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German Pages 378 Year 2014
Bettina Munimus Alternde Volksparteien
Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen Herausgegeben von Franz Walter | Band 5
Bettina Munimus (Dr. rer. pol.) hat in Kassel und Göttingen promoviert. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Parteien- und Verbändeforschung in der alternden Gesellschaft.
Bettina Munimus
Alternde Volksparteien Neue Macht der Älteren in CDU und SPD?
Angenommen als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.) unter dem ursprünglichen Titel »Volksparteien im Ruhestand? Die große Zahl der Älteren in CDU und SPD« im Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel Tag der Disputation: 3. Februar 2012
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Innenansichten der ergrauten Volksparteien Zur Kasseler Dissertation von Bettina Munimus
Wolfgang Schroeder | 9
Wärmestube statt Machtfundament Zur ertragreichen Studie von Bettina Munimus
Franz Walter | 11
Dank | 15
A E INLEITUNG 1.
Übersicht und Leitgedanken | 19
1.1 Forschungsinteresse | 19 1.2 Vorüberlegungen | 23 1.2.1 Das Mitglied als bestimmendes volksparteiliches Charakteristikum|25 1.2.2 Mitglieder als „strategische Organisationsressource“|29 1.3 Stand der Forschung | 31 1.4 Erkenntnisleitende Fragen | 34 1.5 Aufbau der Studie | 38
B MITGLIEDERPARTEIEN IN EINER ALTERNDEN GESELLSCHAFT
Konzeptionelle Grundlagen | 41 2.1 Alter und Partizipation | 42 2.1.1 Gesellschaftliche Alterungsprozesse|43 2.1.2 Was ist das Alter? Bilder vom Alter, Alterskohorten und Generationen – grundsätzliche Begriffsklärung|46 2.1.3 Die „jungen Alten“ als „neue“ alte Träger der Zivilgesellschaft|53 2.1.4 Die machtvollen Wähler – Das Wahlverhalten der über 60-Jährigen|60 2.
2.1.5 „Von einer Generation an sich zu einer Generation für sich?“ – Zur Organisationsfähigkeit von Interessen der Älteren|70 2.2 Das Schrumpfen und Altern der Volksparteien | 75 2.2.1 Das Altern der Mitgliederparteien in Zahlen|77 2.2.2 Parteienorganisationsforschung: Ende oder Zukunft der Mitgliederparteien?|83 2.2.3 Die älteren Parteimitglieder im Spiegel der Parteimitgliederstudien|89 3.
Vorgehen und Methodik | 93
3.1 Begründung der vergleichenden Analyse und Auswahl der Untersuchungseinheiten | 94 3.2 Methodik | 98 3.2.1 Dokumentenanalyse|99 3.2.2 Qualitative Interviews|99 3.2.3 Teilnehmende Beobachtung|102 3.2.4 Schriftliche Befragung|103
C HAUPTTEIL
Politisches Engagement im Alter Vertraute Konstanz oder ein neues Projekt für den Ruhestand?
Politische Karrieren im Alter | 113 4.1 Ältere als Mandatsträger in Parlamenten | 114 4.2 Ältere als Teil des Parteiestablishments | 127 4.3 Zwischenergebnis | 134 4.
5.
Zur Selbstorganisation von Senioreninteressen Senioren-Union der CDU und Arbeitsgemeinschaft 60plus der SPD | 137
5.1 Die Linkage-Funktion der Seniorenorganisationen | 139 5.2 Die Senioren-Union der CDU | 145 5.2.1 Gründungsgeschichte|145 5.2.2 Organisatorischer Aufbau der Senioren-Union|158 5.2.3 Das „Nachwuchsproblem“ der Senioren-Union – Die Mitgliederentwicklung der Vereinigung|160 5.2.4 Die Führungsspitze|164 5.2.5 Programmatisches Profil|170 5.2.6 Das erwachte Selbstbewusstsein|175
5.2.7 Die antizipierte Mobilisierungsmacht|180 5.2.8 Zwischenergebnis|184 5.3 Die Arbeitsgemeinschaft 60plus in der SPD | 186 5.3.1 Gründungsgeschichte|186 Exkurs: „Der Kreis der Elder Statesmen“ – Der Seniorenrat der SPD|201 5.3.2 Aufbau und Organisation der Arbeitsgemeinschaft|205 5.3.3 Die Führungsspitze|211 5.3.4 Programmatisches Profil|216 5.3.5 Die „Spielwiese der Älteren“? Die Arbeitsgemeinschaft aus Sicht der Parteiführung|219 5.3.6 Zwischenergebnis|223 5.4 Zwischenfazit: Die Seniorenorganisationen in CDU und SPD | 224 Die alternde Parteibasis | 233 6.1 Empirische Grundlagen | 234 6.1.1 Die Parteibasis als Untersuchungsort: Die ausgewählten Fälle Stuttgart, Hannover, Freudenstadt und Northeim|235 6.1.2 Soziodemografisches Profil des befragten Personenkreises: Ergebnisse der schriftlichen Befragung|245 6.2 Parteiengagement im Alter | 248 6.2.1 Versuch einer Typologisierung|251 6.2.2 Die „bekennenden Senioren“|254 6.2.3 Der soziokulturelle Wandel des Alters und die Folgen für die Seniorenorganisationen|261 6.3 Ältere im Dienste der Parteien | 264 6.3.1 Ältere als Beitragszahler|264 6.3.2 Die Bodentruppen im Wahlkampf|268 6.3.3 Ältere als Multiplikatoren|276 6.4 Gratifikationen für Ältere | 280 6.4.1 Platzhirsche, Ehrenvorsitzende und Wasserträger: Die Parteibasis zwischen Verjüngungsdruck und Wahrung biografischer Kontinuität|280 6.4.2 Kursbestimmung durch die große Zahl?|288 6.4.3 Die Jubilarehrung zur Pflege des „Wir-Gefühls“|295 6.4.4 Parteien als Anbieter von Freizeitaktivitäten|297 6.5 Zwischenergebnis | 302 6.
7.
Konklusion und Ausblick | 307
7.1 Konklusion: Zur Kondition alternder Volksparteien | 308 7.2 Ausblick: Alternde Parteien und die Macht der Älteren | 321
D ANHANG I.
Abkürzungsverzeichnis | 329
II.
Abbildungen- und Tabellenverzeichnis | 331 Quellen- und Literaturverzeichnis | 335
III.
Innenansichten der ergrauten Volksparteien Zur Kasseler Dissertation von Bettina Munimus W OLFGANG S CHROEDER
Der demografische Wandel scheint das große Thema der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu sein. In diesem Buch werden die schon seit längerem konkret fassbaren Auswirkungen der gesellschaftlichen Alterung auf das deutsche Parteiensystem analysiert. Zurückgehende Wahlbeteiligung, Mitgliederrückgänge und nicht zuletzt die seit zwei Jahrzehnten geführte Debatte über die Ursachen und Folgen einer nachlassenden Unterstützung für die Mitgliederparteien sind die sichtbarsten und zugleich verunsichernden Phänomene, die Anlass zur Sorge geben, wie es mit dem deutschen Parteiensystem weitergeht. Manche sprechen schon seit längerem vom Ende der Volksparteien, ja sogar vom Ende der Mitgliederparteien. Hinzu kommt die Angst, dass die zunehmende Alterung der Mitgliedschaft die beharrenden und rückwärtsgewandten Perspektiven in den Parteien und mithin auch in der Gesellschaft bestärkt. Da das Parteiensystem, insbesondere die massenintegrativen Volksparteien, bislang maßgeblich zur politischen Stabilität und Reformfähigkeit in Deutschland beitrugen, haben Veränderungen in diesem Feld auch einen erheblichen Einfluss darauf, wie der Modus der politischen Legitimationsbeschaffung und der Integrations- und Innovationsfähigkeit sich zukünftig entwickeln wird. Im Zentrum des vorliegenden Buches steht die Frage: „Wie wandeln sich CDU und SPD in personeller, institutioneller und organisationaler Hinsicht, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder 60 Jahre und älter ist und sich nun mehrheitlich im Ruhestand befindet?“. Ausgehend von dieser Grundfrage konzentriert sich Frau Munimus auf drei voneinander abgrenzbare Perspektiven: Erstens geht es ihr um die personelle Repräsentation der Älteren in den Parlamenten und auf der Ebene der formellen Entscheidungsgremien. Zweitens befasst sie sich mit den Aktivitäten der Älteren in den parteieigenen Seniorenorganisationen, in der
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Senioren-Union und in der Arbeitsgemeinschaft 60 plus. Und drittens geht es ihr um die Auswirkungen einer verschobenen Altersstruktur im lokalen Raum: „Wie gehen die kleinsten Organisationseinheiten partizipatorischer Teilhabe („party on the ground“), die lokal verankerten Ortsverbände und Ortsvereine, mit dem Altersungleichgewicht der Mitgliederstruktur um?“ Entgegen der verbreiteten Befürchtung, dass die quantitativ dominanten Älteren, vor allem die zeitreichen „jungen Alten“, den Griff nach der Macht in den Parteien anstreben oder als „Apo im Alter“ agieren, lassen sich derartige Verhaltensweisen als politisches Phänomen in den beiden untersuchten Parteien gegenwärtig nicht identifizieren. Vielmehr gibt es sowohl in der Regierung, den Parlamenten wie auch in den Führungsgremien der Parteien eine Vertretungslücke. Deutschland hat gegenwärtig die jüngste Bundesregierung aller Zeiten, und auch im Deutschen Bundestag sind nur 16 Prozent aller Parlamentarier älter als 60 Jahre. Bettina Munimus erklärt diese Vertretungslücke in den vorderen Reihen mit der sogenannten „Repräsentationsthese“: „Ältere fühlen sich bislang adäquat in ihren politischen Interessen von den Jüngeren in den Parlamenten vertreten. Stattdessen möchte die Mehrzahl ihr Engagement auf lokaler Ebene in gewohnter Weise aufrechterhalten, ohne dass daraus neue Macht- und Handlungsambitionen erwachsen.“ Eine wichtige These der vorliegenden Studie lautet, dass die latente Macht der Älteren bislang nicht in eine manifeste transformiert wird. Vielmehr antizipiert das politische System, zuvorderst in den größeren Parteien, die latente Macht der Älteren. So sind es insgesamt weniger negative, denn positive Wirkungen, die sich mit dem Tun der Älteren in den Mitgliederparteien verbinden lassen. Gleichwohl prognostiziert die Autorin, dass die eigentliche Zäsur den Mitgliederparteien erst noch bevorstehe. Bettina Munimus legt mit ihrer Kasseler Dissertation eine materialreiche, intelligente und außerordentlich systematische Studie zu den Folgen des demografischen Wandels in der SPD und CDU vor. Mit ihrer Studie übertrifft sie den bisherigen Stand der Forschung zum Thema und räumt zugleich mit einigen Vergröberungen auf, die sich in der Debatte über die Rolle der Älteren für die deutschen Parteien eingeschlichen haben. Im Gegensatz zu den vielfältigen, insbesondere publizistischen Drohszenarien, die unterstellen, dass eine quantitative Übermacht der Älteren die Parteien erstarren lasse, ist ihr aufgeklärter Blick auf das innerparteiliche Beziehungsgeflecht zwischen den Generationen erhellend und innovativ.
Wärmestube statt Machtfundament Zur ertragreichen Studie von Bettina Munimus F RANZ W ALTER
2011 war viel von den „Wutbürgern“ die Rede, als ein neues Phänomen des Protests in Deutschland. Denn die „Wutbürger“ waren/sind eben nicht nur bürgerlich, gebildet, materiell saturiert. Sie sind zudem überwiegend in einem fortgeschrittenen Alter. Viele derjenigen, die in den letzten Jahren demonstrierten und aufbegehrten, sind über 45 Jahre alt. Pensionäre/Rentner sind keine Rarität. Insofern wurde bei vielen Kommentatoren schon besorgt die Frage aufgeworfen, ob in einer alternden Gesellschaft mehr und mehr die Macht, eben auch die außerparlamentarische, bei den „Alten“ und „Fortschrittsfeinden“ angesiedelt sei. In der Zivilgesellschaftsdiskussion geht man ebenfalls von einer wachsenden Bedeutung der „Jungen Alten“ aus, indes stärker positiv gewendet, da man diese Gruppe als einen höchst aktiven Kern des bürgergesellschaftlichen Engagements betrachtet. Nimmt man dies alles zusammen, dann könnten die Parteien im Grunde ganz zufrieden sein, da sie den Grundtrend der Demografie trefflich spiegeln, da in ihren Reihen die „mächtigen Alten“ der Gesellschaft höchst eindrucksvoll vertreten sind. Aber sobald der Befund auf die Mitgliederstruktur der Parteien kommt, wird das Urteil der Forscher rundum in düstere Farben getaucht: vergreist, überaltert, unrepräsentativ, vitallos, Derivate einer politisch-kulturell anachronistisch gewordenen Generation. So in etwa kann man das weithin in Analysen und Interpretationen der Parteienforschung lesen. Das eben bildete den Ausgangspunkt für die Forschungen von Frau Munimus. Die dezidierten Deutungen, die zum Gegenstand fröhlich zirkulierten, waren wohlfeil. Bettina Munimus stieß auf ein demgegenüber fast verblüffendes Defizit an empirischen Studien. Viel Literatur zu diesem Problembereich, bezogen auf die Parteien, gab es bislang jedenfalls nicht. Die Verfasserin des hier
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vorliegenden Buchs wollte daher, erstens, wissen und empirisch herausarbeiten, wie stark die über 60-jährigen in CDU/SPD in der Parteielite und in den Parlamenten vertreten sind, ob, zweitens, latente Altenmacht (durch quantitativen Umfang) in Aktionsfähigkeit transferiert wird und auf welche Weise, drittens, die Basiseinheiten der Parteien die evidenten Disparitäten in der Alterszusammensetzung ihrer Mitglieder „managen“. Sie schaute zur Beantwortung dieser Fragen auf regional unterschiedliche Parteigliederungen (in Stuttgart, Hannover, Freudenstadt, Northeim), hat dort Mitglieder und Funktionäre der hier ins Visier genommenen Altersjahrgänge in beachtlich hoher Zahl mündlich befragt, hat an Veranstaltungen beobachtend teilgenommen, hat schriftliche Erkundungen eingezogen. Der Ertrag, der so zusammenkommt, ist unzweifelhaft beachtlich. Zentral ist der Befund, dass in beiden Fällen – bei der CDU wie bei der SPD – die in den 1980er Jahren wesentlich initiierten älteren Organisationen nicht zum Vehikel besonderer innerparteilicher Machtbildung geworden sind, nicht als Katapulte oder „Kampfgemeinschaften“ für Kandidaturen und parlamentarische Einflussnahme fungieren. Im Gegenteil, so die drastische Bilanz von Frau Munimus, „besiegelt die Nähe zu den Seniorenorganisationen den Abstieg des politischen Karriereverlaufs“. „Alter“ ist somit bei denen, die in den beiden (früheren) Volksparteien über 60 Jahre alt sind, kein Cleavage, aus dem heraus sich eine spezifische, sozial und politisch homogenisierende Gefechtslage innerhalb des Parteienspektrums zu formieren hätte. Nicht die Gemeinsamkeit des Alters ist den über 60-jährigen in CDU und SPD wichtig, sondern ganz klassisch, ganz traditionell die Differenz nach Herkunftsmilieu und Weltanschauung/Ideologie. Hier haben sich in der Tat die Welt- und Abgrenzungsbilder der 1970er Jahre konserviert, die alten Antagonismen also zwischen „schwarz“ und „rot“, „rechts“ und „links“, zwischen „bürgerlich“ und „proletarisch/arbeitnehmerisch/gewerkschaftlich“. Was hingegen aktuell genuin „altenpolitisch“ gefordert wird, weist viele Schnittstellen auf, da Senioren-Union und AG SPD 60plus gleichermaßen die Gefahr von Altersarmut, ungesicherter Rente wie Pflege etc. aufnehmen und thematisieren. Eine weit größere Professionalität legt dabei die früher organisatorisch weit laxere Honoratiorenpartei CDU an den Tag. Die Senioren-Union ist operativ gut ausgestattet und strategisch ausgelegt, während bei der AG SPD 60plus die hauptamtlichen Strukturen und die politische Aktionsplanung eher unterentwickelt erscheinen. Die sozialdemokratische Älterenorganisation verfügt weder über ein volles Stimmrecht noch über stützende Anerkennung der Führungsfiguren im Willy-Brandt-Haus.
F RANZ W ALTER: W ÄRMESTUBE STATT M ACHTFUNDAMENT
| 13
Zu den auch für die die Parteienforschung generell interessanten Ergebnissen der Arbeit gehört die Erkenntnis, dass die organisierten älteren Mitglieder im Kern kein Interesse daran haben, ihr numerisches Übergewicht in politische und organisatorische Macht zu übersetzen. Sie mögen zu den „Zeitreichen“ zählen, auch über viele Fertigkeiten und Erfahrungen innerparteilicher Majorisierungstechniken verfügen, aber sie wollen auf diesem Terrain gar nicht mehr mitspielen; sie haben das hinter sich. Erhellend und sicher nicht selbstverständlich ist zudem der Befund von Frau Munimus, dass gerade die seit Jahren besonders beachteten „jungen Alten“, gleichsam die 68er der bundesdeutschen Geschichte, sich dagegen sträuben, in einer exklusiven innerparteilichen Älterenorganisation mitzuwirken. Sie empfinden dies als Abstellgleis, fühlen sich offenkundig dadurch abgewertet, ja stigmatisiert. Das gilt insbesondere für die sozialdemokratische Kohorte, die einst als „Enkel“-Generation etikettiert wurde. Sie ist in der AG SPD 60plus kaum vertreten. Stark sind dort hingegen die ansonsten in der SPD nahezu randständig gewordenen Facharbeiter aus der Zeit der Arbeiter-/ Arbeitnehmerpartei. Für sie, die meist bereits über siebzig Jahre alt sind, ist die AG ein willkommenes Refugium, eine Wärmestube der Tradition, in der sie sich geborgen fühlen durften, als die eigene Partei eine ihnen ganz unverständliche Agenda 2010-Politik betrieb. Zusammen: Wir wissen durch die Untersuchung von Frau Munimus erheblich mehr über die Konsequenzen aus den großen demografischen Veränderungen, welche sich in den Willensbildungsassoziationen der Politik während der letzten Jahre vollzogen haben, weiter vollziehen dürften. Die Studie ist Seite für Seite sorgfältig verfasst, sehr gut lesbar, ohne Manierismen oder szientistische Renommiererei. Der Stil ist nüchtern, ruhig und präzise, dabei keineswegs trocken oder gar uninspirierend. Die Verfasserin gibt dem Text Farbe und Bilder, übertreibt es aber nicht damit. Frau Munimus hat einen bedeutsamen empirischen und analytischen Beitrag zur Parteienforschung geliefert. Der Leser möge sich hiervon überzeugen.
Dank
Mein Dank gilt zuvorderst meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern. Eindrückliche Lebensgeschichten, illustrative Schilderungen, ehrliche Schlussfolgerungen – viele hilfreiche Mosaiksteine dienten als umfangreiches Material, um das Altern in Organisationen verstehen zu können. Ich erhielt Zugang zu Quellen und Dokumenten im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin und im Politischen Archiv am WillyBrandt-Haus in Berlin. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt mein herzlicher Dank. Für die Leihgabe wichtiger Unterlagen danke ich Dr. Guido Heuel. Ohne die Förderung der Friedrich-Ebert-Stiftung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Für das entgegengebrachte Vertrauen und die allseits positive Unterstützung bedanke ich mich herzlich. Für die wissenschaftliche Betreuung danke ich Prof. Dr. Wolfgang Schroeder und Prof. Dr. Franz Walter. Prof. Dr. Peter Lösche gab mir den entscheidenden Ratschlag, all das niederzuschreiben, was ich selbst als bemerkenswert und essenziell erachte. In den Kolloquien in Kassel und Göttingen durfte ich dankenswerterweise mein Projekt vorstellen. Mein Dank gilt dem Göttinger Institut für Demokratieforschung, das mir die Möglichkeit gab, in deren Studienreihe zu veröffentlichen. Eine Doktorarbeit schreibt man zwar letztlich alleine, die zahlreichen Ratschläge, Korrekturen und Nachbesserungen sowie die persönlichen Ermunterungen sind über die lange Phase jedoch unerlässlich. Mein herzlicher Dank gilt Dr. Arijana Neumann, Oliver D’Antonio, Kai Doering, Dr. Stephan Klecha, Boris Haselbach, Dr. Jana Heinze, Dr. Samuel Greef, Dr. Robert Lorenz, Tanja Schöttner, PD Dr. Rudolf Speth, Dr. Tim Spier, Dr. Astrid Stroh, Anne-Kathrin Oeltzen, Diana Rüdt, meiner Schwester Annemarie Munimus und Julius Kitzlinger. Ich bedanke mich ganz besonders bei Peter Munkelt, durch dessen gründliches Lektorat die Arbeit den letzten Schliff erhielt. Meinen Eltern, Natalie und Harry, die mich stets unterstützt und gefördert haben, danke ich von Herzen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
A Einleitung
1. Übersicht und Leitgedanken
1.1 F ORSCHUNGSINTERESSE Die Volksparteien in Deutschland altern stärker und schneller als die Gesellschaft insgesamt.1 Während rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung im Jahr 2010 60 Jahre und älter war,2 ist der Anteil der Parteimitglieder in dieser Altersgruppe bei CDU und SPD deutlich höher: 1990 stellte diese Gruppe in der CDU knapp ein Drittel, in der SPD etwa ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft, 20 Jahre später ist nahezu die Hälfte aller Parteimitglieder in beiden Parteien 60 Jahre und älter. Dagegen nimmt die Zahl der Parteiangehörigen bis 29 Jahre im gleichen Zeitraum in beiden Parteien kontinuierlich ab und liegt seither bei fünf bis sieben Prozent.3
1
Diese Arbeit verwendet ausschließlich die männliche Sprachform. Bei allen Personenund Funktionsbezeichnungen sind stets auch weibliche gemeint. Die Verwendung nur einer Geschlechtsform wurde für eine bessere Lesbarkeit gewählt und ist nicht benachteiligend gemeint.
2
Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen bis 20 Jahre umfasste 18,8 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die 20- bis 40-Jährigen stellten rund ein Viertel und die Gruppe der 40- bis 60-Jährigen 31 Prozent. Vgl. Gerostat, Zentrum für Altersfragen, Abfrage unter www.gerostat.de (12.08.2011).
3
Im Jahr 2010 verzeichnete die FDP 32,7 Prozent Mitglieder über 61 Jahre, Bündnis 90/Die Grünen sind mit 12,8 Prozent die „jüngste“ Partei. Der Altersaufbau der Linkspartei ähnelt dem der beiden Großparteien, 47,9 Prozent ihrer Parteimitglieder waren 60 Jahre oder älter. Durch die Vereinigung von PDS und WASG konnte der Altersdurchschnitt verringert werden: Vor der Fusion im Jahr 2005 hatte die PDS in Ostdeutschland einen Anteil der über 60-Jährigen von 70,4 Prozent. Siehe Niedermayer, Oskar: Parteimitgliedschaften im Jahre 2010, in: ZParl, 2011, Jg. 42, 2, S. 377.
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Die nüchternen Zahlen der Mitgliederstatistiken korrespondieren mit Eindrücken von der Parteibasis. In seinem Buch „Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte“ schildert der Journalist Nicol Ljubic (Jahrgang 1971) seine Erfahrung als junges Neumitglied bei seiner ersten Begegnung in einem SPD-Ortsverein: „Hier in dieser Begegnungsstätte, als einer von zehn Anwesenden, fühle ich mich als Vertreter einer aussterbenden Spezies. Zu den letzten Mohikanern der parteipolitisch Engagierten gehören am heutigen Abend: ein junges Mädchen, vielleicht 15, drei etwa 70Jährige, der Abteilungsleiter, in meinem Alter, der mich freundlich grüßt, und Manuela, eine Genossin [...]. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals in einer Gruppe von Menschen saß, die vom Alter her so gemischt war. Es ist schön, auch mal mit alten Menschen an einem Tisch zu sitzen – seit meine Großeltern gestorben sind, begegnen mir alte Menschen ausschließlich in Läden oder im Bus [...]“4.
Dieses etwas despektierlich skizzierte Bild der vielen Älteren und wenigen Jungen findet sich ähnlich auch in der CDU. Beide Großparteien unterliegen einem Schrumpfungs- und parallelen Alterungsprozess in besonderem Maße. Dessen Ursachen sind mehrdimensional und reichen Jahrzehnte zurück: Neben allgemeinen Individualisierungstendenzen und gesellschaftlichem Wertewandel erodieren die soziokulturellen Milieus der ehemals mitgliederstarken Volksparteien. Vorfeldorganisationen, wie beispielsweise die Gewerkschaften für die SPD und die Kirchen für die CDU, brechen als Rekrutierungsfelder sukzessive weg. Zudem greifen die Bürger nicht mehr auf die Angebote der Parteien als „Informationsvermittler und Weltdeuter“ zurück.5 In den Debatten um das Fortbestehen von Mitgliederparteien wird vielfach ein alarmierendes Bild gezeichnet: Die Parteien ähnelten immer mehr „Seniorenstammtischen“6 und ihre „Sklerotisierung“7 führe zu einer ernsthaften Regenerationskrise. Weil den Parteien junge Aktivisten fehlen, so Elmar Wiesendahl,
4
Ljubic, Nicol: Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte, München 2004.
5
Niedermayer, Oskar: Perspektiven für die Mitgliederpartei, in: Friedrich-Ebert-
6
Feldenkirchen, Markus: Parteien werden an Seniorenstammtische erinnern, in: Das
Stiftung (Hrsg.): Policy − Politische Akademie, Nr. 18, September 2007, S. 6. Parlament, Nr. 48, 22.11.2004. 7
Wiesendahl, Elmar: Zwischen Wende und Ende − zur Zukunft der Mitgliederparteien, in: Schalt, Fabian; u.a. (Hrsg.): Neuanfang statt Niedergang − Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin 2009, S. 247.
1. Ü BERSICHT
UND
L EITGEDANKEN
| 21
würden sie sich infolgedessen immer mehr zur „Partizipationsplattform für Vorruheständler, aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedener und betagter Menschen“8 entwickeln. Das Binnenleben der Parteien werde von „homogenen Seniorenzirkeln und »Altentreffs«“9 dominiert. Peter Lösche spitzt den Zustand der Mitgliederparteien pointiert zu: „Es herrscht die Ruhe des Friedhofs“10. Wiesendahl, der in seinen Arbeiten die Überalterung wiederholt als ein Symptom der Misere diagnostiziert, dabei jedoch den empirischen Beleg schuldig bleibt, verweist auf die Gefahr der „inneren Verödung“ durch „intellektuelle Ermüdungsund Vitalitätsverluste“11. Die strukturelle Alterung könnte dazu führen, dass sich grundlegende politische Positionen am Bekannten und Bewährten des Bestehenden orientieren. Die Folge seien „organisatorische Einkapselungstendenzen“, die die Adaption an eine veränderte gesellschaftliche Umwelt erschweren.12 Diese Einschätzung geht von erstarrten Parteien aus, in denen sich eine konservierende, gar anachronistische Denkweise verfestigt. Frische, jugendliche Impulse könnten nicht mehr aufgegriffen werden.13 Streeck sieht mit der Alterung des Mitgliederstammes gar das Ende der organisatorischen Partizipation:
8
Wiesendahl, Elmar: Partizipation in Parteien: Ein Auslaufmodell?, in: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung, Opladen 2006, S. 74-99, hier S. 93.
9
Wiesendahl, Elmar: Parteiendemokratie in der Krise: Das Ende der Mitgliederparteien?, in: Glaab, Manuela (Hrsg.): Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform, München 2003, S. 33.
10 Lösche, Peter: Zustand und Perspektiven der SPD, in: Zehetmair, Hans (Hrsg.): Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 109. 11 Wiesendahl, Elmar: Noch Zukunft für die Mitgliederparteien?, in: Klein, Ansgar; Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Bonn 1997, S. 349-381, hier S. 359. Siehe auch: Ders: Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006; Ders.: Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland? In: APuZ, 1998, B 1-2, S. 13-28. 12 Wiesendahl, Elmar; Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Zukunft der Mitgliederparteien auf dem Prüfstand, S. 22. 13 Vgl. Alemann, Ulrich von; Godewerth, Thelse: Die Parteiorganisation der SPD. Erfolgreiches Scheitern?, in: Schmid, Josef; Zolleis, Udo (Hrsg.): Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, Wiesbaden 2007, S. 158-171; auch: Dürr, Tobias: Yes, they could!, in: Böll Thema: Magazin der Heinrich-BöllStiftung, Ausgabe 2, 2008, S. 26-27.
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„Die gealterten Mitglieder der »civic generation« dürften bis zum Ende ihres Lebens den Organisationen treu bleiben, über die sie einst, als sie jung waren, ihre politische Identität definiert haben, und da niemand mehr nachfolgt, bleiben sie unter sich. Macht gibt ihnen dies aber nicht; im Gegenteil dürfte die Überalterung der Mitgliedschaft ihre politische Irrelevanz endgültig besiegeln. Mit dem Aussterben eines gealterten und nicht mehr erneuerten Mitgliederbestandes endet damit eine Epoche, in der soziale Integration noch durch politische Organisierung stattfand und möglich war. Mit ihr würde eine Parteiendemokratie zu Ende gehen, die nicht nur auf Wahlen gegründet war, sondern auch auf organisatorische Partizipation“14.
Grundsätzlich ist zu hinterfragen, ob der Prozess des kollektiven Alterns mit dem Verlust an Vitalität, Dynamik und politischer Lebendigkeit gleichgesetzt werden kann. Befinden sich CDU und SPD in einer „psychodemografischen Falle“15, wie es Tobias Dürr für die Sozialdemokratie konstatiert? Gibt es einen ursächlichen Zusammenhang von Durchschnittsalter und Leistungsfähigkeit einer Partei? Eine andere denkbare Folge der numerischen Überlegenheit der Parteimitglieder über 60 Jahre könnte die Entwicklung von einer „latenten“ zu einer „manifesten“ Macht dieser Altersgruppe sein. Zweifelsohne tangiert der beschriebene Prozess in fundamentaler Weise die äußere Attraktivität und den inneren Zusammenhalt der Parteien sowohl in der Gunst der Wähler als auch als traditioneller Anbieter der politischen Partizipationsarena. Nun könnte man dieser fatalistischen Betrachtungsweise vorhalten, in einer alternden Gesellschaft16 spiegelten auch politische Parteien den demografischen Entwicklungstrend wider. Die Alterung der Mitgliederstruktur, die CDU und SPD seit den 1990er Jahren anhaltend erfahren, geht allerdings nicht aus dem demografischen Wandel hervor, sondern ist vielmehr auf zwei Phänomene zurückzuführen, die miteinander korrelieren. Zum einen bleibt die jüngere Generation den Parteien mehrheitlich fern, somit fehlt die kontinuierliche Auffrischung an Neumitgliedern in ausreichender Anzahl. Zum anderen altert der geschrumpfte Mitgliederstamm. Gerade weil eine Beitrittswelle junger Menschen in naher Zukunft nicht zu erwarten ist, sind die Mitgliederparteien CDU und
14 Streeck, Wolfgang: Politik in einer alternden Gesellschaft: Vom Generationenvertrag zum Generationenkonflikt?, in: Gruss, Peter (Hrsg.): Die Zukunft des Alterns. Die Antwort der Wissenschaft, München 2006, S. 299f. 15 Dürr, Tobias: Yes, they could!, S. 26-27. 16 Unter dem Begriff „alternde Gesellschaft“ wird eine Gesellschaft mit steigendem Anteil älterer Bevölkerungsgruppen und zurückgehendem Anteil an Kindern und Jugendlichen verstanden.
1. Ü BERSICHT
UND
L EITGEDANKEN
| 23
SPD auf ihren verbliebenen Mitgliederbestand angewiesen. Und dieser besteht nun einmal mehrheitlich aus über 60-Jährigen. Die heute 60- bis 70-Jährigen – die sogenannten „jungen Alten“ – zählen zur Protest-Generation um 1968 und werden in den Debatten um ein verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement als ressourcenstarke Kompetenz- und Erfahrungsträger ausgemacht.17 Umso erstaunlicher ist, dass über die Interessen und das Partizipationsverhalten der größten Mitgliedergruppe in CDU und SPD bislang nicht viel bekannt ist. Diese Untersuchung will eine Forschungslücke schließen und Erklärungsansätze liefern.
1.2 V ORÜBERLEGUNGEN Politische Parteien haben durch den Gesetzgeber eine Reihe unverzichtbarer Funktionen zugeschrieben bekommen: „Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen“18.
Eine lebendige Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat können Parteien nur dann adäquat erfüllen, wenn sie über eine hinreichende Anzahl aktiver Mitglieder als Bindeglieder zwischen Volk und Partei verfügen, mit entsprechender Repräsentativität einzelner Bevölkerungsgruppen in der Mitgliederstruktur der Parteien. Genau das erfüllen beide Volksparteien heute nur unzureichend.19
17 Vgl. Kocka, Jürgen; Staudinger, Ursula M. (Hrsg.): Altern in Deutschland. Gewonnene Jahre – Empfehlungen der Akademiengruppe Altern in Deutschland, Band 9, Stuttgart 2009. 18 § 2 Abs. 1 PartG. 19 Vgl. Klein, Markus: Partizipation in politischen Parteien. Eine empirische Analyse des
Mobilisierungspotenzials politischer Parteien sowie der Struktur innerparteilicher Par-
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In der Fortbestandsdebatte wird kontrovers diskutiert, welche Auswirkungen der Mitgliederschwund auf die Funktionsbereiche des Parteiführungsstabs („party in central office“), auf die Partei in öffentlichen Ämtern („party in public office“) und letztlich auf die Mitgliederorganisation („party on the ground“) haben. Insbesondere die Mitgliederbasisorganisation ist als maßgeblicher Träger der oben beschriebenen Funktionen betroffen.20 Um dies zu eruieren, ist zunächst eine allgemeine Definition des Mitglieds einer Partei erforderlich. Wiesendahl sieht Mitglieder als Zivilbürger, die „inmitten der Gesellschaft leben, ihrer Arbeit nachgehen, Freundschaften und gute Nachbarschaft pflegen und sich auch noch auf anderen Feldern engagieren“21. Neben dem formalen Beitrittsakt durch den Erhalt eines „exklusiven Mitgliedsbuches“22 und der regelmäßigen Leistung eines Mitgliedsbeitrags geht der Einzelne eine Beziehung mit der Organisation ein, indem er oder sie sich mit den grundlegenden Prinzipien der Partei einverstanden erklärt.23 Die formale Mitgliedschaft und damit die quantitative Größenordnung sagen unterdessen nur wenig über die aktive Teilnahme am Parteigeschehen aus.24 Als entscheidendes Kriterium ist vielmehr die „mehr oder minder intensive Mitwirkung und Einbeziehung der Mitglieder“25 in die diversen Funktions- und Aufgabenbereiche der Partei zu sehen. In der Deutschen Parteimitgliederstudie aus
tizipation in Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, 47. Jg., 2006, Heft 1, S. 35-61. 20 Vgl. Wiesendahl, Elmar; Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar: Die Zukunft der Mitgliederparteien auf dem Prüfstand, in: Dies. (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 9-30. 21 Wiesendahl, Elmar: Parteiendemokratie in der Krise: Das Ende der Mitgliederparteien?, in: Glaab, Manuela (Hrsg.): Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform, München 2003, S. 24. 22 Wiesendahl, Elmar: Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen 1998, S. 195. 23 Allerdings besteht eine Altersbeschränkung beim Parteieintritt; in den Statuten wird das Mindestalter von 14 Jahren bei der SPD und 16 Jahren bei der CDU vorgegeben (CDU Statut § 4 (1), SPD Statut § 2). 24 Der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger unterschied bereits in den 1950er Jahren die Mitglieder der Massenparteien je nach ihrer Beteiligungsintensität in die Gruppe der Wähler, der Sympathisierenden und der Aktivisten. Vgl.: Duverger, Maurice: Die politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 126f. 25 Mielke, Gerd: Mitglieder im Sog der Amerikanisierung, in: Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar; Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 55.
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dem Jahr 2009 wurde die Aktivität von Parteimitgliedern untersucht.26 Die Befragten wurden gebeten, ihre gegenwärtige Aktivität in der Partei einzuschätzen.27 Zwei Drittel der befragten Parteimitglieder gaben an, wenig oder überhaupt nicht aktiv zu sein. 31 Prozent der Befragten räumen sogar ein, dass sie – abgesehen von der regelmäßigen Abführung des Mitgliedsbeitrags – in keiner Weise aktiv sind. Immerhin 28 Prozent sind nach eigenen Angaben ziemlich aktiv. Der Kreis der Hochaktiven bemisst sich auf gerade einmal sechs Prozent. Insbesondere bei den Volksparteien ließ sich ein hoher Grad an Inaktivität feststellen: Im Jahr 2009 stellen die Hochaktiven in der CDU 7 Prozent, in der SPD 6 Prozent dar. Die Gruppe der „ziemlich Aktiven“ bemisst sich in der CDU auf 20 und in der SPD auf 22 Prozent.28 Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf den aktiven Kern der über 60-jährigen Parteimitglieder. 1.2.1 Das Mitglied als bestimmendes volksparteiliches Charakteristikum Ein Vergleich von CDU und SPD bietet sich schon deshalb an, weil sie als selbstdefinierte Volksparteien ähnliche – wenn auch zeitversetzte – Entwicklungsschritte machten. Spätestens seit den 1970er Jahren sehen beide eine starke gesellschaftliche Verankerung durch eine möglichst breite Repräsentanz in den eigenen Reihen als maßgebliche Voraussetzung, um bei Wahlen als Volksparteien zu reüssieren. Der Stellenwert des Mitglieds in CDU und SPD unterlag jedoch Konjunkturen und war im historischen Verlauf von unterschiedlichem Gewicht. Während für die bürgerlich-liberalen Honoratiorenparteien eine formalisierte Mitgliedschaft in den 1950er Jahren noch bedeutungslos war, änderte sich dies mit dem Aufstieg der weltanschaulichen Massenintegrationsparteien CDU und SPD in
26 Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien?, in: Ders. u.a. (Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 97-120. 27 Um die Aktivität von Parteiengagement zu messen, sind zwei Möglichkeiten denkbar: Die „objektive“ Messung, indem die ungefähre durchschnittliche Stundenzahl im Monat erhoben wird. Diese Vorgehensweise ist jedoch mit methodischen Schwierigkeiten verbunden. In der Deutschen Parteimitgliedstudie wurde die „subjektive“ Messung der Aktivität verwendet. Die Antwortmöglichkeiten waren in vier Kategorien „sehr aktiv“, „ziemlich aktiv“, „weniger aktiv“ und „überhaupt nicht aktiv“ vorgegeben. 28 Die sehr Aktiven in der FDP stellen im selben Jahr zehn, in den Grünen neun und in der Linken acht Prozent dar. Vgl. Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien?, S. 99.
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den 1960er und 1970er Jahren. Die massenhafte, formale Mitgliedschaft bildete die Grundlage für den Erwerb und den Ausbau der politischen Macht der Volksparteien und stellte zudem das materielle und personelle Fundament der Organisationen bereit.29 CDU und SPD entwickelten sich in diesem Zeitraum zu umfassenden Sammlungsbewegungen. Im Zuge dieser Öffnung und des allgemeinen gesellschaftlichen wie politischen Wandels nach dem Zweiten Weltkrieg sowie des „nie zuvor erlebten“30 Ausmaßes an sozialer Sicherheit durch den Wohlfahrtsstaat verloren die alten Klassenkonflikte und die traditionell verankerten Milieus zunehmend ihre Identität stiftende Bedeutung für die Parteien. Die Basis der Volksparteien CDU und SPD verbreiterte sich in den 1970er Jahren rasch auf nahezu zwei Millionen Mitglieder. Die Massenparteien entdeckten den strategischen Nutzen organisierter Massenmitgliedschaft für die Wählermobilisierung und Stimmenmaximierung.31 Die Folge war der Ausbau eines flächendeckenden Parteiapparates, um möglichst viele Mitglieder zu organisieren.32 Mit diesem Grundverständnis justierten die großen Parteien auch die Beziehungen zu ihren Mitgliedern neu: Das Mitglied wurde nicht allein eine strategische Ressource der täglichen Parteiarbeit, sondern integraler Bestandteil der politischen, sozialen und kulturellen Lebenswelt der selbsterklärten Volksparteien.
29 Vgl. Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, 2. Auflage, Stuttgart 1993, S. 20ff. 30 Ausführlich zur Entstehung der Volksparteien Wiesendahl, Elmar: Volksparteien – Aufstieg, Krise, Zukunft, Opladen/Berlin 2011, hier S. 14. 31 Seither organisieren sich Parteien aller Couleur über einen in Basiseinheiten organisierten Mitgliederstamm und sind aktiv darum bemüht, Mitglieder zu werben. 32 Bei der CDU begann die Organisationsreform nach der verlorenen Bundestagswahl 1972, die zum einen eine stärkere Zentralisierung und Aktivierung der Parteiorganisation auf allen Ebenen, zum anderen den Ausbau des hauptamtlichen Parteiapparats, insbesondere der Bundesgeschäftsstelle beinhaltete. Vgl. Haungs, Peter: Die CDU: Prototyp einer Volkspartei, in: Mintzel, Alf; Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990, S. 158-198. Ab 1972 waren bei der SPD die innerparteilichen Organisationsänderungen die Folge der Auseinandersetzungen über die Rolle der Arbeitsgemeinschaften, insbesondere hinsichtlich der Jungsozialisten. Mitte der 1970er Jahre stand die Reorganisation der unteren Gliederungen der Partei im Vordergrund, um die Parteiorganisation zu modernisieren und zu straffen. Um eine größere Effizienz insbesondere bei Wahlkämpfen zu erzielen, stärkte der Parteivorstand seinen Einfluss in den Bezirken. Vgl. Stöss, Richard: ParteienHandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Sonderausgabe, Bd. 1, Opladen 1986, S. 2148-2152.
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Ihr Selbstverständnis und ihre Außenwahrnehmung hingen maßgeblich von der „Magie der größeren Mitgliederzahlen“33 und der damit umfassenden Integrationskraft ab. Doch der Durchbruch zu Volksparteien gelang Union und SPD erst in den frühen 1970er Jahren. Die Sozialdemokraten integrierten in den ersten Jahren der Bundesrepublik eine wenig pluralistische Mitgliedschaft. Der männliche, gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter protestantischer Konfession war das idealtypische SPD-Mitglied jener Nachkriegsjahre. Und schon damals ging das Gespenst der „Vergreisung“ in der Parteizentrale um.34 Im Jahr 1952 waren nur rund drei Prozent der Mitglieder jünger als 26 Jahre.35 Ein noch weit fataleres Bild bot die Basis der Christdemokraten in der Adenauer-Ära. Nur rund 250.000 Mitglieder dürfte die CDU Ende der 1950er Jahre organisiert haben.36 Eine lebendige politische Kultur an der Basis war faktisch nicht existent. Altmann konstatiert für die CDU dieser Zeit: „Die Mitgliedschaft spielt in der CDU nicht einmal die zweite Geige“37. Die Jahre nach 1968 bescherten beiden Parteien einen historisch einzigartigen Expansionsschub. Vor allem junge Menschen wurden von der allgemeinen gesellschaftlichen Politisierung erfasst. Eine Masse an Neumitgliedern flutete die brachliegenden Lokalstrukturen der Parteien. Parteimitglied zu sein, galt zu Beginn der 1970er Jahre vor allem unter jungen Akademikern als en vogue. Bei der SPD gab die erste sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt das Aufbruchsignal. Vor allem junge Linksintellektuelle und Angehörige des öffentlichen Dienstes – die sogenannten „neuen Mittelschichten“ – sorgten dafür, dass die Partei auf allen Ebenen an Vielfalt und Farbigkeit gewann. Die drei Megatrends lauteten Verbürgerlichung, Akademisierung und Verjüngung.38
33 Rudolph, Karsten: Die sechziger Jahre: Das Jahrzehnt der Volksparteien?, in: ZParl, 1999, 2, S. 373. 34 Vgl. D’Antonio; Oliver; Munimus, Bettina: Die Graue Koalition – Wie Deutschlands Volksparteien altern, in: Butzlaff, Felix; Harm, Stine; Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden 2009, S. 245. 35 Vgl. Lösche, Peter; Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei. Volkspartei. Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 140f. 36 Vgl. Hofmann, Robert: Geschichte der deutschen Parteien. Von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München 1993, S. 216. 37 Altmann, Rüdiger: Das Erbe Adenauers, Stuttgart 1960, S. 97. 38 Vgl. Lösche, Peter; Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei. Volkspartei. Quotenpartei. Darmstadt 1992, S. 150ff.
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Der CDU waren bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre starke Mitgliederzuwächse und auch eine deutliche Verjüngung der Mitgliedschaft gelungen.39 Im Zuge des organisatorischen Modernisierungsprozesses der frühen 1970er Jahre setzte schließlich eine immense Verjüngung und eine Vitalisierung des innerparteilichen Lebens ein.40 Dieser Wachstumsprozess verlief bei der CDU weit weniger explosionsartig als bei den Sozialdemokraten, dafür aber kontinuierlicher und dauerhafter bis in die 1980er Jahre. Die Unterschiede zwischen CDU und SPD sollen hier nicht verschwiegen werden. Engagement und Partizipation in den Orts- und Kreisverbänden der ehemaligen Honoratiorenpartei CDU waren im Vergleich zur SPD immer schwächer und die Karriereorientierung der aktiven Mitglieder ausgeprägter.41 Doch kam es auch in der CDU durch die Parteireformen der 1970er Jahre zu einer starken „Aktivierung der Parteiorganisation auf allen Ebenen“42. Zwar begann mit der Stagnation der Mitgliederentwicklung bei beiden Parteien auch der Altersdurchschnitt ab den 1980er Jahren wieder zu steigen, die Heterogenität der Mitgliedschaft hatte sich jedoch längst in den Organisationsstrukturen und in ihrer politischen Kultur niedergeschlagen. Die SPDArbeitsgemeinschaften und die Vereinigungen der Union waren Ausdruck dieses organisationalen Pluralismusverständnisses.43 Lösche und Walter bezeichneten das Prinzip volksparteilicher Organisation am Beispiel der SPD als eine „lose verkoppelte Anarchie“. Auch in der CDU setzte sich im Zuge der Organisationsreform in den 1970er Jahren Vergleichbares organisatorisch durch. Schönbohm
39 Vgl. Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 85ff. 40 Vgl. ebd. S. 194ff; Zolleis, Udo: Die CDU – das politische Leitbild im Wandel der Zeit, Wiesbaden 2008, S. 135ff, v.a. S. 141. 41 Vgl. Walter, Franz; Werwath, Christan; Oliver D’Antonio: Die CDU – Entstehung und Verfall christdemokratischer Geschlossenheit, Baden-Baden 2011, S. 20ff. 42 Haungs, Peter: Die CDU: Prototyp einer Volkspartei, S. 176. 43 Viele dieser innerparteilichen Gruppierungen wurden zwar schon in der Frühphase der Bundesrepublik gegründet, doch gerade in den 1970er Jahren entstanden zahlreiche neue Organisationen. Bei der SPD wurden die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) 1972 und die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) 1973 gegründet. Bei der CDU kam es zu Neugründungen im Zuge der verstärkten Zielgruppenarbeit. 1972 wurde die Schülerunion gegründet, die erste Seniorenorganisation auf Landesebene bildete sich 1978 in Baden-Württemberg.
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beschreibt dies als ein „kompliziertes Geflecht voneinander abhängiger, sich gegenseitig beeinflussender und miteinander rivalisierender Subsysteme“44. 1.2.2 Mitglieder als „strategische Organisationsressource“ Um das Phänomen der mitgliederstarken Großparteien wissenschaftlich zu verorten und es typologisch zu schärfen, liefert Wiesendahl mit dem Konzept der Mitgliederpartei ein idealtypisches Klassifikationsmodell, in dem das Mitglied und die Parteifunktion in Zusammenhang gebracht werden und im Zentrum der Organisationslogik stehen.45 Mitgliederparteien können darüber definiert werden, dass sie als „membership-based organization“46 eine „Vereinigung Hunderttausender von freiwillig engagierten Mitgliedern“47 bilden. Sie bedienen sich der von den Mitgliedern bereitgestellten Ressourcen, „um den Parteibetrieb zu unterhalten und ihre Kernaufgaben zu erfüllen“48.
44 Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 218. Explizit als „lose verkoppelte Anarchie“ bezeichnet Bösch die CDU. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust, S. 73. 45 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Mitgliederparteien am Ende?, S. 20. 46 Scarrow, Susan E.: Parties without Members? Party Organization in Changing Electoral Enviroment, in: Dalton, Russell J.; Wattenberg, Martin P. (Hrsg.): Parties without Partisans. Political Change in Advanced Industrial Democracies, Oxford 2000, S, 70. 47 Wiesendahl, Elmar: Parteiendemokratie in der Krise: Das Ende der Mitgliederparteien?, S. 23. 48 Wiesendahl, Elmar: Mitgliederparteien am Ende?, S. 20.
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Tabelle 1: Organisatorischer und individueller Nutzen einer Parteimitgliedschaft Organisatorischer Nutzen
Exklusive individuelle Vorteile
von Parteimitgliedern
einer Parteimitgliedschaft
für Parteien Parteimitglieder
Parteimitglieder
- tragen zur Finanzierung des Parteibe-
- werden an Aus- und Wiederwahl von par-
triebs und der Öffentlichkeitsarbeit bei. - halten den Parteibetrieb und die organisatorische Präsenz vor Ort aufrecht. - sind Träger lokaler Wahlkampagnen. - zählen zum Kernwählerstamm der Parteien. - wirken als Botschafter und Multiplikatoren in die Anhänger- und Wählerschaft hinein. - bilden Horchposten gegenüber Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt. - tragen Ideen und Sachverstand in die
teiinternen Funktionsträgern beteiligt. - wirken unmittelbar und mittelbar an der Kandidatenaufstellung für öffentliche Wahlämter mit. - können selbst eine politische Karriere anstreben. - können als Delegierte an Parteitagen und in der Gremienarbeit teilnehmen. - wirken an der Formulierung von Grundsatz- und Wahlprogrammen mit. - können sachpolitisch in Arbeitskreisen mitwirken. - sind an der Erstellung von Parteistatuten und -satzungen beteiligt.
Parteien hinein. - rekrutieren neue Mitglieder. - bilden die Nachwuchsreserve für innerparteilich und öffentlich zu besetzende Ämter. Quelle: Wiesendahl, Elmar: Zwischen Wende und Ende − zur Zukunft der Mitgliederparteien, S. 236.
Mitglieder werden als „strategische Organisationsressource“49 definiert in ihrer Eigenschaft als Beitragszahler, Wahlkämpfer vor Ort und als Botschafter und Multiplikatoren für die Außenkommunikation der Partei mit den lokalen Gesellschaften. Sie sind die zwischenmenschlichen Bindeglieder und Brückenbauer zwischen „der Welt außerhalb und innerhalb der Parteien“50. Mitglieder werden
49 Ebd. 50 Wiesendahl, Elmar: Zwischen Wende und Ende − zur Zukunft der Mitgliederparteien, S. 236.
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zum einen als Ideenträger und Beobachter ihrer jeweiligen Umwelt gesehen, zum anderen stellen sie den Pool der Nachwuchsreserve für eine Vielzahl unterschiedlicher parteiinterner, ehrenamtlicher Funktionen sowie potenzieller Kandidaten bei Wahlen dar. Als politische Freiwilligenorganisationen müssen Parteien ihren Mitgliedern Anreize für Motivation und Zufriedenheit geben und können kaum auf eine altruistische Haltung bauen.51 Daher bieten sie Mitgliedern exklusive Privilegien, Einflussnahme auf die Elitenauswahl, die Organisation und die Programmatik der Partei und räumen zudem Karrierechancen ein.52 Die Gratifikationen sind folglich konkrete Optionen der politischen Beteiligung. Die numerische Überlegenheit der über 60-Jährigen in CDU und SPD eröffnet nun eine gänzlich neue Perspektive: Wenn die Hälfte der Parteiangehörigen 60 Jahre und älter ist, verfügt diese große Zahl über die „capacity to effect (or affect) organisational outcomes“53? Zu behandeln ist, ob diese Gruppe über die dafür notwendigen Ressourcen und die formalen sowie informellen Handlungsmöglichkeiten und letztlich über die Motivation für die Mitwirkung im innerparteilichen Willensbildungsprozess verfügt. Das besondere Wechselspiel von Ressourcentransfer und Gratifikation in Form von Einflussnahme und Teilhabe macht den spezifischen Charakter von Mitgliederparteien aus. Zwar ist dieses Verständnis von Mitgliederparteien sehr pragmatisch und funktional, als Portfolio verdeutlicht es jedoch, dass der beschriebene Alterungsprozess eine massive Veränderung zur Folge haben könnte: zum einen, was die Möglichkeit der Bereitstellung der Ressourcen anbelangt, zum anderen, was die nachgefragten Gratifikationen durch die Mitglieder selbst betrifft.
1.3 S TAND
DER
F ORSCHUNG
Obwohl sich beide Parteien seit längerem in ihrem Altersaufbau wandeln und dies innerhalb der Parteienforschung wiederholt konstatiert wird, liegt ein empirisches Forschungsdesiderat vor. In der Vergangenheit behandelten Forschungs-
51 Die Bereitschaft, sich in Organisationen zu engagieren, ist begrenzt und bedarf bestimmter motivationaler Anreize. Vgl.: Barnard, Chester I.: Die Führung großer Organisationen, Essen 1970, S. 81 (amerikanisches Original: The Functions of the Executive, 1938). 52 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Mitgliederparteien am Ende?, S. 20. 53 Mintzberg, Henry: Power in and around organizations, Prentice-Hall 1983, S. 4.
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arbeiten einzelne Aspekte des Alterungsphänomens, die daraus gewonnenen Erkenntnisse wurden jedoch isoliert diskutiert. Darüber hinaus fehlt eine komparative Untersuchung zu CDU und SPD. Die vorliegende Studie greift bestehende Erkenntnisse auf, reflektiert die zeitliche Entwicklung und erweitert den Blick auf die organisationale Ebene. Die Frage, wie die politischen Interessen von Ruheständlern vertreten werden und ob sich angesichts des demografischen Wandels und des Sozialstaatsumbaus eine stärkere Interessenlobby entwickelt, untersuchten Schroeder, Munimus und Rüdt in ihrer Studie „Seniorenpolitik im Wandel – Verbände und Gewerkschaften als Interessenvertreter der älteren Generation“54. Die Autoren unterstreichen, dass es bislang nicht zu einer generationensepararierenden Interessenvertretung gekommen ist, vielmehr sei die sozialstaatliche Institutionenordnung nach wie vor von einem generationenübergreifenden Solidargedanken geprägt, gleichwohl gebe es Hinweise auf eine Ressourcenverschiebung zugunsten der Älteren. Das hiesige Erkenntnisinteresse entstand in diesem Forschungsrahmen. Erste Eindrücke aus dem Untersuchungsfeld wurden im Rahmen eines gemeinsamen Beitrages der Verfasserin mit Oliver D’Antonio gesammelt und eruiert.55 Bereits zu Beginn der 1980er Jahre geht Franziska Schaal der Frage nach, ob aufgrund der numerischen Zunahme des älteren Bevölkerungsteils auch dessen „sozialer Einfluss“ wächst.56 Sie analysierte in ihrer umfassenden Studie Repräsentation und Partizipation älterer Menschen in den Parlamenten auf allen Entscheidungsebenen sowie in den Parteien. Ebenso diskutiert sie die Organisationsfähigkeit und -bereitschaft von seniorenspezifischen Selbsthilfegruppen. Schaal hält fest, dass die geringe politische Beteiligung Älterer an politisch und gesellschaftlich einflussreichen Positionen auf die gesellschaftliche „Minderbewertung“ Älterer zurückzuführen sei und geht – wenn auch nicht explizit – auf die Bedeutung von Altersbildern ein. Durch „soziale Verhaltenserwartungen“ würden ältere Menschen aus Gremien und Parlamenten gedrängt.57
54 Schroeder, Wolfgang; Munimus, Bettina; Rüdt, Diana: Seniorenpolitik im Wandel. Verbände und Gewerkschaften als Vertreter der älteren Generation, Frankfurt a. M. 2010. 55 D’Antonio, Oliver; Munimus, Bettina: Die Graue Koalition – Wie Deutschlands Volksparteien altern, in: Butzlaff, Felix; Harm, Stine; Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden 2009, S. 237-266. 56 Schaal, Franziska: Repräsentation und Partizipation älterer Menschen in Politik und Gesellschaft, Berlin 1984. 57 Vgl. ebd., S. 200.
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In seiner unveröffentlichten Magisterarbeit untersucht Heiko Paluschka die seniorenpolitischen Aktivitäten von CDU und SPD.58 Er zeichnet die erste Thematisierungswelle in beiden Parteien zum demografischen Wandel in den 1970er Jahren nach und resümiert, dass Ältere trotz etablierter Partizipationsstrukturen und wachsender Wählergruppe zu einer „Randgruppe“ in beiden Parteien zählen. Während sich die CDU bei ihrer Seniorenarbeit auf die Stärkung der kommunalen Mitwirkungsstrukturen konzentrierte, konstatiert Paluschka für die SPD ein begrenztes seniorenpolitisches Interesse. Nachdem die Arbeitsgemeinschaft der Älteren gegründet worden war, zeichnete sich ein Bedeutungsverlust der Seniorenpolitik im Zuge der Hinwendung zu Wachstums- und Beschäftigungsthemen seit Mitte der 1990er Jahre ab. Guido Heuel setzt in seiner Dissertation an diesem Punkt an und untersucht die innerparteiliche Stellung und inhaltliche Ausrichtung der Arbeitsgemeinschaft 60plus der SPD.59 Zentrale These seiner Untersuchung ist die positive Integration der Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Parteistrukturen. Diese Einschätzung kann die hier vorliegende Studie nur eingeschränkt bestätigen. Vor allem durch den Vergleich mit der Senioren-Union kommt sie zu Erkenntnissen, die einen anderen Schluss nahelegen. Die Forschungsstudie „Die verdrängte Generation“ von Harald Wilkoszewski aus dem Jahr 2003 geht der Frage nach, wie die deutschen Parteien auf die Anforderung einer alternden Gesellschaft vorbereitet sind und welche Bedeutung der demografische Wandel für die politische Interessenvertretung hat. Dabei analysiert er die Konzepte der Parteien zur „Ageing Society“60. Aus der empirischen Parteienforschung werden zur Einbettung und Diskussion die Deutsche Parteimitgliederstudie 2009, die CDU-Mitgliederstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2007 sowie die SPD-Ortsvereinsbefragung 2010 herangezogen.61 Darüber hinaus dienen Ergebnisse aus weiteren
58 Paluschka, Heiko: Volksparteien und Senioren in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er Jahren. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn 1997. 59 Heuel, Guido: Die Bedeutung des demografischen Wandels für die innerparteiliche Partizipation, Repräsentanz und Themenstellung der älteren Parteimitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 2010, eingesehen unter: https://eldorado2.tudortmund.de/bitstream/2003/27250/1/DissHeuel.pdf (4.9.2010). 60 Wilkoszewski, Harald: Die verdrängte Generation. Politische Parteien und die alternde Gesellschaft in Deutschland, Marburg 2003. 61 Spier, Tim (Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011; Neu, Viola:
Die Mitglieder der CDU. Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augu-
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Studien zum bürgerschaftlichen Engagement, wie die Trenderhebungen der Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009, zur Unterfütterung der hier generierten Thesen.62 Die Fülle an soziologischen Untersuchungen zum zivilgesellschaftlichen Engagement im Alter werden in Kapitel 2 „Konzeptionelle Grundlagen“ für den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand vorgestellt und eingeordnet.
1.4 E RKENNTNISLEITENDE F RAGEN Das Interesse dieser Arbeit liegt in einer zeitdiagnostischen Perzeption von Mitgliederparteien, in denen über 60-Jährige die größte Mitgliedergruppe stellen. Die zentrale Frage lautet: Wie wandeln sich CDU und SPD in personeller, institutioneller und organisationaler Hinsicht, wenn die Mehrheit ihrer meist langjährigen Mitglieder 60 Jahre und älter ist und sich nun mehrheitlich im Ruhestand befindet? Die qualitative, komparativ angelegte Untersuchung verfolgt dabei das Ziel, bestehende Erkenntnisse, wie etwa die Ortsvereinsbefragung der SPD aus dem Jahr 201063, durch eine strukturentdeckende Perspektive auf der Mikroebene zu ergänzen und weiterführende Thesen zu generieren. Der Alterungsprozess von Organisationen ist ein hoch komplexes Phänomen, welches insbesondere für Parteien und deren gesellschaftspolitische Funktion eine demokratietheoretische Relevanz in sich birgt. Um dieser Ambiguität gerecht zu werden, nimmt die Studie drei Untersuchungsperspektiven ein. Erstens wird das Augenmerk auf die personelle Ausstattung gerichtet: Wie sind über 60Jährige in der Parteielite und in den Parlamenten vertreten? Mit der SeniorenUnion in der CDU und der Arbeitsgemeinschaft 60plus (AG SPD 60plus) in der SPD erhielten Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre Mitglieder über 60 Jahre eigene, formal institutionalisierte Organisationsstrukturen. Die zweite Perspektive behandelt demnach die Frage, ob auf der institutionellen Ebene die „latente“, quantitative Altenmacht zu einem verstärkt kollektiven Aktivismus führt. Anhand einer Organisationsanalyse wird untersucht, wie die parteieigenen Seni-
stin 2007; SPD: Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der SPD-Ortsvereine, nicht veröffentlichtes Papier des Willy-Brandt-Hauses 2010. 62 BMFSFJ (Hrsg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement, vorgelegt von TNS Infratest Sozialforschung, München 2010, eingesehen unter: http://www.bmfsfj.de/ (2.07.2011). 63 Vgl. SPD: Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der SPD-Ortsvereine, nicht veröffentlichtes Papier des Willy-Brandt-Hauses 2010.
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orenorganisationen die kollektiven Interessen der Älteren als innerparteiliche Institutionen vertreten. Die dritte und letzte Perspektive zeigt die Auswirkungen auf der organisationalen Ebene: Wie gehen die kleinsten Organisationseinheiten partizipatorischer Teilhabe („party on the ground“), die lokal verankerten Ortsverbände und Ortsvereine, mit dem Altersungleichgewicht der Mitgliederstruktur um? Hierzu wurden jeweils zwei Fallbeispiele in urbanen und ländlichen, strukturschwachen Regionen gewählt. CDU und SPD altern aus Gründen, die nicht in erster Linie aus dem demografischen Wandel herrühren. Gleichwohl erlaubt die jetzige altersstrukturelle Zusammensetzung, eine Vorstellung darüber zu gewinnen, was die Alterung von gesellschaftlichen Organisationseinheiten bedeutet. Strukturentdeckende Erkenntnisse aus der induktiven Betrachtungsweise erweisen sich für CDU und SPD als besonders relevant. Zum einen deshalb, weil Parteien trotz aller medialer Professionalisierungstendenzen auf die Ressource „Mitglied“ angewiesen sind.64 Zum anderen verstehen sich CDU und SPD als generationenübergreifende Volksparteien, die in ihrer programmatischen Ausrichtung die Balance zwischen den Belangen der (erwerbstätigen) Jungen und (pensionierten bzw. verrenteten) Älteren bewahren müssen. Ihre Aufgabe als politische Akteure, den Willen der Bevölkerung zu aggregieren und zu artikulieren, ist somit elementar vom eigenen Alterungsprozess betroffen. Analog dazu altert drittens das Elektorat. Als Akteur auf dem Wählermarkt müssen die Parteien auf die wachsende Wählergruppe der über 60-Jährigen eingehen, ohne dabei jedoch als „alt“ wahrgenommen zu werden, um auch auf jüngere Wähler noch attraktiv zu wirken. Die untersuchte Personengruppe umfasst die über 60-jährigen CDU- und SPD-Mitglieder, die sich aktiv parteipolitisch beteiligen. Das Alter ist somit das entscheidende Definitionsmerkmal. Von einer Definition entlang der Stellung als Rentner und Pensionäre wurde abgesehen, da zum einen den Parteien selbst nur unzureichende Informationen über die tatsächliche Berufsstruktur ihrer Mitglieder vorliegen.65 Zum anderen spielt das tatsächliche Ruhestandeintrittsalter bei der Zuordnung in die Altersgruppe keine Rolle. In den Statistiken von CDU und SPD werden Mitglieder ab dem 60. Lebensjahr der Gruppe der Älteren zugeordnet. Darüber hinaus markiert dieses Alter die Eintrittsvoraussetzung, um sich in der Senioren-Union und der Arbeitsgemeinschaft der Älteren der SPD zu engagieren. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Mitglieder über 60 Jahre Rentner und Pensionäre sind.
64 Vgl. Micus, Matthias: Patient Volkspartei?, in: Indes, Heft 0, 2011, S. 146. 65 Niedermayer, Oskar: Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: ZParl, 2010, Jg. 40, 2, S. 421.
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„Die Älteren“, die Geburtsjahrgänge 1950 und früher, bilden in den Parteien alles andere als eine homogene Gruppe. Diese Gruppe ist zum einen unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Generationenzugehörigkeit zu betrachten, zum anderen lassen sich unterschiedliche funktionale Altersgruppen ausmachen. Für die Untersuchung wird unterschieden zwischen den „jungen Alten“, den 60- bis 70-Jährigen, und den „Älteren“, den Mitgliedern über 70 Jahre. Die „jungen Alten“ (Jahrgänge 1940 bis 1950) erlebten im Nachkriegsdeutschland eine jeweils milieuspezifische politische Sozialisation und gehören zu jener Partizipationskohorte, die in der Hochmobilisierungszeit der 1960er und 1970er Jahre in die Volksparteien strömte. Als engagierte Jugendliche und junge Erwachsene formten sie die Parteien, gaben ihnen ein neues Profil. Heute, mehrheitlich als Ruheständler mit Zeit, Muße und Erfahrung, tun sie dies – so die Annahme – nicht minder. Die vor 1940 Geborenen erlebten prägende Kinderund Jugendjahre während des Zweiten Weltkrieges und wuchsen als junge Erwachsene in der Regierungszeit Konrad Adenauers heran. Diese Altersgruppe kann als die Generation des Wiederaufbaus bezeichnet werden. Senioren erhalten von vielen Seiten erhöhte Aufmerksamkeit. Materiell meist gut abgesichert, ressourcenstark und mobil, verbringen Menschen bei guter Gesundheit 10 bis 25 Jahre, bevor nachlassende Kräfte, Hilfsbedürftigkeit und Krankheit im fortgeschrittenen Alter das alltägliche Leben einschränken. Die heutige Rentnergeneration zählt in ihrer Gesamtheit zur wohlhabendsten Altenpopulation, die es bisher in Deutschland je gab – und vermutlich auch je geben wird.66 Besonders die „jungen Alten“ werden von der Wirtschaft als kauffreudige Konsumenten umworben und von der Politik als kompetente, freiwillig engagierte Citoyens für das zivilgesellschaftliche Engagement gelobt.67 Auch die Parteiführungen von CDU und SPD verfolgen die demografische Entwicklung, allerdings haben sie vornehmlich das Wahlverhalten der über 60-Jährigen im Blick. Der eigene alte Mitgliederbestand wird eher mit Sorge vor einer Überalterung betrachtet. Gerade weil diese Gruppe beträchtliche Aufmerksamkeit in der Debatte um bürgerschaftliches Engagement erhält, in den Überlegungen der Parteiführung auf den ersten Blick jedoch kaum eine Rolle spielt, ist interessant zu erfahren, welche Motivation über 60-Jährige zu einer aktiven Partizipation in der CDU und SPD treibt und in welcher Form sie sich engagieren.
66 Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 2005, S. 201. 67 Vgl. u.a. Kocka, Jürgen: Alternde Gesellschaften oder Die gewonnenen Jahre, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, 9/ 2008, S. 4-9.
1. Ü BERSICHT
UND
L EITGEDANKEN
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Grundsätzlich ist zu fragen, ob Mitglieder einer bestimmten Alterskohorte eine vom Alter determinierte gemeinsame Interessenlage teilen. Seit rund zwanzig Jahren räumen CDU und SPD den über 60-jährigen Mitgliedern dezidierte Partizipationsmöglichkeiten in Form eigener innerparteilicher Seniorenorganisationen ein. Senioren-Union und die AG SPD 60plus übernehmen die Aufgabe der Integration und Repräsentanz der Älteren in den Reihen der Parteien. Zum einen sollen über die Seniorenorganisationen die Interessen dieser Bevölkerungsgruppe in die jeweilige Partei integriert werden. Zum anderen haben sie den Auftrag, in dieser Zielgruppe für die christ- bzw. sozialdemokratischen Anliegen zu werben. Sie kommunizieren gezielt als Brückenbauer mit altersbezogenen Verbänden und Organisationen im vorpolitischen Raum. Vor dem Hintergrund der Zunahme älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung ist davon auszugehen, dass ihr Engagement gerade für den Erfolg bei Wahlen in dieser Altersgruppe eine wichtige Rolle spielen kann. Da nunmehr annähernd die Hälfte der Mitglieder in CDU und SPD 60 Jahre und älter ist, stellt sich die Frage, ob die Senioren-Union und AG SPD 60plus in ihrer Rolle als Interessenvertreter das innerparteiliche Meinungsbild prägen. Um diese Frage zu beantworten, werden ihre Genese, Funktion und Aktivitäten untersucht. Um der Komplexität des kollektiven Alterns gerecht zu werden, wurde zudem ein tiefenperspektivischer Blick in das Innere der Parteien gerichtet. CDU und SPD sind nach ihrem Selbstverständnis Mitgliederparteien, in denen satzungsverankert die innerparteiliche Willensbildung vertikal von unten nach oben verläuft. Demgemäß ist der zentrale Ort der Mitgliederpartizipation der Ortsverein bzw. Ortsverband. Die Basiseinheiten sind die Knotenpunkte in die lokale Gesellschaft, hier werden idealtypisch Wahlkämpfe geführt, Kommunalpolitik gestaltet und – wohl am wichtigsten – Kandidaten für politische Wahlämter nominiert. Basierend auf dem Modell der Mitgliederpartei wurde der Frage nachgegangen, welche Ressourcen die über 60-Jährigen den Parteien zur Verfügung stellen. Wiesendahl diskutiert die Ressourcennutzung für die Parteiorganisation und die politischen Einflussnahme- und Teilhaberechte der Mitglieder (Gratifikationen), doch steht dabei das Mitglied als gegebene Variable im Raum, ohne es im Sinne altersdifferenzierter Kompetenzen und Eigenschaften zu hinterfragen. Die bereitgestellten Ressourcen sowie das politische Engagement von jüngeren Mitgliedern unterscheiden sich gleichwohl von denen älterer, so die Annahme. Ebenso ist davon auszugehen, dass Ältere andere Gratifikationen in Anspruch nehmen möchten als Personen jüngeren Alters, deren Lebensprioritäten sich unterscheiden. Es wird gefragt, welche Aufgaben Senioren in Wahlkampfzeiten übernehmen und wie sie als Multiplikatoren und Botschafter ihrer Parteien agieren. Die Untersuchung der Anreize für eine aktive Teilnahme am Parteileben soll
38 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Aufschlüsse geben, ob die zahlenmäßig große Gruppe Einfluss auf die Gesamtpartei nimmt. Um Erkenntnisse über die Aktivitäten der Mitglieder über 60 Jahre zu gewinnen, wurden auf der untersten Ebene der Parteigliederung in Stuttgart, Hannover, Freudendstadt und Northeim Gespräche mit Mitgliedern dieser Altersgruppe, Hauptamtlichen und Mandatsträgern geführt. Ebenso wurden Mitglieder über 60 Jahre der ausgewählten Ortsgruppen und Seniorenorganisationen schriftlich befragt. Zudem lieferte die Teilnahme an Parteiveranstaltungen vertiefende Erkenntnisse.
1.5 AUFBAU
DER
S TUDIE
Um den Alterungsprozess der Parteien in Relation mit der Alterung der Gesellschaft zu reflektieren, werden in Kapitel 2 die konzeptionellen Grundlagen gelegt. Zunächst soll hierbei der gesellschaftliche Alterungsprozess aus soziologischer und gerontologischer Perspektive erläutert werden, um im nächsten Schritt auf die Charakteristika der Älteren als Wähler und freiwillig Engagierte einzugehen. Auf der Basis konzeptioneller Überlegungen wird diskutiert, ob es zu einem verstärkt zielgerichteten politischen Handeln der Älteren auf der Basis eines kollektiven Interessenbewusstseins kommen kann. Anschließend richtet sich der Fokus auf die untersuchten Parteien, auf deren Mitgliederentwicklung und auf die innerhalb der Parteienforschung bestehenden Thesen zu Wandel und Zukunft von Mitgliederparteien. Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich nach den gewählten Untersuchungsperspektiven. Das erste Kapitel widmet sich der personellen Vertretung Älterer in den Parlamenten und in Führungsgremien von CDU und SPD. Im darauffolgenden Abschnitt werden die Entstehungsgeschichte, Charakteristika und Funktionen von Senioren-Union und Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus sowie ihre Stellung in CDU und SPD untersucht. Die letzte Untersuchungsperspektive richtet ihren Fokus auf die untere Organisationsebene, die alternde Parteibasis. Hierbei werden Erkenntnisse und Eindrücke aus der empirischen Erhebung diskutiert. Im Fazit der Arbeit werden die Ergebnisse in einer konklusiven Betrachtung zusammengetragen, gebündelt und abschließend diskutiert.
B Mitgliederparteien in einer alternden Gesellschaft
2. Konzeptionelle Grundlagen
CDU und SPD sind durch zwei mittelbar miteinander verbundene Entwicklungen betroffen: Als Mitgliederorganisationen altern sie strukturell aufgrund fehlender junger Neumitglieder, als Anbieter politischer Inhalte müssen sie auf eine alternde Gesellschaft und Wählerschaft reagieren. Für die Mitgliederorganisationen CDU und SPD stellt sich die Frage, ob diese Altersgruppe organisatorischen Nutzen bringen und für die Ziele, sei es Stimmenmaximierung, Besetzung öffentlicher Ämter und Mandate oder Durchsetzung bestimmter politischer Inhalte, mithelfen kann. Zugleich müssen beide Parteien als Bewerber auf dem Wählermarkt die Balance finden, älteren Wählergruppen Angebote zu unterbreiten, ohne dabei für Jüngere unattraktiv zu erscheinen. Zunächst soll auf die Bedeutung der Altersgruppe der über 60-Jährigen eingegangen werden. Dies erfolgt in einem ersten Schritt aus der Umweltperspektive, die das gesellschaftliche Altern in den Blickpunkt nimmt und die Gruppe der Älteren im Spiegel der Partizipationsforschung und Alterswissenschaft reflektiert. Nach einer allgemeinen Charakterisierung der Untersuchungsgruppe wird deren Verhalten als Wähler und als ehrenamtlich Engagierte diskutiert. Dabei spielen Aspekte der Generationenzugehörigkeit und auch gesellschaftlicher Altersbilder eine relevante Rolle. Im zweiten Schritt soll das Augenmerk auf die Mitgliederparteien als Partizipationsanbieter für freiwillige Mitarbeit gelegt werden. Zunächst wird die gegenwärtige Debatte um das Fortbestehen von Mitgliederparteien skizziert. Um die organisierten Interessen der Älteren in CDU und SPD zu untersuchen, wird auf die Funktion von kollateralen Sonderorganisationen der Parteien, den Vereinigungen in der CDU und den Arbeitsgemeinschaften der SPD, eingegangen.
42 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
2.1 ALTER UND P ARTIZIPATION Der demografische Wandel verändert die deutsche (Arbeits-)Gesellschaft in historisch einzigartiger Weise. Obwohl der Alterungsprozess essenzielle Folgen für die Gesellschaft im 21. Jahrhundert haben wird, rückte die Forschung über die Konsequenzen eines veränderten Altersaufbaus der Bevölkerung erst in den vergangenen zehn Jahren verstärkt in den Vordergrund. Dabei ist die langfristige Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung alles andere als ein neu erkanntes Phänomen. Seit den 1970er Jahren ist absehbar, dass eine „Revolution auf leisen Sohlen“1 langfristig die deutsche Gesellschaft fundamental verändern wird. Seit 1972 in der Bundesrepublik und seit 1969 in der DDR nimmt die Zahl der einheimischen Bevölkerung ab, es sterben mehr Menschen als Kinder geboren werden. Nur durch Zuwanderung konnte diese Entwicklung mittelfristig abgeschwächt und damit in der politischen Thematisierung überdeckt werden.2 Lange Zeit fristete die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung unter dem despektierlichen Schlagwort der Vergreisung ein Nischenleben in der Alterswissenschaft.3 Parallel zur wachsenden Sensibilität für gesellschaftliche Alterungs- und Schrumpfungsprozesse, die sich auch in einer vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission zum demografischen Wandel4 zeigte, begann in den 1990er Jahren eine breite wissenschaftliche Analyse dieser Entwicklung. Seither befassen sich nahezu alle Disziplinen mit der Frage, was Gesellschaften ausmacht, wenn in ihnen mehr Hochaltrige als Kinder leben.
1
Klose, Hans-Ulrich: Die Zukunft hat schon begonnen. Überlegungen zur Bewältigung des demographischen Wandels, in: Ders. (Hrsg.): Altern der Gesellschaft – Antworten auf den demographischen Wandel, Köln 1993, S. 7-26.
2
Vgl. Schimany, Peter: Die Alterung der Gesellschaft. Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs, Frankfurt a. M. 2003.
3
Das Thema Altern wurde zunächst in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg Gegenstand einer eigenen Fachrichtung. In Deutschland wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung erst im Jahr 1967 mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Alternsforschung (später Deutsche Gesellschaft für Gerontologie) etabliert. In Deutschland hatte Demografie als Bevölkerungsforschung aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit einen schweren Stand, vgl. Druyen, Thomas: Olymp des Lebens. Das neue Bild des Alters, München 2003, S. 21.
4
Zwischen 1992 und 2002 erarbeitete die Enquete-Kommission „Demografischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ Empfehlungen für politische Entscheidungen zu den gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen des demografischen Wandels.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
| 43
Hinter den statistischen Daten verbirgt sich ein hochkomplexes und ubiquitäres Phänomen, das es im Folgenden zu charakterisieren gilt. Neben dem Blick auf die demografische Bevölkerungsentwicklung werden interdisziplinär die soziopolitischen und kulturellen Merkmale der sozialen Gruppe der Älteren dargelegt, um daran anschließend die Untersuchungsgruppe in den Parteien definieren zu können. Wer sind eigentlich die Älteren, die mittlerweile die Hälfte der Mitglieder in der CDU und SPD stellen? Um diese Frage zu beantworten, müssen das Alter und der Prozess des Alterns als soziologische Kategorien erfasst werden, um die Bedeutung von (sozial konstruierten) Altersbildern für die Organisationskultur in den beiden Großparteien nachzuvollziehen. Gerade die Vorstellungen von Alter und dem Älterwerden spielen eine wichtige Rolle für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Untersuchungsgruppe. 2.1.1 Gesellschaftliche Alterungsprozesse Der demografische Wandel umfasst drei wesentliche Bestimmungsfaktoren: Die Fertilität, also die Geburtenrate, die Mortalität im Sinne der Sterblichkeit und Lebenserwartung von Menschen sowie letztlich auch das Migrationsverhalten. Diese Parameter wirken sich auf die Altersstruktur einer Gesellschaft aus. Die Entwicklung der deutschen Bevölkerungsstruktur ist durch zwei wesentliche Phänomene gekennzeichnet: Zum einen folgte auf die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er Jahre und frühen 1960er Jahre (die Babyboomer-Generation) eine bis heute anhaltende Phase geburtenschwächerer Jahrgänge. Neben der anhaltend niedrigen Geburtenzahl ist die durchschnittliche Lebenserwartung der in Deutschland lebenden Menschen deutlich gestiegen.5 Im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen altert Deutschland dramatisch. Zum Jahresende 2008 waren 19 Prozent der Bevölkerung Kinder und junge Menschen unter 20 Jahren. Personen im Alter von 65 Jahren und älter stellten 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die übrigen 61 Prozent zählten zur
5
Bevölkerungsvorausberechnungen gehen gegenwärtig davon aus, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung zukünftig weiter fortsetzen, die Kurve allerdings deutlich abflachen wird. Die 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes nimmt an, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bis 2050 um 7 bis 8 Jahre zunehmen wird. Siehe: Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009 in Berlin, 2009, S. 30, eingesehen unter: http:// www.destatis.de (10.09.2011).
44 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20- bis 64-Jährige).6 Abbildung 1 zeigt, dass in der Bundesrepublik der Anteil der über 60-Jährigen seit Anfang der 1950er Jahre kontinuierlich anstieg. Parallel ging der Anteil der Kinder und Jugendlichen von rund 30 Prozent in den 1950er Jahren auf 20 Prozent zur Jahrtausendwende zurück. Der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 64 Jahren hielt sich über den Zeitraum hinweg nahezu konstant. In dem Maße, wie in Zukunft die (noch) geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen, nimmt der Anteil älterer Menschen zu. Laut der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird im Jahr 2060 jeder Dritte 65 Jahre oder mehr durchlebt haben. Es werden doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder geboren werden.7 Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung Deutschlands von 1952 bis 2050 nach Altersgruppen
* 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung bis 2050. Quelle: GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen, Basisdaten: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung, entnommen aus: Hoffmann, Elke; Mannig, Sonja: Wie alt ist Deutschland? – Ein Blick auf 100
6
Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lebenserwartung der Frauen in Deutschland (bei Geburt) bei 48 und die der Männer bei 45 Jahren lag, wird ein heute geborenes Mädchen statistisch 89,2 und ein Junge 85 Jahre alt. Vgl. ebd., S. 5.
7
Vgl. ebd.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
| 45
Jahre Bevölkerungsentwicklung, GeroStat Informationsdienst Altersfragen 1/2004, Herausgeber: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin.
Die gegenwärtige Generation im Ruhestand gehört zur reichsten, die es bisher in Deutschland gab – lediglich 2,5 Prozent der rund 17 Mio. über 65-Jährigen erhielten im Jahr 2009 die staatliche Grundsicherung.8 Historisch gesehen ist die sozialstaatlich gut abgesicherte (westdeutsche) Altenpopulation, deren Lebensweg mehrheitlich durch einen stetigen sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand in der Bundesrepublik geprägt ist, wohl eine einmalige Altengeneration. Der Reichtum dieser Generation gründet dabei nicht ausschließlich auf die monatlichen Ruhestandsleistung, vielmehr sind hierbei zudem Vermögenswerte aus Betriebsrenten, Renditen aus Geldanlagen sowie das abbezahlte Eigenheim mit zu berücksichtigen.9 In Zukunft ist davon jedoch auszugehen, dass durch Brüche und Diskontinuitäten in der Erwerbsbiografie sowie Arbeitslosigkeit Altersarmut wieder an Bedeutung gewinnen wird.10 Es ist vor allem das „junge Alter“, das als die Lebensphase des „unmerklichen Alterns“11 bezeichnet wird und klassisch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beginnt. Diese Lebensphase als „gewonnene Jahre“ rückt zunehmend in den Fokus.12 Als Konsumenten nehmen die „Woopies“ (well-off older people) in der „Seniorenwirtschaft“ einen zukunftsträchtigen Wachstumsfaktor ein. Galt lange Zeit die Vorstellung des sparsamen, bescheidenen älteren Verbrauchers, lösen die konsumfreudigen, in Teilen hedonistischen „jungen Alten“
8
Vgl. Goebel, Jan; Grabka, Markus M.: Zur Entwicklung der Altersarmut in Deutsch-
9
Die durchschnittliche Bruttopension im Jahr 2007 betrug für Männer 2.490 Euro, für
land, in: DIW Wochenbericht Nr. 25, 2011, S. 5. Frauen 2.410 Euro. Sie lag damit rund dreimal höher als die durchschnittliche Bestandsrente der Gesetzlichen Rentenversicherung. Vgl. ebd., S. 7. 10 Im August 2010 setzte die schwarz-gelbe Bundesregierung eine „Kommission zur Bekämpfung der Altersarmut“ ein. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird die Versorgung zumindest für die westdeutschen Rentner auch in Zukunft gewährleistet bleiben. Von erheblichen Verschlechterungen sind Rentner in Ostdeutschland betroffen. Vgl. Frick, Joachim; Grabka, Markus M.: Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, in: Wochenbericht des DIW, Nr. 4, 2009, S. 66. 11 Kaufmann, Franz-Xaver: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a. M. 2005, S. 239. 12 Vgl. Kocka, Jürgen: Alternde Gesellschaften oder Die gewonnenen Jahre, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, 9/ 2008, S. 4-9.
46 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
dieses Image ab.13 Bereits heute ist die Nachfrage der über 50-Jährigen an privaten Konsumgütern und Dienstleistungen für annährend 50 Prozent der Ausgaben verantwortlich.14 Die wachsende Bedeutung des sogenannten „Silver Market“ offenbart der Blick in Werbeanzeigen und Werbefilme. Unternehmen versuchen, das Kaufkraftpotenzial der älteren Verbraucher zunehmend zu nutzen und richten ihre Angebote verstärkt an den Bedürfnissen dieser Konsumentengruppe aus. Insbesondere die kaufkräftige und dynamische Gruppe der „Best Ager“ rückt in den Fokus der Werbeindustrie.15 Die Nachfrage der Älteren verändert Produkte, Dienstleistungen und mediale Angebote und über ihre Kaufentscheidungen wächst ihr Einfluss als stärkste Konsumentengruppe. Für die politischen Parteien wird die beschriebene demografische Entwicklung in erster Linie dadurch relevant, dass sich die Grundgesamtheit der Gesellschaft, aus der sie ihre Wähler mobilisieren und ihre Mitglieder rekrutieren, quantitativ zugunsten der Älteren verschiebt. Um Wahlen zu gewinnen, ist es für Parteien unerlässlich, diese Wählergruppe gezielt anzusprechen. 2.1.2 Was ist das Alter? Bilder vom Alter, Alterskohorten und Generationen – grundsätzliche Begriffsklärung
2.1.2.1 Strukturwandel des Alters Das Alter ist als Untersuchungskriterium nicht einfach zu definieren.16 Wie Backes und Clemens erörtern, wandelte sich die Wahrnehmung des Alters als Le-
13 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft, Berlin 2010, eingesehen unter: http://www.bmfsfj.de (11.11.2010), S. 460. 14 Die über 50-Jährigen werden Berechnungen zufolge im Jahr 2035 58 Prozent der Gesamtkonsumausgaben tätigen, während die unter 50-Jährigen nur noch einen Anteil von 42 Prozent ausmachen werden. Vgl. BMFSFJ (Hrsg.): Studie Wirtschaftsmotor Alter, Kurzfassung, Berlin 2010, eingesehen unter: http://www.bmfsfj.de/Redaktion BMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/endbericht-studie-wirtschaftsmotor-alter,property= pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (11.02.2011). 15 Dabei sind jedoch große Unterschiede in den individuellen Einkommens- und Vermögenslagen festzustellen. 16 Die Diskussion über das Alter könnte paradoxer nicht sein. Zugespitzt formuliert, werden mit dem Alter(n) apokalyptische Vorstellungen der zivilisatorischen Vergreisung bis hin zur Vision des ewigen Lebens assoziiert.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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bensphase seit der Phase der Vorindustrialisierung.17 In westlichen Arbeitsgesellschaften wird das Alter heute durch die sozialstaatlich organisierte Freistellung von Erwerbsarbeit ökonomisch und gesellschaftspolitisch abgegrenzt. Die auskömmliche materielle Fundierung und institutionelle Statuserlangung des Alters ist in Deutschland vor allem durch die Große Rentenreform von 1957 unter der Regierung Adenauer erlangt worden.18 Die staatliche Rente ist seither nicht mehr nur ein Zuschuss zum Lebensunterhalt, sondern übernahm eine Lohnersatzfunktion.19 Normativ und kulturell folgt nach dem Austritt aus den „verpflichtenden und legitimierenden Wertungen der Arbeitsgesellschaft aufgrund einer Altersgrenze oder vorhergehender Erwerbsunfähigkeit“20 der Eintritt in die darauf folgende Lebensphase der Ruhe und Erholung. Der Übergang in den Ruhestand markiert eine wesentliche Demarkationslinie im Lebenslauf, die erst dadurch eine kollektive soziale Alterserfahrung schafft: In Deutschland gilt der „Ruhestand als Bürgerrecht, als Bestandteil unserer Zivilisation“21. Hinter dem demografischen Altern der Gesellschaft steht ein multikomplexes, heterogenes Phänomen. Tews charakterisiert den Strukturwandel des Alters anhand von fünf Dimensionen: Die zeitliche Ausdehnung der Lebensphase außerhalb des Erwerbslebens, die subjektive Verjüngung des Alters, die Feminisierung des Alters durch die höhere Lebenserwartung von Frauen, die Singularisierung im Al-
17 Im gesellschaftlichen Kontext ist Alter allgemein als ein „Ergebnis gesellschaftlicher Dynamik und Entwicklungsgeschichte“ zu verstehen. Siehe hierzu: Backes, Gertrud M.; Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter − Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, Weinheim 2003, S. 16. 18 Allerdings orientierten sich die bedarfsdeckenden und statussichernden Lohnersatzleistungen in Form von Renten und Pensionen an der männlichen Normalbiografie. Die Große Rentenreform, die auf dem integrierenden Solidar-Vertrag zwischen erwerbstätiger und noch nicht sowie nicht mehr erwerbstätiger Generation basiert, begegnete erstmals als „Volkssicherung“ der potenziellen Gefahr vor Armut im Alter und entsprach damit dem Sicherheitsbedürfnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Vgl. Göckenjan, Gerd: Zur Wandlung des Altersbildes seit den 1950er Jahren im Kontext und als Folge der Großen Rentenreform von 1957, in: Deutsche Rentenversicherung, 2-3, 2007, S. 131. 19 Vgl. May, Christina: Generation(en) 1957? − Die Rentenreform als Ausgangspunkt einer Kohortenprägung im Nachkriegsdeutschland, in: Deutsche Rentenversicherung, 2-3, 2007, S. 143-157. 20 Göckenjan, Gerd; Hansen, Eckhard: Der lange Weg zum Ruhestand, in: Zeitschrift für Sozialreform, 12, 1993, S. 725-755. 21 Backes, Gertrud M.; Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter, S. 13.
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ter sowie die Zunahme von Hochaltrigen und Langlebigen.22 Bäcker u.a. ergänzen die differenzierte Betrachtung nach sozialen, ökonomischen, gesundheitlichen und klassenspezifischen Unterschieden sowie ethnisch-kulturellen Aspekten (Tabelle 2).
Tabelle 2: Strukturwandel des Alters in sieben Dimensionen Zeitliche Ausdeh-
Durch Frühverrentungspolitik insbesondere bis Mitte der 1990er
nung der Alters-
Jahre und die Verlängerung der Lebenserwartung verlängert sich
phase
die Lebensdauer in der Ruhestandsphase im Schnitt auf ein Viertel der Lebenszeit.
Differenzierung
Mit dem Übergang in den Ruhestand bleiben soziale, ökonomi-
des Alters
sche, gesundheitliche und klassenspezifische Unterschiede bestehen. Die Altenpopulation ist somit eine äußerst heterogene Gruppe.
Ethnisch-kulturelle Bedingt durch die Alterung von Migranten in Deutschland wanDifferenzierung
delt sich auch die kulturelle Zusammensetzung der Altenpopula-
des Alters
tion.
Verjüngung
Ein Großteil der heutigen 60- bis 70-Jährigen nimmt sich selbst
des Alters
nicht als „alt“ wahr, subjektiv fühlen sie sich „jünger“. Die Verbesserung der Lebensqualität durch den medizinischen Fortschritt unterstützt diese subjektive Einschätzung.
Feminisierung
Aufgrund der längeren Lebenserwartung von Frauen überwiegt
des Alters
ihr Anteil an der Bevölkerungsgruppe der über 65-Jährigen.
Singularisierung
Im Alter verändern sich die sozialen Bezugspunkte der Men-
des Alters
schen: 40 Prozent der über 65-Jährigen leben alleine, darunter 85 Prozent Frauen.
Hochaltrigkeit
Die längere Lebenserwartung der Menschen führt zu einem Anstieg der (hoch)betagten Menschen. Zugleich nimmt die Anzahl Hilfs- und Pflegebedürftiger zu.
Quelle: Bäcker, Gerhard u.a.: Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Band 2: Gesundheit, Familie, Alter und Soziale Dienste, Wiesbaden 2010, S. 362-363.
Um das chronologische Alter genauer zu klassifizieren, ist auf den Prozess des Alterns näher einzugehen. Die Einteilung von Altersstadien kann nicht anhand des kalendarischen Alters erfolgen, da der Beginn und die zeitliche Ausdehnung der einzelnen Altersphase bei jedem Menschen unterschiedlich verlaufen. Um Alter
22 Vgl. Tews, Hans Peter: Die Alten und die Politik, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Die ergraute Gesellschaft, Berlin 1987, S. 141-188.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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dennoch idealtypisch in Stadien zu gliedern, existieren in der Altersforschung Teilgruppen des funktionalen Alters. Rosenmayr unterscheidet zwischen einem chancenreichen dritten Alter, einem eingeschränkten vierten Alter, in dem die Selbstkompetenz weiter erhalten bleibt und einem abhängigen fünften Lebensalter, das mit einer Abnahme der Selbstkompetenz einhergeht.23 Diese Unterscheidung korreliert mit der idealtypischen Einteilung in die Gruppen der „jungen Alten“, der „Alten“ und der „alten Alten“.24 Für jede dieser Gruppen gelten jeweils spezifische altenpolitische Konzepte und individuelle Lebenspläne. Die jungen Alten, die heute 60- bis 70-Jährigen, verfügen über Fähigkeiten und Kompetenzen, Leistungen für andere zu erbringen. Die „Alten“ im Lebensalter etwa zwischen 70 und 80 Jahren benötigen zwar noch keine fremde Hilfe, sind jedoch in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Die hochaltrigen „alten Alten“ im fünften Lebensalter benötigen in der Regel ambulante oder stationäre Hilfe. Diese Unterscheidung ist bei der Betrachtung der Aktiven in den Parteien von Bedeutung. Während Parteimitglieder im vierten Lebensalter aufgrund ihrer physischen Verfassung das Engagement ruhen lassen bzw. ihm lediglich passiv nachgehen, sind die „jungen Alten“ Träger relevanter Organisationsressourcen.
2.1.2.2 Wer sind „die Älteren“? Überlegungen zu Alterskohorten, Altersgruppen und Generationen Die Einteilung in funktionale Altersstadien erfasst die Lebensphase Alter in einem statistischen Sinne. Um diese Lebensphase als ein Ergebnis gesellschaftlicher Dynamik und biografischer Entwicklungsgeschichte zu verstehen, sind die Angehörigen der verschiedenen Altersgruppen bzw. -kohorten im soziohistorischen Kontext und ihrer Generationszugehörigkeit zu betrachten. Der Begriff Altersgruppe drückt die Zugehörigkeit von Personen zu der Gruppe der „Jungen“ oder der „Alten“ zu einem bestimmten Zeitpunkt aus. Alterskohorten fassen die Angehörigen benachbarter Geburtsjahrgänge zusammen.25 Jede Kohorte zeichnet sich durch jeweils spezifische Eigenarten, wie Größe, Zusammensetzung und biografische Erfahrungen aus, die jeweils die historischen Gegebenheiten widerspiegeln.26
23 Rosenmayr, Leopold: Altern im Lebenslauf: soziale Position, Konflikt und Liebe in den späten Jahren, Göttingen 1996, S. 75. 24 Im Amerikanischen lautet die Bezeichnung dieser drei Altersgruppen: die go gos, die slow gos und die no gos. Vgl. Korte, Elke: Das neue Altern, S. 275. 25 May, Christina: Generation(en) 1957?, S. 144. 26 Riley, Mathilda; u.a. 1992, zitiert nach Kruse, Andreas; Schmitt, Eric: Lebensläufe und soziale Lebenslaufpolitik in psychologischer Perspektive, in: Naegele, Gerhard (Hrsg.): Soziale Lebenslaufpolitik, Wiesbaden 2010, S. 140.
50 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Der klassische soziologische Generationenbegriff Karl Mannheims geht einen Schritt weiter und betrachtet Angehörige benachbarter Geburtskohorten im Kontext von sozialhistorischen Ereignissen und gesellschaftlichen Entwicklungen, mit denen sie „im Laufe ihres Lebens mit jeweils ähnlichen Zeitumständen in bestimmten Lebensaltern“27 konfrontiert wurden. Mannheim unterscheidet zwischen der Generationenlagerung, dem Generationenzusammenhang und der Generationeneinheit. Personen, die einer gemeinsamen Lagerung angehören, verbindet das Geborensein und das gemeinschaftlich Erlebte in einem bestimmten politischen und sozialen Kontext. Ein kollektiv wahrgenommener Generationenzusammenhang entstehe durch die „Partizipation an gemeinsamen Schicksalen“, der durch eine geteilte Interpretation und Wahrnehmung von gemeinsam Erlebten zu einer Generationeneinheit führt.28 Zur „politischen Generation“ führt Fogt weiter aus: „Wir fassen darunter im folgenden diejenigen Mitglieder einer Altersgruppe oder Kohorte, die – mit bestimmten Schlüsselerlebnissen konfrontiert – zu einer gleichgesinnten bewußten Auseinandersetzung mit den Leitideen und Werten der politischen Ordnung gelangten, in der sie aufwuchsen. (...) Politische Generationen weisen einen Grundbestand gemeinsamer Einstellungen, Verhaltensdispositionen und Handlungspotentiale auf, von Normen und Werten, die politisch von Relevanz und Einfluss sind. Die historisch-politischen Erfahrungen und Erinnerungen setzen sich in ein kollektives Muster typischer politischer Orientierungen um. (...) Jede politische Generation bildet eine spezifische, relativ eigenständige «politische Kultur» aus“29.
Generationen stellen damit Kategorien dar, die „in einer zunehmend kontingenter werdenden gesellschaftlichen Ordnung einen biografischen Orientierungsrahmen für die individuelle Lebensführung“ schaffen.30 Die Zuordnung zu einer bestimmten Generation ermöglicht infolgedessen eine „gesellschaftliche Selbst-
27 Kaufmann, Franz-Xaver: Was meint Alter? Was bewirkt demographisches Altern?. Soziologische Perspektiven, in: Häfner, Heinz; Staudinger, Ursula (Hrsg.): Was ist Alter(n)?: Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin 2008, S. 122. 28 Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen, in: Ders.: Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 509-566. 29 Fogt, Helmut: Politische Generationen, Opladen 1982, S. 21. 30 Kohli, Martin: Generationen in der Gesellschaft, in: Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL), Forschungsbericht 73, Berlin 2003, S. 4, eingesehen unter: www. uni-kassel.de/fb4/issl/.../Kohli+Generationen+in+der+Gesellschaft.pdf (11.01.2010).
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
| 51
und Fremddefinition“31. Anlehnend an der von Fogt inhaltlich begründeten Generationeneinteilung und der darin enthaltenen Prägungshypothese wird in Tabelle 3 versucht, die jeweils spezifisch geprägte Generationeneinheit mit der Untersuchungsgruppe in Verbindung zu bringen. Tabelle 3: Geburtsjahrgänge, Generationen, Altersgruppen und -phasen in Westdeutschland Jahr-
Generationenein-
Gesellschaftliche u. po- Altersko-
gänge
heit bzw.
litische Prägungen
horte im
-zuordnung
während Kindheit/
Jahr 2010
Altersgruppe heute
als Jugendliche ~1914-
Zwischenkriegs-
Weimarer Republik/
81- bis 96-
1929
generation
Machtergreifung/
Jährige
Hochaltrige
Nazi-Diktatur ~1930-
Zweiter Weltkrieg/
NS-Diktatur/
72- bis 80-
1938
Wiederaufbauge-
Zweiter Weltkrieg/
Jährige
neration/„skeptische
Kriegsende/
Alte/Ältere
Generation“ (Helmut Besatzungszeit/ Schelsky)/AdenauerGeneration ~1939-
„68er“-Genera-
Besatzungszeit/
60- bis 71-
„junge
1950
tion/APO-
Wiederaufbau/
Jährige
Alte“
Generation/
Wirtschaftswunder/ 41- bis 59-
„mittleres
Jährige
Alter“
28- bis 40-
„Erwachs-
Protestgeneration
Studentenbewegung
~1951-
„Babyboomer“/
Erste Wirtschaftskrise,
1969
Generation der Sozi- Ölkrise/Bildungsalen Bewegung
expansion/RAF/Neue Soziale Bewegungen
~1970-
Post-Boomer bzw.
Arbeitslosigkeit/
1982
„Generation Golf“
Globalisierung/Krise des Jährige
(Florian Illies)
Wohlfahrtsstaates
„Generation 89“
Mauerfall/
jünger als
„junge
und
Deutsche Einheit/
27 Jahre
Erwachsen-
später
Wirtschaftskrise
~1983
enenphase“
enphase“
Quelle: Fogt, Helmut: Politische Generationen, Opladen 1982; Heuel, Guido: Die Bedeutung des demografischen Wandels für die innerparteiliche Partizipation, Repräsentanz und
31 Ebd.
52 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Themenstellung der älteren Parteimitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, S. 123 sowie Klein, Markus: Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 55, Heft 1, 2003, S. 99-115, eigene Überlegungen und Darstellung.
Personen, die etwa bis 1929 geboren worden sind, erfuhren prägende Eindrücke in Jugendjahren während des Nationalsozialismus, der Weimarer Republik oder in Ausnahmefällen gar noch im Kaiserreich. Sie können als die heute Hochaltrigen bezeichnet werden. Die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1938 werden zur Kriegs- bzw. Falkhelfergeneration zusammengefasst. Sie wurden durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs maßgeblich sozialisiert und wuchsen während der Jahre des Wiederaufbaus auf. Heute stehen sie in ihrem siebten Lebensjahrzehnt. Die „68er“-Generation wurde maßgeblich durch die Studentenbewegung geprägt. Politisch charakteristisch für sie ist laut Klein ein postmaterialistisch dominierender Werte-Kodex.32 Diese Generation stellt die heute „jungen Alten“, die mittlerweile mehrheitlich aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Als Sozialstaatsgeneration sind die nun in die Jahre gekommenen „68er“ die „eigentlichen Profitierungskohorte“ der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung der nachkriegsdeutschen Arbeitnehmergesellschaft.33 Die zahlenmäßig starke Generation der Babyboomer, die ab 2015 nach und nach in den Ruhestand übergeht, wuchs in der politischen Hochphase der Friedens- und Umweltschutzbewegung auf. Ihre Angehörigen sind heute zwischen 40 und 60 Jahre alt.
32 Klein, Markus: Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 55, Heft 1, 2003, S. 99-115. 33 Bude, Heinz: Generation: Elemente einer Erfahrungsgeschichte des Wohlfahrtsstaats, in: Lessenich, Stephan (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. 2003, S. 298.
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2.1.3 Die „jungen Alten“ als „neue“ alte Träger der Zivilgesellschaft „Warum schreibt man nicht einfach, Chuck ist 62 und hat Probleme, zu pissen? In die Jahre gekommen heißt doch: Er hat einiges erlebt. Meistens schwingt noch mit: Er ist ruhiger geworden. Stimmt gar nicht. Er ist immer noch leicht entzündlich, und vor allem besteht er immer noch darauf, dass das Leben ihm gehört“34.
Nicht alleine die ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Rahmenbedingungen der heutigen Altenbevölkerung haben sich geändert, auch die Rezeption vom Alter und dem Älterwerden unterliegt einem Wandel. Diese Vorstellungen kommen in Altersbildern zum Ausdruck, die wesentliche und zugleich typische Merkmale sowie das Positive wie Negative des Alters formelhaft zusammenfassen.35 Altersbilder treten als kollektive Deutungsmuster in organisationalen und institutionellen Kontexten, in der persönlichen Interaktion sowie in individuellen Vorstellungen und Verhaltensweisen auf. In Organisationen wie Parteien werden sie für das Alltagsleben relevant, indem sie kollektiv bestimmen, welche sozialen Rollen „für welches Alter «angemessen» sind“36. Altersbilder spiegeln sich in der Programmatik und in der Interaktion der Mitglieder in Organisationen wider und prägen auf diese Weise organisationales Handeln. In der Imagination des Älterwerdens sind gleichwohl nicht nur Wissenselemente erfasst. In ihnen wirken „affektiv-evaluative Elemente“37, denn Individuen sowie Gruppen deuten, bewerten und gestalten durch soziale Interaktion Altersbilder. Im sogenannten Defizitmodell auf der einen und dem Kompetenzmodell auf der anderen Seite lassen sich die vielfältigen Altersstereotypen diametral verorten. Im Defizitmodell steht Altsein für all die Dinge, „die in unserer Gesell-
34 Der Schriftsteller Wolfgang Wondratscheck, Jahrgang 1943, über sein Alter Ego „Chuck“ aus seinem 1974 erschienen Buch „Chucks Zimmer“, zitiert in: Gertz, Holger: Ach, in: Süddeutsche Zeitung, 26./27.3.2011. 35 Altersbilder beinhalten immer auch visuelle Wahrnehmungen des Älterwerdens von Körpern, da der Körper ein „unmittelbares Medium“ für die Erfahrung des Alter(n)s ist. Vgl. ebd. 36 BMFSFJ (Hrsg.): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, S. 37. 37 Filipp, Sigrun-Heide; Mayer, Anne-Kathrin: Zur Bedeutung von Altersstereotypen, in: APuZ, 2005, 49-50, S. 25.
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schaft nicht erstrebenswert sind: Vereinsamung, Armut, Krankheit, Einschränkung und körperlicher und geistiger Vitalität und Verlust an Schönheit“38. Im Kompetenzmodell werden die Kompetenzen und Potenziale von Qualifikationen und Lebenserfahrung der Älteren herausgestellt. Dieses Altersbild wird heute vor allem durch die „jungen Alten“ verkörpert. Die Mehrheit dieser Altersgruppe ist überwiegend materiell gut abgesichert, aktiv, fit und mobil und nimmt am gesellschaftlichen Leben teil. Die um 1940 Geborenen erlebten das Ende des Zweiten Weltenkrieges als Kinder, viele erprobten als Heranwachsende 1968 den Aufstand, nahmen dann aber spätestens zur Familiengründung den Weg in ein bürgerliches Leben. Es ist keine Seltenheit mehr, dass Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bei guter Gesundheit zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre im Ruhestand leben. Steigender Wohlstand, gesündere Ernährung, humanere Arbeitsbedingungen, verbesserte Hygiene, der Ausbau der sozialen Sicherung und Fortschritte bei der medizinischen Vorsorgung sind als Rahmenbedingungen maßgeblich verantwortlich für einen noch nie da gewesenen Prozess des gesellschaftlichen Alterns. Älterwerden und alt sein bedeutet heute etwas ganz anderes als vor 100 Jahren.39 Heutzutage ist mit dem Alter nicht nur eine bestimmte Lebensphase – die Zeit nach dem Ende des Arbeitslebens – gemeint, sondern auch eine spezifische Lebensform. Die „jungen Alten“ fühlen sich als „Alte“ nicht angesprochen.40 Dies zeigt sich in der Suche nach einem möglichst neutralen Sammelbegriff, um auch einer möglichen Alterssegregation entgegenzuwirken.41 In CDU und SPD werden über
38 Druyen, Thomas: Olymp des Lebens, S. 31. 39 BMFSFJ (Hrsg.): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, S. 49. 40 Sprache ist ein wichtiges Medium für Altersbilder. Stereotype und Vorurteile werden in Aussagen über alte Menschen verallgemeinert und in der Interaktion zwischen Menschen weitergegeben. 41 Hans Peter Tews legt dar, dass der Begriff „Senior“ laut Befragungsergebnisse für die Gruppe der „jungen Alten“ Hochkonjunktur erfährt und offenbar für die 10-JahresPhase nach der Berufsaufgabe reserviert ist. In den USA wurde Anfang der 1980er Jahre über den sprachlichen Gebrauch von Alter in der sogenannten „ageism“-Debatte diskutiert. Ageism meint die auf das Alter bezogene Diskriminierung. Manche Gerontologen konstatierten eine negativ konnotierte Zuschreibung des Alters. Vgl. Tews, Hans Peter: Altersbilder. Über Wandel und Beeinflussung von Vorstellungen vom und Einstellungen zum Alter, Köln 1995, S. 28.
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60-Jährige als Senioren bezeichnet, der berufliche bzw. soziale Status als Empfänger einer Sozialstaatsleistung bleibt dabei unberücksichtigt. Das bürgerschaftliche Engagement dieser Altersgruppe erfährt in jüngster Zeit erhöhte Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu früheren Generationen sind es ihre Kompetenzen und Ressourcen etwa in Form von Erfahrungswissen, die bei der Gestaltung des Gemeinwesens genutzt werden können. Olk sieht in der politischen Partizipation der Älteren einen Weg, die Demokratie zu stärken und der „Politikverdrossenheit“ entgegen zu wirken.42 Dagegen problematisieren von Dyk und Lessenich den aktivierenden Charakter des hier zugrunde liegenden Altersbildes und kritisieren die „neue, produktivistische Moralökonomie des Alter(n)s“ als Entwicklung „vom Rentner zum Arbeitskraftunternehmer in der Aktivgesellschaft“43. Die neoliberale Konnotation, die sich hinter dem Appell einer stärkeren Beteiligung gerade dieser Altersgruppe verberge, ziele darauf ab, Kürzungen im Netz der sozialen Daseinsvorsorge durch ehrenamtliche Kräfte zu kompensieren. Die Freiwilligensurveys (1999, 2004, 2009) sowie der Fünfte und Sechste Altenbericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland unterstreichen die überdurchschnittlich gestiegene Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement älterer Menschen.44 2009 engagierten sich 37 Prozent der 60- bis 69-Jährigen in Verbänden und Vereinen. Das ist im Vergleich zu 1999 ein Anstieg um sechs Prozent.45 In keiner anderen Altersgruppe ist ein ver-
42 Olk, Thomas: Bürgerschaftliches Engagement im Lebenslauf, in: Naegele, Gerhard (Hrsg.): Soziale Lebenslaufpolitik, Wiesbaden 2010, S. 656. 43 Lessenich, Stephan: Vom Rentner zum Arbeitskraftunternehmer, Vortrag am 31.05.2005 am Deutschen Zentrum für Altersfragen, eingesehen unter: http://www. dza.de/uploads/media/Praesentation_von_S_Lessenich.pdf (21.08.2011). Siehe auch: Dyk, Silke van; Lessenich, Stephan: Die jungen Alten: Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009. 44 Allgemein kann bürgerschaftliches Engagement als ein Sammelbegriff für ein weit gefächertes Spektrum verschiedenartiger Formen und Spielarten freiwilliger, unentgeltlicher und gemeinwohlorientierter Aktivitäten gelten, denen man häufig auch einen Selbsthilfecharakter zumindest implizit zuschreibt. BMFSFJ (Hrsg.): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Bericht der Sachverständigenkommission, Berlin 2005, eingesehen unter: http://www.bmfsfj.de (21.09.2009), S. 341. 45 BMFSFJ (Hrsg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement, S. 155.
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gleichbarer Zuwachs zu beobachten. Das Engagement der 70- bis 75-Jährigen stieg im selben Erhebungszeitraum von 20 auf 25 Prozent. Erst in späteren Jahren nimmt die Beteiligung ab. Vor allem in den Bereichen Kirche und Soziales am Wohnort beteiligen sich Ältere. Männer engagieren sich dabei häufiger und intensiver als gleichaltrige Frauen vor allem in den Bereichen Politik und Ökologie. 46 Abbildung 2: Engagement nach Altersgruppen 1999, 2004 und 2009 (in Prozent)
Quelle: BMFSFJ (Hrsg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement, vorgelegt von TNS Infratest Sozialforschung, München 2010.
Nicht nur die mittlerweile mehrheitlich im Ruhestand befindliche „68er“Generation engagiert sich in hohem Maße, auch die nachfolgende BabyboomerGeneration zeigt eine hohe Engagementbereitschaft.
46 BMFSFJ (Hrsg.): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, S. 341; BMFSFJ (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004, Berlin 2006, eingesehen unter: www.bmfsfj.de (16.03.2008), S. 16.
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Tabelle 4: Engagementquoten nach Geburtsjahrgängen in den Jahren 1999 und 2004 (in Prozent) Jahrgänge
1999
2004
Zwischenkriegsgeneration (1914-1929)
21,1
18,6
2. Weltkrieg (1930-1938)
30,5
30,9
„68er“-Generation (1939-1950)
38,1
38,5
Babyboomer (1951-1969)
37,5
41,1
Post-Boomer (1970-1982)
35,0
32,2
Geboren 1983 und später
35,1
37,8
Insgesamt
33,9
35,7
Quelle: BMFSFJ (Hrsg.): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), Berlin 2009, eingesehen unter: http://www.bmfsfj.de (21.09.2009), S. 41, Datenbasis: Freiwilligensurvey 1999 und 2004.
Die Vermutung liegt nahe, dass nach dem Übergang in den Ruhestand die nun frei verfügbare Zeit einen Neubeginn bzw. eine Erweiterung des Engagements begünstigt und viele „Neu-Rentner“ in einem Ehrenamt neue Orientierung und Sinnstiftung suchen. Zu diesem „Ruhestandseffekt“ finden sich in der internationalen Forschungsliteratur allerdings ambivalente Befunde. Erlinghagen hat den Zusammenhang zwischen Zeitressourcen und sozialem Engagement für Deutschland empirisch überprüft und kommt zu dem Schluss, dass die Rolle des Renteneintritts überschätzt wird. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit, sich nach dem Berufsleben freiwillig zu engagieren, dann höher, wenn bereits in früheren Jahren aktiv Erfahrungen gesammelt wurden.47 Relevante Determinanten seien vielmehr Bildung und Gesundheit. Wie sich die Untersuchungsgruppe heute engagiert, ist eng an ihren historisch besonderen Erfahrungshintergrund geknüpft, das unterstreicht der Freiwilligensurvey 2009 in einer Längsschnittperspektive.48
47 Vgl. hierzu Erlinghagen, Marcel: Soziales Engagement im Ruhestand: Erfahrung wichtiger als frei verfügbare Zeit, in: Wochenbericht des DIW, Nr. 39, 2007, S. 565570 sowie Erlinghagen, Marcel: Soziales Engagement im Ruhestand: Erfahrung wichtiger als frei verfügbare Zeit, in: Kocka, Jürgen; Kohli, Martin; Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Altern in Deutschland. Band 8: Altern: Familie, Zivilgesellschaft, Politik, Stuttgart 2009, S. 211-220. 48 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009, S. 160.
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Ältere engagieren sich nach wie vor überwiegend in traditionellen Engagementformen und in nicht-altersspezifischen Bereichen wie Sport, Religion oder Kultur. Auch im politischen Bereich sind sie überproportional vertreten.49 Sie scheinen auch im Alter bestimmte Engagementformen beizubehalten, die sie sich im Laufe ihres Lebens angeeignet haben. Außerdem herrscht bei vielen der über 60-Jährigen die Grundhaltung der sozialen Pflicht, auch äußern sie im Vergleich zu den jüngeren Altersgruppen häufiger politische Motive für ihr Engagement, was insgesamt auch mit einem höheren politischen Interesse einhergeht.50 Politisch motiviertes Engagement wird von vielen als Möglichkeit gesehen, die „Gesellschaft zumindest im Kleinen mitzugestalten“51. An unkonventionellen Formen der politischen Partizipation oder auf das Alter bezogenes Engagement – wie etwa in Altenselbsthilfegruppen, Rentnerparteien und Seniorenvertretungen – beteiligt sich allerdings bislang nur eine sehr kleine Minderheit.52 Dies bedeutet keineswegs, dass ältere Menschen insgesamt allein traditionelle Engagementformen bevorzugen. Studien unterstreichen, dass auch viele Ältere projektbezogene, auf eine bestimmte Zeit begrenzte Aktivitäten vermehrt vorziehen.53 Das traditionelle, „alte“ Ehrenamt ist, so Olk, „in überkommene Sozialmilieus eingebunden und durch gesellschaftliche Zentralwerke legitimiert; es ist hoch organisiert, in fest gefügte Formen der Kooperation und Arbeitsteilung eingebaut und unterliegt oft genug den Weisungen und der Aufsicht professioneller und hauptamtlicher Mitarbeiter“54. Während das „traditionelle Ehrenamt“ vorrangig
49 Vgl. Erlinghagen, Marcel: Soziales Engagement im Ruhestand, 2009, S. 219. 50 Vgl. Gensicke, Thomas; Picot, Sibylle; Geiss, Sabine: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004: Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. In Auftrag gegeben und herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Wiesbaden 2007, S. 287ff. 51 Die Älteren in Ostdeutschland sind häufig stärker politisch engagiert als ihre Altersgenossen in Westdeutschland. Vgl. Olk, Thomas: Bürgerschaftliches Engagement im Lebenslauf, S. 660. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009, S. 157. 54 Olk, Thomas: Modernisierung des Engagements im Alter – Vom Ehrenamt zum bürgerschaftlichen Engagement?, in: Institut für Soziale Infrastruktur (ISIS): Praxisbeiträge zum bürgerschaftlichen Engagement im Dritten Lebensalter, Band 13: Grundsatzthemen der Freiwilligenarbeit. Theorie und Praxis des sozialen Engagements und seine Bedeutung für ältere Menschen, Stuttgart 2002, S. 27.
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eine „Tätigkeit für andere“ darstellt, zielt das „neue Ehrenamt“ auf eine „Tätigkeit für sich und für andere“ ab.55 Das Engagement der Alten wird aller Voraussicht insgesamt weiter zunehmen, wobei deren Ansprüche auf aktive Partizipation wachsen werden.56 Die charakterisierte Gruppe gehört hingegen nicht zu denjenigen, die die stärkste gesellschaftliche Benachteiligung, etwa aufgrund ihres Alters erfährt. Im Gegenteil, die aktiven „jungen Alten“ entstammen meist gehobenen sozialen Milieus mit überdurchschnittlichem Bildungs- und Einkommensniveau.57 Heinze konstatiert: „Je gehobener der bildungsbezogene, berufliche und ökonomische Status einer Person ist, desto eher wird diese ehrenamtlich tätig“58. Mit dem Wandel der Engagementformen hin zu zeitbegrenzten Projekten und Selbstverwirklichung sind auch Parteien konfrontiert, die als Mitgliederorganisationen auf die Beteiligung von Ehrenamtlichen insbesondere in Wahlkampfzeiten dringend angewiesen sind. Bei abnehmender Bindungskraft der traditionellen Milieus stehen sie auf dem „Mitgliedermarkt“ in Konkurrenz mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bürgerbewegungen und sind derart gefordert, sich zu attraktiven, beteiligungsfreundlichen Institutionen zu wandeln. Es reicht nicht mehr aus, von einer uneingeschränkten Fortsetzung des Engagements der Mitglieder in ein und derselben Organisation auszugehen. Vielmehr sei „ein ausgeklügeltes System an organisatorischen und finanziellen Anreizen“59 zu schaffen, um das Niveau der ehrenamtlichen
55 Braun u.a. zitiert nach Künemund, Harald: Vom „Ehrenamt“ zum „bürgerschaftlichen Engagement“ – individuelle, organisationelle und gesellschaftliche Perspektiven, in: Menke, Barbara; Länge, Theo W. (Hrsg.): Aus freien Stücken! Motivation und Qualifikation von älteren Erwachsenen für das bürgerschaftliche Engagement. Recklinghausen: Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation (FIAB) an der Ruhr-Universität Bochum, 2007, S. 129. 56 Künemund, Harald: Partizipation und Engagement älterer Menschen, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Gesellschaftliches und familiäres Engagement älterer Menschen als Potential. Expertisen zum Fünften Altenbericht der Bundesregierung. Band 5, Berlin 2006, S. 348. 57 BMFSFJ (Hrsg.): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, 2009, S. 42. 58 Heinze, Rolf: Altenberichtskommission, in: BAGSO (Hrsg.): Potenziale des Alters. Strategien zur Umsetzung der Empfehlungen der 5. Altenberichtskommission. Dokumentation der Fachtagung vom 7. November 2005, Publikation Nr. 18, Bonn 2006, S. 48. 59 Klatt, Rüdiger: Auf dem Weg zur Multibranchengewerkschaft: Die Entstehung der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie aus kultur- und organisationssoziologischer Perspektive, Münster 1997, S. 63.
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Tätigkeit aufrecht zu halten, so resümiert Klatt mit Blick auf das ehrenamtliche Engagement in den Gewerkschaften. Diese Überlegungen hinsichtlich der Erweiterung von Partizipationsmöglichkeiten der „jungen Alten“ könnten auch für die Parteien greifen. 2.1.4 Die machtvollen Wähler – Das Wahlverhalten der über 60-Jährigen Im Wettbewerb um Wählerstimmen werden Parteien aller Couleur das Altern der Wählerschaft fest vor Augen haben. Das Durchschnittsalter der deutschen Wählerschaft stieg von 47,2 Jahren im Jahr 1953 auf 50,7 Jahre bei der Bundestagswahl 2009 an – mit steigender Tendenz.60 Der Anteil der über 60-jährigen Wahlberechtigten kletterte von rund 27 Prozent bei der ersten Bundestagswahl 1949 auf 32,8 Prozent im Jahr 2009.61 Wähler bis 30 Jahre stellten bei der letzten Wahl dagegen lediglich rund 16,4 Prozent am Elektorat.62 Im Jahr 2040 sind Berechnungen zufolge 40 Prozent aller Wahlberechtigten 60 Jahre oder älter.63 Eine kleiner werdende Gruppe unter 30-Jähriger steht einer großen Gruppe älterer Wähler gegenüber.64 Angesichts dieser Entwicklung ist die Frage berechtigt, ob ältere Wähler ihrem zahlenmäßigen Gewicht auch in elektoralen Entscheidungen Ausdruck verleihen. Gehen in einer alternden Gesellschaft Wahlen automatisch zugunsten der älteren Menschen und zu Lasten der Jüngeren aus?
60 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Altern und politische Partizipation, in: Kocka, Jürgen; Kohli, Martin; Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Altern in Deutschland. Band 8: Altern: Familie, Zivilgesellschaft, Politik, Stuttgart 2009, S. 275. 61 Bundeswahlleiter: Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen (Heft 4), eingesehen unter: http://www.bundeswahlleiter.de/de/ bundestagswahlen/BTW_BUND_09/veroeffentlichungen (22.02.2010), S. 8. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. Künemund, Harald: Partizipation und Engagement älterer Menschen, S. 289. 64 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird das stellvertretende Elternwahlrecht für Kinder diskutiert. Vgl. Goerres, Achim; Tiemann, Guido: Kinder an die Macht? Die politischen Konsequenzen des stellvertretenden Elternwahlrechts, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 50, Nr. 1/2009, S. 50-74.
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Abbildung 3: Wahlbeteiligung nach Altersgruppen bei Bundestagswahlen 1953 bis 2009
Quelle: Bundeswahlleiter: Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen (Heft 4), 2010. Bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998 wurden keine repräsentativen Erhebungen durchgeführt. 1953 bis 1969: Altersgruppe 18-20 Jahre noch nicht wahlberechtigt; 1953-1961 wurde in der Altersgruppe 30-34 Jahre statistisch die Altersgruppe 30-39 Jahre zusammengefasst, ebenso beinhaltet die Altersgruppe 40-44 Jahre im selben Zeitraum die Altersgruppe 40-49 Jahre, eigene Darstellung, nicht alle Bundestagswahlen.
Ältere Bürger beteiligen sich zudem überdurchschnittlich an Wahlen. Bei Bundestagswahlen lag die Wahlbeteiligung der Wähler im sechsten Lebensjahrzehnt bislang regelmäßig über 80 Prozent (Abbildung 3). Wie unterschiedlich Jüngere und Ältere zur Wahl gehen, veranschaulicht exemplarisch die Bundestagswahl im Jahr der Wiedervereinigung: Damals lag die Wahlbeteiligung im Durchschnitt bei 76,3 Prozent, die bis dahin niedrigste Teilnahme. Von den über 60bis 69-Jährigen gaben 86,5 Prozent ihre Stimme ab, von den 18 bis 25-Jährigen hingegen nur 63,3 Prozent. Festgehalten werden kann: Während sich die Wahlbeteiligung bei den Geschlechtern mehr und mehr angleicht, nimmt das Altersgefälle zu. Gingen vier von fünf 60- bis 69-Jährige bei der Bundestagswahl 2009 wählen, so waren es bei den 21- bis 24-Jährigen nicht einmal drei von fünf.65 Die Wahlforschung liefert zwei Ansätze, um die Altersunterschiede im Wahlverhalten zu erklären: die Position des Individuums im Lebenszyklus sowie
65 Vgl. Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2009 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, in: ZParl, 2010, 47. Jg., 1, S. 95.
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die Zugehörigkeit zu einer Geburtenkohorte. Die erste These erklärt die Unterschiede zwischen Jung und Alt damit, dass Alters- bzw. Lebenszykluseffekte als direkte Korrelate des Alterns existieren. Politische Präferenzen, Einstellungen und individuelle Wahlentscheidungen orientieren sich zyklisch an bestimmten Lebensabschnitten, so die Annahme. Solche Effekte seien auf soziale Verhaltensmuster oder psychologische Erfahrungen im Lebensverlauf zurückzuführen.66 Winston Churchill sagt man nach, diesen mit dem fortgeschrittenen Alter inhärenten Konservatismus folgendermaßen erklärt zu haben: „Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz – wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand“67. Mit steigendem Alter rücken demnach zentrale „konservative“ Werte wie Sicherheit und Stabilität in den Mittelpunkt der politischen Orientierung. Kohorten- bzw. Generationeneffekte gehen von der Vorstellung aus, dass eine in derselben Zeitphase geborene Gruppe ähnlich prägende Sozialisationserfahrungen als Jugendliche und junge Erwachsene teilt, die maßgeblich auf die politischen Einstellungen im Verlauf eines Lebens wirken. Die Erfahrungen als Erstwähler sind hierbei entscheidend. Der Konservatismus der „Adenauer“Generation ist demnach lediglich ein „transitorischer Zustand“ und nicht einem endogenen Zyklus im Lebenslauf geschuldet.68 Die höhere Wahlbeteiligung der 60- bis 69-Jährigen ist mit Kohortenunterschieden zu erklären. Ältere Wähler gehören zu jenen Jahrgängen, die in ihrer Jugend und im frühen Erwachsenenalter den Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau der jungen Bundesrepublik erlebt haben. Sie zeigen einen größeren Bürgersinn und ein prinzipielles Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der repräsentativen Demokratie. Sie sehen im demokratischen Wahlgang eine Staatsbürgerpflicht.69 Die Wahlabstinenz der jüngeren Kohorten wird damit begründet, dass deren Pflichtbewusstsein schwächer ausgeprägt sei.70
66 Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, in: Kocka, Jürgen; Kohli, Martin; Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Altern in Deutschland. Band 8: Altern: Familie, Zivilgesellschaft, Politik, Stuttgart 2009, S. 302. 67 Zitiert nach Ruf, Christoph: Was ist links? Reportagen aus einem politischen Milieu, München 2011, S. 80. 68 Neckel, Sighard: Altenpolitischer Aktivismus. Entstehung und Variation eines Politikmusters, in: Leviathan, Jg. 21, 1993, Nr. 4, S. 542. 69 Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen, S. 304f. sowie Bürklin,
Wilhelm: Alte Wähler morgen: „Graue Panther“ oder konservative Stammwähler der
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Allerdings nimmt die Gruppe der Nichtwähler in den vergangenen zwanzig Jahren in allen Altersgruppen zu. Bei der Bundestagswahl 2009 lag die Wahlbeteiligung über alle Altersgruppen hinweg bei 71,4 Prozent und erreichte damit ihren historischen Tiefststand seit Bestehen der Bundesrepublik. Selbst die Beteiligung der wahleifrigen 60- bis 69-Jährigen ging auf 80 Prozent zurück. Hingegen fiel 2009 die Wahlbeteiligung der über 70-Jährigen zum ersten Mal höher aus als die der gesamten Wahlbevölkerung.71 Dies ist jedoch damit zu erklären, dass die Wahlbeteiligung insgesamt gesunken ist. Ältere Wähler partizipieren aufgrund altersbezogener Faktoren anders an Wahlen als jüngere Personen. Das Alter wirkt sich unabhängig von Generationenunterschieden direkt auf die höhere Wahlteilnahme aus. Zum einen wird das Wählengehen als „habitueller Prozess“72 verstanden; häufige Wiederholungen des Wahlakts sowie die gesammelten Erfahrungen bei der Bewertung politischer Programme, Parteien und Kandidaten fördern kontinuierliches Wählen. Zum anderen unterstützen ältere Wahlberechtigte die Wahlnorm als soziale Norm. Wird sie eingehalten, hat dies eine sozial befriedigende Wirkung.73 Beim Akt des Wählens spielt auch die zunehmende Lebenserfahrung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zeit und Mühe fallen umso geringer aus, je häufiger eine Handlung wiederholt wird. Ältere haben folglich einen geringeren Aufwand beim wiederholten Wahlgang.74 Weitere Faktoren, die bei der Wahlbeteiligung mit zunehmenden Lebensjahren korrelieren, ist die Residenzdauer am selben Wohnort, das Zusammenleben mit einem Partner, der zur Wahl mobilisiert (werden kann), sowie der Gesundheitszustand.75 Im höheren Alter erfährt die Wahlbeteiligungskurve einen Ein-
CDU?, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Die ergraute Gesellschaft, Berlin 1989, S. 116-140. 70 Die veränderte Wahrnehmung der eigenen Rolle gegenüber dem Staat ist bislang noch nicht näher untersucht. Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 305. 71 Vgl. Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2009 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, S. 94. 72 Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 306. 73 Vgl. Goerres, Achim: The Grey Vote: Determinants of Older Voters’ Party Choice in Britain and West Germany, in: Electoral Studies, 2008, 27/2, S. 285-304. 74 Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Forschungsergebnisse aus etablierten Demokratien, in: ZParl, 2009, Jg. 41, 1, S. 106. 75 Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 308.
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bruch, der damit erklärt werden kann, dass Personen im siebten Lebensjahrzehnt häufiger an gesundheitlichen Problemen leiden, die sie am Wahlgang hindern. Darüber hinaus sieht Jesse Gründe für die nachlassende Wahlteilnahme der über 70-Jährigen darin, dass diese stärker gesellschaftlich isoliert und die vielen alleinstehenden Frauen politisch desinteressiert seien.76 Auch in der unmittelbaren Wahlentscheidung, etwa im Hinblick auf Eigenschaften der Wahlkandidaten und Parteipräferenzen, bestehen Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Wählern. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung waren zu Beginn der 2000er Jahre die Merkmale „Glaubwürdigkeit und Sachverstand“ des politischen Kandidaten wichtige Kriterien bei der Wahlentscheidung. Erstgenanntes gewinnt mit dem Alter der Befragten zunehmend an Bedeutung.77 In der Probandenstudie der US-amerikanischen Soziologin Jane A. Piliavin aus dem Jahr 1987 konnte zudem ein „Altersähnlichkeitseffekt“78 festgestellt werden: Jüngere Teilnehmer bevorzugten eher jüngere Kandidaten, ältere sprachen sich häufiger für ältere Kandidaten aus.79 Die Präferenz älterer Kandidaten durch ältere Wähler könnte zwar zu älteren gewählten Politikern in einer alternden Gesellschaft führen, gegenwärtig ist dies jedoch nicht zu beobachten. Über 60-Jährige sind im Deutschen Bundestag unterrepräsentiert.80 Um die Parteipräferenzen älterer Wähler zu erklären, wurde im wissenschaftlichen Diskurs bis Mitte der 1990er Jahre die These des sogenannten Alterskonservatismus diskutiert. Diese beinhaltet die Vorstellung, dass politisch konservative Orientierungen mit zunehmendem Alter generell zunehmen. Ältere seien, so die Überlegung, eher jenen Parteien zugeneigt, die Ruhe, Ordnung und Stabilität versprechen. Alber untermauerte diese Annahme mit dem Verweis darauf, dass ältere Menschen konservativer seien als jüngere, da es im höheren Alter mehr zu
76 Vgl. Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2009 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, S. 93. Ebenso Thöle, Ulf: Das Altern der Gesellschaft und die politische Partizipation älterer Frauen, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, Jg. 24, 2006, H 4, S. 131-141. 77 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Politische Partizipation in Deutschland, Bonn 2004, S. 66. 78 Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 306. 79 Piliavin, Jane A.: Age, race, and sex similarity to candidates and voting preference, in: Journal of Applied Social Psychology, 1987, 17, S. 351-368. 80 Zur Repräsentativität über 60-Jähriger im Bundestag und in den Landtagen vergleiche Kapitel 4.
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konservieren gebe.81 Als Konsequenz dieser Entwicklung sahen einige Wahlforscher wie Roth und Emmert die Unionsparteien vor allem in Westdeutschland als Gewinner der demografischen Veränderung.82 Die These des Alterskonservatismus, die ausschließlich auf Alterseffekten basiert, lässt sich nach Goerres auf der Basis der vorhandenen Datengrundlagen nicht belegen.83 Statistisch kommen vielmehr generationenspezifische Kohortenunterschiede und die individuelle Parteienidentifikation im Wahlverhalten zum Ausdruck, die durch wiederholtes Wählen der gleichen Partei verstärkt werden.84 Tatsächlich gab es in der Geschichte der Bundesrepublik eine Präferenz der über 60-Jährigen für CDU und CSU. Die Parteienidentifikation in der Gruppe der über 60-Jährigen zugunsten der Unionsparteien seit Ende der 1950er bis 1970er Jahre – nahezu die Hälfte dieser Altersgruppe favorisierte die CDU/CSU – ist in der Prägekraft der Adenauer-Zeit zu sehen.85 Die Stärke dieser CDU/CSU-Treuen ist dadurch zu erklären, dass die Unionsparteien nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen Stabilität regierten. Zudem wurde das Recht auf freie Wahlen nach dem Krieg mit der Kanzlerschaft Adenauers positiv in Verbindung gebracht. Auch wurde die Parteienidentifikation in West-Deutschland bis in die 1970er Jahre wesentlich von der Bindungskraft des konservativen Milieus und der formalen
81 Alber, Jens: Soziale Integration und politische Repräsentation von Senioren, in: Verheugen, Günter (Hrsg.): 60 plus. Die wachsende Macht der Älteren, Köln 1994, S. 155. 82 Roth, Dieter; Emmert, Thomas: Wahlverhalten der Senioren, in: Verheugen, Günter (Hrsg.): 60 plus: die wachsende Macht der Älteren, Köln 1994, S. 176ff. 83 In Untersuchungen zu Lebenszyklus- und Kohorteneffekten in Deutschland wurden leicht ansteigende Wahrscheinlichkeiten zugunsten der Lebenszykluseffekte aufgezeigt. Vgl. Rattinger, Hans: Demographie und Politik in Deutschland: Befunde der repräsentativen Wahlstatistik 1953-1990, in: Klingemann, Hans-Dieter; Kaase, Max (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994, S. 73-122. Goerres konnte in seinen Untersuchungen keinen Nachweis erbringen, dass alternde Wähler in ihrer Parteienwahl oder in ihren politischen Wertvorstellungen konservativer werden und verweist auf die Art der statistischen Analyse, die künstliche Verzerrungen beinhalten kann. Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Forschungsergebnisse aus etablierten Demokratien, in: ZParl, 2009, Jg. 41, 1, S. 116f. 84 Künemund, Harald: Politischer Einfluss der Älteren von morgen, in: Sozialer Fortschritt, 11-12, 2004, S. 289. 85 Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 313.
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Kirchenmitgliedschaft positiv beeinflusst. Das elektorale Übergewicht rührte damit auch von der „überproportionalen Unterstützung“86 von konfessionell gebundenen Wählerinnen und Wähler her. Abbildung 4: Abgabe der Zweitstimmen der über 60-jährigen Wähler nach Parteien bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2009 (in Prozent)
Quelle: Bundeswahlleiter: Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen (Heft 4), 2010, nicht alle Bundestagswahlen, eigene Darstellung.
In den 1970er Jahren konnte die SPD in der Wählergruppe der über 60-Jährigen zeitweilig einen Anstieg auf rund 42 Prozent verbuchen. Generell konnte die SPD im Jahr 1969 und in den 1970er Jahren vor allem Jungwähler für sich gewinnen. Der Anstieg in diesen Jahren erklärt sich mit dem Zuspruch zur sozialliberalen Regierungskoalition auch in dieser Altersgruppe. Mit der Regierungsübernahme von Helmut Kohl sank der Wähleranteil der über 60-Jährigen für die SPD und blieb auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Die unter der Regierungszeit Willy Brandts geprägte Generation wird trotz verbreiteter Unzufriedenheit mit der SPD-Politik vermutlich nicht mehrheitlich der Union ihre Stimme geben. Dass diese Kohorte nun mehrheitlich auch in die Ruhestandsphase übergeht, ist auch am Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zu beobachten: Die Sozialdemokraten erzielten bei Männern über 60 Jahren mit 27,6 Prozent ihr bestes Ergebnis. Die hohen Stimmenverluste der SPD bei dieser Wahl sind auch auf das schlechte Abschneiden bei den über 60-Jährigen zurückzuführen. Das
86 Roth, Dieter; Emmert, Thomas: Wahlverhalten der Senioren, S. 182.
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Ergebnis in dieser Altersgruppe fiel auf das Niveau der Bundestagswahl 1953 zurück.87 Parteiidentifikation entsteht nicht nur durch die Erfahrungen als Jungwähler und die spezifische Prägung durch das sozial-kulturelle Herkunftsmilieu, sondern geht auch aus einer allgemeinen Wertehaltung hervor. Der bekannteste Erklärungsansatz für den Wertewandel in den vergangenen dreißig Jahren ist die Postmaterialismusthese. Die Verinnerlichung postmaterialistischer Werte wie Freiheit, Frieden, Gleichheit oder Umweltschutz kann zu einer Verschiebung politischer Präferenzen führen. Wie der US-Soziologe Ronald Inglehart für Westeuropa und die USA empirisch belegen konnte, verfolgen Kohorten, deren Angehörige in verhältnismäßig prosperierenden Zeiten aufgewachsen sind, stärker postmaterielle Werte als frühere Kohorten, die in ihren prägenden Sozialisationsjahren materielle Entbehrungen erfahren haben.88 Dass sich das Wahlverhalten eher mit Periodeneffekten bzw. Generationenunterschieden erklären lässt, zeigen in diesem Zusammenhang die Wahlergebnisse von Bündnis90/Die Grünen im Zeitverlauf. Die Grünen, die aus der gesellschaftlichen Thematisierung ökologischer Fragen hervorgegangen sind, machten mit ihrer umweltpolitischen Agenda erstmals postmateriell orientierten Wählern ein parteipolitisches Angebot. Die Wählerschaft der Grünen altert mit dem Bestehen der Partei: Während im Jahr 1980 gerade einmal 0,4 Prozent der Wähler über 60 Jahre die Grünen wählten, waren es bei der Bundestagswahl 2009 fünf Prozent. Künemund sieht die Grünen als die eigentlichen Wahlgewinner des demografischen Wandels, wenn sich die Parteizuneigung der Kohorten der sozialen Bewegungen der 1980er Jahre im Lebenslauf nur geringfügig verändert.89 Allerdings schränkt er ein, dass der Zuwachs der Grünen nicht allein von der Zuneigung der zukünftigen Älteren abhängt, sondern gleichwohl mit der Zustimmung der dann Jüngeren korrespondiert. Es bestehen also nicht nur Unterschiede darin, wie oft Ältere und Jüngere zur Wahl gehen, sondern auch welcher Partei sie ihre Stimmen geben. Zu fragen ist, ob hierbei ein Konflikt zwischen Jüngeren und Älteren bzw. zwischen Rentnern und Erwerbstätigen in Wahlen erkennbar ist. Dieser Frage sind Falter und Geh-
87 Vgl. Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2009 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, S. 97. 88 Inglehart, Ronald: Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton 1997. 89 Künemund, Harald: Politischer Einfluss der Älteren von morgen, S. 290.
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ring anhand deutscher Wahlstudien bis 1994 nachgegangen.90 Sie kommen zu dem Schluss, dass für die deutsche Wahllandschaft keine Konfliktlinie zwischen Jung und Alt sichtbar ist. Für die Bundestagswahlen bis einschließlich 1994 sei keine grundsätzliche altersdifferenzierte Parteipräferenz festzustellen. Schmidt argumentiert hingegen, dass nicht die unterschiedliche Parteifavorisierung, sondern die bevorzugte Koalition bzw. das präferierte parteipolitische Lager von Jung und Alt für Wahlsieg oder -niederlage entscheidend sein wird. Anhand der Zweitstimmenverteilung bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 untersuchte er die unterschiedliche Parteipräferenz von Jüngeren und Älteren, genauer die der Rentner und die der Erwerbstätigen. Sowohl 2002 als auch 2005 stimmten die über 60-Jährigen zugunsten des bürgerlich-liberalen Parteienlagers, die Gruppe der Arbeitnehmer (und Arbeitslosen) gab ihre Stimme einer der linksorientierten Parteien bzw. einer Linksregierung.91 Insgesamt nimmt die Stammwählerschaft für eine einzelne Partei in der Wählergruppe der über 60-Jährigen jedoch wie in allen Altersgruppen ab. Unterschiede in der Parteienidentifikation zwischen und innerhalb politischer Generationen werden kleiner; junge wie alte Bürger sind in ihrer Wahlentscheidung individueller und volatiler geworden. Auch vermögen früher prägende politische Erlebnisse und generationale Sozialisationsunterschiede immer weniger spätere Wahlpräferenzen zu erklären.92 Gegen eine Konfliktlinie entlang des Alters spricht auch das schlechte Abschneiden von Rentnerparteien. Die Stimmenanteile solcher Kleinstparteien sind bislang verschwindend gering.93 Faktisch machen ältere Menschen, die zum
90 Falter, Jürgen W.; Gehring, Uwe W.: Alter – ein neues Cleavage?, in: Kaase, Max; Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1994, Opladen 1998, S. 463-503. 91 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Altern und politische Partizipation, S. 277f. 92 Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Ein Beitrag über die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Wählern, S. 314. 93 Die Rentnerparteien RRP und RENTNER erhielten bei der Bundestagswahl 2009 zusammen 0,3 Prozent der Wählerstimmen. Vgl. Bundeswahlleiter: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen (Heft 4). Die erste Partei, die sich offensiv für Rentner einsetzte, waren die „Grauen Panther“ bzw. die „GRAUEN“, die in den 1990er Jahren durch ihre provokativen Aktionen bundesweit Aufmerksamkeit erhielten. Während die „GRAUEN“ ihr politisches Profil noch verstärkt auf die angebliche Konfliktlinie Alt versus Jung stützten, betonen ihre Nachfolger-
Parteien und Nachahmer ihre generationenübergreifende Ausrichtung. Vgl. Schroeder,
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überwiegenden Teil ihren Lebensunterhalt aus Renten und Pensionen bestreiten, bislang kaum von ihrer Möglichkeit Gebrauch, durch eine gezielte, am eigenen Alter orientierte Stimmabgabe Wahlentscheidungen herbeizurufen. Erklärt werden kann dies dadurch, dass Wähler nicht nach dem Übergang in den Ruhestand ihre bisherigen politischen Sympathien ablegen und als Rentner und Pensionäre gänzlich anders wählen. Bislang liegen keine empirischen Erkenntnisse darüber vor, wie altersspezifische Interessenlagen auf das individuelle Wahlverhalten wirken. Auch die außerplanmäßige Rentenerhöhung im April 2008 oder die vereinbarte Rentengarantie, die als taktische „Wahlgeschenke für Ältere“94 der Großen Koalition im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 kritisiert wurde, steht in keinem kausalen Zusammenhang mit dem späteren Ergebnis der beiden Sozialstaatsparteien Union und SPD.95 Allerdings kann bei Wahlen oder Referenden über sozialpolitische Politikpakete, wie etwa eine Rentenreform, die Altersposition der Wähler eine Rolle spielen. Die Soziologen Bonoli und Häusermann konnten einen Alterseffekt bei Referenden in der Schweiz feststellen. Laut ihren statistischen Berechnungen treten insbesondere bei arbeitspolitischen Themen Unterschiede zwischen Ruheständlern und Erwerbstätigen auf. So sprechen sich etwa über 66-Jährige häufiger gegen Arbeitszeitverkürzungen aus, von denen sie selbst freilich nicht mehr betroffen sind.96 Auch für Deutschland ist anzunehmen, dass Rentner sich wahltaktisch
Wolfgang; Munimus, Bettina; Rüdt, Diana: Seniorenpolitik im Wandel. Verbände als Interessenvertreter der älteren Generation, S. 66. 94 Vgl. hierzu die mediale Berichterstattung, bspw. Bohsem, Guido: Wertloses Geschenk, in: Süddeutsche Zeitung, 9.04.2008; Nagelprobe für die Rentner-Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine, 12.04.2008. 95 Der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt bezeichnete CDU und SPD als die zwei großen Sozialstaatsparteien, die zwar in einem Konkurrenzverhältnis hinsichtlich ihrer inhaltlichen Sozialpolitik und in ihrem Staatsverständnis, demnach auch um die Gunst des Wählerwillens stehen, sie erzielen jedoch häufig nach langen politischen Auseinandersetzungen konsensuale Entscheidungen bei der Ausgestaltung sozialstaatlicher Regelungen und Leistungen. Vgl. Schmidt, Manfred G.: Wenn zwei Sozialstaatsparteien konkurrieren: Sozialpolitik in Deutschland, in: Ders.; Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 137-158. 96 Vgl. Bonoli, Giuliano; Häusermann, Silja: „Who wants what from the welfare state? Socio-structural cleavages in distributional politics: evidence from Swiss referendum
votes“, in: Tremmel, Jörg Chet Tremmel (Hrsg.): A Young Generation Under Pres-
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anders verhalten als Arbeitnehmer.97 Goerres argumentiert, dass dieser Umstand das Wahlverhalten beeinflussen kann und vor allem die Parteien ihr Politikangebot nach der entsprechenden Wählergunst ausrichten.98 Gerade CDU und SPD neigen zu einer seniorenfreundlichen Politik, die diese Gruppe hinsichtlich Kürzungsmaßnahmen verschont, um die wahlpolitische Macht einer wachsenden, politisch einflussreichen Rentnerschicht nicht gegen sich aufzubringen.99 Mit der wachsenden Wählergruppe „60 plus“ antizipieren die Parteien eine wahlpolitisch entscheidende Macht. 2.1.5 „Von einer Generation an sich zu einer Generation für sich?“ – Zur Organisationsfähigkeit von Interessen der Älteren Die Interessen und Bedürfnisse eines 62-jährigen Frührentners sind naturgemäß andere als die einer 90-jährigen, pflegebedürftigen Frau. Als eine „sozialrechtlich homogenisierte Großgruppe“100 teilen Menschen im Ruhestand jedoch – bei aller Vielfalt der Lebenslagen – ein gemeinsames Interesse: Ein würdiges, selbstbestimmtes und materiell hinreichend abgesichertes Leben im Alter – selbst wenn die Höhe der tatsächlichen Ansprüche stark variieren kann. Dieses Interesse wird von allen Generationen geteilt, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven: Während es für die ältere Generation im Ruhestand ein Gegenwartsinteresse mit unmittelbarem Lebensbezug und akuter Betroffenheit darstellt, ist es für die jüngere, erwerbstätige Generation ein mittelbares Zukunftsinteresse, das gewissermaßen durch seine zeitliche Entfernung abstrakt erscheint. Dies ist ein nachvollziehbarer Grund dafür, dass sozialpolitische Einsparreformen, etwa bei der Rente, in der Regel erst zukünftige Rentenempfänger betreffen. Die jeweils amtierende Regierung vermeidet unmittelbar spürbare Einschnitte, die den Status quo der Gegenwartsinteressen der Älteren betreffen.
sure? The Financial Situation and the „Rush Hour“ of the Cohorts 1970-1985 in a Generational Comparison. Berlin/Heidelberg 2010, S. 187-205. 97
Hierzu gibt es bisher kaum Untersuchungen. Achim Goerres argumentiert in diese Richtung auf der Basis von Umfrageergebnissen. Hierzu vgl. u.a. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Forschungsergebnisse aus etablierten Demokratien, S. 118.
98
Vgl. ebd., S. 120.
99
Schmidt, Manfred G.: Altern und politische Partizipation, S. 276.
100 Göckenjan, Gerd: Zur Wandlung des Altersbildes seit den 1950er Jahren, S. 137.
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Als der ehemalige hessische Ministerpräsidentin Roland Koch in einem Interview im Mai 2010 gefragt wurde, warum er beabsichtige, im Bildungsbereich sparen zu wollen, antwortete er unverblümt: „Was wäre wohl los gewesen, wenn ich zuerst über die rund 80 Milliarden Euro staatlichen Zuschüsse zur Rentenversicherung gesprochen hätte? Dann wären Vertreter der älteren Generation mit derselben Empörung über mich hergefallen wie jetzt die Bildungspolitiker“101. Für seine Pläne, zukunftsrelevante Investitionen zu kürzen, wurde Koch vehement kritisiert. Frank Schirrmacher mutmaßte in der Frankfurter Allgemeinen, ob der CDU-Politiker zuvor die Studie von Harald Wilkoszewski gelesen habe.102 Dessen wissenschaftliche Ergebnisse auf der Grundlage von 14.000 Befragten lieferten erstmals einen messbaren Nachweis über einen vorhandenen Alterseffekt.103 Dieser drückt aus, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit sinkt, sozialpolitische Maßnahmen für gut zu erachten, die nicht die eigene Altersgruppe betreffen. Je älter die Person, zudem kinderlos, desto geringer die Bereitschaft, beispielsweise den Ausbau der Kinderbetreuung politisch zu tragen. Die Konsequenz für die Zukunft wäre: Je älter die Gesellschaft, desto schwieriger ist es für die Politik, sozialpolitische Entscheidungen im Bereich Bildung und Familie durchzusetzen – ohne eine Abstrafung durch das ältere Wählervolk fürchten zu müssen. Geht man von einer geteilten Interessenlage von Personen im Ruhestand aus, stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit sich ein latentes Interesse zu einem manifesten entwickelt, und wann das organisierte Interesse104 zu kollektivem Handeln führt. Hierzu liefert die politik-
101 „Ende der Behutsamkeit“, Interview mit Roland Koch, in: Der Spiegel, 17.05.2010. 102 Schirrmacher, Frank: Roland Kochs Wette, in: Frankfurter Allgemeine, 17.05.2010. 103 Wilkoszewski, Harald: Age trajectories of social policy preferences: support for intergenerational transfers from demographic perspective, MPIDR Working Paper WP-2009-034, eingesehen unter: http://www.demogr.mpg.de/papers/working/WP2009-034-pdf (22.09.2010); Ders.: Alte versus Junge, in: Glaab, Manuela; Weidenfeld, Werner; Weigl, Michael (Hg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt a. M. 2010, S. 355-386. 104 Organisierte Interessen bzw. Interessengruppen kennzeichnen folgende Eigenschaften: „Sie sind ein freiwilliger Zusammenschluss sozialer Einheiten mit bestimmten Zielen. Sie organisieren sich arbeitsteilig und bilden Führungsstrukturen heraus. Sie haben die Zielsetzung, die individuellen, materiellen oder immateriellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen“. Vgl. Straßner, Alexander: Begriffliche und theoretische Grundlagen, in: Sebald, Martin; Ders.: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 22.
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wissenschaftliche Verbändeforschung unterschiedliche Überlegungen. In der Offe’schen Konflikttheorie werden die Interessen sozial randständiger Gruppen, wie etwa die der Armen, Arbeitslosen und eben auch der Alten, als „schwache Interessen“ definiert. Durch ihre unzureichende motivationale und materielle Ressourcenausstattung im kapitalistischen Wirtschaftssystem unterliegen sie den „starken Interessen“ – jenen Interessen erwerbstätiger Gesellschaftsgruppen, die über Machtpotenziale und einen hohen Organisationsgrad verfügen.105 Aus diesen Überlegungen ließen sich die Interessen der Älteren als Sozialstaatsklientel-Interessen und als vermeintlich schwach fassen, die in ihrer Ressourcenausstattung den „starken“, insbesondere den Interessen erwerbstätiger Gruppen, tendenziell unterliegen.106 Wie Offe darlegt, hängt die verbandsförmige Organisation gesellschaftlicher Interessen davon ab, ob die Interessengruppe über Machtpotenziale verfügt, um gegenüber der Gesellschaft und dem politischen Gegner systemrelevante Leistungsverweigerungen glaubwürdig anzudrohen. Personengruppen, die außerhalb des kapitalistischen Leistungsverwertungsprozesses stehen, besitzen durch ihren gesellschaftlichen Status keine weitreichenden konfliktfähigen Sanktionsmittel. In diesem Sinne wären Ruheständler eine wenig konfliktfähige Interessengruppe, da sie im Gegensatz zu Arbeitnehmern keine systemrelevanten Leistungen etwa durch Streiks verweigern bzw. dies androhen können. Damit seien sie nicht in der Lage, „gesellschaftlich relevanten Druck auszuüben“107. Die Offe’sche Konflikttheorie wurde unter anderem dahingehend kritisiert, dass sie zu einseitig auf den Gegensatz von Arbeit und Kapital ausgerichtet sei. Grundsätzlich gilt: Je geringer das Bewusstsein für das Interesse, desto schwächer die Motivation, es zu verwirklichen. Und je geringer die ideellen und
105 Die Organisationsfähigkeit von Interessen betrachtet Offe im Zusammenhang des Hauptgegensatzes zwischen Kapital und Arbeit in kapitalistischen Wirtschaftssystemen. Er unterscheidet zwischen organisierten Interessen in „priviligierten“ und „unterpriviligierten“ Lebensbereichen. Organisierbar seien nach seiner Auffassung nur solche Interessen, die von einer sozialen Gruppe als gemeinsames Spezialbedürfnis interpretiert werden können. Vgl. Offe, Claus: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Kress, Gisela; Senghaas, Dieter (Hrsg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme. Frankfurt a. M. 1975, S. 135-165. 106 Winter, Thomas von: Sozialpolitische Interessen. Konstituierung, politische Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen, Baden-Baden 1997, S. 120. 107 Straßner, Alexander: Begriffliche und theoretische Grundlagen, S. 47.
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materiellen Ressourcen, desto schwächer ist ein Interesse.108 Im Marxschen Sinne müsste der Übergang von einer „Generation an sich zu einer Generation für sich“ auf der Ebene eines „emphatischen Generationenbewusstseins“ erfolgen.109 Aber wann entsteht ein geteiltes Generationsbewusstsein? Rentenempfänger teilen die kollektive Erfahrung der „Entberuflichung“ in der Ruhestandsphase. Diese ist in einer Arbeitsgesellschaft wie der deutschen ein prägendes Merkmal von Exklusion, wobei dies zunächst nicht negativ konnotiert sein muss. Zudem sind sie dauerhaft und umfassend von Sozialleistungen abhängig, auch wenn die individuellen Lebenslagen verschieden sein mögen. Diese hohe Interessenhomogenität spielt als Determinante eine wichtige Rolle.110 Infolge der dauerhaften und sozial nicht stigmatisierten Abhängigkeit vom Sozialstaat sowie ihrer zahlenmäßig großen Population ist davon auszugehen, dass sich Rentner vergleichsweise gut organisieren könnten. Gleichwohl führt ein kollektives Interesse im Sinne der „Logik des kollektiven Handelns“ nach Mancur Olson nicht zwangsläufig zur Entstehung eines organisierten Interesses. Denn rational handelnde Menschen treten nicht notwendigerweise einer Organisation bei, wenn sie auch ohne eigenen Beitrag als „Trittbrettfahrer“ vom Kollektivgut profitieren können.111 Der generationenübergreifende Konsens, der in der deutschen Nachkriegsgesellschaft durch den solidarischen Generationenvertrag verankert wurde, integrierte die Interessen der Älteren in allen Institutionen. Dieser normative und organisatorisch unterfütterte Konsens prägt bis heute die politische Kultur und schließt seither die Interessenvertretung von Älteren innerhalb altersund generationenübergreifender Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und sogar Sozialverbänden ein.112 Allein die Tatsache, dass Ältere eine Rentenleistung erhalten, führt nicht zur Entstehung eines Interessenkollektivs. Der Lebensabschnitt der Nacherwerbsphase ist nach milieu- und schichtspezifischen, ethnischen sowie gesundheitlichen Merkmalen höchst differenziert. Dies erschwert ihre kollektive Handlungsfähigkeit trotz des generellen Interesses an einem materiell gut abgesicherten
108 Willems, Ulrich; Winter, Thomas von: Interessenverbände als intermediäre Organisationen, in: Dies. (Hrsg.): Interessenverbände in Deutschland. Wiesbaden 2007, S. 13-50. 109 Kaufmann, Franz-Xaver: Schrumpfende Gesellschaft, S. 203. 110 Winter, Thomas von: Sozialpolitische Interessen, S. 124. 111 Olson, Mancur: Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorien der Gruppen, Tübingen 2004 (1965). 112 Vgl. Schroeder, Wolfgang; Munimus, Bettina; Rüdt, Diana: Seniorenpolitik im Wandel, S. 431ff.
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Leben im Alter außerordentlich.113 Die Älteren haben also, kurz gesagt, nicht allein schon weil sie alt sind, gleiche Interessen.114 Der „Theorie des kollektiven Handelns“ wurde entgegen gehalten, die Annahme, eine homogene innere Struktur von Interessengruppen sei zur Organisationsfähigkeit notwendig, käme empirisch nicht vor. Als Weiterentwicklung stellt die „Theorie der kritischen Masse“ die Heterogenität von Gruppen heraus.115 Diese Vielfalt ist durch die Interdependenz und die Mobilisierungswirkung einzelner Akteure gekennzeichnet. Hauptthese dieses Ansatzes ist, dass um den Kern innerhalb von Gruppen die „kritische Masse“ besteht. Diese setzt sich aus einer Anzahl von Mitgliedern zusammen, die bereit sind, eigene Ressourcen in Form von Geld und Zeit für die gesamte Gruppe einzubringen. Bleibt diese Zahl gering, fehlt damit die nötige Investition. Es kommt somit nicht zur kollektiven Aktion und auch nicht zur Interessenvertretung. Eine gemeinsame Aktion von Personen mit gleichen oder ähnlichen Interessen kommt dann in Gang, wenn die Beteiligten sich darüber bewusst sind, dass ihre quantitative Zusammensetzung groß genug ist. Die Gruppengröße oder die Anzahl der Mitglieder ist nicht das ausschlaggebende Kriterium. Von Bedeutung ist vielmehr der zentrale Kern derjenigen Mitglieder („large contributors“), die zum einen hoch engagiert sind und zum anderen die entscheidenden Ressourcen ausreichend in die Interessenvertretung einbringen können.116 Dabei muss die „kritische Masse“ keineswegs homogen sein. Gerade die letzte Überlegung eröffnet eine interessante Perspektive: Theoretisch wäre es also möglich, dass die große Zahl der Mitglieder über 60 Jahre sich ihrer gemeinsamen altersbezogenen, also „objektiven“ Gegenwartsinteressen bewusst wird und diese dementsprechend wirkungsvoll in die innerparteiliche Debatte einbringt. Notwendig für eine solche Bewusstseinsbildung wäre nicht einmal eine große Anzahl an Partizipanten; vielmehr müsste ein Kern an Hochaktiven bereit sein, sich der Vertretung der altersbezogenen Gegenwartsinteressen hinzugeben. Es wird untersucht, ob in der Gruppe der über 60-jährigen Parteimitglieder diese „kritische Masse“ besteht und ob daraus eine altersspezifische Interessenvertretung erwachsen könnte.
113 Vor allem die Rentenversicherung ist infolge ihrer Statusorientierung geradezu darauf fixiert, vorhandene Differenzen aus der Erwerbsphase beizubehalten, wenn nicht gar zu verstärken. 114 Tews, Hans Peter: Die Alten und die Politik, S. 171. 115 Marwel, Gerald; Oliver, Pamela: The critical mass in collective action: a microsocial theory, Cambridge 1993. 116 Vgl. ebd., S. 10.
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2.2 D AS S CHRUMPFEN UND ALTERN DER V OLKSPARTEIEN Spätestens seit den späten 1960er Jahren erheben CDU und SPD den Anspruch, Volksparteien zu sein: die CDU eine „echte“ im Sinne eines neuen, die Klassenund Konfessionsgrenzen überwindenden Parteientypus117; die SPD eine „linke“, die Arbeiterschaft und Mittelstand integriert.118 Beide Parteien betonen seither ihre Führungsrolle, möglichst die Mehrheit der Bevölkerung politisch zu vertreten und mit anderen Parteien die Regierungsverantwortung zu übernehmen, also Macht auszuüben. Der CDU-Politiker Karl-Joachim Kierey verstand eine Partei als Volkspartei, „wenn alle Gruppen und Schichten der Gesellschaft in angemessenem Verhältnis innerhalb der Mitgliedschaft, der Wählerschaft und der die Partei repräsentierenden Mitglieder in den Parlamenten vertreten sind“119. Dies schließt auch die angemessene Repräsentation verschiedener Generationen, Biografien, Lebenserfahrungen, Werthaltungen und Soziallagen der Mitglieder ein.120 Wulf Schönbohm stellte in seiner Organisationsstudie zur CDU im Jahr 1985 einen Katalog an charakteristischen Merkmalen für eine idealtypische Volkspartei zusammen.121 Dazu zählen: weltanschaulicher Pluralismus; ein schichtenübergreifendes Integrationskonzept und ein mehrheitsfähiges Programm, das alle wesentlichen Wählergruppen anspricht; eine hohe Mitgliederzahl und -dichte; hohe Wähleranteile122; relativ ausgewogene Mitglieder- und Wählerstruktur; dauerhafte, auf allen politischen Entscheidungsebenen präsente und aktive Parteiorganisation; mehrere innerparteiliche Suborganisationen; ein funktionsfähiger Parteiapparat auf allen politischen Entscheidungsebenen und ausreichende Finanzausstattung; innerparteiliche, demokratische Willensbildung; funktionsfähige politische und organisatorische Führungsstruktur. Der Volksparteitypus ist nach Schönbohm somit nicht nur eine empirische Erscheinungsform der Allerweltspartei im Sinne Otto Kirchheimers, sie ist auch eine mitgliederstarke Massenpartei mit sozial heterogener Anhängerschaft. Das Selbstverständnis und die
117 Vgl. Mintzel, Alf: Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit, Opladen 1984, S. 28ff. 118 Vgl. ebd., S. 34f. 119 Kierey, Karl-Joachim: Ist die CDU eine Volkspartei?, in: Sonde, Heft 3, 1972, S. 22. 120 Walter, Franz: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung, Frankfurt a. M. 2008, S. 208. 121 Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 18. 122 Schönbohm legte eine „willkürlich, an der Realität orientierte Größenordnung“ zugrunde von mindestens 30 Prozent aller Wähler. Vgl.: Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 18.
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Außenwahrnehmung von CDU und SPD beruhen seit den 1960er und 1970er Jahren auf einer breit legitimierten und heterogenen Wählerschaft und Mitgliedschaft123, nicht zuletzt auf deren stark differenzierter Altersstruktur und deren Manifestation im organisatorischen Gefüge. Zur Eigenschaftsbestimmung von Volksparteien zählen seit dieser Zeit die Komponenten einer Mitgliederpartei. Wiesendahl argumentiert, dass als entscheidendes Kriterium weniger eine bestimmte absolute Größenordnung zugrunde gelegt werden sollte, sondern vielmehr sei auf die soziale Zusammensetzung der Mitglieder zu achten: „Eine Partei, die in ihrem Mitgliederprofil nur ein bestimmtes Segment der Gesellschaft repräsentiert, wird die Voraussetzungen für einen volksparteilichen Umfassungsanspruch nicht erfüllen“124. Umgekehrt sei die Annahme falsch, von einem spiegelbildlichen Abbild der Gesellschaft in der Mitgliederstruktur auszugehen. Wie die Proportionen der Binnenstruktur nach Alter, Geschlecht, Beruf, Konfession etc. liegen sollen, führt er indessen nicht an. Entscheidend sei die innere „heterogene, pluralistische Akteursvielfalt“, durch die sich „soziale Umfassungsparteien“ von partikularen Interessenvertretungsparteien abgrenzen.125 Auch heute präsentiert sich die CDU weiterhin als „Volkspartei der Mitte“126. In der SPD ist der satzungsverankerte Anspruch einer Volkspartei auch nach dem dramatischen Absturz auf 23 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 ungebrochen. Doch Anspruch und Wirklichkeit stehen für beide Parteien immer stärker in einem Widerspruch. Die analytische Kategorie der Volkspartei ist heute weniger denn je noch trennscharf zu definieren. Um den Charakter der realtypischen Volkspartei herauszuarbeiten, ergänzt Lösche folgendes Merkmal: Volksparteien sind zwar Organisationen mit einer prinzipiell schichten- und klassenübergreifenden sozialen Zusammensetzung, sie repräsentiert sich jedoch nicht konturenlos, sondern stellt sich als „Massenpartei auf Klassenbasis“ dar.127 Idealtypisch nimmt sie gesellschaftlich-strukturelle Veränderungen auf. Darüber
123 Ein gewichtiges Indiz für diese hochgradige Legitimierung stellt die Tatsache dar, dass Union und SPD zwischen 1969 und 1983 gemeinsam zwischen 87 und 91 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten, und dies bei Wahlbeteiligungen von rund 90 Prozent. 124 Wiesendahl, Elmar: Volksparteien – Aufstieg, Krise, Zukunft, S. 68. 125 Ebd. 68f. 126 Harm, Stine: Mitten in Deutschland. Eine Annäherung an die von den Parteien stets umworbene Mitte, in: Butzlaff, Felix; Dies.; Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden 2009, S. 211-235. 127 Lösche, Peter: Ende der Volksparteien, in: APuZ, 51, 2009, S. 7.
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hinaus seien Volksparteien eine „Massenwähler-, Mitglieder- und Funktionärspartei“. Erfüllt sei dieses Kriterium, wenn sie auf Dauer 35 Prozent der Wähler für sich gewinnen können, ein Prozent der Bevölkerung als Mitglieder aktivieren und davon 10 Prozent als Funktionäre motivieren können. Allerdings ist vor dem Hintergrund des sich wandelnden Parteiensystems zu diskutieren, ob diese Indikatoren, insbesondere die 30-plus-x-Marge als elektoraler Richtwert, noch adäquat erscheinen.128 Diese Kriterien als Maßstab angesetzt, erscheint die Typologisierung „Volkspartei“ als empirische Erscheinungsform sowohl für SPD als auch CDU kaum noch angebracht. Auch die Christdemokraten seien in den „Grenzbereich“ des künftigen Endes hineingeraten.129 Neben dem Verlust hoher Wähleranteile sind es die Erosion der sozialen Basis – gemeinsam verloren sie seit 1990 rund 683.070 Mitglieder130 – und die zunehmende Homogenisierung der Mitgliederstruktur131, die den selbst auferlegten Anspruch konterkarieren, die Wahlbevölkerung auch in den eigenen Reihen sozial ausgewogenen zu repräsentieren. CDU und SPD ähneln sich somit nicht nur immer mehr in ihrem programmatischen Profil und im habituellen Auftreten ihres politischen Führungspersonals, sondern auch im Krisenszenario.132 Dennoch: In ihrem Selbstverständnis zielen beide Parteien weiterhin darauf ab, parlamentarisch und elektoral als Volksparteien mit einer starken Mitgliederbasis zu gelten. Im Folgenden wird der Prozess der Mitgliederalterung von CDU und SPD nachgezeichnet. Daran anschließend wird die politikwissenschaftliche Debatte über das Fortbestehen der Mitgliederparteien skizziert. 2.2.1 Das Altern der Mitgliederparteien in Zahlen Der Ausgangspunkt der Alterung der Mitgliederbasis von CDU und SPD liegt bereits einige Jahrzehnte zurück. Mit dem historisch einzigartigen Mitgliederboom in den 1970er Jahren in der SPD und bis in die frühen 1980er Jahren bei
128 Niedermayer fügt als Kriterium für Volksparteien unter Berücksichtigung des „fluiden Parteiensystems“ die koalitionsstrategische Relevanz hinzu. Damit ist die strategische Fähigkeit gemeint, Regierungskoalitionen auch von mehr als zwei Koalitionspartnern einzugehen, um die Regierungsmehrheit zu bilden. Vgl.: Niedermayer, Oskar: Die Erosion der Volksparteien, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 57, 2010, H 3, S. 272f. 129 Vgl. Lösche, Peter: Ende der Volksparteien, in: APuZ, 51, 2009, S. 7. 130 Vgl. Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutschland, S. 3. 131 Ausführliche Darstellung hierzu in Kapitel 2.2.1. 132 Walter, Franz: Baustelle Deutschland, S. 207.
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der CDU vollzog sich analog eine enorme Verjüngung der Mitgliederstruktur. Zuvor, in den frühen Jahren der jungen Bundesrepublik, übte ihre überalterte Mitgliederbasis keinen großen Reiz auf junge Leute aus. Im Jahr 1950 dominierten in der SPD die 45- bis 70-Jährigen mit 68 Prozent (in der Gesamtbevölkerung lag deren Anteil bei 46 Prozent), die 18- bis 45-Jährigen stellten dagegen lediglich ein Drittel.133 Auch in den darauffolgenden Jahren hielt die Mitgliederstagnation an, die alten Solidargemeinschaften fristeten ein Leben im „miefigen, bornierten Schattendasein“134. Erst 1969 traten mehr Frauen und Männer unter 45 Jahren in die Partei ein; damit begann sich allmählich die Altersstruktur zu verändern. In der Person Konrad Adenauers hatte nicht nur ein gestandener über 70-Jähriger den Parteivorsitz und die Kanzlerschaft in den ersten beiden Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik inne, auch die christdemokratischen Honoratioren, die die Parteiarbeit seit 1945 getragen haben, waren im fortgeschrittenen Alter. 1966 beispielsweise betrug der Anteil der über 56-Jährigen in der CDU 42 Prozent.135 Erst im Zuge der gesellschaftlichen Mobilisierungswelle der 1970er Jahre brachten Jungmitglieder neue, jugendliche Impulse und regenerierten die überalterten Netzwerke. Diese „Verjüngungskur von unten“ war ein Ausnahmephänomen in der bundesdeutschen Geschichte.136 Seit Anfang bzw. Ende der 1980er Jahre leiden CDU und SPD wieder an einer chronischen Mitgliederschwäche. Seit 1990 verlor die CDU rund 34 Prozent ihres Mitgliederbestandes und konnte sich dennoch zum Jahresende 2010 mit 505.314 Mitglieder als die mitgliederstärkste Partei Deutschlands bezeichnen. Bei der SPD verlief der Verlust ihrer Anhänger noch dramatischer: Von 943.402 Mitgliedern im Jahr 1990 zählte sie im Jahr 2010 nur noch 502.062 und verlor damit nahezu die Hälfte ihres damaligen Bestandes.137
133 Stöss, Richard: Parteien-Handbuch, S. 2184. 134 Vgl. Walter, Franz: Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009, S. 64f. 135 Neu, Viola: Sozialstruktur und politische Orientierungen der CDU-Mitglieder 19932006, in: Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar; Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 161. 136 Siehe hierzu auch Scarrow, Susan E.: Parties without Members? Party Organization in Changing Electoral Enviroment, in: Dalton, Russell J.; Wattenberg, Martin P. (Hrsg.): Parties without Partisans. Political Change in Advanced Industrial Democracies, Oxford 2000, S, 80-101. 137 Niedermayer, Oskar: Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2010, S. 2.
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Die rein statistischen Mitgliederdaten geben jedoch nur unzureichend Auskunft über die Präsenz der Parteien in der Gesellschaft. Der Blick soll auf den Anteil derjenigen Bürger gerichtet werden, die sich einer Partei angeschlossen haben. Dazu ist der Organisationsgrad – also das Verhältnis zwischen Parteimitgliedern zu den Wahlberechtigten – heranzuziehen: Während der Mitgliederhochphase zwischen 1970 und 1976 stieg der Organisationsanteil von 3,1 auf 4,4 Prozent an.138 Im Jahr 2010 besaßen von 100 Deutschen gerade einmal zwei Prozent ein Parteibuch. Die Auszehrung der Parteien ist somit das Menetekel für die verlorengegangene Bindungskraft. Verantwortlich für den „Vergreisungsprozess“ ist in erster Linie das Fehlen einer „frische Blutzufuhr“139 durch einen ausreichenden Zustrom an Jungmitgliedern. Dieser Mangel hält seit über dreißig Jahren an. Jüngere scheinen sich für die etablierten Parteien nicht mehr sonderlich zu interessieren.140 Der diagnostizierte Prozess der „Überalterung“ steht also in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer deutlichen „Unterjüngung“. Tabelle 5: Mitglieder nach Altersgruppen in CDU und SPD 1991 bis 2010 (in Prozent) SPD
CDU Jahr
-29
30-59
60+
-29
30-59
1991
6,8
63,1
29,2
9,9
65,0
60+ 25,2
1993
5,7
62,3
31,7
8,5
65,4
26,0
1995
5,2
59,8
34,5
7,4
65,2
27,4
1997
4,9
57,0
37,7
6,5
64,1
29,4
1999
5,5
53,7
40,4
4,6
58,9
36,5
2001
5,3
50,4
44,0
4,4
56,5
39,2
2003
5,4
48,6
45,7
4,6
53,2
42,2
2006
5,4
47,1
47,1
5,7
49,2
45,1
2007
5,1
46,5
48,0
5,8
47,5
46,7
2009
6,2
46,7
47
7,4
46,1
46,4
2010
6,1
45,6
48,1
7,9
44,7
47,9
Quelle: Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder 2011, Angaben der Parteivorstände.
138 Wiesendahl, Elmar: Parteiendemokratie in der Krise: Das Ende der Mitgliederparteien?, S. 29. 139 Wiesendahl, Elmar: Mitgliederparteien am Ende?, S. 49. 140 Wiesendahl, Elmar: Keine Lust mehr auf Parteien. Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien, in: APuZ, B 10/2001, S. 7-19.
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Die Mitgliederkrise der SPD ist vor allem durch die Abstinenz mehrerer Jugendgenerationen verursacht. Junge Leute schlossen sich in den 1980er und 1990er Jahre mehrheitlich den sozialen Bewegungen und den Grünen an und blieben der Sozialdemokratie fern. Dabei wurde sie in ihrer Hochphase der 1970er Jahre von einer Eintrittswelle Jugendlicher und junger Erwachsener unter 30 Jahre noch regelrecht überschwemmt: Zwischen 1969 und ihrem Bestjahr 1976 waren von den 1.022191 Mitgliedern über 400.000 Mitglieder im Juso-Alter zwischen 16 und 30 Jahren, viele von ihnen waren Gymnasiasten der Oberstufe und Studenten. In der historischen Hochphase der überwiegend akademisch geprägten Verjüngung zwischen 1969 und 1971/72 stieg der Anteil der Jung-Mitglieder bis 30 Jahre unter den Neu-Mitgliedern von knapp 40 auf über 50 Prozent, fiel dann bis zum Ende der 1980er Jahre wieder auf rund 35 Prozent.141 Im Jahr 1975 waren 19,3 Prozent der Mitglieder unter 30 Jahre, im Jahr 2010 machte diese Altersgruppe 7,9 Prozent der SPD-Gesamtmitgliedschaft aus. Nach dem schlechten Bundestagswahlergebnis 2009 schlossen sich neue, junge Menschen der Sozialdemokratie an (19.180 im Jahr 2009), ihre Zahl reicht jedoch nicht aus, um die Sterbefälle (8.011) und Austritte (17.429) auszugleichen. Die Jusos durchliefen in den vergangenen 30 Jahren einen Prozess der dramatischen Auszehrung: Als parteieigene Organisation der Altersgruppe bis 35 Jahre erlebten sie 1975 ihre Hochphase mit mehr als 300.000 Mitgliedern. Vor allem in den 1980er Jahren ging es jedoch politisch und zahlenmäßig mit den Jungsozialisten bergab. Während die Jusos der 1960er und 1970er Jahre, die sogenannte Enkel-Generation, nunmehr in die Gremien der Partei gewählt wurden und erfolgreich Ämter besetzten, dünnte sich die „Schicht der wirklich jungen Sozialdemokraten“ stetig aus.142 Bis Ende 1988 fiel die Zahl der Jusos auf 88.000. Auch in den darauf folgenden zwanzig Jahren siechte die einstig starke Jugendorganisation dahin. Anfang 2008 zählten die Jusos lediglich noch 67.335 Mitglieder.143 Der Anteil der Altmitglieder ab 60 Jahren wuchs dagegen von 17,1 Prozent im Jahr 1975 auf 47,9 Prozent im Jahr 2010. Auch die Christdemokraten leiden an einem anhaltenden Mitgliederschwund. Im Jahr 1983 erreichten die bis 30-Jährigen mit 13 Prozent ihren Höchststand in
141 Im Jahr 1959 lag der Anteil der Jungmitglieder unter den Neumitgliedern noch bei 27,7 Prozent. 142 Lösche, Peter; Walter, Franz: Die SPD, S. 282. 143 Gruber, Andreas K.: Die Karriere-Katalysatoren. Zur Karrierefunktion der Parteijugendorganisationen, in: ZParl, 2009, Jg. 40, 1, S. 109.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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der CDU, im Jahr 2010 machten sie lediglich 6,1 Prozent aller Mitglieder aus.144 Im selben Zeitraum stieg der Anteil der langjährigen Mitglieder ab 60 Jahren von 17,3 auf 48 Prozent. Die Junge Union zählte in ihrem Erfolgsjahr 1983 rund 260.000 Mitglieder.145 Binnen 25 Jahren hat sich die Zahl auf 125.494 im Jahr 2008 nahezu halbiert; mit diesem Bestand ist sie nach wie vor die mitgliederstärkste Parteijugendorganisation Deutschlands. Der Anteil der Rentner hat sich seit den 1970er Jahren verdoppelt und liegt bei rund 45 Prozent in der CDU und 43 Prozent in der SPD. In der Bevölkerung stellen Rentner und Pensionäre 29 Prozent.146 Während der Anteil der Arbeiter in Gesellschaft und SPD-Mitgliedschaft weiter sinkt, bilden die Angestellten gemeinsam mit den Ruheständlern die Hälfte aller Genossen.147 Rechnet man die Beamten hinzu, stellt diese Gruppe knapp zwei Drittel der Mitgliedschaft. Bei der CDU war der Arbeiteranteil traditionell niedrig, nahm in den letzten Jahren jedoch weiterhin ab.148 Angestellte und Beamte des gehobenen und höheren Dienstes sind in der CDU überrepräsentiert. Dagegen findet man Mitglieder zwischen 30 und 59 Jahren, die größtenteils mit dem Vorankommen und der Festigung im Beruf und der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt sind, in den Parteien immer seltener. Seit Beginn der 1990er Jahre nimmt ihr Anteil kontinuierlich zugunsten der Gruppe der über 60-Jährigen ab. Im Jahr 1991 umfasste die mittlere Altersgruppe in der CDU und SPD noch knapp zwei Drittel, 16 Jahre später nicht einmal mehr die Hälfte aller Mitglieder.
144 Für den Zeitraum zwischen 1969 bis 1980 konstatierte Wulf Schönbohm eine erhebliche Verjüngung der CDU-Mitgliedschaft. Der Anteil der über 60-Jährigen reduzierte sich bis zum Jahr 1980 auf 20,2 Prozent. Bundesweit nahm die Gruppe der mittleren Jahrgänge (40- bis 59-Jährige) in der Oppositionszeit strukturell zu. Vgl. Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 196; Daten für 2010 siehe Niedermayer, Oskar: Parteimitgliedschaften im Jahre 2010, S. 377. 145 Die JU-Mitglieder sind jedoch nicht alle automatisch Mitglieder der Mutterpartei CDU. 146 Vgl. Spier, Tim: Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt, in: Ders. u.a. (Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 49. 147 Im Jahr 2008 waren 11,5 Prozent der SPD-Mitglieder Arbeiter, 24,4 Prozent Angestellte und 9,2 Prozent Beamte (Angaben des Parteivorstands 2008). Diese Angaben der Mitgliederstatistik der Parteizentralen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Häufig geben Mitglieder Veränderungen ihres Berufstatus nicht weiter. 148 Der Arbeiter-Anteil ist von 16 auf 6 Prozent gesunken. Vgl. Neu, Viola: Sozialstruktur und politische Orientierungen der CDU-Mitglieder 1993-2006, S. 181.
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Abbildung 5: Parteimitglieder von CDU und SPD nach Altersgruppen im Jahr 2010
Quelle: Angaben der Parteivorstände (jeweils zum 31.12.), eigene Darstellung.
Abbildung 5 visualisiert die Altersstruktur der Parteiangehörigen von CDU und SPD im Jahr 2010. Das Gros der Mitglieder ist bei der CDU zwischen 66 und 70 Jahre und bei der SPD zwischen 55 und 60 Jahre alt. Sie gehören zu den Geburtsjahrgängen 1941 bis 1949, die in den 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre in die Volksparteien geströmt, geblieben und gealtert sind. Ein CDU-Mitglied ist im Durchschnitt 56 Jahre alt und damit zwei Jahre jünger als ein Sozialdemokrat. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, dass die CDU im Vergleich zur SPD in den Altersgruppen der heute 35- bis 45-Jährigen mehr Mitglieder aufweisen kann. Das Missverhältnis zwischen Jung und Alt fällt noch deutlicher aus, wenn die Gruppe der Jungmitglieder bis 25 Jahre mit der Gruppe der über 71-Jährigen verglichen wird: In der CDU stehen 14.149 Mitglieder bis 25 Jahre 131.381 Mitgliedern über 71 Jahre gegenüber. In der SPD stellt sich das Altersungleichgewicht ähnlich dar: 19.078 Jungmitgliedern im Jahr 2010 stehen 122.001 über 71-Jährige gegenüber. Das eklatante Repräsentationsdefizit der Parteien bei den jüngeren Altersgruppen gründet sich nicht auf der allgemeinen Alterung der Gesellschaft. Der Anteil der bis 25-Jährigen an der Bevölkerung liegt im Jahr 2009 bei 24,8 Prozent, in SPD und CDU zusammen sind es gemessen an der Gesamtmitgliedschaft 14 Prozent. Für die Altersgruppe über 60 Jahre kann festgehalten
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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werden: In der Bevölkerung ist jeder Fünfte 60 Jahre oder älter, in den beiden Parteien zählt jeder zweite zu dieser Altersgruppe.149 2.2.2 Parteienorganisationsforschung: Ende oder Zukunft der Mitgliederparteien? Mit Blick auf die strukturell nachteilige Entwicklung ist zu fragen, ob CDU und SPD auch in Zukunft diesen Typus für sich reklamieren können. Nach Wiesendahl ist eine Mitgliederpartei eine Partei, die sich selbst als Mitgliederpartei versteht und aktiv um Mitglieder wirbt.150 Die folgenden Ausführungen geben einen Überblick der politikwissenschaftlichen Debatte zum Wandel von Parteiorganisationen wieder. Über die Fortbestandskrise wird seit den 1990er Jahren in der Parteienforschung rege diskutiert.151 Insbesondere der Erosionsprozess der Volksparteien steht im Zentrum der Niedergangsliteratur. Ein Merkmal der Malaise ist neben der anhaltenden Schrumpfung die Überalterung der Mitgliederstruktur. Beide (westdeutschen) „Nachkriegsepochenparteien“, die sich auf die Kohorten der 1970er und 1980er Jahre verengt haben, leiden an einem „Generationsloch“152. Dabei sind die Basisorganisationen der Parteien – die „party on the ground“ – unmittelbar von der beschriebenen Atrophie betroffen, während der Parteiführungsstab („party in central office“) und die Partei in öffentlichen Ämtern („party public-office“) davon kaum tangiert werden.153 Es konkurrieren verschiedene Argumentationsstränge, deren grundsätzliche Ausgangsfrage lautet: Können Parteien weiterhin als Mitgliederparteien definiert werden, die in umfangreichem Maße Bürger unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche integrieren und damit
149 Vergleicht man die Gruppe der bis 30-Jährigen in den Parteien mit ihrem Anteil an den Wahlberechtigten, so zeigt sich folgendes Bild: CDU: 5,1 Prozent, SPD: 5,8 Prozent, Wahlberechtigte bis 29 Jahre: 16,4 Prozent. 150 Wiesendahl, Elmar: Mitgliederparteien am Ende?, S. 21f. 151 Vgl. hierzu Scarrow, Susan E.: Parties and their Members. Organizing for Victory in Britain and Germany, Oxford 1996; Decker, Frank; Oeltzen, Anne-Kathrin: Mitgliederpartei oder professionelle Wählerpartei: ein Widerspruch?, in: Schalt, Fabian u.a. (Hrsg.): Neuanfang statt Niedergang − Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin 2009, S. 259-272. 152 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Parteiendemokratie in der Krise: Das Ende der Mitgliederparteien?, S. 33. 153 Wiesendahl, Elmar; Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar: Die Zukunft der Mitgliederparteien auf dem Prüfstand, S. 9.
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als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat fungieren, oder werden zukünftig alternative Formen des Selbstverständnisses das Parteibild prägen?154 Die eine Autorengruppe sieht ein siechendes Ende der Mitgliederpartei voraus. Die Marginalisierung der Mitgliederbasis beobachtete bereits in den 1960er Jahren Otto Kirchheimer in seiner idealtypischen Vorstellung der Allerweltspartei beziehungsweise Catch-all-party.155 Auch wenn die Allerweltspartei weiterhin eine Mitgliederpartei sei, gehe ein Bedeutungsverlust der Mitgliederbasis mit einem Bedeutungszuwachs der Parteielite einher, konstatierte Kirchheimer. Auf seinen Überlegungen fußt die anschließende Debatte über die zukünftige Entwicklung von Parteiorganisation. Die bekannteste, und wohl auch umstrittenste These ist die der Kartellpartei von Katz und Mair.156 In der Kartellpartei seien Mitglieder nur noch von geringer Bedeutung, denn infolge der „Penetration des Staates durch die Parteien“157 ziehen diese als „quasi-staatliche Akteure“ Ressourcen aus anderen Quellen, etwa durch die staatliche Parteienfinanzierung. Parallel versuche die Parteielite ihre Machtposition zu erweitern, so dass die einfachen Mitglieder in ihrer Möglichkeit der innerparteilichen Einflussnahme marginalisieren. Die Rolle der Parteimitglieder sei auf die von „cheerleadern“ reduziert. Politische Parteien werden in erster Linie als „politische Dienstleister“158 mit dem Ziel der Erringung von Wahlerfolgen und weniger als gesellschaftlich breit verankerte Organisationen verstanden. Panebianco diskutiert den Aspekt der Professionalisierung und die Konzentration auf die Wählergewinnung in der Konzeption der professionellen Wählerpartei.159 Auf dieser Argumentation aufbauend, spricht Jun von der professionalisierten Medienkommunikationspartei, von Beyme von der Berufspolitikerpar-
154 Vgl. Biel, Heiko: Parteienmitglieder im Wandel. Partizipation und Repräsentation, Wiesbaden 2005, S. 26. 155 Kirchheimer, Otto: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, 1965, S. 20-41. Volkspartei und Allerweltspartei werden meist synonym gebraucht. Gleichwohl meint die Allerweltspartei eher den Idealtyp, bei der Volkspartei handelt es sich um die realtypische Beschreibung. 156 Katz, Richard S.; Mair, Peter: Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of der Cartel Party, in: Party Politics, 1995, 1, S. 5-28. 157 Decker, Frank: Parteiendemokratie im Wandel, in: Ders.; Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 47. 158 Biel, Heiko: Parteimitglieder neuen Typs? Sozialprofil und Bindungsmotive im Wandel, in: ZParl, 2004, Jg. 35, 4, S. 682. 159 Panebianco, Angelo: Political Parties. Organization and Power, Cambridge 1998.
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tei.160 Diesen Ansätzen ist gemein, dass Parteien zur Stimmenmaximierung die Ressource des professionellen Kommunikationsmanagements gerade in Wahlkampfzeiten nutzen, um eine effiziente Binnen- und Außenkommunikation zu erzielen. Auf der Organisationsebene werden infolgedessen Mitglieder in ihrer Rolle als Multiplikatoren und Wahlkampfhelfer immer weniger benötigt. Hauptaugenmerk liegt nun auf den Berufspolitikern, die maßgeblichen Einfluss auf die strategische und programmatische Ausrichtung der Parteien nehmen. Noch dezidierter spricht sich der ehemalige Bundesgeschäftsführer der CDU Peter Radunski aus. Er plädiert mit Blick auf die Großparteien dafür, anstatt angestrengt um neue Mitglieder zu werben, sich um eine möglichst breite Anhängerschaft zu bemühen, um bei Wahlen Nichtwähler und Wechselwähler zu mobilisieren. In seinem Konzept der Fraktionspartei ist die Parteiorganisation durch einen Kern von ambitionierten Berufspolitikern zu substituieren.161 Das Machtzentrum sowie organisatorische und finanzielle Ressourcen finden sich in den Fraktionen der Parlamente und den Kabinetten.162 Vor allem in der modernen Wahlkampfforschung verfestigte sich die postulierte Marginalisierungsthese, wonach die traditionellen Mitgliederparteien und ihre „grassroots organizational techniques“163 vermeintlich unzeitgemäß für moderne Wahlkampfkampagnen seien. Streeck sieht mit der Überalterung der Parteien gar ihre „politische Irrelevanz endgültig besiegelt“164. Er geht sogar einen Schritt weiter und prognostiziert das Ende der Parteiendemokratie, „die nicht nur auf Wahlen gegründet war, sondern auch auf organisatorische Partizipation“165.
160 Vgl. hierzu Jun, Uwe: Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich, Frankfurt a. M. 2004; Beyme, Klaus von: Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Opladen 2000. 161 Radunski, Peter: Fit für die Zukunft? Die Volksparteien vor dem Superwahljahr 1994, in: Sonde, 1991, S. 3-8; Ders: Parteiorganisation? Aber Hallo! Die neuen Aufgaben der Parteiorganisation in der Wahlkampagne, in: Schalt, Fabian; u.a. (Hrsg.): Neuanfang statt Niedergang – Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin 2009, S. 397-410. 162 In den Parlamenten, vom Gemeinderat bis zum Bundestag, und auf Landes- und Bundesebene in den jeweiligen Verwaltungen und Dezernaten. 163 Scarrow, Susan E.: Local Parties and Electioneering in Germany: Local Political Messages in an Era of Nationalized Political Communication, in: Saiz, Martin; Geser, Hans (Hrsg.): Local Parties and Organizational Perspective, Oxford 1999, S. 152. 164 Streeck, Wolfgang: Politik in einer alternden Gesellschaft, S. 298. 165 Ebd., S. 299.
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Andere Parteienforscher sehen trotz des Wandels der Mitgliederorganisationen die Zukunft von Parteien nicht ohne eine aktive Mitgliederbasis.166 Die Befürworter der erneuerten Mitgliederpartei167 gehen bei ihren Überlegungen von einer Revitalisierung dieses Parteitypus bei weiterhin gleichbleibendem Grundverständnis von politischen Parteien aus. Diese sind gesellschaftlich verankerte Organisationen, welche die Aufgabe haben, „Interessen zu aggregieren und in den politischen bzw. staatlichen Bereich zu transportieren“168. Neben ihrem Bestreben, bei Wahlen möglichst viele Stimmen zu erhalten, um politische Gestaltungspositionen in der Regierung zu erlangen, gehört es zur Aufgabe von politischen Parteien, soziale Gruppen in den politischen Raum zu integrieren. Eine optimistische Version der Weiterentwicklung von Parteien kommt im Modell der modernen Kaderpartei zum Ausdruck.169 Die Parteiorganisation ist weiterhin an der vertikalen innerparteilichen Demokratie ausgerichtet. 170 Die moderne Kaderpartei geht anders als die Kaderpartei von Katz/Mair von einer aktiven Mitbestimmung der Mitglieder aus. Ähnlich kommt dies auch im Konzept der Netzwerkpartei zum Ausdruck.171 Detterbeck überprüfte die Kaderpartei auf seine empirische Anwendung für Westeuropa und konstatiert, dass deutsche Parteien zwar seit den 1960er Jahren tendenzi-
166 Vgl. Haungs, Peter: Plädoyer für eine erneuerte Mitgliederpartei. Anmerkungen zur aktuellen Diskussion über die Zukunft der Volksparteien, in: ZParl, 1994, Jg. 25, 1, S. 108-115. Neuere Arbeiten: Schalt, Fabian; u.a. (Hrsg.): Neuanfang statt Niedergang − Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin 2009, siehe auch: Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar; Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 229-248. 167 Haungs, Peter: Plädoyer für eine erneuerte Mitgliederpartei, S. 108-115. 168 Biel, Heiko: Parteienmitglieder im Wandel, S. 26. 169 Vgl. Koole, Rudd: The Vulnerability of the Modern Cadre Party in the Netherlands, in: Katz, Richard S.; Mair, Peter (Hrsg.): How Parties Organize. Change ad Adaption in Party Organizations in Western Democracies, London u.a. 1994, S. 278-523; Koole, Rudd: Cadre, Catch-all or Cartel? A Comment on the Notion of the Cartel Party, in: Party Politics, 1996, Vol. 2 (4), S. 507-523. 170 Alemann, Ulrich von; Spier, Tim: Parteimitglieder nach dem „Ende der Mitgliederpartei“. Ein Überblick über Forschungsergebnisse für Westeuropa seit 1990, in: ÖZP, 2008, 37 Jg., 1, S. 34. 171 Die norwegischen Forscher unterstreichen in ihrem Konzept das starke Spannungsverhältnis zwischen dem Partizipationsbestreben der Basis und der Konzentration der Parteielite auf die Wählermaximierung. Vgl. Heidar, Knut; Saglie, Jo: Predestined Parties? Organizational Change in Norway, 1991-2000, in: European Journal of Politics, 2003, Vol. 9, 2, S. 219-239.
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ell Merkmale diesen Typus vorweisen, gleichwohl jedoch auch anderweitige Entwicklungen durchlaufen haben.172 Die CDU etwa räume ihren Mitgliedern größere Mitspracherechte beispielsweise bei der Kandidatenauswahl ein. Die neuere Parteienforschung plädiert – auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes von Barack Obama im Jahr 2008 – für den Erhalt lebendiger Basisorganisationen. Parteimitglieder sind in ihrer Rolle als Botschafter und Multiplikatoren im lokalen Wahlkampf für die Wählermobilisierung und Stimmabgabe von großem Nutzen.173 Heidar und Saglie argumentierten bereits einige Jahre zuvor mit Blick auf die norwegischen Parteien, dass Parteiaktive nicht durch professionelle Parteistäbe, Spin Doctors und Medienexperten ersetzt, sondern unverändert als Nutzen bringende Wahlkämpfer und Kommunikatoren betrachtet werden können.174 Auch die deutschen Parteien haben das Bestreben nach einem aktiven Parteileben nicht aufgegeben, das belegen die beständigen Parteireformen seit den 1990er Jahren, die allerdings bislang nicht den durchschlagenden Erfolg nach sich zogen.175 Nichtsdestotrotz dürften Parteien „ihre organisatorischen Wurzeln nicht vernachlässigen“ und ihre „lokalen Parteiorganisationen nicht austrocknen“ lassen, so auch der Appell von Jucknat und Römmele.176 In Untersuchungen für Westeuropa wurde zudem festgestellt, dass starke Mitgliederorganisationen Wahlergebnisse stabilisieren. Sinkt die Zahl der Mitglieder und damit die gesellschaftliche Verankerung, wird auch die Wählerbindung instabil.177
172 Detterbeck, Klaus: Der Wandel politischer Parteien, Opladen 2002. 173 Vgl. hierzu Wiesendahl, Elmar; Jun, Uwe; Niedermayer, Oskar: Die Mitgliederparteien zwischen Unmodernität und wieder entdecktem Nutzen, in: Dies. (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 31-52. 174 Heidar, Knut; Saglie, Jo: A decline of linkage? Intra-party participation in Norway 1991-2000, in: European Journal of Political Research, 2003, Vol. 42, 6, S. 769. 175 Jun, Uwe: Organisationsreformen der Mitgliederparteien ohne durchschlagenden Erfolg: Die innerparteilichen Veränderungen von CDU und SPD seit den 1990er Jahren, in: Ders.; Niedermayer, Oskar; Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 187-210. 176 Jucknat, Kim; Römmele, Andrea: Professionalisierung des Wahlkampfes in Deutschland. Wie sprachen und sprechen Parteien ihre Wählerinnen und Wähler an?, in: Grabow, Karsten; Köllner, Patrick (Hrsg.): Parteien und ihre Wähler. Gesellschaftliche Konfliktlinien und Wählermobilisierung im internationalen Vergleich, Sankt Augustin 2008, S. 175. 177 Poguntke, Thomas: Parteiorganisation im Wandel. Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 24.
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Mit dem Mitgliederrückgang stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die Organisationsstruktur und die innerparteilichen Machtverhältnisse. Michels beschrieb im „ehernem Gesetz der Oligarchie“ für die prototypische Massenpartei der SPD Anfang des 20. Jahrhunderts den Zentralisierungsprozess der Macht, der mit steigenden Mitgliederzahlen und dem Aufbau komplexer Organisationsstrukturen einhergeht.178 Kann für die gegenwärtige Entwicklung von einer Reduktion der Organisationskomplexität und einer Dezentralisierung von Macht ausgegangen werden? Das Schrumpfen der Mitgliederzahlen hat bislang keinen signifikanten Einfluss auf den organisatorischen Aufbau und die Machtarithmetik – allenfalls werden Ortsgruppen, die zu klein und damit auf lange Sicht nicht überlebensfähig sind, zusammengelegt. Die formale Struktur bleibt auch bei sinkenden Mitgliederzahlen weitgehend erhalten. Dies deckt sich auch mit der Charakterisierung der modernen Kaderpartei bzw. Netzwerkpartei.179 Um zu beantworten, ob das Ende der Mitgliederparteien absehbar ist, ist nicht nur die bloße Zahl entscheidend. Zweifelsohne ist die „goldene Zeit der Mitgliedrekrutierung“180 passé, gleichwohl haben alle Parteien zusammen im Jahr 2009 1,39 Millionen Mitglieder und damit mehr als in den 1950er Jahre (0,8 Millionen).181 Man könnte die heutige Mitgliederentwicklung im zeithistorischen Vergleich als einen eingependelten Durchschnittszustand bezeichnen. Für CDU wie SPD lässt sich festhalten: Sie verstehen sich nach wie vor als Mitgliederparteien, die ihre Mitglieder als Ressource nutzen möchten. Ihre Organisationsstruktur ist auf deren aktive Mitwirkung ausgerichtet. Die wiederholten Parteireformen zielen auf die Reaktivierung und Revitalisierung dieser Strukturen ab.
178 Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 1989 (1911). 179 Vgl. Alemann, Ulrich von; Spier, Tim: Parteimitglieder nach dem „Ende der Mitgliederpartei“, S. 40. 180 Gabriel, Oscar W.; Niedermayer, Oskar: Entwicklung und Sozialstruktur der Parteimitgliedschaften, in: Dies.; Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 280. 181 Vgl. Niedermayer, Oskar: Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, S. 425.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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2.2.3 Die älteren Parteimitglieder im Spiegel der Parteimitgliederstudien Wie partizipieren Ältere in den Parteien? Sind eher generationenspezifische Aspekte zur Erklärung ihres politischen Engagements heranzuziehen oder lässt sich dies durch altersspezifische Verhaltensweisen verstehen? Im Folgenden werden die aus diversen Parteimitgliederstudien vorliegenden Ergebnisse herangezogen, um die Untersuchungsgruppe in CDU und SPD zu charakterisieren. Die Forschungsgruppe der Deutschen Parteimitgliederstudie 2009 vergleicht ihre Ergebnisse mit dem Befund der Potsdamer Parteimitgliederstudie aus dem Jahr 1998. Sie unterscheidet hinsichtlich des Aktivitätsniveaus vier Gruppen: Die „Inaktiven“, die „Versammlungsbesucher“, die „geselligkeitsorientierten Aktiven“ und die „ämterorientierten Aktiven“. Die Mitgliedergruppe mit dem höchsten Aktivitätsniveau hat – trotz sinkender Mitgliederzahlen und -alterung – zugenommen: Im Vergleich zu 1998 nahm sie bei den Christdemokraten um 5 Prozentpunkte auf 21 Prozent und bei den Sozialdemokraten von 18 auf 23 Prozent zu. Unter den „ämterorientierten Aktiven“ dominieren die beruflich aktiven Jahrgänge bis zum 64. Lebensjahr, der Anteil der über 70-Jährigen nimmt deutlich ab.182 Die Veränderungen im Zeitverlauf verdeutlicht die folgende Abbildung. Abbildung 6: Aktivitätstypen der Mitglieder in CDU und SPD (1998 und 2009)
Quelle: Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien?, S. 111.
182 Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien?, S. 110f.
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Ältere können häufiger der Gruppe der Inaktiven zugeordnet werden. Die Autoren erklären dies mit einer altersbegründeten Abnahme, da innerparteiliches Engagement einem kurvilinearen Muster, in Form eines umgekehrten U, folge: Nach Nie u.a. nimmt die „age-participation relationship“ folgenden Verlauf: „Participation rises in the early years, peaks in middle age, and falls in later years“183. Ältere beenden ihr Parteiengagement dabei nicht mit dem Austritt, sondern bleiben passive, weiterhin zahlende Parteimitglieder. Mit Blick auf das soziodemografische Profil der Aktiven halten die Autoren fest, dass ältere aktive Parteimitglieder, vor allem viele Frauen, überdurchschnittlich zum Typus der „geselligkeitsorientierter Aktiven“ zählen. Dieser Aktivitätstyp gilt hinsichtlich seines soziodemografischen Profils als Gegenstück zum „ämterorientierten Aktiven“.184 Das parteipolitische Engagement Älterer wird in dieser Argumentation durch die Perspektive eines Alterseffekts betrachtet. Gesundheitliche Einschränkungen, eine nachlassende geistige Kondition sind physisch nachvollziehbare Gründe für einen Rückzug aus dem Parteileben. Dieser wird zusätzlich durch Erkenntnisse aus der persönlichkeitspsychologischen Alterswissenschaft erklärt. Der Alterungsprozess zeichnet sich nach Staudinger durch Stabilität, Wachstum und Verlust zugleich aus. Unter Stabilität im Sinne von Nicht-Veränderung sind Aspekte des Emotionshaushalts zu verstehen, die mit zunehmendem Alter auf die Vermeidung von Situationen und Erfahrungen, die negative Emotionen hervorrufen, und auf den Erhalt bestehender Zustände abzielen. Man könnte diese Entwicklung als Prozess zur Altersmilde im umgangssprachlichen Sinne beschreiben. Neurotizismus185 und Offenheit für neue Erfahrungen nehmen ab, gleichzeitig nehmen Umgänglichkeit und Zuverlässigkeit zu, was sich in einer Zunahme an sozialer Kompetenz, etwa im Hinblick auf das soziale Miteinander, äußert. Aus altersvergleichenden Studien geht ebenfalls hervor, dass das subjektive Wohlbefinden in der zweiten Lebenshälfte stabil bleibt, „obwohl es objektiv eine Menge Gründe gäbe, weniger zufrieden zu sein“186. Mit steigendem Alter zeigt man sich
183 Nie, Norman H.; Verba, Sidney; Kim, Jae-On: Political Participation and the Life Cycle, in: Comparative Politics, Nr. 6, 1974, S. 326. 184 Vgl. Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien?, S. 116. 185 Unter Neurotizismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal zu verstehen, welches sich mit den Adjektiven gespannt, ängstlich, nervös, launisch, empfindlich, reizbar und furchtsam beschreiben lässt. In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass mit dem Alter dieser Zustand zurückgeht. 186 Staudinger, Ursula: Was ist das Alter(n) der Persönlichkeit? Eine Antwort aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht, in: Häfner, Heinz; Dies. (Hrsg.): Was ist Alter(n)?: Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin 2008, S. 88.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
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widerstandsfähiger und resilienter, weil aus früheren Erfahrungen gelernt wurde, mit persönlichen Verlusten und negativen Ereignissen umzugehen.187 Dieser Befund liefert eine Erklärung, warum Ältere sich womöglich aus dem machtpolitischen Wettbewerb, der bisweilen mit dem Austragen von harten Konflikten einhergeht, zurückziehen und damit in geringerem Maße zur Gruppe der „ämterorientierten Aktiven“ in den Parteien zählen. Die Deutsche Parteimitgliederstudie befragte Parteimitglieder zusätzlich nach ihrer Zufriedenheit. Interessanterweise konstatieren die Autoren, dass das Alter und die Mitgliedschaftsdauer Einfluss auf die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit der Mitglieder ausübt. Am unzufriedensten sind Sozialdemokraten, die länger als zehn Jahre SPD-Mitglied sind.188 Grundsätzlich kommt in der sozialstrukturellen Variable Alter das Ergebnis einer zu einem früheren Zeitpunkt getroffenen Beitrittsentscheidung zum Ausdruck. Die heutigen über 60-Jährigen, deren überwiegende Mehrheit sich in den 1960er und 1970er Jahren den Volksparteien anschloss, altern mit ihren Parteien.189 Mit Blick auf die festgestellte Unzufriedenheit älterer Parteimitglieder kann ein Generationeneffekt beobachtet werden: Politische Parteien müssen sich an ihre Umweltbedingungen anpassen und verändern sich im Laufe der Zeit im Hinblick auf ideologische und programmatische Grundsätze und konkreter Parteiarbeit. Zu denken ist bei Letzterem etwa an den Einsatz der neuen Kommunikationsformen, die das Internet ermöglicht. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenen Mitglieder erleben diese Veränderungen als unerwünscht, da sie sich nicht mehr mit ihren Weltanschauungen, Motiven und Erwartungen decken. In der Studie über CDU-Mitglieder aus dem Jahr 2007 der Konrad-Adenauer-Stiftung sind die älteren, im Ruhestand befindlichen Mitglieder mehrheitlich in den Milieus der Traditionsbewussten und der Marktwirtschaftsorientierten zugeordnet. Die Traditionsbewussten, die sich zu drei Viertel aus Personen über 60 Jahre zusammensetzen, nehmen in gesellschaftspolitischen Fragen dezidiert konservative Positionen ein. Katholiken und regelmäßige Kirchengänger gehören überdurchschnittlich diesem Typus an, die aus emotionalen, weltan-
187 Die scheinbare Stabilität des subjektiven Wohlbefindens kann als Wachstum der Persönlichkeitsstruktur im Sinne einer beträchtlichen Anpassungsleistung interpretiert werden. 188 Vgl. Nonnenmacher, Alexandra: Wie zufrieden sind die Mitglieder der Parteien?, in: Spier, Tim u.a. (Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 142. 189 Vgl. Niedermayer, Oskar: Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger, in: Kühnel, Steffen; Ders.; Westle, Bettina (Hrsg.): Wähler in Deutschland. Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, Wiesbaden 2009, S. 130.
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schaulichen Gründen der CDU beigetreten sind. Die Geselligkeitsaspekte überwiegen, soziale Anerkennung spielt in dieser Gruppe eine wichtige Rolle. Den Traditionsbewussten sind die Verbrechensbekämpfung und die Bewahrung der traditionellen Familienwerte besondere Anliegen.190 Dieser Typus wurde unter der Adenauer-Regierung politisch sozialisiert. Im Milieu der Marktwirtschaftsorientierten nimmt die Gruppe der über 60Jährigen mit 45 Prozent eine starke Stellung ein. Ähnlich wie die Traditionsbewussten halten sie christliche Werte und das traditionelle Familienmodell hoch. Sie zeichnen sich zudem durch ein multiaktives Engagement in Vereinen, Bürgerinitiativen oder sozialen Organisationen aus. Vor allem aber sind ihr hohes Bildungsniveau sowie ihre rechtsstehende Selbstverortung signifikant. Die Marktwirtschaftsorientierten lehnen eine Koalition mit der SPD deutlich ab.191 Diesen Merkmalen folgend, gehören die Angehörigen dieses Milieus zu jener Alterskohorte, die aus Protest während der sozial-liberalen Koalition unter der Führung Willy Brandts aus einem Gegen-Reflex der Union beigetreten ist.192 Für die SPD liegt eine solch vergleichbare Studie nicht vor. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich die dominierenden Geburtsjahrgänge 1941 bis 1945 in der Tradition der Sozialdemokratie der 1970er Jahre verorten. Die Ortsvereinsbefragung der SPD untermauert diese These.193 Gefragt nach den wichtigsten Gründen für die Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 nannten die befragten Mitglieder in den Ortsvereinen vor allem Themen wie Hartz IV, Rente mit 67 oder die fehlende Glaubwürdigkeit der SPD. Die genannten Gründe stehen augenscheinlich mit einer hohen Unzufriedenheit der älteren Mitglieder im Ruhestand, die den politischen Kurswechsel seit dem Regierungswechsel 1998 missbilligen.
190 Vgl. Neu, Viola: Die Mitglieder der CDU, S. 42f. 191 Vgl. ebd., S. 44f. 192 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Schildt, Axel; Vogel, Barbara (Hrsg.): Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848-1989, Hamburg 2002, S. 138-169. 193 Vgl. SPD: Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der SPD-Ortsvereine, nicht veröffentlichtes Papier des Willy-Brandt-Hauses 2010, S. 4.
3. Vorgehen und Methodik
Die komparativ angelegte Studie richtet den Blick auf eine vielschichtige Thematik. Es soll erstens untersucht werden, wie sich die Alterung der Mitgliederstruktur auf die personelle Ausstattung beider Parteien auswirkt, ob zweitens auf der institutionellen Ebene die Seniorenorganisationen zu machtvollen Vertretern seniorenspezifischer Interessen werden und drittens welche strategischen Organisationsressourcen die zahlenmäßig starke Gruppe der über 60-Jährigen auf der untersten Parteiebene zur Verfügung stellen. Die Parteibasis wurde als Untersuchungsebene gewählt, da sie zentraler Partizipationsort der Mitgliederparteien ist. Gemäß den drei eingenommen Untersuchungsperspektiven wurden unterschiedliche methodische Zugänge gewählt und diverse Quellen erhoben. Auf der Datengrundlage insbesondere zur Bundestagswahl 2009 wird die Frage der politischen Karriereperspektiven von über 60-Jährigen erörtert. Wie diese Altersgruppe in der Spitzenführungsschicht vertreten ist, wird auf der Basis erhobener Daten der Bundes- und Landesebene diskutiert. Mit Blick auf eine denkbare Altenmacht werden im Rahmen einer Organisationsanalyse die Senioren-Union und AG SPD 60plus untersucht. Da diese Suborganisationen die Funktion des organisatorisch vermittelten Linkage übernehmen, damit in ihr jeweiliges gesellschaftliches Feld hineinwirken, liefert die Untersuchung auch Erkenntnisse darüber, welche wahlstrategischen Ansätze die Parteispitzen von CDU und SPD wählen, um die wachsende Gruppe der älteren Wähler anzusprechen. Auf der Mikroebene der ausgewählten Ortsvereine und -verbände wird diskutiert, welche Ressourcen Mitglieder über 60 Jahre in die Parteien einbringen und an welchen Einflussmöglichkeiten oder anderweitigen Anreizen sie zur Förderung der Parteiaktivität interessiert sind. Hier stehen die aktiven der über 60jährigen Parteimitglieder in vier Fallbeispielen im Fokus. Die Untersuchung der multikomplexen Organisationswirklichkeit anhand der vorgestellten Fragen besitzt einen explorativen, strukturentdeckenden Charakter.
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3.1 B EGRÜNDUNG DER VERGLEICHENDEN ANALYSE UND AUSWAHL DER U NTERSUCHUNGSEINHEITEN Der Alterungsprozess und die sich daraus veränderten Beteiligungswünsche der Mitgliedergruppe Senioren werden in der vorliegenden Studie anhand einer Untersuchung der Seniorenorganisationen sowie einer Analyse der Aktivitäten in den lokalen Strukturen in vier ausgewählten Städten untersucht. Für einen Vergleich von CDU und SPD sprechen mehrere Gründe. Anders als die Kleinparteien, die sich auf die Repräsentation ihrer interessenspezifischen Klientelgruppen konzentrieren, hegen CDU und SPD in ihrem Selbstverständnis als Volksparteien den Führungsanspruch, breite Bevölkerungsschichten über Klassen- und Konfessionsgrenzen hinweg politisch zu vertreten. Beide Parteien ähneln sich seit den Organisationsreformen der 1970er Jahre in ihrem Organisationsapparat. Beide messen ihrer Mitgliederstärke eine wichtige Bedeutung bei, haben einen ähnlich hohen Anteil an Mitgliedern über 60 Jahre und stehen demgemäß vor ähnlichen Herausforderungen. CDU wie auch SPD bieten seit rund zwanzig Jahren ihren Mitgliedern ab dem 60. Lebensjahr eigene Partizipationsplattformen an; dieses Beteiligungsangebot wurde in den Kleinparteien erst in jüngster Zeit eingeführt.1 Mit sechs Jahren Vorsprung war die CDU die erste Partei, die mit der Senioren-Union eine eigene Organisation für ihre älteren Mitglieder einrichtete. Die SPD reagierte mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft 60plus im Jahr 1994. Weiter spricht für diese Vergleichsperspektive, dass Senioren allein zahlenmäßig zum einen zukünftig die wichtigste Wählergruppe darstellen werden, zum anderen die Tatsache, dass die Altersgruppe der über 60-Jährigen in beiden Parteien die stärkste Mitgliedergruppe bildet. Dieser Tatbestand ist in diesem Forschungskontext die unabhängige Variable. Die Fallauswahl von CDU und SPD ist am Most Similar Systems Design angelegt, da sich beide Organisationssysteme in ihren altersbedingten Merkmalen ähneln.2 Der Fokus liegt auf einer differenzanalytischen Betrachtung, um auf diese Weise Erkenntnisse zu generieren, ob und welche etwaigen Unterschiede im Umgang mit diesem Prozesse beobachtbar sind. Die qualitative Methode der vergleichenden Falluntersuchung wird dem Forschungsgegenstand anhand des Kriteriums der „Natürlichkeit der sozialen Reali-
1
Vgl. Schroeder, Wolfgang; Munimus, Bettina; Rüdt, Diana: Seniorenpolitik im Wan-
2
Blatter, Joachim K.; Janning, Frank; Wagemann, Claudius: Qualitative Politikanalyse
del, S. 58ff. – Eine Einführung in Forschungsansätze und Methoden, Wiesbaden 2007, S. 142.
3. V ORGEHEN
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tät“3 in besonderer Weise gerecht. Die Stärken der Fallstudie liegen im Vergleich zu rein quantitativen Erhebungen in der umfassenderen und dadurch besseren Abbildung der sozialen Wirklichkeit. „Sie bleibt nicht auf statische Momentaufnahmen [...] beschränkt, sondern erlaubt es, Entwicklungen, Prozessabläufe und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nachzuvollziehen sowie praktisch relevante, datenbasierte Aussagen zu treffen“4. Die vergleichende Analyse eröffnet die Möglichkeit, die gesammelten Erkenntnisse durch die jeweils „soziologisch-theoretisch begründeten Analysetechniken“5 zu systematisieren, um auf interpretative Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüberzustellen. Methodisch wie auch forschungspraktisch birgt die qualitative Untersuchung der Binnenstruktur von Parteien gleichwohl die Schwierigkeit, dass das innerparteiliche Geschehen generell aus „lose verkoppelten, autonomen Fragmenten“6 besteht und dadurch bisweilen widersprüchlich und unstimmig verläuft. Mit dem Blick auf die Parteibasis lässt sich jedoch die existierende sozial-strukturelle Vielfalt am deutlichsten verorten. Das qualitative Paradigma der gewählten Vorgehensweise erhebt freilich nicht den Anspruch, generalisierbare Erkenntnisse zu postulieren und wäre dafür sicherlich ein unvollkommener Zugriff. Die Falluntersuchung liefert vielmehr fragmentarische Beispiele der existierenden sozialen Gegebenheiten. Um es in einem metaphorischen Bild auszudrücken: Die Parteien werden als Prisma betrachtet, auf die ein Lichtstrahl fällt. Die gebrochenen Lichtstrahlen stellen die Vielzahl unterschiedlicher sozialer Wirklichkeiten in der Organisation dar. Diese können nicht in ihrer Gesamtheit untersucht werden, deshalb wird nur eine Reflexion untersucht, ohne dabei zu vergessen, dass es nur einen kleinen Ausschnitt aus der Gesamtheit wiedergibt. Mit dieser Vorgehensweise wird das erkenntnisleitende Interesse verfolgt, ein illustratives Bild über die Aspekte des Phänomens zu zeichnen, um vorhandene Thesen zu untermauern und neue zu generieren. Letztlich wird mit der Untersuchung das Ziel verfolgt, ein interpretativanalytisches Bild darüber zu erhalten, wie Organisationen – in diesem Fall Großparteien – zum gegenwärtigen Zeitpunkt altern.
3 4
Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, Weinheim 2005, S. 320. Borchardt, Andreas; Göthlich, Stephan E.: Erkenntnisgewinnung durch Fallstudien, in: Albers, Sönke; u.a. (Hrsg.): Methodik der empirischen Forschung, Wiesbaden 2007, S. 36.
5
Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, S. 320.
6
Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, S. 185.
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CDU wie SPD verfügen auf der Ebene der Kreisverbände bzw. Unterbezirke bundesweit über rund 350 Einheiten. 2010 existierten jeweils rund 9.000 Ortsverbände der CDU und Ortsvereine der SPD.7 Um einen Zugang zur Mitgliederbasis zu erhalten und ein möglichst facettenreiches Bild dieser Organisationseinheit einzufangen, galt es prototypische Untersuchungseinheiten auszuwählen. Die bewusste, kriterienbasierte Auswahl der Fallbeispiele erfolgte a priori anhand eines qualitativen Stichprobenplans.8 Auch hier basiert die Untersuchungsauswahl auf dem Most Similar Case Design, da in allen Fällen die Parteimitglieder über 60 Jahre die größte Mitgliedergruppe darstellen, auch wenn die zahlenmäßige Größe der Kreisverbände und Stadt- bzw. Unterbezirke variiert und die sozialstrukturellen Gegebenheiten unterschiedlichen Faktoren unterliegen. Als Untersuchungseinheiten wurden die Kreisverbände von CDU und SPD in Stuttgart, Hannover, Freudenstadt und Northeim gewählt. Diese sind ausschließlich westdeutsche Untersuchungseinheiten. Die Beschränkung auf Westdeutschland wurde vorgenommen, da die sozialstruktuellen Lebensverläufe von westdeutschen Alterskohorten sich maßgeblich von ostdeutschen unterscheiden.9 Lebensverläufe definiert Clemens als „endogener Kausalzusammenhang. Spätere Lebensbedingungen sind – wie auch Zielsetzungen und Erwartungen – aus Bedingungen, Entscheidungen, Ressourcen und Erfahrungen der vorausgegangenen Lebensgeschichte zu verstehen und zu erklären“10. Kollektive Lebensverläufe sind im Kontext der soziostrukturellen Bedingungen der Gesellschaft zu betrachten und sind „von jeher ein Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung“11. Die Untersuchungsgruppe in Westdeutschland erlebte andere prägende gesellschaftliche Kontextbedingungen als ihre Altersgenossen in der DDR. Deren individuelle Lebensverläufe wurden durch den politischen Systemwechsel in maßgeblicher Weise transformiert. Diese Unterschiede kommen auch in der Partizipation in Parteien in der Altersphase zum Ausdruck, die in den westdeutschen Bundesländern weiter verbreitet und tiefer verankert ist als in Ostdeutschland.12
7
Angaben der Parteizentralen.
8
Blatter, Joachim K.; Janning, Frank; Wagemann, Claudius: Qualitative Politikanalyse, S. 32.
9
Vgl. Clemens, Wolfgang: Lebensläufe im Wandel – Gesellschaftliche und sozialpolitische Perspektiven, in: Naegele, Gerhard (Hrsg.): Soziale Lebenslaufpolitik, Wiesbaden 2010, S. 92.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 88. 12 Schmidt, Manfred G.: Altern und politische Partizipation, S. 277.
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Darüber hinaus unterscheidet sich das ostdeutsche Parteiensystem vom westdeutschen grundlegend.13 Ein weiteres Untersuchungskriterium, welches mit den Bevölkerungsdaten korrespondiert, fußt auf den Unterschieden zwischen lokaler Parteiorganisation in urbanen Großstädten und Kleinstädten im ländlichen Raum. Zum einen werden die großen Kreisverbände der CDU und SPD in den Landesmetropolen Stuttgart und Hannover untersucht. Beide Landeshauptstädte weisen Ähnlichkeiten hinsichtlich Einwohnerzahl (beide rund 500.000 Einwohner), demografischer Struktur und in der Ausrichtung als Industriestandorte auf. Zum anderen wurden exemplarisch für kleine Kreisverbände der beiden Parteien im ländlichen Raum die Ortsgruppen Freudenstadt (Nord-Schwarzwald) und Northeim (SüdNiedersachsen) gewählt. Beide Städte sind Kreisstädte in ländlichen, großen Flächenlandkreisen und deren Verwaltungszentren. Beide Städte zählen weniger als 30.000 Einwohner. Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass in Großstädten ein größeres Angebot an Geselligkeitsveranstaltungen und kulturellen Aktivitäten anderer Organisationen und Vereine besteht. Die Annahme ist, dass sich eine vielfältige soziale und kulturelle Infrastruktur auf die aktive Beteiligung in den örtlichen Parteien auswirkt. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass eine urbane beziehungsweise ländliche Umgebung jeweils auf unterschiedliche Weise Einfluss auf die politische Partizipationsbereitschaft im Alter nimmt. In ländlichen Gemeinden ist damit zu rechnen, dass die politische Partizipation von Parteimitgliedern, anhand der Zahl von Versammlungsteilnehmern als Indikator, größer ausfällt.14 Der Einstieg in die Falluntersuchung erfolgte über die Kreisverbände. Grund dafür ist in erster Linie, dass sich die Seniorenorganisationen in beiden Parteien in den gewählten Fallstudien erst auf der Kreis- bzw. Unterbezirksebene organisieren. Ausgehend von dieser Parteiebene werden in den Fallstudien Stuttgart und Hannover jene Ortsgliederungen näher untersucht, die nach Angaben des Kreisvorstandes bzw. des Kreisgeschäftsführers vergleichsweise partizipatorische Beispiele für die Aktivität der Mitglieder darstellen. Diese Vorgehensweise wurde aufgrund forschungspraktischer Überlegungen gewählt. In Freudenstadt und Northeim stehen die Ortsverbände bzw. Ortsvereine im Fokus, gleichwohl wird die Kreisebene und hier die Senioren-Union und Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus mit einbezogen.
13 Vgl. hierzu Grabow, Karsten: Abschied von der Massenpartei. Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung, Wiesbaden 2000. 14 Kaack geht für die 1970er Jahre davon aus, dass in ländlichen Regionen mehr als 50 Prozent der Mitglieder zu einer Versammlung erscheinen. Vgl. Kaack, Heino: Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, S. 471.
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3.2 M ETHODIK Das Untersuchungsdesign ist als zeitdiagnostische Querschnittsanalyse angelegt. Um die entwickelten Fragen zu beantworten, wurde ein multimethodisches Vorgehen gewählt. So werden möglichst viele Aspekte der sozialen Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst. Gerade in der Feldforschung erscheint ein „Methodenmix“ aus unterschiedlichen Erhebungstechniken zweckmäßig, um soziale Prozesse, Interaktionen und Institutionen in ihrer realen Situation möglichst lebensnah zu erfassen.15 Es wurden qualitative und quantitative Methodenzugänge miteinander kombiniert. Die Triangulation wird in der empirischen Sozialforschung als probates Mittel gesehen, um verschiedene Methoden oder Sichtweisen auf das gleiche Phänomen anzuwenden. Der Vorteil dieser Forschungsstrategie liegt darin, verschiedenartige Daten zur Erforschung des Gegenstands heranziehen zu können und mit den Stärken der einen Vorgehensweise die Schwächen der anderen auszugleichen. Ziel der Methodentriangulation ist, mögliche Verzerrungen und systematische Fehler zu minimieren und die Validität der verwendeten und der gefundenen Ergebnisse zu erhöhen.16 Folgende Erhebungsinstrumente wurden eingesetzt: Die Dokumentenanalyse, die schriftliche Befragung, die qualitativen Interviews mit hauptamtlichen Mitarbeitern, gewählten Vorstandsmitgliedern sowie Personen der Untersuchungsgruppe und die teilnehmende Beobachtung. Die Vorgehensweise ist insoweit mehrstufig, als dass die Methoden nacheinander und bezüglich der Ergebnisse aufeinander aufbauend angewandt wurden: Für die Makroanalyse wurden auf der Grundlage der Dokumentenanalyse die Interviewpartner in der Senioren-Union und AG SPD 60plus sowie der hauptamtlichen Referenten auf Bundesebene ausgewählt. Für die Mikroanalyse in den
15 Vgl. u.a. Alemann, Ulrich von; Tönnesmann, Wolfgang: Grundriß: Methoden in der Politikwissenschaft, in: Dies. (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Methoden: Grundriß für Studium und Forschung, Opladen 1995, S. 86. Sowie Kelle, Udo; Erzberger, Christian: Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz, in: Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung – Handbuch, Hamburg 2009, S. 299-309. 16 Derartiges Kombinieren von verschiedenen Methoden hat eine lange wissenschaftliche Tradition. Beispielsweise gingen Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel in ihrer Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ 1933 diesen methodischen Weg. Die dafür heute gebräuchliche metaphorische Bezeichnung „Triangulation“ wurde hingegen erst in den 1950er Jahren in die Sozialwissenschaften eingeführt. Vgl. Flick, Uwe: Triangulation: Eine Einführung, Wiesbaden 2008.
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vier Lokalfällen wurde auf dem Wissensfundament der Gespräche mit hauptamtlichen Mitarbeitern und Funktionären und aktiven Parteimitgliedern über 60 Jahre sowie aus den Eindrücken der besuchten Veranstaltungen und Zusammenkünfte der Fragebogen für die schriftliche Befragung entwickelt. Die gewählten Methoden und Ansätze werden im Folgenden erläutert. 3.2.1 Dokumentenanalyse Um sich ein Bild über die Organisations-, Aktions- und Arbeitsweise von Senioren-Union und Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus machen zu können, wurde eine Organisationsanalyse beider Parteiorganisationen durchgeführt. Hierbei spielte sowohl die komparative als auch die historische Dimension eine Rolle. Die Analyse der Satzungen bzw. Richtlinien, Geschäftsordnungen, Jahrbücher, Mitgliederzeitschriften und -programme, Anträge und Beschlüsse der Seniorenorganisationen und der Mutterparteien, Tagungsprotokolle etwa der Bundeskonferenzen der Senioren-Union und Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus sowie der Bundesparteitage und Pressemitteilungen arbeitet charakteristische Struktur- und Entwicklungsdaten heraus. Ebenso wurden interne und öffentlich zugängliche Dokumente und Informationen auf den Internetseiten der Seniorenorganisationen herangezogen.17 Darüber hinaus wurde die Medienberichterstattung ausgewertet. Die Recherche und Dokumenteneinsicht erfolgte im Politischen Archiv am WillyBrandt-Haus in Berlin und in der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin.18 3.2.2 Qualitative Interviews Als primäre Methode der Erkenntnisgewinnung wurde die mündliche Befragung in Form von qualitativen Interviews angewandt.19 Insgesamt wurden von Mai
17 Vgl. auch Alemann, Ulrich von; Forndran, Erhard: Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis, Stuttgart 2002, S. 175f. 18 Bei den Unterlagen der Senioren-Union konnte leider die 30-jährige Sperrfrist nicht umgangen werden. Einzelne Dokumente erhielt die Autorin persönlich von Interviewpartnern ausgehändigt. 19 An dieser Stelle soll kurz die Rolle der Forscherin im Feld in der Interaktion mit der Untersuchungsgruppe diskutiert werden. Verzerrungen infolge von Interaktionseffekten durch die Person sollten vermieden werden. Gleichwohl ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass durch das Geschlecht, Alter oder Status der Interviewerin solche
Effekte nicht per se ausgeschlossen werden können. Vor allem Aspekte von Selbst-
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2009 bis Mai 2011 50 Gespräche mit Vertretern der Untersuchungsgruppe, mit hauptamtlichen Mitarbeitern und gewählten Funktionären geführt.20 Dabei wurden bei letztgenannter Gruppe leitfadengestützte Experteninterviews geführt, der Gesprächsverlauf mit Vertretern der Mitgliedergruppe über 60 Jahre war offen und wenig strukturiert konzipiert. Als Experten sehen Meuser und Nagel jene Befragte, die diesen Status vom Forscher gewissermaßen durch die spezifische Fragestellung zugesprochen bekommen, „wer in irgendeiner Weise Verantwortung für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung trägt oder wer über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen und Entscheidungen verfügt“21. Auf der Bundesebene wurden leitfadengestützte Experteninterviews22 mit Referenten in den Bundesgeschäftsstellen der CDU und SPD geführt, die inhaltlich mit dem Thema Seniorenpolitik betraut sind oder organisatorisch die Arbeit der Seniorenorganisationen begleiten. Im Falle der SPD konnte darüber hinaus ein ehemaliger Bundesgeneralsekretär und Parteivorsitzender interviewt werden, ebenso standen ehemalige Hauptamtliche für ein Gespräch zur Verfügung, die die Gründung der AG SPD 60plus organisatorisch begleitet haben. Zudem wurde mit dem Leiter der Abteilung 2 gesprochen, der für die Zielgruppenarbeit der SPD zuständig ist. In der CDU konnte mit dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer sowie dem Leiter des Internen Managements und dem Referenten für Seniorenpolitik gesprochen werden. Ebenso fand ein Gespräch mit dem Bundesgeschäftsführer der Senioren-Union statt. In den Kreisverbänden und Unterbezirken wurden Experteninterviews mit hauptamtlich tätigen Kreisgeschäftsführern und Kreisverbands- bzw. Unterbezirksvorsitzenden geführt. Diese Gespräche nutzten zum einem als „Türöffner“
und Fremdbildern des Alters könnten Einfluss in der jeweiligen Gesprächssituation zumindest nonverbal gehabt haben. 20 Die geführten Interviews wurden verschriftlicht. Verzögerungslaute wurden nicht berücksichtigt, längere Pausen sind kenntlich gemacht. Regionale Mundarten wurden mit Ausnahme feststehender Begrifflichkeiten nicht transkribiert. Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle sowie die Transkripte sind bei der Verfasserin aufbewahrt. 21 Meuser, Michael; Nagel, Ulrike: ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion, in: Bogner, Alexander u.a. (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Anwendungen, Methoden, Opladen 2005, S. 73. 22 Zur Technik von leitfadengestützten Interviews vgl. Gläser, Jochen; Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, Wiesbaden 2004.
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für weitere Gespräche und Informationen zur Struktur und den Besonderheiten vor Ort. Zum anderen erschlossen sich aus dieser Perspektive Informationen, wie Hauptamtliche und Amtsträger die Aktivitäten und Einflussmöglichkeiten der Untersuchungsgruppe wahrnehmen und bewerten. In einem zweiten Schritt wurde Gespräche mit den Ortsvereins- und Ortsverbandsvorsitzenden geführt. Die Gesprächsführung orientierte sich in teilstrukturierter Form an einem Leitfaden, der bewusst flexibel und offen gestaltet wurde.23 Auf diese Weise konnten neue relevante Aspekte integriert und diskutiert werden. Der zugrunde gelegte Leitfadenfragebogen beinhaltete sowohl generelle Fragen zur Situation und Entwicklung der Mitgliederstruktur und den Seniorenorganisationen als auch auf den jeweiligen Interviewpartner zugeschnittene Fragen. Die Experteninterviews dauerten zwischen 35 und 75 Minuten und wurden aufgezeichnet. Die Gespräche mit den Vertretern der Untersuchungsgruppe wurden in Form von episodischen Interviews geführt, denen ein offener, wenig strukturierter Leitfaden zugrunde lag. Dieses methodische Verfahren integriert sowohl „Erzählungen als auch die Beantwortung zielgerichteter Fragen“24. Durch die induktive Vorgehensweise konnten Erkenntnisse über biografische Hintergründe, Lebensumstände und politische Einstellungen der zu untersuchenden Personengruppe gewonnen werden. Es wurden Gespräche mit Vertretern der Seniorenorganisationen sowohl auf der Bundesebene als auch auf der Kreis- und Ortsebene geführt. So konnte mit gegenwärtigen und ehemaligen Bundesvorsitzenden der Vereinigung bzw. der Arbeitsgemeinschaft gesprochen werden. In jeder Untersuchungseinheit fand ein Gespräch mit den Kreisvorsitzenden der Senioren-Union und AG SPD 60plus statt. Darüber hinaus wurden Gespräche mit aktiven Mitgliedern über 60 Jahre geführt, die sich dort nicht engagieren, sondern im Ortsverein bzw. -verband keiner altersbezogenen Aktivität nachgehen. Diese Gesprächspartner wurden nach dem Prinzip des „Schneeball-Verfahrens“ ausgewählt. Da bei der Analyse von sozialen Netzwerken keine Vollerhebung möglich ist, handelt es sich um ein pragmatisches Auswahlverfahren, bei dem „ausgehend von einer Person die von dieser benannten Personen befragt werden“25. Die Auswahl anhand des „Schneeball-Verfahrens“ erfolgte daher bewusst und nicht zufällig. Die Inter-
23 Vgl. ebd. 24 Flick, Uwe: Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften, Hamburg 2000, S. 125. 25 Schnell, Rainer; Hill, Paul B.; Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2008, S. 300.
102 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
views mit der Untersuchungsgruppe wurden von Juli 2009 bis Mai 2011 geführt und dauerten zwischen 50 und 75 Minuten. Zudem konnte die Verfasserin bei Veranstaltungen Gruppengespräche führen, um mit diesem empirischen „Zugriff auf das Kollektive“26 Deutungs- und Legitimitätsmuster der sozialen Gruppe zu rekonstruieren. Durch diese methodische Vorgehensweise wurde angestrebt, eine alltagsnahe Interaktionssituation herzustellen, um die Dynamikprozesse von Gruppen im Hinblick auf die Erforschung von Meinungen und Einstellungen zu nutzen.27 Die Interviews wurden mittels der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Um die Komplexität und Vielschichtigkeit des Gesagten für die Untersuchung zu reduzieren, wurden die Informationen geordnet, zusammengefasst und abstrahiert. Durch die Inhaltsanalyse werden die „Daten begreifbar und für die Fragestellung entscheidbar“28. So wurden die Interviewtexte zunächst durch Paraphrasierung und Generalisierung reduziert, um die Auswertung auf die wichtigsten Inhalte zu beschränken (‚Zusammenfassende Inhaltsanalyse’). In einem weiteren Schritt wurden die Informationen inhaltlich gemäß der Fragestellung geordnet und gegliedert (‚Strukturierende Inhaltsanalyse’).29 3.2.3 Teilnehmende Beobachtung Über die mündliche Befragung hinaus wurde zusätzlich die Methode der teilnehmenden Beobachtung gewählt. Lüders versteht darunter eine „flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie“30, mit deren Hilfe im Forschungsprozess Erkenntnisse aus anderen Verfahren ergänzt werden können. Er unterstreicht, dass „durch die Teilnahme an Face-to-face-Interaktionen bzw. die unmittelbare Erfahrung von Situationen Aspekte des Handelns und Denkens be-
26 Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen & Farmington Hills 2010, S. 106. Vgl. ebenso Ders.; Marotzki, Winfried (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturanalyse: transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung, Opladen 1998. 27 Vgl. Flick, Uwe: Qualitative Forschung, S. 131. 28 Wiedemann, Peter M.: Erzählte Wirklichkeit: Zur Theorie und Auswertung narrativer Interviews, Weinheim 1986, S. 137. 29 Mayring, Philip: Einführung in die qualitative Sozialforschung: Eine Anleitung zu qualitativem Denken, Weinheim 2002, S. 114ff. 30 Lüders, Christian: Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch, Hamburg 2009, S. 389.
3. V ORGEHEN
UND
M ETHODIK
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obachtbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten (...) über diese Interaktionen bzw. Situationen nicht in dieser Weise zugänglich wären“31. Bei dieser Feldstrategie steht die möglichst weitgehende „Gewinnung der Innenperspektive“ im Vordergrund.32 Zu diesem Zweck wurden örtliche Mitgliederversammlungen und Parteiveranstaltungen, Treffen der örtlichen Senioren-Union und AG SPD 60plus besucht. Die Beobachtung war teilnehmend, aber offen, da die Forscherin und ihr Projekt vorgestellt wurden. Ebenso wurde an der Bundesdelegiertenversammlung der Senioren-Union und der Bundeskonferenz der AG SPD 60plus teilgenommen. Bei diesen Veranstaltungen war die Teilnahme gewissermaßen für die Mehrzahl verdeckt, da die Forscherin sich den Anwesenden nicht namentlich vorstellte. Im Einzelgespräch konnte lediglich das Anliegen der Teilnahme dargelegt werden. Nach jedem Felderlebnis wurden die Beobachtungen und Interpretationen in einem Protokoll festgehalten.33 Dieser mikroanalytische Zugriff ermöglichte es, politisches Handeln und Interaktionsweisen sowie habituelle Besonderheiten aus der Nähe zu beobachten. Während der Beobachtung richtete sich das Hauptaugenmerk auf die Kommunikation und Interaktion der anwesenden Vertreter der Untersuchungsgruppe. 3.2.4 Schriftliche Befragung Die schriftliche Befragung schließlich diente zur arrondierenden Sättigung und Systematisierung und soll die Erkenntnisse der qualitativen Erhebungen mit Tendenzaussagen unterfüttern. Der konzipierte dreiseitige Fragebogen richtete sich an aktive Mitglieder über 60 Jahre in den vier Untersuchungseinheiten. Die Ergebnisse sind in einem qualitativen sozialwissenschaftlichen Paradigma zu verstehen und erheben freilich nicht den Anspruch einer repräsentativen Aussagekraft. Befragt wurde der Personenkreis, der nach Aussagen der Vorsitzenden von Senioren-Union und AG SPD 60plus und den Ortsverbänden als regelmäßige Teilnehmer von Parteiversammlungen als „Aktive“ ausgemacht werden konnten. Die Merkmale der Stichprobe beziehen sich folglich auf das Alter über 60
31 Lüders, Christian: Teilnehmende Beobachtung, in: Bohnsack, Ralf; Marotzki, Winfried; Meuser, Michael (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, Opladen 2003, S. 151. 32 Vgl. Flick, Uwe: Qualitative Forschung, S. 161. 33 Vgl. das Kapitel „Teilnehmende Beobachtung“ in Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, S. 547-632.
104 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Jahre und auf ein mehr oder minder grundsätzliches Interesse, am örtlichen Parteileben teilzunehmen. Der Zugang zur untersuchten Personengruppe erfolgte über die Gesprächspartner vor Ort. Die geführten Gespräche mit den Parteivertretern dienten neben dem genuinen Erkenntnisgewinn der weiteren Entwicklung des Fragebogens. Die Fragebögen wurde entweder postalisch an die Vorsitzenden der Ortsverbände oder -vereine sowie an die Vorsitzenden der Senioren-Union oder AG SPD 60plus mit einem Begleitschreiben oder per E-Mail gesendet. Das Begleitschreiben enthielt die Bitte, den Fragebogen bei künftigen Parteiveranstaltungen oder Treffen durch anwesende Mitglieder über 60 Jahre ausfüllen zu lassen. Diese Vorgehensweise basiert ebenfalls auf dem „Schneeball-Verfahren“. Die angesprochenen Teilnehmer der Befragung wurden somit willkürlich gewählt.34 Die tatsächliche Sichtprobenziehung konnte aus forschungspraktikablen Gründen nicht kontrolliert werden. Die konzeptionellen Überlegungen zur Erstellung des Fragebogens basieren auf den „Grundsätzen der Frageformulierung“ nach Kromrey.35 Dabei wurde auf eine einfache und klare Formulierung sowie auf Eindeutigkeit der Fragen und Antwortmöglichkeiten geachtet.36 Der Fragebogen beinhaltet neun zum Teil offene und geschlossene Oberfragen, die sich jeweils in weitergehende Aspekte untergliedern.37 Mit Hilfe des Fragebogens wurde nach der Intensität und Formen des Parteiengagements gefragt. Ebenso galt es mittels der schriftlichen Befragung zu eru-
34 Zur willkürlichen Auswahl bei der Stichprobenziehung vgl. Raab-Steiner, Elisabeth; Benesch, Michael: Der Fragebogen – von der Forschungsidee zur SPSS-Auswertung, Wien 2008, S. 18. 35 Vgl. Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung, Stuttgart 2009, S. 369ff. 36 Zur Überprüfung der Fragen erfolgte ein Pretest auf dem SPD-Unterbezirksparteitag in Frankfurt am Main. Mit Hilfe des Pretests sollte überprüft werden, ob die Fragen und Antwortkategorien für die Untersuchungsgruppe verständlich waren und ob die relevanten Aspekte zum Engagement der Mitglieder über 60 Jahre berücksichtigt werden. Die Rückmeldungen flossen in die Überarbeitung des Fragebogens mit ein. 37 Der Fragebogen enthält vorwiegend zwei- und vierstufige Skalen. Die zweistufigen Antwortmöglichkeiten beinhalten die Kategorien „Ja/Nein“. Die vierstufigen Skalen umfassten die Zustimmung „trifft voll und ganz zu“ und die Ablehnung „trifft gar nicht zu“. Für die Auswahl der Skalen war die Absicht verbunden, dass sich die Befragten mit ihren Antworten möglichst eindeutig positionieren und eine ausweichende Auskunft weitgehend verhindert wird. Bei der Möglichkeit, mehrere Antworten zu geben, wurde dies mit einem Hinweis signalisiert.
3. V ORGEHEN
UND
M ETHODIK
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ieren, welche Motive für ein Engagement in einer der Seniorenorganisationen sprechen. Abschließend wurden die Befragten gebeten, die Generationenbeziehungen hinsichtlich der unmittelbaren Parteiarbeit einzuschätzen. Da sich der Fragebogen an Mitglieder in CDU und SPD richtet, wurden zwei Fassungen entsprechend der jeweils parteispezifischen Termini erarbeitet.38 Der Zeitraum der Befragung lag zwischen August 2010 und Mai 2011. Tabelle 6: Fragebogenrücklauf aus den Untersuchungsfällen
CDU Anzahl gültiger
Stuttgart
Hannover
Freudenstadt
Northeim
200
200
80
80
29
46
17
16
14,5 %
23 %
21,2 %
20 %
200
200
80
80
33
32
0
18
16,5 %
16 %
0
22,5 %
Fragebögen Rücklauf SPD Anzahl gültiger Fragebögen Rücklauf Eigene Erhebung.
Ausgewertet wurden 191 gültige Fragebögen, wobei die Anzahl des Rücklaufs aus den einzelnen Untersuchungseinheiten variierte. Bedauerlicherweise sind keine Fragebögen der Senioren-Union aus Stuttgart auch nach mehrmaligen Anfragen zugesendet worden. Ebenso nahmen der SPD-Ortsverein und die AG SPD 60plus Freudenstadt nicht an der Befragung teil.39 Die zur Verfügung stehenden Daten spiegeln die Merkmale der Grundgesamtheit – also aller mehr oder weniger aktiven Parteimitglieder über 60 Jahre in CDU und SPD – nur unzureichend wider. Die schriftliche Befragung erlaubt es jedoch auf der Grundlage der deskriptiven, beschreibenden Statistik, einige Tendenzaussagen und Thesen anhand der forschungsleitenden Fragen zu generie-
38 Hier ist die unterschiedliche Bezeichnung zwischen „Ortsverein“ in der SPD und „Ortsverband“ in der CDU zu nennen. Ebenso wurde berücksichtigt, dass in der SPD die zweitkleinste Organisationsstufe in Baden-Württemberg als Kreisverband und in Niedersachsen als Unterbezirk bezeichnet wird. 39 In beiden Fällen wurden gesundheitliche Probleme der Funktionäre als Grund für die fehlende Teilnahme genannt.
106 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
ren.40 Die Daten aus den Fragebögen wurden mit dem Programm zur statistischen Datenanalyse SPSS ausgewertet.41
40 In der deskriptiven beschreibenden Statistik werden die Eigenschaften der Merkmale einer Stichprobe beschrieben. Eine bestimmte Gruppe wird also zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben und analysiert. Deskriptivstatistische Ergebnisse sagen ausschließlich etwas über die Objekte aus, die tatsächlich untersucht wurden. Vgl.: Wirtz, Markus; Nachtigall, Christof: Deskriptive Statistik, Statistische Methoden für Psychologen, Teil 1, Weinheim 1998, S. 29. 41 Die Auswertung des Datenmaterials konzentriert sich auf die Ermittlung von Häufigkeitsverteilung. Die Erfassung von zwei Variablen wurde mit Hilfe von Kreuztabellen vorgenommen.
C Hauptteil
Politisches Engagement im Alter Vertraute Konstanz oder ein neues Projekt für den Ruhestand?
Das Gros der aktiven Mitglieder über 60 Jahre in CDU und SPD zeichnet sich durch günstige soziodemografische und organisationsbezogene Ressourcen aus. Die heutigen Älteren unterscheiden sich mental, habituell und kulturell gänzlich von früheren Generationen in dieser Altersphase.1 Mit dem Übergang in den Ruhestand blicken viele von ihnen auf eine stete Erwerbsbiografie, sind größtenteils von familiären Verpflichtungen entbunden, verfügen mehrheitlich über eine weitgehend sorgenfreie Altersabsicherung, sind im „jungen Alter“ noch körperlich fit und können auf Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungswissen ihrer langjährigen Parteimitgliedschaft zurückgreifen. Zudem verfügen sie über freie Zeit, die elementare Voraussetzung für ein kontinuierliches Parteiengagement. Während die Mitgliedergruppe im mittleren Alter häufig in einem engen Zeitkorsett aus beruflichen und familiären Verpflichtungen steht und sich lediglich im kleineren zeitlichen Rahmen kontinuierlich einbringen kann, verfolgen die jüngeren Mitglieder meist während der Schulzeit oder des Studiums eine aktive Mitgliedschaft. Ihr Engagement lässt oftmals gegen Ende ihrer Ausbildung oder während des Berufseinstiegs wieder nach. Die befragten Funktionäre von CDU und SPD betonen, man sei froh, wenn man Jusos und JU’ler drei bis vier Jahre halten könne. Im Jahr 1985 bescheinigte Schönbohm der CDU, dass sich gerade Mitglieder aus der Altersgruppe der 30- bis 59-Jährigen für alle Ebenen der Mandats- und Amtsinhaber rekrutieren lassen, „die für die Aktivität, Attraktivität, politische Innovations- und Umsetzungskraft einer jeden Partei von ent-
1
Vgl. Schwentker, Björn; Vaupel, James W.: Eine neue Kultur des Wandels, in: APuZ, 10-11, 2011, S. 5.
110 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
scheidender Bedeutung ist“2. Auch Spier konnte Selbiges im Hinblick auf das Alter bei seiner Untersuchung der Funktionäre auf Kreis- und Ortsebene festhalten.3 Angehörige dieser Altersgruppe sind auf lokaler Ebene jedoch immer seltener anzutreffen. Rentner und Pensionäre sind hingegen zeitlich flexibel und daher verfügbar. Das Bild vor Ort bestätigt die statistische Dominanz der Älteren. Die Gruppe der älteren Parteiaktiven teilt sich in zwei Generationeneinheiten: Die Generation des Wiederaufbaus und die „68er“-Generation, die etwas zeitversetzt auch in der CDU vertreten ist. Die heute 70- und 80-Jährigen, die die Gerontologie als Ältere im „vierten Alter“ bezeichnet, sind eher in den Seniorenorganisationen anzutreffen. Dieser Personenkreis ist noch durch unmittelbare Kriegserfahrungen, den Entbehrungen der Nachkriegszeit sowie den späteren sozialstaatlichen Errungenschaften der prosperierenden Wiederaufbaujahre geprägt. Den Seniorenorganisationen kommt eine wichtige Scharnierfunktion zu. Als „stille Reservearmee“ sind sie insbesondere in Wahlkampfzeiten aktivierbar. Zur zweiten Gruppe zählen die „jungen Alten“, die in die Jahre gekommenen „68er“. Da sie weitgehend nicht mehr berufstätig und daher zeitlich flexibel sind, können sie häufiger kommunale Parteitage und Versammlungen besuchen. Zudem leben sie überwiegend dauerhaft an einem Ort, haben mithin Funktionen in den Vorständen inne, was ihnen in den innerparteilichen Debatten ein zusätzliches Maß an Autorität und Einfluss gibt. Viele Mitglieder dieser Alterskohorte empfinden ihren Ruhestand keineswegs als eine „Zeit auf dem Abstellgleis“. Das Autorentrio Bruns/Bruns/Böhme spricht von einer Altersrevolution, die keines Marsches durch die Institutionen bedarf: „Sie sind schließlich noch alle an der Macht, in einflussreichen Positionen und in den Köpfen der Menschen“4. Die Generation des Protestes, die in den 1970er Jahre in beide Parteien strömte, zeichnet sich vor allem durch einen stark verinnerlichten Zeitgeist und bestimmten Habitus aus, eine „kollektive Art- oder Gemeinschaftsseele“5. Die Voraussetzungen für ein aktives parteipolitisches Engagement von Älteren sieht Neckel dann gegeben, wenn es entweder ein „Fortsetzungsverhalten biografisch verfestigter Rollen erlaubt (Funktionäre), die lebensgeschichtliche Kontinuität erworbener Kompetenzen aus Beruf oder ehrenamtlicher Tätigkeit sicherstellt (Experten) oder Chancen zur Teilhabe an einer „Subkultur“ eröffnet,
2
Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei, S. 197.
3
Vgl. Spier, Tim: Wer wird Funktionär?, S. 138.
4
Bruns, Petra und Werner; Böhme, Rainer: Die Altersrevolution. Wie wir in Zukunft
5
Ebd.
alt werden. Berlin 2007, S. 123.
P OLITISCHES E NGAGEMENT
IM
A LTER
| 111
in der den traditionellen Rollenzumutungen des Alters expressiv entgangen werden kann (moralische Minderheit)“6. CDU und SPD stehen angesichts der Mitgliederalterung vor der Herausforderung, die innere und äußere Balance als generationenübergreifende Parteien zu bewahren: Zum einen was den Interessenausgleich zwischen Jung und Alt betrifft, zum anderen was die Repräsentation der einzelnen Altersgruppen in Parteifunktionen anbelangt. Bezogen auf letzteren Aspekt gilt es aufzuzeigen, welche Ressourcen Ältere der Partei erbringen. Im Folgenden wird zunächst die Repräsentation dieser Gruppe in den Parlamenten und in Parteigremien eruiert. Anschließend wird untersucht, wie die Seniorenorganisationen als Sprachrohre der älteren Generation auftreten, wie sie die altersspezifischen Interessen vertreten und was ihre Aktivisten auszeichnet. Im weiteren Schritt wird diskutiert, wie die Parteibasis agiert, wenn dort über 60-Jährige die „anwesende Mehrheit“ stellen.
6
Neckel, Sighard: Altenpolitischer Aktivismus, S. 558.
4. Politische Karrieren im Alter
Obwohl über 60-Jährige die Mehrheit an der Gesamtmitgliedschaft in CDU und SPD stellen, spiegelt sich ihr Anteil weder in den Parlamenten noch in den Führungszirkeln der Parteien wider. Im Gegenteil, vielmehr ist von einer Repräsentationslücke zu sprechen. Da man jedoch für die heutigen über 60-Jährigen einen epochalen Zuwachs an subjektiven Handlungsoptionen feststellen kann, ist die Frage berechtigt, ob die günstige Ressourcenausstattung auch zu konkretem Karrierebestreben in der Politik führt und somit auch für diese Altersgruppe ein relevanter Anreiz für ein Parteiengagement darstellt. Einen politischen Karriereweg im Anschluss bzw. aus dem Wechsel aus einer privaten Karriere definiert Dietrich Herzog als „cross-over“- oder „Seiteneinsteiger“-Karriere. Dieser Rekrutierungsweg wäre im Hinblick auf ressourcenstarke Ältere als Typus „politische Karriere nach Ende der privaten Karriere“ vorstellbar.1 Gegen die Annahme, wonach sich im Ruhestand neue Karriereperspektiven in der Politik eröffnen, sprechen die Befunde aus der Partizipationsforschung und Alterswissenschaft. Die altersspezifische Bereitschaft zum Engagement folgt einem kurvilinearen Muster, damit haben auch politische Karrieren ein bestimmtes Zeitfenster, um zu reüssieren. Im späteren Lebenszyklus rückt die passive Repräsentation durch Jüngere in den Vordergrund. Diese These wird durch den sozialgerontologischen Erklärungsansatz des Disengagements gestützt. Er besagt, dass im höheren Lebensalter mit einem allmählichen Rückzug „aus allen gesellschaftlichen Aufgabenfeldern“ zu rechnen ist.2 Einhergehend mit der rückläufigen Partizipation überlässt man die Vertretung der eigenen poli-
1
Vgl. Herzog, Dietrich: Politische Führungsgruppen, Darmstadt 1982; Herzog, Dietrich: Der moderne Berufspolitiker. Karrierebedingungen und Funktion in westlichen Demokratien, in: Hoffmann-Lange, Ursula u.a. (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990, S. 28-51.
2
Vgl. Cumming, Henry 1961 nach Backes, Gertrud M.; Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter, S. 128f.
114 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
tischen Interessen anderen Altersgruppen, so die sogenannte Repräsentationsthese.3 Parteien könnten einen Nutzen daraus ziehen, ältere Kandidaten aufzustellen, um bei Wählern im fortgeschrittenen Alter Erfolge zu erzielen. Falls in Deutschland ein vergleichbarer „Altersähnlichkeitseffekt“ existiert, wie er für die USA festgestellt werden konnte, kann das Alter des Bewerbers ein wichtiges Charakteristikum sein. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Volatilität und sinkender Parteibindungen nehmen „performanzbasierte Kriterien“ eine wichtige Rolle ein.4 Das Alter und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften, wie Lebenserfahrung und Weisheit, könnten für die Eignungsbeurteilung eines Kandidaten an Bedeutung gewinnen. Dieses Kapitel untersucht zum einen, wie Ältere in den deutschen Parlamenten vertreten sind. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, inwieweit Ältere in die Entscheidungsverantwortung durch ihre Vorstandstätigkeiten eingebunden sind.
4.1 ÄLTERE
ALS
M ANDATSTRÄGER
IN
P ARLAMENTEN
Ungeachtet der wachsenden Größe sowohl im Wahlvolk als auch in den Parteien spiegelt sich der Anteil der über 60-Jährigen nicht in den Parlamenten wider. Im Gegenteil, die Zahl der Volksvertreter ab 60 Jahre ist bemerkenswert gering. Während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beständig wächst, sind über 60-Jährige unter den Bundestags- und Landtagsabgeordneten unterpräsentiert. Abbildung 7 veranschaulicht diesen Befund für die 17. Wahlperiode (ab 2009). Jüngere Abgeordnete bis 34 Jahre und die Altergruppe der über 65-Jährigen sind unterdurchschnittlich in den Parlamenten vertreten. Die Mehrzahl der Mitglieder des Bundestages ist im mittleren Alter zwischen 35 Jahren und Ende 50.
3
Vgl. Stadié, Rolf: Grunddaten zum politischen Verhalten älterer Menschen, in: APuZ, 1986, B 48, S. 28.
4
Vgl. Goerres, Achim: Das Wahlverhalten älterer Menschen. Forschungsergebnisse aus etablierten Demokratien, S. 111.
4. P OLITISCHE K ARRIEREN
IM
A LTER
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Abbildung 7: Repräsentanz nach Altersgruppen im Deutschen Bundestag im Vergleich zum Anteil der jeweiligen Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung in der 17. Wahlperiode*
* Die Daten zur Zusammensetzung des Deutschen Bundestages beziehen sich auf die 17. Wahlperiode, die Daten über die Zusammensetzung der Bevölkerung basieren auf Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2008. Quelle: BMFSFJ: Sechster Altenbericht der Bundesregierung, S. 456, Angaben in Prozent.
Der Anteil der über 60-jährigen Mandatsträger im 17. Deutschen Bundestag liegt bei 16,4 Prozent. Zu Beginn dieser Wahlperiode waren von insgesamt 622 Abgeordneten 71 im Alter zwischen 60 und 65 Jahren, 25 zwischen 65 und 69 Jahren und gerade einmal sechs Personen waren 70 Jahre oder älter.5 Das Durchschnittsalter aller Parlamentarier lag bei 49,2 Jahren und verjüngte sich sogar um knapp zwei Jahre im Vergleich zur vorangegangenen Wahlperiode (16. Bundestag 52,31 Jahren). Die Mitglieder der SPD-Fraktion waren zu Beginn der 17. Wahlperiode im Durchschnitt 51,7 Jahre alt, die der CDU 49,2 Jahre.6
5
Das älteste Mitglied des 17. Deutschen Bundestages ist der 74-jährige Alterspräsident des Deutschen Bundestages und CDU-Mitglied Heinz Riesenhuber. In der Altergruppe zwischen 65 bis 69 Jahren sind 21 Männer und 4 Frauen, in der Altergruppe der über 70-Jährigen 5 Männer und eine Frau vertreten.
6
Das Durchschnittsalter der Bundestagsabgeordneten ähnelt sich in den einzelnen Frak-
tionen. Lediglich Bündnis90/Die Grünen und die FDP haben einzelne jüngere Abge-
116 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Tabelle 7: Anteil der über 60-jährigen Bundestagsabgeordneten, 1. bis 17. Wahlperiode Wahlperiode
Zeitraum
Anteil Abgeordneter 60 Jahre und älter (in %)
1
1949-53
16,8
2
1953-57
17,9
3
1957-61
22,0
4
1961-65
25,3
5
1965-69
20,8
6
1969-72
13,7
7
1972-76
7,3
8
1976-80
7,1
9
1980-83
4,8
10
1983-87
8,2
11
1987-90
11,0
12
1990-94
10,6
13
1994-98
8,5
14
1998-2002
10,0
15
2002-2005
11,4
16
2005-2009
13,9
17
seit 2009
16,4
Quelle: Menning, Sonja: Wahlverhalten und politische Partizipation älterer Menschen. GeroStat Report Altersdaten 03/2009. Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin, S. 12.
Seit Ende der 1960er Jahre gehören immer weniger ältere Mandatsträger dem Bundesparlament an. Zwischen der 7. und 10. Wahlperiode lag ihr Anteil unter zehn Prozent und stieg erst im Zuge des rot-grünen Regierungswechsels wieder über diese Marke. In der frühen Phase der Bonner Republik war der Bundestag noch anders zusammengesetzt: In den späten 1950er und Anfang der 1960er Jahren, als der Anteil der älteren Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – obgleich aus anderen Gründen, jedoch vergleichbar mit der heutigen Situation – an Gewicht zugenommen hatte, gehörte jeder vierte bis fünfte Abge-
ordnete, die allerdings mehrheitlich auch das 40. Lebensalter überschritten haben. Vgl. Menning, Sonja: Wahlverhalten und politische Partizipation älterer Menschen. GeroStat Report Altersdaten 03/2009. Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin 2009, S. 12.
4. P OLITISCHE K ARRIEREN
IM
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| 117
ordnete der älteren Generation an. Bei einer gesonderten Betrachtung des Anteils der Abgeordneten über 65 Jahren zeigt sich: Im Jahr 1961 lag dieser bei 9,6 Prozent und ging in der 8. Wahlperiode (Bundestagswahl 1976) auf 1,4 Prozent zurück.7 In der aktuellen 17. Wahlperiode liegt er bei 5 Prozent. Was heute wohl unvorstellbar wäre: Konrad Adenauer wurde im Jahr 1949 im Alter von 73 Jahren zum ersten Bundeskanzler gewählt.8 Viele der Männer und Frauen der frühen Legislaturperioden des Bundestages waren in der Weimarer Republik bereits Reichstagsabgeordnete oder zumindest in der katholischen Zentrumspartei und der SPD aktiv gewesen. Parlamentarier im jungen und mittleren Alter gab es – in Folge des Krieges zahlenmäßig ohnehin gering – hingegen nur wenige. Die Flakhelfergeneration hatte in den 1950er Jahren einen Nachholbedarf an Bildung und strebte in zum Teil „blinder Aufbauwut“9 Ausbildungsabschlüsse statt politische Karrieren an. Altersstrukturell war der Bundestag in den Jahren zwischen 1972 und 1987 am jüngsten. Die Geburtsjahrgänge 1923 und früher standen als „Soldaten-Generation“ und Anhänger des Nationalsozialismus in Verruf vor allem in der jüngeren Bevölkerung.10 Die abnehmende Repräsentanz Älterer im Parlament seit dem Ende der Adenauer-Ära sieht Streeck auch als Reflex auf die damals verbreitete Kennedy-Begeisterung: Es wurde zu einem „mehr oder weniger ausgesprochenen Konsens, dass es ein Zeichen von Fortschrittlichkeit sei, wenn nur noch Politiker in jungen Jahren in Regierungsämter gelangen“11. Willy Brandt stieg unter anderem deswegen auf, weil er einen jugendlich-smarten Charme versprühte, telegen war und sich medial ungleich besser präsentieren konnte, als die „verstaubt und hölzern wirkenden Funktionäre der alten SPD-Garde“12. Seitdem gehört Juvenilität und Agilität auratisch zu Wesensmerkmalen von führungs- und willensstarken Politikern.
7
Kohli, Martin: Alt – Jung, in: Lessenich, Stephan; Nullmeier, Frank (Hrsg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2006, S. 115-135.
8
Im ersten Kabinett von Konrad Adenauer 1949 waren zwei der 13 Minister nach 1900 geboren, 5 waren unter Bismarcks Amtszeit zur Welt gekommen. Vgl. Geppert, Dominik: Beharrung im Wandel: unionsdominierte Bundesregierungen, in: Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln - Weimar - Wien 2008, S. 59.
9
Leinemann, Jürgen: Höhenrausch – Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004, S. 190.
10 Vgl. Ebd. S. 132ff. 11 Streeck, Wolfgang: Politik in einer alternden Gesellschaft, 297f. 12 Geppert, Dominik: Beharrung im Wandel: unionsdominierte Bundesregierungen, S. 62.
118 | ALTERNDE VOLKSPARTEIEN
Ein kurzer Blick auf die demografisch weit jüngeren Vereinigten Staaten zeigt, dass Parlamente dennoch „grauer“ zusammengesetzt sein können: Im 111. US-amerikanischen Kongress (2009) lag das Durchschnittsalter der Abgeordneten bei 58,2 Jahren. Bezogen auf seine Alterszusammensetzung zählt dieser Kongress zum ältesten in der Geschichte des Landes. Im Durchschnitt waren die Abgeordneten des Repräsentantenhauses 57,2 Jahre, die Senatoren 63,1 Jahre alt.13 Verstehen lässt sich dieser verhältnismäßig hohe Altersdurchschnitt vor dem Hintergrund der Besonderheiten des US-amerikanischen Mehrheitswahlsystems und dem sogenannten Seniority System14. Dort ist das politische System weit stärker durch das Anciennitätsprinzip geprägt, das eine lange Zugehörigkeitsdauer honoriert. In Österreich, in dem wie in der Bundesrepublik das Verhältniswahlrecht angewendet wird, findet sich im Nationalrat eine ähnliche Alterszusammensetzung wie im Deutschen Bundestag. Parlamentarier zwischen 61 und 70 Jahren machen 10,4 Prozent aus, das Durchschnittsalter liegt zum Jahresbeginn 2011 bei 50,4 Jahren.15 Dieser kleine Exkurs legt einen Zusammenhang zwischen dem Wahlsystem und der Alterszusammensetzung der Parlamente nahe. Offenkundig sind Volksvertreter in Mehrheitswahlsystemen, wie den USA oder Großbritannien, in Relation älter als in Demokratien mit Verhältniswahlsystem.16 In den deutschen Landesparlamenten war im Jahr 2008 die Altersgruppe der 55- bis unter 65-Jährigen mit 33,1 Prozent die zweitgrößte Gruppe, sie war im Vergleich zur Bevölkerung (11,5 Prozent) überrepräsentiert. Gemeinsam mit den Abgeordneten im Alter von 45 bis 55 Jahren machten sie 68,5 Prozent aller Mandatsträger in den Ländern aus.17 Ab dem 65. Lebensjahr sind Landtagsabge-
13 Der älteste Abgeordnete zu Beginn der 111. Wahlperiode war mit 87 Jahren Ralph Hall. Im Zeitraum von acht Jahren seit dem 109. Kongress hat sich das Durchschnittsalter der Abgeordneten um zwei Jahre erhöht. Manning, Jennifer E.: Membership of the 111th Congress: A Profile, CRS Report of Congress, eingesehen unter: www. senate.gov/CRSReports/crs-publish (12.06.2010). 14 Damit ist die Tradition im Kongress gemeint, dienstälteren Mitgliedern bestimmte Privilegien zu gewähren, wie etwa den Vorsitz in wichtigen Ausschüssen. Vgl. Ehnes, Ulrike: Politisches Wörterbuch zum Regierungssystem der USA: englisch-deutsch, deutsch-englisch, Oldenburg 2001, S. 325. 15 Zur Altersstruktur des Österreichischen Nationalrates siehe unter: http://www. parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/ALTER/altersstruktur_NR_XXIV_201101 25.shtml (22.06.2011). 16 Diese Annahme müsste in einer weitergehenden Untersuchung verifiziert werden. 17 Der jüngste Landtagsabgeordnete ist 22 Jahre, der älteste 81 Jahre alt.
4. P OLITISCHE K ARRIEREN
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ordnete hingegen seltener anzutreffen, sie machen einen Anteil von 6,9 Prozent aus.18 Ältere sind in den Landesparlamenten heute zahlenmäßig in ähnlicher Weise vertreten wie in den 1970er Jahren. Im Zeitraum 1970 bis 1979 waren in elf westdeutschen Landtagen von insgesamt 1368 Abgeordneten 90 älter als 61 Jahre (6,6 Prozent).19 Beim Vergleich zwischen den Bundesländern ist ein NordSüd-Gefälle feststellbar: Die Landesparlamente der norddeutschen Bundesländer waren „jünger“ als in Süddeutschland. Der bayrische Landtag zählte die meisten Abgeordneten im Alter von 65 bis 75 Jahren. Ein Landesminister war im Durchschnitt 54,2 Jahre alt.20 Wie Dominik Kalisch herausarbeitet, war der Anteil der Älteren, die erstmals in einen Landtag gewählt wurden, bei den Wahlen Mitte der 2000er Jahre deutlich höher als der Anteil der Jüngeren. Allerdings ist auch hier festzuhalten, dass die Anzahl neu gewählter Abgeordneter von 57 Jahren und älter abrupt abnimmt.21 Marion Reiser hat in ihrer Untersuchung zur Professionalisierung der Kommunalpolitik in Stuttgart, Frankfurt, Hannover und Nürnberg die Überrepräsentanz der mittleren Alterskohorten zwischen 41 und 60 Jahren in den Stadträten aufgezeigt. Sie schlussfolgert, dass diese Gruppe am ehesten Beruf und kommunalpolitisches Mandat vereinbaren kann. Der Anteil der über 60-jährigen Kommunalpolitiker in den vier Untersuchungsstädten lag bei 18 Prozent.22 In einer Studie zu Bürgermeistern und kommunalen Fraktionsvorsitzenden in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen erhoben Gehne und Holtkamp soziodemografische Daten. Fraktionsvorsitzende über 60 Jahre sind in Baden-Württemberg mit 40 Prozent deutlich stärker vertreten als in Nordrhein-Westfalen mit 27,5 Prozent. Sie halten fest, dass der Alterschnitt im Südwesten mit der Gemeindegröße ab 100.000 Einwohnern sinkt. In NRW nimmt der Anteil der über 60-Jährigen in Städten und größeren Gemeinden zu. Hauptamtliche Bürgermeister in Baden-Württemberg sind im Durchschnitt 52 Jahre alt, in NRW zwischen 54 und 55 Jahren. Insgesamt waren im Untersuchungsjahr 2003 in Baden-Württemberg 16,9 Prozent und in
18 Das Durchschnittsalter aller Landtagsabgeordneten betrug im Jahr 2008 51 Jahre. 19 Vgl. Schaal, Franziska: Repräsentation und Partizipation älterer Menschen, S. 128. 20 Ein Landesminister hat mit 15,9 Jahren fast doppelt so lange ein Mandat inne als ein durchschnittlicher Landtagsabgeordneter (9,2 Jahren). Vgl. Kalisch, Dominik: Politische Repräsentanz Älterer in deutschen Parlamenten. Eine Analyse der Altersanteile in den Landesparlamenten und im Bundestag, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Informationsdienst Altersfragen, Heft 5, September/Oktober 2008, S. 6. 21 Vgl. ebd., S. 3. 22 Vgl. Reiser, Marion: Zwischen Ehrenamt und Berufspolitik – Professionalisierung der Kommunalpolitik in deutschen Großstädten, Wiesbaden 2006, S. 142f.
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NRW 27,8 Prozent der Bürgermeister 60 Jahre und älter. Erklärt wird der höhere Anteil in Nordrhein-Westfalen dadurch, dass ältere Amtsinhaber ehrenamtlich Tätigkeiten als Bürgermeister oder Fraktionsvorsitzende ausgeübt haben, bevor sie in hauptamtliche Funktionen wechseln. 23 Bei hauptamtlichen Bürgermeistern muss zudem die beamtenrechtliche Höchstaltersgrenze berücksichtigt werden. Bürger ab einem bestimmten Alter werden daran gehindert, für das Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters zu kandidieren bzw. das Amt anzutreten.24 Jüngstes Beispiel: Der 63-jährige Münchener Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hat seine Bereitschaft zur Kandidatur für das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten nicht zuletzt damit begründet, dass ihm – im Gegensatz zur Landesebene – eine weitere Amtszeit als OB aufgrund der Höchstalterregelung verwehrt bliebe.25 Das Höchstalter für die Kandidatur zum Bürgermeister liegt in MecklenburgVorpommern bei 58 Jahren, bei 60 Jahren in Schleswig-Holstein, bei 62 Jahren in Brandenburg und bei 65 Jahren in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Hessen liegt die Altersgrenze bei 67 Jahren. Lediglich die Kommunalverfassung in Nordrhein-Westfalen sieht kein Höchstalter vor. 26 Vergleicht man die Altersangaben kommunaler Mandatsträger mit jenen der Bundes- und Landesabgeordneten, zeigt sich: Je höher die Parlamentsebene, desto jünger werden die Parlamentarier. Abgesehen von einem beamtenrechtlichen Höchstalter ist zu fragen, welche Ursachen für diese unsichtbare Altersgrenze identifizierbar sind, dass allen de-
23 Gehne, David H.; Holtkamp, Lars: Fraktionsvorsitzende und Bürgermeister in NRW und Baden-Württemberg, in: Bogumil, Jörg; Heinelt, Hubert (Hrsg.): Bürgermeister in Deutschland. Politikwissenschaftliche Studien zu direkt gewählten Bürgermeistern, Wiesbaden 2005, S. 98 und 115. 24 Verfassungsbeschwerden zu Höchstsaltersgrenzen bei Bürgermeisterwahlen wurden in der Vergangenheit vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Das Gericht sah den Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) als nicht gegeben und wies Klagen ab. Vgl. Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts͒Nr. 75/97 vom 12. August 1997, eingesehen unter: http://archiv.jura.uni-saarland.de/Entscheidungen/press em97/BVerfG/buergerm.html. 25 Vgl. Halser, Marlene: Wahlkampf statt Ruhestand, in: die tageszeitung, 11.08.2011. 26 Vgl. Schrameyer, Marc: Der kommunale Wahlbeamte – Die Rechtsstellung der kommunalen Wahlbeamten in Nordrhein-Westfalen nach der Reform der Kommunalverfassung 1994, Münster 2004, S. 61.
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mografischen Veränderungen der Wählerschaft und der Mitgliedschaft der Parteien zum Trotz Ältere selten in den Parlamenten anzutreffen sind. Zwar gibt es keine gesicherten Befunde über die tatsächlichen Motive, es lassen sich jedoch nachvollziehbare Gründe unter Plausibilitätsgesichtspunkten erörtern. Politik als Beruf wird von vielen Mandatsinhabern als eine Erwerbstätigkeit gesehen, die sie – entsprechend der bestehenden Ruhestandsnorm – spätestens Mitte des sechsten Lebensjahrzehnts beenden. Formal existiert zwar keine Altersobergrenze, allerdings liegt auch für Mandatsträger das formelle Renteneintrittsalter stufenweise ansteigend bei 67 Jahren. Überdies besteht in den politischen Spitzenpositionen trotz Erhöhung des Renteneintrittsalters und Abschaffung der Frühverrentung nach wie vor der Trend zum frühen Ruhestand.27 Die durchschnittliche Zugehörigkeitsdauer aller Bundesparlamentarier am Ende der 16. Wahlperiode betrug 10,6 Jahre.28 Abgesehen davon, dass eine Wiederwahl letztlich sowohl den Wahlerfolg als auch persönliche Dispositionen wie Gesundheit und Motivation des Kandidaten voraussetzt, sind jedoch auch andere Motive für den Verbleib im Parlament zu benennen. Hierbei sind die Vorsorgungsanwartschaften und die damit resultierenden Pensionsansprüche nach zwei vollen Legislaturperioden (acht Jahren im Bundestag) zu nennen. Die erworbenen Altersversorgungsleistungen sind ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei den Überlegungen für die erneute Kandidatur. Best, Jahr und Vogel verglichen Karrierestrukturdaten von Mandatsträgern mit den in den Abgeordnetengesetzen festgelegten Fristen für den Bezug einer Altersentschädigung und halten fest, „dass es den Parlamentariern und Parteien vor allem in den westdeutschen Landtagen und im Bundestag gelungen ist, ein System der Mandatsvergabe zu etablieren, welches fast zwei Drittel der Volksvertreter so lange im Parlament hält, bis sie Ansprüche auf Altersversorgungsleistungen erworben haben“29.
27 Auch für Bundestagsabgeordnete wurde stufenweise die Regelaltersgrenze vom 65. auf das 67. Lebensjahr angehoben. Vgl. Mayntz, Gregor: Was sind uns die Abgeordneten wert?, in: Blickpunkt Bundestag, Sonderthema, Ausgabe 03/2007, eingesehen unter: www.bundestag.de/blickpunkt (21.01.2010). 28 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion waren im Durchschnitt bereits 11,9 Jahre, Abgeordnete der SPD-Fraktion 11,5 Jahre im Bundestag. In der 12. Wahlperiode (19901994) lag die Zugehörigkeitsdauer im Bundestag bei 9,7 Jahre. Vgl. Deutscher Bundestag: Dauer der Mitgliedschaft im Bundestag, eingesehen unter: http://www. bundestag.de/dokumente/datenhandbuch/03/03_04/03_04_01.html (22.02.2011). 29 Best, Heinrich; Jahr, Stefan; Vogel; Lars: Karrieremuster und Karrierekalküle deutscher Parlamentarier, in: Edinger, Michael; Patzelt, Werner J. (Hrsg.): Politik als Beruf. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 44/2010, S. 187.
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Zudem: Politik als Beruf kann anstrengend und aufreibend sein. Aufgrund der institutionellen Verflechtung mit der europäischen Gesetzgebung und supranationalen Organisationen sowie der erhöhten Frequenz des telekommunikativen Informationsaustausches stehen Parlamentarier vor höheren Anforderungen als in früheren Zeiten.30 Das Leben als Berufspolitiker ruft nicht selten arbeitsbezogene Ermüdungseffekte hervor, so dass man den parlamentarischen Beruf nur über einen begrenzten Zeitraum ausüben kann.31 Letztlich kann das Ausscheiden aus politischen Entscheidungsaufgaben auch aus einer „sozialen Verhaltenserwartung“32 erklärt werden. Vielerorts wird der ältere Mandatsträger das Feld freiwillig räumen, um einem jüngerem Nachfolger den Weg zur Übernahme zu ebnen. Unter dem Motto „Soll mal ein Jüngerer ran“ wird seit jeher der Generationswechsel eingeläutet. Ebenso ist anzunehmen, dass die lokale Führungsschicht Druck ausübt, um die Parlamentssitze für jüngere Mandatsträger freizumachen. Jugendlichkeit bzw. ein junges Aussehen wird oftmals mit Attraktivität gleichgesetzt, der jüngere Aspirant wird unter diesem Gesichtspunkt gefördert. Nachdem in den bisherigen Ausführungen Gründe für den Verbleib bzw. das Ausscheiden aus dem Parlament erörtert wurden, soll im Folgenden nach den Möglichkeiten des politischen Neueinstiegs im Alter gefragt werden. Betrachtet man die angetretenen Bewerber nach Alter bei der Bundestagswahl 2009, so wird die kurvilineare Altersstruktur deutlich. Die Alterszusammensetzung ähnelt der der tatsächlich gewählten Bundestagsabgeordneten. Mehrheitlich waren die Kandidaten zwischen Anfang 40 und 50 Jahre alt. 13 Frauen und 44 Männer im Alter von 60 Jahren und älter kandidierten für die CDU, für die SPD traten 19 Frauen und 37 Männer in dieser Altergruppe an.33 Das Durchschnittsalter aller
30 Die tiefgreifenden Wandlungsprozesse subsumiert Greven unter den Begriffen „Globalisierung“, „Transnationalisierung“ und „Europäisierung“. Vgl. Greven, Michael Th.: Sind Parteien in der Politik alternativlos oder ist ihre Rolle historisch begrenzt? Die Parteienforschung angesichts von „Globalisierung“, „Transnationalisierung“ und „Europäisierung“, in: Gehne, David; Spier, Tim (Hrsg.): Krise oder Wandel der Parteiendemokratie? Wiesbaden 2010, S. 225-235. 31 Vgl. ebd., S. 179. 32 Vgl. Schaal, Franziska: Repräsentation und Partizipation älterer Menschen in Politik und Gesellschaft, S. 200. 33 Bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestages traten in dieser Altersgruppe für die CDU 51 Bewerber, für die SPD 47 Bewerber an. Der Kandidatenanteil dieser Alters-
gruppe ist also nahezu gleichbleibend. Vgl. Bundeswahlleiter: Wahl zum 16. Deut-
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Kandidaten für die CDU lag bei 46,8 Jahren, die der SPD waren im Schnitt 47,2 Jahre alt. Die meisten Bewerber über 60 Jahre sind der Gruppe der „jungen Alten“ zuzurechnen. Alle nominierten Bewerber der Parteien waren im Schnitt drei Jahre jünger als die gewählten Abgeordneten. Die Kandidaten älter als 75 Jahre wurden nicht in das Parlament gewählt, auch nicht die zwei CDU-Bewerber über 80 Jahre.34
CDU
SPD
Tabelle 8: Kandidaten der CDU und SPD nach Altersgruppen zur Bundestagswahl 2009 *
ges. 18- 21- 25- 30- 35- 40- 45- 50- 55- 60- 65- 70- 75- 8020
24
29
34
39
44
49
54
59
64
69
74
79