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German Pages 588 [592] Year 1993
Streitkultur Wolfram Mauser/Günter Säße (Hgg.)
Streitkultur •·
Strategien des Uberzeugens im Werk Lessings Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau
herausgegeben von Wolfram Mauser und Günter Säße
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Stadt Freiburg und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau
Redaktion, EDV-technische Einrichtung und Gesamtbetreuung des Bandes: Antje Schädel
Die Durchführung der Tagung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Lessing-Museum in Kamenz.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Streitkultur : Strategien des Überzeugens im Werk Lessings ; Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau / hrsg. von Wolfram Mauser und Günter Säße. - Tübingen : Niemeyer, 1993. NE: Mauser, Wolfram [Hrsg.]; Internationale Lessing-Tagung ; Universität ISBN 3-484-10695-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: ScreenArt GmbH & Co. KG Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort
XI
HAUPTVORTRÄGE
i
Wolfram Mauser (Eröffnungsvortrag) Streit und Freiheitsfähigkeit. Lessings Beitrag zur Kultur des produktiven Konflikts
3
Wilfried Barner Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit
15
Günter Säße Der Streit um die rechte Beziehung. Zur »verborgnen Organisation« von Lessings Minna von Barnhelm . . . . 38 Arno Schilson »Glanz der Wahrheit« oder »blendender Stil«? Überlegungen zu Gegenstand und Methode in Lessings Streit mit Goeze
56
RudolfVierhaus Kritikbereitschaft und Konsensverlangen bei deutschen Aufklärern . . . . 78
SEKTIONSREFERATE
93
Claudia Albert Mit Mätressen streiten?
95
Wolfgang Albrecht Zwiespältigkeiten Lessingscher Streitkultur. Über die Auseinandersetzungen mit Wieland in den Briefen, die neueste Literatur betreffend . . . 103 Beate Allen Pluralisierung der Ringe oder Ringverlust? Lessings Beitrag zur Metaphorisierung und/oder Politisierung der Sprache
113
VI Thomas Althaus Der Streit der Worte. Das Problem diskursiver Gedankenfuhrung und die sprachkritische Entfaltung der Vernunft in Lessings dialogischer Prosa
121
Rainer Baasner Lessings frühe Rezensionen. Die Berlinische Privilegierte Zeitung im Differenzierungsprozeß der Gelehrtenrepublik
129
Erhard Bahr Autorität und Name in Lessings Streitkultur
139
Joachim Bark Brandstifter Reimarus
147
Edward Batley Folge und Zusammenhang von erzählten und gespielten Theaterszenen als Anregung zum kritischen Denken
157
Gerhard Bauer Streitlust, Gewinnstrategien und Friedensbemühungen in Lessings Nachkriegskomödie
166
Klaus L. Berghahn Zur Dialektik von Lessings polemischer Literaturkritik
176
Hans Erich Bödeker Raisonnement, Zensur und Selbstzensur. Zu den institutionellen und mentalenVoraussetzungen aufklärerischer Kommunikation
184
Peter J. Burgard Schlangenbiß und Schrei: Rhetorische Strategie und ästhetisches Programm im Laokoon
194
Brian Coghlan »In der Art, wie er Achtung zuerkannte (und wie er sie verweigerte), liegt das ganze Pathos des Menschen.« - Von Lessings Art und Kunst des Disputierens
203
Eric Denton Selbstüberzeugung in Lessings Philotas
214
Verena Ehnch-Haefeli Philotas: Streiten nach außen - Streiten nach innen? Tragische Pannen der Verinnerlichung bei Lessing
223
VII KarlEibl Von der dogmatischen zur kritischen Rationalität
238
Bernhard Greiner Streitkultur des Als Ob: Komödie als transzendentale Bedingung des Streitens in Minna von Barnhelm
247
Gunter E. Grimm »O der Polygraph!« - Satire als Disputationsinstrument in Lessings literaturkritischen Schriften
258
Ortrud Gutjahr Rhetorik des Tabus in Lessings Nathan der Weise
269
Konrad Kärn G. E. Lessing: Strategien des Nicht-Mehr-Versöhnlichen
279
Hans-Georg Kemper »Ihr habt allebeide, allebeide habt ihr Recht«. Lessing und die Überzeugungskraft des Eklektizismus
294
Gizgla Kurpanik-Malinowska Der gescheiterte Aufstand Samuel Henzis und die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels
305
Roben Leventhal Körper - Tod - Schrift: Zur rhetorischen Umschreibung bei Lessing . . . 312 Matthias Luserke »Wir führen Kriege, lieber Lessing«. Die Form des Streitens um die richtige Katharsisdeutung zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai im Briefwechsel über das Trauerspiel. - Ein diskursanalytischer Versuch 322 Eva Maresovd Die Wirkungsstrategie in Lessings Gespräch über die Soldaten und Mönche
332
Gen Mattenklott Lessing, Heine, Nietzsche. Die Ablösung des Streits vom Umstrittenen
339
John A. McCarthy »So viel Worte, so viel Lügen«. Überzeugungsstrategien in Emilia Galotti und Nathan der Weise
349
VIII Albert Meier Die Interessantheit der Könige. Der Streit um Emilia Galotti zwischen Anton von Klein, Johann Friedrich Schink und Cornelius Hermann von Ayrenhoff
363
Alexander Michatlow »Er hat sterben wollen«: Vorüberlegungen zu Philotas
373
Peter Michelsen Lessing, mit den Augen Goezes gesehen
379
Evelyn Moore Lessings Rettung des Cardanus. Zur Entstehung einer epistemologischen Polemik
392
Erwin Neumann »Meinen F a u s t holt der Teufel, ich aber will Goethes seinen holen.« Lessings //. Literatur-brief 'und seine Faust-P\äne. Zur Doppelstrategie seiner Polemik gegen Gottsched und Goethe in epistularischer und dramatischer Form 401 Hugh Barr Nisbet Polemik und Erkenntnistheorie bei Lessing
410
Armand Nivelk Aspekte der >Disputirkunst< bei Voltaire und Lessing
420
Lothar Pikulik Lessing als Vorläufer des frühromantischen Fragmentarismus
428
Mark W. Röche Apel und Lessing - oder: Kommunikationsethik und Komödie
436
Simonetta Sanna Streitkultur in Lessings Minna von Barnhelm. Minnas Fähigkeit vs. Franziskas Unfähigkeit zum Streiten als Movens von Handlungsentwicklung und Konfliktlösung
444
Karol Sauerland Lessings Palast-Parabel - ein literarisches Kleinod, das über das Streitobjekt hinauswuchs
457
Helmut J. Schneider Schenken und Tauschen. Bemerkungen zu einer Grundfigur der Lessingschen Dramatik
462
IX Harald Steinhagen »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliere [...]«. Tragödientheorie und aufklärerische Weltauffassung bei Lessing
472
Horst Steinmetz Die Sache, die Person und die Verselbständigung des kritischen Diskurses. Offene und verdeckte Antriebe und Ziele in Lessings Streitschriften
484
Jürgen Stenzel Auseinandersetzung in Lessings frühen Schriften
494
Ingrid Strohschneider-Kohrs Gesten der ars socratica in Lessings Schriften der Spätzeit
501
Jürgen Trinks Ein streitendes Selbstbewußtsein im Aufbruch. Irrtum, Wahrheitsliebe und Streit in Lessings Duplik
509
Horst Turk Handlung in Gesprächen oder Gespräch in Handlungen? Zum Problem der Konfliktfähigkeit in Lessings Dramen
520
Beatrice Wehrli >Le style c'est l'homme< - und die Frauen? Minnas Streitkultur, eine »zeitige Aufgabe«
530
Marianne Willems Der »herrschaftsfreie Diskurs« als »opus supererogatum«. Überlegungen zum Interaktionsethos des >bloß Menschlichem
540
Wilfried Zieger »Doch ich vergesse mich. Wie gehört das alles zur Zelmire?« Argumentation und Aufbau in Lessings Besprechung der Zelmire von Dormont de Belloy im 18. und 19. Stück der Hamburgisdien Dramaturgie 552
Register
Namenregister
563
Werkregister
574
Siglen-Verzeichnis
LM
Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann, dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart (Bd. iiff.), Leipzig (Bd. zzf.), Berlin und Leipzig 1886-1924. Reprint: Berlin 1968.
PO
Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen. Hg. von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen, 25 Teile, 3 Anmerkungs- und 2 Registerbände, Berlin und Leipzig 1925-1935. Reprint: Hildesheim und New York 1970.
R
Gesammelte Werke. Hg. von Paul Rilla, 10 Bde., Berlin 1954-1958. 2. Aufl.: Berlin und Weimar 1968.
G
Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönen hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1970-1979.
B
Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann, Frankfurt a. M. 1985^
Vorwort
>Streitkultur< - das Wort verbindet zwei Bereiche, die far gewöhnlich als schwer vereinbar gelten. Wo Kultur herrscht, so die Annahme, geht man verständig miteinander um, geht es um ein harmonisches Miteinander, nicht aber um das Disparate eines Gegeneinander, nicht um Entzweiung und Feindschaft, nicht um verbale Aggression und Kommunikationsabbruch. >Streitkultur< - das Wort zeigt ein Spannungsfeld an, dem nachzugehen ist: Wie kann man streiten, ohne sich zu entzweien? Wie kann man kontrovers miteinander umgehen, ohne die Basis einer Gemeinsamkeit, die im Willen zur Verständigung gründet, zu zerstören? Wie kann man verhindern, daß der Pluralismus der Meinungen in fatalem Dissens mündet? Das sind Fragen von elementarer Wichtigkeit gerade auch in Zeiten, in denen überkommene Gewißheiten und die sie legitimierenden Weltbilder fraglich geworden sind. Nicht von ungefähr wird in der Epoche der Aufklärung der Streit im Sinne von Kritik zu einem beherrschenden Thema und zu einer prägenden Praxis far viele Angehörige der mittelständischen Intelligenz. Aufklären kann mit einem herrschaftlichen Gestus verbunden sein: Der Wissende lüftet den Schleier, bringt far den Unwissenden Licht ins Dunkel. Aufklärung kann aber auch das Gegenteil meinen: die Absage an die Autoritäten von >Wissen< und >Wahrheitrechten LebensWahrheit< allein in den Anerkennungsakten der am Diskurs Beteiligten herstellt. Hier hat der Streit als Element einer konsensualen Kommunikation seinen genuinen Ort. Er enthält Momente der Auseinandersetzung, der Differenz, des Trennenden; zugleich aber entsteht durch ihn immer auch Zusammenhang und Bindung. So ist der Streit, indem er das Kontroverse sichtbar macht, auch eine Form der Vergesellschaftung, die ihre einende Kraft in dem Bestreben hat, zu Einsichten zu kommen, die zustimmungsfähig sind. Es ist der Streit, der die >Wahrheit< aus ihrer vertikalen Verankerung in religiösen oder auch rationalistischen Sinnhorizonten löst und sie als Produkt kommunikativer Auseinandersetzung in den zwischenmensch-
XII
liehen Bezug rückt. Die Sprache dient dabei nicht der Übermittlung des schon Erkannten, das Sprechen, der Dialog, die Debatte, der Austausch von Argumenten bezeichnen vielmehr den Weg, auf dem Erkenntnis möglich wird. Gegen den Dogmatismus des Wahrheitsbesitzes steht so der Kritizismus einer Wahrheitssuche, die den Weg, die streitende Auseinandersetzung um das, was richtig ist, und nicht das Ziel, die fixierte rechte Einsicht, zum Medium menschlicher Erkenntnis erhebt. Eine solche Erkenntnis bleibt sich ihres vorläufigen Charakters bewußt. Mit guten Gründen wird das Thema >Streitkultur< auf Person und Werk Lessings bezogen. Exemplarisch hat Lessing vorgelebt, was es heißen kann, sich und die Sache dem Streit auszusetzen. Sein Beispiel zeigt, wie sich dabei Polemik und Wissen, Temperament und Gegenstand verquicken. Auch wenn sich Lessing in der Praxis gelegentlich zu verletzender Schärfe hinreißen ließ - programmatisch geht es ihm nicht darum, recht zu behalten oder recht zu haben, sondern darum, durch den Streit eine kommunikative Gemeinsamkeit zu stiften, dies in der Gewißheit, daß die Freiheit der Gedanken dazu beitragen kann, sich der >Wahrheit< anzunähern: Schreibt man denn nur darum, um immer Recht zu haben? Ich meine mich um die Wahrheit eben so verdient gemacht zu haben, wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache ist, daß sie ein anderer entdeckt, als wenn ich sie selbst entdecke. (G 6, S- 379)
Gegen die Egozentrik eines Streites, bei dem es um den Sieg geht, gegen die instrumenteile Funktionalisierung von Rede und Schrift, die den Kontrahenten zum Feind macht, den es zu >vernichten< gilt, hebt Lessing die dem Streite selbst innewohnende Dynamik hervor, die die Streitenden in dem Wunsch verbindet, sich nicht mit vorgegebenen oder vorschnellen Antworten zufriedenzugeben. Denn wer immer schon vorweg weiß, was recht und richtig ist, denkt und agiert dogmatisch; was aber jeglichen Dogmatismus auflöst, das ist für Lessing der Streit, durch den tradierte Wahrheiten zurückgeführt werden auf das, was sie im Horizont des Denkenden sind: bloße Hypothesen, Debattenbeiträge in einem allgemeinen Räsonnement, das in den Verfestigungen von Wahrheitsbehauptungen nicht mehr sieht als Beiträge zu einer fortdauernden Kontroverse. Vor diesem Hintergrund versteht sich das Motto der Tagung: Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen. (G 6, S. 407)
XIII Lessings programmatische Rechtfertigung des Streites sollte Ferment der gemeinsamen Arbeit der Tagungsteilnehmer sein. Nachdenken über Strategien des Überzeugens< hieß auch, sich streitend über strittige Themen zu verständigen, über den Streiter und den Umstrittenen, über den Meister des Streitdialogs und über den umstrittenen Polemiker in Fragen der Dichtung, der Theorie und der Theologie. Die unter dem Thema >Streitkultur< ausgeschriebene Tagung fand sehr große Resonanz. Die Zahl der Anmeldungen für Referate übertraf nicht nur die Erwartungen, sondern auch den finanzierbaren Rahmen bei weitem. In sechs Hauptreferaten und in fünf Sektionen diskutierten Germanisten, Theologen, Historiker und viele am Werk Lessings Interessierte über ein breites Spektrum von Fragen zum Thema >Streitkulturvereins-würdig< oder >gesellschaftsscience of freedom< hervorzubringen.2 Eine solche Wissenschaft hatte zweihundert Jahre lang kaum eine Chance, und auch heute haben wir bestenfalls Ansätze dazu. An dem, was an freiheitsbewußtsein aber dennoch entwickelt werden konnte, hat Lessing jedenfalls für Deutschland - unbestreitbaren Anteil. Nicht als Philosoph der Freiheit wirkt er bis in unsere Zeiten fort, wohl aber als Dichter und Kritiker, dessen Person und Werk für den Willen und die Fähigkeit zur Freiheit steht. Die Kühnheit und Unerschrockenheit seines Auftretens haben mehr bewirkt, als seine Kontroversen an Klärung in der Sache zustande bringen konnten. So überrascht es nicht, daß man sich nach dem Zweiten Weltkrieg, noch unter dem Eindruck politisch-staatlicher Katastrophen und vor die Aufgabe gestellt, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung geistig zu fundieren und auszubauen, ausdrücklich auf das Beispiel Lessing berief. Ich erinnere an die Worte Gustav Heinemanns, des Bundespräsidenten der Jahre 1969 bis 1974, dem 1974 der Lessing-Preis der Stadt Hamburg verliehen wurde: »Wer Freiheit als eine aufklärerische Aufgabe versteht, muß bereit sein, auch Widerspruch hervorzurufen. Wer Anstoß geben will, muß auch Anstoß erregen können. [...] Aufklärung, Widerspruch und Anstoß sind miteinander verwandt und allesamt Kinder der Freiheit.«3 »Was not tut«, so der Titel seiner Dankesrede, »wäre ein Lessing der Freiheitsbewegungen.« Ich füge noch eine Äußerung Hannah Arendts an, auch sie Lessing-Preis-Trägerin, deren »Gedanken zu Lessing« um Begriffe wie Mut, Selbstdenken, Wahrheit und Freundschaft kreisen. In der Bewegungsfreiheit sieht sie die historisch älteste und elementarste Freiheit. Das Aufbrechen-Können, wohin man will, sei die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt in der Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung gelegen habe. Der innere Drang aufzubrechen - denkend und handelnd -, die Kraft des Sich-Lösens aus überlebten Strukturen kennzeichne mehr als anderes die Leistung Lessings. Hannah Arendt zitiert sein Wort vom »sklavischsten 1
1
3
Jean-Jacques Rousseau: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden. Hg. von Martin Fontius. Berlin 1989. Bd. i, S. 382. Dazu auch: Hartmut von Hentig: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung. In: Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung. Darmstadt und Neuwied 1985 (SL 571), S. 105-124, bes. S. 109-110. Gustav W. Heinemann: Was not tut, wäre ein Lessing der neuen Freiheitsbewegungen. In: Volker F. W. Hasenclever (Hg.): Reden zum Lessing-Preis. Denken als Widerspruch. Frankfurt a. M. 1982, S. 116-121; Zitat S. 120.
Streit und Freiheitsföhigkeit
5
Lande Europas«, in dem er lebe, und beruft sich auf ihn als deutschen Kronzeugen für Toleranz und Freiheitswillen, und das bedeutet für sie: »Menschlichkeit in finsterer Zeit.«4 Freiheit (im Denken der Neuzeit) ist zunächst ein abstrakter Begriff. Zur lebendigen Erfahrung wird sie nicht durch die bloße Abwesenheit von Einschränkung und Zwang, sondern erst durch die darauf sich gründende Suche nach Wahrheit. Die Freiheit des Suchens aber setzt die Möglichkeit zum Streit voraus. Das Grundrecht auf Freiheit ist als Prinzip unbestritten. Gilt dies auch für den Streit? Ich meine: Freiheit und Streit sind zwei Seiten einer Medaille. Der freiheitsfähige Lessing ist auch der streitbare. Der streitende Lessing setzt allemal Zeichen des Freiheitswillens. Mit der Wahl des Themas >Streitkultur< (übrigens lange, bevor politische Parteien und Medien im Lande diesen Begriff zu besetzen versuchten) wollen wir an jenen Lessing erinnern, der Mittel und Wege fand, in dem wenig kritikgewohnten obrigkeitlichen Deutschland des 18. Jahrhunderts öffentliches Raisonnement zu erzwingen. Streitkultur also am Beispiel Lessings, am Beispiel des Mannes, der wie kein anderer den Habitus streitbarer Kritik in Deutschland verkörpert. In vielen Referaten und Diskussionen wird dieser Lessing Gegenstand der Arbeit der nächsten Tage sein. Im Vorfeld dazu möchte ich einige Fragen stellen und einige Gedanken entwickeln. Wie kann man in einem Lande, in dem die Obrigkeit autoritär herrscht, Kritik zur Gewohnheit machen? Sollte man dem Streit nicht eher aus dem Wege gehen? - um des lieben Friedens willen. Oder ist Streit ein Faktor der Kultur? Brauchen wir so etwas wie eine Kultur des Streitens, einen Konsens über die Art und Weise, mit dem Dissens kommunikativ, also nicht-autoritär umzugehen? Und hätte dann nicht, um mit Lessing zu sprechen, die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen? Und die Freiheit, fuge ich hinzu. Die Themen >Kritik< und >Streit< bei Lessing sind nicht neu;5 auch die Versuche sind es nicht, das Faszinierende der intellektuellen Statur des Mannes zu beschreiben: seine stupende Belesenheit, seine durchdringende Gelehrsamkeit, seinen sicheren Blick für das Grundsätzliche, seinen Mut, angemaßte 4
5
Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Hasenclever (Anm. 3), S. 3966; Zitate S. 44 und S. 39. Norbert W. Feinäugle: Lessings Streitschriften. Überlegungen zu Wesen und Methode der literarischen Polemik. In: Lessing Yearbook i (1969), S. 126-149. - Volker Noelle: Persuasive Strategie. In: Subjektivität und Wirklichkeit in Lessings dramatischem und theologischem Werk. Berlin 1977, S. 214-285. - Wolfram Mauser: Toleranz und Frechheit. Zur Strategie von Lessings Streitschriften. In: Peter Freimark u. a. (Hg.): Lessing und die Toleranz. München 1986, S. 276290. - Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Göttingen 1985. Bd. 2. - Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann (Hg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen 1986.
6
Wolfram Mauser
Autorität nicht gelten zu lassen, seine Entschlossenheit, dafür Nachteile und Repressalien in Kauf zu nehmen; aber auch seine Lust am Erkennen, seine Leidenschaft, sich für das als richtig Erkannte in die Bresche zu werfen; und nicht zuletzt: die meisterhafte Kunst der Disputation, seine nie versagende List, das treffende Argument im rechten Augenblick zu setzen. Lessings Biographie liest sich wie die leidvolle Probe auf das Exempel eines freimütig-offenen, die eigene Existenz nicht schonenden, aber auch Irrwege riskierenden Denkens. Die deutschen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts im Blick haltend frage ich: Wie konnte es Lessing gelingen, sich als Autor in so ungewöhnlichem Maße einen Freiraum des Denkens und Sprechens zu schaffen? Einem Lessing, dessen Leben und Wirken umstellt war von kirchlichen und staatlichen Autoritäten, die Anerkennung und Gehorsam forderten; von machtvollen Amtsträgern, die es gar nicht nötig hatten, sich auf einen Wettstreit der Argumente einzulassen; von einer Zensur, die sich auf Verdächtigungen, Verleumdungen und Unterstellungen stützte und deren Sanktionsgewalt jeder kritische Kopf zu fürchten hatte. Ohne Zweifel, das Druckprivileg des Hofs in Braunschweig schützte Lessing eine Zeitlang vor Verbot und vor dem unmittelbaren Zugriff auf das Gedruckte; doch wir wissen, wie wenig dauerhaft dieser Schutz war. Als er versagte, blieb Lessing, wenn er überhaupt noch publizieren wollte, nichts anderes übrig, als das provokativ Gemeinte seiner Kritik herunterzuspielen und um die >richtige< Einschätzung seiner Absichten zu bitten. Am Ende hatte er nur noch die Wahl, in die fiktionale Gattung seines dramatischen Gedichts< Nathan der Weise auszuweichen. Die selbstbewußten, aber dennoch demütigenden Bittbriefe an den Landesherrn unterzeichnete Lessing mit den Worten: »Ich ersterbe in tiefster Devotion. Ewr. Durchlaucht untertänigster Knecht, Lessing.« (G 8, S. 614) Gewiß, dies war eine der Formeln für den Umgang mit der Obrigkeit. Doch es ist schwer vorstellbar, daß Lessing diese Worte nicht in ihrem wörtlichen Sinne als treffende Beschreibung herrschender Unfreiheit empfunden haben sollte. Wie konnte es einem Manne wie Lessing also gelingen, die Barrieren, die Kirche und Staat errichtet hatten, zu durchbrechen und Akte der Freiheitsbekundung zu setzen? Für den Gelehrten, den Kritiker, den Dichter hieß dies: sich in demonstrativer Weise auf das eigene Urteilsvermögen zu stützen, sich aus festgelegten und festgefahrenen Schemata zu lösen, ja offensiv gegen sie anzugehen, denn (um mit Kant zu sprechen): »Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.«6 In seinem berühmten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist 6
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), zitiert nach: Norbert Hinske (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. Darmstadt 1973, S. 455.
Streit und Freiheitsfahigkeit
J
Aufklärung? äußerte der Königsberger Philosoph die Gewißheit, daß sich der »Hang und Beruf zum freien Denken« [des Gelehrten] »auf die Sinnesart des Volks« auswirke und daß sie dazu führten, daß dieses (das Volk) der »Freiheit zu handeln nach und nach fähiger« werde7. Kein Zweifel: Was Kant 1784 für den einzelnen forderte, nämlich das Recht, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«8, das praktizierte Lessing Jahre davor so konsequent wie kaum jemand: die freie Rede als Ausdruck des >freien offenen Kopfesprivat< und >öffentlich< empfiehlt, auf eine Art und Weise, die ich hier nicht weiter zu erörtern brauche. Die Reflexion über den Zwiespalt des Menschen zwischen innerer Freiheit und äußerer Unterwerfung unter Kirche und Staat hat eine lange Tradition; auf ihrem Weg begegnen wir Namen wie Paulus und Luther. Lessing verweigerte sich dem Gedanken der Trennung von >innen< und >außengesunden< Vernunft. Woran erkennt man das >Gesunde< an der Vernunft? Gewiß nicht an rhetorisch-syllogistischer Brillanz, die allzuoft das Blendende über die Sache stellt. Als >gesund< erweist Vernunft sich dann, wenn ihr das Evidente evident ist, das unmittelbar Einleuchtende einleuchtet; und zwar deshalb einleuchtet, weil es der sozialen Erfahrung entspricht, einem gesellschaftlichen Wissen, das man im Mit- und Gegeneinander der Menschen gewinnt. Dieses Wissen des Alltags ist nicht verhandelbar. Es meldet sich nicht nur verbal, sondern auch körperlich zu Wort; dem, was der Körper verlautet, gibt Lessing beredten Ausdruck. »[...] eine gewisse schielende, hinkende, sich selber ungleiche Orthodoxie ist so ekel! So ekel, so widerstehend, so aufstoßend! - Das wenigstens sind die eigentlichen Worte für meine Empfindung.« (B 8, S. 328) Und an anderer Stelle - am Anfang von Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777): »Ich hungere nach
Streit und Freiheitsfahigkeit
II
Überzeugung so sehr, daß ich, wie Erisichton alles verschlinge, was einem Nahrungsmittel nur ähnlich sieht.« (B 8, S. 439) - und nachdem er, nur wenige Monate später, Eine Duplik (1778) beendet hatte: »Ich fühle es sehr wohl, daß mein Blut anders umfleußt itzt.« (B 8, S. 585) Der Körper spricht >in natürlichen Zeichen< dort mit, wo im Geistigen die Schmerzgrenze überschritten ist, aber auch dort, wo das geistige Bedürfnis so vehement auftritt, daß es sich auch körperlich artikuliert. Für den Geist läßt sich möglicherweise bestreiten, aber gewiß nicht für den empfindenden Körper, daß hier die Natur mitredet: die meistbeschworene und als unbestechlich gedachte Legitimationsinstanz in den Kontroversen des 18. Jahrhunderts. Gegen die Natur, die große Rechtfertigerin, gegen die Garantin der Wahrheit gibt es kein vernünftiges Argument, kein Einspruchsrecht. Ihr zu folgen, befähigt aber zur Freiheit, macht frei. Dabei sei nicht übersehen, daß hier wie andernorts eine argumentative Rückkoppelung stattfindet, die die Beweisinstanz Natur von der Beweisnot her imaginiert. >Ein anderes< ist es, der Autorität zu folgen; >ein anderes^ sich auf die >gesunde VernunftRettungen< liegt diese Gewißheit zugrunde. Es könne daher nicht darum gehen, Wahrheit als etwas Gesichertes zu vermitteln, wie dies Jahrhunderte über geschehen ist, es gelte vielmehr, sich ihr anzunähern, die erkennbaren Teile ausfindig zu machen, sie im Disput, im Streit herauszuarbeiten und freizulegen. Und: »Das Vergnügen einer Jagd ist ja allezeit mehr wert, als der Fang.« (B 8, S. 138) In dem Augenblick, in dem Lessing sich auf einen operativen Wahrheitsbegriff einläßt, ist es nur folgerichtig, daß er das Streben nach Wahrheit über deren Besitz stellt. Streitkultur, gewiß, das Wort meint zunächst (und für viele nur) die Kultivierung des Streitens, die Schicklichkeit, den guten Ton, das Manierliche und in diesem Sinne Disziplinierte; auch die Vorstellung, daß die Grenzen des Zumutbaren eng gezogen sein sollten, daß es auf die Dominanz von Spielregeln ankomme, darauf, sicherzustellen, daß eine gedämpfte Redeweise vorherrscht - und daß sich an den Verhältnissen möglichst nichts ändert. Ärw'ricultur eröffnet darüber hinaus aber den Blick auf ein Kultur-Konzept, in dem >Streit< ein konstitutives und konstruktives Element darstellt. Lessing war nicht Kulturphilosoph im späteren Sinn des Wortes, der kritische Anspruch aber, mit dem er in der intellektuellen Szene des späten 18. Jahrhunderts auftrat, war nicht nur für Theologie und Politik, sondern auch für die Gesamtkultur folgenreich. Was er mit bewirkte, ist ein Wandel des Kulturbegriffs vom Vorrang der Rationalität des Machens und Handelns, weithin im Sinne fortschreitender Naturbeherrschung, zur Fähigkeit kritisch-prüfender Reflexion mit dem Ziel, das Erreichte oder auch nur gedankenlos Akzeptierte scharfer Überprüfung, ständigem Neubefragen zu unterwerfen. Fortschritt im Verständnis heute gebotener Aufgeklärtheit bedeutet dann nicht einfach: vom Guten zum Besseren, vom Gelungenen zum Perfekteren, ohne Rücksicht auf die daraus resultierenden Folgen für das Ganze, sondern vielmehr: sich einlassen auf das Abweichende, auf das Andersgeartete, auf das Ungefügige in der Gesellschaft; dies bedeutet: das Unkalkulierbare mit zu bedenken; nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Fehlbarkeit und die Schwäche des Menschen gelten zu lassen; vor allem aber: die Festlegungen revidierbar zu halten. Das
Streit und Freiheitsfahigkeit
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Selbstverständnis, das einem solchen Kulturkonzept zugrunde liegt, kann sich auf das Beispiel Lessings berufen. Freiheit meint hier nicht tolerantes Gewähren, sie ist kein Gnadenakt von Mächtigen gegenüber Schwachen, von Mehrheiten gegenüber Minderheiten, sondern ein Raum der Entfaltung, der erstritten und streitend bewahrt werden muß: Streit als Verfahren, das ins Freie, ins Offene fuhrt. Übrigens: Wir wissen heute, und Lessing, gewiß der scharfsinnigste Psychologe seiner Zeit, hat wohl geahnt, wieviele unbewältigte Konflikte, wieviel unbearbeiteter Haß, wieviele in Schuldgefühle und Angst umgeleitete Aggressionen sich hinter einem an Harmonie ausgerichteten Kulturideal verbergen können. Streit nach innen, der ins Abgeschlossene fuhrt, in die Melancholie, die Jahrhundertkrankheit der Aufklärer, das wäre ein zweites Thema. Der Akzent, den Lessing mit dem Gestus seines Redens, seines Schreibens setzt, ist ein politischer. Was er mit ihm vorwegnimmt, war als selbstverständliche Übereinkunft erst zu etablieren und ist auch heute nur begrenzt hergestellt: ein politisch-gesellschaftlicher Raum nämlich, der jedem einzelnen die Teilnahme an der öffentlichen Suche nach dem >WahrenPathos des Allgemeinem nennen könnte; die Gewißheit, daß es beim Streit, der wahrhaft lohnt, um den Menschen, um die Gattung Mensch überhaupt geht. In der >VollkommenheitsdynamikFeldzügenAutoritätshistorisdienmalerischen< Homer-Exegesen des Comte de Caylus (mit dem Klotz in Kontakt stand, den er stolz zu seinen »Freunden« zählte), all dieser Anschauungsreichtum war vor allem durch Winckelmann mit einem Schlage in eine neue Perspektive gerückt. Vielfalt antiken Lebens zunächst in der Kleinkunst (noch nicht wie später die Tempel und die Fülle der originalen Statuen), faszinierender Reichtum der Formen, der mythologischen Themen u. dgl. wurden zu einem Dorado auch individueller Betätigung und Entdeckung. Von »Geschäftigkeit der Seele« spricht einmal Lessing im 230. Antiquarischen Brief 39; dieses >gymnastische< Moment ist nicht zu unterschätzen. Die berühmte Lippertsche Daktyliothek, d. h. das umfassende, auf Glaspastenabdrücken beruhende Gemmen-Abbildungswerk des Dresdner Porzellanspezialisten Philipp Daniel Lippert,40 ist für diese ganze Welle hoch charakteristisch - mit erläuternden Texten immerhin von so renommierten Altertumskundlern wie Christ und Heyne. Ein unerwartetes neues Feld schöngeistiger wie philologischer Betätigung, und auch eines für die Praktizierung öffentlicher Streitkultur. Mit dem Laokoon bereits war Lessing in dieses Modemetier spektakulär eingestiegen, und schon die Schlußabschnitte des 1766 erschienenen Ersten Teils waren auf befremdliche Weise in antiquarische Einzelkritik Winckelmanns zerfasert. Der Neu-Römer zunächst war >die< neue Autorität auf dem antiquarischen Gebiet; nach ihm (und seiner römischen Autopsie) schielten sie jetzt mehr oder weniger alle, die Christ, Heyne, Lippert, Lessing, Klotz; und Winckelmanns Reaktion auf den Laokoon erwartete Lessing zuallererst, 36 37 38
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Zum Wortgebrauch vgl. die Angaben in B 5/2, S. 1086. Dieser Begriff begegnet wiederholt, im Sinne von philologisch-quellenkritischer Situierung. Guter Überblick bei Wolfgang Schiering: Zur Geschichte der Archäologie. In: Ulrich Hausmann (Hg.): Allgemeine Grundlagen der Archäologie. München 1959, S. 11-161. B 5/2, S. 484 (in anderer grammatischer Formulierung; es geht bezeichnenderweise um den Gewinn, der auch bei der Widerlegung seiner Deutung des Borghesischen Fechters bleibt). Zuerst, als Dactyliotheca, 1755/56 erschienen (zeitgleich mit Winckelmanns Erstlingsschrift!), dann als Daktyliothek auch deutsch 1767.
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vorderhand freilich vergebens.41 In dieses Feld einzusteigen, war der methodischen Tradition nach durchaus denjenigen möglich, die - wie Lessing und Klotz - im christlich-philologischen Worthumanismus aufgewachsen waren.41 Hier ist der Fall Samuel Gotthold Lange durchaus vergleichbar. In der Eindeutschung der großen antiken Muster, dem neuen nationalpädagogischen Aufgabengebiet, konnte auch der wenig Kompetente, aber hinreichend Selbstbewußte versuchen, eine angemaßte Autorität aufzubauen. Eine leicht anomische Situation, eine Übergangsphase versprach Erfolge. Und so versuchte es, durchaus dem jungen Lessing vergleichbar - freilich akademisch etabliert -, auf dem antiquarischen Feld der junge, ehrgeizige Christian Adolf Klotz. Bisher vorzugsweise durch philologische Arbeiten von Homer über Cicero bis zu Horaz hervorgetreten, ein hochrenommierter lateinischer Stilist vor allem (noch Erich Schmidt hält ihn für einen der besten der Epoche,43 Lessing spielt auch wiederholt auf den »Lateiner« an44), dieser gerade 29jährige Klotz »wirft sich«, wie es mehrfach heißt, mit geschmackspädagogischem Elan45 auf das neue Gebiet. Er publiziert - nun auf deutsch natürlich - binnen kurzem drei programmatische Schriften: U eher das Studium des Alterthums (1766, im Jahr des Laokoon}, Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen (1767) und Ueberden Nutzen undGebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke (1768). Alle drei, vor allem die beiden letzten, entgehen dem Lessingschen Seziermesser nicht. Mit dem Laokoon hat Lessing selbst ein Stück antiquarischer Autorität gewonnen (das bescheinigt ihm sogar jemand wie Heyne)46, aber immer noch nicht die erhoffte Stelle, die öffentliche Anstellung. Mehrfach muß er Nicolai um Vorschuß bitten. In Berlin ist Lessing soeben zum zweiten Mal beim König abgeblitzt, in Dresden hat sich die Aussicht auf einen Posten an der Kunstakademie zerschlagen; bald werden in Briefen an Freunde Pläne auftauchen, notfalls in Rom sein Glück zu suchen. Dieser Klotz aber, der sich da auf das neue Modefach geworfen hat, gefürchtet und gefeiert, dieser Klotz ist 41
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Winckelmanns hinhaltende Distanzierung (durchaus verständlich angesichts der Lessingschen Kritik) spiegelt sich schon in zwei frühen Briefstellen (B 5/2, S. 68o£). Das wird im Falle Lessings nur wenig dadurch eingeschränkt, daß er schon für die Meißener Zeit ein besonderes »Kunst«-Interesse in Anspruch nimmt. Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. 3. Aufl. Berlin 1909; hier Bd. i, S. 648. So schon im ip. Brief (E 5/2, S. 415). Dies hat gegen diverse Vorurteile vor allem Tadeusz Namowicz betont (wie Anm. n). In gedruckten Äußerungen vor allem zur Kontroverse um den Borghesischen Fechter, aber auch in seinen persönlichen Briefen an Lessing (so gleich nach Erhalt des Ersten Teils der Antiquarischen Briefe, 17. Oktober 1768).
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in Amt und Würden, Ordinarius und »Hofrath« sowie »Geheimrath« noch dazu. Auch solche Trivialitäten gehören zum Komplex >Streitkulturfreier< Schriftsteller gelten kann. Lessing hingegen vermag in den Streit sein ganzes Prestige einzubringen, das er als fast ein Jahrzehnt Älterer, als nationalpädagogisch ambitionierter Schriftsteller hat ansammeln können. Und Lessing operiert virtuos mit diesem Prestige. Das zeigen bereits die frühen Resonanz-Zeugnisse, darunter auch die wenigen wahrhaft »unparthey50
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So ablesbar an manchen Zeugnissen der frühen Rezeption seiner Diderot-Übersetzung (B 5/1, S. 588-610), insbesondere dann des Laokoon (B 5/2, S. 674-734). Das aus der gegenwärtigen Kultur- und Medienwelt durchaus vertraute Phänomen ist von der Soziologie, soweit ich sehe, noch nicht des näheren untersucht worden. Ansätze dazu finden sich am ehesten noch in der amerikanischen Forschung zu »occupational prestige« (>BerufsprestigeAnsehen< usw.) verstanden, differenziert gegenüber Autorität, die sich zunächst auf bestimmte Sachgebiete bezieht natürlich mit fließenden Grenzen. Der Problematik dieses Terminus kann hier nicht nachgegangen werden; Versuch einer genaueren Verhältnisbestimmung gegenüber dem »Gelehrten« in meiner Studie: Lessing zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981, S. 165-204. Ausschnitte abgedruckt in B 5/2, S. 987-996.
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ischen«, wie der beliebte Zeitbegriff lautet: etwa die präzis beobachtende, sorgfältig abwägende Rezension in den Greifiwalder Neuen Critischen Nachrichten vom i. April 1769. Sie mündet in den Satz, daß »noch der lebhafte, hinreissende Styl eines Schriftstellers« hinzukomme, »der das Genie seiner Sprache kennt und zu gebrauchen weiß, und auch von dieser Seite Beyfall zu erwarten hat.« (Zit. nach 65/2, S. 1050) Der Hallenser Professor hat sich, bei aller publizistischen Selbstbewußtheit und Geschicklichkeit, auf ein Terrain begeben, auf dem die Prestige-Gewichte ungleich verteilt sind. In dieser Hinsicht entspinnt sich der Streit von vornherein unter asymmetrischen Voraussetzungen.
Viertens: Kritik-Kartelle und Neue Medien Unter den drei großen öffentlichen Fehden Lessings ist die antiquarische in den Augen der Öffentlichkeit, und auch noch der Nachwelt, am ausgeprägtesten die von >SchulenFreundschaftenLagernParteien< (alle vier Metaphern ziehen sich als dichtes Netz durch die zeitgenössischen Zeugnisse). Lessing mag sich drehen und wenden, Richtigstellungen und Differenzierungen versuchen - und der Verlegerfreund Nicolai sie bestätigen: Spätestens seit Erscheinen des Ersten Teils der Antiquarischen Briefe im Herbst 1768 ist der Streit einer zwischen der Berliner »Litteraturschule« (wie es immer wieder heißt)55 und »den Hallensern« oder der »Hallenser Schule« um Christian Adolf Klotz. Diese angenommene Grundkonfrontation mag es auch sein, die manche Zeitgenossen so rasch auf die typologische Parallele Klotz/Gottsched bringt, d. h. in erster Linie auf die >SchulLeipzigern< und >Zürchern< (Lessings eigene Gottsched-Opposition bleibt dabei ganz am Rande). Auf der Seite Klotzens ist die Personenkonstellation auch vergleichsweise klar. Diejenigen, die sich publizistisch beteiligen, sind überwiegend entweder unmittelbare Schüler oder solche, die sich ihm - diese Fähigkeit Klotzens wird mehrfach bewundernd überliefert56 - durch persönlichen Charme, auch durch Schmeichelei57 haben verpflichten lassen. Es sind meist jüngere Leute wie Johann Georg Meusel (der spätere Mitverfasser des bekannten Schriftsteller55
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Natürlich geht diese spezielle Prägung in erster Linie schon auf die von Nicolai verlegten Literaturbriefe zurück. So vor allem in vielen Zeugnissen der postumen Sammlung Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz. Hg. von J. J. A. von Hagen. Halle 1773. Sie hat Lessing bekanntlich auch selbst zu spüren bekommen (vgl. insbesondere den Brief Klotzens an Lessing vom 9. Mai 1766) - der Punkt wird dann ja auch in den Antiquarischen Briefen von Lessing wiederholt ins Spiel gebracht.
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Lexikons), zu dessen Cayius-Übersetzung Klotz vor kurzem ein wichtiges Vorwort geschrieben hat (auf das Lessing kritisch Bezug nimmt), oder Johann Jakob Dusch, Poet und Rektor in Altona, dessen Naturpoesie Lessing vor Jahren (in den Literaturbriefen) zerpflückt hat, oder auch der aufstrebende Erfurter Kunstphilosoph Friedrich Justus Riedel; bei ihm gewinnt man im übrigen den Eindruck, daß ihn Lessing von einer anfangs durchaus moderaten Position im Klotz-Streit schließlich selbst ins gegnerische Lager getrieben hat (er ist ja eine wichtige Figur im Zweiten Teil der Antiquarischen Briefe). Für die Streitkonstellation höchst bezeichnend ist schließlich auch eine Gestalt wie der schon erwähnte Philipp Daniel Lippert: die Gemmen-Autorität, die Klotz offenbar gerne ganz auf seine Seite gezogen hätte. Aber Lippert, mehr Praktiker und Materialexperte als etwa professioneller Philologe und Altertumskundler, furchtet offenbar die Autorität Lessings, versucht sich herauszuwinden, jedenfalls nicht ganz in die Klotzischen Schützengräben zu geraten (oder auch, wie es heißt, zu den »Waffenträgern« zu werden). Auf Seiten Lessings verlaufen die Linien weniger eindeutig. Auffällig ist, wie Autoren von Rang und Namen, die Lessing hochschätzen, etwa der einflußreiche Kunstkenner Christian Ludwig von Hagedorn (Bruder Friedrichs, des Dichters) oder auch der Göttinger Heyne ostentativ bemüht sind, sich nicht wie sie ausdrücklich formulieren - in die »Streitigkeiten« oder die »Zänkerey« hineinziehen zu lassen. Lessings Jugendfreund Christian Felix Weiße, der zugleich mit Klotz in freundschaftlicher Verbindung steht, leidet nachgerade unter der Situation, reagiert empfindsam-weich »Eintracht und Liebe« ersehnend, die den »schönen Geistern« einzig angemessen sei (wie es im Brief an Klotz vom 20. Oktober 1768 verlautet). (Zit. nach B 5/2, S. 1022) Ein besonders komplexer Fall ist Herder. Einerseits dient sich der noch nicht einmal Fünfundzwanzigjährige in einem Lessing im Januar 1769 übersandten Brief mit beträchtlicher Lobhudelei als Bewunderer an. (B 5/2, S. iO37f.) Andererseits läßt die bald darauf erscheinende große Laokoon-Abhandlung (als erstes Kritisches Wäldchen) wegen einzelner Lessing kritisierender Passagen manche Leser zunächst auf einen Klotzianer schließen.58 Die vielleicht eindeutigsten wirklichen > Parteigänger< Lessings sind der vergleichsweise unbedeutende Hannoveraner Bibliothekar und Antiquar Rudolf Erich Raspe (mit eigenen Anmerkungen [1768] gegen Klotzens GemmenSchrift)59 und: immerhin Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, der von Herder 58 59
B 5/2, S. 102,1. Das ändert sich freilich mit dem 2. und dem 3. WäUUhen, worin Herder unmißverständlich gegen Klotz zu Felde zieht. Lessing, in einem Dankschreiben an Raspe vom 30. Dezember 1768 (B 5/2, S. iO34f.), hebt
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gerühmte >Vater< der Bardendichtung, aus dem Klopstock-Kreis, Herausgeber der Schleswigschen Litteraturbriefe ganz im Fahrwasser Lessings. Daß sein Trauerspiel Vgolino (1768; das Dante-Sujet, das Lessing auch im Laokoon beizieht) aus dem Klotzischen Lager heraus als abgeschmackt verrissen, von Lessing aber als kühner Wurf gewürdigt worden ist, hat ihm Gerstenberg nicht vergessen. Seine große Rezension der Antiquarischen Briefe in dem Hamburgischen Organ, mit dem der Streit begonnen hatte,60 ist engagierte Parteinahme gegen Klotz, >historische< Einordnung des Streits, Würdigung der »Schreibart«. Hier revanchiert sich der eine Kritiker beim anderen, und zwar überschwenglich: Rezensenten-Filz 1769. Warum aber, wenn immerhin Autoritäten wie Heyne und Hagedorn, auch Herder, sich in der ausdrücklichen >Parteinahme< zurückhalten (nicht zuletzt des »Tons« der »Zänkereyen« wegen), warum trotzdem bei den meisten Zeitgenossen der Eindruck zweier >SchulenParteien