit mit den Universitäten und die Forderungen einer solchen Differenzierung durch die mexikanische Ökotourismusnorm NORMA 133 zurückgeht. Als von besonderem Wert werden solche endemischen Pflanzen angesehen, die einen traditionellen Nutzen als Heilpflanzen oder Nahrungsmittel haben und somit als Kulturpflanzen gelten. Nicht-endemischen Pflanzen wird in diesen Diskursen mit Skepsis begegnet, da sie einen nicht absehbaren Einfluss ausüben könnten. Bei diesen Wanderungen wird performativ und interaktiv das Bild einer ursprünglichen, unberührten, noch intakten Natur gezeichnet. Die NaturführerInnen präsentieren dies visuell anhand bestimmter, Lachatao zugehöriger Waldgebiete, die mit ihren Aussichtspunkten mit den großen Rodungsflächen anderer Gemeinden kontrastiert werden (z.B. mit dem gegenüberliegenden Ixtlán). Sie untermauern dies durch die Beschwörung eines vergangenen paradiesischen Urzustands der Natur, wie es das Zitat des Lehrers Ramíres am Anfang dieses Kapitels zum Ausdruck bringt. Lo que es la Naturaleza wird in dieser Performanz beständig reproduziert; dies betrifft nicht nur die TouristInnen, sondern auch die Gemeindemitglieder, die bei tequios und Gemeindevollversammlungen von den NaturführerInnen über die Besonderheiten der lokalen Biodiversität aufgeklärt werden. Insbesondere bei den tequios in der Natur vermitteln die NaturführerInnen „westliches“ Umweltwissen und veranschaulichen es anhand ausgewählter Pflanzen oder Erklärungen des Ökosystems.

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5.3.3 Die Gestaltung und visuelle Symbolisierung von Natur Wie bereits dargestellt wurde, befördert der Ökotourismus in Lachatao „westliche“ Naturschutzmodelle, um die lokale Biodiversität in ihrer Einzigartigkeit zu erhalten. Dadurch verändert sich der Umgang mit der Natur. Je besser das naturwissenschaftliche Umweltwissen über das eigene Territorium verfügbar und repräsentierbar ist, desto einfacher ist die Akquirierung weiterer Fördermittel des mexikanischen Staates. Dafür sind die häufig schon im Rahmen der Forstwirtschaft erstellten Nutzungspläne (ordenamientos ambientales) des Gemeindeterritoriums von entscheidender Bedeutung. Diese Pläne, die die natürlichen Ressourcen des eigenen Territoriums kartografisch festhalten und dessen effiziente (ökonomische) Nutzbarkeit festlegen, sind für die Partizipation an vielen Regierungsprogrammen Voraussetzung. Sie werden nun explizit auf die touristische Nutzung ausgerichtet (Wege, Naturschutzzonen, Rehabilitierungszonen, Aussichtspunkte und Rastplätze). Ihre Erstellung wird seitens des CDI gefördert, und die Pläne sind obligatorisch für die Ökotourismusnorm NORMA 133. Damit geht eine Kategorisierung und Kontrolle des Territoriums aufgrund naturwissenschaftlicher und ökonomischer Kriterien einher. Für die Auswahl touristischer Gebiete und Wanderwege werden die NaturführerInnen im Rahmen von ökotouristischen Programmen dahingehend unterrichtet, dass die Auswahl vor allem aufgrund von landschaftlichen Kriterien erfolgen sollte. Damit geht einher, dass die Landschaft aufgrund der attraktiven Natur nach visuellen Kriterien bewertet und das Gemeindeterritorium auf den Nutzungsplänen (zumindest theoretisch) in Schutz- sowie touristisch genutzte Gebiete unterteilt wird. Um den BesucherInnen die Vorstellung einer unberührten Natur zu vermitteln, müssen die Spuren menschlichen Einflusses möglichst gering gehalten werden. Touristische Vorstellungen einer unberührten Natur – im Sinne des romantic tourist gaze – dienen hier als Auswahlkriterium der Wege, die so konzipiert werden, dass touristisch unattraktive Orte – wie die Gemeindemüllhalde, „unansehnliche“ Gehöfte oder Produktionsstätten (Sägewerk, Baustellen) – umgangen werden. Damit soll verhindert werden, dass die TouristInnen Orte sehen, die mit Umweltzerstörung assoziiert werden könnten, beispielsweise die Feuerstellen zur Holzkohleherstellung. Andere Orte werden von den NaturführerInnen aufgrund ihrer besonderen Naturschönheit (wie einem Fluss, einem Landschaftsausblick oder der besonderen Pflanzenvielfalt) als touristisch wertvoll klassifiziert. Entgegen der Vorstellung von Unberührtheit werde diese Orte jedoch durch die Gemeindemitglieder bewusst gestaltet. Um die Repräsentation der besonderen Artenvielfalt im Sinne des visual resource management zu unterstreichen, ordnen die NaturführerInnen beispielsweise bei den Säuberungen der Wege an, dass gewisse Pflanzen, wie

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endemische Mague-Arten, nicht abgeschlagen, sondern extra stehen gelassen werden sollen. Sie werden in der touristischen Repräsentation zu visuellen Verkörperungen der Natur und Symbolen der endemischen – also lokalen – Biodiversität der Gemeinde. Als störend klassifizierte Elemente wie Zäune, Werkzeuge oder Müll werden hingegen entfernt, was auch auf die Zustimmung der meisten Gemeindemitglieder stößt. Das visuelle Erscheinungsbild der Natur wird jedoch nicht nur durch gezielte Maßnahmen gestaltet, sondern ergibt sich auch dadurch, dass gewisse Praktiken nicht mehr betrieben werden. So bewirkt beispielsweise die Vernachlässigung der Subsistenzlandwirtschaft, dass el monte bis nah an die Gemeinde heranreicht. Das wird je nach Kontext (von den jüngeren und solchen Personen, die im Ökotourismus involviert sind) als Zeichen des Naturschutzes und des naturnahen Lebens oder (von vielen älteren Personen) als Konsequenz der Abwanderung und des Kulturverlusts gewertet, da in Lachatao viele ihre Felder nicht mehr bewirtschaften würden und die Gemeinde ihre ehemalige Größe und ihren Einfluss verloren habe. Auch das Jagdverbot wirkt sich in einer Zunahme an Wild, vor allem Rehen aus, die bis nahe an das Dorf herankommen. Dieser Umstand wird im Kontext des Ökotourismus als Zeichen des respektvollen und fortschrittlichen Umgangs mit der Natur bewertet, da die Rehe nicht mehr wie früher oder in den Nachbargemeinden gejagt würden. Von subsistenzbetreibenden (weniger gebildeten und weniger wohlhabenden) Gemeindemitgliedern wird dies jedoch als Versagen der Gemeindeautoritäten angesehen, da die Rehe ihre Ernten (insbesondere Bohnen) zerstören. Das Dorfzentrum wird somit zu einem Raum, in dem symbolisch Natur inszeniert wird. Dies zeigt sich daran, dass als schön klassifizierte Pflanzen wie Orchideen oder die silberfarbenen Flechten in die Gärten gepflanzt werden. Viele Gemeindemitglieder praktizieren dies zwar seit langem, präsentieren es jedoch neuerdings als Beweis für die außergewöhnliche Biodiversität und den praktizierten Umweltschutz in Lachatao. Die performative Herstellung einer ursprünglichen Natur findet also nicht nur in der Natur selbst, sondern auch im Dorf statt. Die Gemeindemitglieder befördern in der Präsentation ihrer Gärten eine Symbolisierung gewisser Pflanzen als Inbegriff der lokalen Natur in Bezug zu Diskursen über Biodiversität. Dies wird vor allem durch den Tourismus befördert, wie das jährlich stattfindende Gartenfestival in der nahegelegenen Gemeinde Capulálpam verdeutlicht.20 Auch hier ist der Ökotourismus

20 Beim Festival in Capulálpam werden die Vorgärten der teilnehmenden Haushalte von einer Jury bewertet und mit Preisen ausgezeichnet. Das Fest wurde 2017 zum 13. Mal gefeiert. Im Jahr 2012 wurde es wie folgt angekündigt: „Der Wettbewerb der Innenhöfe und Gärten ist Bestandteil eines großen, über viele Generationen übermittelten kul-

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nicht von wissenschaftlicher Forschung (wie agroecología) zu trennen, die die Gärten auf lokale Nutzpflanzen untersucht. In Lachatao erstellten beispielsweise Studierende der Universität Ixtlán detaillierte Karten über die Bepflanzung der Gärten, die zapotekischen Pflanzennamen und deren lokalen Gebrauch.21 Diese Gärten werden dadurch zu repräsentativen Orten, die die Biodiversität sowie das traditionelle heilkundliche Wissen über die Natur symbolisch im Dorfzentrum veranschaulichen. Die visuelle Gestaltung der Natur wird in den fotografischen Repräsentationen des Ökotourismus auf Flyern, Broschüren sowie im Internet vielfältig reproduziert. Die Fotografien zeigen die touristisch wichtigen Orte in der Natur und der Gemeinde, die so zu allgegenwärtigen „emblematischen Orten“ werden. Sie finden sich im Internet, auf der offiziellen Facebook-Seite des Ökotourismusprojekts, in den Profilen der BesucherInnen und Gemeindemitglieder sowie in Form von Postern im Rathaus, Ökotourismusbüro, Gemeindesaal und Restaurant. Sie sind so allen Gemeindemitgliedern bekannt, auch wenn einige von ihnen noch nie dort gewesen sind. Auch das von mir durchgeführte Fotoprojekt verstärkte die visuelle Symbolisierung der Gemeindeidentität durch Fotografien – dabei konnte ich vielfach beobachten, wie sich durch den Tourismus eine normative Neubewertung dieser Orte und ihrer Bedeutung in der Gemeinde verbreitet hat. Beispielsweise sind die hängenden Flechten auf dem Weg zu La Virgen als Zeichen der außergewöhnlichen Biodiversität und des Naturschutzes in der Gemeinde zu einer Art Ikone geworden. Wie sehr sich das Konzept einer ursprünglichen, unberührten Natur in der Gemeinde verbreitet hat, zeigt sich am Foto Amars, die dieses Kapitel einleitete. Das Bild gewann den zweiten Preis in der Gemeindeausstellung, eine Wahl, die von den meisten TeilnehmerInnen mit der unberührten Natur begründet wurde, die die Fotografie zeige. Das Konzept der unberührten Natur ist nicht auf den konkreten Naturraum begrenzt zu verstehen, sondern wird durch Inszenierungen im Dorfzentrum, beispielsweise mit den erwähnten Flechten, symbolisch repräsentiert. Viele der Fotografien zeigen zwar Natur, sind aber zumeist durch architektonische Elemente, Personen oder mar-

turellen Erbes mit dem Ziel, die Liebe zu Mutter Erde zu stärken. Dieses Fest ist Ausdruck der Verbundenheit zur Landwirtschaft, der Liebe zu den Blumen und des Schutzes der Natur“ (AsÍ Somos Oaxaca 2012, Übersetzung der Autorin). 21 Ein weiteres Beispiel, wie naturwissenschaftliche Forschung und Ökotourismus einander bestärken, ist ein Buch einer mexikanischen Biologin über die lokalen Heilpflanzen, ihre lateinischen, spanischen und zapotekischen Bezeichnungen sowie ihre lokale Verwendung (Pascacio González 2013). Es wurde auf dem Equinoccio-Fest 2013 öffentlich vorgestellt und liegt seitdem im Tourismusbüro zum Verkauf aus.

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kante Ausblicke auf konkrete Orte rückführbar. Natur wird hier nicht nur als „globale“ Biodiversität präsentiert, sondern in ihrer lokalen Verortung und Geschichtlichkeit als Lachatao zugehörig markiert. Dies zeigt sich auch in der performativen Herstellung von Natur auf den touristischen Wanderungen. Die führenden Gemeindepersönlichkeiten lokalisieren sie im Territorium und stellen sie als untrennbar von der Gemeinde und ihrem prähispanischen Ursprung dar. Die Vorstellungen und Inszenierungen einer traditionellen Naturbeziehung führen zur Revitalisierung und Neukonzipierung spiritueller Naturbeziehungen, die mit kultureller Identitätspolitik in Verbindung stehen.

5.4 DE VUELTA AL ORIGEN: SPIRITUELLE NATURINSZENIERUNGEN De vuelta al origen22 lautet der Slogan des Tourismusprojekts 2016, der die Fotografien historischer Orte und Landschaftsausblicke in der Werbebroschüre des Projekts untermalt. Er bringt die kulturgeschichtliche Ausrichtung des Projekts zum Ausdruck. Als Ursprung wird, so der weitere Werbetext, ein „Zurück zur Natur verstanden“, was nicht nur die Natur betrifft, sondern auch ein Zurück in Geschichte und Erinnerungen bedeutet. In Lachatao rekurrieren führende Personen im Ökotourismus auf diese ursprüngliche Natur und ursprüngliche Lebensweise der pueblos originarios, deren Kultur sie als mit der prähispanischen Zeit verbunden darstellen. Die Kultur einer wertschätzenden und engen Beziehung zur Natur, wie sie in früheren Zeiten praktiziert worden sei, hätten sie im Gegensatz zur mestizischen städtischen Bevölkerung sowie vielen „infizierten“ Gemeinden nicht verloren. Somit orientiert sich das Ökotourismusprojekt an der spirituellen (und bei MexikanerInnen häufig auch Identitäts-)Suche von TouristInnen, die in ganz Lateinamerika im Zusammenhang mit den Imaginationen von indigener Naturverbundenheit, dem Interesse an ganzheitlicher Medizin, der New-Age- und der Umweltbewegung stehen (Mader 2004, S. 203). In Mexiko wie auch in anderen Ländern Mittel- und Lateinamerikas kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer Revitalisierung indigener spiritueller Bewegungen, die mit der erneuten Nutzung archäologischer Stätten einherging, wie es sich auch in Lachatao beobachten lässt.23 Zugleich verdeutlicht der Slogan de

22 „Zurück zum Ursprung“. 23 Dies knüpft an bekannte neoschamanistische Festlichkeiten in Teotihuacán bei Mexiko-Stadt oder Chichén Itzá auf der Halbinsel Yucatán an (Mader 2004, S. 203). Die Reinszenierung vermeintlich prähispanischer und esoterischer Rituale und Festlichkei-

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vuelta al origen die Aufforderung, den eigenen Ursprung zu besuchen. Damit werden nicht nur die emigrierten Gemeindemitglieder angesprochen, sondern potentiell alle BesucherInnen, insbesondere die mexikanischen BinnentouristInnen. Dies steht im Zusammenhang mit Vorstellungen vom Ursprung der mexikanischen Identität, wie es der Diskurs des México profundo beschreibt, der das „tiefe Mexiko“ in der Lebensweise der indigenen Bevölkerung wiederzufinden glaubt (Bonfil Batalla 1994). Abbildung 14: Logo des Ökotourismusprojekts in Lachatao, 2014

Der Gemeinde wird durch diese Anspielung im Sinne von el origen (dem Ursprung) nationale Bedeutung zugewiesen, die dadurch potentiell als Identifikationsort aller MexikanerInnen dienen kann. Die touristische Inszenierung des Dorfes als profundo oder mágico zeigt sich auch in der Präsentation der etymologischen Namensgebung Lachataos. In öffentlichen Präsentationen und Dokumenten der Gemeinde verweisen die NaturführerInnen darauf, dass der Name „Lachatao“ von den zapotekischen Begriffen lachi (Ebene) und tao (verzaubert) abstamme und Lachatao deswegen mit „el llano encantado“ („verzauberte Ebene“) zu übersetzen sei. Diese Angaben finden sich auch in anderen Dokumenten der Gemeinde, beispielsweise im Bericht des Gesundheitszentrums (Guzmán Platas 2013). Sie beziehen sich in ihrer Darstellung von el origen jedoch nicht nur auf die prähispanische Deszendenz, sondern auch auf die jüngere Vergangenheit, die

ten potenzierten sich noch angesichts des Auslaufens des Maya-Kalenders im Jahr 2012 und führten zu einem verstärkten internationalen Interesse und einer globalen Sichtbarkeit indigener Gruppen (insbesondere der Maya) und von deren prähispanischer Deszendenz.

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den BesucherInnen anhand der Dominikanerkirche aus dem 16. Jahrhundert sowie anhand des Rathauses und des Gemeindemuseums vermittelt wird. Durch diese geschichtliche Ausrichtung wird die „kulturelle Resistenz“ gegenüber der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft dargestellt und so das Bedürfnis der BesucherInnen gestillt, die spezifische lokale Kultur der pueblos originarios kennenzulernen. Die im Ökotourismus beschäftigten Personen verbinden mystische und geschichtliche Aspekte miteinander und stellen die Gemeinde gegenüber BesucherInnen als mágico dar. Dies knüpft an die staatliche Bezeichnung der Pueblos Mágicos an (vgl. Kapitel 3.1) und verdeutlicht sich auch im Logo des Ökotourismusprojekts Lachataos, das zu Anfang dieses Kapitels abgebildet ist: Es zeigt die Silhouette des die Gemeinde überragenden Berges Yutupi in Gestalt einer Schlange und knüpft an in der Region verbreitete Mythen über den „Herrn des Wassers“ (el dueño del agua) an, einer geflügelten Schlange (Abbildung 14), die in der Vorzeit für die Existenz und Verteilung der Wasserquellen verantwortlich war und bis heute den Gemeinden bei Fehlverhalten den Zugang auch wieder verwehren kann – was sich beispielsweise im Versiegen von Quellen äußern kann (vgl. Barabas 1999, S. 81). 5.4.1 Revitalisierung traditioneller Konzepte Am Berg Yutupi lässt sich aufzeigen, wie sich traditionelle Naturkonzepte mit touristischen Inszenierungen verweben und wie verschiedene Personen der Gemeinde auf unterschiedliche Konzepte zurückgreifen. Yutupi wird von manchen EinwohnerInnen als „verzaubert“ (encantado) oder pesado beschrieben, was mit „spirituell wirkmächtig“ übersetzt werden kann: „Hier auch, Yutupi, man sagt, er sei verwunschen. Also, man erzählte sich früher, dass dort ein Hahn sang. Oder dass zu Mitternacht ein Licht leuchtete. [...] Aber mittlerweile nicht mehr, da sich eben alles verändert hat, vielleicht haben sich die bösartigen „Wesen“ (aire malo), die dort heimisch waren, ja zurückgezogen. Sie suchten das Weite, gingen an einen anderen Ort. Früher, da waren halt viele Leute zu Fuß unterwegs, sie gingen eben zu ihren Gehöften. [...] Heutzutage nicht mehr, weil sie jetzt eben mit dem Wagen unterwegs sind. Jetzt gehen die Leute halt nicht mehr so wie früher zu Fuß.“ (Interview_Javier_ 16.1.2014)

Daran zeigt sich, dass Tio Javier die spirituellen Erscheinungen am Yutupi zwar einer früheren Zeit zurechnet, aber nicht grundlegend ontologisch in Frage stellt. Tio Javier ist ein Mann Mitte 50, der früher in den Minen der Gemeinde arbeitete und keinen Kontakt zum Tourismusprojekt hat. Seine Darstellungen unter-

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schieden sich grundlegend von denen hochrangiger älterer Gemeindemitglieder, die darauf verweisen, dass spirituelle Naturkonzepte in der Gemeinde keine Relevanz hätten. Sie bewerten die Vorstellungen von dueños oder anderen spirituellen Wesen (wie aire) als Aberglauben „rückschrittlicher“ Gemeinden, was für Lachatao nicht zutreffend sei. Der Berg Yutupi dient ihnen mit seiner dichten Bewaldung und vielen Quellen zur Veranschaulichung des Reichtums der Natur und des praktizierten Naturschutzes in der Gemeinde. Sie berufen sich dezidiert auf naturwissenschaftliche Modelle, die sie sich im Zuge der gemeindebasierten Forstwirtschaft angeeignet haben. Diese Haltung vertreten gerade die ältesten namhaften Gemeindemitglieder, die sich gegen traditionelle Konzepte aussprechen, was von touristischen Vorstellungen einer engen spirituellen Naturverbundenheit indigener Gemeinden und eines „weisen“ Wissens der Ältesten abweicht. Im Kontrast dazu steht, dass gerade die jüngeren Leute der Gemeinde vermehrt über Yutupi und die besonderen Erscheinungen sprechen, die dort aufgetreten seien. Sie beschreiben Yutupi als gefährlichen Ort (lugar pesado), beispielsweise die 17-jährige Zelda, die im Rahmen des Fotoprojekts ein Foto von Yutupi machte, um einen Ort zu veranschaulichen, der ihr Angst bereite: „Man sagt, dass es ein Wasservulkan ist. Schon immer, seit ich denken kann, glaube ich daran. Man redete viel darüber, dass irgendwann eine Zeit käme, in der es einen Ausbruch geben würde, er würde ganz Lachatao bedecken. Dann habe ich sogar Geschichten gehört von denen aus Capulálpam. Dort erzählt man sich, dass sie bei Vollmond zu uns rüberschauen, nach Lachatao, und es würde aussehen, als ob der Mond Lachatao überschwemmt.“ (Fotoprojekt_Zelda_3.12.2014)

Sie knüpft hier an traditionelle Vorstellungen der dueños de los lugares an, die besonders an Quellen sowie auf Bergen zu finden seien und denen mit besonderem Respekt (el respeto)24 begegnet werden müsse. Gemäß einer Anschauung wird el monte als von el pueblo getrennter Bereich wahrgenommen, der spirituell belebt und dessen Betreten nur unter Vorsicht möglich sei, da die dort lebenden dueños ambivalente Wesen seien, die beschützende sowie bestrafende Eigenschaften hätten und Krankheit und Tod über einzelne Personen sowie über die ganze Gemeinschaft bringen könnten (vgl. Barabas 2008). Die Umwelt – el monte sowie el pueblo – wird dementsprechend als eine Landschaft wahrgenommen, die von lokalen spirituellen Wesen (dueños) sowie den Seelen der Verstorbenen

24 El respeto ist ein wichtiges lokales Konzept, das den Umgang mit anderen Menschen, der Natur und spirituellen Kräften betrifft.

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oder nahuales25 bewohnt sei, die Verhalten sanktionierten und so eine soziale Kontrollfunktion übernähmen, die auch die Ressourcennutzung betreffe. Schon Laura Nader schrieb über die spirituellen, „übernatürlichen“ Wesen (sobrenaturale) wie aire26 sowie die Seelen der Verstorbenen, die als Mittel sozialer Kontrolle dienen (Nader 1964, S. 281–284). Dies zeigt sich an Erklärungsmustern, auf die sich vor allem ältere Frauen beriefen, indem sie mir erklärten, dass sie davon absehen würden, zu viel Holz vom Yutupi zu entwenden, da sie die dortigen aire/dueños nicht stören wollten. Sie erklären auch das Versiegen von Quellen der Nachbargemeinden damit, dass das reziproke Verhältnis zwischen den Gemeinden und den spirituellen Wesen (dueños del lugar) durch die massiven Rodungen und den Mangel an Respekt (la falta de respeto) gestört worden sei und die Wesen (mit den Quellen) verärgert abgezogen seien. Vor allem die Frauen sprechen über lugares pesados und spirituelle Wesen, die in Verbindung mit Krankheitskonzepten (wie el susto27) stehen, und wenden traditionelle Heilmethoden an. Je gebildeter Frauen sind und über je mehr Migrationserfahrungen sie verfügen (hier sind vor allem die Städterinnen gemeint), desto öfter greifen sie auf „westliche“ Erklärungsmuster zurück und stellen lokale Vorstellungen als „rückständig“ bzw. als Zeichen mangelnder Bildung dar. Entgegen den repräsentativen Darstellungen führender Gemeindemitglieder (Männern wie Frauen), die sich auf naturwissenschaftliche Erklärungskonzepte berufen, werden in informellen Kontexten (vor allem von jüngeren Personen) vermehrt traditionelle Konzepte aufgegriffen. Dies zeigte sich nicht nur in ihren Wiedergaben von Erzählungen der Älteren, auf die sie sich beriefen, sondern auch in der Erklärung aktueller Ereignisse, beispielsweise des tragischen Unfalls eines jungen Mannes im Jahr 2014 in der Nachbargemeinde Lachataos. Die tödlichen Verletzungen, die er sich bei der Jagd zugezogen hatte, wurden im infor-

25 Nahuales sind Schicksalsdoppelgänger (alter Ego), die in Form eines Tieres oder natürlichen Phänomens existieren. Damit ist auch der Glaube an die Fähigkeit von manchen Menschen (zumeist von HeilerInnen) verbunden, sich in Tiere zu verwandeln (vgl. Dürr 2011). 26 Als aire („Wind“) werden spirituelle, numinose Wesen bezeichnet, die zumeist bösartig sind und einen festen Bestandteil des Weltbildes und der traditionellen Medizin in Mexiko darstellen. Sie können Krankheiten verursachen und müssen durch Ritualspezialisten und HeilerInnen (curanderos/as) zur Kooperation bewegt werden. 27 El susto („Schreck“) ist eine Krankheit, die durch heftiges Erschrecken oder eine traumatische Erfahrung ausgelöst wird und als „Seelen“verlust (pedir el alma) verstanden wird. Häufig wird dies in Zusammenhang mit Hexerei gebracht und kann durch rituelle Reinigungen (limpias) von HeilerInnen (curanderos/as) geheilt werden.

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mellen Zusammensein der Männer darauf zurückgeführt, dass er zu viel gejagt und damit die reziproke Beziehung zum dueño de los venados gestört habe. Derartige traditionelle Erklärungsmodelle werden auch wegen des touristischen Interesses an den Legenden, spirituellen Naturkonzepten und traditioneller Medizin in der Gemeinde zunehmend als positiv bewertet. Sie werden insbesondere durch das Interesse Salvatores angefeuert, des Ökotourismusberaters und Naturführers, der diese Themen bei Zusammentreffen wie tequios in den Raum stellt. Salvatore, der wegen seines Interesses an der Kultur und Geschichte in der Gemeinde als el antropologó bezeichnet wird, verbindet in seinen Darstellungen über die besondere Naturbeziehung der Gemeinde verschiedene Vorstellungen von einer anthropomorphen, spirituell besetzten Natur mit neoschamanistischen und esoterischen Konzepten. Er gibt diese an die Gemeinde weiter und inszeniert sie auch bei touristischen Führungen, indem er beispielsweise vor dem Betreten bestimmter Gebiete um die Erlaubnis der lokalen dueños bittet (pedir permiso). Seine Präsentation unterschiedet sich darin von derjenigen der anderen NaturführerInnen der Gemeinde, die sich von traditionellen Konzepten durch die zeitliche Distanzierung zum „Glauben der Älteren“ abgrenzen. Jedoch bewirken das touristische Interesse und „externe“ Personen wie Salvatore oder remigrierte Gemeindemitglieder, dass diese traditionellen Konzepte als positiv bewertet, vermehrt als Erklärungsmodelle herangezogen und die jeweiligen Praktiken (auch außerhalb des Tourismus) revitalisiert werden. Dies zeigt sich auch an der Verhaltensweise mancher (re)migrierter Gemeindemitglieder, die gewisse Rituale und Praktiken reinszenieren und damit ihre Zugehörigkeit unter Beweis stellen. Die Praktiken und Rituale werden jedoch im Zuge des Tourismus neu bewertet und Hand in Hand mit der Neubewertung von spirituellen Orten reinszeniert – dies zeigt sich exemplarisch am Regenerbetungsritual (pedir el agua). 5.4.2 Pedir el agua: Von Xia Tini nach Tierra Caliente Das Regenerbetungsritual (pedir el agua28) ist fundamentaler Bestandteil des landwirtschaftlichen Ritualkalenders und wird generell zwischen dem Tag des Heiligen Kreuzes am 3. Mai und dem Tag des Heiligen San Isidor Labrador am 15. Mai durchgeführt. Das Wissen über pedir el agua und den Berg Xia Tini ist in der Gemeinde sehr ungleich verteilt: Während ältere Gemeindemitglieder – insbesondere die Frauen – ausführlich über ihre Teilnahme und den Verlauf des Rituals berichten, verwechseln die Jüngeren oft den Ort, kennen dessen Namen nicht oder verweisen darauf, dass dies vergangene Bräuche (las costumbres de

28 „Das Wasser erbitten“.

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antes) seien, die im Lauf der Zeit verlorengegangen seien. Ältere Frauen der Gemeinde berichten ausführlich über den beschwerlichen Fußmarsch zum weit entfernt liegenden Berg Xia Tini, an dem gemeinsam mit anderen Gemeinden Opferrituale durchgeführt und bei der Rückkehr ins Dorf der Regen mitgebracht worden sei (traer el agua). Das Ritual verdeutlicht die traditionelle zapotekische Weltanschauung (cosmovisión) reziproker Austauschbeziehungen zwischen einer spirituell belebten Umwelt und der menschlichen Welt, die in enger Wechselwirkung zueinander stehen (vgl. Barabas 1999, S. 89). Das Ritual geriet durch die hohe Emigration und Vernachlässigung der Landwirtschaft jedoch in Vergessenheit. Erst durch die Anfrage des mexikanischen Fernsehsenders Televisa, der es für ein Promotionsvideo für indigenen Ökotourismus dokumentieren wollte, wurde das Ritual wieder zum Thema in der Gemeinde. Führende Gemeindepersönlichkeiten deklarierten folglich die Vernachlässigung des Rituals als Zeichen des Kulturverlustes und initiierten seine groß angelegte Reinszenierung im Jahr 2010. Die Gemeindemitglieder wurden von der Gemeinderegierung dazu aufgefordert, in den „typischen“ weißen Leinentrachten, Ledersandalen und geseilten Tragetaschen (Objekte, die sich die meisten TeilnehmerInnen zu diesem Anlass erst kaufen mussten) vollzählig an dem Ritual teilzunehmen – für den Großteil der Gemeindemitglieder das erste Mal. In der Gemeinde wird erzählt, dass es so stark regnete, nachdem sie das Ritual zur Probe der Filmarbeiten auf Xia Tini abgehalten hatten, dass die eigentlichen Dreharbeiten – die zu einem anderen Zeitpunkt geplant waren – nicht mehr durchführbar waren. Der starke Regen und der Abbruch der Filmarbeiten würden, so die landläufige Meinung, die spirituelle Bedeutung des Ortes und die Wirkmacht des Rituals beweisen: „Man könnte meinen, dass der Ort uns nicht erlaubt hätte zu filmen, (…) deswegen unterbrach man die Sache, weil man wegen des Regens nicht mehr kommen konnte. Wir hatten alle schon unsere Trachten und alles andere fast vorbereitet, wir hatten schon geprobt, da wir ja vorhatten, das Wasser zu erbitten. Und da dieser Berg eben heilig ist, ist er eben nicht wie irgendein Berg, auf den du gehen kannst, um zu proben. Zum Beispiel nach Capulálpam zu gehen geht problemlos, weil das kein heiliger Ort ist, dieser hier dagegen ja.“ (Interview_Rogelio_12.3.2014)

Dennoch wird das Ritual seitdem nicht mehr an Xia Tini abgehalten, sondern seit 2012 anlässlich des Festes gegen die geplante Minentätigkeit bei Tierra Caliente nahe Capulálpam durchgeführt (Kapitel 2.3.3). Die obige Aussage von Maestro Rogelio zeigt, dass er, obwohl er für die Durchführung des Rituals in Capulálpam zuständig war, dessen Wirksamkeit an diesem Ort – der kein heiliger Ort sei – in Frage stellt. Er weist dem Ritual jedoch eine entscheidende Be-

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deutung zu, die darin liege, die „Kultur“ und die damit untrennbar verwobene „Natur“ zu schützen. „Und da es eben auch um das Thema Umweltschutz geht, ist das Thema der Erhaltung unserer Rituale und Bräuche unsere Aufgabe. Da wir hier Zapotekisch sprechen, ist unsere Sache die Rettung unserer Kultur, unserer Traditionen, weil es eben gerade eine der Traditionen hier ist, das Wasser zu erbitten [pedir el agua]. Dies ist Teil des Schutzes unserer Umwelt, deswegen schlossen sie uns für ihr Thema ‚Nein zum Bergbau‘ mit ein. Weil die Minen ja auch unser Wasser da oben verschmutzen.“ (Interview_Rogelio_12.3.2014)

Das Ritual bezieht sich seitens der Initiatoren des Festes also nicht auf die dueños und das Erbeten von Regen für die Landwirtschaft, sondern es handelt sich um ein politisches Symbol der kulturellen Identität im Kontext der Landrechtskonflikte um den Bergbau. Für ältere Personen wie die am Ritual teilnehmenden Frauen aus Lachatao hat es hingegen seine ursprüngliche Bedeutung nicht verloren – für sie steht es nach wie vor im Kontext des Agrarzyklus. Sie berufen sich auf traditionelle Vorstellungen, die besondere heilige Orte nicht als statisch verstehen, sondern davon ausgehen, dass sich diese durch das Abwandern der spirituellen Wesen verlagern und ihre ehemalige Wirkmacht einbüßen können. Spirituelle Orte sind somit als flexibel zu verstehen, was die Akzeptanz von neuen spirituellen Orten befördert. Dies zeigt sich an der Neukonzipierung des nahe Lachatao gelegenen Bergrückens der Valenciana als heiligem Berg (cerro sagrado). 5.4.3 Lo sagrado: La Valenciana als prähispanische Naturinszenierung 29 „Früher gab es da [auf der Valenciana] viel Wald. Und jetzt hat man [die Ruinen] erst entdeckt. Das heißt, es war wie verlassen. Und jetzt hat es sich irgendwie komplett verändert. Wegen all dem, was jetzt aufgetaucht ist und dass man dort Rituale macht. Ja, das ist es, was sich aus meiner Sicht geändert hat. Und da es ein Teil unseres Ursprungs ist und man herausgefunden hat, warum.“ (Fotoprojekt_Amar_11.3.2014)

So beschreibt Amar den nahe der Gemeinde gelegenen Bergrücken La Valenciana anhand einer von ihm aufgenommenen Fotografie als den Ort der Gemeinde, der sich am meisten verändert habe – eine Meinung, die von den meisten Gemeindemitgliedern geteilt wird. Es ist der Überzeugungsarbeit von Salvatore, der

29 „Das Heilige“.

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dort zapotekische Ruinen vermutete, zu verdanken, dass die Gemeinde im Jahr 2008 eine umfassende Säuberung des mit Gestrüpp überwucherten plateauartigen Bergrückens vornahm. Die Valenciana hat sich seitdem – vor allem durch die Funde eines zapotekischen Tempels im Jahr 2012 – für die Gemeinde zu einem wichtigen Ort und einer touristischen Attraktion entwickelt. Während ältere Gemeindemitglieder sich noch an ihre landwirtschaftliche Nutzung erinnern, wird die Valenciana heute von den allermeisten als geografische Einheit und als Ursprungsort der Gemeinde angesehen. Don Olivero stellt eine von ihm aufgenommene Fotografie der Valenciana im fotografischen Interview folgendermaßen vor: „Und das ist also La Valenciana. Man kann sagen, das ist die Gründung, oder [besser gesagt], die Gründer von Lachatao kamen an diesen Ort La Valenciana. Man kann sagen, dass hier die Wurzeln der Leute aus Lachatao liegen. Weil es gibt Überreste von Personen oder von Zapoteken, die in dieser Gegend lebten. Das ist der Grund, warum das der heilige Ort von hier von Lachatao ist. Jetzt heißt er Cerro del Jaguar [Berg des Jaguars].“ (Fotoprojekt_Olivero_20.8.2013)

Die Namensänderung der Valenciana in Cerro del Jaguar, Xia Yetzaa (was die zapotektische Bezeichnung des Cerro del Rayo [„Berg des Blitzes“] ist) oder Cerro Sagrado geht auf Salvatore zurück und führte anfänglich zu heftiger Kritik seitens der migrierten Gemeindemitglieder. Sie wiesen seine These, dass es sich bei der Valenciana um eine zapotekische Tempelanlage handele, als unprofessionelle Behauptung zurück und unterstellten ihm, dadurch für sich Privilegien in der Gemeinde erzielen zu wollen.

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Abbildung 15: Fotoprojekt: Fotografie der Valenciana von Don Olivero, 2014

Seit dem Fund der Ruinen finden die Diskurse über die prähispanische Deszendenz und spirituelle Naturbeziehung jedoch auch über den Ökotourismus hinaus Gehör und wecken ebenfalls das Interesse der emigrierten Gemeindemitglieder. Dies findet seinen Ausdruck im seit 2012 auf der Valenciana gefeierten Equinoccio-Fest, das zum Zeitpunkt der Tag-und-Nacht-Gleiche um den 21. März stattfindet. Die Festlichkeiten erstrecken sich über mehrere Tage, und bis auf wenige Ausnahmen nahmen in den Jahren 2013, 2014 und 2015 die ganze Gemeinde und vor allem die Gemeindemitglieder aus Oaxaca teil; TouristInnen hingegen ließen sich an einer Hand abzählen. In die von SchamanInnen 30 angeleiteten neoschamanistischen Rituale, Tänze und Opfergaben wurde die gesamte Gemeinde eingebunden, die die Inszenierung durch traditionelle Trachten und

30 Die Schamaninnen und Schamanen von Lachatao sind ein mit Salvatore verwandtes, in Oaxaca-Stadt lebendes Ehepaar, das ursprünglich aus San José de Pacifico in der Sierra Sur in Oaxaca stammt, wo der Mann ausgebildet wurde. San José de Pacifico ist für den rituellen Gebrauch von halluzinogenen Pilzen bekannt und seit den 1970er Jahren ein Zentrum für spirituellen und Drogentourismus. Das Ehepaar betreibt schamanistische Rituale, zapotekische Hochzeiten, temazcal-Anwendungen etc. in kommerzieller Wiese. Rituale und Anleitung der Tänze im Rahmen des EquinoccioFestes auf der Valenciana führen sie unentgeltlich durch.

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landwirtschaftliche Opfergaben unterstrich (vgl. Abbildung 16). Das Fest beinhaltet neben den kollektiven Ritualen Vorträge über die Kultur der pueblos originarios, erzählerische Theatervorstellungen31 (die „prähispanische“ Themen einer spirituellen Naturbeziehung behandeln) sowie Konzerte und kostet wie alle Feste in der Region keinen Eintritt. Im Jahr 2015 wurden der indigene Ethnologe Jaime Luna sowie ich als Ethnologin zu dem Fest eingeladen, um mit ehrenwerten Gemeindemitgliedern aus Lachatao über das Gemeindeleben (vida comunitaria) zu berichten (vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.3).32 Der Ort wurde in wochenlanger Vorarbeit durch tequios für die Feierlichkeiten gesäubert und unter der künstlerischen Leitung von Salvatore gestaltet.

31 Die Theatervorführungen wurden von der Theater-Tanz-Gruppe Teatrofilia grupo de teatro-danza vorgeführt, die aus Studierenden der Universität UBAJO in Oaxaca besteht. 32 Um paternalistische Interpretationen zu vermeiden, beschränkte sich mein Beitrag auf einen Erfahrungsbericht meines Lebens in der Gemeinde, der durch die Beschreibung kultureller Unterschiede und Missverständnisse für allgemeines Amüsement sorgte (beispielsweise meine Erzählung davon, wie ich ab 6 Uhr morgens mehrere Stunden lang auf den Beginn des tequio wartete, weil ich mich an deutscher Pünktlichkeit und nicht an el tiempo del pueblo orientiert hatte).

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Abbildung 16: Equinoccio-Fest auf der Valenciana, Lachatao, 2013

Quelle: Eigene Aufnahme

Besonders die aufwendige und professionelle Beleuchtung der nächtlichen Feierlichkeiten bewirkte, dass diese in der Nacht auch von entfernt liegenden Nachbardörfern aus sichtbar waren. Die Inszenierung des Equinoccio-Festes ist ein regional bekanntes Ereignis, das von vielen Gemeindemitgliedern mit Stolz erwähnt wird. Einige von ihnen, insbesondere viele Frauen, hatten die Valenciana im Rahmen der Feierlichkeiten das erste Mal betreten. Die Feierlichkeiten werden vom Großteil der Gemeindemitglieder in Verbindung mit lokalen religiösen Vorstellungen gebracht, ausgenommen jene, die Anhänger von evangelikalen Freikirchen sind und generell nicht an den Gemeindefesten teilnehmen, die mit dem katholischen Glauben in Verbindung stehen. Manuela, eine Frau Mitte 30, erklärt, dass für sie nicht die Form der Ehrerbietung (darle gracias) entscheidend sei, sondern der Inhalt, „Gott für die Natur und Alles zu danken“. „Sehr gut, nicht? Denn unterm Strich ist das Ziel das gleiche. Wie eine Danksagung an Gott, die wir ihm alle entgegenbringen. Auf verschiedene Art und Weise, [...] es gibt viele Möglichkeiten, wie sich das ausdrücken kann. Oder Gott danken kann man, indem man singt, indem man betet oder tanzt. Ich weiß nicht, es gibt viele Arten. Ich glaube, eine davon ist die Danksagung, nicht? Für die Natur, für alles (...). Ja, das gefällt mir.“ (Fotoprojekt_Manuela_12.3.2014)

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Viele Gemeindemitglieder zeigen sich begeistert von den kollektiven Ritualen und Tänzen und verstehen diese – anknüpfend an den Diskurs von Salvatore – als Revitalisierung prähispanischer Praktiken. Vor allem die jüngeren Gemeindemitglieder (auch jene aus Oaxaca-Stadt) begeistern sich für das Fest. Ray, ein eher zurückhaltender Familienvater Anfang 30, erklärte mir, dass er die Equinoccio-Feierlichkeiten interessant und unterstützenswert finde und man damit – so die landläufige Meinung – „ein bisschen etwas retten kann, davon wie es früher gewesen ist“ (Fotoprojekt_Ray_12.3.2014). Die Revitalisierung der prähispanischen Geschichte – die ja eine Neukonzeption darstellt – trifft somit auf die breite Unterstützung der meisten Gemeindemitglieder. Sie ruft aber auch Kritik einiger profesionistas (vor allem aus Oaxaca-Stadt) sowie lokaler Lehrer hervor, die die Repräsentation der Gemeindekultur für sich beanspruchen. Das zeigt sich an der Aussage von Maestro Rogelio, der für die bereits beschriebene Ausrichtung des Rituals pedir el agua zuständig war und sich im Rahmen seiner Tätigkeit als bilingualer Lehrer selbst mit der Stärkung der lokalen Kultur und Sprache auseinandersetzt. In einem Interview erklärte er mir lange die Wirkmacht von heiligen Orten (lugares pesados bzw. lugares sagrados), sprach diese aber der Valenciana ab. „Ja, das ist also ein Brauch, den sie von draußen herbringen, und vielleicht machte man das hier früher, aber das ist eben nicht sicher. Deswegen habe ich zwar teilgenommen (...), aber sagen wir mal, was unsere Kultur angeht, nicht, das ist nicht unsere Kultur, ich sehe das nicht als unsere Kultur an.“ (Interview_Rogelio_12.3.2014)

Die Neubewertung der Valenciana als lugar sagrado ist in der Gemeinde also umstritten und wird auch von manchen älteren Gemeindemitgliedern zurückgewiesen, da sie kein geschichtlich überliefertes Wissen über die spirituelle Wirksamkeit des Bergrückens als lugar pesado/sagrado haben. Nur sehr wenige Ältere erinnern sich, dass Mitglieder der benachbarten Gemeinde San Juan Chicomizuchil an einer unterhalb der Valenciana gelegenen Wasserstelle das Ritual des pedir el agua durchgeführt hätten. Die landwirtschaftlichen Opferrituale bei der Equinoccio-Feier hingegen werden von den älteren Gemeindemitgliedern zu den bereits beschriebenen Regenerbetungsritualen auf dem Berg Xia Tini in Bezug gesetzt. Jüngere, vor allem in der Stadt lebende Gemeindemitglieder übernehmen hingegen den spirituellen, naturreligiösen Diskurs des Equinoccio-Festes und berufen sich auf den prähispanischen Ursprung der Gemeinde. Sie verknüpfen damit eine naturromantische Vorstellung indigener Gemeinden und fühlen sich durch die breite Partizipation der Gemeinde darin bestätigt, an einem authentischen Event teilzunehmen. Verstärkt durch die fotografischen Repräsenta-

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tionen auf der Facebook-Seite des Ökotourismusprojekts, hat das Fest zu einem großen Interesse seitens der emigrierten Gemeindemitglieder geführt. Die Inszenierung einer spirituellen Beziehung zur Natur dient ihnen zur Aufwertung ihrer eigenen Herkunft und indigenen Identität als Zapotecos Serranos. Die führenden Personen im Ökotourismus nutzen die Zuschreibungen einer spirituellen Naturverbundenheit und prähispanischen Deszendenz im Sinne des tourist gaze zur touristischen Inszenierung. Dies führt zur Revitalisierung traditioneller Konzepte, lokaler Praktiken und von Erklärungsmodellen (wie das Beispiel des dueño del venado als Unfallverursacher zeigt) sowie zur völligen Neukonzipierung von kulturellen Elementen im Rahmen des Tourismus, wie dem Equinoccio-Fest. Das damit einhergehende Konzept einer spirituellen Natur wird von verschiedenen Gemeindemitgliedern je nach Alter, Geschlecht, Bildung und Migrationserfahrung unterschiedlich angeeignet und (mehr oder weniger) reflexiv repräsentiert. Generell bewirkt es jedoch (neben den identitätspolitischen Aspekten) die performative „Herstellung“ neuer Orte und Räume im Territorium, beispielsweise der Valenciana. Diese Orte werden durch das Zusammenspiel von Diskursen und Praktiken sowie ihrer materiellen Gestaltung (durch besondere Opferplätze etc.) zu symbolischen Orten, die die traditionelle Naturbeziehung Lachataos verkörpern sollen. Sie sind somit soziokulturelle Räume, die performativ durch die Gemeindemitglieder und BesucherInnen hergestellt werden. Gemäß der invention of tradition (Hobsbawm und Ranger 1992) verbinden die beteiligten Personen touristische Vorstellungen eines „indigenen tiefen Mexikos“ (México profundo) mit lokalen Praktiken und bewirken so die Herstellung emblematischer Orte in der Natur als Verkörperung der prähispanischen Deszendenz und Gemeindeidentität (de vuelta al origen). Dies verdeutlicht die Aneignung des tourist gaze als local gaze mit einer eigenen Wirkmacht. Im Zuge des Ökotourismus werden die Naturen – wie die traditionelle, spirituelle Natur – zu Symbolen kultureller Differenz und bespielen damit die symbolische Ökonomie des Dorfes. Dies zeigt sich nicht nur an konkreten Orten in der Umwelt, sondern auch in der Symbolisierung des dörflichen Lebens als „natürlich“.

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5.5 TODO NATURAL: NATÜRLICHKEIT DES LANDLEBENS 33 „Lachatao el paraíso“ („Lachatao, das Paradies“), so der Titel der Fotografie von Xochil, die sie im Rahmen des Fotoprojekts aufgenommen hatte, um einer fremden Person Lachatao zu präsentieren. Sie erklärte mir in dem Interview, dass die Fotografie die Besonderheiten Lachataos darstelle: das municipio, die Kirche sowie die Lebensweise in Lachatao, die sich durch ihre Friedlichkeit und „Unverschmutztheit“ von anderen Gemeinden unterscheide. Abbildung 17: Fotoprojekt: Postkarte der Fotografie von Xochil, 2014, Titel: „Das Paradies“

„Also ich würde sagen, in Lachatao zu sein ist ein entspanntes Leben, also ohne Furcht davor, überfallen zu werden, ohne Furcht davor, überfahren zu werden. Und es ist ein Ort, wo die Leute einen immer herzlich empfangen, die Leute sind sehr respektvoll, nicht? (…) Also ich würde sagen, dass dieses hier im Vergleich zu anderen Dörfern eben sehr anders ist, weil, es ist nicht verschmutzt, weder körperlich noch geistig so sehr. Es ist ein Dorf,

33 „Alles natürlich“.

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das seine Sitten und Bräuche [usos y costumbres] beibehalten hat. (…) also ich würde sie einladen, Lachatao kennenzulernen. Wegen seiner Natur, wegen seiner Bräuche, wegen seiner Wurzeln, nicht?“ (Fotoprojekt_Xochil_15.3.2014)

Diese Aussage von Xochil verdeutlicht die Romantisierung des dörflichen Lebens und ländlicher Idylle im Gegensatz zu dem als gefährlich und verschmutzt geltenden Leben in den mexikanischen Städten. Xochil, deren Eltern aus Lachatao stammen, ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen und hat (nach einiger Zeit in den USA) Diego, den derzeitigen Präsidenten des Ökotourismus geheiratet. Seit 2006 leben sie und ihre Schwester (die auch einen Mann aus Lachatao geheiratet hat) in der Gemeinde, der sie sich durch die Ferienaufenthalte in ihrer Kindheit sehr gebunden fühlen. Xochil und andere Gemeindemitglieder, die über längere Zeit außerhalb von Lachatao lebten, bestärkten einen romantisierenden Diskurs des Gemeindelebens. Viele von ihnen erwähnten, dass sie die Vorzüge des hiesigen Lebens erst durch die Migrationserfahrung zu schätzen gelernt hätten. Allgemein werden die Freiheit (anda uno libre, la libertad) und die Ruhe (esta tranquilo, la tranquilidad) im Dorf hervorgehoben. Die gemeinschaftliche, dörfliche Lebensweise wird mit sozialer und ökonomischer Sicherheit in Verbindung gebracht, da keine öffentliche Gewalt herrsche, es Wohnraum und Grundnahrungsmittel (aus Subsistenzlandwirtschaft) gebe und man somit, im Gegensatz zu den Städten, auch mit wenig Geld überleben könne. Das Leben auf dem Dorf wird von vielen Gemeindemitgliedern als Leben des „Überflusses“ beschrieben: „Hay la abundancia“, so wie Serapio, ein anerkanntes Gemeindemitglied und ehemaliger síndico, es mir in einem Gespräch beschrieb. Dies ist die Umkehrung herkömmlicher Betrachtungen des dörflichen Lebens als ärmliche, rückständige und durch Mangel gekennzeichnete Existenz. Die bereits erläuterten Naturen, eine „unberührte, schützenswerte Natur“ (un área virgen) sowie eine in prähispanischer Zeit verwurzelte „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen) bewirken eine Neubewertung der „natürlichen“ Lebensweise im Dorf. Diese „Natürlichkeit“ (todo natural) wird zum Charakteristikum des Gemeindelebens, was zu neuen Gestaltungsweisen des Dorfes und zur Revitalisierung traditioneller Praktiken führt, die sozial in erster Linie Frauen zugewiesen werden. Wie aufgezeigt wurde, werden touristische Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit im Sinne des tourist gaze von Gemeindemitgliedern lokal angeeignet und neu verhandelt. todo natural wird von ihnen performativ hergestellt, indem ästhetische Konzepte und Werte mit der Natur und natürlichen Praktiken in Verbindung gebracht werden und dadurch soziokulturelle Verhältnisse transformieren.

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5.5.1 Die natürliche Ästhetik In den Beschreibungen Lachataos wird häufig der dörfliche Charme seiner traditionellen Architektur hervorgehoben, die zum Symbol der nostalgischen Idealisierung des ländlichen Lebens wird, wie im Artikel einer Lokalzeitung: „Dieses Dorf bewahrt all den Zauber des Ländlichen, welcher sich in den unverwechselbaren Merkmalen seiner einheimischen Architektur widerspiegelt, wie den gepflasterten Straßen, den Häusern mit ihren Luftziegelmauern und Ziegeldächern wie auch bei dem im 16. Jhd. erbauten katholischen Tempel aus grünem Gestein, der von einigen der umliegenden Dörfer aus zu sehen ist.“ (Las Noticias Oaxaca, 7.7.2015, Übersetzung durch die Autorin)34

Der „Zauber des Ländlichen“ ist der gezielten Gestaltung des Dorfes im Sinne des Ökotourismus zu verdanken. Insbesondere für Dörfer, die für die Aufnahme in die Liste der Pueblos Mágicos in Frage kommen, werden staatliche Mittel zur Verfügung gestellt, um ihr traditionelles Erscheinungsbild zu erhalten bzw. wiederherzustellen.35 Frida die den Aufbau des Ökotourismus seit einigen Jahren begleitet, ist die Hauptverantwortliche für die architektonischen Umbauten in der Gemeinde und spricht von einer „ästhetischen Erziehung des ganzen Dorfes“ (adecuación estética de todo el pueblo), die impliziert, dass die Gebäude nun größtenteils aus Naturmaterialien gebaut sind: adobe (getrocknete Lehmziegel) und tejas (gebrannte Dachziegel) zur Außengestaltung; Bambus, Naturstein, Holz in den Innenräumen. Diese Ästhetik wurde nicht nur bei den Neubauten bestimmend, sondern auch für den Umbau der sich im Dorfzentrum befindenden alten Dorfschule, die in ein Restaurant, einen Veranstaltungsraum, ein Museum und ein temazcal umgewandelt wurde. Fragt man DorfbewohnerInnen nach den größten Veränderungen, die der Tourismus bewirkt habe, so wird meist diese Umgestaltung des

34 Die traditionelle Architektur war ein ausschlaggebendes Kriterium, um Lachatao in die Vorauswahl der nationalen Auszeichnung als Pueblo Mágico aufzunehmen, was in diesem Zeitungsartikel dargelegt wird (vgl. Vélez Ascencio 2015). 35 Die staatliche Tourismusbehörde SECTUR leistet besondere Unterstützung bei der ästhetischen Gestaltung von Gemeinden, die potentiell als Pueblo Mágico normierbar sind. Und auch die Behörde für das Wissen und die Nutzung der Biodiversität, CONABIO, unterstützt die Gemeinden explizit durch verschiedene Programme (vgl. http: //www.conabio.gob.mx/ [03.03.2019]).

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Dorfzentrums positiv hervorgehoben, das zuvor verlassen und verwahrlost gewesen sei (estaba abandonado). Durch diesen architektonischen Einfluss des Ökotourismus bedingt, kommt es zu einer Umwertung der natürlichen Materialien, die im repräsentativen Diskurs der Gemeinde nun nicht mehr mit Rückständigkeit assoziiert werden, sondern sich als Ausdruck der „Naturverbundenheit“ zu einer neuen ästhetischen Norm etablieren. Diese steht im Widerspruch zu den Bauvorhaben im USamerikanischen Stil, der durch die hohe Migration in der Gegend weit verbreitet ist. Auch in Lachatao gibt es einige Bauten, die von in den USA lebenden Gemeindemitgliedern im Verlauf vieler Jahre erbaut wurden und als „Betonruinen“ ihr Dasein fristen. Sie werden von führenden Gemeindeeliten kritisch beäugt, die Baurichtlinien und eine dörfliche Ästhetik zum Thema in Gemeindeversammlungen machen. Viele der remigrierten Gemeindemitglieder, die im Ökotourismus tätig sind, betonen die Nachteile ihrer nach US-amerikanischem Vorbild erbauten Häuser, die nicht der „Tradition“ entsprächen und einen schlechten Temperaturausgleich hätten – in den Häusern ist es im Winter extrem kalt, im Sommer hingegen sehr heiß. Neuere Bauvorhaben orientieren sich zumeist an der dörflichen Ästhetik und werden als Zeichen des „kulturellen Bewusstseins“ und daher als prestigeträchtig angesehen. Viele jüngere Gemeindemitglieder entscheiden sich für diese traditionelle Bauweise, verwenden Naturmaterialien und greifen auf Systeme des reziproken Austausches von Arbeitskraft (guelaguetza) zurück (beispielsweise bei der Herstellung der Adobesteine). Einige Gemeindemitglieder, die in den USA und Mexiko-Stadt leben, teilen diese neuen ästhetischen Vorstellungen jedoch nicht und weigern sich auch wegen der höheren Kosten, sich an den neuen Richtlinien zu orientieren.36 In der Gemeinde befeuert dies einen Diskurs über den negativen Einfluss der emigrierten Gemeindemitglieder und die Diskussionen darüber, wie dieser einzuschränken sei. Die Differenzen in der Gemeinde zeigen sich besonders bei kollektiven Bauvorhaben, die mit Hilfe staatlicher Gelder und der finanziellen Unterstützung

36 Die Kosten für einen Adobestein liegen bei ca. 12 Pesos (ca. 0,58 €), wohingegen ein Betonstein nur 3 Pesos (ca. 0,15 €) kostet. In den Gemeinden ist es jedoch üblich, dass Adobesteine, zumindest für kollektive Bauvorhaben, im Rahmen von tequios hergestellt werden oder sich Familien gegenseitig dabei unterstützten. An einem Tag können zwei Personen ca. 100 Steine herstellen. Die emigrierten Gemeindemitglieder können jedoch nicht auf dieses reziproke Unterstützungssystem zurückgreifen, sodass sich die Kosten bei Verwendung von natürlichen Materialien erhöhen. Die neuen, vermeintlich traditionellen Häuser unterscheiden sich jedoch von den früheren traditionellen Häusern, die zumeist aus Holz und Holzschindeln (tejamanil) bestanden.

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migrierter Gemeindemitglieder umgesetzt werden (die deswegen auch ein gewisses Mitspracherecht haben). Als Beispiele können die Diskussionen über die Hauptstraße im Dorf gelten sowie das Vorhaben, diese zu asphaltieren, zu pflastern oder als Piste zu belassen. Die Argumente reichen vom „Fortschrittsgedanken“ einer Asphaltstraße (die in erster Linie von den migrierten Gemeindemitgliedern verfochten wird, die in der Stadt leben) über ästhetische Kriterien, die Hauptstraße anderen Straßen mit Kopfsteinpflaster anzupassen, bis hin zu der Argumentation, die Straße in der jetzigen Form als Piste zu belassen, um damit nicht die Funktion zu stören, Regenwasser aufzunehmen. Diese Positionen und Argumentationslinien stehen in engem Zusammenhang mit Wertkonzepten und der Frage, wie bzw. ob sich das Leben im Dorf von dem in der Stadt unterscheiden sollte (beispielsweise in Bezug auf die Architektur oder Essensgewohnheiten). Dabei ist es den im Ökotourismus tätigen Personen ein Anliegen, die Unterschiede zwischen dem Dorf und der Stadt möglichst prägnant visuell in Szene zu setzen. Dies verdeutlicht sich beispielsweise an der Fotografie von Penelope (die in Oaxaca lebt) mit dem Titel „Lachatao und seine gepflasterten Wege“ („Lachatao y sus calles empedradas“), was sie als das charakteristische Element Lachataos beschreibt: „Ja, seine gepflasterten Wege, seine gepflasterten Straßen. Und klar würde ich Ihnen gerne zeigen, dass es auch Wege gibt, die Erde haben, nicht? Ja, ich laufe gerne (…). Gut, also mir gefallen die Wege und [...] also was ich sagen will, schau her, das ist mein Dorf und so ist der größte Teil seiner Straßen.“ (Fotoprojekt_Penelope_16.2.2014)

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Abbildung 18: Fotoprojekt: Fotografie von Penelope, 2014, Titel: „Lachatao und seine gepflasterten Wege“

Auch die neue Bewertung der Umgebung aufgrund ästhetischer Vorstellungen, die in Bezug zur Natur stehen, manifestiert sich in dieser Fotografie. So bezeichneten in der Fotoausstellung einige Personen aus dem Ökotourismus die Stromleitungen als visuelle Verschmutzung (contaminación visual). Dem widersprachen älterer Gemeindemitglieder, die den Straßenbau und die Stromversorgung als fortschrittliche Entwicklung und Verbesserung der Lebensqualität bewerteten – gegenüber der Vergangenheit, die sie selbst erlebt hatten. Was laut Penelope genussvolle Spaziergänge auf naturbelassenen Wegen garantiert, unterscheidet sich von den täglichen Erfahrungen der Älteren (insbesondere weniger wohlhabender Gemeindemitglieder, die keine Autos besitzen), deren Mobilität durch die Pisten und holprigen Kopfsteinpflaster (insbesondere zur Regenzeit) eingeschränkt ist. Für die jüngeren Gemeindemitglieder, die nie ohne Strom oder Autos gelebt haben, ist das Bewertungskriterium die visuelle Störung bzw. Verschmutzung von „Natürlichkeit“. Der Begriff „Verschmutzung“ wird in diesem Diskurs sehr weit gefasst und über materielle Aspekte wie Müll, Konsumgüter und Geräusche37 hinweg auf Werthaltungen und Lebensweisen bezogen. Dies

37 „Achten Sie darauf, dass auch der Krach Verschmutzung ist. Vermeiden sie es daher, laute Geräusche zu machen, mit Radios, Motoren oder anderen Mitteln, die den Auf-

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verdeutlicht Xochil, als sie über eine entfernt liegende Gemeinde berichtet, die wir auf einem Schulausflug besuchten und die sie im Gegensatz zu Lachatao als „ein hässliches Dorf“ („un pueblo feo“) beschrieb: „Weil wir an jeder Ecke einen Laden fanden. Einen Laden, der weder Obst noch Gemüse verkaufte, nur Sachen, die für Kinder nicht gesund sind. Und dann gab es so große und schlecht ausgestattete Häuser. Einen Batzen Geld in den Müll geworfen, nicht? Weil alle haben wir große Pläne, da sagen die Leute, also ich werde mein Haus mit zwei Stockwerken haben. Und der Nächste sagt: Also ich werde mein Haus mit drei Stockwerken haben. [...] Und dann ein Ort, der kein Wasser hat (...). Dann fand ich das Dorf nur noch hässlich. Auch wenn es da so viele Leute gibt. Nein, ich habe lieber ein Dorf, das klein und fein ist und in dem es nicht so viele Leute gibt, aber das dafür sauber ist und in dem alles schön ist, gesund eben. Das Dorf da gefiel mir nicht, wegen seiner Lebensweise. Weil, was ich mich fragte, was hat man von so vielen Läden? Wenn ich in allen das Erfrischungsgetränk, das Knabberzeug und die Süßigkeiten bekomme. Und ich sagte mir: Und wo ist das Obst und Gemüse? Und dann sagte ich mir: Nein, das geht gar nicht. [...] Ich weiß nicht, das ist eine Denkweise und eine Mentalität, die das Dorf vielleicht hat, nicht?“ (Fotoprojekt_Xochil_15.3.2014)

Xochil bringt hier die äußere Gestalt des Dorfes, die Architektur der Häuser, die Anzahl der Läden und die verkauften Produkte in Verbindung mit dem Lebensstil seiner BewohnerInnen und den damit verbundenen Werten. In ihrer Bewertung bezieht sie sich auf touristische Vorstellungen eines gesunden, natürlichen Landlebens sowie damit verbundener traditioneller Werte und verweist explizit darauf, dass es in der Gemeinde kein Wasser gegeben habe. Darin zeigt sich die Bewertung der Natur und natürlicher Ressourcen, insbesondere von Wasser. Lachatao unterscheidet sich hier von anderen Gemeinden durch einen Wasserkanal, der über viele Jahre hinweg von der älteren Generation erbaut wurde und durch den die dauerhafte Versorgung mit Wasser (auch für die landwirtschaftliche Bewässerung) gewährleistet ist. Zudem gibt es viele Brunnen in der Gemeinde, und Wasser war für die jüngere Generation (vor allem, wenn sie keine Subsistenzlandwirtschaft betrieb) eine Selbstverständlichkeit. Dies hat sich durch die Wasserknappheit in anderen Gemeinden und der Stadt Oaxaca38 sowie durch das Bewusstsein für den ökonomischen Wert von

enthalt anderer Personen stören, vor allem nach 22 Uhr“ (Comité de Ecoturismo Lachatao 2011, S. 216; Übersetzung durch die Autorin). 38 Die städtische Wasserversorgung ist – wenn sie überhaupt existiert – unzuverlässig und zur Trockenzeit häufig nicht gegeben. Privathaushalte sind so gezwungen, selbst

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Wasser (sie verkaufen es ja zusammen mit den Pueblos Mancomunados) verändert. Wasser wird folglich nicht mehr als Selbstverständlichkeit, sondern als Reichtum angesehen – wie in der bereits erwähnten Aussage „hay la abundancia“ („es gibt den Überfluss“) zum Ausdruck kommt. Die Wertschätzung des Wassers ist in der ganzen Gemeinde verbreitet, was der Aufklärungsarbeit führender Gemeindemitglieder zu verdanken ist, die sich in den Konflikten mit den Pueblos Mancomunados gegen die gegenwärtige kommerzielle Nutzung der Quellen positionieren. Viele Fotografien des Fotoprojekts zeugen von der großen Bedeutung von Wasser in der Gemeinde. (Es wurden Fotos von Brunnen, Bächen, den Wasserspeichern sowie von Regen aufgenommen.) Ramón, einer der Teilhaber am Gemeindegemüseprojekt des Agronomen Jiménez, machte ein Foto von den Wasserspeichertank und führte dazu im Interview aus: „Also, um auf die Frage zurückzukommen: Ich machte ein Foto von etwas Wichtigem in Lachatao, ich glaube, es ist das Wasser, nicht? (…) Also, ich zumindest sehe das so, das [Wasser], das von 16 Kilometern weit herkommt, weil sich die Alten um das Wasser kümmerten, ohne das Wasser können wir gar nichts tun, und deshalb ist es für mich etwas Wichtiges in der Gemeinde.“ (Fotoprojekt_Ramón_16.3.2014)

Die Wertschätzung der Verfügbarkeit von Wasser wird von allen Gemeindemitgliedern geteilt – die jeweiligen Bezugssysteme differieren jedoch: Während ältere Personen das Wasser vor allem in einen Bezug zur Landwirtschaft stellen sowie zur kollektiven Arbeitsleistung, den 16 km langen Wasserkanal durch den Wald erbaut zu haben, steht es für die politische Führungselite im Kontext gesellschaftlicher Verteilungskonflikte, wohingegen es wiederum für remigrierte Gemeindemitglieder ein Inbegriff der dörflichen Lebensqualität darstellt. Dem Wasser wird also ein hoher Symbolwert zugeschrieben, und darüber sorgsam zu verfügen wird zum Charakteristikum Lachataos und eines „sauberen“, gesunden Lebensstils erhoben. Dies spiegelt sich in der Aussage von Sandra wider, die mir erklärte, dass es vor allem das Wasser gewesen sei, das ihr in ihrem Leben in Oaxaca am meisten gefehlt habe. Wie viele Frauen der Gemeinde, hatte sie dort einige Jahre als Hausmädchen bei einer reichen Familie aus Lachatao gearbeitet, bevor sie heiratete und zurück in die Gemeinde zog.

Wasser zu kaufen, das in Tankwagen angeliefert wird und teuer ist. Eine Tankladung von 3.000 Litern kostet ungefähr 450 Pesos (ca. 22 €) und reicht für einen Haushalt von ca. sechs Personen für eine Woche. Daher erheben manche Gemeindemitglieder von Lachatao den Vorwurf, dass die Städterinnen zum Waschen ihrer dreckigen Wäsche nach Lachatao kämen.

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„Und was hast du an Lachatao vermisst, als du dort [in Oaxaca] lebtest?“ „Das Wasser. Zuallererst das Wasser. Weil es nicht gleich schmeckt wie hier, und außerdem ist es aus der Flasche, es schmeckt nicht gleich. Wenn du deinen Körper wäschst, dann kommt nicht das Gleiche dabei heraus, es wird [...] ich weiß nicht [...] irgendwie komisch. Nein, das Wasser fühlt sich nicht gleich an. Zuallererst das Wasser, ob zum Trinken oder zum Baden, es ist nicht vergleichbar. Und mit den Töpfen genauso. Wenn du Wasser in einem Topf kochst, den du immer dafür nimmst, dann lagert sich etwas ab. Ja, der Topf wird dann sehr hässlich. Dann, all das habe ich dort in Oaxaca erlebt.“ (Inteview_ Sandra_5.8.2013)

Sandras Beschreibungen zeigen Bewertungskriterien, auf die sich in erster Linie Frauen berufen, da für sie Wasser in anderen Bezugssystemen steht als für die Männer. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass – wie das Zitat schon anklingen lässt – die Aufwertung des dörflichen Lebens im Sinne des todo natural Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise betrifft. 5.5.2 Turismo rural und die Frauen Todo natural kann als Leitmotiv des sogenannten turismo rural39 in Lachatao verstanden werden, das die dörfliche Lebensweise mit den landwirtschaftlichen Praktiken und naturbezogenem Wissen in den Mittelpunkt stellt. Dieses Angebot wird in Lachatao vor allem im Rahmen von Exkursionen mit Studierenden wahrgenommen, die teilweise auch in Haushalten der Gemeinde untergebracht werden (homestay).40 Die BesucherInnen begleiten die Gemeindemitglieder auf die Felder und werden über die Anbautechniken der milpa (kombinierter Anbau von Mais, Bohnen und Kürbis auf demselben Feld) oder anderer traditioneller oder „organischer“ Produkte (productos orgánicos) wie Gemüse – oder auch über die Verwendung von Heilkräutern unterrichtet. Wenn möglich, werden

39 Ländlicher Tourismus. 40 Die jeweiligen Familien werden für die Unterbringung der TouristInnen bezahlt, sodass dies als Konkurrenz zum gemeindebasierten Ökotourismus verstanden und nur bei besonderem Wunsch oder zu großen Besucherzahlen angeboten wird. Die Häuser werden vom Ökotourismuskomitee anhand eines gewissen Standards für Sanitäreinrichtungen und Sauberkeit ausgewählt. Dabei sind jene Familien im Vorteil, die über „schöne“ Häuser verfügen, die zumeist durch die Rücküberweisungen von emigrierten Verwandten (remesas) erbaut wurden.

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auch landwirtschaftliche Produkte geerntet (beispielsweise agua miel41) und die Verwendung anderer Nutzpflanzen erklärt. Ein Hauptangebot des turismo rural stellt die Zubereitung traditioneller Speisen42 in den Privathäusern dar. Dies kommt dem touristischen Interesse nach, das authentische Leben in der Gemeinde kennenzulernen, wobei dem Essen eine besondere Rolle zukommt. Authentisches Essen, das häufig sehr aufwendige traditionelle Zubereitungsweisen erfordert, wird somit zu einem weiteren Symbol der natürlichen Lebensweise im Dorf.43 Da es die Frauen sind, die für den häuslichen Bereich, die Nahrungsmittelproduktion sowie die Gärten verantwortlich sind (zwei Frauen im Ort bauen organisches Gemüse auch zum Verkauf an), geraten sie durch den turismo rural in eine neue Position, in der sie die „natürliche“ Lebensweise in der Gemeinde repräsentieren. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele der Männer häufig nicht anwesend sind, weil sie ihren cargos nachgehen und Lohnarbeit verrichten, die häufig außerhalb des Dorfes angesiedelt ist. Durch die Übernahme touristischer Tätigkeiten (die vor allem in den „klassischen“ Aufgabenbereich von Frauen fallen, wie Kochen, Bedienen im Restaurant oder das Säubern der touristischen Unterkünfte) erhöht sich der Arbeitsaufwand für die im Tourismus tätigen Frauen, da sie neben den produktiven und Dienstleistungstätigkeiten im Tourismus auch für die reproduktiven Aufgaben in ihren eigenen Haushalten zuständig sind. Diese Mehrfachbelastung von Frauen im Tourismus wird in der Literatur im mexikanischen Kontext unter dem Begriff doble jornada („Doppelbelastung des Alltags“) diskutiert (Zapata Galdino 2007).44 Die Frauen, die im Ökotourismus tätig sind, werden in den Zubereitungsweisen von traditionellen Nahrungsmitteln und beim Umgang mit den BesucherInnen oder dem Zimmerservice von staatlichen Institutionen wie der Behörde für indigene Angelegenheiten (CDI) oder der Behörde für ländliche Entwicklung

41 Agua miel („Honigwasser“) wird durch eine besondere Ritztechnik täglich der Agavenart Agave salmiana entnommen, bis diese abstirbt. Agua miel gärt nach einiger Zeit zum alkoholhaltigen pulque und wird für festliche Anlässe durch die Beigabe von Rohrzucker (panela) weiter zum Getränk tepache verarbeitet. 42 Dies sind zumeist sehr aufwendige Gerichte, die eine Vielzahl an Zutaten erfordern und häufig zu Festtagen zubereitet werden, wie Amarillo, Mole, Chichillo etc. 43 Zur Bedeutung von „authentischem“ Essen im Ökotourismus (vgl. Wilk 2006); zum erhöhten Arbeitsaufwand für Frauen bei der Aufwertung traditioneller Lebensweisen in Mexiko (vgl. Schüren 2010). 44 Die Mehrfachbelastung von Frauen im Ökotourismus zeigen auch Hernandez Cruz et al. am Beispiel eines Ökotourismusprojekts im Lacandonian-Wald in Chiapas, Mexiko auf (Hernandez Cruz et al. 2005, S. 623).

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(SAGARPA) unterstützt. Diese Institutionen fördern explizit Einkommen schaffende Maßnahmen für Frauen, häufig in Form von Kooperativen, etwa zur Herstellung von Konserven und Trockenfrüchten. Die verschiedenen Kooperativen in Lachatao sind jedoch alle nach einiger Zeit an internen Konflikten zerbrochen. Dies gilt auch für die interne Organisation des Ökotourismus. Die Gemeindebasiertheit des Projekts beruht, wie bereits erwähnt, auf der Rotation der Ämter. Dies betrifft die offiziellen Ämter des Komitees sowie die anderen, zumeist als weiblich klassifizierten Arbeitsbereiche. Jedoch wurde das Prinzip auch hier nicht umgesetzt, wie die Bewirtschaftung des Restaurants zeigt. Es wurde ursprünglich von einer Gruppe von sechs Frauen geleitet, die sich wöchentlich abwechselten. Aufgrund der notwendigen Gelder, um Lebensmittel auf Vorkasse zu kaufen, und zugleich wegen unregelmäßiger Einkünfte sowie hoher Arbeitszeiten kam es 2012 zu Umstrukturierungen, und seitdem wird das Restaurant nur noch von zwei Schwestern geleitet. Wie auch bei anderen Projekten, können einige Familien bzw. Frauen aufgrund ihrer gehobenen Position (und finanziellen Mittel) mehr von den staatlichen Unterstützungen profitieren als Frauen, die in marginalisierten Positionen stehen (wie alleinerziehende Mütter). Dabei handelt es sich um Frauen aus führenden Familien des Dorfes, die entweder zur selben Familie gehören (wie wichtige Vorsitzende des Ökotourismus) oder mit dieser kooperieren. Sie profitieren von den touristischen Entwicklungen in ökonomischer, politischer und symbolischer Weise, indem sie sich als Repräsentantinnen des „natürlichen“ Lebens positionieren und dadurch ihren Einfluss in der Gemeinde sowie gegenüber ihren Männern verbessern können. Sie sind dadurch einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt, profitieren aber von ihrem verbesserten Status und politischen Einfluss. Die Mehrfachbelastung durch den Ökotourismus betrifft jedoch nicht nur die Frauen, die produktiv in die touristischen Tätigkeiten involviert sind, sondern auch jene, die nicht aktiv im Ökotourismus arbeiten. Sie sind indirekt durch die Aufwertung weiblicher Tätigkeitsbereiche im Sinne des todo natural betroffen. So werden alle Frauen vermehrt zu unbezahlter Gemeindearbeit (tequios) wie auch zum Kochen bei den nun gehäuft auftretenden Gemeindefesten verpflichtet. Im Rahmen des Ökotourismus wird den Frauen – in Bezug auf touristische Stereotypisierungen – eine besondere Nähe zur Natur zugewiesen, die durch alltägliche Praktiken symbolisiert wird: Darunter fällt der Anbau von Nutzpflanzen in den Gärten und auf den Feldern sowie die natürliche, traditionelle Herstellung der alltäglichen Speisen. Dieser touristischen Erwartung wird durch die Angebote des turismo rural begegnet. Dieser gendered tourist gaze ist von den in Lateinamerika verbreiteten ökofeministischen Diskurse (vgl. Hackfort 2015, S. 51–

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58) geprägt und wird auch von institutioneller Seite45 durch Regierungsprogramme und die Arbeit von NGOs gefördert. Als Beispiel kann der Besuch einer Gruppe von Frauen aus Mexiko-Stadt dienen, deren Aufenthalt mit dem Ziel verbunden war, „von der Naturnähe der Frauen“ zu lernen und jeweils einige Tage in Paaren (aus je einer Besucherin und einer Frau der Gemeinde) gemeinsam landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachzugehen. Anschließend wurden die Erlebnisse besprochen, wobei die Besucherinnen die spirituelle Verbundenheit und große Nähe zur Natur hervorhoben, was sie mit ihrer eigenen „Entfremdung“ von la tierra kontrastierten. Die Frauen, die im Tourismus involviert sind, eignen sich die positive und romantisierende Sichtweise an und stellen sie vor allem in Bezug zur Nahrungsmittelzubereitung. Sie erklären den BesucherInnen die traditionellen Zutaten und Zubereitungsweisen, wie die Verwendung des Mahlsteins (molcajete) anstatt eines Mixers, der Tontöpfe anstatt von Aluminiumtöpfen und der Feueröfen anstatt eines Gasherdes (den viele Haushalte mittlerweile auch in Lachatao besitzen). Im Zuge dessen werden früher als „ArmeLeute-Essen“ angesehene Zutaten und Gerichte, wie Pilzgerichte oder verschiedene Blattkräuter, nun in lokale Spezialitäten umgewertet. Einige der Produkte, wie selbstgebackenes Brot, handgemachte Tortillas oder selbstgemachte Konserven, werden an die BesucherInnen verkauft. Die traditionelle Zubereitungsweise wird generell als die Qualität und den Geschmack verbessernd angesehen. In ihren touristischen Repräsentationen evozieren die Frauen Vorstellungen einer gesunden, natürlichen Lebensweise, die sie durch Beschreibungen der Lebensweise und Fähigkeiten älterer Frauen anreichern, die noch traditionelle Landwirtschaft betreiben und über das Wissen der traditionellen Heilkunde verfügen würden. Die im Ökotourismus tätigen Frauen präsentieren diese älteren Frauen als Vertreterinnen der „guten alten Zeit“, die von der Subsistenzlandwirtschaft und der Versorgung der Familie geprägt gewesen sei. Hier zeigt sich – wie auch in anderen Studien zu Lateinamerika – eine „Indigenisierung“ der Frauen. Frauen gelten somit als „indigener“ (más indígenas), und werden als für die Aufrechterhaltung der Kultur und Tradition zuständig erklärt, auch weil ihnen die Verantwortung zugetragen wird, diese an die folgende Generation weiterzugeben (vgl. Babb 2012). VertreterInnen im Ökotourismus beziehen sich darin auf klar definierte Geschlechterrollen: Frauen seien für die Aufrechterhaltung des natürlichen Lebens in der Gemeinde verantwortlich. Die Geschlechterbeziehungen werden von ihnen sowie im allgemeinen Diskurs als gleichberechtigt (todos somos iguales) be-

45 Beispielsweise durch die Programme des CDI zur Förderung traditioneller Medizin, temazcal und limpias, für Frauen.

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schrieben. Die Rolle der Frauen wird durch ihre Verantwortung für die gesunde und natürliche Lebensweise todo natural aufgewertet und mit Selbstständigkeit, Stärke und einem fürsorgenden Arbeitsethos verbunden. Machismo wird hingegen als negativer Einfluss der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft auf das Leben in Lachatao zurückgewiesen. Von den männlichen Führungspersonen in der Gemeinde werden die Geschlechterrollen als komplementär (sich harmonisch ergänzend) beschrieben und in Bezug zur comunalidad der Zapotecos Serranos gesetzt. Konflikte zwischen den Geschlechtern werden demzufolge auf den negativen Einfluss der spanischen Kolonialisierung zurückgeführt. Frauen und Männer werden aufgrund ihrer „Natur“ als unterschiedlich wahrgenommen. Geschlechtliche Zugehörigkeit wird somit naturalisiert und durch symbolische Praktiken wie die traditionelle Nahrungszubereitung zum Ausdruck gebracht. Diese Revitalisierung und Neukonzipierung traditioneller Praktiken, die im Zuge der nostalgischen Idealisierung eines ursprünglichen Lebens in den Dörfern notwendig werden, bringt es mit sich, dass die Frauen allgemein wesentlich mehr Arbeit übernehmen müssen (vgl. Schüren 2010). Wie sich die Neubewertung von umweltbezogenen Praktiken auf die Geschlechtsidentität von Frauen und Männern sowie ihre soziale Positionierung in der Gemeinde auswirkt, wird später genauer diskutiert (vgl. Kapitel 6.3). Hier sei herausgestellt, dass touristische Vorstellungen von Natürlichkeit und weiblicher Naturverbundenheit mit lokalen Geschlechterrollen verbunden werden, wodurch diese gestärkt bzw. naturalisiert werden. Dies zeigt sich auch in der Landwirtschaft, die im Zuge des todo natural ebenfalls neu bewertet wird. 5.5.3 Landwirtschaft „Me gusta el cultivo del maíz“ – so der Titel der nachfolgenden für die Fotoausstellung ausgewählten Fotografie von Don Olivero, einem 64 Jahre alten Mann, der mit seiner Frau vor einigen Jahren in die Gemeinde remigriert ist. Im Interview setzte der den landwirtschaftlichen Anbau in Bezug zu Umweltschutz und gesunder Lebensführung: „Das sind Arbeiten, die gemacht werden, um die Umwelt zu bewahren. Diese Felder zum Beispiel sind naturbelassen, sie haben keine chemischen Stoffe. [...] Und auf diese Art steuert man der Umwelt etwas bei. Und vor allem ist es die Ernährung, die natürlich ist.“ (Fotoprojekt_Olivero_20.8.2013)

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Abbildung 19: Fotoprojekt: Fotografie von Don Olivero, 2014, Titel: „Mir gefällt der Anbau von Mais“

Oliveros Fotografie fand regen Anklang in der Ausstellung, und viele, vor allem ältere Gemeindemitglieder äußerten sich über die Schönheit der kräftigen Maispflanzen, die sie mit dem Arbeitsethos und Kulturbewusstsein des Eigentümers in Verbindung brachten. In den Gesprächen über das Bild zeigte sich, dass die milpa46 als Ausdruck der Arbeitsleistung und des positiven Charakters des/der BäuerIn (es muy trabajador) verstanden und so zum Prestigeobjekt der jeweiligen Person wird. Einige der Naturführer diskutierten anhand dieses Fotos die zentrale Bedeutung der milpa als das Typische (el típico) und als „Ausdruck der Lebensweise“ in den Dörfern. Die im Tourismus tätigen Personen sind sich dabei der touristischen Bedeutung der milpa bewusst – als Symbol des naturverbundenen, „autonomen“ Lebens in der Gemeinde. Die milpa steht im Zusammenhang mit nationalen Diskursen, die die milpa als das zentrale Symbol von Indigenität und Grundlage der Ernährungssouveränität Mexikos verstehen, wie

46 Milpa ist ein in Zentralamerika weit verbreitetes Landwirtschaftssystem, in dem hauptsächlich Mais, Bohnen und Kürbis auf demselben Feld für drei bis vier Jahre angebaut werden. Diese Form der Subsistenzlandwirtschaft basiert auf Brandrodung und ist wichtig für die Erhaltung der Artenvielfalt (vgl. Dürr und Kammler 2019, S. 53– 54).

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es sich in der nationalen Bewegung Sin Maíz No Hay País47 manifestiert. Der Bundesstaat Oaxaca ist besonders von diesen Diskursen betroffen, da er als Ursprung der Domestizierung von wildem Mais (teosinte) gilt und für seine außergewöhnliche Agrobiodiversität bekannt ist. Führende Intellektuelle, NGOs und indigene Eliten setzen sich vor allem in der Region der Sierra Juárez aktiv gegen die Verbreitung von Hybrid- und gentechnisch verändertem Saatgut ein. In diesen Diskursen wird Mais als grano sagrado („heiliges Getreide“) betitelt und die milpa als zentrales Element indigener Identität und Weltanschauung konzeptualisiert. Diese Diskurse werden in der Gemeinde durch die Besuche von StudentInnen (der Agrarwissenschaft und häufig der agroecología), den im Ökotourismus tätigen antropólogo Salvatore sowie einen zugezogenen Agronomen verbreitet. Dies führt dazu, dass der Rückgang der Subsistenzlandwirtschaft in der Gemeinde zunehmend problematisiert und zum Gegenstand von Gemeindeversammlungen (asambleas) wird. Denn der Blick auf Lachatao – der wegen der Hanglage von fast jedem umgebenden Ort aus einen guten Überblick ermöglicht – offenbart nur noch wenige bewirtschaftete Felder. Viele, vor allem ältere Gemeindemitglieder beklagen diesen Rückgang der Subsistenzlandwirtschaft und beschreiben das Aussehen des Dorfes als „traurig“ (se ve triste). Sie werfen der jüngeren Generation mangelnden Arbeitsethos und Bequemlichkeit vor, was durch die staatlichen Sozialleistungen noch verstärkt werde. Dabei beziehen sie sich nostalgisch auf die Vergangenheit, die sie als eine prosperierende Zeit mit einer „intakten“ Dorfgemeinschaft (vor der hohen Migration) beschreiben, in der Lachatao noch eine führende Rolle unter den Zapotecos Serranos innegehabt habe. Als zentrales Kulturelement stellen sie die Landwirtschaft dar und erzählen davon, dass damals noch gemeinschaftlich Felder für die fiesta bewirtschaftet worden seien (terrenos de la iglesia), der Austausch von Arbeitsleistung durch guelaguetza betrieben worden sei und die Frauen – im Gegensatz zu heute – ihren Männern in der Landwirtschaft geholfen hätten. Die Emigration übt einen großen (widersprüchlichen) Einfluss auf die landwirtschaftlichen Praktiken aus. Während einerseits der Großteil der jüngeren Gemeindemitglieder keine Subsistenzlandwirtschaft mehr betreibt – da ihre mo-

47 Die nationale Kampagne Sin Maíz No Hay País ist ein 2007 gegründetes Aktionsbündnis, dem mittlerweile über 500 nationale und regionale Bauernverbände, Frauenkollektive, indigene Gruppen, Gewerkschaften und NGOs wie Greenpeace Mexiko angehören. Ihr Ziel ist es, auf die große ökonomische und symbolische Bedeutung des Mais in Mexiko aufmerksam zu machen sowie auf die Gefahr, die hohe Agrobiodiversität lokaler Maissorten (maíz criollo) und traditioneller Anbauweisen zu verlieren (vgl. Schüren 2010).

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netären Einkünfte insbesondere durch die Rücküberweisungen (remesas) für den Lebensunterhalt ausreichend sind –, nutzen andererseits gerade ältere Gemeindemitglieder die Rücküberweisungen für die Landwirtschaft. Feldarbeit ist für sie ein zentraler Bestandteil ihres alltäglichen Lebens, was sie häufig dazu veranlasst, sie, anstatt sie zu reduzieren, durch das Bezahlen von Helfern (mozos) oder Gerätschaften (Traktor oder Ochsengespann, junta) zu intensivieren (vgl. Barkin 2006). Auch einige wenige in mexikanischen Städten lebende Gemeindemitglieder bebauen nach wie vor ihre Felder und kommen zur Aussaat und Ernte angereist. Vor allem die älteren Gemeindemitglieder, die in die Gemeinde remigriert sind, um dort ihren Lebensabend zu verbringen, widmen sich erneut der Landwirtschaft und engagieren sich bei der Revitalisierung traditioneller Anbautechniken. Darunter wird die milpa verstanden, also der kombinierte Anbau von Mais, Bohnen und Kürbis auf demselben Feld, die Verwendung von lokalem Saatgut sowie der Verzicht auf chemische Düngemittel und Pestizide. 48 Diese Aufwertung traditioneller Subsistenzlandwirtschaft wird durch den Ökotourismus bestärkt und die konkrete Umsetzung seitens nationaler Universitäten gefördert. Dies zeigt sich am „Wettbewerb des Saatguts“ (Concurso de las semillas) in Lachataos Nachbardorf Yavesía im Jahr 2013, der vom Ökotourismuskomitee organisiert wurde. Bei dem Wettbewerb, der gemeinsam mit der Universität Chapingo veranstaltet wurde, wurden die Ernteerträge verschiedener Gemeindemitglieder (Mais, Bohnen, Obst und Gemüse) präsentiert und prämiert. Hier zeigt sich erneut, wie die Ökotourismuskomitees mit Universitäten zusammenarbeiten, um lokales (agrarwissenschaftliches) Wissen zu stärken und die Subsistenzwirtschaft zu revitalisieren. Die Universität arbeitete über Jahre hinweg mit Gemeinden der Region zusammen, um die Verwendung und Herstellung von biologischem Düngemittel zu propagieren, die Auswahl des Saatguts zur Wiederaussaat zu verbessern und damit eine ertragreiche und kostengünstige Subsistenzproduktion zu fördern.49 Den Großteil der TeilnehmerInnen an dem

48 Durch agrarwirtschaftliche Programme der „Grünen Revolution“ (Revolución verde) wurden seit den 1960er Jahren Düngemittel in übergroßen Mengen verwendet, was zur Übersäuerung der Böden führte, die häufig keinerlei Ertrag mehr liefern und die Subsistenzproduktion damit verunmöglichen. 49 Die Ertragssteigerung wird durch die verbesserte Auswahl des Saatguts erreicht, indem die kräftigsten Pflanzen markiert und bei der Ernte nur deren größte Körner zur Wiederaussaat verwendet werden. Durch die Verwendung von besonderen biologischen Düngemitteln wird die Wurzelbildung der Pflanzen verbessert, sodass die Anhäufung von Erde zur Stützung der Maispflanzen (rima) nicht mehr notwendig ist, die sehr arbeitsaufwendig und damit kostenintensiv ist. Damit werden die Rentabilität, die

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Wettbewerb stellten jedoch ältere Gemeindemitglieder, insbesondere remigrierte Personen dar. Jüngere Personen nahmen hingegen kaum teil. Viele von ihnen beklagen zwar den Rückgang der Subsistenzproduktion, schreiben diesen aber vergangenen Zeiten zu und verzichten selbst auf den Anbau und die damit verbundene harte körperliche Arbeit. Sie führen an, dass sich der Anbau finanziell nicht trage, da die Kosten für einen Traktor oder Ochsenkarren (junta) sowie für die Erntehelfer und Düngemittel zu hoch und die Ernteerträge wegen des veränderten Klimas ungewiss seien. Der Großteil der Grundnahrungsmittel (Bohnen und Mais) wird von ihnen möglichst günstig gekauft. Dies wird von den führenden Gemeindemitgliedern insbesondere im Rahmen des Ökotourismus selbst als Gefahr eines „Kulturverlusts“ problematisiert. Auch die Gemeinderegierung in Lachatao versuchte, die Subsistenzproduktion durch die gezielte Förderung eines Gemeinde-Anbauprojektes im Jahr 2013 wieder anzukurbeln. Das Projekt wurde von einem Agrarwissenschaftler konzipiert und in Kooperation mit der Gemeinderegierung, dem Ökotourismuskomitee und einigen Teilhabern umgesetzt. Es besteht aus dem Anbau und Vertrieb von biologischem Gemüse und Mais mit Hilfe der Tröpfchenbewässerung, was hohe Erträge bei geringem Wasserverbrauch verspricht. Neben den Gemeindeländereien (terrenos de la escuela, die ehemals für die landwirtschaftliche Produktion für die Schule verwendet wurden) stellen die Teilhaber ihre eigenen Felder zur Verfügung und arbeiten unter Anweisung des Agronomen. Sie werden an den Gewinnen aus dem Verkauf der Produkte in Oaxaca und partiell auch an den Investitionskosten beteiligt (die durch die Tröpfchenbewässerung relativ hoch sind). Die Felder des Gemeindeprojekts liegen an einer exponierten Stelle und avancierten zu einem zentralen Gesprächsthema in der Gemeinde. Die ausschließlich männlichen Teilhaber – Frauen „besitzen“ zumeist keine terrenos, sondern arbeiten nur auf den Feldern ihrer Männer oder männlichen Verwandten –, die zwischen Anfang 20 und 40 Jahren alt sind, äußerten sich enthusiastisch und positionierten sich als umweltbewusste campesinos (Bauern), die die landwirtschaftliche Kultur aufrechterhalten und zugleich modernisieren würden. Sie lernten den Anbau der milpa zumeist von ihren Großeltern (da die Eltern häufig emigriert waren), und viele von ihnen hatten an den in den letzten Jahren angebotenen Workshops der Universität Chapingo teilgenommen. Sie begeisterten sich – im Gegensatz zu anderen, die die Partizipation an dem Projekt sowie an den Agrarprogrammen der Universitäten ablehnen – für effektivere Anbaumethoden, die Verwendung von Technologie und Maschinen (z.B. einen kleinen

Unabhängigkeit durch die Subsistenzproduktion sowie die Gesundheit der Nahrungsmittel als positive Effekte propagiert.

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handbetriebenen motorisierten Pflug) sowie die Möglichkeit, über die Subsistenz hinaus für den Verkauf zu produzieren. Dabei beriefen sie sich auch auf den vom Agronomen verbreiteten Diskurs, durch ihr Gemüse zum Umweltschutz und zur Verbesserung der Ernährung in der Gemeinde beizutragen. Landwirtschaftliche Tätigkeit wird hier umgewertet: Sie sei keine „harte Arbeit“ wie früher, sondern verlange einen umsichtigen Umgang, so wie es Ramón, ein Teilhaber des Projekts formuliert: „Es ist eher sorgsame Arbeit als schwere, nicht?“ (Fotoprojekt_Ramón_16.3.2014). Sie wird von den LandwirtInnen als nachhaltig (sustentable) und damit modern sowie fortschrittlich anstatt als rückständig und unzeitgemäß angesehen, wie insbesondere die jüngere Generation es sieht. Um dieser negativen Bewertung entgegenzuwirken, veranlasste die Gemeinderegierung den Agronomen dazu, Gespräche mit Kindern und Jugendlichen sowie Frauen zu führen, um ihnen die Vorzüge der Landwirtschaft und gesunder Ernährung mit Gemüse nahezubringen. Dieses Ansinnen wurde durch ein Anbauprojekt im Kindergarten und in der Grundschule begleitet. Landwirtschaft wird in diesem Sinne als „moderne, nachhaltige und natürliche Lebensweise“ popularisiert und hat auch bei jüngeren Gemeindemitgliedern eine identitätsstiftende Bedeutung. Vor allem die im Ökotourismus tätigen Personen beziehen sich mit Stolz auf den Arbeitsethos und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur, und die gesunden Lebensweise – todo natural – wird somit nicht unbedingt als selbstverständlich, sondern als Produkt der eigenen Leistung und Werte angesehen. Dies zeigt sich auch an der Aussage von Don Olivero, der die zu Anfang gezeigte Fotografie seiner milpa als den wichtigsten „Ort“ in Lachatao auswählte, da sie Ausdruck seiner eigenen Arbeitskraft sei und eine Grundlage des Lebens darstelle: „Das ist das Grundlegende: die Ernährung. Und zwar, um zu leben, ist das das Grundlegende, das Wichtigste. Das heißt, das ist die Ernährung, [...] ich sage, sie herzustellen, weil es Eigenschaften, weil es Arbeiten sind, die einer selbst durchführt. Wir haben nicht vor, einen anderen nachzumachen, sondern es ist etwas, das wir selbst machen. [...] Ja, meine eigene Arbeit. Mein eigenes Stück Land. Und die Pflanze, ja, da muss man nur mal die Qualität der Pflanze sehen.“ (Fotoprojekt_Olivero_20.8.2013)

Darin zeigt sich, dass die Bedeutung des eigenen Feldes über die Produktion von gesunden Lebensmitteln hinaus als Selbstversicherung der eigenen Autonomie und Arbeitsleistung eine wichtige Rolle spielt. Der Stolz des „modernen“ Bauern (campesino) wird mit traditionellen Werten wie Subsistenzlandwirtschaft, Arbeitsethos und Umweltschutz in Verbindung gebracht. Dies zeigt sich auch daran, dass Ramón, einer der Teilhaber des Projekts, für die Gemeindeausstellung eine Fotografie seiner neu angelegten Felder des Anbauprojekts auswählte.

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Abbildung 20: Fotoprojekt: Fotografie von Ramón, 2014, Titel: „Lo Xiruno, der Anbau von natürlichem Gemüse: Kohl, Blumenkohl, Salat, Broccoli, Bohnen und Tomaten“

Das landwirtschaftliche Projekt wird aber nicht von allen Gemeindemitgliedern so positiv bewertet – als Modernisierung und Weiterführung indigener Subsistenzlandwirtschaft –, insbesondere jenen im Ökotourismus. Sie merken kritisch an, dass es nicht mit den lokalen Werten und Normen übereinstimme und zudem schlecht aussehe (se ve mal) – zum einen, weil der Anbau nicht der klassischen milpa entspricht, und zum anderen, da die Produkte für den Verkauf produziert würden und somit lokale Prinzipien der Subsistenzproduktion und Gemeinschaftlichkeit – nämlich die Felder unentgeltlich für die Gemeinschaft (für die Schule und die fiesta) anzubauen sowie sich gegenseitig bei der Bewirtschaftung zu helfen (guelaguetza) – zerstört würden. Vor allem die Verwendung von großen Mengen an Plastik, um Unkraut zu bekämpfen, wird als störend beschrieben, da dies nicht zur Ästhetik des Dorfes passe. Die traditionelle Landwirtschaft wird hier zum Symbol der gesunden und natürlichen Lebensweise, die als „fortschrittlich“ verstanden wird. Führende Gemeindepersönlichkeiten wie der síndico Serapio (Ende 20) sprechen sich gegen herkömmliche Konzepte von Entwicklung aus: „Der Fortschritt ist, die Straßen zu asphaltieren. Sie denken, gute Häuser aus Beton zu bauen, das wäre der Fortschritt. Und ich sehe das anders. Ich sehe das nicht so. Für mich

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wäre der Fortschritt, dass jede der Familien wirklich genug zu essen hat, aber dass sie es selbst angebaut hätten. Weil sie ihren eigenen Lebensunterhalt produzieren. Das wäre für mich Fortschritt. Weil ich dann weiß, dass sie gesund und stark sind.“ (Interview_Serapio_11.4.2014)

Serapio stellt also den Subsistenzanbau der milpa in Verbindung mit einem alternativen „Entwicklungskonzept“ als ein gutes, natürliches Leben. Hier zeigen sich Parallelen zu den Diskursen von buen vivir in Lateinamerika, die auch von indigenen Eliten in Mexiko diskutiert werden. Die milpa symbolisiert hier eine fiktive Unabhängigkeit von der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft und von kapitalistischen städtischen Lebensformen – die nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem kulturell verstanden wird. Diese wichtige Symbolfunktion wird durch den Ökotourismus noch verstärkt, der es notwendig macht, den Anbau von milpa zu stärken und in Szene zu setzen. Das Gemeindeleben wird im Sinne eines idyllischen, autarken Landlebens idealisiert und als unabhängig von politischen Verhältnissen im mexikanischen Staat (durch die usos y costumbres) sowie von kapitalistischen Wirtschaftsformen, Gewalt und Umweltzerstörung dargestellt – diese heile Welt manifestiert sich im Bild der ranchos. Diese sind ehemals weit im Territorium verstreut liegende Gehöfte, die mittlerweile größtenteils verlassen und deren Felder wieder vom Wald überwuchert worden sind. Nur wenige Familien betreiben noch ihre ranchos oder leben dauerhaft dort, was seitens der im Ökotourismus involvierten Personen als problematisch angesehen wird. Um dem entgegenzuwirken, unternahmen einige Gemeindemitglieder Versuche, die ranchos ihrer Vorväter wieder in Betrieb zu nehmen. Aufgrund der hohen zeitlichen und finanziellen Kosten für die erneute Bebauung der Felder, der großen Distanzen und der geringen Ernteerträge (wegen Wildschaden und schlechter Wetterbedingungen) rückten sie jedoch wieder davon ab. Seither wird eine zukünftige Nutzung der ranchos für den Tourismus diskutiert. Einige der migrierten Gemeindemitglieder aus Oaxaca begannen, die ranchos ihrer Vorväter als Ferienhäuser zu besuchen. Auf die Wiederinbetriebnahme verlassener Grundstücke und ranchos werde ich später vertieft eingehen (vgl. Kapitel 6.5.2). Hier sei nur erwähnt, dass die ranchos durch die Idealisierung eines natürlichen Lebens auf dem Land zu Orten der Naturerfahrung werden. Personen, die noch auf den ranchos leben, wie das ältere Ehepaar Don Mateo und Doña Emma, werden als Zeitzeugen einer „guten, alten Vergangenheit“ und von deren gegenwärtiger Wertschätzung zu wichtigen Gemeindepersönlichkeiten. So werden Personen, die früher abschätzig als traditionell und „rückschrittlich“ angesehen wurden, weil sie nie die Gemeinde verlassen hatten und nach wie vor Subsistenzlandwirtschaft betrieben (ohne Strom und

Viva la naturaleza al máximo: Die performative Herstellung von Naturen | 209

Wasseranschlüsse auf den ranchos leben, den Weg bis dorthin zu Fuß gehen (ca. 3 Stunden) und für den Transport Esel verwenden), als lebendiger Beweis der traditionellen Naturbeziehung der Gemeinde präsentiert. Don Mateo und Doña Emma werden namentlich gegenüber TouristInnengruppen erwähnt, und ihr rancho kann auch besucht werden; solche Besuche werden aber äußerst selten durchgeführt, da der Weg beschwerlich ist und das rancho nicht den Standards entspricht (kein Wasseranschluss oder Toiletten etc.). Die ranchos sind jedoch im Diskurs der Gemeinde ein wichtiger Bezugspunkt – weniger im Sinne realer Subsistenzlandwirtschaft, sondern als symbolische Orte der traditionellen Naturverbundenheit und Identitätsstiftung. Dies zeigt sich abschließend an der Aussage von Leo, einem Gemeindemitglied Mitte 20, das regelmäßig Bilder des rancho seiner Familie auf Facebook postet und es im fotografischen Interview zu seinem liebsten Ort erklärte: „Ja, es ist eine völlige Ruhe, nicht? Aufzustehen und das Rauschen des Flusses zu hören, die Vögel singen. Frische Luft atmen. Und vor allem anderen aufzuwachen und bei deiner Familie zu sein. Und dass es auch genug Arbeit gibt.“ (Fotoprojekt_Leo_15.3.2016)

Zweifellos steht die Natur – als physischer Naturraum und die damit verbundenen Vorstellungen – im Mittelpunkt der ökotouristischen Repräsentation. Wie die vorliegenden Forschungsergebnisse aufzeigen, führen der Ökotourismus und die damit einhergehenden ökologischen Diskurse jedoch nicht zu einer Nivellierung und Vereinheitlichung lokaler Naturbeziehungen, sondern dazu, dass sich diese diversifizieren. Touristische Vorstellungen von Natur (im Sinne eines romantic tourist gaze) werden von führenden Gemeindepersönlichkeiten angeeignet, neu bewertet und mit lokalen Konzepten verbunden. Dies führt zu einer Transformation der lokalen Naturbeziehungen, die in gewisser Weise „verwestlicht“, aber zugleich für spezifisch lokale (indigene) Interessen eingesetzt werden, wie im folgenden Kapitel näher ausgeführt wird. Die drei hier beschriebenen Naturen in Lachatao – eine „unberührte schützenswerte Natur“ (un área virgen), eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen) und die „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural) – werden durch sich wiederholende performative Handlungen zu räumlichen Arrangements. Diese manifestieren sich beispielsweise im unberührten Wald (el monte) der Valenciana als spirituellem Ort der Deszendenz oder auch in der Subsistenzlandwirtschaft als gesunder Lebensweise, die den Naturen zuzuordnen sind. Wie dargestellt, sind diese nicht als gegeben zu verstehen, sondern werden durch diskursive, materielle und körperliche Praktiken von den verschiedenen Gemeindemitgliedern performativ hergestellt. Führende Gemeindeeliten, die im Ökotourismus tätig sind,

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verfügen hier über die privilegierte Position, Zugang zu verschiedenen auf die Umwelt bezogenen Konzepten (tourist gazes) und sozialen Netzwerken zu haben. Sie nehmen darüber gezielt Einfluss auf die lokale Wissensproduktion und die Aneignung touristischer Vorstellungen im Sinne des local gaze. Dies zeigt sich am Beispiel der NaturführerInnen, die zu einer neuen umweltpolitischen Elite werden und normgebend an der Herstellung der Naturen beteiligt sind. In Anlehnung an intersektionale Ansätze wird deutlich, dass sich bereits herrschende Ungleichheitsverhältnisse in Bezug auf Geschlecht, Klasse, race und Alter weiter verstärken. Das heißt, dass die ohnehin privilegierten Gemeindemitglieder – jüngere Männer mit Schulbildung aus anerkannten Familien der Gemeinde, die über Migrationserfahrung verfügen – durch die beschriebenen Prozesse weiter begünstigt werden. Sie bilden ein besonderes Umweltbewusstsein aus und positionieren sich als environmental subjects, um bestimmte Vorteile zu erlangen, was im nächsten Kapitel näher erläutert wird (vgl. Kapitel 6.1). Auf der anderen Seite wird die Ungleichheit zu jenen Gemeindemitgliedern vergrößert, die weiblich, älter und wenig gebildet sind. Besonders sie sind den neuen Normen und Wertsystemen ausgesetzt, was sich deutlich an den geschlechtsspezifischen Zuweisungen an Frauen zeigt (vgl. Kapitel 6.3.1). Die Naturen sind nicht voneinander zu trennen, sondern überlappen sich (räumlich), durchdringen sich (in Hinblick auf die Praktiken involvierter Personen) und verstärken sich gegenseitig (durch Werte und Normen). Alle drei Naturen in Lachatao beziehen sich auf touristische Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit, indem sie sich mit lokalen Praktiken und Bedeutungen verbinden. Als Ordnungssysteme werden sie von verschiedenen Beteiligten je nach Kontext unterschiedlich miteinander verwoben und performativ erzeugt. Das Konzept einer schützenswerten Natur (un área virgin) kann als Ausgangspunkt der ökotouristischen Entwicklungen betrachtet werden, da es den Gemeindeeliten die Möglichkeit bietet, in Kontakt zu (inter-)nationalen AkteurInnen zu treten. Zugleich wird die Natur durch die Revitalisierung spiritueller Konzepte und der Geschichte lokal verankert (de vuelta al origen) und damit als untrennbar von der Gemeinde (re-)präsentiert. Traditionelle, auf die Natur bezogene Praktiken werden mit ökologischen Diskursen verbunden und so zum Identitätsmerkmal. Dies verdeutlicht sich im Konzept todo natural, das einer positiven Umwertung eines früher (und je nach Kontext und Personen auch gegenwärtig) als rückständig abgewerteten ländlichen Lebens gleichkommt. In der Inszenierung der Naturen spielt die visuelle Gestaltung und Symbolisierung von Praktiken und Objekten eine entscheidende Rolle. Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass die Visualität als ein leitendes Element im Ökotourismus in Lachatao fungiert. Die im Ökotourismus tätigen Gemeindemitglieder

Viva la naturaleza al máximo: Die performative Herstellung von Naturen | 211

stellen den tourist gaze und das entsprechende visual resource management in lokale Bezugssysteme und etablieren einen local gaze (bzw. mehrere gazes) (vgl. Urry 1992). Dieser local gaze führt zur Normierung der ästhetischen Inszenierung von Natur und Natürlichkeit und symbolisiert die Praktiken wie die Subsistenzlandwirtschaft sowie Charakteristika wie endemische Pflanzen. Die visuelle Norm und Ästhetisierung der dörflichen Umwelt bedingt in Lachatao eine neue Bewertung von materiellen Dingen und Praktiken, die nun als Verschmutzung der lokalen Natur und der Umweltbeziehungen deklariert (z.B. Müll oder die Verwendung von Düngemitteln) und folglich versteckt oder verboten werden. Wie am Beispiel der Inszenierung des ländlichen Lebens im Sinne des todo natural gezeigt wurde, sind diese Symbolisierungen im Kontext lokaler Wertsysteme und herrschender Machtverhältnisse zu verstehen, die immer auch geschlechtsspezifisch sind. Der local gaze steht somit in einer Beziehung zu intersektionalen Differenzkategorien und stärkt bestehende Hierarchien (beispielsweise durch die Zuweisung von Tätigkeiten an Frauen im Zuge des turismo rural), bietet zugleich aber auch die Möglichkeit, diese Hierarchien bis zu einem gewissen Grad zu unterwandern, worauf im Folgenden näher eingegangen wird (Kapitel 6.2 und 6.3). An diesen Symbolisierungen zeigt sich, dass nicht das Produkt „Natur“ per se touristisch beworben und kommodifiziert wird, sondern die Naturen als lokale Praxis- und Bedeutungssysteme – der Umweltschutz, die traditionelle und spirituelle Beziehung zur Natur sowie die natürliche Lebensweise und Subsistenzlandwirtschaft. Die symbolische Ökonomie (Zukin 1995) in Lachatao umfasst somit nicht nur die Ästhetisierung der Landschaft und des Dorfes, sondern vor allem die umweltbezogenen Praktiken und die damit verbundenen kulturellen Werte. Diese Praktiken werden im Rahmen der symbolischen Ökonomie gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie einer kommerziellen Verwertung von Natur entgegenstehen. Hierin zeigt sich, wie die Zuweisung eines intrinsischen Wertes von Natur und Natürlichkeit eine wirkmächtige Symbolpolitik darstellt, die ökonomisch sowie identitätspolitisch von entscheidender Bedeutung ist. Die Naturen dienen hier als Katalysator bei der Herstellung von kultureller Differenz gegenüber der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft sowie benachbarter Dörfer und stehen im Kontext der invention of tradition (Hobsbawm und Ranger 1992), die mit der Revitalisierung und Neubewertung traditioneller Praktiken im Alltag einhergeht. Damit wird eine westliche Trennung von Natur und Kultur zurückgewiesen und gerade deren Verwobenheit touristisch repräsentiert. Diese neue Bedeutung sowie reflexive Auseinandersetzungen mit den Naturbeziehungen führen zu sozialen Zuweisungen und Aushandlungsprozessen, die die Formation der Gemeinde an sich betreffen. Wie die Naturen die soziokulturellen

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Verhältnisse in der Gemeinde verändern und ihre Mitglieder, die Verwaltung und das Territorium verändert, ist das Thema des nächsten Kapitels.

6

Naturen als Mittel der Neuverhandlung von Gemeinschaft und Territorium

6.1 ÖKOTOURISMUS UND DIE TRANSFORMATION DER GEMEINSCHAFT DURCH NATUREN: KONZEPTUELLE AUSGANGSPUNKTE „Meiner Meinung nach war das, was uns schließlich ganz eindeutig alle miteinander verbunden hat, die Männer wie die Frauen, im Jahr 2009, nicht? Damals war das wie eine Entscheidung zwischen ‚du bist oder du bist nicht aus Lachatao‘, nicht? Stolz darauf zu sein, aus Lachatao zu kommen. Und dann passierte so einiges. Zum Beispiel auch mit den Gemeindemitgliedern aus Oaxaca. Das ist der Teil, den man wirklich gespürt hat. Vielleicht war da dein Onkel, dein Cousin im Wald am Leiden gewesen. Und dir hier in Oaxaca war das völlig Wurst, nicht? Und ich glaube, ab da haben sich dann alle zusammengetan. Da wurden dann alle zu einer festeren Gruppe.“ (Interview_Guillermo_1.4.2014)

So stellt Guillermo, ein Mitglied des Ökotourismuskomitees Ende 20, das Jahr 2009 und die damals stattfindenden Auseinandersetzungen mit den Nachbargemeinden als Initialpunkt einer stärkeren Verbundenheit innerhalb der Gemeinde dar. In diesem Jahr spitzte sich der Konflikt um ein eigenes Territorium erneut zu und veranlasste die damalige Gemeinderegierung Lachataos, aktiv gegen die Rodung der Wälder vorzugehen. Die Männer der Gemeinde verbrachten Monate im Wald, um das Territorium zu bewachen, bis sie schließlich in eine gewaltvolle Auseinandersetzung mit den Nachbargemeinden gerieten. Diese politische Entwicklung ging Hand in Hand mit dem Aufbau des Ökotourismus (vgl. Kapitel 3.4). In der Aussage setzt Guillermo den Zusammenhalt der Gemeinde – vor allem zwischen den in der Stadt und den im Dorf lebenden Gemeindemitgliedern – mit dem Landrechtskonflikt und dem Naturschutz in Verbindung. Auch in vielen Gesprächen unter Gemeindemitgliedern zeigte sich, dass Personen, die die Gemeinderegierung beim Schutz des Territoriums unterstützen, mehr als Lacha-

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tense gelten, wohingegen anderen die Zugehörigkeit eher abgesprochen wird. In diesen Gesprächen greifen die führenden Gemeindepersönlichkeiten in ihrer Argumentation auf den Naturschutz oder andere Diskurse zurück, die mit den Naturen in Verbindung stehen. Dadurch stellt sich die Frage, wie sich der Ökotourismus auf die Gemeinschafts- und die Identitätsbildung auswirkt und in welchem Zusammenhang dies mit der Natur bzw. den lokalen Naturen steht. Im Folgenden werde ich dieser Frage nachgehen und darstellen, wie die bereits beschriebenen Prozesse der performativen Herstellung der Naturen soziokulturelle Prozesse bewirken, die die Zughörigkeit zur Gemeinde, die geschlechtsspezifischen Rollen und die Identitätsbildung, die soziale Organisationsweise sowie das Verhältnis zum Territorium verändern. Sobald man die Gemeinde bzw. Gemeinschaft nicht nur als soziopolitische Verwaltungseinheit versteht – eine Ansammlung von Häusern, in diesem Falle eines municipios –, rückt die Komplexität der damit verbundenen Vorstellungen in den Mittelpunkt. In der deutschen Sprache werden die Begriffe Gemeinde und Gemeinschaft unterschieden, wobei unter einer Gemeinde1 zumeist eine Verwaltungseinheit und unter Gemeinschaft (vom grundlegendsten Verständnis her) eine Gruppe von Personen verstanden wird, die sich kollektiv miteinander verbunden fühlen (Rapport und Overing 2007, S. 67). Wie auch Vered Amit und Nigel Rapport feststellen, scheint der Begriff Gemeinschaft (community) wegen seiner Vagheit als analytisches Konzept wenig zielführend; in lokalen Kontexten jedoch ist er als Idee, politische Rhetorik und Legitimationsmittel von Inklusion und Exklusion von großer Bedeutung.2 In dem vorliegenden Buch beziehe ich mich auf den Begriff der Gemeinschaft in seiner lokalen Bedeutung der comunidad, also als Gemeinschaft von Personen, die sich einer Gemeinde im Sinne einer politischen Verwaltungseinheit zugehörig fühlen – sowie auf die Gemeinde als politische Einheit, die durch lokale Institutionen der usos y costumbres organisiert ist und ein bestimmtes Territorium umfasst. Sobald man sich diesen komplexen Bedeutungen zuwendet, stellt sich die Frage, wie sich die Gemeinschaft –

1

Nach dem Duden wird „Gemeinde“ als unterste Verwaltungseinheit des Staats oder einer Religionsgemeinschaft definiert, sowie gleichermaßen als Bezeichnung für die Gesamtheit von dessen BewohnerInnen bzw. deren Mitgliedern verwendet.

2

Zur Komplexität des Konzepts in methodologischer, theoretischer und phänomenologischer Hinsicht sowie als politisches und legales Konstrukt siehe Vered Amit und Nigel Rapport 2002. Sie zeigen auf, dass entgegen der positiven Rhetorik des Konzepts Gemeinden durch multiple Hierarchien geprägt sowie Orte von Gewalt und politischen Konflikten sind. Zum Konzept von Gemeinschaft im gemeindebasierten Tourismus (community-based tourism, CBT) vgl. Salazar 2012.

Naturen als Mittel der Neuverhandlung von Gemeinschaft und Territori um | 215

über die Bedeutung als Verwaltungseinheit mit formellen Mitgliedern hinaus – formiert. Es existieren unzählige Definitionen von Gemeinschaft, die seit den Anfängen der Ethnologie als ein universelles Grundkonzept fungierte und zumeist eurozentristisch definiert wurde. Die von Robert Redfield einer Gemeinschaft zugeschriebenen Charakteristika von „distinctiveness, smallness, homogeneity, and all-providing self-sufficiency“ (Redfield 1955, S. 5) wirken sich bis heute in nostalgisierenden und romantisierenden Konzepten von Gemeinschaft aus, die insbesondere in gemeindebasierten Tourismusprojekten eine große Rolle spielen (vgl. Salazar 2012). Während sich die Kriterien, über die Gemeinschaft im Lauf der Zeit definiert wurde, extrem gewandelt haben, hat sich an der grundlegenden Komplexität des Phänomens, wie es Redfield schon 1960 beschrieb, nichts verändert: „As soon as our attention turns from a community as a body of houses and tools and institutions to the states of mind of particular people, we are turning to the exploration of something immensely complex and difficult to know. But it is humanity, in this inner and more private form; it is, in the most demanding sense, the stuff of community.“ (Redfield 1989 [1960], S. 59)

In Anlehnung daran stellt sich die Frage, was der „stuff of community“ für die einzelnen Gemeindemitglieder bedeutet – also wie sich das Zusammenleben in der Gemeinde Lachatao bzw. in deren Gemeinschaft aus der Perspektive der Mitglieder und ihrer alltäglichen Handlungen gestaltet. Um dieses Zusammenleben beschreibbar zu machen, ist es notwendig, die Gemeinde(-institutionen), die Gemeinschaft der Mitglieder sowie die Prinzipien der Gemeinschaftsherstellung wie geteilte Diskurse, Werte und Vorstellungen in ihrer Verschränkung darzustellen. Dafür ist es sinnvoll, die Gemeinschaft aus der Handlungsperspektive der Beteiligten heraus zu verstehen und die geteilten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Diskurse in den Blick zu nehmen, wie es beispielsweise Armanda Stronza vorschlägt: „[community as it is] socially constructed by the people who identify themselves as part of a group and who coalesce around certain perceptions, images, and discourses“ (Stronza 2008, S. 246). Wie bereits angedeutet, spielt in Lachatao eine spezifische Haltung zur Natur – im Sinne der Naturen – eine entscheidende Bedeutung darin, die Gemeinschaft zu verbinden. Die Gemeindemitglieder teilen unter anderem bestimmte „perceptions, images and discourses“, die, wie ich aufzeigen werde, in besonderem Zusammenhang mit der Haltung gegenüber den Naturen stehen und wesentlich zur Vergemeinschaftung beitragen, zugleich aber auch Konflikte verstärken und die Gemeinschaft fragmentieren. Wie die Datenanalyse zeigt, betrifft dies nicht nur

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die politische Haltung im Landrechtskonflikt, sondern auch die alltäglichen Praktiken und Bedeutungszuweisungen. Die Gemeindemitglieder in Lachatao beziehen sich diskursiv auf die Naturen, eine „unberührte schützenswerte Natur“ (éste es un área virgen), eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen) sowie eine „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural) und konstituieren diese – wie im vorherigen Kapitel dargestellt – durch (symbolische) Praktiken und Bedeutungszuweisungen. Dadurch verändern sie nicht nur ihre materielle Umwelt, sondern auch die Gemeindestrukturen und die Gemeinschaft stiftenden Werte, Normen, Praktiken und Diskurse – die neuerdings auf die Naturen bezogen werden. Zum anderen nutzen Gemeindemitglieder gerade diese Gemeinschaft stiftenden Aspekte dazu, sich gegenüber anderen Gemeindemitgliedern zu positionieren und Machtverhältnisse neu zu verhandeln. Sie entwickeln dadurch Identitätskonzepte, die in Bezug zu den Naturen stehen sowie per se geschlechtsspezifisch und intersektional zu verstehen sind. Dadurch ändern sich die Beziehungen unter den Gemeindemitgliedern, insbesondere im Kontext der Migration, was sich in der Transformation von Regeln und Institutionen in der Gemeindeverwaltung widerspiegelt. Daran zeigt sich, wie verschiedene Gemeindemitglieder durch umweltbezogene Praktiken die Institutionen der Gemeinde verändern und sich in Rückbezug auf die Naturen neu gegenüber anderen Gemeindemitgliedern positionieren. Diese Prozesse stehen in Lachatao unter dem Einfluss des Ökotourismus und der identitätspolitischen Bedeutungen der Naturen, die im Kampf um ein eigenes Territorium eine entscheidende Rolle spielen. Um diese Prozesse beschreiben zu können, werden die konzeptuellen Überlegungen von Zugehörigkeit und die damit zusammenhängenden Subjektivierungsprozesse vertieft. Diese unterscheiden sich zwischen Frauen und Männern maßgeblich in Bezug auf ihre geschlechtsspezifische Identität, die auf unterschiedliche Weise mit den Naturen in Verbindung steht. Zugehörigkeit bzw. belonging kann als Metakonzept verstanden werden, das auch andere soziale Kategorisierungen wie Ethnizität oder citizenship beinhaltet, aber darüber hinausgeht (Albiez et al. 2011). Dies ist insbesondere im Kontext von Oaxaca relevant, da hier die kollektiven Identitätskonstruktionen vor allem über die Gemeinde formiert werden (vgl. Kapitel 2.1.2). Das Konzept erlaubt es, Gemeindezugehörigkeit nicht nur anhand einer formalen Mitgliedschaft zu verstehen, sondern aus einer Akteursperspektive heraus zu denken: „Belonging is more about personal locations and positionings shaped by individuals amongst social, cultural, political and spacial demarcations“ (Albiez et al. 2011, S. 13). Zugehörigkeit wird also darüber hergestellt, wie sich Personen gegenüber der Gemeinschaft positionieren und von ihr positioniert werden. Die Zugehörigkeit

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ist somit nicht nur als eine emotionale Empfindung zu verstehen, sondern wird durch soziale Praktiken hergestellt, die zur sozialen Differenzierung und Repräsentation kultureller Identität herangezogen werden (Dürr 2011, S. 238). In den Gemeinden der Sierra Norte wird Zugehörigkeit, über die formale Mitgliedschaft hinaus, durch die jeweiligen usos y costumbres verhandelt. Wie bereits dargestellt, verfügen viele Personen über keine formale Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinde im Sinne einer rechtlichen Erfassung als ciuadano/a oder comunero/a. Vielmehr wird diese aufgrund der jeweiligen usos y costumbres sowie verschiedener Kriterien wie der Deszendenz, dem Wohnsitz sowie der Grundstücke verhandelt (vgl. Kapitel 3.4). Die usos y costumbres regeln die Beziehung der Gemeindemitglieder zur Gemeinde aufgrund ihrer „Rechte und Pflichten“ (derechos y obligaciones), was bedeutet, dass ihre Rechte als Gemeindemitglieder von der Erfüllung ihrer Gemeindepflichten abhängig sind. Diese Relationalität von Zugehörigkeit wird auch in den theoretischen Ansätzen als grundlegend angesehen. So stellt Joanna Pfaff-Czarnecka fest: „[B]elonging’s relationality consists in forging and maintaining social ties and in buttressing commitments and obligations“ (Pfaff-Czarnecka 2011, S. 203). Die soziale Zusammengehörigkeit wird also über die derechos y obligaciones organisiert, als deren Grundlage geteiltes Wissen, Praktiken und Normen anzusehen sind. Diese sind jedoch nicht gleichermaßen für alle Mitglieder verfügbar, und so beinhaltet eine Zugehörigkeit – je nach sozialer Position – auch, restriktiven sozialen Praktiken sowie ungleich verteilten Möglichkeiten und Zugängen zu Ressourcen ausgesetzt zu sein: „Shared knowledge, practices and norms are products of sometimes restrictive social practices and of unequally distributed chances and resources. Therefore, belonging often comes at the price of subjugation vis-á-vis norms guiding and guarding the collective life. To put it simple: belonging can be cosy, but also exclusionary and oppressive. It almost always comes at a price.“ (Pfaff-Czarnecka 2011, S. 207)

Wie im Folgenden aufgezeigt wird, führt der Ökotourismus dazu, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinde Lachatao auch von den migrierten Gemeindemitgliedern neu empfunden und ausgedrückt wird, sowie dazu, dass „externe“ Personen, die nicht aus Lachatao stammen, sich der Gemeinde zugehörig fühlen. Das Konzept der Zugehörigkeit ermöglicht es, diese Prozesse nachzuvollziehen und zu erklären, wie „Fremde“ in die Gemeinde integriert sowie andere, zuvor als zugehörig geltende Personen ausgeschlossen werden können (Pfaff-Czarnecka 2011, S. 207). Wichtig ist dabei, dass Zugehörigkeit immer als multipel zu verstehen ist und Personen verschiedene Zugehörigkeiten zugleich innehaben, die intersektio-

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nal durch weitere soziale Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Alter oder Bildungsstand differenziert sind (Anthias 2006). In Bezug zum Ökotourismus in Lachatao zeigte sich, dass Zugehörigkeit – wie das an den Anfang gestellte Zitat von Guillermo andeutet – in einer Beziehung zu den Naturen steht. Wie Joanna Pfaff-Czarnecka darlegt, ist die Zugehörigkeit von Personen zur Gemeinschaft auch davon abhängig, inwieweit sie sich deren geteilten Werten und Normen unterordnen. In Lachatao sind die kollektiven Werte und Normen, über die sich die Dorfgemeinschaft definiert, stark auf die Natur bezogen. Die im letzten Kapitel beschriebenen, lokal spezifischen Naturen werden (über die touristische Repräsentation des tourist gaze bzw. des local gaze hinaus) zu norm- und wertstiftenden Elementen, die sich auf die Identitätskonstruktionen der Gemeindemitglieder auswirken. Wie im Folgenden ausgeführt wird, stellen migrierte wie auch im Dorf lebende Gemeindemitglieder ihre Zugehörigkeit neuerdings durch ein den Naturen entsprechendes Verhalten unter Beweis. Dies kann sich vielfältig ausdrücken, beispielsweise durch umweltbewusste Praktiken wie Mülltrennung, rituelle Opfergaben an den Herrn des Ortes (el dueño del lugar) oder Subsistenzlandwirtschaft. Die Naturen werden somit zur „moralischen“ Ressource, um sich als besonders naturverbunden und der Gemeinde zugehörig darzustellen. Dadurch werden Naturen zu umkämpften Räumen, in welchen konkurrierende Gemeindemitglieder um Vorherrschaft ringen, umweltbezogene Regeln definieren und die Nichteinhaltung anderer Regeln reklamieren oder sanktionieren. So stellt sich die Frage, wie verschiedene Personen sich auf die Naturen beziehen, um ihre Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen, und wie sich dies auf ihre Stellung in der Gemeinschaft und auf ihre Subjektpositionen bzw. Identitätsprozesse auswirkt. Dabei ist davon auszugehen, dass sich das Selbstverständnis von Personen in Bezug zur Umwelt und somit zur Natur insgesamt entwickelt (und generell als heterogen und multipel zu verstehen ist). „[The] understanding of personhood, of ourselves and others as persons, develops within our relationship with our total environment, not just within our relationships with our fellow human beings“ (Milton 2002, S. 47). Daraus lässt sich schließen, dass sich eine Veränderung der Beziehung zur Umwelt nicht nur auf diese auswirkt, sondern auch auf das Selbstverständnis der Personen selbst und auf deren Beziehungen zu Anderen. Wie empirische Studien aufzeigen, können Menschen durch vielfältige Prozesse ein Umweltschutzbewusstsein entwickeln (Erazo 2013, S. 133–171; Agrawal 2005). Arun Agrawal führt hier den Begriff der environmental subjects ein, als Bezeichnung für Personen, die ihre Identität als umweltschützend entwickeln:

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„‚Environmental subjects‘ [as] people who care about the environment. For these people the environment is a conceptual category that organizes some of their thinking and a domain in conscious relation to which they perform some of their actions.“ (Agrawal 2005, S. 162)

Er entwickelt diese Überlegungen aus seiner empirischen Arbeit zur forstwirtschaftlichen Verwaltung in Indien, indem er die (institutionellen) Gründe dafür aufzeigt, wieso bestimmte Personen ein Umweltbewusstsein entwickeln und ihre Praktiken und Gedanken in einen Bezug zu einem Konzept von Umwelt stellen, was ihnen bislang unbekannt war.3 In Lachatao stehen diese Prozesse, wie im vorherigen Kapitel dargestellt, in engem Verhältnis zum Ökotourismus. Die Datenanalyse zeigt, dass sich hier viele Personen als umweltbewusst positionieren und diese Selbstzuschreibungen diskursiv sowie durch (symbolische) Praktiken zum Ausdruck bringen. Von einem praxeologischen Ansatz ausgehend bedeutet das, dass umweltschützenden Praktiken nicht notwendigerweise eine umweltschützende Identität vorausgeht, sondern dass die Praktiken selbst die Art und Weise verändern, wie über die Umwelt nachgedacht wird (Agrawal 2005). In Lachatao lässt sich beobachten, dass viele Gemeindemitglieder durch die neue Bedeutung der Naturen und der damit zusammenhängenden Tätigkeiten ein Umweltschutzbewusstsein entwickeln, dieses aber nicht unbedingt im Zusammenhang mit einem intrinsischen Naturschutzverständnis steht. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, stehen die Umweltschutzaktivitäten in vielfältigen Bezugsystemen – sie sind eng damit verbunden, eine Zugehörigkeit zur Gemeinde zu verhandeln sowie ökonomische und politische Vorteile zu erlangen. Die umweltschützenden Maßnahmen werden im Rahmen des Ökotourismus regulatorisch und institutionell kontrolliert (einerseits von den staatlichen Organisationen, andererseits von den Gemeindeinstitutionen selbst), wobei es immer einen Spielraum zwischen der Neupositionierung von Subjekten und den regulatorischen Maßnahmen gibt (Agrawal 2005, S. 162–166). Dieser Spielraum besteht in Lachatao – zum einen in der Umsetzung staatlicher Umweltschutzmaßnahmen seitens der Gemeinderegierung, die diese Maßnahmen – über den Zweck des Umweltschutzes hinaus – dazu verwenden, lokale Interessen durchzusetzen. Zum anderen besteht er dahingehend, wie die Gemeindemitglieder mit

3

In seiner Arbeit zeichnet Agrawal nach, wie bestimmte Personen in ländlichen Gemeinden durch die Verwaltungsstrukturen der Gemeinde sowie in der Zusammenarbeit mit Regierungsinstitutionen und deren umweltregulierenden Maßnahmen neue Wahrnehmungs- und Verständnisweisen der Umwelt entwickeln und zu politischen Führungspersonen in den jeweiligen Gemeinden werden (Agrawal 2005).

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den regulatorischen Maßnahmen der eigenen Gemeinderegierung umgehen und für welche Zwecke sie diese einsetzen. Dementsprechend müssen Naturschutzaktivitäten nicht einer intrinsischen Naturschutzmotivation folgen, sondern können auch für andere individuelle oder kollektive Zwecke verwendet werden. Dadurch lässt sich erklären, dass auf die Natur bezogene Handlungen mehrdeutig sind und je nach kontextueller Rahmung unterschiedlich verstanden werden. Gleichzeitig etablieren sie sich aber durch ihren wiederholenden Charakter und die interaktive Performanz als Normen und wirken gruppenbildend. Dies zeigt sich in Lachatao auch in Bezug auf die Geschlechterrollen, die vermehrt durch die Zuweisung von umweltbezogenen Verhaltensweisen definiert werden. Die Herstellung der Naturen betrifft (wie im letzten Kapitel schon angesprochen wurde) die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die geschlechtsspezifischen Normen und symbolischen Zuweisungen sowie die körperlichen Verhaltensroutinen von Männern und Frauen in unterschiedlicher Weise (vgl. Strüver und Wucherpfennig 2015, S. 120). Von einem performativen Ansatz von Geschlecht ausgehend stellt sich also die Frage, inwiefern doing gender/doing difference (Fenstermaker und West 2001) mit doing nature, also der performativen Herstellung lokaler Naturen in Verbindung steht. Anders gefragt: Wie werden geschlechtsspezifische Subjektpositionen durch die Naturen gestaltet und nicht nur zur Abgrenzung gegenüber der anderen, sondern auch zur Differenzierung innerhalb der eigenen Geschlechtergruppe (‚difference between‘ und ‚difference within‘) (Moore 1995) verwendet? Auch Renate Kroll geht davon aus, dass naturbezogene Praktiken symbolisch-repräsentativ mit Wertkonzepten, Wahrnehmungen und Normen (sowie Ästhetik) auf geschlechtsspezifische Weise symbolisiert werden (Kroll 2002, S. 73). Interessant ist hier, welche Praktiken mit welchen geschlechtsspezifischen Bedeutungen und Aufgabenbereichen in Verbindung gesetzt werden und wie sie die Gemeinschaft strukturieren und Beziehungen hierarchisieren – innerhalb von wie auch zwischen den Geschlechtergruppen. Eine gendersensible Perspektive fordert auch Margarete Swain in der ethnologischen Tourismusforschung: „[T]heorizing how behaviours and roles are given gendered meanings, how labor is divided to express gender and gendered differences symbolically, and how social structures incorporate gender values and convey gender advantages in hierarchical relationships.“ (Swain 1995, S. 251)

Im Sinne intersektionaler Theorieansätze ist die Kategorie Geschlecht mit anderen Differenzkategorien verschränkt, wodurch die Heterogenität innerhalb der Geschlechtergruppe und die Verschränkung der Differenzierungen, die sich ver-

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stärken oder abschwächen, in den Fokus geraten (Degele und Winkler 2011, 2009). Die naturbezogenen Praktiken unterscheiden sich dementsprechend auch innerhalb der Geschlechtergruppen und stehen mit anderen sozialen Differenzkategorien wie Alter, Bildung und sozialem Status im Zusammenhang. Dieser Ansatz erlaubt es, auch weitere lokalspezifische Differenzkategorien induktiv zu ermitteln und analytisch zu verbinden. Im vorliegenden Kapitel wird zunächst dargestellt, wie lokale Personen durch den Rückbezug auf die Naturen Kriterien transformieren, über welche die Zugehörigkeit verhandelt wird. Dadurch verändern sich die sozialen Verhältnisse innerhalb der Gemeinschaft, insbesondere zwischen den im Dorf und den in der Stadt lebenden Gemeindemitgliedern (vgl. Kapitel 6.2). Dies wirkt sich auf die Identitätskonstruktionen der Gemeindemitglieder aus, die für Frauen und Männer auf unterschiedliche Weise in Bezug zu den Naturen formuliert und durch Praktiken ausgedrückt werden. Die Neubewertung der Naturen im Ökotourismus bedingt, dass geschlechtliche Identität vermehrt über die umweltbezogenen Kenntnisse und Praktiken hergestellt und unter anderem dazu herangezogen wird, Hierarchien innerhalb der jeweiligen Gruppe der Männer und Frauen auszuhandeln (vgl. Kapitel 6.3). Bestimmte Gemeindemitglieder entwickeln dadurch ein Umweltbewusstsein und positionieren sich aktiv im Sinne von environmental subjects. Diese Möglichkeit, mit der man auch eine Führungsrolle (nicht nur in Umweltaspekten) für sich beanspruchen kann, ist jedoch gemäß intersektionaler Ungleichheitskategorien auf sehr unterschiedliche Weise gegeben (vgl. die Darstellungen über die NaturführerInnen in Kapitel 5.3.1). Im Zuge dessen etablieren sich neue umweltbezogene Normen, die auch die Art und Weise verändern, wie Gemeindemitglieder die Verwaltungsstrukturen der Gemeinde nutzen und transformieren (vgl. Kapitel 6.4). Abschließend werde ich darstellen, wie führende Gemeindepersönlichkeiten diese Verwaltungsstrukturen und institutionellen Praktiken in Bezug zu den Naturen (also den Umweltschutz) sowie zu einer geschichtlich fundierten spirituellen Naturbeziehung und der Stilisierung der Natürlichkeit des ländlichen Lebens – über den Ökotourismus hinaus – für den Kampf um ein eigenes Territorium einsetzen (vgl. Kapitel 6.5).

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6.2 ERES O NO ERES DE LACHATAO: NEUVERHANDLUNG VON ZUGEHÖRIGKEIT DURCH DIE NATUREN 4 6.2.1 Wie durch die Landnutzung Zugehörigkeit verhandelt wird Wesentlich für die formelle Zugehörigkeit als cuiadano/a oder comunero/a sind die geopolitische Lokalität (Deszendenz und Residenz) und die individuelle Verfügung über Land (terrenos). So sind der Status eines Gemeindemitglieds sowie die Unterscheidung von ciuadanos/as und comuneros/as von deren Landbesitz bzw. den vererbten Verfügungsrechten abhängig. Comuneros/as sind im Gegensatz zu ciuadanos/as Personen, die über vererbte (eingetragene) Landnutzungsrechte verfügen (vgl. Kapitel 3.4.2). Sie sind zumeist männliche Haushaltsvorstände (jefes de familia), deren Status und Verfügung über ihre Ländereien den derechos y obligaciones der Gemeinderegierung unterliegen. Die Vererbung der Nutzungsrechte war früher ausschließlich in patrilinearer Erbfolge an männliche Familienangehörige möglich. In Lachatao werden (im Gegensatz zu anderen Gemeinden der Region) in Einzelfällen auch Frauen als comuneras akzeptiert, beispielsweise wenn keine männlichen Verwandten existieren, die den Titel als jefes de familia innehaben. Diese Frauen können somit theoretisch an der politischen Entscheidungsfindung als eingetragene comuneras teilnehmen, tun dies jedoch zumeist nicht. Die Besitzverhältnisse zapotekischer Gemeinden in der Sierra Juárez sind – entgegen ihrer Repräsentation als „gemeinschaftliche Bastion gegen kapitalistische Privatinteressen“ – sehr ungleich verteilt. Der Landbesitz in Lachatao ist kommunal organisiert (terrenos comunales), was für die Region typisch ist, wo es nur wenige ejidos und sehr wenig offiziell registriertes Privateigentum gibt (vgl. Kapitel 3.4). Jedoch werden viele der terrenos comunales quasi als Privateigentum einflussreicher zapotekischer Familien verhandelt, was nach manchen Schätzungen 50 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Flächen in der Sierra Juárez ausmacht, die in den Gemeinden liegen (Barabas 1999, S. 82). Diese Struktur lässt sich auch in Lachatao wiederfinden, wo wenige einflussreiche Familien einen Großteil der Nutzungsrechte innehaben, ihre Ländereien jedoch landwirtschaftlich größtenteils nicht mehr nutzen. Sie wurden früher gegen einen Anteil der Ernte „verpachtet“, sodass die Besitzer der Ländereien landwirtschaftliche Produkte zum Verkauf hatten. (Wie in anderen Gemeinden dominierten sie den Handel und werden in der Literatur als Kaziken [cacique] bezeichnet.) Heute liegt der Großteil der Ländereien brach, da viele Ge-

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„Du bist aus Lachatao, oder du bist es nicht“.

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meindemitglieder aufgrund anderer Einnahmequellen und der hohen Kosten für die Landwirtschaft nicht mehr anbauen oder in die Städte emigriert sind und sich nicht mehr um ihre Grundstücke kümmern. Ökotourismus verändert nun den Umgang mit Grundstücken in Lachatao und macht sie attraktiv, auch unabhängig von der Landwirtschaft. Die Verwaltung durch die usos y costumbres ermöglicht einen flexiblen Umgang mit dem kommunalen Landbesitz. Das Prinzip besteht darin, dass die Rechte der Landnutzung von der Erfüllung der Gemeindepflichten abhängig sind und das Verhältnis der Gemeindemitglieder zur Gemeinde reziprok durch das System der derechos y obligaciones organisiert ist. Um die Rechte als comunero/a und ciuadano/a sowie die damit zusammenhängenden Anrechte auf Grundstücke und politische Mitsprache nicht zu verlieren, sind die Gemeindemitglieder zur Erfüllung von cargos und zur Achtung der obligaciones (bspw. die Teilnahme an tequios) verpflichtet, andernfalls können sie die derechos als cuiadano/a bzw. comunero/a verlieren. Das bedeutet, dass die betroffene Person die Gemeindemitgliedschaft verliert und somit den Anspruch auf Grundbesitz, Häuser und Landrechte, die Aufenthaltsgenehmigung in der Gemeinde sowie jeglichen Zugang zu den rechtlichen, ökonomischen und sozialen Ressourcen einbüßt – ja, dass sie sogar das Recht auf ein Begräbnis auf dem Gemeindefriedhof verlieren kann (vgl. Kearney und Besserer 2004, S. 456). Gemäß dem Gewohnheitsrecht wird über das Verhältnis von Rechten und Pflichten sowie gegebenenfalls über Sanktionen bei den verschiedenen Gemeindemitgliedern von Fall zu Fall entschieden.5 Der Status der terrenos comunales berechtigt die Gemeinde unter besonderen Umständen und durch den Beschluss der asamblea dazu, comuneros/as die Verfügungsrechte über ihren Landbesitz abzusprechen. Dies kann eintreten, wenn sie die Richtlinien der Landnutzung missachten oder Ländereien lange Zeit ungenutzt lassen und ihre Pflichten als Gemeindemitglieder nicht wahrnehmen. Von dieser Regelung sind nicht nur Grundstücke im Dorf selbst, sondern auch (früher) landwirtschaftlich genutzte Flächen (terrenos, ranchos) betroffen, die in der Nähe wichtiger touristischer Stätten liegen. Dabei kommt es zu Nutzungs-

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Im Gegensatz zu nationalstaatlichem Recht sind indigene Rechtspraktiken durch eine geringere institutionelle Segmentierung gekennzeichnet und unterscheiden nicht zwischen der Administration des Rechts und sozialer Kontrolle. Die Rechtsnormen sind weder kodifiziert noch fixiert, sondern ein Normenkatalog, der einen flexiblen Rahmen darstellt, um Rechte, Verpflichtungen und Sanktionen zu definieren und zu regulieren. Die grundlegenden Prinzipien der Rechtsprechung sind Reziprozität, Kompromiss, Konsens und die Aushandlung zwischen allen involvierten Parteien zum Wohle der Gemeinschaft (Dürr 2005, S. 97).

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konflikten zwischen Tourismus und privater (landwirtschaftlicher) Nutzung, die jedoch durch die Vernachlässigung der Subsistenzlandwirtschaft nur wenige Gemeindemitglieder betreffen.6 Unter Billigung der asamblea setzte das Ökotourismuskomitee durch, dass der landwirtschaftliche Anbau, die Einzäunung der Grundstücke sowie die Entwendung von Steinen oder archäologischen Fundstücken an den prähispanischen Stätten der Valenciana sowie der Ex Hacienda de 5 Señores verboten wurde. Das nach dem Fund der zapotekischen Tempel gegründete Komitee für die kommunale Verwaltung der archäologischen Anlage, das sich aus den führenden Personen des Ökotourismuskomitees zusammensetzt, machte sich dafür die Auflagen des mexikanischen Staats7 zu Nutze. Dieser hatte das Gebiet der Valenciana schon vor längerer Zeit als prähispanische Stätte deklariert und somit rechtlich die Nutzung eingeschränkt. Das Komitee berief sich auf diese Regelungen und erreichte, dass die asamblea die landwirtschaftliche Nutzung einschränkte, um die Stätte dauerhaft vor „unangemessener“ Nutzung (landwirtschaftlichem Anbau) und Grabraub zu schützen. Die Gemeinderegierung nutzt hier staatliche Gesetze, um die Regelungen nach den usos y costumbres zu legitimieren und mit größerem Nachdruck durchzusetzen. Insbesondere die landwirtschaftliche Nutzung wird aktiv von der Gemeinderegierung und vom Ökotourismus gefördert, da sie als wichtiges identitätspolitisches Symbol einer indigenen Gemeinde gilt (vgl. Kapitel 5.5). Einige Ländereien der Gemeinderegierung, die vormals für den landwirtschaftlichen Anbau der Schule genutzt wurden, sowie einige brachliegende Felder emigrierter Gemeindemitglieder wurden im Zuge dessen dem kommunalen Gemüseanbauprojekt zur Verfügung gestellt. Landbesitz und Nutzungsrechte – vor allem von Grundstücken, welchen eine zukünftige touristische Nutzung zugesprochen wird – geraten so ins Feld multipler Interessen und führen zu „Grundstücksspekulation“. Die Inanspruchnahme von „privaten“ brachliegenden Ländereien seitens der Gemeinderegierung zur „kollektiven“ touristischen oder landwirtschaftlichen Nutzung führt zu verschiedenen Reaktionen, Widerständen und Konflikten. Viele vor allem in Oaxaca lebende Gemeindemitglieder haben ein verstärktes Interesse an den Nutzungsrech-

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In der Literatur zu Ökotourismus werden häufig Nutzungskonflikte diskutiert, die darin resultieren, dass lokale Subsistenzwirtschaftsweisen als dem Umweltschutz oder touristischen Vorstellungen entgegenstehend betrachtet und folglich verboten werden (Butcher 2007, S. 23; Vivanco 2001, S. 90–91).

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Für die Verwaltung archäologischer Stätten ist in Mexiko das Nationale Institut für Anthropologie und Geschichte, INAH (Instituto Nacional de Antropología e Historia) zuständig.

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ten und äußern auch Kaufinteressen. Die Verfassungsänderung des Artikels 27 der Agrargesetzgebung8 ermöglicht theoretisch auch die Privatisierung von Gemeindeland, das mit einem Beschluss der asamblea verkauft werden kann. Das Kaufinteresse an Nutzungsrechten oder sogar an Grundstücken, das vereinzelt von migrierten Gemeindemitgliedern formuliert wird, wird in der Gemeinde sehr kritisch diskutiert. Von führenden Gemeindemitgliedern wird es als Angriff auf die lokale Kultur gewertet, die sich durch den kollektiven Landbesitz und den Gemeinschaftssinn definiert, der sich am Gemeinwohl orientiere. Dennoch kann die Gemeinderegierung wegen der großen politisch-ökonomischen Bedeutung der migrierten Gemeindemitglieder deren Interesse an Grundstücken und Bauvorhaben nicht prinzipiell zurückweisen. Die Verwaltung der usos y costumbres ermöglicht hier eine große Flexibilität, die zu sehr unterschiedlichen Umgangsweisen mit den Grundstücken und Bauvorhaben führt. Während manche Familien ihre Ländereien erneut zugesprochen bekommen und manche sogar Grundstücke erwerben können, verlieren andere ihren Anspruch. Dies steht im konkreten Zusammenhang mit dem Ökotourismus, für dessen Ausbau beispielsweise eine Familie aus Oaxaca die Nutzungsrechte an ihrem Grundstück verlor, weil dieses für den Bau von touristischen Unterkünften (cabañas) benötigt wurde. Argumentativ wurde auf die Nichterfüllung der Pflichten der Familie als cuiadano/a verwiesen, was ihren Anspruch auf die terrenos comunales aufhob. Sie reichte Klage gegen die „Enteignung“ ein, die aber erfolglos blieb. Derartige Konflikte entstehen jedoch nicht nur zwischen verschiedenen, sondern auch häufig innerhalb von Familien und betreffen die Vererbung von Nutzungsrechten. In den Streitigkeiten treffen verschiedene Rechtsauffassungen aufeinander, und häufig greifen die profesionistas auf nationalstaatliche Rechte zurück – die im Konflikt mit den Gemeinderechten der usos y costumbres stehen können (vgl. Dürr 2005). Dies führt in der Gemeinde zu grundlegenden Diskussionen über den Umgang mit den terrenos comunales. Um weiteren Konflikten zuvorzukommen – etwa, wenn die Nutzungsrechte an bestimmten Grundstücken aufgrund von kollektiver Nutzung abgesprochen werden –, wurde beispielsweise diskutiert, ob den betroffenen Personen nicht vorab eine Entschädigung zu zahlen sei. Einige Personen boykottieren die neuen Regelungen zum Umgang mit den Grundstücken, indem sie ihre Grundstücke explizit als privat markieren (beispielsweise durch das Abstellen bestimmter Gegenstände), an verbotenen Orten

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Der Verkauf von zuvor unveräußerbarem kommunalen Landbesitz wurde durch die Verfassungsänderung im Jahr 1992 ermöglicht, die eine Grundvoraussetzung für den Beitritt zum Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free Trade Agreement) darstellte.

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weiter Anbau betreiben oder ihr Land einzäunen. Sie widersetzen sich bewusst den (ästhetischen und umweltschützenden) Regelungen des Ökotourismus, indem sie den Landbesitz symbolisch markieren und so das touristische Bild von allen gleichsam zugänglich und natürlich anmutenden kommunalen Ländereien (terrenos comunales) gezielt stören. Die Gefahr, Grundstücke zu verlieren, führt dazu, dass vor allem emigrierte Gemeindemitglieder sich verstärkt ihrem Land widmen und bei ihren Gemeindebesuchen wieder landwirtschaftlichen Anbau betreiben. Wegen des relativ hohen Arbeitsaufwandes bei der Bestellung der milpa bebauen einige wohlhabende Gemeindemitglieder ihre Felder mit Obstbäumen (deren Pflege relativ wenig Arbeitsaufwand benötigt, deren Anschaffung jedoch teuer ist) und markieren damit ihre Gebietsansprüche. Beispielsweise pflanzte ein migriertes Gemeindemitglied Obstbäume auf seinem seit Jahren leerstehenden Grundstück mitten im Dorfzentrum an, um dort (wie Gemeindemitglieder im Dorf behaupteten) den Bau eines Kulturzentrums (casa de la cultura) zu verhindern. So können landwirtschaftliche Tätigkeiten – die im offiziellen Gemeindediskurs als positiv bewertet werden – für andere Gemeindemitglieder oder die Gemeinde auch nachteilig sein, da die betroffenen Grundstücke dann nicht zur gemeinnützigen Verfügung stehen. Häufig werden gerade die „umkämpften“ Grundstücke von den BesitzerInnen durch erneuten wirtschaftlichen Anbau oder Bauvorhaben wieder in Besitz genommen. Grundstücke in Lachatao geraten so durch den Ökotourismus erneut in den Fokus des Interesses, insbesondere bei den migrierten Gemeindemitgliedern. Dies ermöglicht es der Gemeinderegierung, die derechos y obligaciones hinsichtlich der Grundstücke strikter zu regeln und damit die Kontrolle über deren „BesitzerInnen“ (comuneros/as) zu verstärken. Das Interesse liegt seitens der Gemeindeverwaltung darin, den Status des kommunalen Landbesitzes zu stärken, ihn vermehrt für das Gemeinwohl – welches seinerseits mit dem Ökotourismus gleichgesetzt wird – zu nutzen und die Verpflichtung der Gemeindemitglieder im Sinne der derechos y obligaciones zu intensivieren. Die Interessen einzelner Gemeindemitglieder hingegen bestehen darin, persönliche Landrechte zu rehabilitieren oder zu erwerben und für sich selbst oder später im Tourismus ökonomisch zu nutzen. Dies führt dazu, dass sie sich verstärkt in der Gemeinde engagieren, die von der Gemeinderegierung erlassenen Regeln weitestgehend akzeptieren und sich im Dorf regelkonform verhalten, um so ihre Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen und somit ihre Rechte wahrnehmen zu können. Die touristische Nutzung von Land sowie die Zu- und Absprache von Nutzungsrechten führen zur Neuverhandlung von Besitzverhältnissen und zur Anwendung verschiedener Rechtsmodelle (nationale Regelungen sowie usos y cos-

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tumbres). Personen aus der Stadt und die in der Gemeinde lebenden Personen berufen sich – je nachdem – auf nationalstaatliches Recht oder auf die gemeindeinternen Regelungen der usos y costumbres. So werden die internen Rechte und Pflichten als comunero/a und damit die Zugehörigkeit zur Gemeinde neu verhandelt und interne Hierarchien abgesteckt. Hierbei sind die in der Gemeinde lebenden Eliten durch ihre Teilhabe an der Gemeindeverwaltung und ihren großen Einfluss in der Gemeinde im Vorteil, das Gewohnheitsrecht (unter Bewilligung der asamblea, die jedoch nicht als demokratisch zu verstehen ist)9 zu ihren Gunsten auszulegen und anzuwenden. Das Interesse, zugehörig zu sein, ist aber nicht nur im Hinblick auf die Landrechte zu sehen, sondern liegt auch in anderen ökonomischen und politischen Interessen begründet – wofür eine Zugehörigkeit als ciuadano/a ausreicht und keine Landnutzungsrechte notwendig sind. Zudem hat Zugehörigkeit auch eine emotionale, identitätsbezogene Dimension, die durch soziale Praktiken zum Ausdruck gebracht wird und als unabhängig von der formalen Zugehörigkeit zu sehen ist. Sie organisiert sich wie im Zitat von Armanda Stronza am Anfang dieses Kapitels über das Teilen bestimmter Wahrnehmungen, Vorstellungen und Diskurse (Stronza 2008, S. 246). Im Kontext unklarer (also nicht formell geregelter) Zugehörigkeiten werden diese geteilten Vorstellungen und Werte performativ durch ein „korrektes“ Umweltverhalten zum Ausdruck gebracht und verhandelt. 6.2.2 Zugehörigkeit durch umweltbewusstes Verhalten „Die Leute aus der Stadt sind die schmutzigsten, sie lassen ihren Müll liegen, wo sie wollen! Hier passiert das nicht. Wenn Sie sich erinnern, hier im Dorf werden weder Plastiktüten noch Plastikgeschirr verwendet.“10 (Martínez 2013)

So äußerte sich Tía Marce, eine im Ökotourismus engagierte Frau, im Rahmen eines Interviews mit dem Reporter einer Lokalzeitung über den fortschrittlichen Umgang mit Müll in der Gemeinde. In dem Artikel wurden die ausgefeilten Regeln der Mülltrennung und -vermeidung als Ausdruck eines besonderen Natur-

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Die asamblea kann wegen des teils systematischen Ausschlusses von bestimmten Bevölkerungsgruppen (in vielen Fällen der Frauen oder Personen der agencias) sowie der nicht-geheimen Abstimmung nicht als demokratisch angesehen werden (vgl. Kapitel 3.3.1; vgl. Eisenstadt 2007, S. 63).

10 Zitat aus dem Artikel „Veta Lachatao a unicel y plástico“ der Lokalzeitung Las Noticias vom 11.01.2013 über das besondere Umweltbewusstsein und die „moderne“ Abfallwirtschaft in Santa Catarina Lachatao (Martínez 2013).

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schutzes dargestellt, und zugleich wurde für einen Besuch der Gemeinde geworben. Die Regelungen des Naturschutzes und der Mülltrennung werden von den führenden Gemeindemitgliedern als notwendig dargestellt, um den negativen Einfluss der BesucherInnen möglichst gering zu halten und das Umweltbewusstsein als repräsentativ für die Gemeinde zu deklarieren. Die negativen Zuschreibungen an die Städter, die von Tía Marce in dem Artikel für den Müll verantwortlich gemacht wurden, führten zu heftigen Diskussionen mit den in der Stadt lebenden Gemeindemitgliedern – die sich durch die Aussage nicht zu Unrecht betroffen fühlten. Um die Kontrolle über die touristischen Prozesse zu behalten, wurden in Lachatao Besucherregeln (reglamento de comportamiento) entworfen, die sich an den Vorgaben des CDI und teilweise an der Ökotourismusnorm NORMA 133 orientieren. Sie sollen den BesucherInnen ein angemessenes Verhalten in der Natur und einer „indigenen Gemeinde“ nahebringen. Vor allem die Regelungen, die eine visuell sichtbare Naturzerstörung verhindern sollen, werden in der Gemeinde als bedeutend angesehen. Wenn BesucherInnen gegen diese Regeln verstoßen, können Geldstrafen verhängt oder sie können des Dorfes verwiesen werden.11 So wurde beispielsweise einem Tourismusunternehmen aus Oaxaca ein erneuter Aufenthalt in Lachatao und der Zutritt zum Territorium verwehrt, weil seine KundInnen Orchideen entwendet hatten. Die Regeln betreffen jedoch nicht nur die (wenigen) TouristInnen, sondern auch die Gemeindemitglieder selbst. Im Zuge dessen wurden früher übliche Praktiken – wie Feuerholz in der Nähe der Wege zu schlagen, das Holz oder Pflanzen außerhalb der Gemeinde zu verkaufen oder die Jagd – als „rückschrittlich“ und umweltzerstörend deklariert und verboten. Auch die Tierhaltung fällt unter die neuen Regelungen und sieht vor, dass Tiere, insbesondere die Hunde und Rinder,12 nicht frei umherziehen dürfen. Bei Nichtbeachtung der Regelungen werden Abmahnungen erteilt und Geldstrafen auferlegt. In drastischen Fällen wurden Tiere auf Anweisung des síndicos getötet (ein Hund sowie ein Stier), was zu heftigen Diskussionen über die Befugnisse der Gemeinderegierung führte. Konflikte über diese Regelungen treten vor allem wegen Gemeindemitgliedern auf, die Subsistenzwirtschaft betreiben, nicht

11 Diese Regelungen sind auch in anderen Gemeinden der Region üblich, beispielsweise dass BesucherInnen bei Regelverstößen Bußgelder zahlen müssen oder aufgefordert werden, die Gemeinde zu verlassen (Gasca Zamora et al. 2010, S. 97). 12 In der Region ist es üblich, Rinder frei umherziehen zu lassen. (Damit sie nicht zu weit fortlaufen, werden ihnen zumeist die Vorder- oder Hinterläufe zusammengeschnürt.) Die Regelungen zielen vor allem auf die Hunde, die die Dorfwege durch Kot und das Aufreißen von Müllsäcken verunreinigen würden und zudem gefährlich seien.

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in die Gemeindeangelegenheiten und das Ökotourismusprojekt involviert sind sowie einen niedrigen sozialen Status und wenig Bildung haben. Einige von ihnen widersetzen sich, indem sie sich nicht an die Regeln halten und beispielsweise nach wie vor ihre Grundstücke einzäunen oder ihre Tiere frei umherlaufen lassen oder die verhängten Sanktionen nicht akzeptieren. Sie werden teilweise mit noch drastischeren Strafen belegt (indem beispielsweise ihre Tiere getötet oder ihnen die Wasserleitungen abgedreht werden), wodurch ihr Status weiter sinkt und sie noch stärker marginalisiert werden. Da es sich dabei jedoch nur um wenige Gemeindemitglieder handelt, die untereinander schlecht organisiert sind, ist es ihnen nicht möglich, eine Opposition gegenüber der Gemeinderegierung zu bilden. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder befürwortet hingegen die Regelungen und bewertet sie als Ausdruck ihres besonderen Umweltbewusstseins. Gewisse Regeln, insbesondere den Umgang mit Müll betreffend, haben sich als Markenzeichen Lachataos und seiner „Kultur“ etabliert – wie der bereits erwähnte Artikel in der Lokalzeitung zeigt. Führende Gemeindepersönlichkeiten erklären, dass dies nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tourismus stehe, sondern Ausdruck ihres kultureigenen Umweltbewusstseins sei. Dies erklärt Diego, der Vorsitzende des Ökotourismus, wie folgt: „Es dürften jetzt ungefähr acht Jahre sein, dass man recycelt. Das hat nicht direkt mit dem Ökotourismus zu tun. Ich glaube, die Grundidee des Umweltschutzes tragen die Leute aus Gewohnheit in sich, nicht? Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass wir das dank des Ökotourismusprojekts machen.“ (Interview_Diego_24.6.2012)

Auch Flor, seine Schwester, die die Verwaltung des Ökotourismus innehat, bekräftigt dies: „Ich glaube, dass wir wegen der Kultur, ja, vielleicht deswegen schon immer dieses Bewusstsein hatten, die Natur zu schützen, keinen Müll wegzuwerfen, diesen nicht zu verbrennen (...), ich weiß nicht. Aber durch den Ökotourismus haben wir es noch verstärkt. (…) Plötzlich haben die Gemeinden ein fortschrittlicheres Bewusstsein oder fortschrittlichere Praktiken, ja, bessere, definitiv bessere Praktiken als die Leute, die in der Stadt leben.“ (Interview_Flor_25.6.2012)

Das Umweltbewusstsein wird symbolisch anhand eines sachgerechten Umgangs mit Müll repräsentiert und von Gemeindeeliten dafür verwendet, die Gemeinde als „fortschrittlich“ gegenüber dem Leben in der Stadt sowie gegenüber anderen, „rückschrittlichen“ Dörfern darzustellen, die nach wie vor ihren Müll verbrennen würden. Vor allem der Plastikmüll wird als ein Problem wahrgenommen, das

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sich in den letzten Jahren zugespitzt hat und von vielen als eine Invasion 13 beschrieben wurde, die mit dem städtischen Leben, städtischen Konsumgewohnheiten und den StädterInnen in Verbindung gesetzt wird. Abbildung 21: Aufforderung zur Plastikvermeidung im Dorfladen, Lachatao, 2013

Quelle: Eigene Aufnahme

Die Sauberkeit Lachataos ist der Stolz der Gemeinde, und viele Gemeindemitglieder stellen dies als Beweis des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit der gesamten Gemeinde („son organisados – son unidos“) dar. So bezeichnete Tía Magali die Müllversorgung als Beweis der gemeinsamen Kooperation in der Gemeinde:

13 „So das uns das Plastik nicht so überschwemmt, wie es gerade passiert. Gerade sind wir absolut überschüttet mit Plastik, von allen Seiten.“ (Interview_Marce_28.5.2013).

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„Also, wenn alle zusammenarbeiten. Weil, wenn die einen Ja sagen und die anderen Nein, dann hätte man das so nicht durchführen können. Mit der Teilnahme aller, des ganzen Dorfes, aller Personen, die wir hier leben, so konnte man das Ziel erreichen [...] nicht so viel Müll zu haben.“ (Interview_Magali_29.5.2013)

Die Regelungen zur Sauberkeit betreffen nicht nur die touristisch genutzten Räume und öffentlichen Plätze der Gemeinde, sondern auch die privaten Haushalte. Eine moderne Müllversorgung wurde ab 2005/06 durch die damalige Frau des Bürgermeisters und Vorsitzende des DIF eingeführt.14 Sie beinhaltet die Mülltrennung,15 das Verbot, Müll zu verbrennen, sowie gewisse Regeln zur Müllvermeidung, wie das Verbot, Plastikgeschirr16 zu verwenden oder Plastiktüten im Dorfladen auszuhändigen, wie es dort auf einem Hinweisschild formuliert wurde (vgl. Abbildung 21). Jedoch zeugt die Anhäufung der Plastikprodukte um das Schild von einer gewissen „Ironie“ angesichts der Problematik der „Invasion von so viel Plastik“ (invasión de tanto plástico), wie es führende Gemeindemitglieder formulieren. Die Einhaltung der Regeln wird jedoch kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert, beispielsweise indem Personen, die Müll verbrennen, per Lautsprecherdurchsage öffentlich aufgefordert werden, die Feuer zu löschen (die ein wichtiger Bestandteil landwirtschaftlicher Praktiken sind), und damit gleichzeitig sozial diskreditiert werden. Dies betrifft vor allem die eher marginalisierten Gemeindemitglieder, die aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeiten von den bereits beschriebenen Nutzungskonflikten betroffen sind.

14 DIF, Sistema Nacional para el desarollo integral de la familia, México. Üblicherweise wird der Posten des DIF auf nationaler, bundesstaatlicher sowie Gemeindeebene von den Ehefrauen der amtierenden Präsidenten, Gouverneure oder Bürgermeister übernommen. 15 Es wird in biologischen und Wertstoffmüll getrennt, der wiederum in Plastik, Metall, Glas etc. sortiert wird. Die Wertstoffe werden seit der Einführung der modernen Müllversorgung nach Oaxaca verkauft. Zuletzt ist der Verkauf wegen interner Probleme mit dem Wertstoffhof (relleno comunitario) in San Juan Chicomezuchil, den sich Lachatao mit den benachbarten Gemeinden Yavesía, Amatlán und San Juan Chicomezuchil teilt, ins Stocken geraten. Der Wertstoffhof wurde von CDI und SEDESOL finanziert (Comité de Ecoturismo Lachatao 2011, S. 220). 16 Von den Einnahmen aus dem Verkauf von recycelbarem Müll wurde wiederverwendbares Tongeschirr für die Gemeindefeste angeschafft (das bei Privatfesten auch an Gemeindemitglieder verliehen wird), weshalb der Gebrauch von Plastikgeschirr (unicel) und Plastikbesteck verboten werden konnte.

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Abbildung 22: Öffentlicher Mülleimer im Dorfzentrum Lachataos, 2013

Quelle: Eigene Aufnahme

Vor allem die aus grobmaschigen Gittern bestehenden öffentlichen Mülleimer werden von den Gemeindemitgliedern dazu genutzt, den darin entsorgten Müll zu kontrollieren (um welchen Müll es sich handelt und ob er richtig getrennt wurde) (vgl. Abbildung 22). Dabei werden vor allem die Umgangsweisen der BesucherInnen mit Müll beobachtet, wie es Flor erklärt: „Mittlerweile trennen die Leute hier und so weiter. Aber dann kommen da plötzlich Leute von hier, die aber in Oaxaca leben, und bringen ihre Mülltüte mit. Oder sie kommen und kochen hier [...] Und dann gehen sie einfach zur nächsten Ecke, zum nächsten Mülleimer, den sie sehen, und werfen ihren Müll dort weg, ohne ihn zu trennen. Ja, und das ist dann halt problematisch, nicht? Weil [...] die Leute geben sich hier die Mühe, alles zu trennen

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und die Müllcontainer ordentlich zu haben, da hat es gerade noch gefehlt, dass alles umsonst war.“ (Interview_Flor_28.5.2013)

Die migrierten Gemeindemitglieder werden also in erster Linie für die Müllproblematik verantwortlich gemacht, die in Bezug zu den „verwahrlosten“ Grundstücken gesetzt wird. Trotz der zunehmenden Attraktivität und vermehrten Pflege der Ländereien, um die Nutzungsrechte nicht zu verlieren, sind nach wie vor viele Grundstücke verlassen und ungenutzt. Dies wird im Zuge der „Touristifizierung“ des Dorfes und der sich etablierenden Ästhetik (Sauberkeit und Subsistenzlandwirtschaft) von den führenden Gemeindepersönlichkeiten problematisiert. Die ungenutzten Grundstücke und Häuser werden von der Gemeinderegierung mit Müll und Schmutz, darüber hinaus aber auch mit der Verbreitung von Krankheiten in Verbindung gesetzt. Dies geht auf Aufklärungskampagnen des Gesundheitszentrums zurück, mit dem die Gemeinderegierung 2012 und 2013 zusammenarbeitete, um die Verbreitung des Denguefiebers zu stoppen.17 Im Zuge der entsprechenden nationalen Kampagne (descacharrización) überprüfte die zuständige Ärztin die Innenräume privater Häuser und deren umliegende Grundstücke auf Hygienestandards und Sauberkeit. Ziel war es, die Grundstücke und Häuser von Müll und stehenden Gewässern zu befreien, da diese Brutstätten der krankheitserregenden Moskitos sind. Die damals zuständige Ärztin erklärte: „Was wir für jede Behausung festlegen und worauf wir Wert legen, ist sicherzustellen, dass sie sauber und dementsprechend hygienisch ist, ein geeignetes Bad hat. Und dass es außerhalb des Wohnraums keine [...] Pfützen, wucherndes Gras oder Müll gibt. Und wenn sie Gärten haben, dass diese gepflegt sind, ordentlich, der Rasen gemäht.“ (Interview_Ärztin_ 24.5.2013)

Die Kontrollen erfolgten im Abstand von drei Monaten und sorgten für heftige Diskussionen und Protest einiger Gemeindemitglieder, deren Grundstücke ohne

17 Hygiene und der richtige Umgang mit Müll sind seit der Dezentralisierung des mexikanischen Gesundheitssystems (das die Gründung von Gesundheitszentren in Gemeinden und die Kooperation mit diesen vorsieht) wichtige Bestandteile der Öffentlichkeitsarbeit der mexikanischen Gesundheitsbehörde und werden durch Workshops und Aufklärungsarbeit in den Gemeinden propagiert. Trotz dieser Anstrengungen haben sich bis heute die Gesundheitsversorgung, die Krankheitsprävention und die Hygienestandards auf dem Land nicht entscheidend verbessert (Muñoz Patraca 1999). Zum Denguefieber ist zu vermerken, dass es bislang wegen der Höhenlage auf über 2.000 Metern nur sehr selten in der Region aufgetreten ist.

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ihre vorherige Einwilligung „aufgeräumt“ wurden. Von der Dorfgemeinschaft wurde zwar Verständnis für den Ärger über die unangekündigten Aufräumarbeiten geäußert, aber zugleich beteuert, dass Sauberkeit und Ordnung mit einen gesunden Lebensstil gleichzusetzen seien und diese Maßnahme im Sinne der betreffenden Personen und schließlich der gesamten Gemeinde sei. Insbesondere die StädterInnen werden hier von führenden Gemeindepersönlichkeiten als Bedrohung eines gesunden Lebens im Sinne des todo natural angesehen. Dies wird konkret an der mangelnden Pflege ihrer Grundstücke, ihren vermeintlich schlechten Konsum- und Lebensgewohnheiten sowie an ihrer Missachtung der Müllentsorgung festgemacht. Das fortschrittliche Umweltbewusstsein wird als entscheidendes Differenzierungskriterium herangezogen, um sich von den StädterInnen abzugrenzen und ihren Einfluss in der Gemeinde zu beschränken. Die neuen Regelungen – die zwar im Kontext der Repräsentation als ökotouristische, umweltschützende Gemeinde stehen – werden so zugleich dazu verwendet, den Einfluss der StädterInnen zu kontrollieren. Die Vorwürfe, sich nicht an die gemeindeinternen Regeln wie Mülltrennung oder Grundstückspflege zu halten, können somit dafür verwendet werden, ihre Rechte einzuschränken (in drastischen Fällen, wie bereits ausgeführt, bis hin zur Aberkennung von Nutzungsrechten). Insbesondere ältere Personen, die lange Zeit in mexikanischen Großstädten gelebt haben und in die Gemeinde remigriert sind, sind darum bemüht, ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. Viele von ihnen haben sich für die Revitalisierung traditioneller Praktiken eingesetzt – wie den Gebrauch des Zapotekischen – und arbeiten als Zapotekisch-LehrerInnen mit den Kindern des Ortes.18 Als Beispiel, wie kulturelle Revitalisierung dazu verwendet wird, die empfundene Zugehörigkeit zur Gemeinde auszudrücken, kann Don Emilio gelten. Er ist ein um die 60 Jahre alter Mann, der sein ganzes Leben in MexikoStadt verbracht hat und die Gemeinde zu Festtagen besuchte, die er auch dazu nutzte, sein Grundstück und Haus den Gemeinderichtlinien entsprechend zu pflegen. Als er als regidor eingesetzt wurde, wohnte er für einige Zeit in der Gemeinde, propagierte den Gebrauch des Zapotekischen, verfasste Gedichte und Geschichten über die Gemeinde und unterrichtete Fremde in der lokalen Kultur. So unternahm er mit einer Wissenschaftlerin eine Wanderung zu den Quellen Las Vigas und sprach davon, dass es in der Gemeinde üblich sei, Opfergaben darzubringen und Gebete zu sprechen, bevor man den Wald, el monte und be-

18 Es gab verschiedene Versuche, den Gebrauch des Zapotekischen in der Gemeinde zu revitalisieren, die in erster Linie auf die Kinder zugeschnitten waren, beispielsweise das Projekt nido/cuna de lenguas (vgl. Dürr 2016).

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stimmte andere Orte (lugares pesados) betrete. Er repräsentiert sich so als Gemeindemitglied, das noch die Traditionen früherer Zeiten kennt und dadurch seine Zugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Diese wird ihm jedoch von vielen aufgrund seiner Migrationsbiografie abgesprochen. Daran zeigt sich, dass die Zugehörigkeitskategorien der StädterInnen (los de la ciudad) und der DörflerInnen (los del pueblo) nicht feststehend sind, sondern je nach Kontext und Person zugeschrieben, aberkannt oder von den jeweiligen Personen beansprucht werden. So kann auch Gemeindemitgliedern, die eigentlich der Kategorie los del pueblo zugeordnet werden müssten (weil sie seit Langem in der Gemeinde leben), diese Zugehörigkeit abgesprochen werden, indem beispielsweise ihre Migrationsgeschichte als Grund für ihr mangelndes Umweltbewusstsein herangezogen wird. Andererseits können Einwohner, die erst seit kürzerer Zeit in der Gemeinde leben, als der Gemeinde zugehörig deklariert werden, wofür argumentativ ihr mutmaßlich besonderes Umweltbewusstsein herangezogen wird. In der Aushandlung von Zugehörigkeit wird somit auf verschiedene Kriterien zurückgegriffen: Geburtsort, Deszendenz, Migrationsgeschichte, Nutzungsrechte und Grundbesitz (comunero/a) sowie die (neue, flexibel handhabbare) Kategorie des Bewusstseins über die lokalen Naturen (Umweltbewusstsein in Verbindung mit lokalem (umweltbezogenem) Wissen und Geschichtswissen). Letztere Kategorie ermöglicht es der Gemeindeelite, „eigentlich“ nicht der Gemeinde zugehörige Personen partiell in die Gemeinde zu integrieren (wie Salvatore, den Ökotourismusberater) und damit ihre eigene Position als umweltpolitische Elite zu festigen und interne Machtverhältnisse auszuhandeln. Ein wesentliches Kriterium der Zugehörigkeit stellt also auch die umweltpolitische Haltung dar. Sich für den Naturschutz und somit sein eigenes Territorium einzusetzen wird somit zum gruppenbildenden Motiv. 6.2.3 Pero el objetivo es uno solo: Umweltschutz als politische Position 19 „Und ja, so werden wir alles ertragen, was auf uns zukommt. In diesem Prozess haben wir alle schon viel ausgehalten. Die Strategien werden sich verändern, es wird Schritte geben, die nötig sind, strategischer Art. Aber das Ziel ist immer dasselbe, und zwar, unseren Teil des Waldes zu erhalten.“ (Interview_Diego_14.4.2014)

So erklärt Diego den Schutz des Waldes in einem Lachatao zugehörigen Territorium als das vereinende, übergeordnete Ziel der Gemeinde. Älteste erzählen,

19 „Aber das Ziel ist immer dasselbe.“

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dass schon immer Probleme wegen Zuständigkeitsbereichen, Ressourcen und Siedlungspolitik inm Wald zwischen den Gemeinden aufgetreten seien. Diese „Probleme des Waldes“ (problemas del monte) stellen einen festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses männlicher Gemeindemitglieder dar (vgl. Kapitel 3.4.1). Die politische Forderung Lachataos, aus dem Gemeindeverbund der Pueblos Mancomunados auszutreten und ein eigenes Territorium für sich zu beanspruchen, bewirkte jedoch in den letzten Jahren eine Verschärfung der Konflikte.20 Führende Gemeindepersönlichkeiten begründen die Abspaltung damit, die Zerstörung der Wälder durch das Forstwirtschaftsunternehmen der Pueblos Mancomunados verhindern zu wollen. Dabei handelt sich größtenteils um junge Männer, die von einflussreichen Familien abstammen und deswegen über fundierte Kenntnisse des Territoriums und der Politik der Pueblos Mancomunados verfügen. Dies prädestinierte sie auch dazu, an den staatlichen Fortbildungen zu Umweltthemen und Ökotourismus teilzunehmen – sodass sie nun das naturwissenschaftliche mit lokalem Wissen nicht nur in ihrer Rolle als Naturführer verbinden (vgl. Kapitel 5.3.1). Sie stärken vor allem das Naturschutzbewusstsein der Gemeindemitglieder, indem sie diese über die massiven Rodungen und die Naturzerstörung aufklären und die anderen jungen Männer der Gemeinde sowie die migrierten Gemeindemitglieder zu Erkundungen in das Territorium mitnehmen. Ihre umweltpolitische Aufklärungspolitik betraf auch die in der Stadt lebenden Gemeindemitglieder und bewirkte, dass sich die Gemeinde gegen die praktizierte Ressourcenpolitik der Pueblos Mancomunados zur Wehr setzte. El problema del monte wird von ihnen nicht mit der Konkurrenz um Ressourcen und ökonomische Einnahmen begründet (was jedoch auch der Fall ist), sondern an der Naturzerstörung festgemacht – und damit (globale Umweltschutzdiskurse legitimierend) für die eigene Ressourcenpolitik verwandt. In der ökologischen Argumentation setzten die NaturführerInnen den Schutz der Wälder in Verbindung mit dem Schutz der Trinkwasserquellen, da die Rodungen zum Versiegen der Quellen führen würden. Diese Argumentationslinie – nicht nur den Wald, sondern auch die Quellen zu schützen – hat sich mittlerweile in der gesamten Gemeinde verbreitet. Das naturwissenschaftliche Wissen der NaturführerInnen

20 Führende Gemeindepersönlichkeiten Lachataos kämpften lange für den Erhalt des Gemeindeverbunds und gegen die Austrittsbestrebungen Yavesías aus den Pueblos Mancomunados. Dies führte damals zu Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen der Männer en el monte, die für den Gemeindeverbund kämpften. Die gegenwärtigen Austrittsbestrebungen Lachataos und die Allianzenbildung mit Yavesía stellen somit einen politischen Richtungswechsel dar, der seit 2002 vorangetrieben wird.

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ist hier von entscheidender identitätspolitischer Bedeutung, um die Verteidigung eines eigenen Territoriums zu legitimieren. Die Zuspitzung des Konflikts im Jahr 2009 ist ein zentraler Referenzpunkt in der jüngeren Vergangenheit der Gemeinde und Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Die gemeinsame Verteidigung des Territoriums wird von vielen Gemeindemitgliedern als zentrales kollektives Erlebnis geschildert, das sie trotz großer soziokultureller Unterschiede und interner Konflikte (insbesondere zwischen los del pueblo und los de la ciudad) vereint und eine stark identitätsstiftende Wirkung entfaltet hat. Der Konflikt machte die Zusammenarbeit der gesamten Gemeinde notwendig, die Männer verbrachten Monate im Wald, um die Zufahrtswege zu kontrollieren, während die Frauen sie mit Essen und Kleidung versorgten, das Rathaus bewachten sowie das dörfliche Leben und den Kontakt zu den StädterInnen aufrechterhielten. Dies erforderte eine komplexe soziale Organisation, die wegen der geringen Einwohnerzahl alle Gemeindemitglieder umfasste und sich massiv auf das alltägliche Leben auswirkte. Durch die brisante Lage engagierten sich auch viele der in Oaxaca lebenden Gemeindemitglieder (insbesondere die profesionistas), die Geld und Nahrungsmittel lieferten und versuchten, ihre politischen Kontakte zur Konfliktlösung einzusetzen. So wurde nicht nur der Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft gestärkt, sondern auch der Zusammenhalt und die Organisation der in Oaxaca lebenden Gemeindemitglieder. Xochil, Ehefrau und Mutter zweier Kinder, die vor einigen Jahren von Mexiko-Stadt zur Familiengründung nach Lachatao gezogen war, sprach enthusiastisch über das Erlebnis ihrer in Oaxaca lebenden Schwester: „Aus Oaxaca, ja. Und dann sagte sie, es ist so aufregend, dass wir alle vereint sind, obwohl wir wussten, dass es einen Streit gibt und so, es brachte uns zusammen. Also, es diente dazu, dass wir dort zueinander fanden, dass wir alle eine Verbindung hatten. Weil vielleicht die eine Frau mit der anderen eigentlich nicht sprach, und trotzdem ruderten sie in die gleiche Richtung, weil sie für die gleiche Sache eintraten. Auch wenn eigentlich getrennt, dort machten sie gemeinsame Sache.“ (Fotoprojekt_Xochil_15.3.2014)

Daran zeigt sich, dass auch die Frauen, die generell weniger kollektive gesellschaftliche Aufgaben übernehmen, sich durch die gemeinsame Organisation positiv als Gruppe formierten. Die Anerkennung ihrer Leistung ist zugleich Teil der kollektiven Darstellung des Konflikts und dient dazu, die Komplementarität der Geschlechterrollen positiv zu untermauern. Der Romantisierung des Zusammenhalts der Gemeinde über die Grenzen zwischen den Geschlechtern und Migrierten hinaus stehen die politischen Konflikte zwischen den StädterInnen und den Gemeindemitgliedern entgegen. Viele der StädterInnen werfen der dörfli-

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chen Elite – die sich für den Ökotourismus und die Landrechtsverteidigung einsetzt – Korruption und politische Inkompetenz vor, die sie mit mangelnder Bildung und fehlerhafter Realitätseinschätzung begründen. Die politische Elite im Dorf begegnet der öffentlichen Kritik und mangelnden Unterstützung der StädterInnen mit verschiedenen Maßnahmen und Sanktionen. Diese spitzen sich angesichts der Ressourcenprobleme zu: Einigen Gemeindemitgliedern (StädterInnen sowie im Dorf lebenden Gemeindemitgliedern), die sich gegen den Konflikt aussprachen und eine Abspaltung des Territoriums ablehnten, wurde Spionage vorgeworfen, was zu Sanktionen seitens der Gemeinde führte. Ein Gemeindemitglied wurde deswegen von der Teilnahme an den wichtigen Versammlungen der Dorfältesten (los caracterizados) ausgeschlossen, andere verloren die Rechte an ihren Grundstücken und Häusern sowie das Aufenthaltsrecht in der Gemeinde. Dabei wird den betroffenen Personen vorgeworfen, sich nicht für den kollektiven Schutz der Ressourcen einzusetzen (die mit dem Gemeinwohl el bien común gleichgesetzt werden), sondern diese zum eigenen Vorteil ausbeuten zu wollen. Die Ausschlüsse aus der Gemeinde werden mit einer ethischen Haltung gegenüber der Natur begründet und mit der Vorstellung eines gemeinschaftlichen Lebens verbunden. Auch im Machtkampf zwischen führenden Gemeindemitgliedern aus der Stadt, die bis 2016 hohe Posten der Gemeinderegierung bekleideten (und somit in der Gemeinde lebten), und den DorfbewohnerInnen wurde öffentlich der Vorwurf erhoben, dass der bis zu seiner Amtsenthebung im Frühjahr 2016 regierende Bürgermeister (presidente municipal) die Minentätigkeit und die Abholzung der Wälder wiederaufnehmen wolle. Dieser Vorwurf wurde nicht nur gemeindeintern erhoben, sondern auch öffentlich in einem Zeitungsartikel einer Lokalzeitung formuliert.21 Die Auseinandersetzungen zwischen dem regierenden Bürgermeister und wichtigen Gemeindemitgliedern des Dorfes spitzte sich so weit zu, dass der Bürgermeister im Frühjahr 2016, nachdem die gerichtlichen Verhandlungen gescheitert waren, von den DorfbewohnerInnen auf „illegitime Weise“ durch die Besetzung des Rathauses abgesetzt und durch den stellvertretenden Bürgermeister ersetzt wurde, der aus den Reihen der DörflerInnen stammt.22

21 In dem Zeitungsartikel wird der stellvertretende (illegitime) Bürgermeister mit der Aussage zitiert, dass der damalige („rechtmäßige“) Bürgermeister – ein profesionista aus Oaxaca-Stadt, der am 01.01.2013 das Amt übernommen hätte – „an der Macht bleiben [möchte], um die Bodenschätze und die Ausbeutung des Waldes fremden Unternehmen anzubieten“ (García Morales 2016; Übersetzung der Autorin). 22 Die Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Amtsenthebung des presidente nach der Hälfte seiner Amtszeit (also nach eineinhalb der drei Jahre) sowie über die Fort-

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Die Konfliktlinien verlaufen jedoch nicht nur zwischen den DörflerInnen (los del pueblo) und den StädterInnen (los de la ciudad), sondern ziehen sich auch quer durch die Dorfgemeinschaft. Vor allem viele ältere Gemeindemitglieder und Frauen sprechen sich (wenn auch nicht öffentlich) gegen die Abspaltungspolitik und die damit einhergehenden Konflikte aus. Als Grund führten viele der älteren Gemeindemitglieder an, früher selbst in die Verwaltung der Pueblos Mancomunados (comisariado) involviert gewesen zu sein und lange Zeit gegen die Austrittsbestrebungen Yavesías gekämpft zu haben. Sie werfen der Gruppe der jungen Männer (die während des Konflikts die Dorfregierung stellten) vor, dem Amt nicht Genüge zu tun, da diese sich nicht durch das Durchlaufen des Cargosystems in der Gemeinde behauptet hätten, unerfahren seien und unüberlegt handelten. Auch unterstellen sie ihnen, unter dem Deckmantel des Umweltschutzes und des Ökotourismus ökonomische und politische Eigeninteressen (wie Holzverkauf) zu verfolgen und eigentlich für den Umweltschutz vorgesehene Regierungsgelder zu veruntreuen. So äußert sich auch Don Felipe, ein Mann Mitte 60, über die jungen Männer der Gemeinderegierung. Er hatte die Gemeinde mit Ende 20 verlassen und in der Nähe von Mexiko-Stadt gelebt, von wo er erst vor einigen Jahren nach Lachatao remigriert ist und die veränderte Situation in der Gemeinde beklagt: „Es hat sich viel verändert. Heutzutage regiert hier sozusagen die Jugend. Heutzutage gibt es fast keine guten Leute mehr in der Gemeinde, nur noch die Jugend. Was mir nicht gefällt, statt gute Sachen zu machen, wird nur Schlechtes gemacht, das ist es. [...] was sie vorhaben [...] woran sie sich nicht halten? Sie stellen zum Beispiel die Regierung [...] und es gibt keine Gerechtigkeit mehr (...). Ich weiß nicht, was sie sich dabei denken, weil das ist ja nur eine [kleine] Gruppe. [...] Jetzt ist es nicht mehr die Sache des ganzen Dorfes, sondern nur noch der Erfahrenen, der Dorfältesten, die rufen sie, wenn sie einen Notfall haben.“ (Interview_Felipe_24.1.2014)

Die Probleme en el monte führt er auf den schlechten Einfluss der Jugend zurück, die zudem die politischen Strukturen (den Ältestenrat, los caracterizados) zu ihren Gunsten verändert habe (vgl. Kapitel 6.4.1). Auch andere Personengruppen, insbesondere Frauen, stehen der Landrechtsverteidigung kritisch ge-

führung seines Amtes durch seinen Stellvertreter (presidente municipial suplente) wurde zunächst durch gerichtliche Verhandlungen über das staatliche Gericht für Wahlrechtsbelange in Oaxaca ausgefochten (Tribunal Estatal Electoral del Poder Judicial de Oaxaca). Es konnte jedoch keine Lösung erzielt werden, und beide Parteien warfen sich gegenseitig Wahlbetrug und Manipulationen vor (García Morales 2016a).

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genüber. Es sind größtenteils Ehefrauen von Männern, die keine gehobenen Positionen in der Gemeinde einnehmen und für die die Argumentation des Umweltschutzes nicht überzeugend ist. Sie verstehen die Landrechtsverteidigung und den Umweltschutz als eine Vereinnahmung ihrer Ehemänner seitens der Gemeinderegierung – die für sie und ihre Familien wegen des Arbeitsausfalls ihrer Männer zu Problemen bei der Familienversorgung führe. Dem steht die Meinung der Frauen wichtiger Gemeindepersönlichkeiten entgegen, die größtenteils über eine bessere Bildung und Migrationserfahrung verfügen und die Landrechtsverteidigung als Symbol des Gemeindezusammenhalts und kollektiver Stärke werten. Sich für den Schutz der Umwelt einzusetzen wird zu einem entscheidenden Kriterium der Zugehörigkeit und zum Mittel sozialer Differenzierung. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, hat dies unterschiedliche Auswirkungen auf die Subjektpositionen und Identitätskonstruktionen von Männern und Frauen sowie auf die geschlechtsspezifische Symbolisierung der Naturen und dazugehöriger Praktiken, Räume und Werte.

6.3 ME GUSTA SEPARAR LA BASURA: NATUREN ALS MITTEL DER AUSHANDLUNG GESCHLECHTSSPEZIFISCHER DIFFERENZEN 23 6.3.1 Das traditionelle Umweltbewusstsein der Frauen „Bei der Aussaat, da ist die Frau dabei. Da nimmt sie aufgrund ihrer Wärme, ihrer Schönheit teil. Also, was ich meine [...] in diesem Fall sage ich das, weil meine Frau mir bei der Aussaat geholfen hat, und ich glaube, dass sich das hier überall zeigt, die Art, wie sie aussäen, das ist wunderschön, wie eine Dame eben, das ist schön. Die Frauen sind schön [...] und da die Pflanzen Lebewesen sind, empfangen sie die Zuneigung und die Liebe der Personen. Und in der Aussaat zeigt sich das. Da ist die Frau an der richtigen Stelle, da wirkt sie mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit ein, wenn sie aussät. Ja, das ist es.“ (Fotoprojekt_ Olivero_20.8.2013)

So beschreibt Don Olivero, ein anerkanntes Gemeindemitglied und früherer síndico, die Rolle der Frauen in Bezug auf die Natur, die er mit Landwirtschaft gleichsetzt. Deren „weibliche“ Beziehung beschreibt er durch ihre liebevolle Fürsorge (calidez y ternura), die sich positiv auf die Ernte auswirke. Darin bezieht er sich auf das vorherrschende Rollenbild von der Frau als fürsorgende

23 „Es gefällt mir, den Müll zu trennen.“

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Mutter und Ehefrau, die die Männer und die Gemeinde durch die Übernahme der reproduktiven Aufgaben und in der Landwirtschaft unterstützt. Viele ältere Personen (Männer wie Frauen) beklagen hingegen, dass nur noch wenige Frauen in der Landwirtschaft tätig seien, was als Verlust der Kultur (las costumbres de antes) bezeichnet und dahingehend gewertet wird, dass die Frauen ihre Ehemänner heutzutage weniger unterstützen würden. Die landwirtschaftliche Arbeit von Frauen wird als ayuda (Hilfe) bezeichnet (auch wenn sie häufig mehr arbeiten als die Männer), was auf die Land- und Verfügungsrechte anspielt, die die Männer innehaben (vgl. Rojas Serrano 2014, S. 100). Dass die Frauen weniger Feldarbeit betreiben, liegt dementsprechend vor allem daran, dass ihre Männer die Felder nicht zum Anbau bereitstellen. Jedoch wird die Unterstützung der Männer seitens der Frauen (ayuda) in anderen Bereichen, insbesondere in der Gemeindeverwaltung gefordert. Frauen werden zunehmend für die Aufrechterhaltung der Gemeindeorganisation, die Übernahme von cargos und andere Aufgaben verpflichtet, die sich durch den Ökotourismus ergeben haben. Dies betrifft zum einen Frauen, die aktiv im Ökotourismus involviert sind und im Servicebereich oder im bereits beschriebenen turismo rural tätig sind (vgl. Kapitel 5.5.2). Zum anderen betrifft dies die Frauen generell, da die touristische Inszenierung des Dorfes und die Ausrichtung der Feste eine verstärkte Mitarbeit erfordert – insbesondere der Frauen. Sie werden für Tätigkeiten zur Verantwortung gezogen, die als spezifisch weiblich deklariert werden. Darunter fallen traditionelle Aufgabenbereiche (wie die Mithilfe bei der Subsistenzlandwirtschaft, der Gartenanbau oder die Nahrungszubereitung), die sich (wie bereits beschrieben) als „neue“ Normen und Werte im Sinne des todo natural in der Gemeinde etabliert haben. Damit geht einher, dass Frauen vermehrt für gemeinschaftliche Aufgaben verpflichtet werden, die als spezifisch weiblich gelten, beispielsweise die Aufrechterhaltung der allgemeinen Sauberkeit im Dorf (vgl. Abbildung 23). Dadurch kommt es zu gewissen strukturellen Veränderungen in der Gemeindeverwaltung – dass Frauen z.B. an tequios teilnehmen oder für bestimmte cargos ernannt werden. Die Gemeinderegierung nutzt hier auch staatliche Programme und Institutionen für gemeindeinterne Zwecke, die sich auf die Geschlechterrollen auswirken, wie das Beispiel der oportunidades24 zeigt. Dieses

24 Das Programm bietet finanzielle Unterstützung für die Schulausbildung von Kindern ökonomisch schwacher Familien. In Lachatao sind derzeit 23 Empfängerfamilien mit jeweils 3–7 Familienmitgliedern in das Programm eingeschrieben und erhalten so bis zum Abschluss der weiterführenden Schule finanzielle Unterstützung. Die Gruppe setzt sich bis auf einen Mann (der versehentlich anstatt seiner Ehefrau in das Pro-

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Sozialprogramm operiert zusammen mit den Gesundheitszentren und verpflichtet die Empfängerinnen als promotoras de salud (Förderinnen der Gesundheit), an Workshops zur Gesundheitsaufklärung und Hygiene im Gesundheitszentrum teilzunehmen und diese Themen in der Gemeinde zu verbreiten. Abbildung 23: Dorfzentrum Lachataos mit Restaurant, 2012

Quelle: Eigene Aufnahme

In Lachatao wurde die Gruppe der Sozialhilfeempfängerinnen von der Gemeinderegierung dazu verpflichtet, das Dorf monatlich von Müll zu säubern. Als Begründung wurde angefügt, dass sie sich die finanzielle Unterstützung erarbeiten müssten und wegen der schlechten Umwelterziehung ihrer Kinder in besonderem Maße für den Müll verantwortlich seien (da ihre Kinder diesen achtlos auf die Wege werfen würden). Der Verantwortungsbereich der Frauen für die Sauberkeit im Haus und die Erziehung der Kinder wurde somit um den öffentlichen Bereich erweitert und anhand sozioökonomischer Unterschiede den Frauen der oportunidades zugewiesen. Damit macht sich die Gemeinderegierung das staatliche Programm zu Nutze, um geschlechtsspezifische Arbeitsbereiche zu institutionalisieren. Im Jahr 2011 verweigerte sich die Gruppe der Frauen den monatli-

gramm eingeschrieben wurde) ausschließlich aus Frauen zusammen (vgl. Molyneux 2015).

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chen Säuberungsaktionen, die folglich durch Beschluss der asamblea aufgehoben wurden.25 Dies wurde in der Gemeinde auf den negativen Einfluss der StädterInnen zurückgeführt, die durch ihren Individualismus und ihr mangelndes Umweltbewusstsein die „Kultur“ und Ordnung in der Gemeinde stören würden. So erklärt Flor, die im Ökotourismus arbeitet, selbst aber nicht zu den Sozialhilfeempfängerinnen gehört: „Saubere Straßen, Frauen, die sie jeden Monat reinigten, und so war alles sehr schön. [...] Aber die ersten, die nicht dabei waren [...] wie ich dir vorhin schon sagte, waren die, die aus Oaxaca kommen, das waren die allerersten, die für Unordnung sorgten.“ (Interview_ Flor_28.5.2013)

Dass Frauen die Verantwortung für die öffentliche Sauberkeit und Müllversorgung tragen, hat sich trotz der Zurückweisung der öffentlichen Säuberungsaktionen seitens der Gruppe der SozialhilfeempfängerInnen als geschlechtsspezifischer Verantwortungsbereich der Frauen durchgesetzt. Auch der anfängliche Protest von Frauen, die sich gegen neue Regeln der Abfallvermeidung wehrten (beispielsweise kein Plastik-, sondern Tongeschirr zu verwenden), ist mittlerweile einer positiven Aneignung gewichen. Während sie sich anfänglich über die zusätzliche Arbeit mit der Trennung und Säuberung des Mülls in den Privathaushalten und mit dem Spülen von Geschirr bei den Dorffesten beschwerten, ist dies schnell einer positiven Umbewertung als Ausdruck eines fortschrittlichen Umweltbewusstseins gewichen. Die Frauen haben sich so geschlechtsspezifisch ein Umweltbewusstsein angeeignet, womit einhergeht, dass diese Handlungen nun als „typische weibliche Tätigkeiten“ naturalisiert bzw. symbolisiert werden. Die Frauen übernehmen diese Zuschreibungen, wie es die Aussage von Tía Marce verdeutlicht, die das Restaurant des Ökotourismus leitet und sich besonders stark für Sauberkeit und Mülltrennung in der Gemeinde einsetzt: „Es gefällt mir,

25 Eine Empfängerin des Programms in Lachatao wehrte sich gegen die Vereinnahmung der Gruppe für Gemeindeaufgaben und erklärte in einem Interview, dass die finanzielle Unterstützung des Programmes der Kindererziehung der jeweiligen EmpfängerInnen dienen sollte und nicht eine Bezahlung für gemeindeinterne Aufgaben sei. „Wieso sollen dafür nur einige verantwortlich sein? Es liegt in der Verantwortung aller. (…) Nicht nur für einige. Sie sagen, ‚die von den oportunidades werden ja dafür bezahlt‘. Aber es ist keine Bezahlung, sondern eine Unterstützung, die sie [der Staat] an die Personen vergeben, deren Kinder im schulpflichtigen Alter sind“ (Interview_Maricela_ 27.5.2013).

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den Müll zu trennen. Es gefällt mir, und ich ärgere mich, wenn er nicht getrennt wird“ (Interview_Marce_28.5.2013). Abbildung 24: Mülltrennung in einem Privathaushalt, Lachatao, 2013

Quelle: Eigene Aufnahme

Die Frauen inszenieren ihr Umweltbewusstsein öffentlich, indem sie BesucherInnen auf die müllfreie Umgebung sowie die Verwendung von Tongeschirr (anstatt des sonst in Mexiko üblichen Einwegplastikgeschirrs) explizit aufmerksam machen. So stellen insbesondere Frauen ihr besonderes Umweltbewusstsein anhand von exemplarischen Verhaltensweisen öffentlich unter Beweis, indem sie z.B. Müll freiwillig von den Wegen aufheben, einen eigenen Komposthaufen anlegen, Recycling betreiben sowie die Mülltrennung korrekt durchführen und generell Müll vermeiden. Männern hingegen wird vorgeworfen, dass sie aufgrund ihrer „männlichen Perspektive“ keinen Blick für Sauberkeit hätten – geschlechts-

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spezifische Wahrnehmungsweisen und Aufgabenfelder werden hier naturalisiert. Die Männer veranschaulichen zwar in repräsentativen Kontexten die fortschrittlichen Umgangsweisen mit Müll in der Gemeinde, führen diese jedoch selbst nur im Rahmen der Müllabfuhr aus. So wird die öffentliche Inszenierung des Umweltbewusstseins in erster Linie an die Frauen delegiert und die Sauberkeit und Natürlichkeit der dörflichen Umgebung zum weiblichen Verantwortungsbereich. Die geschlechtsspezifische Normierung dieser Praktiken ist neben der institutionellen Organisation vor allem auf die soziale Kontrolle zurückzuführen, die wegen der geringen Bevölkerungszahl stark ausgeprägt ist. So kontrollieren insbesondere Frauen das Umweltbewusstsein anderer Frauen, was an den Abfall- und Konsumpraktiken, der Gestaltung der Häuser sowie am Anbau in Vorgärten und auf Feldern festgemacht wird. Insbesondere das Einkaufverhalten im Dorfladen wird sozial kontrolliert, indem vor allem Frauen, die im Ökotourismus tätig sind, den Kauf von Fertignahrungsmitteln und Softdrinks sowie das Nichtmitbringen von eigenen Taschen (um Plastiktüten zu vermeiden) bei anderen Frauen negativ bewerten. Frauen der Gemeinde interpretieren diese Konsumgewohnheiten als Zeichen eines mangelnden Umweltbewusstseins und als Missachtung und Respektlosigkeit gegenüber der Gemeindekultur; sie werfen dies nicht nur den WochenendbesucherInnen aus der Stadt vor, sondern auch den kürzlich aus den Städten remigrierten Gemeindemitgliedern. Ihnen wird vorgeworfen, sich durch ihre Migrationserfahrung und zumeist höhere Bildung (viele von ihnen sind profesionistas) über die Frauen der Gemeinde zu erheben sowie die dörfliche Lebensweise und die traditionelle Rolle der Frauen gemäß entwicklungspolitischer Konzepte abzuwerten. Durch diese negativen Zuschreibungen weisen sie deren Überlegenheit zurück. Die Frauen nutzen somit die neue Sichtbarkeit und Normierung der geschlechtsspezifischen Aufgabenbereiche, nach denen sie für Sauberkeit, Mülltrennung, traditionelle Subsistenzpraktiken, Essenszubereitung verantwortlich sind, dafür, diese Aufgaben performativ zur Schau zu stellen. Damit behaupten sie ihre Stellung in der Gemeinde und halten ihre Kontrolle über den Einfluss der migrierten Frauen und StädterInnen aufrecht. Politische Konflikte und Rivalitäten – besonders angeheizt durch die Ernennung von städtischen profesionistas in hohe Ämter – werden hier auch von den Frauen ausgefochten, die die weiblich symbolisierten Umweltkompetenzen der Naturen dazu nutzen, sich sozial zu positionieren. Die internen Hierarchien zwischen den Frauen (differences within) treten dadurch stärker hervor. Frauen aus gehobeneren Familien, von denen viele in den Ökotourismus involviert sind, etablieren sich als eine „neue“ dörfliche Elite, die das weibliche Umweltbewusstsein und die neuen geschlechtsspezifischen Normen repräsentiert. Viele der

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konkreten Aufgaben (wie Tortillas selbst anzufertigen) jedoch delegieren sie an Frauen eines geringeren sozioökonomischen Status, die sie dafür entlohnen. Dadurch entwickeln sich Dienstleistungsverhältnisse unter den Frauen innerhalb der Gemeinde. Faktisch handelt es sich bei der „neuen“ Ökotourismuselite um Frauen, die aus ohnehin renommierten Familien der Gemeinde stammen – neu sind jedoch deren größere Sichtbarkeit und die Erweiterung der weiblichen Handlungsräume sowie die politische Bedeutung ihrer Handlungen im Kontext der gemeindeinternen Konflikte zwischen den StädterInnen und den DörflerInnen. Die Frauen positionieren sich somit neu als environmental subjects (vgl. Agrawal 2005). Sie werden dadurch zu politischen Akteurinnen, die durch geschlechtsspezifische Verhaltensnormen der Naturen Status erwerben und darin durch die externen TouristInnen unterstützt werden, die dieses Verhalten positiv rezipieren. Marginalisierte Frauen, die sich wenig in die Gemeindeangelegenheiten einbringen und keinen Zugang zum Ökotourismus haben, werden hingegen vermehrt für kollektive weibliche Arbeiten verpflichtet und verstärkt sozial kontrolliert. Dies wird zudem durch den Einfluss der StädterInnen verstärkt, die sich vermehrt sozioökonomisch engagieren, um ihren Einfluss in der Gemeinde auszubauen, beispielsweise durch die Finanzierung von Gemeindeessen, für deren Umsetzung sie Frauen der Gemeinde entlohnen. Dabei handelt es sich um jene Frauen, die auch im Ökotourismus tätig sind, wodurch sich die Hierarchien und die soziale Stratifizierung innerhalb der Gemeinde noch weiter ausprägen. Die führenden Frauen in der Gemeinde, die sich durch ihr Umwelt- und Kulturbewusstsein gegenüber den StädterInnen abgrenzen, übertreten andererseits genau diese traditionellen Rollen, die sie vertreten. Dies erfordert eine Reflexion ihrer Rolle als environmental subjects, wohingegen sie anderen (eher) marginalisierten Frauen zwar ein traditionelles Umweltbewusstsein zuschreiben, sich selbst jedoch nicht als environmental subjects präsentieren. Frauen, die sich bewusst als umweltschützend positionieren, haben zumeist einen Bezug zum Ökotourismus, arbeiten im Restaurant oder übernehmen Aufgaben im Rahmen des turismo rural. Sie haben häufig Migrationserfahrung, was jedoch in ihrem Fall nicht dazu verwendet wird, ihnen Zugehörigkeit abzusprechen (sondern sie autonomer und selbstbewusster neue Rollen übernehmen lässt). Ihr Handlungsbereich erweitert sich um neue Aufgabenfelder: Sie müssen enger mit anderen Frauen zusammenarbeiten, repräsentative Aufgaben übernehmen, in Interaktion mit den BesucherInnen treten sowie (teilweise auch außerhalb der Gemeinde) an Workshops teilnehmen. Frida, die Beraterin für Ökotourismus, die selbst seit einigen Jahren in der Gemeinde lebt, beschrieb die anfänglichen Unsicherheiten

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der Frauen, öffentliche Aufgaben im Ökotourismus zu übernehmen, als eine der größten Herausforderungen des Projekts: „Ja, sich dazu in der Lage zu fühlen, ein leckeres Essen zuzubereiten, dazu in der Lage zu sein, jemanden zu bedienen, ein schönes Zimmer herzurichten, und zu anderen Aktivitäten, die neu für sie sind. Oder neue Rezepte zu probieren, also eigentlich alles, was sie gerne machen würden. Sich an Neues zu wagen, dazu waren sie nicht selbstsicher genug.“ (Interview_Frida_15.4.2014)

Trotz anfänglicher Unsicherheiten haben die im Ökotourismus tätigen Frauen mittlerweile ein gestärktes Selbstwertgefühl, auch in Bezug auf ihre Arbeitsleistungen, was einige von ihnen ihre Rolle gegenüber den Männern reflektieren und neu bewerten lässt. Beispielsweise erklärt Sandra – eine im turismo rural tätige Frau, die häufig für die Zubereitung von Gemeindeessen (für bis zu 500 Personen) engagiert wird – in einem Interview selbstbewusst, dass Frauen mehr arbeiten würden als Männer, die sie nach getaner Arbeit auch noch versorgen müssten und die Küchenarbeit zu erledigen hätten. Diese selbstbewusste Positionierung mancher Frauen der Gemeinde wird durch den Kontakt mit in der Stadt lebenden Frauen (trotz der Konflikte) gestärkt, die häufig die mangelnde „Emanzipation“ der Dorfbewohnerinnen beklagen und sich entwicklungspolitisch für Geschlechtergerechtigkeit in der Gemeinde einsetzen. Die StädterInnen fordern die Frauen auf, sich politisch in der Gemeinde zu engagieren, die asambleas zu besuchen, hohe Ämter zu übernehmen, sich gegen unbezahlte Arbeitsleistungen (wie das Beispiel der oportunidades zeigt), Gewalt und Missachtung seitens der Männer zur Wehr zu setzen und sich für Frauenrechte sowie die Rechte ihrer Kinder einzusetzen. Manche Städterinnen verhalten sich provozierend unangepasst und überschreiten die vorherrschenden Geschlechterrollen. Als Beispiel kann Felipa dienen, eine Frau Ende 30 aus Oaxaca, die schon mehrere Treffen mit den Frauen der Gemeinde zu christlichen Themen veranstaltet hat, bei denen sie explizit auf Geschlechtergerechtigkeit und Probleme des machismo einging – dessen strukturelles Auftreten in der Gemeinde sie beklagt. Sie positioniert sich selbstbewusst und emanzipativ als Vorbild, indem sie sich durch performative Handlungen entgegen geschlechtsspezifischer Normen und Strukturen verhält. Beispielsweise nahm sie bei einem tequio zur Herstellung von Adobesteinen eine Zeit lang an der Aktivität der Männer teil und reihte sich dann wieder in die Frauenarbeit ein, das Essen für die Männer zuzubereiten. Dieses unangepasste Verhalten wird größtenteils von den Frauen der Gemeinde abgelehnt. Sie werfen den Städterinnen die Missachtung der dörflichen Werte sowie Überheblichkeit vor und stär-

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ken ihre Identität als las del pueblo insbesondere durch ihre oben beschriebene Umweltkompetenz der Naturen. Diese selbstbewusste Positionierung als umweltbewusste Dörflerinnen (environmental subjects) wäre jedoch ohne den Einfluss der Städterinnen nicht möglich, da diese sie durch Mechanismen der Selbst- und Fremdzuschreibung provozieren. Auch manche Männer überschreiten die ihnen zugewiesenen Bereiche. Dabei handelt es sich um Männer aus den führenden Familien, deren Frauen im Ökotourismus tätig sind und die aufgrund von deren zusätzlicher Arbeitsbelastung beim Kochen oder Essensverkauf bei Festen behilflich sind. Rollenüberschreitungen dieser Art werden unterschiedlich bewertet, insbesondere bei Frauen (wo sie wesentlich häufiger vorkommen) bestärken sie Intergenerationenkonflikte mit älteren Frauen, die die „schlechten Sitten“ der jüngeren Frauen beklagen und ihnen mangelnden Respekt gegenüber den Männern und der „Kultur“ vorwerfen (no tienen respeto). Vor allem wird ihnen vorgeworfen, ihren eigentlichen „natürlichen“ Tätigkeiten nicht mehr gerecht zu werden. So argumentiert auch Ángel, dessen Frau eine führende Rolle im Ökotourismus innehat: „Sagt die Frau: ,Also, ich will wie ein Mann sein.‘ Dann fängt dieser Kampf an, diese Konfrontation. Und sie macht Dinge nicht mehr, für die sie eigentlich zuständig ist. Und dann geht sie noch weiter und vernachlässigt mehrere Dinge. [...] Aber in der zapotekischen Kultur war es einfach immer so. Und immer gab es diesen Respekt, diese Harmonie, all das. Aber plötzlich, da die Frau gleich sein will wie der Mann, da geht viel kaputt. [...] Wenn man damit anfängt, dann hört man auf, bestimmte Dinge zu tun, und zwar grundlegende Dinge im gemeinschaftlichen Leben. Klar kann sie arbeiten, klar kann sie aktiv sein, aber sie hat dann schon mit ihrem Wesen gebrochen.“ (Interview_Ángel_10.4.2014)

Der Gefahr des Kulturverlusts durch die Rollentransgression der Frauen wird in der Gemeinde durch die Werte des todo-natural-Diskurses entgegengetreten. Dieser zeigt sich auch in der Verabschiedung von Bestimmungen, Regeln und Sanktionen – beispielsweise beim in der asamblea diskutierten Vorschlag, den Verkauf von maschinell hergestellten Tortillas durch den Tortillaverkäufer aus Ixtlán in der Gemeinde zu verbieten und damit die Frauen zur Aufrechterhaltung der häuslichen Traditionen – Tortillas selbst anzufertigen – zu animieren. Der Vorschlag wurde aufgrund des Widerstands einiger der asamblea beiwohnender Frauen nicht angenommen. Daran zeigt sich, dass sich (einige) Frauen in Lachatao gegen Rollenzuweisungen seitens der Männer zur Wehr setzen und dies aktiv in die Gemeindepolitik einbringen. Wie bereits erwähnt, wird die Partizipation von Frauen in der Gemeinderegierung (cabildo) als Beweis der Geschlechtergerechtigkeit (igualdad de género) dargestellt (vgl. Kapitel 3.4.2 und 5.5.2). Dies

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wird argumentativ auch eingesetzt, um die Partizipation von Frauen bei Umweltschutzaktivitäten und tequios einzufordern, die angesichts der vermehrten Aufgaben im Ökotourismus notwendig werden. Frauen überschreiten hier auf Anweisung der Gemeindeverwaltung Rollen und Räume, beispielsweise durch die Teilnahme an tequios im Wald. Dies wird als Zeichen der Fortschrittlichkeit der Gemeinde gewertet, und die Umweltkompetenz der Frauen wird positiv hervorgehoben sowie als spezifisch weiblich dargestellt. In dieser Argumentationslinie wird von den führenden Gemeindemitgliedern betont, dass Frauen sorgfältiger, umsichtiger und sensibler seien und beispielsweise bei Rodungsarbeiten die Männer zu einem sorgfältigeren Umgang mit den Tieren und Pflanzen auffordern würden (um beispielsweise keine Vogelnester oder bestimmte Pflanzen zu zerstören). Die traditionell umsorgende Rolle als Mutter und Ehefrau wird hier erweitert und auf den Umgang mit der Natur bzw. den Naturen angewandt – wie im anfangs stehenden Zitat von Don Olivero zum Ausdruck gebracht wurde. Der Rollenkonflikt, die traditionelle Rolle von Frauen in der Gemeinde einerseits gegenüber städtischen Lebensweisen stark zu machen und andererseits durch neue Anforderungen beständig zu erweitern (und damit auch in Frage zu stellen), zeigt sich exemplarisch an Flor. Die studierte profesionista26 ist für die Administration des Ökotourismusprojekts zuständig, das entscheidend von ihrer Bildung und ihrem Fachwissen abhängt. Ihre Rolle als Ehefrau, profesionista und Verwalterin des Ökotourismus setzt sie multiplen, oft widersprüchlichen Rollenerwartungen und Aufgabenfeldern aus: einerseits Ehefrau einer wichtigen Gemeindepersönlichkeit und Mutter von zwei Kindern zu sein und folglich gemeindespezifische Werte vorbildhaft zu vertreten – die Kinder und den Ehemann, ältere Familienmitglieder und den Haushalt zu versorgen, Landwirtschaft zu betreiben sowie sich durch die Teilnahme an kollektiven, sozialen, karitativen und religiösen Aufgaben besonders für das Gemeinwohl der Gemeinde einzusetzen; sowie andererseits für die Organisation und Koordination des Ökotourismus zuständig zu sein, Fortbildungen zu besuchen, Ansprechpartnerin für die BesucherInnen zu sein und im Restaurant mitzuhelfen. Dies ist eine Gratwanderung, die von den meisten Gemeindemitgliedern im Dorf – inklusive ihrem Ehemann Ángel (wie das zuvor gestellte Zitat verdeutlicht) – skeptisch betrachtet und von vielen als negatives Beispiel des „Kulturverlusts“ in der Gemeinde bewertet wird, da sie ihren Pflichten als Mutter und Ehefrau nicht ausreichend nachkom-

26 Die Bezeichnung profesionista wird von den Gemeindemitgliedern im Dorf nicht auf Flor angewandt, da sie als del pueblo gilt, aber sich eigentlich durch ihr Studium bzw. ihre Bildung von den anderen Frauen des Dorfes unterscheidet; diese Differenzierung nimmt sie selbst aber nicht vor.

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me. Dies bedingt auch, dass Flor keinen offiziellen Posten im Komitee einnimmt, obwohl sie einen Großteil der Arbeit im Ökotourismus erledigt. Sie beklagt dies auch nicht, sondern spricht sich – entgegen ihrer alltäglichen Aufgaben – für die Aufrechterhaltung der traditionellen, als weiblich symbolisierten Werte und Aufgabenbereiche der Frauen aus und delegiert diese auch an andere Frauen (wie ihre bereits erwähnte Kritik an der Zurückweisung der monatlichen Säuberungsaktionen von den SozialhilfeempfängerInnen zeigt). Ihre widersprüchliche Position und Rollenübertretung zeigt sich auch darin, dass sie als einzige Frau an der bereits erwähnten Veranstaltung zur comunalidad mit VertreterInnen der Universität Ixtlán (vgl. Kapitel 5.3) teilnahm und explizit die zentrale Rolle der Frauen in der Gemeinde hervorhob: „Ich als Mitbürgerin und auch als Frau [...] möchte Ihnen sagen, wie wichtig die Frau in Bezug auf die Beteiligung ist, die gemeinschaftliche Beteiligung, die Beteiligung, die die Frau seit langer Zeit in Lachatao hat. Ich glaube, es ist vorbildlich, was unsere Mütter uns vererbt haben. Die wichtige Rolle, die die Frau in ihrem Zuhause bei der Fürsorge ihrer Familie spielt, war immer eine Unterstützung für alle Bürger. [...] Die Frau wusste immer, ihren Ehemann zu unterstützen, und das zeigt sich auch in der regelmäßigen Übernahme von Verantwortung dafür, zu tequios und Versammlungen zu gehen, wenn es nötig war, und den Familienvorstand zu vertreten. Und daneben hat die Frau schon immer eine wichtige Rolle bei allem gespielt, was das Familienleben umfasst. Das war es, was ich besonders betonen wollte.“ (Flor_Workshop zu comunalidad_2012)

Diese selbstbewusste Position von Flor ist nicht ohne die Erweiterung und Aufwertung der weiblichen Aufgabenbereiche der Naturen zu erklären – die maßgeblich durch den Ökotourismus befördert wurden – und steht im Zusammenhang mit ihrer gehobenen Position und Bildung. Frauen werden durch die neuen Aufgabenfelder und Räume sichtbarer und organisieren sich vermehrt in Kollektiven. Vor allem, dass Frauen über mehrere Wochen das Rathaus als symbolisch bedeutenden Raum bewachten, der eigentlich den Männern zugeordnet ist, zeugt von ihren erweiterten Handlungsfeldern und ihrem gestärkten Selbstbewusstsein als sichtbare Unterstützerinnen der Männer im Naturschutz. Die Auswirkungen sind jedoch für Frauen unterschiedlich und verstärken die Hierarchien entlang der Differenzkategorien von Status, Bildung, Migrationserfahrung und Alter, die auch für den Zugang zum Ökotourismus entscheidend sind. Nur wenige Frauen verfügen durch die beschriebenen Prozesse über einen größeren Handlungsspielraum, ökonomische Einnahmen und ein verbessertes Selbstbewusstsein, wohingegen die Mehrzahl mit einer Verstärkung geschlechts-

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spezifischer Normen und sozialer Kontrolle konfrontiert ist, die vor allem in Mehrarbeit resultiert. Die Erweiterung des Handlungsspielraums betrifft die Präsenz von Frauen in „neuen“ (öffentlichen) Räumen, beispielsweise indem sie ihre Verantwortung für die öffentliche Sauberkeit im Dorf, für die Subsistenzproduktion im Bereich des campos (turismo rural) sowie für die Kontrolle des Rathauses im Landrechtskonflikt zeigen. Es zeigt sich die Tendenz, dass Frauen (durch die Abwesenheit der Männer) verstärkt für die Gemeindeorganisation beansprucht werden – zum einen strukturell durch ihre Übernahme von cargos und ihre Teilnahme an den tequios, zum anderen indirekt durch die weibliche Symbolisierung des Umweltbewusstseins. Dies impliziert ihre Verantwortung für die Sauberkeit und natürliche Gestaltung des öffentlichen Raums im Dorf und in der Landwirtschaft. Wie das Beispiel der Müllentsorgung zeigt, werden die damit verbundenen umweltbezogenen Praktiken weiblich symbolisiert bzw. naturalisiert und, über die ökotouristische Repräsentation hinaus, zur Aushandlung von Machtverhältnissen der Frauen im Stadt-Land-Kontinuum verwendet. 6.3.2 Die traditionelle Umweltkompetenz der Männer „Wir müssen [den Wald] hier schützen. Wir müssen ihn erhalten. Wir müssen dafür kämpfen, dass er nicht zu weiteren Schäden kommt. Das ist auch der Grund, warum ich die Orte da oben Schritt für Schritt erkundet habe. Und Gott sei Dank, jetzt kenne ich fast die ganze Gegend. Den Wald habe ich durchwandert. Wir sind wenige, die wir das alles komplett kennen. Ja, ich kann sagen, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich das alles durchwandert habe und genießen durfte, was die Natur alles bereithält. Darum erscheint mir auch eine Studie sehr interessant, [...] sehr professionell, was die Biologie angeht.“ (Interview_Serapio_11.3.2014)

So erklärt mir Serapio, ehemaliger síndico und wichtiges Gemeindemitglied, wie er seine territorialen Kenntnisse erlangte, die ihn, wie er stolz hervorhebt, von anderen Gemeindemitgliedern unterscheiden würden. Viele der heute im Ökotourismus tätigen jüngeren Männer erklären, dass sie vor den Konflikten mit den Pueblos Mancomunados, die sich ab dem Jahr 2005 zuzuspitzen begannen, wenig ortskundiges Wissen über den Wald (el monte) besaßen. El monte ist ein männlich konnotierter Raum, über den die Männer früher – laut Aussage einiger ältere Männer durch ihre Sozialisation, die Teilnahme an tequios, die Jagd und

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die Übernahme von cargos27 – ein fundiertes Wissen hatten. Zudem war es üblich, dass die neue Regierung (cabildo) bei der Amtsübernahme die Grenzziehungen der Pueblos Mancomunados ablief sowie die als Grenzmarkierungen dienenden Rodungsschneisen erneuerte und damit verifizierte. Durch die hohe Abwanderung und die Orientierung der jüngeren Gemeindemitglieder am städtischen Leben wurde die Weitergabe des territorialen Wissens bis zu einem gewissen Grad unterbrochen. Viele der jüngeren Männer beklagen dies mittlerweile und versuchen, das lokale Umweltwissen durch Gespräche mit den Älteren zu revitalisieren. Auch wurden von ihnen verschiedene Versuche unternommen, die Kinder und Jugendlichen für die lokale Natur zu interessieren, Wanderungen mit ihnen zu initiieren sowie lokales territoriales Wissen als Schulfach in der Gemeindeschule zu etablieren. Das bis vor nicht allzu langer Zeit von den Jüngeren als irrelevant bewertete Wissen über die Geschichte des Territoriums (über ranchos, Wege, besondere Orte und Geschehnisse etc.), seine Siedlungsgeschichte (Besitzverhältnisse) sowie die Entwicklungen der Forstwirtschaft (EFC) wird in diesem Prozess zum „Kulturgut“ erklärt sowie in der Identitätspolitik und im Ökotourismus repräsentiert. Damit geht einher, dass Gemeindemitglieder, die die Gemeinde nie verlassen haben, aufgrund ihrer lokalen Sozialisation und ihren traditionellen lokalen (insbesondere territorialen) Kenntnissen Anerkennung erlangen. Dies stellt eine Umkehrung von Statusmerkmalen dar, da üblicherweise die Migration eine verbesserte Position in der Gemeinde bewirkt. Dies zeigt sich an der Aussage Serapios: „Ich kann mich glücklich schätzen, weil ich nicht aus der Gemeinde wegkam. Nur deshalb konnte ich verstehen, was unsere Alten uns hinterlassen haben. Und jetzt haben wir die große Verpflichtung in unseren Händen, das weiterzuführen und es unseren Söhnen zu vermachen. Deswegen mag ich es nicht, bzw. ich möchte nicht, dass wir weiterhin unsere Straßen asphaltieren. So verlieren wir das, was unsere Gemeinde ausmacht.“ (Interview_Serapio_11.3.2014)

Lokale bzw. territoriale Kenntnisse und Umweltschutz als ethische Haltung haben sich als Statusmerkmal unter den (jüngeren) Männern etabliert. Ihr Bezug zur Umwelt ist besonders an die politischen Aktivitäten zur Landrechtsverteidigung gekoppelt, und ihre männliche Identität wird in Lachatao häufig in Verbindung

27 Zum Beispiel bestand die Aufgabe, als topil (eines der untersten cargos in der Ämterhierarchie darstellt) Informationen zu den auf den Gehöften lebenden Gemeindemitgliedern zu bringen. Dies erforderte lange Fußmärsche, um diese z.B. zur Gemeindevollversammlung einzuladen.

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damit narrativ hergestellt. Die Darstellungen der gewaltsamen Eskalation des Konflikts, die Körperverletzungen und die Zerstörung der Hütten (die zur Absicherung an strategisch wichtigen Punkten aufgebaut worden waren) werden dafür genutzt, Entschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit und Mut sowie die körperliche Stärke der Männer Lachataos heraufzubeschwören. Wie Guillermo es in dem zu Anfang stehenden Zitat zum Ausdruck brachte, wurde der körperliche Einsatz gegen die Umweltzerstörung von der führenden Elite zum entscheidenden Kriterium, als Mann zu Lachatao zu gehören („eres o no eres de Lachatao“). El monte ist (wie bereits erwähnt) traditionell ein männlich konnotierter Raum, in dem sich vor allem die Männer bewegten – einzeln sowie in Gruppen, zu tequios, zur Jagd und zur Subsistenzlandwirtschaft sowie zum Handel und zur Fortbewegung. Durch die Landrechtskonflikte kamen auch die jüngeren Männer mit dem Wald in Kontakt und bewerten diesen nun als schützenswerten Naturraum (area virgen), der den Zusammenhalt und die Entschlussfähigkeit der Gemeinde symbolisiert und mit ihrer Identität als Männer verwoben ist. Das lokale Umweltwissen und die Kenntnisse des Territoriums werden zur Aushandlung von gemeindeinternen Hierarchien zwischen den Männern verwendet, insbesondere gegenüber den Städtern. Dies zeigt sich in der Performanz von Männlichkeit, insbesondere im Rahmen der tequios im Wald. Dabei werden körperliche Kapazitäten, territoriale Kenntnisse und Orientierungsfähigkeit unter Beweis gestellt und kompetitiv dazu verwendet, das eigene Ansehen zu steigern. Die jungen ortskundigen Männer der Gemeinde nutzen ihre Umweltkompetenz und körperliche Fitness (aus harter Arbeit wie dem Baumfällen und weiten Fußmärschen), um die Hierarchien zu den remigrierten Männern (oder Besuchern aus Oaxaca-Stadt) abzustecken, um die gesunde Lebensführung und „Potenz“ der Männer aus dem Dorf zu unterstreichen. Andererseits wird eine aggressive, kollektive Männlichkeit in diesem Raum diskursiv durch Formen der Scherzkommunikation (albur)28 gestärkt. Der Wald el monte wird zu einem Raum, der mit männlichem Prestige, kollektiver Gemeindeidentität und Lebensqualität in Verbindung gebracht wird – die jeweilige Haltung gegenüber la naturaleza wird somit entscheidend zur sozialen Distinktion. Während ältere, weniger gebildete Männer die Härte der Arbeit, Armut und Entbehrung in el monte hervorheben, romantisieren jüngere und gebildetere Männer die Aufenthalte im Wald und stilisieren sie als Inbegriff des dörflichen Lebens in der Gemeinschaft. „Hier sind wir alle gleich und teilen die Tacos“, so

28 Der Begriff albur bezeichnet unterschiedliche Formen der Scherzkommunikation in Mexiko und beinhaltet die Verwendung von Wortspielen und Metaphern zum Ausdruck zweideutiger Botschaften, häufig von sexuellem Inhalt (Amtsberg 2008, S. 5).

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ihre geläufige Beschreibung des kollektiven Erlebnisses im Wald. Dementgegen wird jedoch die soziale Ungleichheit durch den Wald (das traditionelle bzw. „westliche“ Umweltwissen) noch verstärkt. Auch im dörflichen Alltagsleben werden vermehrt umweltbezogene Praktiken dazu verwendet, den Status unter den Männern auszuhandeln. Hier dient vor allem der Anbau von milpa als soziales Differenzierungsmerkmal, die sich als neues ästhetisch-ethisches Symbol in der Gemeinde etabliert hat (vgl. Kapitel 5.5.3). Auch hier lässt sich feststellen, dass die Männer, die die traditionellen Praktiken – insbesondere den Anbau der milpa – als zentrales Charakteristikum der Gemeinde repräsentieren, häufig selbst nicht anbauen, was mit Zeitmangel und Arbeitsaufwand begründet wird. Dies betrifft vor allem die jüngeren, bessergestellten Gemeindemitglieder, die Erwerbstätigkeiten nachgehen und häufig als Naturführer arbeiten. Weniger einflussreiche Gemeindepersönlichkeiten, die noch Subsistenzlandwirtschaft und Tierhaltung betreiben, werden zwar wegen ihrer traditionellen Naturbeziehung aufgewertet. Jedoch nehmen sie aufgrund ihres niederen sozialen Status (geringe Bildung, wenig einflussreiche Familien, mangelndes Gemeindeengagement etc.) keine repräsentative Position in der Gemeinde ein. Sie dienen dem Ökotourismus in öffentlichen Diskursen als „passive“ Repräsentanten der dörflichen Kultur. Gemeindeintern hingegen wird ihnen wegen der üblichen Verwendung von Düngemitteln und Pestiziden vorgeworfen, ein mangelndes ökologisches Bewusstsein zu haben, was im Widerspruch zum Diskurs des todo natural steht. Sie werden also im repräsentativen Diskurs als environmental subjects dargestellt, haben aber selbst kein „westliches“ Umweltbewusstsein, beispielsweise über die negativen Auswirkungen von Düngemitteln. Der landwirtschaftliche Anbau wird so – je nachdem, ob er sich an traditionellen Vorgaben und Umweltschutzprinzipien orientiert – differenziert und wirkt sich dementsprechend auf den Status des Landwirts aus. Vor allem remigrierte männliche Gemeindemitglieder nutzen eine traditionell (ohne Düngemittel) angebaute milpa (wie der bereits beschriebene concurso de las semillas zeigt), um ihren Status in der Gemeinde auszubauen (vgl. Kapitel 5.5.3). Der Anbau der milpa (und das reflexive Wissen über ihren Symbolwert als indigener Identitätsmarker) sowie die ökologischen Anbautechniken werden zur sozialen Distinktion eingesetzt: Milpa, die ohne chemische Düngemittel, mit lokalem Saatgut und ohne „künstliche“ Materialien wie Zäune etc. angebaut wird, wird zum Prestigeobjekt; andere seit den 1960/70er Jahren übliche (und ertragreichere) Anbauformen mit Düngemitteln werden hingegen als rückschrittlich abgewertet. Zieht man intersektionale Ansätze heran, so zeigt sich, dass das Umweltbewusstsein und das Verhalten innerhalb der Gruppe der Frauen sowie der Männer – je nach Bildung, Mig-

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rationserfahrung, Alter und Familienstatus (verheiratet/alleinerziehend/kinderlos, Status der Familie) – unterschiedlich angeeignet und zugeschrieben werden. Frauen und Männer nutzen das Umweltverhalten hier gezielt dazu, sich und andere in der Gemeindehierarchie zu positionieren. Diese Positionierung wird bewusst vorgenommen sowie sozial zugewiesen, wobei entscheidend ist, dass die hierarchischen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern auch hier wirksam werden und die Männern zugeschriebene Umweltkompetenz (welche durch staatliche Programme und Sozialisation erlernt wurde) dafür genutzt wird, Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche an Frauen zu delegieren (wie Müllentsorgung oder Gartenanbau), diese selbst aber nicht umzusetzen. Die geschlechtsspezifisch symbolisierten Praktiken und Kenntnisse (z.B. über el monte) sind entscheidend für die Hierarchien innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppen. Personen, die sich aufgrund ihrer Bildung und ihres Alters als environmental subjects bewusst und reflexiv mit der Natur in Verbindung setzen, grenzen sich dadurch von Personen ab, denen ein solches Umweltbewusstsein abgesprochen wird. Dabei handelt es sich einerseits um StädterInnen, andererseits um gering gebildete Personen in der Gemeinde, die über keine reflexive Umweltkompetenz verfügen. Jedoch werden auch sie – aufgrund ihrer traditionellen Praktiken – von der herrschenden Elite als environmental subjects repräsentiert. Sie selbst wenden diese umweltschützenden Praktiken jedoch aus anderen Gründen an und setzen sie in andere Bezugssysteme. Die dörflichen Gemeindeeliten – Männer wie Frauen – konzipieren das Umweltbewusstsein als Bestandteil der dörflichen Kultur und nivellieren damit die sozioökonomischen Unterschiede zu den StädterInnen. Damit grenzen sie sich als Gruppe durch ihr intrinsisches Umweltbewusstsein ab und stellen dieses – je nach Geschlechtergruppe – performativ unter Beweis. Im Zuge dessen ändern sich grundlegende Organisationsweisen und Institutionen in der Gemeinde – die durch die Naturen und veränderte Subjektpositionen transformiert werden.

6.4 SON ORGANIZADOS, SON UNIDOS: NEUVERHANDLUNG DER SOZIALEN INSTITUTIONEN DURCH DIE NATUREN 29 Lachatao ist in der Region für seinen hohen Grad an Organisation und Zusammenhalt bekannt und wird von Personen, die die Gemeinde kennen, häufig – im Gegensatz zu anderen Gemeinden – als „son organizados y son unidos“ be-

29 „Sie sind organisiert, sie halten zusammen.“

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schrieben. Als Beweis dafür dienen das funktionierende Ökotourismusprojekt und die unter dem Zeichen des Umweltschutzes stehende Landrechtsverteidigung. Das Ökotourismusprojekt und die neue Bedeutung der Umwelt im Sinne der beschriebenen Naturen haben zur Folge, dass die Umwelt in bestimmter Weise – als natürlich und sauber – repräsentiert und dementsprechend gestaltet werden muss. Um dies zu erreichen, werden soziale Institutionen transformiert oder auch neu erschaffen sowie neue Regeln entworfen. In der Literatur zu Ökotourismus wird häufig die Frage nach dem Empowerment lokaler Gemeinden gestellt, was auch anhand der Stärkung lokaler Institutionen dargelegt wird (Butler und Hinch 2007). Am Beispiel Lachataos zeigt sich die vielfach in der Literatur beschriebene Flexibilität der lokalen Verwaltung nach den usos y costumbres (Eisenstadt 2007; Dürr 2005). Wie im folgenden Kapitel aufgezeigt wird, werden die lokalen Institutionen und Regelwerke den neuen Aufgaben und Normen entsprechend angepasst. Es werden lokale Institutionen wie comités, tequios, fiestas etc. eingerichtet sowie die Rechte und Pflichten der Gemeindemitglieder (derechos y obligaciones) neu bestimmt, wie schon anhand der Nutzungsrechte dargestellt wurde. Die sozialen Organisationsweisen und lnstitutionalisierungen verändern sich dadurch und differenzieren sich weiter aus. Damit gehen soziokulturelle Prozesse einher, die einerseits den Gemeindezusammenhalt stärken (Institutionen, Regeln, Sanktionen etc.), ihn andererseits aber auch schwächen, indem sie die soziale Differenzierung und Stratifizierung erhöhen und dadurch Widerstände hervorgerufen werden. 6.4.1 Transformation des Cargosystems durch die Naturen Die politische Organisation von Lachatao wird über das hierarchische Ämtersystem (Cargosystem) verwaltet. Aufgrund der hohen Migration und der wenigen Einwohner ist die Gemeinde auf die Integration und Mithilfe der emigrierten Gemeindemitglieder in der Verwaltung angewiesen. Hinzu kommt, dass aufgrund des Mangels an Gemeindemitgliedern die Altersgrenze für die Übernahme von cargos von ursprünglich 60 Jahren auf jetzt 70 erhöht wurde (vgl. Rojas Serrano 2014, S. 134). Vor allem die politischen Probleme mit den Pueblos Mancomunados führten dazu, dass die führende Elite der Gemeinde Anstrengungen unternahm, die migrierten profesionistas wegen ihres ökonomischen, sozialen und politischen Kapitals vermehrt in die Gemeindeverwaltung zu involvieren (vgl. Kapitel 5.2.1). Durch die Neugründung des Gemeindevereins in Oaxaca (OLAROP) im Jahr 2008 engagierten sich viele der Gemeindemitglieder in Oaxaca verstärkt in der Übernahme von niederen cargos (beispielsweise im Komi-

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tee für die fiesta). Ab 2011 wurden hohe politische Ämter sowie der Posten des Präsidenten an emigrierte Gemeindemitglieder aus Oaxaca vergeben. Dies liegt an der geringen Anzahl von Männern in der Gemeinde sowie daran, dass die immer komplexeren Verwaltungsaufgaben der municipios und die Bürokratisierung der Prozesse mittlerweile einen gewissen Bildungshintergrund erfordern. Vor allem das institutionelle Wissen über staatliche Programme sowie nationalund bundesstaatliche (insbesondere indigene) Rechte sind von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Verwaltung von Gemeinden, die Teilnahme an Programmen und die Akquirierung von Fördergeldern. Die Berufung von emigrierten Gemeindepersönlichkeiten in die cargos ist seit Langem eine gängige Praxis, und viele der namhaften (älteren) Gemeindemitglieder Lachataos, die das Amt des presidente innehatten und jetzt Mitglieder des Ältestenrats (los caracterizados) sind, lebten vor ihrer Berufung in MexikoStadt bzw. Oaxaca. Sie hielten engen Kontakt zur Gemeinde, bekleideten häufig wichtige Ämter in den Gemeindevereinen der Städte, wurden regelmäßig für cargos in der Gemeinde nominiert und durchliefen so trotz ihrer Migration – die häufig zirkulär in die USA verlief – die Ämterhierarchie in der Gemeinde. Während früher eine Präsidentschaft den finanziellen Ruin einer Familie bedeuten konnte – häufig wurden Landbesitz und andere Besitztümer veräußert, um den Lebensunterhalt während der Amtszeit zu sichern und die notwendigen fiestas (mayordormia) auszurichten –, kann sie heute – je nach politischen Netzwerken – Zugang zu erheblichen Geldern und wichtigen politischen Kontakten bedeuten. Die Übernahme des höchsten Amts als Bürgermeister kann – je nachdem, wie einflussreich die Gemeinde ist – es der jeweiligen Person ermöglichen, sich in der regionalen und bundesstaatlichen Politik zu platzieren. Der Einfluss einer Gemeinde wiederum ist abhängig von ihren Kontakten zu Regierungsinstitutionen und Programmen – vor allem zu jenen, die die Verwaltung der natürlichen Ressourcen betreffen, was an die erfolgreiche Umsetzung des Ökotourismusprogramms gekoppelt ist (vgl. Kapitel 3.2 und 5.3.1). Die Übernahme hoher Posten in einflussreichen Gemeinden ist deswegen – nicht in erster Linie wegen des Statuserwerbs innerhalb der Gemeinde, sondern je nach Interessenlage – dem Aufbau einer möglichen politischen Karriere sowie (bei Bedarf) der persönlichen Bereicherung dienlich. Auch wenn Korruption im öffentlichen Diskurs scharf verurteilt wird, besteht doch ein unausgesprochener Konsens darüber, dass die staatlichen Kontakte und Gelder (ausgenutzt) werden müssen (bajar recursos). Dies steht mit einem gewissen Männlichkeitskonzept in Verbindung, das häufig

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als ser cabrón30 bezeichnet wird. Der Ökotourismus in Lachatao und die damit einhergehenden Regierungskontakte machen die Übernahme von höheren cargos somit mittlerweile attraktiv für die migrierten profesionistas sowie für die lokale Elite. Dabei werden die Kriterien der Ämtervergabe verändert und kontrovers diskutiert. Während früher nur männliche Personen nach der erfolgreichen Absolvierung des Ämtersystems in die hohen Posten gewählt wurden, ist dies mittlerweile auch Frauen sowie migrierten Gemeindemitgliedern möglich, die keinen engen Bezug zur Gemeinde aufrechterhalten haben. Die Nominierung von Frauen in hohe cargos wird, wie bereits erwähnt, als fortschrittlich und als ein Zeichen der Geschlechtergerechtigkeit (igualdad de género) verstanden (vgl. Kapitel 3.4.2). Frauen werden vor allem für die mit weiblichen Aufgabenbereichen in Verbindung gebrachten Posten (beispielsweise regidor de educacion und salud) eingesetzt, was mit ihrer naturaleza begründet wird (sich um Kinder und Gesundheit zu kümmern). Die Wahl von Frauen in höhere Posten der Gemeindeverwaltung bis hin zur Präsidentschaft wird von Männern wie Frauen nicht auf einen „westlichen“ Emanzipationskampf zurückgeführt, sondern als notwendige Anpassung betrachtet, um die Gemeindeorganisation trotz der hohen Abwanderungsrate der Männer aufrechtzuerhalten. Dies erklärte ein Gemeindemitglied aus Yavesía bei dem bereits erwähnten Workshop zu comunalidad in Lachatao (vgl. Kapitel 5.3.1) wie folgt: „Die Beteiligung der Frau ist nicht das Ergebnis eines Geschlechterkampfes; wenn wir das so sehen, irren wir uns; die Beteiligung der Frau ist das Resultat eines kollektiven Bedürfnisses, denn da, wo die Männer normalerweise beteiligt sind, sind keine Männer mehr da, um vorzustehen. Und da diese nicht mehr da sind, wer sind diejenigen, die übrig sind? Das sind eben die Frauen, die keinen Ehemann oder keinen sonstigen Mann haben, der sie repräsentieren kann, und das ist ein Problem. Die Beteiligung der Frauen erscheint nicht als Geschlechterkampf, sondern als Bedürfnis auf Gemeindeebene, das ist der Schlüssel, und ich kann es verstehen, ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die mir sagen: ‚Wieso sollte ich gehen, wenn mein Mann das schon übernimmt? Das würde das Doppelte an Arbeit bedeuten.‘“ (Gemeindemitglied aus Yavesía_Workshop zu comunalidad_2012)

30 Ser cabrón bezeichnet die Eigenschaft einer Person, schlau und listig sowie besonders gut in etwas zu sein.

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Frauen in hohen Ämtern substituieren häufig ihre Ehemänner, die diese Ämter aufgrund von Lohnarbeit und Migration nicht übernehmen können. 31 Dies zeigt sich auch an der Wahl von Tía Lorena, die das Amt des Präsidenten in Lachatao in Stellvertretung ihres Ehemanns übernahm. (Dies wurde mir auch aus der Nachbargemeinde Yavesía berichtet, wo ebenfalls eine Frau Bürgermeisterin war.) Frauen bleiben so einerseits konform in der Rolle, ihre Ehemänner und die Gemeinde zu unterstützen, andererseits erweitern sie ihren Handlungsrahmen, indem sie eigentlich den Männern zugewiesene politische Aufgaben übernehmen. Auch der Nominierung der in Oaxaca lebenden profesionistas in hohe cargos der Gemeinde lagen praktische Überlegungen zugrunde. Namhafte Gemeindemitglieder begründeten die Entscheidung damit, dass sie das politische, soziale und ökonomische Kapital vorteilhaft für die Lösung der Ressourcenkonflikte mit den Pueblos Mancomunados sowie für den Ausbau des Tourismus angesehen hätten. Ihre Nominierungen als Bürgermeister und Gemeindevorsteher wurden vor allem von der zuvor amtierenden jungen umweltpolitischen Elite vorangetrieben, die ab 2008 die Gemeindepolitik neu justierte, indem sie den Ökotourismus, den Umweltschutz und die nachhaltige Ressourcennutzung als oberste Prämisse auf die Agenda stellte und die Landrechtskonflikte mit den Pueblos Mancomunados forcierte. Auch sie hatten – wegen ihres jugendlichen Alters (kaum einer unter ihnen war über dreißig Jahre alt) und der Migration (viele von ihnen waren für einige Zeit in den USA gewesen) – die hierarchischen Ämter nicht durchlaufen, sondern wurden aufgrund des Mangels an Gemeindemitgliedern und ihrer Umweltkompetenz in die hohen Ämter gewählt. Die „Umweltkompetenz“ als Verbindung von territorialem und naturwissenschaftlichem Wissen etablierte sich zu einem neuen Vergabekriterium (für die Einwohner sowie die emigrierten Gemeindemitglieder), da dies für die politischen Kontakte der Gemeinde für den Zugriff auf Gelder und Programme von entscheidender Bedeutung ist. Dadurch werden die Machtverhältnisse zwischen den Generationen neu bestimmt, da die Naturdiskurse im besonderen Maße der jüngeren Generation zugänglich sind (staatliche Unterstützung, Ökotourismus, Guides etc.). Sie haben so wirkmächtige Argumente und institutionelle Unterstützung, um von externer Seite die politische Führung in der Gemeinde zu beanspruchen und politische Entscheidungsstrukturen zu ändern (beispielsweise durch die Aufnahme von „Fremden“ in die Reihen der caracterizados). Die Machtstrukturen innerhalb der Gemeinde ändern sich dadurch jedoch nur bedingt, da die junge politische Elite zumeist aus den einflussreichen Familien stammt. Auch ist sie es, die

31 Zu den Vergabekriterien von hohen Ämtern des Cargosystems an Frauen in Oaxaca vgl. Dalton 2012, 2005, 2003.

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maßgeblich zu einer Neuordnung der sozialen Organisationsweisen und Gemeindeinstitutionen beiträgt bzw. diese mitbestimmt. Das Cargosystem sowie die usos y costumbres werden, wie bereits ausgeführt, als authentische Merkmale indigener Gemeinden im Ökotourismus repräsentiert (vgl. Kapitel 3.2). Diese positive Bewertung wurde mittlerweile von jüngeren Gemeindemitgliedern übernommen, die dem Cargosystem zuvor eher ablehnend gegenüberstanden, da sie sich an städtischen Lebensformen orientierten (was nach wie vor der Fall ist) und das Cargosystem im Widerspruch zu den eigenen Interessen an Lohnerwerb, Ausbildung, Migration angesehen wurde. Diese Widersprüche haben sich durch die neuen Möglichkeiten, die mit dem Ökotourismus einhergehen, für einige der führenden männlichen Gemeindemitglieder aufgelöst. Ältere hingegen werten im Rückgriff auf modernisierungstheoretische Diskurse die usos y costumbres („Sitten und Bräuche“) als abusos y costumbres („Missbräuche und Bräuche“) ab, was aus der historisch wichtigen Stellung der Gemeinde und der Bildungskultur der Region heraus zu erklären ist (vgl. Kapitel 3.4.2). Sie beklagen die Modifikationen des Cargosystems, insbesondere die Übernahme der Ämter durch junge, unerfahrene Gemeindemitglieder, ohne dass diese zuvor die Ämter durchlaufen hätten und „Fremde“ in die Gemeinde integriert seien. Diese Integration von „Fremden“ (Personen, deren Deszendenz nicht in Lachatao liegt) wurde von der politischen Elite im Rahmen des Ökotourismus vorangetrieben. Die darin führenden Personen nutzen die Kompetenzen der in die Gemeinde eingegliederten „Fremden“, um das Ökotourismusprojekt zu professionalisieren, und im Sinne strategischer PartnerInnen auch dazu, ihre Position – in Abgrenzung zu den StädterInnen – zu festigen. Dies führte so weit, dass „fremde“ Personen den offiziellen Status als ciuadano/a erhielten, an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben können und gemäß der derechos y obligaciones Ämter in der Gemeindeverwaltung übernehmen müssen. Aufgrund ihrer Kompetenzen oder externen Kontakte als vorteilhaft erachtete männliche Personen (wie Salvatore oder der Agronom) wurden sogar in die Reihen des Ältestenrats (los caracterizados) aufgenommen. Dieser wurde im Zuge der Ressourcenkonflikte in seiner Funktion als politische Beratungssinstitution erweitert, indem durch ihn vermehrt wichtige (geheime) Entscheidungen getroffen und unter Umständen auch umgesetzt werden, ohne dass die asamblea sie bewilligt hat (vgl. Kapitel 3.4.2). Damit veränderte die politische Elite die Institutionen und Entscheidungsfindungsprozesse in der Gemeinde, um den Aufbau des Ökotourismus sowie die Landrechtsverteidigung voranzutreiben. Daran zeigt sich die Flexibilität der traditionellen Organisationsweisen, die den jeweiligen Umständen (wie gegenwärtig der neuen Bedeutung der Naturen und des Ökotourismus) angepasst

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werden. Dies zeigt sich auch anhand des tequio, das als Herzstück der traditionellen Organisationsweisen und Symbol des gemeinschaftlichen dörflichen Lebens angesehen wird. 6.4.2 Tequios „Was bedeutet el tequio? Also, das ist gemeinschaftliche Arbeit, die jedes Gemeindemitglied zum Nutzen der Gemeinde einbringt, ohne entlohnt zu werden. Es bedeutet, der Gemeinde einen Dienst zu erweisen. Und darüber hinaus [...] ist es schön und gut, weil man an diesem Tag zusammenlebt. Wir gehen zum tequio, wir teilen den Taco, wir quatschen alle miteinander. Und so ist das dann ein Zusammenleben, und ein ziemlich gutes obendrein.“ (Interview_Serapio_11.3.2014)

So beschreibt Serapio die tequios: als kollektiv durchgeführte, unentgeltliche Arbeitsleistungen, die ein positives Gemeinschaftserlebnis (convivencia) darstellen und dem Wohl der Gemeinde dienen. Die (zumeist an den Wochenenden veranstalteten) tequios stellen ein wesentliches Organisationsprinzip von (indigenen) Gemeinden in Mexiko dar, durch das Gemeindearbeiten wie Straßenbau durchgeführt werden. Je nach Aufgabenbereich werden sie über sehr lange Zeit durchgeführt (manchmal über Jahre, wie beim Wasserkanalbau in Lachatao). Sie sind wesentlich für die soziale Kohäsion und den reziproken Austausch innerhalb der Gemeinde im Sinne der derechos y obligaciones. An den tequios teilzunehmen stellt eine Verpflichtung (obligación) für die ciuadanos (bzw. comuneros) dar, und ihre Rechte, ihr sozialer Status sowie die Positionen innerhalb des Cargosystems hängen davon ab.32 Formal ist der síndico für die Organisation der tequios zuständig, die Initiative geht jedoch in Lachatao zumeist vom Ökotourismuskomitee aus. Theoretisch sind alle männlichen Gemeindemitglieder ab einem Alter von 16 Jahren zur Partizipation verpflichtet, aber je nach tequio sind auch jüngere Gemeindemitglieder und Kinder dabei. Das Fehlen kann durch das Zahlen von 150 Pesos (ca. 7 €) ausgeglichen werden, oder es kann eine andere Person ihrer statt teilnehmen, was jedoch nicht den gleichen gesellschaftlichen Wert hat. Personen können bei Nichtteilnahme auch zu Strafzahlungen oder anderen Sanktionen verpflichtet werden, was jedoch nur in Ausnahmefällen passiert.

32 Auch Todd Eisenstadt berichtet über die Logik der tequios anhand der Äußerungen eines seiner Forschungsteilnehmer: „If a person never offered tequio and becomes mayor, how do they expect us to obey them? This breaks the ties of legitimacy which are based on reciprocity and respect for authority“ (Eisenstadt 2007, S. 63).

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Die Durchführung des Ökotourismus machen eine Vielzahl an tequios notwendig, die von den führenden Gemeindemitgliedern als convivencia („Zusammenleben“) oder als compartiendo el taco („den Taco teilen“) bezeichnet werden, wie es Serapio im obigen Zitat zum Ausdruck bringt. Diese positive Darstellung der tequios steht im Widerspruch zu deren verbreiteter negativer Bewertung als unfreiwillige, entbehrungsreiche Zusatzbelastung, die zu (existentiellen) Ausfällen in der Lohnarbeit führt. Führende Gemeindepersönlichkeiten wie Serapio hingegen bewerten die tequios als „Bastion“ gegen die negativen Einflüsse städtischer bzw. moderner Lebensformen, die sie mit individualistischem, kapitalistischem Profitdenken und Naturzerstörung in Verbindung bringen. Damit wenden sie sich gegen verbreitete modernisierungstheoretische Ansätze, welche die tequios als ineffektive Gemeinschaftsarbeit bewerten, die die persönliche Karriere bzw. Arbeit Einzelner verhindere und generell dem Wettbewerb schade. Die tequios werden so zum Inbegriff der Gemeinschaftlichkeit und kulturromantisch mit dem Konzept der comunalidad als kollektive, egalitäre Arbeit zum Wohle der gesamten Gemeinde (el bien común) dargestellt. Sie sind ein wichtiges Symbol der ökotouristischen Repräsentation und werden mit dem Umweltschutz und der besonderen Naturverbundenheit Lachataos in Verbindung gesetzt.33 Durch den Ökotourismus und die neue Bedeutung der Naturen werden sie jedoch transformiert, in struktureller Hinsicht (da heute mehr tequios zu unterschiedlichen Aufgabenbereichen durchgeführt werden) sowie in personeller Hinsicht (da heute mehr Leute an den tequios teilnehmen). Sie werden zum identitätsstiftenden Element und zentralen Mittel, um Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Das Ökotourismusprojekts basiert auf den tequios und ist somit auf die Mitarbeit der Gemeinde angewiesen, durch die die touristischen Unterkünfte erbaut sowie die touristischen Orte und Wege überhaupt erst zugänglich gemacht wurden. Dass die „gesamte“ Gemeinde nicht nur an der Durchführung, sondern auch am Aufbau des Ökotourismus durch tequios beteiligt ist, ist im Finanzierungsplan des CDI berücksichtigt. Dabei ist vorgesehen, dass ein Großteil der Arbeits-

33 Die Beschreibung des Ökotourismusprojekts 2011 zeigt dies deutlich: „Als Gemeinde wurde viel Wert darauf gelegt, eine Kultur zu entwickeln, die die Umwelt und Ressourcen schützt, und dies an die Besucher weiterzugeben, damit diese keinen Abfall wegwerfen, keine Pflanzen entwenden, keine Tiere töten oder andere Aktivitäten durchführen, die Schaden anrichten. Weil wir eine Gemeinde sind, die durch die usos y costumbres organisiert ist, bedeutet dies, dass alle an den Arbeiten der tequios teilnehmen, um so den Reichtum der Natur weiterhin zu erhalten“ (Comité de Ecoturismo Lachatao 2011, S. 216, Übersetzung durch die Autorin).

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leistung, beispielsweise die Herstellung von Adobesteinen, unentgeltlich durch die Gemeinde selbst organisiert wird. Diese Handhabung ist üblich, und auch andere Infrastrukturmaßnahmen in der Gemeinde wurden trotz staatlicher Unterstützung durch tequios umgesetzt, wie der Bau eines Gemeindehauses (casa del barrio) oder von Straßen. Je nach Programm übernimmt der Staat die Materialkosten sowie die Kosten für die Leistung der mitarbeitenden Personen (empleo temporal). Wie die Gemeinden die Programme um- und die Gelder vor Ort einsetzen, ist jedoch von lokalen Interessen bestimmt, wie bereits am Beispiel des Sozialhilfeprogramms verdeutlicht wurde. Es ist üblich, dass die Gemeinden – so auch Lachatao – die staatlichen Gelder für die Arbeitsleistungen nicht an die ArbeiterInnen auszahlen, sondern dass die Arbeiten durch unbezahlte tequios durchgeführt werden. Tequios im Kontext staatlicher Programme sind so nicht nur eine unentgeltliche Arbeitsleistung für die Gemeindemitglieder, sondern auch eine finanzielle Einnahmequelle der Gemeinden, die die Gelder dann für andere Dinge zur Verfügung haben. Aber nicht nur der Aufbau, sondern auch die Aufrechterhaltung des Ökotourismusprojekts ist wesentlich von den tequios abhängig, durch welche touristische Infrastruktur – Wanderwege, Sauberkeit – aufrechterhalten wird oder die fiestas organisiert werden. Hinzu kommt, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung der touristischen Infrastruktur von staatlichen Institutionen kontrolliert wird und nur bei erfolgreicher Führung der Zugang zu weiteren Fördergeldern und (Umweltschutz-)Programmen möglich ist (vgl. Kapitel 3.1). Die meisten tequios stehen in diesem Zusammenhang und dienen dem Ökotourismus, dem Naturschutz und der Aufrechterhaltung der bestehenden Infrastruktur (Straßen, Wasserkanal) – Bereiche, die immer weniger voneinander zu trennen sind. Die Beteiligung an den tequios ist in Lachatao generell sehr hoch. Dies liegt an ihrer Bedeutung für das Sozialprestige und die Zugehörigkeit zur Gemeinde, an der neuen Bewertung der tequios als Kulturgut sowie an der ausgeprägten sozialen Kontrolle in Lachatao. Diese wird auch performativ umgesetzt, indem der síndico die Namensliste der Gemeindemitglieder während des tequios laut vorliest und somit jemandes Teilnahme oder Nichtteilnahme vor allen Anwesenden öffentlich wird. Hinzu kommt, dass besonders die tequios als informeller Rahmen dienen, um wichtige gemeindepolitische Themen zu besprechen. An ihnen nicht teilzunehmen führt nicht nur zur schlechten Reputation innerhalb der Gemeinde, sondern zugleich dazu, dass man künftig von Informationen abgeschnitten ist. Seitens des Ökotourismus wird die Teilnahme an den tequios als Gradmesser der politischen Haltung der Gemeindemitglieder gegenüber der Gemeinderegierung und dem Ökotourismus gewertet. So erklärt Diego, der Präsident des Ökotourismus:

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Die Sierra Juárez ist die mit Abstand führende Region für Naturtourismus in Oaxaca. Im Jahre 2013 besuchten sie ca. 72.000 der insgesamt über 103.000 NaturtouristInnen in Oaxaca; davon waren 91 Prozent mexikanische BinnentouristInnen (SECTUR 2014). Die verhältnismäßig wenigen internationalen TouristInnen stammten 2011 zu 56 Prozent aus Europa und zu 31 Prozent aus den USA (Comité de Ecoturismo Lachatao 2011, S. 137). Die ersten gemeindebasierten Ökotourismusprojekte entwickelten sich hier Mitte der 1990er Jahre. Vorreiter waren die Pueblos Mancomunados, die im Jahr 1998 die erste touristische Unterkunft turist yuu34 in Benito Juárez bauten (Gasca Zamora et al. 2010, S. 84). Sie verfügten schon damals durch die renommierte gemeindebasierte Holzwirtschaft über gute Regierungskontakte und gelangten so an staatliche Unterstützung beim Aufbau von Unterkünften (cabañas) in verschiedenen Gemeinden, die durch ein mehr als 100 km langes Wegenetz untereinander verbunden sind (Gasca Zamora et al. 2010, S. 85). Zur Verwaltung des Projekts gründeten sie im selben Jahr das Unternehmen Expediciones Sierra Norte, dessen kollektiver Eigentümer der Verbund der Pueblos Mancomunados ist (Gasca Zamora et al. 2010, S. 85). Dieser Entwicklung folgten viele Gemeinden der Sierra Juárez, sodass im Jahr 2013 24 von ihnen Ökotourismusprojekte betrieben, größtenteils im Distrikt Ixtlán. Die Statistiken der regionalen Koordinationsstelle des CDI in „Ich glaube, das tequio ist ein deutlicher Gradmesser. Da heißt es entweder teilnehmen ‚müssen‘ oder wirklich teilnehmen ‚wollen‘. Und, was den Ökotourismus und den Wald betrifft, da müssen die Bürger nicht, [es ist keine Pflicht], da wollen sie dabei sein.“ (Interview_ Diego_14.4.2014)

An tequios teilzunehmen stellt er als Zeichen der Einheit des Dorfes und der Loyalität der einzelnen Gemeindeangelegenheiten dar. Die tequios werden jedoch im informellen Rahmen von verschiedenen Personengruppen sehr kontrovers diskutiert. Einige Gemeindemitglieder Lachataos, die generell skeptisch gegenüber der Gemeindeverwaltung eingestellt sind, bezeichneten die tequios als unrechtmäßiges Vorgehen der Dorfregierung, da sie mit den Grundrechten der mexikanischen Verfassung unvereinbar seien – eine Argumentation, die auch in der Debatte um die SozialhilfeempfängerInnen des oportunidades-Programms angeführt wurde. Diese Haltung wird von einigen in der Stadt lebenden Gemeindemitgliedern sowie in die Gemeinde remigrierten profesionistas vertreten, jedoch nicht öffentlich kundgetan. Viele Gemeindemitglieder erheben im informellen Rahmen den Vorwurf, dass die ökotouristischen tequios nicht dem Gemeinwohl (el bien común) dienen würden, sondern nur dem Ökotourismus und den daran beteiligten Personen.

34 Turist yuu ist Zapotekisch der Sierra und bedeutet „Haus des Touristen“.

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Insbesondere viele Frauen aus weniger einflussreichen Familien in der Gemeinde bewerten die tequios negativ, da sie zu Arbeitsausfall und Einnahmeeinbußen ihrer Männer führen würden. Hinzu kommt, dass die touristische Inszenierung des Dorfes und des Umweltschutzes neue Aufgabenfelder mit sich bringt, die durch tequios abgedeckt werden, die auch die Frauen zur Teilnahme verpflichten. Dies betrifft besonders alleinstehende und alleinerziehende Frauen, die Haushaltsvorstände (jefas de la familia) sind und somit als Bürgerinnen den Rechten und Pflichten (derechos y obligaciones) der Gemeinde unterworfen sind. Dass Frauen zu den tequios verpflichtet werden, ist ein jüngeres Phänomen, das durch die hohe Emigration und die daraus resultierende geringe Zahl der Gemeindemitglieder notwendig wurde. Zudem bedingen die neuen weiblich symbolisierten Aufgabenbereiche, die mittels tequios erledigt werden, dass nun auch Frauen dafür in die Pflicht genommen werden. Insbesondere für alleinerziehende Mütter stellen diese tequios eine enorme Zusatzbelastung dar (die Probleme bei der Kinderbetreuung mit sich bringen können), die sie aufgrund ihres ohnehin schon niedrigen Status in der Gemeinde schlecht zurückweisen können. Tequios werden jedoch noch immer durch die Zuweisung geschlechtsspezifischer Aufgabenfelder und die Zusammenarbeit innerhalb der Geschlechtergruppen differenziert. Nach wie vor gibt es tequios (beispielsweise Baumfällarbeiten im Wald), an denen keine Frauen teilnehmen. Bei sogenannten tequios generales – an denen Frauen und Männer teilnehmen – werden geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen reproduziert: Die Frauen sind für die Sauberkeit, die Essenszubereitung für die Männer, das Einsammeln von Laub verantwortlich – wohingegen die Männer die „schweren Arbeiten“ (trabajos pesados) verrichten, wie Wege freischaufeln, Bäume fällen, Lehmziegel anfertigen. Diese Rollenzuweisungen werden durch die tequios gefestigt und zugleich unterwandert. Die Erweiterung weiblicher Handlungsfelder in diesem Rahmen ist auch durch die Teilnahme der StädterInnen zu erklären. Auch bei diesen tequios, die mit migrierten Gemeindemitgliedern durchgeführt werden (was seit Langem bei großen Infrastrukturarbeiten üblich ist), ist die Teilnahme von Frauen neu. Frauen aus der Stadt zeigen hier aus emanzipatorischen Gründen häufig ein anderes Geschlechterrollenverhalten, indem sie beispielsweise Aufgabenfelder von Männern übernehmen (wie das bereits aufgezeigte Beispiel von Felipa bei der Herstellung von Adobesteinen verdeutlicht) (vgl. Kapitel 6.3.1). Diese Rollentransgression von Städterinnen oder auch remigrierten Frauen wird von den Männern zumeist scherzhaft toleriert, bei Abwesenheit der betroffenen Personen hingegen vor allem seitens der Frauen scharf kritisiert.

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Dass migrierte Gemeindemitglieder an tequios teilnehmen, ist keine Neuheit. Schon seit ihrer Entstehung organisierten die Gemeindevereine (auch in MexikoStadt) die Teilnahme an tequios, beispielsweise beim (über 14 Jahre andauernden) Bau des Wasserkanals, für den die Vereinsmitglieder zu Ferienzeiten anreisten oder finanzielle Unterstützung leisteten (und dadurch ihre Arbeitskraft finanziell substituierten). Viele Infrastrukturmaßnahmen (wie die erste touristische Unterkunft sowie die Renovierung des Kirchendaches oder der Kapelle der Asunción) wurden mit finanzieller Hilfe aus der Organisation der migrierten Lachatenses aus Mexiko-Stadt und Kalifornien errichtet.35 Neu ist jedoch, dass die tequios von den StädterInnen als attraktiv angesehen, als Revitalisierung der Gemeindekultur empfunden und mit besonderer Naturnähe in Verbindung gebracht werden. Die Gemeindemitglieder in Oaxaca organisieren bei ihren monatlichen Treffen die regelmäßige Teilnahme an touristischen tequios. Diese sind in zweifacher Weise als „touristisch“ zu verstehen: einmal bezüglich ihrer Aufgaben (wie die Säuberung von touristischen Orten), zum anderen im Hinblick auf die teilnehmenden Gemeindemitglieder aus Oaxaca, die die tequios als authentische Gemeinschaftserlebnisse bewerten und in gewisser Weise touristifizieren. Dies beinhaltet auch, dass manche von ihnen fremde Personen dazu mitbringen. Dabei handelt es sich häufig um Studierende, die von profesionistas, die an Hochschulen arbeiten, zu den tequios eingeladen werden. So entsteht eine Art gemeindeinterner tequio-Tourismus, der auch in Form von Fotografien in den sozialen Medien festgehalten und verbreitet wird. Diese „touristischen“ tequios werden zu einer wichtigen Plattform, um die eigene Zugehörigkeit zur Gemeinde und den Einsatz für das Gemeinwohl unter Beweis zu stellen. Dies betrifft vor allem die in der Stadt lebenden Gemeindemitglieder, die versuchen, durch die tequios ihren Status in der Gemeinde zu verbessern und sie als Plattform nutzen, um das ihnen abgesprochene Umweltbewusstsein und Engagement unter Beweis zu stellen. Als Beispiel kann die Teilnahme Lachataos an der Kampagne Limpiemos Nuestro México gelten. Die vom mexikanischen Staat ausgerufene Kampagne umfasste einen Wettbewerb zur Sauberkeit in me-

35 Mittlerweile versucht auch der mexikanische Staat, die migrierten Gemeindemitglieder zu Infrastrukturleistungen in den Herkunftsgemeinden anzuregen, beispielsweise durch die Programme Programa Paisano und Peso por Peso, die unter Präsident Fox in das Programm Tres por Uno überführt wurde, das die Finanzierung gewisser Infrastrukturleistungen von migrierten Gemeindemitgliedern zu Teilen komplementiert (Kearney und Besserer 2004, S. 462). Wegen der staatlichen Mitentscheidung über die Investitionen und den bürokratischen Aufwand wird dies bislang häufig nicht wahrgenommen (vgl. Krannich 2016).

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xikanischen Städten und Gemeinden. Die Teilnahme Lachataos wurde vom damaligen Vorsitzenden der Organisation der migrierten Gemeindemitglieder in Oaxaca initiiert, der über wichtige politische Netzwerke verfügte und später zum Bürgermeister gewählt wurde (2013–2015). Folglich wurden mehrere tequios zur Säuberung der Gemeinde veranstaltet, an denen auch die in Oaxaca lebenden Gemeindemitglieder teilnahmen. Sie stellten damit als soziales Kollektiv ihr Umweltbewusstsein öffentlich unter Beweis.36 Andere tequios – insbesondere die im Wald el monte, die gefährliche Arbeiten (wie das Baumfällen) oder Maßnahmen im Rahmen der Landrechtsverteidigung beinhalten, werden jedoch nur von den in der Gemeinde lebenden Männern durchgeführt. Sie werden häufig spontan von der Gruppe der caracterizados einberufen (auch wegen akuter Vorkommnisse wie Bränden) und schließen damit per se die Teilnahme der StädterInnen aus. El monte bleibt so unter der Kontrolle der führenden politischen Elite, und diese tequios dienen auch dazu, deren Vormachtstellung zum Ausdruck zu bringen. Tequios als soziale Institution werden so durch den Ökotourismus und die neue Bedeutung der Naturen weiter ausdifferenziert; dies betrifft die Aufgabenfelder, die beteiligten Personen sowie die Bedeutungszuschreibungen. Ähnliche Prozesse lassen sich auch bei den fiestas feststellen. 6.4.3 Fiestas Die fiestas sind zentrale Institutionen ländlicher Gemeinden in Oaxaca, denen eine entscheidende Rolle für deren Organisation, soziale Kohäsion und Identität zukommt: „Fiestas are socially and symbolically significant for maintainting community identity, cohesion, and governance“ (Kearney und Besserer 2004, S. 459). Vor allem stärken die fiestas die Reziprozitätsbeziehungen innerhalb der Gemeinden, insbesondere zu den migrierten Gemeindemitgliedern (vgl. Barabas 1999, S. 87). Besonders die Patronatsfeste sind wesentlicher Bestandteil ihrer Repräsentationspolitik und Identität und spielen eine entscheidende Rolle für die

36 Dies beschränkt sich nicht auf den Umweltschutz, sondern wird noch durch die Performanz einer spirituellen Beziehung zur Natur verstärkt. So führten beispielsweise Gemeindemitglieder aus Oaxaca anlässlich eines tequios in Vorbereitung des Equinoccio-Fests „Naturrituale“ unter Anleitung einer älteren Frau aus Oaxaca durch und grenzten sich damit während des gleichen tequios von Ritualen ab, die seitens der Gemeinde durchgeführt wurden. Damit stellten sie die ihnen abgesprochene spirituelle Beziehung zur Natur performativ dar und brachten die von ihnen beanspruchte Zugehörigkeit zum Ausdruck (vgl. Kapitel 5.4 und 6.2.2).

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Beziehungen zu den umliegenden Gemeinden (zur Konfliktlösung, Allianzenbildung sowie Reziprozitätspflege). Im Zuge des Ökotourismus hat sich die Anzahl der Gemeindefeste erhöht.37 Sie sind, wie bereits erwähnt, Teil des touristischen Angebots, werden durch einen Festtagskalender (las costumbres) vermarktet und auf den Flyern sowie der Internetseite des Ökotourismusprojekts aufgeführt (vgl. Kapitel 3.4.2). Dabei handelt es sich um revitalisierte wie auch neue Feste, die in einen engen Bezug zur lokalen Tradition und Geschichte gesetzt werden, beispielsweise das Equinoccio-Fest. Während traditionelle Feste wie das Patronatsfest, die Weihnachtsfestlichkeiten (posadas) oder auch das neu erfundene Equinoccio-Fest von einem Großteil der Gemeindemitglieder als Bestandteil der dörflichen Identität angesehen und in eine Kontinuität mit der Vergangenheit gestellt werden, werden andere Feste wie das Musik- oder das Dichterfestival als dem Ökotourismus zugehörig angesehen. Jedoch ist auch hier die Gemeinde durch die tequios und den Essensverkauf38 in die Veranstaltungen eingebunden, und stets werden alle Gemeindemitglieder zur Teilnahme aufgefordert. Bei den Festen sind generell wenige TouristInnen anwesend, der Großteil der TeilnehmerInnen besteht aus den in der Gemeinde lebenden Personen sowie emigrierten Gemeindemitgliedern, die dafür aus Oaxaca oder Mexiko-Stadt anreisen. Andere Feste, wie die Pilgerwanderung zur Heiligenfigur der Virgen oder die Feierlichkeiten zur Jahrestag der gewonnenen Schlacht in Las Vigas (Batalla de las Vigas) gehen auf die Initiative der emigrierten Gemeindemitglieder zurück und werden in erster Linie von ihnen besucht. Die Feste dienen ihnen dazu, ihren Status und Einfluss in der Gemeinde zu erhöhen sowie ihre Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen und auch im städtischen Kontext zu repräsentieren. Die repräsentative Bedeutung der Feste hat sich durch den Ökotourismus extrem verstärkt – sie geraten in den Fokus der Öffentlichkeit (auch durch die sozialen Medien), was ihre Ausrichtung immer aufwendiger und professionalisierter

37 Darunter fallen vom Ökotourismus organisierte Feste wie das Equinoccio-Fest, das Dichterfestival (Festival de la Paz), die Osterwoche (Semana Santa), ein klassisches Musikfestival im Juli (Festival Cultural Musical Beene Rule) sowie die Weihnachtsfestlichkeiten (posadas) und die „privaten“ Feste, wie Hochzeiten und Geburtstage, zu denen immer die gesamte Dorfgemeinschaft eingeladen ist. 38 Um die Essensversorgung bei den Festen zu gewährleisten, werden entweder einige Frauen der Gemeinde als Köchinnen vom Ökotourismus angestellt und bezahlt, oder einige der Komitees (comité de la escuela, comité del centro de salud etc.) verpflichten ihre Mitglieder (bzw. die Frauen der Männer) zur Essenszubereitung und zum Verkauf (wobei der Erwerb der jeweiligen Gemeindeinstitution zugute kommt). Teilweise gibt es zudem einzelne private Initiativen, die Essen verkaufen.

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werden lässt (beispielsweise durch teure Soundsysteme, bekannte Bands, Rodeos [jaripeos] etc.). Besonders das Equinoccio-Fest sticht hier hervor, das durch seine aufwendige Lichtshow, Theaterperformanzen und Konzerte in der Nacht von weit entfernt liegenden Dörfern aus sicht- und hörbar ist. Die Feste spielen eine wichtige Rolle in den Beziehungen der im Dorf lebenden und der emigrierten Gemeindemitglieder. Letztere werden häufig für die Organisation des Patronatsfests verpflichtet, da sie einfacher Geld einwerben können und das cargo nicht ihre Anwesenheit in der Gemeinde erfordert. Sie können damit ihr Engagement für die Gemeinde zum Ausdruck bringen und sind zugleich der öffentlichen Bewertung ihrer Organisationsleistung auch durch andere Gemeindemitglieder ausgesetzt, die extra zu den Patronatsfesten von weit her anreisen (aus Mexiko-Stadt, Monterrey oder den USA) und die Veranstaltungen über die sozialen Medien mitverfolgen. Mittlerweile werden in Lachatao (wie auch in anderen Gemeinden der Region) die Patronatsfeste durch Komitees organisiert (comisiones de la fiesta), die für ihre Durchführung, Organisation und Finanzierung verantwortlich sind. So ein Komitee wird von der Gemeindevollversammlung für ein Jahr bestimmt und ist mittlerweile in Lachatao für die Ausrichtung beider Patronatsfeste zuständig: dem für die Patronin der Gemeinde Santa Catarina am 25. November sowie für das kleinere Fest zu Ehren der Santa Maria de la Asunción in der Kirche des gleichnamigen barrio am 15. August. Im Gegensatz zur früher gebräuchlichen mayodormía müssen die Komitees die Kosten nicht selbst übernehmen. Die Finanzierung wird durch einen Pflichtbeitrag jedes Gemeindemitglieds (Frauen: 250 Pesos, Männer: 500 Pesos – ca. 12 bzw. 24 €) sowie Benefizveranstaltungen (Losverkäufe, Tanzveranstaltungen, Essensverkauf) getragen, die die Komitees organisieren. Auch migrierten Gemeindemitgliedern, die nicht in den Komitees arbeiten, bieten die fiestas die Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Es ist üblich, dass migrierte profesionistas Kosten für bestimmte Posten übernehmen – beispielsweise für die Musikgruppen (bandas), die kirchlichen Messen oder die Mahlzeiten – und damit ihre persönlichen finanziellen Gewinne an die Gemeinde redistribuieren.39 Einige von ihnen, die selbst nicht zur fiesta anreisen können oder keine Zeit zur Vorbereitung haben, bezahlen Gemeindemitglieder für die Organisation, beispielsweise für die Verpflegung der MusikerInnen. Um

39 Bestimmte Ausgaben bei einer fiesta zu übernehmen wird als ser padrino/a de bezeichnet, was beispielsweise bedeutet, die Kosten für die Messen oder den Kirchenschmuck zu übernehmen. Prestigereiche Familien pflegen hier gewisse Traditionen, beispielsweise die MusikerInnen einer Musikgruppe (banda) (zwischen 15 und 25 Personen) für die Tage der fiesta zu beherbergen und zu verpflegen.

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diesen Personen Anteil an und Kontrolle über die Geschehnisse zu ermöglichen, sind die Initiatoren (beispielsweise ein in den USA lebendes Gemeindemitglied) per Telefon „zugeschaltet“, und Fotos und Filme werden in den sozialen Netzwerken verbreitet. Die fiestas werden aber auch zum Ort der Auseinandersetzung um die Repräsentation der Gemeinde und die „Richtigkeit“ der Traditionen sowie ihre Kommerzialisierung durch den Tourismus. Zum einen geschieht dies im Hinblick darauf, welche Feste gefeiert werden, zum anderen in Bezug auf ihre Gestaltung. Als Beispiel kann die gemeindeinterne Diskussion über die vorgezogene Feier des Equinoccio-Festes dienen. Im Jahr 2014 wurden diese Feierlichkeiten extra für den Besuch hochrangiger Mitarbeiter des CDI40 abgehalten, die begutachteten, ob Lachatao in die Liste der Pueblos Mágicos aufgenommen werden sollte. Dass das Fest 2014 extra für diesen Besuch also zwei Mal gefeiert wurde, wurde von einigen Gemeindepersönlichkeiten scharf kritisiert und als Gefahr gedeutet, die lokale Kultur und Tradition durch den Tourismus zu verlieren. Dabei dienen die fiestas dazu, die indigenen Organisationsprinzipien unter Beweis zu stellen, tequios und cargos unentgeltlich umzusetzen und das besondere Umweltbewusstsein zum Ausdruck zu bringen. Vor allem die Repräsentation der Gemeinde als umweltschützend ist – wegen der öffentlichen Sichtbarkeit – bei den fiestas von großer Bedeutung. Dies führt, wie bereits erwähnt, zur Verschärfung bestimmter Auflagen seitens des Ökotourismus beispielsweise kein Plastikgeschirr und keinen Plastikschmuck (Girlanden) bei den fiestas zu verwenden. Das angemessene Verhalten der Gemeindemitglieder wird dementsprechend sozial kontrolliert. Hier spitzen sich die Konflikte zwischen den StädterInnen und den führenden Gemeindemitgliedern häufig zu. Dies zeigte sich beispielsweise an der verbotenen Verwendung von Plastikgeschirr beim Essensverkauf am Equinoccio-Fest, der von emigrierten Gemeindemitgliedern organisiert wurde. Dies führte zu heftigen Diskussionen über die Beteiligung der Personen aus Oaxaca an den Festen und darüber, wie ihr Einfluss zu kontrollieren sei. Die führenden Gemeindepersönlichkeiten sind sich jedoch der Abhängigkeit von den migrierten Gemeindemitgliedern bei der Organisation der fiestas bewusst und nutzen deren ökonomisches und soziales Kapital sowie die Expertise der profesionistas zur Repräsentation der Gemeinde. Wie mir viele Gemeindemitglieder in Oaxaca-Stadt erklärten, ist die „Kultur“ (insbesondere die fiestas) der einzige Bereich, in dem sie sich als StädterInnen in die Gemeinde einbringen könnten.

40 Die MitarbeiterInnen reisten im Frühjahr 2014 aus Mexiko-Stadt an und evaluierten die Eignung verschiedener, bereits vornominierter Gemeinden, die in die Liste der Pueblos Mágicos aufgenommen werden wollten (vgl. Kapitel 3.4.2).

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Dies impliziert, dass Machtkonflikte zwischen verschiedenen Gruppen auch über die kulturellen Repräsentationen ausgetragen werden. So lehnten die aus Oaxaca stammenden profesionistas (vor der Entdeckung der Tempelanlagen) die Repräsentation der Valenciana als Heiliger Berg (cerro sagrado) und die Performanz einer zapotekischen Deszendenz und spirituellen Naturbeziehung beim Equinoccio-Fest ab. Sie reagierten darauf beispielsweise beim Equinoccio-Fest im Jahr 2013 mit einem wissenschaftlichen Vortrag über die historische Bedeutung der Kochenillenproduktion in der Region, die sie als „professionelle“ Geschichtsinterpretation dem entgegensetzten. Die Vielzahl der Feste und normativen Ansprüche, die Gemeinde im Sinne des todo natural zu repräsentieren, bewirkten eine extreme zusätzliche (und unbezahlte) Arbeitsbelastung für den Großteil der im Dorf lebenden Gemeindemitglieder. Die Frauen werden zu tequios zur Säuberung der Festorte und des Dorfes, zur Essenszubereitung und -ausgabe, die Männer vor allem für die schweren Arbeiten (trabajos pesados) wie dem Auf- und Abbau des Equipments (wie Bühne, Soundsysteme etc.) verpflichtet. Die emigrierten Gemeindemitglieder hingegen beteiligen sich in erster Linie finanziell und repräsentationspolitisch. Diese Struktur bewirkt, dass die Personen, die in der Gemeinde leben, viel Zeit für die Ausrichtung, Organisation und Durchführung der fiestas aufwenden müssen. So hat sich beispielsweise die Haltung unter den Gemeindemitgliedern verbreitet, dass das Patronatsfest in erster Linie für die von außen Kommenden (por los de afuera) veranstaltet werde, sie selbst hingegen erst feiern würden, wenn die meisten der BesucherInnen die Gemeinde wieder verlassen haben. Der letzte Tag dieser zumeist dreitägigen fiesta hat sich so als fiesta por los del pueblo etabliert und wird ohne die BesucherInnen gefeiert. So bewirken die fiestas zwar eine soziale Kohäsion: Mehr Personen beteiligen sich an mehr Festen. Ihre Beziehungen untereinander differenzieren sich jedoch (durch diverse Dienstleistungsverhältnisse) immer weiter aus, und die Abgrenzungen zwischen los de la ciudad und los del pueblo werden immer schärfer gezogen. Zweifelsohne werden die Reziprozitätsbeziehungen durch die fiestas gestärkt; jedoch prägt sich gleichermaßen die soziale Stratifikation mehr aus, und die Beziehungen zwischen den Gemeindemitgliedern werden zunehmend ökonomisiert. Hinzu kommt, dass die Feste selbst sich ausdifferenzieren: Manche sind so eher Feste der StädterInnen, andere der in der Gemeinde lebenden Personen. Auch sind die jeweiligen Bedeutungen, die verschiedene TeilnehmerInnen den fiestas zuweisen, höchst unterschiedlich. So steht beispielsweise das Equinoccio-Fest für ältere Personen in der Tradition von Landwirtschaftsritualen (pedir el agua) und für jüngere und aus der Stadt stammende Personen im Kontext neoschamanistischer Naturverehrung (madre-tierra-Diskurs), von den Ge-

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meindeeliten hingegen wird es als identitätspolitische Proklamation der zapotekischen Deszendenz, der „fortschrittlichen“ Naturbeziehung und des Umweltschutzes konzipiert (Kapitel 5.4.3). Gerade wegen dieser großen Heterogenität der Gemeinde werden die fiestas als kollektives Gemeinschaftserlebnis umso wichtiger, bei dem Traditionen kultiviert und historische Kontinuität hergestellt werden. Sie tragen so gleichermaßen zur Vergemeinschaftung und zur sozialen Differenzierung bei (vgl. Dürr 2011).41 Für die politische Elite sind die fiestas ein wichtiges Mittel, um die Zusammengehörigkeit und Geschlossenheit der Gemeinde öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Bei ihnen spielt die Repräsentation des besonderen Umweltbewusstseins und der besonderen Naturverbundenheit Lachataos eine große Rolle, die (wie im Folgenden aufgezeigt wird) die Forderungen eines selbstverwalteten Gemeindeterritorium unterstreichen. So spielt auch hier der Ökotourismus eine entscheidende Rolle.

6.5 ECOTURISMO ES TERRITORIO TAMBIÉN: NEUVERHANDLUNG DES TERRITORIUMS DURCH DIE NATUREN 42 Die Geschichte des kollektiven Widerstandes gegen externe staatliche Gegner ist ein zentrales Element indigener Identitätsprozesse43 und etabliert sich auch in der Sierra Juárez zur Identifikation als Zapotecos Serranos. Wie bereits im Regionalkapitel dargestellt, stellt der Widerstand gegen die kommerzielle Ausbeutung der Wälder durch die Papierfabrik in Tuxtepec (FAPATUX) in den 1980er Jahren ein wichtiges identitätsstiftendes Ereignis der Region dar, das sich im Protest gegen die geplante Minentätigkeit weiterführt (Kapitel 2.3.3). Rappaport und Dover sprechen von ähnlich gelagerten Fällen in Kolumbien von einer „romance of resistance“ – als Verbundenheit indigener Gruppen, die sich auf eine gemeinsame Geschichte des Widerstands gegen den Kolonialismus beziehen (Rappaport und Dover 1996). Die Referenz zu einer kollektiven Geschichte der Unter-

41 „Participating in the fiestas creates sentiments of belonging through honouring a common set of traditions and creating historical continuity – even though individual meanings ascribed to these practices may vary considerably“ (Dürr 2011, S. 253). 42 „Ökotourismus ist auch Territorium“. 43 Diese Prozesse sind von diversen AutorInnen untersucht worden, beispielsweise von Jean Jackson und Kay Warren, die indigene Identität als Bezug zur Resistenz gegenüber Nationalstaaten verstehen: „[…] speak of a view of indigenous identity as shaped by a history of resistance to nation-states“ (Jackson und Warren 2005, S. 558).

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drückung und des Leidens sowie des Widerstands und Kampfes ist wesentlicher Bestandteil vieler indigener Identitätsbewegungen (vgl. Jackson und Warren 2005). Dies lässt sich auch bei den Zapotecos Serranos feststellen, bei denen die Erzählung der Gemeinden, sich gegen koloniale und staatliche Einflussnahmen behauptet zu haben, ein zentrales Element darstellt. Davon zeugt auch der Titel, den Leo ein junges Gemeindemitglied Mitte 20, seinem Foto (Abbildung 8) zuwies, das den Blick auf Lachatao zeigt: „Die Weisheit, die Kultur und die Werte sind ein heiliges Vermächtnis unserer Vorfahren, die Tränen vergossen haben, Schreie, Plagen, Wunden und Tode erlitten haben für die Liebe zu ihren Nachfolgern“ (Fotoprojekt_ Leo_15.3.2014). Darin zeigt sich ein Geschichtsverständnis des Leidens unter und des kollektiven Kampfs gegen externe Kräfte sowie staatliche und postkoloniale Strukturen, das als Grundbedingung für die jetzige Situation begriffen wird. Die enge Verbundenheit und Kooperation der Gemeinden zu staatlichen Institutionen und Netzwerken werden jedoch nicht thematisiert. Wie bereits dargestellt, greifen Gemeinden der Region seit Langem auf staatliche Strukturen und Gesetze zurück – nicht nur, um sich gegen den Einfluss des Staates und externer Akteure zu schützen, sondern auch, um Konflikte zwischen den Gemeinden auszufechten. Die neue (ökonomische) Bedeutung der Natur und die Vielzahl an unkoordinierten Programmen verschiedener Regierungsinstitutionen bieten neue Möglichkeiten, diese für lokale Gemeindeinteressen sowie jene führender Familien einzusetzen. Bereits die ersten staatlichen Regelungen zum Brandschutz44 in den 1930er Jahren wurden von den Gemeinden der Region dazu verwendet, untereinander territoriale Konflikte auszuhandeln. Viele der Brände, die angezeigt wurden, waren Ausdruck dieser Landrechtsstreitigkeiten. Die Anzeigen wurden dazu genutzt, die betroffenen Ländereien als der eigenen Gemeinde zugehörig zu beanspruchen, und dienten nicht dazu, den Brandrodungsfeldbau einzudämmen (Mathews 2011, S. 105). Auch bei den Ressourcenkonflikten innerhalb der Pueblos Mancomunados spielen staatliche Strukturen und Programme eine entscheidende Rolle und werden von den Gemeinden zur Aushandlung der Konflikte untereinander herangezogen. Dies zeigt sich deutlich auch an den Praktiken in Lachatao.

44 Feuer (Brandrodungsfeldbau) war jedoch grundlegender Bestandteil der Landwirtschaft und notwendig, um die Pinien zu vermehren sowie die sozialen Beziehungen zwischen den Gemeinden zu klären, da durch diese Feuer Gebietsansprüche geäußert wurden (Mathews 2011, S. 104).

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6.5.1 Un área virgen: Die multiplen Bedeutungen von Umweltschutz 45 Im Zuge der Abspaltung von den Pueblos Mancomunados und damit der Abkehr von deren kommunaler Forstwirtschaft konzentrieren sich die Tätigkeiten Lachataos vermehrt auf den Ökotourismus und verschiedene Umweltschutzmaßnahmen (vgl. Kapitel 3.4). Diese gehen Hand in Hand mit dem Ökotourismus, der die Zugangsmöglichkeiten zu weiteren Umweltprogrammen erleichtert oder mit der Ernennung von Naturschutzgebieten einhergeht (vgl. Kapitel 5.3). Im Falle Lachataos ist die offizielle Ausweisung eines der Gemeinde zugehörigen Naturschutzgebietes wegen des gemeinsam verwalteten Territoriums nur in Kooperation mit dem comisariado der Pueblos Mancomunados möglich, was aufgrund der schwelenden Konflikte derzeit nicht im Gespräch ist. Dennoch setzte die Gemeinde verschiedene Naturschutzmaßnamen in Kooperation mit Universitäten und staatlichen Institutionen um, die teilweise im Widerspruch zur Verwaltung der Pueblos Mancomunados stehen. Als Beispiel kann die Wiederaufforstung genannt werden, die parallel zum Aufbau des Ökotourismus in der Regierungszeit von Ángel betrieben wurde. Fast alle Gemeindemitglieder berufen sich auf diese kollektiven Aufforstungsarbeiten (als Ausdruck des besonderen Umweltbewusstseins der Gemeinde), an denen Frauen, Männer und Kinder sowie Gemeindemitglieder aus Oaxaca beteiligt waren. Sie nahmen mehrere Wochen in Anspruch und wurden durch staatliche Zahlungen (empleos temporales) unterstützt. Die Gemeinderegierung bezahlte jedoch nur einige wenige (männliche) Gemeindemitglieder für besondere Tätigkeiten und ließ ein Großteil der Arbeiten im Rahmen von tequios ausführen. Identitätspolitisch dienten die Wiederaufforstungsmaßnahmen nicht nur dazu, sich als umweltschützend zu repräsentieren, sondern zugleich die lokale Kultur und die indigenen Organisationsweisen anhand des tequios unter Beweis zu stellen. Die Teilnahme von Frauen an diesen tequios im Wald stellte eine Besonderheit dar und wird von vielen Gemeindemitgliedern als Zeichen der Gleichberechtigung von Frauen und Männern angesehen. Die Wiederaufforstungen wurden von der führenden politischen Elite vor allem dazu genutzt, umweltethische Werte zu vermitteln und die Gemeinde für das politische Vorhaben eines eigenen, von den Pueblos Mancomunados getrennten Territoriums zu gewinnen. Die Arbeiten wurden geschlechtsspezifisch aufgeteilt: Während die Männer Bäume pflanzten, häuften die Frauen und Kinder die Nadeln der Pinien auf, um so die natürliche Wiederaufforstung zu fördern (da so die Samen auf die Erde fallen

45 „Eine unberührte Gegend“.

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und angedeihen können). Viele Gemeindemitglieder, insbesondere die Frauen, kamen so in Berührung mit „westlichem“ naturwissenschaftlichem Wissen über Ökologie und Umweltschutzmaßnahmen in el monte, wo viele von ihnen noch nie zuvor gewesen waren. Umweltschutz wurde so auch im Wald, der (wie bereits dargestellt) stark männlich konnotiert ist, zur kollektiven Aufgabe der gesamten Gemeinde erklärt und als Grundlage des Gemeinwohls (el bien común) formuliert. Vor allem die jüngere Generation hat diese umweltethischen Werte internalisiert; so erklärt der junge Leo der nach seiner Ausbildung als Krankenpfleger in die Gemeinde zurückkehrte: „Wenigstens hier in Lachatao hat man eben damit angefangen, das mit dem Abholzen zu verhindern und all das. Und das bedeutet uns halt viel, für die neuen Generationen, dass wir wenigstens saubere Luft, sauberes Wasser haben werden, etwas, das man genießen kann, nicht?“ (Fotoprojekt_Leo_15.3.2014)

Die Erhaltung der Natur wird als grundlegend für die Zukunft betrachtet und mit Genuss in Verbindung gebracht. Vor allem die jüngere Generation bezieht sich auf Diskurse über Nachhaltigkeit (sustentabilidad) und Naturromantik, die als Gründe für den Umweltschutz herangezogen werden. Andere Gemeindemitglieder setzen den Naturschutz in Bezug zu anderen Konzepten wie traditioneller Landwirtschaft oder spirituellen Praktiken. Die Beziehung von Umweltschutz und Religion wurde seitens der führenden Gemeindepersönlichkeiten gezielt gestärkt, beispielsweise indem sie anlässlich der Wiederaufforstungsmaßnahmen eine Messe im Wald veranstalteten. Sie knüpften hier an traditionelle religiöse Praktiken an (die häufig an heiligen Orten in der Natur abgehalten werden), setzten diese aber in Verbindung zu einem „westlichen“ Verständnis von Umweltschutz. Durch die Messe konnte eine größere Anzahl an Gemeindemitgliedern für die Aufforstungsmaßnahmen gewonnen werden, darunter auch (ältere) Frauen, für die religiöse Praktiken eine besonders große Bedeutung haben, und Gemeindemitglieder aus der Stadt. Zudem diente die Messe der öffentlichen Inszenierung und Präsenz der Gemeindemitglieder Lachataos in der Natur. Im Kontext der Landrechtskonflikte mit den Pueblos Mancomunados kommt dieser lokal inszenierten Wiederaufforstung eine wichtige Symbolpolitik zu. Sie stellt eine kollektive Performanz des lokalen Umweltschutzes dar, indem verschiedene Konzepte von Natur im Sinne der Naturen miteinander verwoben werden und zugleich das wiederaufgeforstete Gebiet als Lachatao zugehörig proklamiert wird. Staatliche Programme werden hier zur wirkmächtigen Symbolpolitik genutzt. Gleichermaßen werden staatliche Regelungen und Programme auch be-

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wusst missachtet, um lokalen Interessen zu dienen. Als Beispiel können hier die Konflikte um die illegalen Rodungen dienen, die einen der Hauptvorwürfe unter den Gemeinden darstellen. Die Vorwürfe, Bäume illegal – also ohne rechtmäßige Genehmigung der staatlichen Behörde – zu fällen, haben sich durch bestimmte Sondergenehmigungen zugespitzt. Diese ermöglichen es, erkrankte Bäume aus Umweltschutzgründen zu fällen und damit die weitere Ausbreitung der in der Region verbreiteten Borkenkäferplage zu verhindern. Führende Gemeindepersönlichkeiten Lachataos werfen den Nachbargemeinden und zuständigen Behörden Korruption46 vor und erheben den Vorwurf, dass diese eigentlich ein Interesse an der weiteren Verbreitung der Plage hätten. Auf Grundlage dieser Argumentation beschloss die Regierung Lachataos 2013 trotz fehlender Erlaubnis, Baumfällarbeiten durchzuführen. Die Entscheidungen für diese illegalen Holzfällaktionen wurden durch die führende politische Elite der Gemeinde (los caracterizados) getroffen und über tequios in schneller zeitlicher Abfolge unter strenger Geheimhaltung durchgeführt (vgl. Kapitel 6.4.1). Sie erklärte die Baumfällaktionen für notwendig, indem sie mit naturwissenschaftlichen Details über die Evolution der Borkenkäferlarven argumentierte.47 Die Baumfällarbeiten wurden zur Symbolpolitik genutzt, um zu zeigen, dass Lachatao sich im Gegensatz zu den staatlichen Behörden tatsächlich für die Bekämpfung der Waldkrankheit einsetze. Bei den tequios, wo meine Teilnahme von manchen Gemeindemitgliedern kritisch bewertet wurde, stellte sich heraus, dass die Baumfällarbeiten zugleich eine visuelle Markierung von Gebietsansprüchen darstellten. Benachbarte Gemeindemitglieder, die später in diese Gebiete kommen, müssen folglich feststellen, dass die Männer Lachataos vor ihnen dort gewesen sind. Für diese Symbolpolitik spricht auch, dass Lachatao aufgrund der Konflikte mit den Pueblos Mancomunados derzeit über keine Lizenzen verfügt, das geschlagene Holz (legal) verkaufen zu können.

46 Der Hauptvorwurf besteht darin, dass nicht die erkrankten, sondern vor allem gesunde Bäume unter dem Vorwand der Waldkrankheit geschlagen werden. Da in erster Linie die Rinde von der Borkenkäferplage zerstört wird, lassen sich gesunde und erkrankte Hölzer nach deren Entfernen nicht mehr gut voneinander unterscheiden. Da das Holz erkrankter Bäume nach wie vor zum Verkauf geeignet ist, wird zudem der Vorwurf erhoben, dass infizierte Bäume absichtlich nicht gefällt würden, um die Ausbreitung der (ökonomisch lukrativen) Plage zu begünstigen. 47 Um die Ausbreitung der Borkenkäferplage zu verhindern, müssen die Bäume vor dem Schlüpfen der Käfer (und dem Wachstum ihrer Flügel) gefällt werden (was zum Tod der Käfer führt), und bestenfalls die Rinde mit den Käfern muss verbrannt werden.

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Die illegalen Baumfällarbeiten führten somit zu heftigen Konflikten mit führenden Gemeindepersönlichkeiten in Oaxaca, die aufgrund ihrer Abwesenheit und fehlenden Integration in die Reihen der caracterizados aus diesen politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren, aber durchaus von den Folgen staatlicher Sanktionen und nachfolgender Gerichtsverhandlungen betroffen sind. Umweltschutzpraktiken wie die Bekämpfung der Borkenkäferplage werden hier von der Gemeindeelite dazu genutzt, ihre politische Führungsposition und autonome Entscheidungsfindung unter Beweis zu stellen. Dass diese nicht unabhängig von ökonomischen Interessen zu betrachten sind, versteht sich von selbst: Ob sie direkt mit dem illegalen Verkauf von Holz zusammenhängen oder mit der langfristigen ökonomischen Nutzung der „Natur“ im Rahmen des Natur- und Ressourcenschutzes, lässt sich hier nicht beantworten. Die Korruptionsvorwürfe vieler Gemeindemitglieder zeugen aber davon, dass die ökonomische Ressourcennutzung und Kommodifizierung von Natur seit Langem eine übliche Praxis darstellt – die in der Geschichte der Region begründet liegt (vgl. Kapitel 2.2). Demgegenüber etabliert sich der Anspruch eines intrinsischen Naturschutzes del corazón (vom Herzen) als neue Norm, dessen Umsetzbarkeit jedoch als fraglich angesehen wird. So formulierte Tía Adriana, eine ältere Frau der Gemeinde, ihre Bedenken wie folgt: „Also ich finde, die Natur ist etwas Unentbehrliches [...] vorausgesetzt, man weiß sie wertzuschätzen und sich eben bewusst zu werden, dass man die Natur vom Herzen her begreifen muss. Ohne eben das Wirtschaftliche zu sehen und all das [...]. Vom Herzen her das Wasser zu sehen, den Wald, und das eben ohne Absichten. Das ist eine Sache, die bei uns aus dem Herzen heraus entsteht, ohne dazwischen die Wirtschaft zu sehen.“ (Interview_Adriana_ 10.12.2013)

Umweltschutzpraktiken staatlicher Programme werden von lokalen Führungspersonen zu eigenen Zwecken genutzt, mit lokalen Organisationsprinzipien wie den tequios umgesetzt und mit lokalen Konzepten der comunalidad mit dem Ziel des bien común verbunden. Zum anderen nutzen sie diese Praktiken identitätspolitisch und setzen sie als Symbolpolitik territorialer Interessen ein. Der Ökotourismus steht in engem Zusammenhang damit und wird gleichermaßen als staatliches Programm angeeignet sowie für lokale Interessen eingesetzt, die über den Tourismus hinausführen. In diesem Kontext stehen die touristische Revitalisierung der Gemeindegeschichte und die Inszenierung von Festen.

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6.5.2 De vuelta al origen: Geschichte und fiestas als Landmarkierungen 48 Im Zuge des Ökotourismus kommt es, wie bereits dargestellt, zu einer Revitalisierung und Neukonzipierung der lokalen Geschichte (vgl. Kapitel 5.4). Wie generell in der Region, sind in Lachatao die Epochen der mexikanischen Nationalgeschichte Bestandteil der kollektiven Erinnerung, die durch Feste, Gedenktage und Reden im Rahmen von Dorfversammlungen sowie in der Schule vermittelt werden. Der Tourismus stärkt die lokale Gemeindegeschichte, die in einen Bezug zu den klassischen Epochen gestellt wird: zur prähispanischen Vergangenheit, zur Unabhängigkeit und Nationalstaatenbildung sowie zur Revolution. Dies zeigt sich vor allem im Gemeindemuseum, das Salvatore in Zusammenarbeit mit geschichtsversierten Gemeindemitgliedern (insbesondere einigen Lehrern aus Oaxaca) gegründet hat. In dem Museum wird der Beitrag Lachataos zur nationalen Geschichte in chronologischer Reihenfolge durch eine Vielzahl von Objekten veranschaulicht, die von prähispanischen Fundstücken über Kirchengemälde bis hin zu persönlichen Gegenständen berühmter Persönlichkeiten der Gemeinde reichen, wie der Uniform des Generals Isaac M. Ibarra (vgl. Kapitel 2.2.2). Wichtiger als das Museum, das viele Gemeindemitglieder noch nie betreten haben, ist die Inszenierung der Gemeindegeschichte an bestimmten, nun als historisch ausgewiesenen Orten im Gemeindeterritorium. Das kollektive Geschichtsbewusstsein wird hier durch Feste vermittelt, an denen der Großteil der Gemeinde teilnimmt. Als Beispiel für die neue „Vergeschichtlichung“ von Orten können die Feierlichkeiten in Las Vigas herangezogen werden. Sie finden auf der Hochebene Las Vigas inmitten des Territoriums der Pueblos Mancomunados statt und wurden von Lachatao erstmals im Jahr 2000 organisiert. Die Festlichkeiten werden im Gedenken an die am 5. Dezember 1916 unter dem aus Lachatao stammenden General Isaac M. Ibarra erfolgreich geführten Schlacht Batalla de las Vigas gegen die Regierungstruppen der carrancistas49 veranstaltet. Die Schlacht wird als Symbol des Zusammenhalts und der Unbezwingbarkeit der Zapotecos Serranos dargestellt, und es kursiert die Legende, dass diese durch einen strategischen Hinterhalt 800 carrancistas getötet, selbst aber nur einen Mann verloren hätten. Im Jahr 2012 wurden die Feierlichkeiten von öffentlichen Reden

48 „Zurück zum Ursprung“. 49 Als carrancistas werden die dem General Venustiano Carranza folgenden Kämpfer in der mexikanischen Revolution (bzw. dem mexikanischen Bürgerkrieg) in den Jahren 1913 und 1914 bezeichnet, die unter seiner Präsidentschaft von 1914 bis zu seinem Tod 1920 die Nationale Armee stellten.

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renommierter profesionistas aus Oaxaca begleitet.50 In einem Zeitungsartikel zu den Gedenkfeiern werden die Unbezwingbarkeit, die Hartnäckigkeit und der Mut der Serranos unter der Führung von Ibarra hervorgehoben und damit der Führungsanspruch Lachataos legitimiert: „Die Sierra Juárez unterschied sich durch die Hartnäckigkeit und den Mut der zweiten, von General Isaac M. Ibarra geführten Brigade, die das Territorium verteidigte“ (Martínez 2012). Abbildung 25: Gedenkfeier zum 96. Jubiläum der Schlacht in Las Vigas, 2012

Quelle: Eigene Aufnahme

Im Gegensatz zur beschworenen Einheit der Gemeinden in der Revolution nahmen die anderen Gemeinden der Pueblos Mancomunados – bis auf Yavesía (das

50 Die Festlichkeit zum 96. Gedenken an die Schlacht in Las Vigas (96 Anniversario de la Batalla de las Vigas) wurde von Lachatao organisiert, aus dessen Reihen auch ein Großteil der Redner stammte. Darunter befand sich auch der Enkel des aus der Gemeinde stammenden Generals Ibarra, der die Revolutionskämpfe angeführt hatte. Ca. 200 Gäste sowie die Lokalpresse waren anwesend, die in ihren Artikeln die führenden Gemeindepersönlichkeiten Lachataos aus Oaxaca und die OLAROP-Vereinigung explizit hervorhob (Martínez 2012). Die Gemeindemitglieder hingegen mussten das Fest durch tequios vorbereiten, und jeder Haushalt musste (wie bei Festen üblich) Tortillas für die Allgemeinheit beisteuern.

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sich ebenfalls für eine Trennung des Territoriums einsetzte) – nicht an der Gedenkveranstaltung teil. Dies stand der Vision des Begründers der Feier, des mittlerweile über 90-jährigen Schulleiters Don Ramírez entgegen. Er hatte die Veranstaltung im Gedenken and die vereinte Stärke der Pueblos Mancomunados geplant, für deren Zusammenhalt er sich jahrzehntelang (auch in den juristischen Auseinandersetzungen) eingesetzt hatte. Die derzeitigen Gemeindepolitiker Lachataos nutzten die Veranstaltung jedoch zu anderen Zwecken. Durch die aufwendige Ausrichtung des Festes mit entsprechendem Equipment sowie unter der Anwesenheit fast der gesamten Gemeinde und vieler Gemeindemitglieder aus Oaxaca diente die Gedenkveranstaltung vor allem dazu, die Vormachtstellung Lachataos gegenüber den anderen Dörfern der Pueblos Mancomunados zu proklamieren. In den Reden wurden der Kampfgeist der Revolution auf die gegenwärtigen Ressourcenkonflikte übertragen und die naturschützende Rolle Lachataos hervorgehoben, wodurch den Nachbargemeinden indirekt ein mangelndes Umweltbewusstsein und Ressourcenausbeutung unterstellt wurden. Die Inszenierung der Redebeiträge Lachataos vor der „Szenerie“ der Naturlandschaft weist darauf hin, dass es bei der Gedenkfeier vor allem darum ging, den Gebietsanspruch von Lachatao auf die Hochebene Las Vigas öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Dafür spricht auch, dass die Feierlichkeiten durch journalistische Beiträge in Lokalzeitungen und vielfältige fotografische Repräsentationen in sozialen Netzwerken verbreitet wurden (vgl. Martínez 2012). Bei Las Vigas handelt es sich nicht um einen beliebigen Ort in der Natur, sondern um ein Gebiet von entscheidender Bedeutung, in dem Quellen liegen, die von India Pura, der Trinkwasserabfüllanlage der Pueblos Mancomunados, kommerziell genutzt werden. Wie in der Firma der gemeindebasierten Forstwirtschaft der Pueblos Mancomunados funktioniert die Zusammenarbeit der Gemeinden auch hier nicht.51 Einige Monate vor den Feierlichkeiten im selben Jahr hatten führende Gemeindemitglieder Lachataos Widerstand gegen die Ressourcenpolitik von India Pura geleistet, indem sie einen der Wassertransporter beschlagnahmt und die Büros der Firma in Oaxaca besetzt hatten. Der entführte

51 Die Tatsache, dass Lachatao die von der staatlichen Trinkwasserbehörde (CONAGUA) vergebenen Wasserrechte innehat, erhöht hingegen noch die Komplexität des kollektiven Trinkwasserverkaufs. Als Argument seines Protestes führt Lachatao die korrupten Praktiken der Firma an, durch die die Gemeinde nicht angemessen an den Gewinnen beteiligt sowie zu viel Wasser entnommen werde. Nach offiziellen Angaben der Autoritäten Lachataos aus dem Jahr 2012 werden hier täglich 60.000 Liter Wasser durch Tankwagen abgepumpt und zur Trinkwasseraufbereitung und Abfüllung nach Oaxaca transportiert.

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Tankwagen wurde als Zeichen des Widerstands im Sinne einer Trophäe über mehrere Wochen – und mit Kinderzeichnungen geschmückt – vor dem Rathaus postiert (vgl. Abbildung 26). Viele der Gemeindemitglieder in Oaxaca kritisierten dieses Unterfangen als rechtlich problematische Entwendung und warfen der dörflichen Elite unüberlegtes Handeln sowie mangelndes Wissen über die Folgen vor – der Fall zog juristische Konsequenzen nach sich. Dennoch unterstützten namhafte Gemeindemitglieder in Oaxaca die dörfliche Elite in dem Vorhaben, die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Dies zeigte sich anhand der Schenkung eines jüngst renovierten Gehöfts in der Nähe von Las Vigas. Ein Gemeindemitglied aus Oaxaca schenkte es der Gemeinde, was mit dem Plan verbunden war, das Gebiet touristisch durch eine neue Wanderroute und die Übernachtung im rancho zu erschließen – und es damit regelmäßig zu besuchen, zu kontrollieren und als Lachatao zugehörig zu markieren. Abbildung 26: Wassertankwagen vor dem Rathaus, Lachatao 2012

Quelle: Eigene Aufnahme

Die Historisierung des Territoriums zeigt sich jedoch nicht nur in der Feier von geschichtlichen Ereignissen, wie in Las Vigas, sondern auch darin, dass bestimmte Orte, wie die Valenciana oder die Ex Hacienda de 5 Señores, neuerdings wegen ihrer prähispanischen bzw. Revolutionsgeschichte als historisch bedeutend angesehen werden. Damit werden diese Stätten von den führenden Ge-

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meindemitgliedern als geschichtsträchtige Orte für TouristInnen sowie für die Gemeinde neu bewertet, was den Gemeindemitgliedern vor allem durch die dort abgehaltenen tequios und fiestas vermittelt wird. Diese Orte werden so einerseits durch die offiziellen Geschichtsdarlegungen seitens führender Gemeindepersönlichkeiten, andererseits durch die Revitalisierung der persönlichen Erinnerungen und Familiengeschichten neu belebt und in die Kontinuität der Gemeindegeschichte eingereiht und historisiert. Viele Gemeindemitglieder, (insbesondere vieler der StädterInnen) beginnen, sich mit ihrer (Familien-)Geschichte, den verlassenen ranchos und dem Leben von früher (la vida de antes) auseinanderzusetzen, was teilweise mit dem Ziel verbunden ist, Grundstücksrechte zu rehabilitieren (vgl. Kapitel 6.2.1). Die älteren Gemeindemitglieder klären die jüngeren über die Siedlungsgeschichte der Gehöfte auf und setzen dem Bild einer unberührten Natur eine Wahrnehmung entgegen, die die Naturlandschaft bestimmten Personen und ihren Gehöften zuordnet. Der jetzige Zustand der Natur wird von ihnen als historisch gewachsen und von der menschlichen Lebenswelt untrennbar verstanden, der durch das Verlassen der Gehöfte und die natürliche Wiederbewaldung entstanden ist. Diese Wahrnehmung des Territoriums, das durch die Gehöfte geordnet wird, stößt auf das Interesse führender Gemeindepersönlichkeiten. Sie nutzen das Wissen über die ehemaligen Besitzer der ranchos, um territoriale Ansprüche Lachataos abzustecken, indem sie die betreffenden Personen als der Gemeinde zugehörig erklären.52 Das Wissen über die ranchos, deren Lage und die Geschichten über deren BewohnerInnen werden auch bei den geführten Wanderungen an die BesucherInnen vermittelt. Im Zuge dessen werden verfallene Gehöfte teils wieder instand gesetzt, mit dem Vorhaben, sie auch für den Tourismus zu nutzen, wie bereits im Beispiel von Las Vigas aufgezeigt. Die touristische Nutzung wird somit auch hier dafür verwendet, territoriale Besitzverhältnisse abzustecken. Die Zuständigkeitsgebiete der jeweiligen Gemeinden sind festgelegt, sodass auf den geführten Wanderungen ein Wechsel der NaturführerInnen aus den verschiedenen Gemeinden erfolgt. Wenn neue Wanderouten erschlossen werden, führt dies jedoch zu teils heftigen Auseinandersetzungen um die Zuständigkeiten. Durch die derzeit klaren Regelungen, die weitestgehend eingehalten werden, herrscht bei den meisten Gemeindemitgliedern die Meinung vor, dass der Tourismus dabei gehol-

52 Da ein Großteil der Familien in den Pueblos Mancomunados untereinander verwandt ist und die agencias aus den municipios hervorgegangen sind, sind die Zugehörigkeiten zu den Gemeinden umstritten. Damit sind auch häufig die Besitzverhältnisse und Erbfolgen unklar, sodass es vorkommt, dass Mitglieder verschiedener Gemeinden Anrechte auf dieselben Grundstücke erheben.

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fen habe, die politische Situation zwischen den Dörfern der Pueblos Mancomunados zu beruhigen. Diese Ansicht hat sich auch unter Frauen und Gemeindemitgliedern durchgesetzt, die nicht in den Ökotourismus involviert sind. So erklärte beispielsweise Lola, eine Ehefrau und Mutter zweier Kinder Anfang 30: „Und so klärt sich das auf, an den gemeinsamen Grenzen. An wen wir angrenzen und bis wohin das Gebiet von Lachatao reicht. Weil vorher war das undenkbar, bis hierhin, sagten sie uns, und wir wussten erst nicht, wo genau. Zum Beispiel dieses Gebiet La Virgen, also jetzt wissen wir, dass es zu Lachatao gehört, all das. Und man sieht überall die Grenzwege.“ (Fotoprojekt_Lola_2.1.2013)

Bestimmte Orte, wie La Virgen, werden wegen des Tourismus als Lachatao zugehörig angesehen. Diese Sichtweise verbreitet sich bei den Gemeindemitgliedern vor allem durch die Feste, die zwar touristisch beworben werden, aber nur von wenigen TouristInnen und stattdessen vom Großteil der Gemeindemitglieder besucht und organisiert werden. Betrachtet man die touristischen Orte der Umgebung auf einer Karte, so zeigt sich, dass sie zum großen Teil an zentralen Punkten der eingeforderten Grenzverläufe zu den Nachbargemeinden der Pueblos Mancomunados stattfinden (die von Lachatao eingeforderte Grenze zu Latuvi, ist auf der Karte nicht verzeichnet; sie verläuft ungefähr quer zu dem Ort (La Virgin) der oberhalb von Latuvi auf der Karte markiert ist bis zu dem untersten Dreieck (Las Vigas) (vgl. Abbildung 27).

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Abbildung 27: Karte der Pueblos Mancomunados

Quelle: Erweiterungen nach Vorlage von Poe 2009, S. 26 (mit deren freundlichen Genehmigung)

Durch die regelmäßigen Aktivitäten der tequios und fiestas ist die Gemeinde somit als Kollektiv an diesen Orten präsent. Dies wird noch durch die materielle Gestaltung der jeweiligen Orte und Wege sowie der (digitalen) Repräsentation durch Fotografien und Filme in der touristischen Werbung verstärkt und dokumentiert. Die Orte werden so als historische Stätten symbolisiert und dauerhaft durch die Repräsentation im Tourismus und Internet öffentlich als Lachatao zugehörig dargestellt. Dies zeigt sich in der Aussage von Diego, der als Vorsitzender des Ökotourismus für die Revitalisierung der Feste mitverantwortlich ist: „Die Ex Hacienda de 5 Señores, sie war verlassen. Fast haben sie sie uns weggenommen. Jetzt haben wir sie und werden sie nicht mehr hergeben. Und unseren Kindern bringen wir bei, dass das uns gehört und bewahrt werden muss. [...] Ich glaube, der Prozess läuft schon ziemlich gut. Zumindest die Kinder kennen diese Orte schon, die ich als Kind niemals kennenlernte. Mir wurde nie etwas aus unserer schönen Geschichte erzählt, zum Beispiel etwas über 5 Señores.“ (Interview_Diego_14.4.2014)

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Diego betont die Aufgabe, die Lachatao zugehörigen Orte und ihre Geschichte zu erhalten und damit „abzusichern“. Durch die Feste wird die Gemeinde als Kollektiv in zuvor ungekanntem Maße „in das Territorium verlagert“ – d.h. die körperliche Präsenz der Menschen an diesen Orten ist Teil von deren Identitätspolitik und „Landnahme“. Dadurch werden die territorialen Grenzen zu den Nachbargemeinden abgesteckt. Viele Gemeindemitglieder hatten diese Orte zuvor noch nie besucht. Mittlerweile sind sie jedoch, insbesondere durch die Feste, zu wichtigen Referenzpunkten für die kollektive Identität der Gemeinde geworden. Viele besuchen diese Orte nun auch mit Verwandten aus den Städten und heben dort die Schönheit der Natur, die besondere Geschichte Lachataos und ihre spirituellen Erlebnisse hervor. Sie beziehen sich auf die kollektive Repräsentation der Orte, die ihre Beziehung zur und das Erleben der Natur verändern. So formulierte beispielsweise Sandra, die bis auf einige Jahre in Oaxaca immer in Lachatao gelebt hatte, nachdem sie das erste Mal mit ihrer Mutter die Valenciana besucht hatte: „Und jetzt, also da spüren wir das richtig. Also, wir bejahen das. Man fühlt sich auf diesem Berg wohl. Deswegen ist es dort – unabhängig davon, dass es auch so schön ist – irgendwie, als würde man Energie auftanken.“ (Interview_Sandra_5.8.2013)

In Sandras Darstellung der Schönheit und besonderen Energie des Ortes spiegelt sich die Neukonzeption der Valenciana als Heiliger Berg (cerro sagrado). Die touristischen Naturinszenierungen und Festlichkeiten, beispielsweise die spirituellen Rituale anlässlich der Equinoccio-Feierlichkeiten, ändern somit das persönliche Erlebnis dieser Orte. Darunter fällt auch die Wahrnehmung der Natur als ursprünglich und unberührt, die mit einer Wertschätzung von Natürlichkeit im Sinne des todo natural einhergeht (vgl. Kapitel 5.5). Dadurch hat sich auch die Bedeutung und Wahrnehmung des Waldes (el monte) verändert, der nicht nur zum Raum männlicher Performanz, sondern auch zum kollektiven Identifikationsraum der Gemeinde und zum Inbegriff des „natürlichen Lebens“ wird. Dies zeigt sich in der Aussage Don Oliveros, als er im Rahmen des Fotointerviews über den Wald als den Ort berichtete, an dem er sich besonders wohl fühle:

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„Ja, [der Wald] bedeutet mir sehr viel. Also, es gibt keinen besseren Ort als den Wald. Wollen Sie reines Wasser trinken, dann gibt es das dort, ganz ohne Verschmutzung, reines Quellwasser. Sie möchten ein bisschen Sonne, dann laufen Sie ein Stückchen, und schon sind Sie in der Sonne. Ist es Ihnen sehr heiß, wieder laufen Sie ein Stückchen, und schon haben Sie Schatten. Wollen Sie sich ein wenig auf die Wiese, auf einen grünen Teppich legen... Die Natur ist einfach alles. Sie gibt einem alles! Es gibt keinen schöneren Ort als die Natur, wohin man auch auf der Welt kommt, die Natur ist das Größte, [nicht] irgendeine Suite oder irgendwelche fünf Sterne, nein. Das ist Schönheit.“ (Fotoprojekt_Olivero_ 20.8.2013)

Bezeichnend ist, dass Olivero die Natur mit Attributen eines modernen Lebensstils beschreibt und mit einer Suite als Inbegriff des höchsten Luxus gleichsetzt. Daran zeigt sich die Umbewertung der Natur, die nun zur Erholung genutzt wird und nicht mehr mit den körperlichen Entbehrungen der Landwirtschaft und tequios, mit einem rückständigen, ärmlichen Leben gleichgesetzt wird, das viele in die Emigration bewegt hat. Einige, die nach Jahren in mexikanischen Großstädten wieder nach Lachatao remigrierten – wie auch Don Olivero –, stärkten bei ihrer Rückkehr die Neubewertung von Natur und Natürlichkeit als Lebensqualität. Diese Neubewertung des Lebens in der Gemeinde steht in enger Verbindung zur Natur und wird durch den Vergleich zum Leben in den mexikanischen Metropolen und den enormen dortigen Umweltbelastungen vorgenommen. Diese radikale Umbewertung des Dorfes im Gegensatz zur Stadt zeigt sich an der Aussage von Diego, der auch einige Jahre in den USA verbracht hatte: „Die Zukunft liegt nicht mehr in den Städten. Hier ist [unsere] Zukunft, vorausgesetzt, wir schaffen sie mit Identität, indem wir in unseren Bräuchen und Traditionen verwurzelt sind, im tequio, in der comunalidad. Das Dorf bedeutet mir alles.“ (Interview_Diego_14.4. 2014)

Damit stellt die führende Elite das Leben in Lachatao, das durch die Verbundenheit zur Tradition ein Gegengewicht zur globalen Umweltzerstörung und zu den sozialen Problemen in den Städten bildet, als fortschrittlich und vorbildlich dar. Die Umkehrung postkolonialer Diskurse der „Unterentwicklung“ indigener Gemeinden, die sich hier zeigt, steht in einem engen Verhältnis zu globalen ökologischen Diskursen und zum Ökotourismus. Die Natur wird zur entscheidenden ökonomischen, kulturellen und politischen Ressource. Führende Gemeindemitglieder nutzen hier den Ökotourismus nicht nur, um die Natur zu schützen und nachhaltig zu nutzen, sondern auch dazu, sie als Eigentum zu deklarieren. Nachdem ich über zwei Jahre hinweg immer wieder in der Gemeinde gewesen war,

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fasste Diego, der presidente des Ökotourismus, in einem abschließenden Interview in Worte, was sonst nicht so klar gegenüber Fremden formuliert wird: „Was ich damit sagen will: Es geht nicht nur um Hütten und Spazierwege und den Kram. Ökotourismus ist auch Territorium. Das heißt, bis wohin wir gehen, um davon Fotos zu veröffentlichen oder Wanderungen zu machen, dort sind auch unsere Grenzen. [...] Das Ziel ist die Bewahrung und das Ziel ist das Territorium. So einfach ist das. Hierbei merken wir, dass es die Leute von hier sehr wohl interessiert!“ (Interview_Diego_14.4.2014)

Damit rückt Diego das Territorium ins Zentrum des Ökotourismus, dessen Erhaltung das oberste Ziel der Gemeinde sei. Der Tourismus in Lachatao dient also nicht in erster Linie dazu, TouristInnen zu akquirieren, sondern vor allem dazu, die Kontrolle über das Territorium zu behalten. Dieses wird durch die regelmäßige Anwesenheit der Gemeindemitglieder bei den Festen neu belebt und ist als symbolischer Identifikationsort für die Gemeinde sowie für die einzelnen Gemeindemitglieder – als environmental subjects – von zentraler Bedeutung. Die Zugehörigkeit zu Lachatao, wie Guillermo es in dem zu Anfang gestellten Zitat ausgedrückt hat – „[D]u bist oder du bist nicht aus Lachatao, nicht?“ – , steht in einem engen Zusammenhang damit, wie sich die Gemeindemitglieder in Bezug zur Natur verhalten. Über die formale Zugehörigkeit hinaus wird diese Beziehung vor allem über soziale Praktiken hergestellt, die die Mitglieder aufgrund ihrer Rechte und Pflichten (derechos y obligaciones) erfüllen müssen. Durch den Ökotourismus werden diese seitens der Gemeinderegierung vermehrt in Bezug zu den Naturen formuliert und beinhalten neue Regelungen des Umweltverhaltens wie die Grundstückspflege oder die Teilnahme an tequios. Dadurch wird vor allem die zentrale soziale Differenzierung der Gemeinde zwischen los del pueblo und los de la ciudad pointiert, wobei die Zugehörigkeiten zu diesen beiden Gruppen nicht immer klar sind, sondern je nach Kontext zuoder abgesprochen werden. Die damit verbundenen naturbezogenen Praktiken, wie die Mülltrennung oder die politische Unterstützung des Umweltschutzes in den Landrechtskonflikten, werden so über die ökotouristische Repräsentationspolitik hinaus von manchen Gemeindemitgliedern zur symbolischen Repräsentation ihrer Zugehörigkeit verwendet. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung entwickeln sich neue Identitätskonzepte als environmental subjects, durch die Geschlechterrollen und Machtverhältnisse zwischen und innerhalb der Geschlechtergruppen neu verhandelt werden. Hier zeigen sich widersprüchliche Tendenzen: Einerseits entstehen neue Handlungsräume (insbesondere für die Frauen), andererseits werden diese durch traditionelle geschlechtsspezifische Normen (die als natürlich dargestellt werden) stärker kontrolliert. Dies deutet auf

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die hierarchischen (Macht-)Beziehungen zwischen den Geschlechtern hin: Insbesondere Frauen werden für umweltbewusste Praktiken in die Verantwortung genommen (Müll, Sauberkeit, Gartenanbau oder Nahrungsmittelzubereitung), wohingegen Männer die Umweltexpertise für sich beanspruchen, die politisch repräsentative Verwaltung übernehmen und dementsprechend mehr ökonomische und soziopolitische Vorteile erzielen. Die Aufgabenbereiche und Handlungsmöglichkeiten unterscheiden sich jedoch stark innerhalb der Gruppen der Frauen und der Männer. Ob die Handlungsfelder erweitert oder durch die geschlechtsspezifische Zuweisung von umweltbezogenen Verantwortungen sogar weiter eingeschränkt werden, hängt von der intersektionalen Verschränkung und wechselseitigen Verstärkung der sozialen Differenzierungen in der Gemeinde ab. Diese verlaufen entlang der Kategorien von „Klasse“ (Status der Familie in der Gemeinde, ciuadanos/as oder comuneros/as, ökonomische Verhältnisse und Bildung), Alter, sozialem Status (verheiratet, alleinerziehend) sowie Migrationserfahrung. Diese Differenzkategorien werden durch die Gemeindeinstitutionen (in Verbindung mit staatlichen Strukturen), beispielsweise die oportunidades, noch verstärkt. Gleichermaßen verändert die performative Herstellung der Naturen die Gemeindeinstitutionen durch neue Regelungen und Normen. Dies betrifft das Cargosystem, die tequios sowie die fiestas und zeigt die enorme Flexibilität der usos y costumbres. So werden der Ökotourismus und gewisse umweltbezogene Praktiken wie die Wiederaufforstung oder Feste dazu genutzt, das Territorium symbolpolitisch zu markieren. Damit treffen die beschriebenen Prozesse ins Zentrum der translokalen Organisation der Gemeinde und zeigen, wie sich verschiedene Personen(gruppen) (los de la ciudad und los del pueblo) in Bezug auf die Naturen sozial neu positionieren und damit Vorteile erzielen wollen. Die performative Herstellung der Naturen steht im engen Zusammenhang mit touristischen Normen des tourist gaze und entfaltet als local gaze komplexe soziokulturelle und politische Prozesse, die die Gemeinschaft rekonfigurieren. Dies betrifft die Verhandlung von Zugehörigkeit, die Genderrollen, die gemeindeinternen Institutionen sowie das Territorium.

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Naturen: Transformationsprozesse von Zugehörigkeit, sozialer Organisation und Territorium

Ausgangspunkt dieses Buches war die Frage, wie sich Ökotourismus auf die lokalen Naturbeziehungen in einer indigenen Gemeinde im südlichen Mexiko auswirkt. In den damit verbundenen Transformationsprozessen, so wurde aufgezeigt, spiegelt sich die Aneignung touristischer Konzepte (tourist gaze) wider, die von Gemeindemitgliedern mit lokalen Konzepten (local gaze) verwoben, praktisch umgesetzt und sozial verhandelt sowie weit über den Ökotourismus hinaus wirksam werden. Um diesen Prozess darstellbar zu machen, wurde der Ansatz der Naturen entwickelt. Für die Forschung war Ökotourismus der „point of entry“ (Leite und Graburn 2009, S. 46), der es mir ermöglichte, globale Konzepte und ihre lokalen Wirkungszusammenhänge zu untersuchen. Ökotourismus ist in Lachatao ein Katalysator für Veränderungen, welche die lokalen Naturbeziehungen (die Naturen), die Zusammensetzung der Gemeinschaft im Kontext der Stadt-Land-Migration (Zugehörigkeit und environmental subjects), die soziale Organisation der Gemeinde sowie das Territorium betreffen. Im Gegensatz zu Forschungen, die touristische Begegnungssituationen in den Mittelpunkt stellen, stehen die TouristInnen in den dargelegten Ergebnissen im Hintergrund, da die BesucherInnenzahlen in Lachatao relativ niedrig sind und auch viele emigrierte Gemeindemitglieder beinhalten. Die transformative Kraft von Ökotourismus in Lachatao speist sich somit nicht aus hohen BesucherInnenzahlen und ökonomischen Gewinnen, sondern aus der Herstellung einer stark auf die Umwelt bezogenen Gemeindeidentität und deren symbolischen Repräsentationen in Form von Normen, Werten und Praktiken. Wie aufgezeigt wurde, werden diese von verschiedenen Gemeindemitgliedern sozial verhandelt und dazu verwendet, Machtverhältnisse (insbesondere zwischen Stadt und Land) neu

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zu konfigurieren. Führende Gemeindemitglieder nutzen den Ökotourismus, um Zugang zu staatlichen Förderungen (in Form von Programmen und Geldern) zu erlangen sowie um das Umweltverhalten in der Gemeinde zu regulieren. Diese touristischen Prozesse treffen den Kern des Migrationszusammenhangs der Gemeinde und führen dazu, dass die Zugehörigkeit (belonging) und der Status von Gemeindemitgliedern vor allem über die Herausbildung der Naturen ausgehandelt wird. Die Möglichkeiten, ein Umweltbewusstsein zu entwickeln sowie dieses als environmental subjects aktiv zu repräsentieren und einzusetzen, ist jedoch abhängig von der jeweiligen sozialen Position der Gemeindemitglieder, die durch intersektional miteinander verbundene Differenzkategorien bestimmt wird. Dass sich gerade die Sierra Juárez zum Zentrum für Ökotourismus entwickelte, liegt an ihrer besonderen regionalen (Umwelt-)Geschichte und der engen wirtschaftspolitischen Verbindung zum mexikanischen Staat, wie im zweiten Kapitel nachgezeichnet wurde. Gemeinden nutzen diese Entwicklungen, um sich als „Pioniere im Umweltschutz“ zu etablieren und die „Natur“ sowie die natürlichen Ressourcen als soziales Kapital, zur Netzwerkbildung und als Instrument zu nutzen, um auf weitere staatliche und internationale Programme zugreifen zu können. Lokale Eliten eignen sich das Konzept des Ökotourismus an und verbinden es mit eigenen Organisationsprinzipien, Vorstellungen und Wertkonzepten des Gemeinwohls (el bien común). Der Ökotourismus wird somit zum Brennglas für romantisierende (Selbst-)Zuschreibungen von indigener Naturverbundenheit und Werten der Gemeinschaftlichkeit (comunalidad). Gemäß dieser Werte werden die Gemeinden als Gegenpol zu staatlichen Institutionen, Individualismus und kapitalistischer Marktwirtschaft stilisiert. Dabei treten inhärente Widersprüche zu Tage, die (zwischen ideellem Anspruch des Gemeinwohls bien común und dessen lokaler Umsetzung) grundlegende Debatten über die Kultur der Zapotecos Serranos auslösen (vgl. Kapitel 3.2). Durch den Ökotourismus werden die großen, historisch bedingten Unterschiede selbst zwischen benachbarten Gemeinden verstärkt sichtbar und prägen sich vor allem in der sozialen Organisation, im politischen Einfluss und den Wirtschaftsweisen noch weiter aus. Die Erfolgsgeschichte des Ökotourismus in Lachatao steht – in Bezug auf die Entwicklung und Verwaltung des Projekts (weniger bei den BesucherInnenzahlen) – im Zusammenhang mit dem soziopolitischen Kontext Lachataos und den Konflikten mit den anderen Pueblos Mancomunados (vgl. Kapitel 3.4.1). So zeigt die Studie, wie eng der Aufbau des Ökotourismusprojekts, die Intensivierung der Beziehungen zu den emigrierten Gemeindemitgliedern und die Forderungen eines selbstverwalteten Territoriums miteinander verflochten sind. Die performative Herstellung der Naturen, die mit veränderten Praktiken (z.B. touristischen tequios) und Normen (z.B. Sauberkeit)

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einhergeht, verändert nicht nur die Gestaltung des Naturraums gemäß des tourist gaze (visual resource management) (vgl. Kapitel 5), sondern betrifft auch die Zusammensetzung der Gemeinschaft. Hier zeigte sich, dass die umweltbezogenen Praktiken für die meisten Gemeindemitglieder weniger mit dem Tourismus verbunden sind, sondern sich als allgemeine Norm etabliert haben, die zur Aushandlung translokaler Machtverhältnisse in der Gemeinde dienen. Diese betreffen zum einen die „internen“ Machtverhältnisse (Zugehörigkeit im Kontext der Migration auszudrücken, zu- oder abzusprechen) sowie die „externen“ gegenüber den Nachbargemeinden und staatlichen Akteuren bzw. Organisationen. Im Zuge der veränderten Normen werden aber auch geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen sowie gemeindebasierte Organisationsformen und Institutionen flexibel den neuen Verhältnissen angepasst (vgl. Kapitel 6).

7.1 NATUREN: MULTIPLIZIERUNG UND NORMIERUNG DER NATURBEZIEHUNGEN „Für uns ist diese Wechselbeziehung, die zwischen den Dorfbewohnern und den Städtern existiert, sehr wichtig, auch wenn wir sie nicht selbst ins Leben gerufen haben, wir uns niemals zuvor gesehen haben, uns nie zuvor kennengelernt haben. Also das ist die Beziehung, die im Hinblick auf die Natur besteht, sie ist eben offensichtlich und greifbar. Sie verzehren sie, haben wir ihnen mal gesagt, nicht? Wenn wir hier in den Gemeinden weiterhin den Wald nur als Holz, als Kubikmeter Holz ansehen. Wenn ein Baum, bevor man ihm den tiefsten Sinn verleiht, den Wert, den er eigentlich hat, er von uns schon ausgemessen wird und [...] wie viel Holz er uns wohl produzieren wird. Dann verfallen wir dem und begehen den Fehler, der viele Male in den Gemeinden gemacht wurde, dass wir alles am Geld messen. Wenn wir das tun, dann kommt bei euch in der Stadt das Wasser nicht an. Und wenn ihr in den Städten weiterhin Ressourcenmissbrauch betreibt, indem ihr das Wasser verschwendet, den Müll herumwerft, indem ihr eure Einstellung im Umgang mit dem Müll nicht ändert, dann wird uns der Klimawandel treffen, nicht? Es gibt Gegenden, es gibt sehr wichtige geschützte Gebiete in der Region der Sierra Juárez. Wir befinden uns innerhalb der siebzehn Gebiete mit der umfangreichsten Artenvielfalt auf der ganzen Welt.“ (Ökotourismuspräsentation_Diego_16.1.2013)

So erklärte Diego, der Vorsitzende des Ökotourismus in Lachatao, vor einer Gruppe mexikanischer Studierender die besondere Beziehung zur Natur als zentrales Charakteristikum ländlicher Gemeinden, die, wie er sagt, eine neue, früher unvorstellbare Beziehung und gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Stadt und

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den Gemeinden bewirkt. In Lachatao befördert der Ökotourismus eine auf die Natur bezogene Repräsentation der Gemeinde, die an die globale Bedeutung von Natur und Indigenität anschließt, diese aber lokal verortet. Wie in diesem Buch dargestellt wurde, werden globale Konzepte von Naturschutz, Biodiversität und indigener Naturverbundenheit mit lokalen Konzepten von Subsistenzlandwirtschaft, reziproken Naturbeziehungen und Gemeinschaftlichkeit (comunalidad) verwoben und performativ umgesetzt. Dadurch werden materielle Realitäten geschaffen (beispielsweise besondere Orte wie die Valenciana, gestaltet und mit neuen Bedeutungen versehen) und soziale Zuweisungen vollzogen. Die touristische Repräsentations- und Identitätspolitik wird noch dadurch befördert, dass sich Lebensstile, Konsumverhalten und Lebensstandard in Lachatao und der Stadt immer weniger unterscheiden. Differenz wird vor allem über die performative Herstellung von „Natur“ hergestellt, die – wie das obige Zitat zeigt – nun als Bildungstransfer indigener Gemeinden an die StädterInnen verstanden wird. Ein zentrales Ergebnis der Studie besteht darin, dass der Ökotourismus in Lachatao nicht zu einer Vereinheitlichung der lokalen Naturbeziehungen führt, sondern sich diese zwar „verwestlichen“, aber zugleich ausdifferenzieren. Diese Differenzierung wurde analytisch mit dem Konzept der Naturen beschrieben, das eine Zuweisung der lokalen Naturbeziehungen zu den drei Ordnungssystemen ermöglicht: eine „unberührte, schützenswerte Natur“ (un área virgen), eine „spirituelle Natur“ (de vuelta al origen) sowie die „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ der dörflichen Lebensweise (todo natural). Die Naturen stehen in Bezug zu touristischen Konzepten, visuellen Seherwartungen (tourist gaze) (Urry 1992, 1990) und Kommodifzierungsprozessen im Rahmen einer symbolischen Ökonomie (Zukin 1995) und sind allein durch ihre Differenzierung als „verwestlicht“ anzusehen. Sie werden aber von verschiedenen Gemeindemitgliedern mit unterschiedlichen lokalen Konzepten verwoben und sind deswegen in sich heterogen und umstritten. Dies zeigt sich beispielsweise an den Diskursen um (Subsistenz-) Landwirtschaft als Symbol indigener Autonomie, Einkommensquelle oder Umweltschutz. Dies schließt an Studien an, die feststellen, dass ökotouristische Prozesse nicht dazu führen müssen, dass lokale Organisationsformen, Denkweisen und Wertesysteme aufgegeben werden, sondern (im Gegenteil) sogar gestärkt werden können (Pereiro Pérez 2015, 2013; Stronza 2004). Wie andere empirische Studien zeigen auch die vorliegenden Ergebnisse, dass die Kommodifizierung der Natur und der Naturbeziehungen als touristische Ressource einen Anteil an diesen Prozessen hat und ökonomische Wertzuschreibungen – im Sinne einer symbolischen Ökonomie (Zukin 1995) – in allen Naturen eine Rolle spielen. Als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal führen die Gemeindemitglieder an,

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dass gerade die lokalen Naturbeziehungen eine Alternative zu marktwirtschaftlichen Prinzipien und zur Kommodifizierung von Natur seien. Die lokalen Naturbeziehungen als kulturelle Symbole haben somit materielle Konsequenzen (Zukin 1995, S. 268). Diese sind jedoch nur für eine Minderheit der Gemeindemitglieder ökonomischer Art, aber für die gesamte Gemeinde und Gemeinschaft materiell im Sinne veränderter Praktiken sowie symbolischer Zuschreibungen und Normierungen (vgl. Lash und Urry 1994). Die natürliche Ästhetik wurde in der Arbeit mit den Konzepten des tourist gaze und eines visual resource management (Urry 1992) beschrieben. Damit geht einher, dass die naturbezogenen Verhaltensweisen in der Gemeinde strenger geregelt werden. Die Ausdifferenzierung lokaler Naturbeziehungen geht also zugleich mit einer strikteren Regelung und Normierung einher, die vor allem eine visuelle Vereinheitlichung darstellt. Dies schließt an die Betrachtungen von Ökotourismus als „world-making force“ (Hollinshead 2009) sowie an die erwähnten Debatten um die Verdrängung lokaler Naturbeziehungen durch globale Naturkonzepte an (Neveling und Wergin 2009). Die vorliegenden Ergebnisse zeigen jedoch auf, dass diesen touristischen Normen andere Bedeutungen zugewiesen werden. Dieser local gaze steht im Mittelpunkt und offenbart, wie globale Symbole lokal verwendet werden. Diese Differenz zeigt sich in der Handlungsperspektive – also darin, wie umweltbezogene Praktiken mit lokalen Bedeutungs- und Praxissystemen verbunden sowie auch für andere Zwecke eingesetzt werden (dass z.B. die Aufforstung im Wald auch der territorialen Markierung dient oder die Mülltrennung zur Kontrolle der StädterInnen herangezogen wird). Ökotourismus fungiert als eine normierende Kraft und wird seitens führender Gemeindemitglieder als Instrument herangezogen, um Regeln und Normen zu etablieren, die zwar im Bezug zum Tourismus stehen, aber weit darüber hinausweisen. Dies führt zu einer Neuverhandlung der sozialen Verhältnisse in der Gemeinde.

7.2 NATUREN ZUR AUSHANDLUNG SOZIALER BEZIEHUNGEN UND VON ZUGEHÖRIGKEIT Der soziale Status innerhalb der Gemeinde wird durch die beschriebenen Prozesse in ein neues Bezugssystem der Naturen gesetzt. Das ermöglicht es den Gemeindemitgliedern, sich je nach ihrer sozialen Position durch umweltbezogene Verhaltensweisen und Diskurse in der Gemeinde zu positionieren und Machtverhältnisse auszuhandeln. Dies deckt sich mit den von David Frye festgestellten Mechanismen, wie sozialer Status in ländlichen Gemeinden verhandelt wird: „Higher and lower social status in a local community are defined relative to one

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another, with constant reference to standards imposed from outside the community and mediated, generally, by the local elite“ (Frye 1996, S. 37). Entscheidend ist, dass die auf die Natur bezogenen Diskurse und Praktiken (die lokalen Naturen) den Gemeindemitgliedern in unterschiedlicher Weise zugänglich sind. Diese berufen sich auf die verschiedenen Naturen, setzen sie durch Praktiken performativ um und inszenieren sie öffentlich, um ihren sozialen Status in der Gemeinde zu behaupten bzw. auszubauen. Dies betrifft marginalisierte Gemeindemitglieder, die ihren Status durch die Subsistenzlandwirtschaft verbessern können, ebenso wie migrierte Gemeindemitglieder, die dies durch umweltpolitisches Engagement versuchen, wie anhand des Beispiels der Müllbeseitigungskampagne Limpiemos nuestro México aufgezeigt wurde. Wer welche Praktiken ausübt, sozial zuweist und in welche Bezugssysteme stellt, steht im Zusammenhang mit den vorherrschenden Machtbeziehungen und unterstreicht die Heterogenität der Gemeindemitglieder. Diese wird durch die touristischen Prozesse, Ausbildungen und Netzwerke mit externen Akteuren wie den Universitäten weiter verstärkt, wie die Beispiele der NaturführerInnen als neue umweltpolitische Elite oder der Verpflichtung der SozialhilfeempfängerInnen für die Müllentsorgung zeigen. Die in der Gemeinde lebenden führenden Gemeindemitglieder behaupten so – über ihre lokale Umweltkompetenz und ihr Wissen über die Naturen (reflexives Natur- und Gemeindeverständnis) – ihren politischen Führungsanspruch gegenüber den Gemeindemitgliedern in der Stadt. Durch ihr lokales Expertentum und ihre reflexive Repräsentation der Gemeindekultur anhand der Naturen gleichen sie die Klassen- und Bildungsunterschiede (soziales und ökonomisches Kapital) zu den profesionistas (jenen in der Stadt sowie den in die Gemeinde remigrierten) aus und positionieren sich als environmental subjects. Mit der Ausdifferenzierung der Naturbeziehungen geht somit eine größere soziale Differenzierung einher, die bereits bestehende Hierarchien stärkt (wie die zwischen der dörflichen Elite und weniger privilegierten DorfbewohnerInnen), andere jedoch abschwächt (wie die zwischen den migrierten profesionistas und führenden Familien in der Gemeinde). Die Verhandlung von Zugehörigkeit, vor allem im Kontext der Migration, ist kein neues Phänomen: Zugehörig zu sein wird jedoch nicht nur als Verpflichtung gegenüber der Gemeinde durch die derechos y obligaciones und die (häufig belastende) Übernahme von cargos wahrgenommen, sondern zunehmend als vorteilhaft angesehen. Dies liegt zum einen an der positiven Aufwertung kultureller Identität als Lachatense sowie an den imaginierten ökonomischen Vorteilen (wenn mehr TouristInnen kämen) und zum anderen (für die führenden Gemeindemitglieder) vor allem an den materiel-

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len bzw. ökonomischen Möglichkeiten, die durch die Netzwerke der Gemeinde zu politischen Institutionen bestehen. Dieser veränderte Bezug zur Gemeinschaft wird in der Literatur zu gemeindebasiertem Ökotourismus behandelt, welche die dadurch ausgelösten Veränderungen der lokalen Gemeinschaft fokussiert. Dabei wurde vielfach herausgestellt, dass das idealisierende Bild des community-based tourism – das Gemeinden als homogene Gemeinschaften sieht, die durch ein harmonisches Zusammenleben gleichberechtigter Mitglieder bestimmt seien – nicht mit der Heterogenität und den internen Machtverhältnissen von Gemeinden bzw. Gemeinschaften übereinstimmt (Baptista 2014; Salazar 2012; Notzke 2006). Vielmehr verweisen Studien zu Ökotourismus in Lateinamerika darauf, dass sich die sozioökonomische Stratifizierung erhöht und damit das interne Konfliktpotential steigt (Hernandez Cruz et al. 2005; Horwich und Lyon 1998). Die vorliegenden Ergebnisse erweitern diese Forschungen, indem speziell der Migrationskontext berücksichtigt wird. In der Literatur ist vielfach beschrieben worden, wie sich eine hohe Migrationsrate auf alle Bereiche des Lebens in den Gemeinden auswirkt und die dortigen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Verhältnisse entscheidend verändert (Cohen 2004; Kearney und Besserer 2004; Velásquez 2004). Dies ist auch bei ökotouristischen Gemeinden der Fall, in welchen die migrierten Gemeindemitglieder eine zentrale Rolle einnehmen, da sie die Gemeindeorganisation und den Ökotourismus in finanzieller, organisatorischer und soziokultureller Weise unterstützen. Der Ökotourismus führt hier nicht – wie die Regierungsprogramme in Aussicht stellen – dazu, dass Abwanderung verhindert wird (da die jungen Leute nach wie vor auf der Suche nach Arbeit und Ausbildung die Gemeinde verlassen), sondern dazu, dass sich die zirkulären Migrationsnetzwerke zwischen Stadt und Land verstärken und emigrierte Gemeindemitglieder aus den Städten vermehrt in Gemeindeangelegenheiten involviert sind. Die Konflikte und Verteilungskämpfe in der Gemeinde nehmen dadurch zu. Um die Dynamiken der Reorganisation der Gemeinde im Land-Stadt-Verhältnis darzustellen, wurde im vorliegenden Buch das Konzept von Zugehörigkeit herangezogen, da es im Gegensatz zu anderen Konzepten wie formaler Mitgliedschaft (citizenship) oder Ethnizität die Möglichkeit bietet, die Zu- und Absprache von Zugehörigkeit aus der Perspektive der AkteurInnen nachzuzeichnen (Albiez et al. 2011). Als ein grundlegendes Forschungsergebnis stellte sich heraus, dass Zugehörigkeit in Lachatao durch den Ökotourismus vermehrt in Bezug auf die Naturen verhandelt wird. Hier zeigt sich, was auch Simone Abram und Elisabeth Lien feststellten: „[N]ature becomes a category through which disputes about human activity – society – are played out“ (Abram und Lien 2011, S. 15).

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Wie die Studienergebnisse darlegen, werden die Auseinandersetzungen über die Umwelt(beziehungen) auch verwendet, um interne Geschlechterrollen und Aufgabenbereiche festzulegen. Um diese Prozesse nachvollziehbar zu machen, wurde der konzeptuelle Ansatz von Naturen mit dem Konzept von Zugehörigkeit in Verbindung gesetzt, das immer als geschlechtsspezifisch zu verstehen ist und es je nach Differenzkategorien Personen ermöglicht, sich als environmental subjects zu positionieren.

7.3 NATUREN UND GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ZUWEISUNGEN In Lachatao lässt sich feststellen, dass die Arbeitsbereiche im Ökotourismus gemäß geschlechtsspezifischer Normen organisiert werden. Somit werden die in anderen Studien dargestellten Ergebnisse bestätigt, die zeigen, dass dies für die Frauen vor allem eine höhere Arbeitsbelastung im Sinne einer doble jornada1 bedeutet (Zapata Galdino 2007). Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit schließen daran an und stellen fest, dass der Ökotourismus zwar zu einer Erweiterung der Handlungsbereiche von Frauen führt (durch ökonomische Einnahmen, beispielsweise im turismo rural, oder die Partizipation an Workshops), aber diese Vorteile nur für wenige Frauen relevant sind. Für die Mehrheit von ihnen lässt sich feststellen, dass der Diskurs um todo natural in der Gemeinde geschlechtsspezifische Handlungsräume re-traditionalisiert (z.B. gesunde Naturmittelherstellung, Gartengestaltung) und durch neue, umweltbezogene Praktiken sogar erweitert. Damit werden ihre Aufgabenfelder auf die Gemeinde ausgeweitet, stärker normiert und kontrolliert. Dies steht, wie dargelegt, im Zusammenhang mit der hohen Emigration. Ähnliche Tendenzen lassen sich für die Männer feststellen: Für den Großteil von ihnen führt der Ökotourismus zu einer neuen Verantwortung für das Territorium, was sich in tequios, der Landrechtsverteidigung und touristischen Veranstaltungen zeigt. Auch hier profitieren nur manche vom Ökotourismus und von den (wenn auch zumeist geringen) ökonomischen Einnahmen sowie vom Zugang zu umweltbezogenem Wissen – und vor allem von den daraus resultierenden politischen Netzwerken zu Universitäten und Regierungsinstitutionen. Männliche Identität und die Aushandlung von Hierarchien und Status werden wieder stärker an das Territorium (el monte) gebunden.

1

Die Diskussion im mexikanischen und lateinamerikanischen Kontext weist Parallelen zur Debatte um die „doppelte Vergesellschaftung von Frauen“ auf (vgl. Hackfort 2015, S. 55; Becker-Schmidt 1987).

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Das vorliegende Buch bietet Einblicke in bislang wenig beachtete Zusammenhänge, etwa wie naturbezogenen Praktiken im Rahmen des Ökotourismus geschlechtsspezifisch zugewiesen werden. Gemeindemitglieder entwickeln neue ästhetische und moralische Vorstellungen, wie mit der Natur umzugehen und wer dafür zuständig sei. Diese Buch erweitert damit eine kritische, gendersensible Umweltforschung, die bislang vor allem in Bezug auf Ressourcenkonflikte (Rocheleau et al. 2006) und gemeindebasierten Naturschutz angewandt wird (Agrawal und Gibson 2001). Dabei wurden in Anlehnung an intersektionale Ansätze auch die Differenzen innerhalb der Gruppe der Frauen und Männer fokussiert. Wie das Beispiel der SozialhilfeempfängerInnen zeigt, nutzen die Gemeinden die schon in vielen staatlichen Programmen vorhandene „Naturalisierung“ von geschlechtsspezifischen Aufgabenbereichen (Molyneux 2015), indem sie diese lokal erweitern und dazu nutzen, traditionelle Rollen zu festigen bzw. zu transformieren. So lässt sich für Männer wie Frauen eine Erweiterung der geschlechtsspezifischen Handlungsräume und Entscheidungsmöglichkeiten feststellen, von deren Vorteilen aber nur die privilegierten Personen profitieren, wodurch die Differenzen innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppe noch verstärkt werden.

7.4 NATUREN TRANSFORMIEREN SOZIALE INSTITUTIONEN Durch die komplexere Organisation der Gemeinde und die zunehmende Heterogenität der involvierten AkteurInnen kommt es zu einer Transformation und Ausdifferenzierung der sozialen Institutionen der Gemeinde (Cargosystem, tequios und fiestas). Dies führt einerseits zu einer verbesserten Organisation und einem stärkeren Zusammenhalt der Gemeinde, wie das der Gemeinde zugeschriebene Charakteristikum „son organizados – son unidos“ zum Ausdruck bringt. Dass Ökotourismus lokale Strukturen und Organisationsformen stärken kann, wird häufig als ein positiver Aspekt vermerkt (Butler und Hinch 2007). Dieser Rückschluss ist jedoch, wie die vorliegenden Ergebnisse zeigen, im Hinblick auf Lachatao vereinfachend, da die sozialen Organisationsformen stärker ausdifferenziert werden und dadurch der Gemeindezusammenhalt zugleich geschwächt wird, die soziale Stratifizierung zunimmt und interne Konflikte verstärkt werden. Dies wurde anhand der sozialen Organisationsweisen und Institutionen – des Ämtersystems, der tequios und der fiestas – aufgezeigt, die sich dadurch nicht nur transformieren, sondern in ihren Bedeutungen und ihrer Struktur multiplizieren.

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Hier zeigt sich die Flexibilität des lokalen Ämtersystems der usos y costumbres (Eisenstadt 2007; Dürr 2005, 1996). Die lokalen Institutionen werden durch die strategische Nutzung der Gemeindemitglieder im komplexen Zusammenspiel zwischen staatlichen Programmen (wie Ökotourismus) und der neuen Bedeutung der Naturen transformiert. Jedoch bieten die staatlichen Programme nicht nur der führenden Gemeindeelite die Möglichkeit, sie für gemeindebasierte Zwecke (el bien común) wie den Ökotourismus oder die Landrechtsverteidigung zu nutzen, sondern auch zum eigenen Vorteil einzusetzen (vgl. die Kampagne Limpiemos nuestro México). Dies deckt sich mit dem von Arun Agrawal beschriebenen Spielraum zwischen staatlichen Regulierungen und der lokalen Umsetzung (Agrawal 2005, S. 162–166). Dieser Spielraum wird in Lachatao in zweierlei Hinsicht genutzt: zum einen von der Gemeinderegierung, die staatliche Regulierungen für ihre Zwecke einsetzt, und zum anderen durch die einzelnen Gemeindemitglieder in Form der Regeln in der Gemeinde. Auch sie sind diesen Prozessen nicht passiv ausgeliefert, sondern greifen auf die sozialen Zuweisungen und Regeln zurück, um sich selbst neu zu positionieren oder Widerstand zu leisten. Dadurch wirken sie auf die Institutionen zurück und verändern diese. Hier zeigt sich der von lokalen Agierenden kreativ geschaffene Verhandlungsspielraum, der dafür genutzt wird, staatliche Strukturen auf der lokalen Ebene zu institutionalisieren, Aufgaben zuzuweisen, soziale Rollen festzulegen, Beziehungen zu ordnen (Beispiel der SozialhilfeempfängerInnen) und lokale Interessen umzusetzen. Die dazu befähigten Gemeindemitglieder repräsentieren die lokalen Naturen und entwickeln in Beziehung zu den genannten Strukturen Subjektpositionen, die als environmental subjects bezeichnet werden können, was ihnen weitere Vorteile ermöglicht. Dies zeigt sich eindrücklich am Ökotourismus, in dessen Rahmen der Umweltschutz (wie die Wiederaufforstung) sowie die tequios und fiestas auch dazu verwendet werden, territoriale Besitzverhältnisse zu markieren. Die Nutzung von Umweltprogrammen, die geschichtliche Inszenierung von Orten und die Veranstaltung von Festen geschehen weniger im Interesse des Naturschutzes oder des Tourismus als vielmehr aufgrund der territorialen Interessen Lachataos. Dies deckt sich mit den Beschreibungen Salvador Aquinos Centeno, der darstellt, wie Gemeinden die nationale Geschichtsschreibung und ihre Beziehungen zu entscheidenden Identifikationsfiguren der Region (wie Benito Juárez) dazu verwenden, sich von anderen Dörfern zu differenzieren und eine strategisch bessere Position zur Ressourcenaushandlung mit dem mexikanischen Staat einzunehmen (Aquino Centeno 2003, S. 76). Wie ökologische Diskurse und der Ökotourismus von indigenen AkteurInnen und Bewegungen zur Inanspruchnahme von territorialen Rechten verwendet werden, wurde in der Literatur weitreichend behandelt

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(vgl. Jackson und Warren 2005). Die Ergebnisse des vorliegenden Buches erweitern die bestehende Literatur durch eine differenzierte Analyse, die zeigt, wie umweltbezogene Praktiken als Symbolpolitik verwendet werden (z.B. fiestas oder Aufforstungsarbeiten), um das Territorium in Besitz zu nehmen. Diego bringt dies auf den Punkt: „Ökotourismus ist auch Territorium“ („ecoturismo es territorio también“). Am Beispiel Lachataos lässt sich aufzeigen, wie komplex die Auswirkungen von staatlichen Programmen (und deren Intentionen) sein können, wenn sie von lokalen AkteurInnen auf intelligente und umsichtige Art und Weise für eigene Zwecke verwendet werden, die seitens der Programme nicht intendiert waren – oder diesen sogar zuwiderlaufen.

7.5 NATUREN ALS NEUPOSITIONIERUNG GEGENÜBER DEM STAAT UND DER MEXIKANISCHEN MEHRHEITSGESELLSCHAFT Das Beispiel Lachatao zeigt des Weiteren, dass der Ökotourismus die Gemeinde in verstärktem Maße mit staatlichen Institutionen und Programmen verbindet und dies den Eliten Zugang zu politischen Netzwerken und ökonomischen Ressourcen ermöglicht. Die verstärkte Verbindung zu staatlichen Strukturen steht im Gegensatz zur Identitätspolitik einer „Rückkehr zur Natur“, die sich am Ideal eines autarken, natürlichen Lebens in der Gemeinde orientiert. Bestandteil dieser Repräsentation ist – wie das obige Zitat von Diego verdeutlicht – ein neues Verhältnis der Gemeinde zu den Städten. Dies bestätigt touristische Ordnungskonzepte, die eine klare Unterscheidung des Landes und der Stadt sowie deren Gleichsetzung mit Natur bzw. Kultur seit den Anfängen des Tourismus reproduzieren (Neveling und Wergin 2009, S. 324). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich durch diese touristische Aufwertung des Ländlichen die Bewertung ökotouristischer Gemeinden in Mexiko grundlegend verändert. Indigene Gemeinden, die früher als rückständig und schmutzig angesehen wurden, werden im Rahmen des Ökotourismus zum Inbegriff einer fortschrittlichen, nachhaltigen natürlichen Lebensweise. Damit werden postkoloniale Machtverhältnisse diskursiv in ihr Gegenteil verkehrt und von lokalen Eliten selbst repräsentiert. Dies stärkt deren Verhandlungsposition gegenüber „externen“ AkteurInnen und befördert zugleich die Kooperation mit ihnen. Durch den Ökotourismus werden indigene Gemeinschaften in positiver Weise durch ihre besondere Naturbeziehung aufgewertet und damit das vorherrschende Bild des problema indio relativiert, das die indigene Bevölkerung primär als BettlerInnen und LandarbeiterInnen be-

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trachtet, die in die Städte drängen.2 Diese neuere Tendenz betrifft jedoch nicht indigene Gemeinden generell, sondern stellt ein Phänomen dar, das sich in der Sierra Juárez aufgrund spezifischer historischer Entwicklungsverläufe besonders ausgeprägt hat. Die Neuverhandlung der lokalen Naturen steht dabei im Zentrum der kollektiven Identität, die (wie aufgezeigt wurde) vielfältige Dynamiken freisetzt. Mit der Veränderung der Naturbeziehungen gehen weitere Ausdifferenzierungen einher, die die soziale Zusammensetzung der Gemeinde (die immer heterogener wird), die sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft (die immer komplexer und hierarchischer werden) sowie die gemeindeinternen Organisationsformen und Institutionen betreffen (die sich multiplizieren sowie personell differenziert werden). Im Zuge dieser Diversifizierung erscheint es umso nachvollziehbarer, dass führende Gemeindepersönlichkeiten das Bild einer homogenen, vereinten Gemeinschaft im Sinne der comunalidad stärken, um damit der wachsenden Heterogenität und sozialen Fragmentierung der Gemeinde entgegenzutreten. Abschließend zeigen die Worte Ángels, dass Ökotourismus zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit der „eigenen Essenz“ führt und dies in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Territorium steht: „Ich glaube, ein zentraler Aspekt an dieser ganzen Sache ist, dass wir das wirklich wertschätzen, dass wir das wirklich annehmen. Und dass es nicht etwas ist, das wir tun müssen, nur weil der Tourismus hier ankommt. Wenn wir nicht sagen: ‚Das ist [schon immer] unser eigenes Wesen gewesen, es ist [schon immer] unseres [gewesen] [...] und wir müssen damit weitermachen, ob der Tourismus kommt oder nicht, [...] weil das unsere Identität ist. Es ist ein Teil von uns.‘ Also diese Sache des Dorfes hier ist ein Teil von uns. Die Straßen sind ein Teil von uns. Der Cerro del Jaguar ist ein Teil von uns. 5 Señores ist ein Teil von uns. Wenn wir plötzlich damit aufhören, wenn wir uns nicht darum kümmern, dann geht es verloren, wird zerstört, zerfällt. Wir müssen das tun, weil es ein Teil von uns ist, nicht wahr? Klar, der Tourismus gibt zu all dem etwas dazu, nicht?“ (Interview_Ángel_10.4.2014)

Daran zeigt sich – wie in der Einleitung angekündigt –, dass Ökotourismus in Lachatao weit weniger mit Ökologie und TouristInnen zu tun hat als der Begriff und die Repräsentation des Dorfes vermuten lassen. Über die territoriale Kontrolle hinaus bewirkt Ökotourismus hier vielfältige soziokulturelle Prozesse, die den Kern translokaler (indigener) Gemeinschaften treffen und diese transformieren. Natur im Sinne von performativ hergestellten Naturen bildet dabei die Arena für Neuverhandlungen.

2

Zum strukturellen Rassismus in Mexiko vgl. Castellanos Guerrero et al. (2007).

Literaturverzeichnis

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