181 47 19MB
German Pages 575 [576] Year 2001
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 81
Norbert Christian Wolf
Streitbare Ästhetik Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771-1789
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Redaktion des Bandes: Alberto Martino
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik : Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771 - 1789 / Norbert Christian Wolf. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 81) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss. ISBN 3-484-35081-4
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Christian Naser (TUSTEP) Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
IX
Einfuhrung 1. Leitlinien der Untersuchung 2. Die Spezifik der ästhetischen Reflexionen Goethes 3. Literarisches Feld und polemisches Denken: Zur Methode
1 6 10 13
. . . .
TEIL 1: 1771/72 I.
Genieästhetik in genialischer Form: Die Inszenierung charakteristischer Subjektivität in Goethes Rede Zum Schäkespears Tag (1771)
21
Zu einigen ideengeschichtlichen Voraussetzungen der ShakespeareRede im europäischen Genie-Diskurs des 18. Jahrhunderts . . . . Vorläufer Zentrale Texte Wende der Aufklärung
25 25 27 37
2.1 2.2
Emphatik, Rhapsodik und Opazität als Pensum einer Anthropologie des Genies Die epistemologische Grundlage des Darstellungsproblems Spontaneität als inszenierte Textstrategie
40 41 49
3. 3.1 3.2
Die Epiphanie des gottgleichen Genies als Problem der Ästhetik . . Radikale Immanenz und schöpferische Autonomie Symbolische Verdichtung als ästhetische Vermittlung
55 55 60
4.
Auratische Originalität als Darstellungsprinzip und polemische Strategie im literarischen Feld Grundpositionen der Genieästhetik Die Attacke auf Wieland Die Attacke auf Voltaire Originalitätspostulat und Verzicht auf Publikation
63 63 69 77 81
1. 1.1 1.2 1.3 2.
4.1 4.2 4.3 4.4
. . . .
V
5. 5.1 5.2 5.3
II.
Bruchstücke einer revolutionären Dramenpoetik aus der Konsequenz des Genie-Diskurses Kunst als Natur Kunst und Geschichte Der >geheime Punkt< und das Böse
86 86 96 102
Ästhetische Konzeption und Konzeption der Ästhetik im Essay Von deutscher Baukunst (1772). Mit Blick auf die Frankfurter gelehrten Anzeigen
121
1. 1.1 1.2
Performanz als polemisches und kompositorisches Kalkül . . . . 124 Die polemische Funktion des genialischen Darstellungsprinzips . . 127 Die Komposition von struktureller Tektonik und motivischer Textur 135
2.
Ein Abschied vom Prinzipiellen aus dem Geist sensualistischer Vernunftkritik Ästhesiologie und Kunstwahrnehmung Stellenwert der Baukunst in der Ästhetik Das ästhetische Erkenntnismodell des jungen Goethe
2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3
4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Die Vergötterung des kreativen Genies als Instrument der Autonomisierung Methode der Ambivalenz Verabschiedung der Wirkungsästhetik Zur sozialen Funktion säkularisierter Frömmigkeitsformen in der Kunstreligion Exkurs: Die Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 . .
178 178 188 195 198
Die Proklamation der charakteristischen Kunst gegen die Doktrin des Schönen. Eine Revolution im Feld der Ästhetik . . . 206 Verdrängung der Nachahmung durch die Schöpfung 206 Depotenzierung der klassizistischen Schönheitsdoktrin 215 Goethes >Begriff< des Erhabenen 231 Der organische Zusammenhang charakteristischer Kunst< . . . . 242
Überleitung: Die >innere Form< als substantielles Korrektiv von Kontingenz im Anhang Aus Goethes Brieftasche (1776)
VI
143 149 158 167
255
TEIL 2: 1788/89 III.
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 3.
Goethes italienische Ästhetik als Fanal des kallistischen Objektivismus: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) im Kontext der Reiseschriften Sprachliche Transparenz als Pensum und Darstellungsprinzip klassischer Ästhetik Adelungs klassizistische Stillehre und Goethes klassisches Stilideal Die Bedeutung Wielands Die Bedeutung Winckelmanns Der klassische Stil als Medium »etablierter Avantgarde< Die Begriffsarchitektur von Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl Entwicklungsgeschichte und Typologie Differenzierung des Nachahmungsbegriffs Goethes Konzept der Manier als Revokation der >charakteristischen Kunst< Die Inszenierung des >Styls< als Synthese
263 271 275 291 305 316 327 328 341 351 364
Der theoriegeschichdiche Ort von Goethes klassischer Begriffsarchitektur Naturnachahmung und Manier in der kunsttheoretischen Idea-Tradition Der Diskussionshorizont der zeitgenössischen Kunsttheorie . . . . Die historische Leistung von Goethes Stil-Begriff
382 391 404
Der objektive >Styl< zwischen Naturwissenschaft und Kunstautonomie. Versuch einer Rekonstruktion mit Ausblicken bis zur Winckelmann-Schrift (1805)
409
1. 1.1 1.2 1.3
Das Verhältnis von Kunst und Natur Italienische Erfahrungen Die >hochklassische< Position Morphologische Differenzierungen
419 420 430 438
2.
Die klassische Adaption des sensualistischen Wahrnehmungsund Erkenntniskonzepts Schule des Sehens Gegenständliches Denken Ästhetische und anthropologische Implikationen
443 444 449 463
3.1 3.2 3.3
IV.
2.1 2.2 2.3
381
VII
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Die Neubegründung des normativen Schönheitspostulats im Rahmen klassischer Kunstautonomie Reinstallation einer klassizistischen Schönheitsdoktrin Innere Vollkommenheit des Kunstwerks >Uneigennützigkeit< des Rezipienten >Uneigennützigkeit< des Künstlers Differenzen zwischen Goethe und Moritz
467 468 474 479 487 493
4. 4.1 4.2
Subjekt, Objekt und Methode des >Styls< Geistige Disposition Gegenstandsbereich und methodisches >Prinzip
LeserevolutionPrivatreligion< für den heranwachsenden Goethe so wichtig waren, wie Rolf Christian Zimmermann aufgezeigt hat. Wenn beim jungen Goethe demnach »die Transformation des psychologischen Subjektivismus auf eine mehr geistige Stufe von der Begegnung mit der Hermetik veranlaßt wurde«, 217 dann verweist dies auch auf das ideologische Fundament des von Hamann und selbst von Herder so verschiedenen, nämlich radikal subjektivistischen Genie-Begriffs. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur ebenfalls subjektivistischen Erkenntnistheorie des zeitgenössischen Sensualismus, mit dem Goethe nicht zuletzt über Herder in Berührung kommen konnte, und der sich in der Shakespeare-Rede gerade in den zahlreichen Formulierungen mit dem Verb >fühlen< manifestiert.218 Die Wendungen vom »Ziel«, vom »Gange«, von der gefährlichen »Grube« und vom »unendlichen Weg drüben« umspielen das für Goethe zentrale Motiv des Wanderers, das durch einen charakteristischen Vergleich bald explizit eingeführt wird: Freilich jeder nach seinem Maß. Macht der eine mit dem stärksten Wandrertrab sich auf, so hat der andre siebenmeilen Stiefel an, überschreitet ihn, und zwei Schritte des letzten, bezeichnen die Tagreise des ersten. Dem sei wie es wolle, dieser emsige Wandrer bleibt unser Freund und unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte jenes, anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgen, seine Schritte mit den unsrigen abmessen. 219
Folgt man Hans Joachim Schrimpf, der das Wandermotiv bei Goethe in eine Typologie zweier »Grundformen« gebracht hat, dann geht es in dieser Passage wohl weniger um den »einkehrenden und heimkehrenden, >staunenden< Wanderer«, der in Goethes Werk so häufig begegnet, sondern um »den anderen, rastlosen, >sturmatmendenWanderntausendfüßigen königlichen Einzug< auf den Einzug Marie Antoinettes in Straßburg im Mai 1770 angespielt wird, wie im Anschluß an Minor/Sauer, Studien zur Goethe-Philologie, S. 238, häufig erwähnt wurde, spielt nur insofern eine
te« des göttergleichen Shakespeare evozieren dabei augenfällig den von Schrimpf angesprochenen schöpferischen »Aufbruch des neuen, ganz vom inneren Erleben her gedeuteten Menschen«,223 dessen »Betrachtung« durch das Publikum keine rein passive Tätigkeit mehr ist. Anders als das teilnahmslose und unterwürfige »Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs«, also einer übergeordneten gesellschaftlichen Autorität, affiziert sie die »Seele« des Betrachters derart, daß diese gleich »feuriger und größer« wird.224 Die bezeichnende >titanische< Metaphorik des singulären >Riesenhaften< findet sich freilich schon im 73. Stück der Hamburgischen Dramaturgie vorgeprägt, nämlich in Lessings Polemik gegen das >Plündern< Shakespeares; anhand eines Vergleichs von Shakespeares Richard III. und der gleichnamigen Tragödie von Christian Felix Weiße wird da begründet, daß aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.225
Das den riesenhaften, genialen Gegenstand Shakespeare mit dem angesprochenen, >realen< Publikum der Festrede verbindende Wandermotiv erlaubt es Goethe, die Rezipienten (sowohl Shakespeares als auch der Rede) in den Dithyrambus zu integrieren. »Auf meine Herren!«,226 heißt es noch am Ende des Textes im exklamativen Gestus der schöpferischen Emphase, die zur kongenialen Nachfolge des Genies Shakespeare einlädt. Nicht bloß das >viel zu kurze LebenTätigenrealistischen< Bezug den antihierarchischen Aspekt des Vergleichs noch verstärkte. Schrimpf, Wandermotiv, S. 12. 224 Vgl. in diesem Zusammenhang die genau umgekehrte Selbstbeobachtung aus Goethes Tagebuch, 22.6.1780, zu einer äußeren Begleiterscheinung seiner inneren Bewegung: »Ich mache entsezliche Schritte.« (WA III, 1, 120) 225 LW 4, 571 f. 226 MA 1.2, 414. 227 Vgl. MA 1.2, 414: »um tätig zu sein«. Der junge Goethe präludiert hier wie im Werther (vgl. MA 1.2, 208, 221, 240, 249) eine spätere Grundmaxime (vgl. etwa Wilhelm Meisters Lehrjahre: MA 5, 417 u. 522), die noch im Alter mit dem Glauben an Unsterblichkeit verknüpft bleibt, wie Eckermann am 4.2.1829 notiert: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem [sie] Geist nicht ferner auszuhalten vermag.« (MA 19, 278) 228 Vgl. Jolies, Goethes Kunstanschauung, S. 183. 223
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sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben«.229 Daß es sich bei der hier angedeuteten »Forderung nach Auferstehung« und »Erlösung in aestheticis«230 auch um einen Frontalangriff auf das Christentum handelt, bestätigt der Blick auf die zwei Jahre später entstandene Farce Götter, Helden und Wieland (1773), die dieselbe Problematik in ganz ähnlicher >HerzKnochenhöheren, unsichtbaren WesenMenschenbildung< direkt mit der des Prometheus konfrontiert, ja übertrifft sie sogar realiter,243 da jener im Unterschied zu diesem seine Menschen »in Kolossalischer Größe« formt 244 und - die theologische Vorstellung des Pneumas aufnehmend 245 - »mit dem Hauch seines Geistes« belebt. Wichtiger noch als die manifesten weltanschaulichen Unterschiede scheint im Kontext der Ästhetik des jungen Goethe indes die aus ihnen resultierende Differenz in der ästhetischen Anverwandlung des überkommenen Motivs: Anders als Shaftesbury und Herder gebraucht Goethe das Prometheus-Ikon nicht mehr metaphorisch, sondern metonymisch', durch die faktische Aufhebung der (jeder textunmittelbaren >Sinnerzeugung< vorgängigen) transzendenten und außerliterarischen Bezüglichkeit erreicht er dessen radikale künstlerische Integration. Mittelbar freilich bleibt die dem Text notwendig äußerliche und deshalb (in der Funktion als >einfach< zu entschlüsselnde Allegorese) vorderhand aufgehobene Bezüglichkeit durchaus wirksam, ihr der völligen Konkretion jetzt immanenter Charakter hat jedoch als symbolische Verdichtung... mehr als Prometheus ...Baukunstunsterblich< wird hier freilich nicht - wie dann bei Goethe - ein Autor, sondern dessen (zudem nur imaginiertes) Werk vorgestellt, wobei immerhin die metonymische Wendung vom >Übertreffen< Prometheus' bemerkenswert ist. 244 Zur ästhetischen Kategorie der >GrößeErhabenen< überschneidet, vgl. 1.5.2. 245 Vgl. Koopmann, Zum Schäkespears Tag, S. 520. 246 Das erste Beispiel einer solchen metonymisch verfahrenden symbolischen Verdichtung
allegorischen Vergleichs< findet sich übrigens schon im Brief an Ernst Theodor Langer vom 8.9.1768: »Meine Einbildungskrafft wird mit meinem Blute lebendig werden, und ich werde seyn was ich lange voraus sah mitten im Genuße der mich mit paradiesisch beladenen Zweigen umgiebt, ein Tantalus.« (WA IV, 51, 30) Dazu den instruktiven Kommentar von Karl Robert Mandelkow (HAB 1, 550). 247 Vgl. dazu Bengt Algot S0rensen, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963, S. 86-89. 248 Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 34. 249 Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 6. 250 Vgl. 1.5.1. 251 So Goethe in Dichtung und Wahrheit, 12. Buch (MA 16, 547). 252 Ermann, Goethes Shakespeare-Bild, S. 43.
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rationale Organisation ansieht - rationalistisch. Die [schon mit Du Bos einsetzende, NCW] neue empiristische Ästhetik dagegen ist subjektivistisch. Sie fragt nicht nach den durch Regeln a priori festgelegten Strukturen des Werks, sondern nach den internen Vorgängen im Kunstschöpfer und Kunstbetrachter. Diese Subjektorientierung, die eine neuartig intensive Produktionsästhetik und Wirkungsästhetik zur Folge hatte, entspricht prinzipiell der allgemeinen Emanzipation von autoritativ festgelegten Normen zugunsten der individuellen Erfahrung.« 253 In Goethes frühestem Text zur Ästhetik wird diese allgemeine Emanzipation mit- bzw. nachvollzogen, ja die »Subjektorientierung« sogar noch radikalisiert, indem das poetologische Credo stilisiert erscheint als individuelle Erfahrung des dithyrambischen IchKunstrichter< vom Schlage Gottscheds gemeint - schwenkt das dithyrambische Ich< von einer Darstellung der an Shakespeare erfahrenen eigenen Innerlichkeit in das hier zwar individuell hergeleitete, doch ideengeschichtlich keineswegs voraussetzungslose theoretische Zentrum der zeitgenössischen Genieästhetik: die epistemologisch hochkodierte Kategorie der »Einbildungskraft«, das eigentliche Vermögen des Genies.255 Schon Joseph Addison hat in seinem bekannten Spectator-Artikel No. 160 (1711), der zumindest in der weitverbreiteten deutschen Übersetzung durch die Gottschedin auch dem jungen Goethe ein Begriff war,256 das Lob angestimmt auf »these great natural Genius's that were never disciplined and broken by Rules of Art«; als Bedingung genialer Produktion, die »without any Assistance of Art or Learning« erfolge, hob Addison dabei besonders »the mere Strength of natural Parts« hervor.257 Knapp fünfzig Jahre später stellte auch der Franzose Saint-Lam253
Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 9. MA 1.2, 412; Hervorhebungen v. Verf. 255 John Dryden hatte schon 1668 im Essay of Dramatick Poesy, der Shakespeare gegenüber der französischen Klassik deutlich aufwertete, Corneilles strenge Beachtung der drei Einheiten, besonders aber dessen »Unfruchtbarkeit der Einbildungskraft« kritisiert: vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 151. 256 Vgl. den Brief an Cornelia Goethe vom 6.Π. 12.1765, in dem der gerade erst nach Leipzig gezogene junge Goethe seiner Schwester eine Reihe von Lektüreempfehlungen macht: »Zuerst sollst du den Zuschauer lesen laß dir ihn durch Hrn Ohme Textor von der Stadt Bibliotheck schaffen. Dieses Buch ließ mit Aufmercksamkeit. Du wirst viel gutes darinn finden.« (WA IV, 1, 26f; vgl. dazu den Komm. v. Mandelkow in HAB 1, 532) 257 Vgl. Addison & Steele and Others: The Spectator. Hg. v. Gregory Smith. Bd. 1. 254
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bert - in ganz offensichtlicher Opposition zu seinem Landsmann Voltaire 258 Regelhaftigkeit als konventionelle Fertigkeit dem regellos und stets spontan verfahrenden Genie entgegen; Regeln fungieren da als Korrelat des gesellschaftlich vermittelten >geschliffenen< Geschmacks, seinerseits ein Produkt des Studiums und der Zeit, während das gestalterische Prinzip des jeweils im Augenblick verhafteten Genies ausschließlich auf die unmittelbar wirkende Natur zurückgeführt wird: Le goût est souvent séparé du génie. Le génie est un pur don de la nature; ce qu'il produit est l'ouvrage d'un moment; le goût est l'ouvrage de l'étude et du temps; il tient à la connaissance d'une multitude de règles ou établies ou supposées; il fait produire des beautés qui ne sont que de convention. Pour qu'une chose soit belle selon les règles du goût, il faut qu'elle soit élégante, finie, travaillée sans le paraître: pour être de génie, il faut quelquefois qu'elle soit négligée; qu'elle ait l'air irrégulier, escarpé, sauvage.259 Daß die in der Encyclopédie verhandelte und bald von Hamann 260 und Herder261 aufgenommene Opposition zwischen dem natürlichen >Genie< und dem konventionellen, akademischen oder höfischen >Geschmack< (etwa in der »Dichtkunst [...] ein gewisses allgemeines Urteil über das Gute und Schlechte, das Mittelmäßige und Zulässige« 262 ) auch der Goetheschen Shakespeare-Rede nicht äußerlich ist, demonstriert sie polemisch genug in ihrer kategorischen Ablehnung »des sogenannten guten Geschmacks«: 263 »Unser verdorbner Geschmack«, heißt es da, »umnebelt dergestalt unsere Augen, daß wir fast eine neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser Finsternis zu entwickeln«. 264 Der argumentative Kontext, insbesonLondon/New York 1958 (=Everyman's Library 164), S. 482; dazu Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 79. 258 Im 18. Brief {Sur la tragédie) seiner Lettres philosophiques (1734) lobt Voltaire an Shakespeare zwar »un génie plein de force et de fécondité, de naturel et de sublime«, vermißt indes »la moindre étincelle de bon goût« sowie »la moindre connaissance des règles« (VOC 22, 149). Genau diese beiden hier noch positiv besetzten Kategorien kehren in der Genieästhetik als negativ gewendete Schlüsselbegriffe wieder. 259 [Saint-Lambert,] Artide Génie, S. 11. Die große gedankliche Nähe des EncyclopédieArtikels Génie zum ästhetischen Credo des Sturm und Drang offenbart sich besonders deutlich im (direkt auf die zitierte Passage folgenden) Satz: »Le sublime et le génie brillent dans Shakespeare comme des éclairs dans une longue nuit, et Racine est toujours beau; Homère est plein de génie, et Virgile d'élégance.« (S. 1 lf) Diderot, der hier - so meint zumindest sein Herausgeber Vernière - erheblich in die Vorlage von Saint-Lambert eingegriffen hat (in Saint-Lamberts Werkausgabe figuriert Corneille anstelle von Shakespeare als Beispiel für das erhabene dramatische Genie), bringt die kulturtypologische Opposition England (erhaben) vs. Frankreich (schön) dabei in eine bezeichende Parallele zur Opposition Griechenland (Genie) vs. Rom (Eleganz), die auch in der deutschen Diskussion eine große Rolle spielen wird. 260 Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 117-119. 261 Vgl. Herders Reisejournal: »Diese Hofmine hat die Sprache von innen und außen gebildet und ihr Politur gegeben. Geschmack ist Hauptsache und tausendmal mehr als Genie, dies ist verbannt, oder wird verspottet, oder für dem [sie] Geschmack verkleinert.« (HW 1, 433) 262 Dichtung und Wahrheit, 7. Buch (MA 16, 321). 263 MA 1.2, 414. 264 MA 1.2, 413. Die Anspielung auf die Notwendigkeit einer neuen »Schöpfung«, »uns aus 65
dere der direkt folgende Satz, legt die inhaltliche Verknüpfung des >verdorbnen Geschmacks< und der >fesselnden Regeln< mit dem abschätzig diminuierten »Französgen« 2 6 5 als polemisches Gegenüber mehr als nahe, zumal der junge Goethe schon vor seinem Aufenthalt in Straßburg sich an den »gedrehten Reitze [n] des Franzosen [...] wenig ekstasiiren« 266 konnte. Bei Herder ist diese (genetisch ebenfalls auf Addisons Spectator-Artikel 160 zurückführbare 267 ) kultur- und nationaltypologische Verknüpfung sogar noch expliziter: Was hat das Jahrhundert Ludwichs würklich Originelles gehabt? Die Frage ist verwickelt. Aus Italien und Spanien haben ihre größten Geister vieles her, das ist unleugbar [...]. Die vornehmsten Künste waren erfunden oder zurückerfunden von den Italienern: was haben die Franzosen getan? nichts, als das Ding zugesetzt, was wir Geschmack nennen.268 Im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit kommt auch Goethe ausdrücklicher auf die nationaltypologische Kodierung 269 des >französischen< Geschmacks zu sprechen: demnach ist diese von der französischen Seite selbst gegen die >deutsche< Geschmacklosigkeit ins Feld geführt worden: Was uns aber von den Franzosen gewaltiger als alles andere entfernte, war die wiederholte unhöfliche Behauptung, daß es den Deutschen überhaupt, so wie dem nach französischer Kultur strebenden Könige [Friedrich II.], an Geschmack fehlte. Über diese Redensart, die, wie ein Refrain, sich an jedes Urteil anschloß, suchten wir uns durch Nichtachtung zu beruhigen [...]. Schon früher und wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen als Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls, und den raschen derben Ausdruck desselben.270 Die nicht mehr bloß mimetisch verstandene, unmittelbare Orientierung an der »Natur«, 271 die schon von Saint-Lambert als distinktives Signum des die Grenzen der Konvention bewußt vernachlässigenden Genies erklärt worden war, sowie die Orientierung an »Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls« fungieren hier als >deutsche< Antwort auf die in Straßburg wahrgenommene Prätention der >FranzosenlösenFranzosennatürlichenFranzösische< schlechthin, sondern die aus bürgerlicher Perspektive mit Mißbehagen registrierte Ausdruckshaltung einer höfischen Gesellschaft, ihrer zeremoniösen Formen und abstrakten Rituale« (S. 164). 326 Zur (freilich negativen) Abhängigkeit jeder literarischen Avantgardebewegung (als welche der Sturm und Drang avant la lettre betrachtet werden kann) von der kumulativen inneren Geschichte des literarischen Feldes vgl. Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 384f. 327 VOC 22, 149.
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Wenige Jahre später, in der Préface zur Tragödie La mort de César (1736), schrieb der französische Aufklärer ganz in diesem Sinn: »Shakespeare était un grand génie, mais il vivait dans un siècle grossier; et l'on retrouve dans ses pièces la grossièreté de ce temps beaucoup plus que le génie de l'auteur.« 328 In der Dissertation sur la tragédie ancienne et moderne, die der Druckfassung seiner Tragödie Sémiramis (1748/49) vorangestellt war, kam Voltaire speziell auf den Hamlet zu sprechen: Je suis bien loin assurément de justifier en tout la tragédie d'Hamlet: c'est une pièce grossière et barbare, qui ne serait pas supportée par la plus vile populace de la France et d'Italie. [...] On croirait que cet ouvrage est le fruit de l'imagination d'un sauvage ivre.329
Die zitierten Stellen scheinen Goethe vorderhand recht zu geben. Doch prinzipiell betonte Voltaire in seinen Lettres philosophiques, welche »in erster Linie für französische Leser bestimmt« 330 waren, eher die von ihm als positiv wahrgenommenen Seiten der englischen Kultur, die er als polemische Spitze gegen das zeitgenössische Frankreich einsetzte.331 Tatsächlich war er auch dem >unregelmäßigen< Theater Shakespeares gegenüber gar nicht so negativ eingestellt, wie Goethe suggeriert. Voltaire war vielmehr der erste Franzose, der ihm durchaus Positives abgewinnen konnte und der es - hier ein kaum vermuteter Vorläufer Herders - in seinem spezifischen kulturellen und historischen Kontext zu verstehen suchte. Am Ende des 18. Briefes (zur englischen Tragödie) spricht er sich im historischen Rückblick sogar deutlich gegen das dem >poetischen Genie der Engländer unangemessene Postulat nach Regelhaftigkeit aus und plädiert demgegenüber für die brillanten >Monster< Shakespeares, dessen Dramen er in die durchaus zukunftsweisende vegetative Analogie zu einem frei wachsenden, >natürlichen< Baum bringt: Depuis lui les pièces sont devenues plus régulières, le peuple plus difficile, les auteurs plus corrects et moins hardis. J'ai vu des pièces nouvelles fort sages, mais froides. Il semble que les Anglais n'aient été faits jusqu'ici que pour produire des beautés irrégulières. Les monstres brillants de Shakespeare plaisent mille fois plus que la sagesse moderne. Le génie poétique des Anglais ressemble, jusqu'à présent, à un arbre touffu planté par la nature, jetant au hasard rameaux, et croissant inégalement avec force. Il meurt si vous voulez forcer sa nature, et le tailler en arbre des jardins de Marly.332
Ebenso wirkt die zitierte Passage aus der Vorrede zu César weniger abschätzig, wenn man sich den Argumentationszusammenhang vergegenwärtigt, in dem sie steht: Voltaire hatte schon früher eine Szene aus Shakespeares Julius Caesar ins Französische übersetzt und propagierte »les muses anglaises« in seiner Heimat 328
VOC 3, 309. VOC 4, 501 f. 330 Jochen Köhler, Mit der Waffe der Kritik. Voltaires >Philosophische Briefe< im Kontext. In: Voltaire, Philosophische Briefe. Hg. v. Jochen Köhler. Frankfurt a. M. 1992, S. 149-181, hier 155. 331 Vgl. ebd., S. 179: »Indem Voltaire die englischen Verhältnisse idealisierte, brandmarkte er die französischen. Diese indirekte Form der Kritik wappnete den Autor besser gegen den unausbleiblichen Vorwurf, ein Verräter an seinem Land und Volk zu sein.« 332 VOC 22, 156. 329
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ganz allgemein.333 Hier legitimiert er bloß sein Unterfangen, eine eigene CaesarTragödie »dans le goût anglais«334 zu schreiben, da es ihm unmöglich scheine, das gesamte Stück zu übersetzen. Vor dem klassizistischen Erwartungshorizont des französischen Theaters der 1730er Jahre wäre dem englischen Autor eine strenge Übersetzung auch nichts weniger als zuträglich gewesen. Statt dessen schien eine Nachdichtung »im englischen Geschmack« eher geeignet, in Frankreich die Beschäftigung mit Shakespeare zu fördern. Auch die Hamlet-Kritik aus der Vorrede zur Sémiramis klingt weitaus freundlicher, wenn sie in ihrer argumentativen Funktion, nämlich als einleitende Konzession für die folgenden Worte verstanden wird: Mais parmi ces irrégularités grossières, qui rendent encore aujourd'hui le théâtre anglais si absurde et si barbare, on trouve dans Hamlet, par une bizarrerie encore plus grande, des traits sublimes, dignes des plus grands génies. Il semble que la nature se soit plue à rassembler dans la tête de Shakespeare ce qu'on peut imaginer de plus fort et de plus grand, avec ce que la grossièreté sans esprit peut avoir de plus bas et de plus détestable.335
Deutlich wird hier wiederum die trotz aller ästhetischen Ambivalenz insgesamt apologetische (und keineswegs denunziatorische) Intention des klassizistischen Autors, der Shakespeare zunächst vor dem ebenfalls an klassizistische Normen gewöhnten höfischen Publikum Frankreichs legitimieren will.336 Erst später weicht Voltaires Eintreten für den »literarischen Kosmopolitismus«, »in dessen Dienst auch sein Shakespeare-Import stand«, allmählich einem »immer leidenschaftlicheren Kampf gegen Shakespeare, genauer: gegen das Vordringen Shakespeares in Frankreich«:337 Konfrontiert mit der zunehmend modischen Anglophilie,338 richtete der alternde Voltaire einen Appel à toutes les nations (1761), in dem er sich erstmals zum entschiedenen Verteidiger der französischen Tragödie erklärte; doch auch noch hier bemerkt er an Shakespeare »de la vérité, de la profondeur, et je ne sais quoi qui attache, et qui remue plus que ne ferait l'élégance [...]. C'est un diamant brut qui a des taches: si on les polissait, il perdrait de son poids.«339 Der vom Chevalier de Jaucourt verfaßte und Shakespeare verherrlichende Artikel Stratford (1765) aus der Encyclopédie gereichte Voltaire freilich zum Anlaß wei333
Vgl. Köhler, Mit der Waffe der Kritik, S. 173: »Stets schrieb sich Voltaire das Verdienst zu, als erster Franzose Shakespeares Genie [...] erkannt zu haben.« 334 VOC 3, 309. 335 VOC 4, 502. 336 In diesem Sinn, nämlich bemüht um ein historisches Verständnis, äußerte sich - freilich ungehört - schon Alexander von Weilen, Einleitung zu: Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Stuttgart 1890 (=Dt. Literaturdenkmale d. 18. u. 19. Jhdts. in Neudrucken 29/30), S. V-CXLIX, hier XI-XIII. Jürgen von Stackelberg, Voltaire: Aufklärer, Klassizist und Wegbereiter der Anglophilie in Frankreich. In: Europäische Aufklärung III. Hg. v. Jürgen v. Stackelberg. Wiesbaden 1980 (=Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 13), S. 125-158, hier 143, betont, »daß Voltaires Loblied auf alles Englische, schon um entgegengesetzten Reaktionen vorzubeugen, mit Vorbehalten durchsetzt zu sein pflegte«. 337 Ebd., S. 144f. 338 Vgl. Besterman, Introduction, S. 15. 339 VOC 24, 203.
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teren Ärgers, so daß er einen poetologischen Feldzug gegen die Rezeption des vordem von ihm selbst nach Frankreich eingeführten Autors begann, einen regelrechten Krieg, der in der siebziger Jahren in der von d'Alembert vorgetragenen Lettre à l'Académie française (1776) seinen Höhepunkt erreichte.340 Wieweit die bis 1771 veröffentlichten Bemerkungen des alten Voltaire zu Shakespeare dem jungen Goethe bei der Abfassung seiner Rede bekannt waren, kann hier nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. Zumindest die Shakespeare-feindlichen Kommentare aus der Voltaireschen Corneille-Ausgabe (1764) konnten ihm ein Begriff sein.341 Insgesamt aber scheint es eher wahrscheinlich, daß sich der Stürmer und Dränger in seiner Polemik auf die weitverbreiteten früheren Äußerungen des Franzosen bezieht.342 Wie dem auch sei - im Großen und Ganzen treffen sich Voltaires Einwände gegen Shakespeare mit den Vorbehalten, die in England selbst von Autoritäten wie Alexander Pope und Dr. Johnson gegen den großen Dramatiker geäußert wurden.343 Literaturgeschichtlich betrachtet, sind es weniger die Einwände Voltaires, die erstaunen, sondern eher die Tatsache, daß er mit seinem kulturellen Hintergrund überhaupt Positives an Shakespeare entdekken konnte,344 und das tat er ja zu Genüge. Doch selbst wenn die schärferen Worte Voltaires nicht ausschließlich als konzessives Beiwerk verstanden, sondern in all ihrer ästhetischen Ambivalenz gesehen werden, scheint der aggressive Ton des jungen Goethe auch hier nicht allein aus einer ästhetischen Opposition zu resultieren; er erweist sich ebenso als Medium der Revolte gegen die übermächtige kulturelle Hegemonie einer klassizistischen Aufklärungsliteratur, die entweder selbst aus Frankreich stammte oder sich zumindest sichtbar an französischen Mustern orientierte.345 Bestätigt wird diese These durch eine rückblickende Betrachtung des alten Goethe: Gegenüber Eckermann handelt er nämlich von der enormen
340
Vgl. Besterman, Introduction, S. 11-16, sowie die kriegerische Metaphorik einer diesbezüglichen Anmerkung von d'Alembert in der Quellensammlung ebd., S. 180f. 341 Goethe erwähnt Voltaires Corneille-Ausgabe und die Reaktion der Stürmer und Dränger im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit (MA 16, 517; dazu den Komm. MA 16, 1004); vgl. Herders negatives Urteil im Reisejournal: HW 1, 439. Theodore Besterman hat die zu Shakespeare einschlägigen Anmerkungen und Kommentare aus der Voltaireschen Corneille-Ausgabe sowie weitere Texte in der Sammlung Voltaire on Shakespeare zusammengestellt: vgl. Studies on Voltaire und the Eighteenth Century 54 (1967), S. 90-157. 342 Gotting, Die Bibliothek von Goethes Vater, S. 55, verzeichnet als im gegenwärtigen Zusammenhang einschlägige Voltaire-Ausgaben aus dem Frankfurter Familienbesitz: Oeuvres. Tom. 3. [o. O. u. J.] und Der Tod des Cäsars [o. O. u. J.]. 343 Vgl. Besterman, Introduction, S. 23-26. 344 Vgl. ebd., S. 26. 345 Diese Revolte manifestiert sich nicht nur in der Programmatik, sondern auch in den Dramenplänen des jungen Goethe: Gonthier-Louis Fink, Goethe und Voltaire. In: GJb 101 (1984), S. 74-111, hier 88, betont, daß Goethe sich in seiner Sujetwahl »nicht nur mit Shakespeare auseinandersetzte, sondern auch mit Voltaire messen wollte, und zwar auf dessen eigenstem Gebiet, indem er dessen >Mort de César< (1735), >Mahomed< (1741) und >Socrate< (1759) seine gottbegnadeten Genies entgegenzustellen gedachte«.
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Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeitgenossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Biographie346 nicht deutlich hervor was diese Männer für einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahreres Verhältnis zur Natur zu stellen.347
Goethes Polemik in der Auseinandersetzung um eine angemessene und legitime Shakespeare-Deutung zielt also konsequent auf die paradigmatischen Vertreter der etablierten und zunehmend konventionell gewordenen klassizistischen Aufklärungsliteratur, wobei der wichtigste internationale und der wichtigste nationale Protagonist nebeneinander zu stehen kommen. Zugleich dient sie seiner Selbstdefinition im literarischen Feld, innerhalb dessen er einen eigenen Raum, eine adäquate Position erst erkämpfen mußte. Folgt man diesem Erklärungsansatz, dann stellt sich indes eine zentrale Frage, die bisher noch nicht angeschnitten wurde: Sollte Goethes Rede Zum Schäkespears Tag tatsächlich auch eine eminent polemische Streitschrift mit deutlicher Distinktionsfunktion sein, warum hat er sie dann nicht veröffentlicht? Im Kontext des Genie-Diskurses bietet sich dafür eine bezeichnende - freilich partielle und hypothetische - Antwort an.
4.4 Originalitätspostulat und Verzicht auf Publikation Zu Beginn dieses Kapitels wurde versucht, einige zentrale Punkte der aus Goethes Shakespeare-Rede destillierbaren ästhetischen Doktrin in den zeitgenössischen ästhetischen Diskussionshorizont zu stellen. Das Ergebnis belegt augenscheinlich, daß es mit der prätendierten Originalität des als individuelle Erfahrung stilisierten ästhetischen Bekenntnisses der Shakespeare-Rede nicht allzu weit her ist, zumindest auf der gehaltlichen Ebene. Goethe greift vielmehr zurück auf einen seinerzeit schon relativ konventionellen Fundus ästhetischer Positionen, den er freilich in einigen charakteristischen Punkten spezifisch wendet.348 Das ostentative Behaup346
Vgl. die überzeichnende Darstellung im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit: »Uns Jünglingen, denen bei einer deutschen Natur und Wahrheitsliebe, als beste Führerin im Leben und Lernen, die Redlichkeit gegen uns selbst und andere immer vor Augen schwebte, ward die parteiische Unredlichkeit Voltaire's und die Verbildung so vieler würdigen Gegenstände immer mehr zum Verdruß, und wir bestärkten uns täglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Religion und die heiligen Bücher worauf sie gegründet ist, um den sogenannten Pfaffen zu schaden, niemals genug herabsetzen können und mir dadurch manche unangenehme Empfindung erregt« etc. (MA 16, 518). Tatsächlich zitiert der junge Goethe jedoch im Januar 1770 in seinen Ephemerides - offenbar durchaus zustimmend - eine längere religionskritische Passage aus Voltaires druckfrischem Briefgedicht A l'auteur du Livre des Trois Imposteurs (1769), die augenfällige Ähnlichkeiten zu Goethes eigener damaliger Einstellung aufweist (MA 1.2, 521); vgl. dazu die Ausführungen bei Fink, Goethe und Voltaire, S. 80-83. 347 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 3.1.1830 (MA 19, 347); Eckermann betont in diesem Zusammenhang, »wie sehr er [Goethe] solche Sachen in seiner Jugend mußte studiert und sich angeeignet haben«. 348 Vgl. 1.5.
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ten von Urspriinglichkeit und Voraussetzungslosigkeit als solches läßt sich jedoch ohne weiteres mit einer allgemeinen Zeittendenz begründen, zumal um 1770 die Kategorie der Originalität längst zu einem zwingenden Maßstab der ästhetischen Reflexion geworden war;349 besonders gilt dies natürlich für die im Rahmen des Genie-Diskurses entstandenen Schriften.350 Tatsächlich innovativ scheint vor allem die sprachlich überzeugend vermittelte Emphase, mit der Goethe Originalität beansprucht. Gemeinsam mit der Attacke auf die beiden herausragenden Protagonisten der klassizistischen Aufklärungsliteratur Voltaire und Wieland - ein Verdikt, das in seiner manifest polemischen Struktur bei genauerer Betrachtung ebenfalls forcierte literarische Stilisierung verrät - , dient diese Emphase der Statuierung künstlerischer >AuraNachahmung der Natur< tritt hier die Konzeption von Dichtung als Natur selbst. Noch aus der ästhetischen Distanz des Alters berichtet Goethe, die »Richtung« seines »Dichtens« habe sich schon in der Leipziger Zeit »gänzlich zum Natürlichen, zum Wahren« geneigt.371 Dementsprechend sieht Siegfried Unseld mit gutem Grund bereits in der brieflichen Äußerung zu den Neuen Liedern mit Melodien einen »klare[n] Entwurf gegen die vorherrschende Poetik«.372 Als Kehrseite emphatischer Naturbeschwörung wird die Ablehnung des überkommenen Nachahmungspostulats, die solcherart lange vor der Begegnung mit Herder auszumachen ist, im BaukunstAufsatz und in den Frankfurter gelehrten Anzeigen noch ausführlicher verhandelt.373 Die Shakespeare-Rede bedeutet in dieser Hinsicht eine regelrechte Kriegserklärung gegen die als vorbildhaft verstandenen »Franzosen und angesteckte Deutsche«: Den »meisten von diesen Herren«, die »besonders an seinen [Shakespeares] Charakteren an[stoßen]«, hält Goethe einen emphatischen Appell an die Natürlichkeit dramatischer Charaktere entgegen, der sogleich im berühmten Ausruf gipfelt: »Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen.«374 Hans Joachim Schrimpf hat diese Worte als »Absage an das konventionelle, künstliche französische Theater« bezeichnet, »radikaler, als sie Lessing je ausgesprochen, und aus einem andern, neuen Geist heraus«.375 Um die ganze Tragweite dieses neuen Naturbegriffs zu verstehen, scheint es angebracht, seine weiteren Spuren im Text zu verfolgen. Das dithyrambische Ich< führt aus: Ich schäme mich oft vor Schäkespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke, das hätt ich anders gemacht! Hinten drein erkenn ich daß ich ein armer Sünder bin, daß aus Schäkespearen die Natur weissagt, und daß meine Menschen Seifenblasen sind von Romanengrillen aufgetrieben.316
Die Bemerkung, »daß aus Schäkespearen die Natur weissagt«, verweist auf eine traditionelle Topik des 18. Jahrhunderts, deren - freilich notwendig kursorische Vergegenwärtigung es erst erlaubt, die spezifische Bedeutung und Funktion des Naturbegriffs im Goetheschen Text zu bestimmen.377 Schon Shaftesbury hatte in seinem Soliloquy den »Wits in Stile and Language« und der Fruchtbarkeit »in all the Varietys und Hirns of Humour«, die er bei Aristophanes und anderen griechischen Komödiendichtern ausmachen konnte, »the Truth of Characters, the Beauty of Order, and the simple Imitation of Nature« 370
WA IV, 51, 37; identische Datierung in FA II, 1, 172. Die Hamburger Ausgabe datiert diesen Brief erst auf Anfang 1770 (HAB 1, 101). 371 Dichtung und Wahrheit, 7. Buch (MA 16, 323). 372 Unseld, Goethe und seine Verleger, S. 31. 373 Vgl. II.4.1. 374 MA 1.2, 413. 375 Im Kommentar zur Hamburger Ausgabe (HA 12, 692). 376 MA 1.2, 414. 377 Vgl. Schärf, Goethes Ästhetik, S. 68: »Natur ist eine Fiktion; es kommt darauf an zu erkennen, aus welchen Motiven diese Fiktion historisch gebildet wird und aus welchen Elementen sie sich zusammensetzt.«
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entgegengesetzt, die er bei ihnen vermißte.378 Das überkommene Postulat nach poetischer Natürlichkeit wird hier nicht mehr im Sinne der rhetorischen Kategorie des aptum verstanden, sondern sichtlich in Richtung einer rhetorisch unverstellten, leidenschaftlichen, eben >natürlichen< Darstellung gewendet. Diese Bedeutungsverschiebung manifestiert sich deutlicher noch in Diderots - von Lessing übersetzten - Entretiens avec Dorval (1757), heute bekannter als Entretiens sur le fils naturel, deren zweite Unterredung Diderots alter ego Dorval ausführen läßt: [W]as der Künstler finden muß, ist eben das, was alle Welt in dergleichen Falle sagen würde; was niemand anhören würde, ohne es sogleich in sich selbst wahrzunehmen. Große Anliegen: große Leidenschaften. Das ist die Quelle aller großen und wahren Reden.379
In dieselbe Kerbe schlug Lessing selbst, als er im 51. Literaturbrief (1759) den natürlichen Gebrauch der Sprache im Sinne des Illusionsgebotes gegen die im höfischen Klassizismus übliche »sorgfältige Wahl der edelsten Wörter« ausspielte: Die edelsten Worte sind eben deswegen, weil sie die edelsten sind, fast niemals zugleich diejenigen, die uns in der Geschwindigkeit, und besonders im Affekte, zu erst beifallen. Sie verraten die vorhergegangene Überlegung, verwandeln die Helden in Declamatores, und stören dadurch die Illusion. Es ist daher sogar ein großes Kunststück eines tragischen Dichters, wenn er, besonders die erhabensten Gedanken, in die gemeinsten Worte kleidet, und im Affekte nicht das edelste, sondern das nachdrücklichste Wort, wenn es auch schon einen etwas niedrigen Nebenbegriff mit sich führen sollte, ergreifen läßt. Von diesem Kunststücke werden aber freilich diejenigen nichts wissen wollen, die nur an einem korrekten Racine Geschmack finden, und so unglücklich sind, keinen Shakespeare zu kennen.380
Shakespeare dient hier als herausragendes Beispiel einer natürlichen Verwendung dramatischer Sprache. Die Betonung der nicht nur sprachlich manifesten Kategorie der Natürlichkeit in Shakespeares Dramen ist freilich schon in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts keine exklusive Errungenschaft Lessings. Auch Edward Young betonte zur gleichen Zeit und wohl eher auf die Figurenführung Shakespeares gemünzt: [W]enn ihm auch alle andere Gelehrsamkeit fehlte, so verstand er doch zwey Bücher vollkommen, die manchen unter den tiefsinnigsten Gelehrten unbekannt sind, ob sie gleich nur der letzte allgemeine Brand verwüsten kann; das Buch der Natur und das Buch des Menschen.381
Die beiden Kategorien >Natur< und >Menschdithyrambische Ich< beklagt, »daß meine Menschen Seifen378
Shaftesbury, Complete Works, selected Letters und posthumous Writings, Bd. 1.1, S. 158. Das Theater des Herrn Diderot, S. 107; vgl. DOE 99. 380 LW 5, 184. 381 Young, Gedanken, S. 69. 382 Vgl. dazu Rolf Engelsing, Das Buch-Gleichnis. In: AflCG 60 (1978), S. 363-382, bes. 364f, zur Verwendung der Formel >Buch der Natur< im 18. Jahrhundert, u.a. durch Goethe. 379
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blasen sind von Romanengrillen aufgetrieben«. Indem Goethe im selben Atemzug formuliert, »daß aus Schäkespearen die Natur weissagt«, greift er augenscheinlich auch auf Alexander Popes Vorrede (1721) zu dessen englischer Shakespeare-Ausgabe zurück - auf einen Text also, der ihm durch die Übersetzung und Wiedergabe in Wielands deutscher Ausgabe sicherlich bekannt war; dort heißt es in ganz ähnlicher Diktion: Die Poesie des Shakespear war in der That Begeistrung; er ist nicht sowol ein Nachahmer als ein Werkzeug der Natur; und es ist nicht so richtig gesagt, er habe durch sie, als sie habe aus ihm geredet. Seine Characters sind so sehr die Natur selbst, daß es eine Art von Beleidigung wäre, sie mit einem so entfernten Namen, als der Name von Copeyen derselben wäre, zu benennen.383
In Übereinstimmung mit Popes Bemerkung, in Shakespeares Stücken sei »jeder einzelner [sic] Character eben so individual als im Leben selbst«,384 bezeichnete Wieland die Dramen des Engländers - wie oben zitiert - als »natürlichere Abbildungen des menschlichen Lebens«.385 Im englischsprachigen Kontext gerät die Gleichsetzung von Shakespeares Figuren und der Natur im Lauf des 18. Jahrhunderts regelrecht zum literarischen Gemeinplatz, so daß David Garrick in seiner Ansprache zur Shakespeare-Feier (1769) in Stratford on Avon (die Goethe ja ebenfalls bekannt war und als Anregung zum Frankfurter >Schäkespears Tag< diente386) auf eine ausgebildete Topik zurückgreifen konnte: Shakespeare is, above all others, allowed to be the poet of nature and therefore as an author he stands highest in the highest class. The beings exhibited by the poet of nature are men: they are not creatures of the imagination, acting from principles by which human actions were never produced, and suffering distress which human beings never suffered, but partakes [sic] of the same nature which ourselves, to whose hearts our own sensations are a clue, beings of like passions, impelled by the same hopes and fears.387
Herder schließt hier in der Erstfassung seines Shakespear direkt an: Shakespear, der Sohn der Natur, [Diener] Vertrauter der Gottheit, Dollmetscher aller Sprachen und Leidenschaften und Charaktere, Führer und Verwickler des Fadens aller Begebenheiten, die Menschliche Herzen treffen können - was sehe ich, wenn ich ihn lese! Theater, Koulisse, Komödiant, Nachahmung ist verschwunden: ich sehe Welt, Menschen, Leidenschaften, Wahrheit!388
Gemein ist allen diesen Beispielen die Konzeption der imitatio naturae, wenngleich sie bei Herder die Grenzen des Theaters offensichtlich übersteigt und schon in die Richtung einer pantheistisch erfahrbaren, vergöttlichten Natur vorausweist. 383
Alexander Pope's Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespears (WGS II, 1, 1-11, hier 1). Ebd. 385 WGS I, 6, 335. 386 Vgl. Beutler, Goethe und Shakespeare, S. 16f. 387 Ohne nähere Angaben zit. ebd., S. 17; vgl. auch folgende Stellen aus Garricks Huldigungs-Gedichten: »Here Nature nurs'd her darling boy« - »where Nature led him by the hand« - »when Nature smiling hail'd his birth«. 388 HW 1, 551; FHA 2, 526; ganz ähnlich noch in der zweiten Fassung: vgl. HW 1, 557; FHA 2, 533. 384
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Als manifest spinozistische Kategorie wird sie dann in der Endfassung des Shakespear einen zentralen Stellenwert einnehmen. Ist der Naturbegriff der Shakespeare-Rede nun dem >konventionellen< englischen oder aber dem weitergehenden, pantheistischen Herderschen Naturbegriff nachempfunden? 389 Oder ist er gar direkt von Spinoza inspiriert? 390 Tatsächlich scheint die Erklärung des Naturenthusiasmus der Shakespeare-Rede im Sinne der zeitgenössischen anti-rationalistischen Begriffsverwendung westeuropäischer Provenienz nicht nur naheliegender, sondern auch weitaus adäquater als die Spinozismus-These. So hat etwa Diderot in der 2. Unterredung seiner Entretiens sur le fils naturel die durch den Menschen geschaffene Kunst in eine Analogie zur (organischen) Natur gebracht und sich dabei vor allem auf die Kategorie der Wahrheit gestützt; Lessing übersetzt: In der Kunst aber hängt alles, so wie in der Natur, zusammen; sobald man sich dem Wahren auf einer Seite nähert, nähert man sich ihm zugleich auf verschiednen andern. Alsdenn werden wir auf der Szene eine Menge natürlicher Stellungen erblicken, welche die Wohlanständigkeit, diese Feindin des Genies und aller großen Wirkungen, davon verbannt hat. Ich will unsern Franzosen unablässig zurufen: die Wahrheit! die Natur! die Alten! Sophokles! Philoktet!391 Allgemein wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das von der Frühaufklärung bis hin zu Lessing gültige ästhetische Verständnis der Natur als vernünftig strukturiertes Sein (analogon rationis) durch ein emotional und dynamisch vorgestelltes Prinzip des Werdens ersetzt: »Der statischen natura naturata wird die dynamische natura naturans vorgezogen. >Natur< erscheint als generatives Prin389 390
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Vgl. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 62. Im Anschluß an die Arbeiten von Edith Braemer, Herbert Lindner und Ursula Wertheim, die als Vertreter der ostdeutschen Germanistik erstmals wieder die Bedeutung Spinozas auch für den jungen Goethe hervorgehoben haben (vgl. unten), deutete Martin Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, S. 170, gerade den Naturbegriff der Shakespeare-Rede als eminent spinozistische Kategorie: »Die Genesis des Goetheschen Naturenthusiasmus aus dem Widerspiel geometrischen Naturkalküls und dem ins Esoterische gleitenden Begriffsrealismus spinozistischer Propositionen läßt sich als konsequenter Mediatisierungsprozeß begreifen. [...] Goethes Natuipathos erweist sich [...] als Vollendung der Spinozistischen Naturlehre.« Vgl. auch ebd., S. 174. Mit dem in der Shakespeare-Rede angeblich wirksamen »Widerspiel geometrischen Naturkalküls« bezieht sich Bollacher offenbar auf Goethes Formulierung aus dem 14. Buch von Dichtung und Wahrheit, wo an Spinoza exemplifiziert wird, »daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinoza's kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise« etc. (MA 16, 667). Dagegen Schärf, Goethes Ästhetik, S. 68, der in der Ablehnung des von Bollacher behaupteten direkten Spinoza-Einflusses auf den jungen Goethe (zumindest für den Zeitraum vor 1773) recht haben dürfte (vgl. unten). Überzogen scheint hingegen die Polemik gegen jede Art von »Einflußphilologie«, da diese »vor der Frage nach der originären Adaption eines Gedankens oder eines Denkens« zurückschrecke; die naheliegende Frage, inwiefern eine solche »Adaption« denn überhaupt als >originär< zu erkennen ist, wenn nicht vor dem Hintergrund größerer diskursiver Zusammenhänge, bleibt dabei nämlich unbeantwortet. Das Theater des Herrn Diderot, S. 125; vgl. DOE 120.
zip.«392 In der Genieästhetik des Sturm und Drang »geht deshalb der Begriff der Natur-Nachahmung in den der Schöpfung über. Denn wenn die natura naturane,393 das schöpferische Werden, als Wesen der Natur zu verstehen ist, dann heißt NaturNachahmung, daß man selbst schöpferisch werden soll.«394 Es gibt freilich noch eine weitere Implikation des Naturbegriffs der Shakespeare-Rede. Liest man nämlich genauer in Goethes knappem Text, dann stößt man bald auf folgende Worte: Und was will sich unser Jahrhundert unter stehen von Natur zu urteilen. Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf, alles geschnürt und geziert, an uns fühlen und an anderen sehen.395
Goethes Naturbegriff geht hier offenkundig über jede auch noch so emphatische Naturbeschwörung im Sinne organischer Analogievorstellungen wie auch pantheistischer Ganzheitsvorstellungen hinaus; er gemahnt in einer Bedeutungserweiterung mindestens ebenso an die kritische Funktion des Naturbegriffs, wie sie aus der Anthropologie der französischen Spätaufklärung bekannt ist396 - eine relative Novität im Kontext der deutschsprachigen ästhetischen Diskussion. In der avanciertesten französischen Theorie der zweiten Jahrhunderthälfte war die emphatische Kategorie der >Natur< gegen einen zudem noch stark höfisch geprägten rationalistischen Aufklärungsoptimistismus à la Voltaire gerichtet. In seinem zweiten Discours, dem Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1755), wollte Rousseau gerade die vom jungen Goethe eingeforderte, doch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Entstellung kaum erkennbare Natur des Menschen hypothetisch rekonstruieren; der zivilisierte Mensch sollte dazu gebracht werden 392
Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 13. Gegen die »Geste des >großen BruchsNatur< freilich schon von alters her als »Emanzipationsbegriff« kannte, vgl. Robert Spaemann, Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts. In: ABG 11 (1967), S. 59-74, Zit. 60.
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de se voir tel que l'a formé la Nature, à travers tous les changemens que la succession des tems et des choses a dû produire dans sa constitution originelle, et de démêler ce qu'il tient de son propre fond d'avec ce que les circonstances et ses progrès ont ajoûté ou changé à son Etat primitif.397 Ebenso wie später Goethe, der unter der Hand seinen Zweifel an der Erkennbarkeit der Natur andeutet, war sich schon Rousseau der prinzipiellen Unmöglichkeit seines Unterfangens durchaus bewußt: [C]e n'est pas une légére entreprise de démêler ce qu'il y a d'originaire et d'artificiel dans la Nature actuelle de l'homme, et de bien connoître un Etat qui n'existe plus, qui n'a peut-être point existé, qui probablement n'existera jamais, et dont il est pourtant necessaire d'avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent.398 Aus diesen absichernden Worten geht deutlich genug hervor, daß Rousseau selbst die historische Rekonstruktion eines als vorgeschichtlich und vorgesellschaftlich gedachten Naturzustands als »hypothetisches Experiment« 399 verstanden wissen wollte, dessen Zweck weniger in einem vagen historischen Interesse, sondern allererst in seiner heuristischen gesellschaftkritischen Funktion zu suchen ist. 400 Schon in seinem ersten Discours, dem Discours sur les sciences et les arts (1751), hatte Rousseau die Entfernung des zivilisierten Menschen von seiner inneren Natur hin zu regelgeleiteter conduite als gesellschaftliche Entfremdungserscheinung gegeißelt: Aujourd'hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l'Art de plaire en principes, il règne dans nos moeurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sane cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. On n'ose plus paroître ce qu'on est [...].401 Wie dieses Beispiel belegt, fungiert auch bei Rousseau der verfeinerte »goüt«, der gesellschaftlich vermittelte >Geschmackverdorbnen Geschmack< entgegenstellt. 403 Daß eine solche Deutung keineswegs willkürlich ist, 404 ergibt sich ganz augenfällig aus den Lesarten zum 7. Buch von Dichtung und Wahrheit, w o der Naturkult der heranwachsenden Generation ausdrücklich (und in deutlicher Analogie zu den Worten aus der Shakespeare-Rede) in den Zusammenhang mit Rousseaus erstem Discours gebracht wird: Die Tendenz zu einem einfachen Naturgenuß und einem frohen Genuß seiner selbst ward bey der Jugend zurückgedrängt, durch pedantischen Schulunterricht, Klösterlichkeit, höhere Stände, Philisterey, Broderwerb. Kampf entspringt dagegen. Wann solche Motive in Romanen auftreten? Werther. Siegwaxt. Ob früher? Was kurz vorher? Rousseaus Preisschrift gegen die Cultur.405 Auch im >approbierten< 11. Buch seiner Memoiren heißt es unmißverständlich: »Rousseau hatte uns wahrhaft zugesagt.« 406 Insbesondere für den Bereich der Kunst betont Goethe nachdrücklich die große Wirkung Rousseaus und Diderots auf den Sturm und Drang: »Auch hier wiesen sie, auch von ihr drängten sie uns zur Natur.« 407 Indem der junge Goethe die kritische Wendung des traditionellen Natur403
Natur ist ihm hier also - um mit Kant zu sprechen - in »formaler Bedeutung« (gegenüber der materiellen BedeutungBösenFastnachtsspiel< Satyros oder der vergötterte Waldteufel (1773) hervor; vgl. den Kommentar Sauders (MA 1.1, 983f) sowie v.a. Carl Hammer, Goethe and Rousseau. Resonances of Mind. Lexington, Kentucky 1973, S. 32-35, wo noch weitere, z.T. frühere Zeugnisse angeführt werden. Wenig konkrete Informationen bietet dagegen Ralph-Rainer Wuthenow, Rousseau im >Sturm und Drangerlösenden< Rückkehr in den vorgesellschaftlichen Zustand. Der kritische Natur-Begriff hat vielmehr eine deutlich polemische Funktion, die auch innerliterarisch Sprengkraft besitzt, und das nicht von ungefähr: Die emphatisch gefeierte Kategorie der >Natur< ist wohl nicht zuletzt deshalb ein wesentlicher Bestandteil der Genie-Ästhetik des jungen Goethe, weil sie sich in hervorragender Weise als theoretisch legitimierbarer Kampfbegriff gegen die überkommene ästhetische Tradition 408 und deren sozialen Hintergrund eignet. In diese Richtung weist auch die kritische Analyse des Zustands der französischen Aufklärungsliteratur zu Beginn von Goethes schriftstellerischer Karriere im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit'. Der Einfluß der Sozietät auf die Schriftsteller nahm immer mehr überhand: denn die beste Gesellschaft, bestehend aus Personen von Geburt, Rang und Vermögen, wählte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standespersonen und Literatoren bildeten sich wechselweise, und mußten sich wechselweise verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die französische Kritik, verneinend, herunterziehend, mißredend. Die höhere Klasse bediente sich solcher Urteile gegen die Schriftsteller, die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so unter einander, ja gegen ihre Gönner. Konnte man dem Publikum nicht imponieren, so suchte man es zu überraschen, oder durch Demut zu gewinnen [...].409 Spezifisch auf das paradigmatische Feindbild seiner Sturm und Drang-Periode gemünzt fährt Goethe fort: [S]o entsprang [...] eine solche literarische Gärung, daß Voltaire selbst seiner vollen Tätigkeit, seines ganzen Übergewichts bedurfte, um sich über dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes eigenwilliges Kind; seine unermüdet fortgesetzten Bemühungen betrachtete man als eitles Bestreben eines abgelebten Alters; gewisse Grundsätze auf denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Ausbreitung er seine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr schätzen und ehren; ja seinen Gott, durch dessen Bekenntnis er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und so mußte er selbst, der Altvater und Patriarch [!], gerade wie seine jüngsten Mitbewerber, auf den Augenblick merken, nach neuer Gunst
général, plus un peuple est civilisé, poli, moins ses moeurs sont poétiques; tout s'affaiblit en s'adoucissant. Quand est-ce que la nature prépare des modèles à l'art?« (DOE 260) Vgl. Lessings Übersetzung im Theater des Herrn Diderot, S. 37 lf: »Überhaupt, je gesitteter und geschliffener ein Volk ist, desto unpoetischer sind seine Sitten. Alles, was feiner wird, wird schwächer.« Dagegen müsse »die Natur Muster für die Kunst« bilden. 408 So legte Diderot schon 1748, im 38. Kapitel seiner Bijoux indiscrets, der Figur der Mirzoza folgende Kritik an der >gekünstelten< Dialogführung der tragédie classique in den Mund: »L'emphase, l'esprit et le papillotage qui y régnent sont à mille lieues de la nature.« (DOR 143) Lessing übersetzt im 85. Stück der Hamburger Dramaturgie noch nachdrücklicher: »Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt.« (LW 4, 624) 409 MA 16, 517. In der negativen Wertung des >überraschenden< Effekts deutet sich freilich die erst in Goethes nachitalienischer Theoriebildung virulente Kritik an der kumulativen Überbietungsdynamik der ästhetischen Moderne an; vgl. III. 1.4 u. III.2.3. 94
haschen, seinen Freunden zu viel Gutes, seinen Feinden zu viel Übles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenschaftlich wahrheitsliebenden Strebens, unwahr und falsch handeln.410
Goethes augenfällig an Rousseau geschulte Analyse der Wechselwirkung von gesellschaftlicher Depravation und literarisch-künstlerischem Verfall mündet in ein radikales Vernichtungsurteil, welches seinerseits implizit die »deutsche literarische Revolution« legitimiert, »von der wir Zeugen waren, und wozu wir [...] unaufhaltsam mitwirkten«.411 Denn: »Ein Publikum, das immer nur die Urteile alter Männer hört, wird gar zu leicht altklug, und nichts ist unzulänglicher als ein reifes Urteil, von einem unreifen Geiste aufgenommen.« 412 Soviel zur nachträglichen Rechtfertigung des jugendlichen Frontalangriffs auf die etablierte Generation der Väter, der sich eben insbesondere auf »ein wahreres Verhältnis zur Natur« berief. Die Bemerkung aus der Shakespeare-Rede, daß »wir von Jugend auf, alles geschnürt und geziert, an uns fühlen und an anderen sehen«, wendet sich ganz offensichtlich auch gegen Wielands »abgeschmackte gezierte hagre blasse Püppgens«,413 wie es in Götter, Helden und Wieland heißt; die fiktionale Figur des inkriminierten Autors ruft dort nämlich aus: »Ihr Alzeste? Mit dieser Taille!«414 Die dem >Geschnürten< und >Gezierten< entgegengesetzte Vorstellung entfesselter Natürlichkeit ist folglich Teil der sozialen Strategie der Stürmer und Dränger für den Generationenkonflikt im literarischen Feld: einer Strategie, die im Gegensatz zu vergleichbaren Ansätzen der progressivsten Ästhetiker der vorhergehenden Generation - Diderot und Lessing415 - keine Kompromisse mehr eingehen will. In diesem Kontext scheint Goethes beiläufig geäußerter Zweifel an der Erkennbarkeit der Natur im Zeitalter der noch höfisch geprägten Zivilisation von besonderer Brisanz, zeugt er doch davon, daß ihm die Fiktionalität seines emphatischen Naturbegriffs prinzipiell bewußt war. Als Artefakt, nämlich als polemisches Konstrukt, ist die Naturvorstellung des Sturm und Drang solcherart - zumindest implizit - schon bei Goethe kenntlich gemacht. Hierher gehört auch die als >natürlich< präsentierte, tatsächlich aber höchst stilisierte und deshalb de facto äußerst artifizielle Textgestalt der Shakespeare-Rede.
410
MA 16, MA 16, ist wohl 412 MA 16, 411
517f. 522f. Die eingeschobene Formel »bewußt oder unbewußt, willig oder unwillig« vor allem als Distanzierung des alten Goethe zu verstehen. 518.
413
M A 1.1, 6 8 2 .
414
MA 1.1, 683. Vgl. Bürger, Historisch-soziologische Erklärung der Genie-Ästhetik, S. 67: »Offenbar liegt dem Diderotschen Genie/Poesie-Begriff die gleiche Opposition zugrunde wie der Zivilisationskritik Rousseaus. Während Rousseau jedoch Natur vor allem als theoretischen Ort benutzt, von dem aus er mit der Zivilisation abrechnet, sucht Diderot mit der Poesie ein Moment von Natürlichkeit in die Gesellschaft hineinzutragen.« Hier liegt auch der Ansatzpunkt Lessings.
415
95
5.2 Kunst und Geschichte Die konkreteste Form der allgemeinen Regelfeindlichkeit ist die von Goethe in der Shakespeare-Rede ausdrücklich vertretene Ablehnung der drei aristotelischen Einheiten, welche auch Herder in der Erstfassung seines Shakespear als »Regelnjoch des Aristoteles und der Franzosen«416 brandmarkte. Diese ablehnende Haltung steht für ein neues Selbstbewußtsein gegenüber den Alten, das - im Gefolge der Querelle des Anciens et des Modernes - schon in Youngs Conjectures einen wirkungsmächtigen Ausdruck gefunden hatte; dort hieß es in freilich noch vorsichtigerer Diktion zu den dramatischen Regeln: »Eine allzu große Ehrfurcht für sie, fesselt das Genie, und versagt ihm diejenige Freyheit, den völligen Raum, den es haben muß, wenn es seine glücklichen Meisterzüge wagen soll.«417 (Bei Young war es allerdings weniger der >französierte< höfische Geschmack, sondern allererst die Gelehrsamkeit, die der >geniehemmenden< Regeln als »Krücken« bedurfte 418 was daraus resultiert, daß der Schotte vor allem gegen die - realiter von ihm selbst noch vertretene - Konzeption des poeta doctus anschrieb, dem zur selben Zeit auch Lessing eine deutliche Absage erteilte.419) Um die Radikalität der regelfeindlichen Sturm und Drang-Poetik um 1770 zu veranschaulichen, sei darauf hingewiesen, daß der ebenfalls regelskeptische Diderot zu Beginn der 1. Unterredung seiner Entretiens sur le fils naturel den weisen Dorval immerhin einräumen läßt: »Les lois des trois unités sont difficiles à observer; mais elles sont sensées.«420 Lessing übersetzt fast wörtlich: »Die Gesetze der Einheiten sind schwer zu beobachten, aber sie sind vernünftig. «421 Von einem wirklichen Ansturm gegen die Regeln des Aristoteles ist da noch wenig zu spüren. 416 417 418
419 420 421
96
HW 1, 548; FHA 2, 522. Young, Gedanken, S. 27. Ebd., S. 28f: »Die Gelehrsamkeit [...] ist für dasjenige eingenommen und darauf stolz, was ihr die meiste Mühe gekostet hat; sie liebt die Regeln außerordentlich und pralt gerne mit berühmten Beyspielen. Gleich den mittelmäßigen Schönen, welche die Hälfte ihrer Reitzungen der vorsichtigen Kunst zu danken haben, empört sich die Gelehrsamkeit wider die natürlichen unstudierten Schönheiten und kleinen unschuldigen Fehler, und setzet derjenigen Freyheit enge Gränzen, durch welche oft der, der Genie hat, seinen höchsten Ruhm, aber der, dem das Genie fehlet, nicht selten seinen Untergang findet. Denn Schönheiten, die man noch nie in Regeln vorgeschrieben, und etwas Vortrefliches, von dem man noch kein Exempel hatte, (und dieß ist die Charakteristik der Genies) diese liegen weit außer den Gränzzeichen der Herrschaft der Gelehrsamkeit und ihrer Gesetze. Diese Gränzzeichen muß das Genie überspringen, um zu jenen zu gelangen. Aber bey diesem Sprunge, wenn das Genie fehlt, brechen wir den Hals, und verlieren das kleine Ansehen, in dessen Besitz wir vielleicht vorher waren. Denn Regeln sind wie Krücken, eine n o t wendige Hülfe fiir den Lahmen, aber ein Hindemiß für den Gesunden.« Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 3 u. 79. DOE 81. Das Theater des Herrn Diderot, S. 90; indem Lessing das »trois« nicht mitübersetzt, distanziert er sich von der hier noch rigideren Auffassung Diderots. Vgl. dagegen Diderots Kritik an pedantischer Regelbefolgung in der späteren Abhandlung De la poésie dramatique: etwa DOE 242f bzw. Das Theater des Herrn Diderot, S. 352f. Diese Beispiele haben freilich noch nichts von der Radikalität des Sturm und Drang.
Gerade im Hinblick auf die aristotelische Poetik hat es indes Gerstenberg - dem Herder attestierte, »unverdorben von der Kritik der Regeln und unverwahrloset von den Vorbildern der Alten«422 zu sein - zu einem interpretatorischen Grundsatz gemacht, »die Schakespeareschen Werke nicht aus dem Gesichtspunkte der Tragödie [...] zu beurtheilen«.423 Es sei ihnen auch keineswegs primär um »die Erregung der Leidenschaften« zu tun,424 heißt es deutlich an die Adresse Lessings, der seinerseits - etwa im 17. Literaturbrief425 - noch die prinzipielle Vereinbarkeit Shakespeares mit der aristotelischen Poetik beweisen wollte. Ähnlich wie Gerstenberg argumentierte Herder selbst, wenn er festhielt, daß die »Regeln der Tragödie« von Aristoteles »aus den besten Stücken der Griechen abgezogen« worden seien und von den Franzosen bloß »auf ihre Weise nachgeäffet«, 426 - daß sie also keineswegs als ädaquate Richtschnur zur Beurteilung Shakespeares dienen können. Der in Herders analytischer Vorgangsweise manifeste historisierende Deutungsrahmen ist implizit schon bei Pope angelegt, der ebenfalls vor einem unangemessenen Maßstab warnte: »Den Shakespear nach den Regeln des Aristoteles beurtheilen, wäre [...] nicht anders als einen Mann nach den Gesezen eines gewissen Landes zu richten, der unter den Gesezen eines andern gehandelt hätte.«427 Und Gerstenberg wendete gegen Wieland kritisch ein, daß dessen Vorwurf des >verdorbnen Geschmacks< gegenüber Shakespeare allein dann bestehen kann, »wenn wir ihn beständig nur auf uns, und auf unser Jahrhundert beziehen«; Shakespeare weiche »in seinen Begriffen einer Nachahmung der schönen Natur [...] von unserm heutigen französirten Geschmacke unendlich ab«.428 Goethe schließt sich nun dieser relativierenden Sichtweise an, wobei er deren historisierenden Aspekt noch verstärkt: »Das griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen,429 war, nach innrer und äußerer Beschaffenheit, so, daß eher ein Marquis den Alcibiades nachahmen könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen möglich wär.«430 Ohne den recht vagen Begriff der >inneren und 422
HW 1, 548; FHA 2, 522. [Gerstenberg,] Briefe Uber Merkwürdigkeiten der Litteratur, 15. Brief, S. 124f. 424 [Gerstenberg,] Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 14. Brief, S. 112. 425 Vgl. LW 5, 72. 426 HW 1, 553; FHA 2, 528. 427 Alexander Pope's Vorrede (WGS II, 1, 3). 428 [Gerstenberg,] Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 16. Brief, S. 125 u. 136. In diesem Zusammenhang betont Gerstenberg auch, »weit mehr Vergnügen an jener zwangfreyen Natur zu finden, als an einer sogenannten schönen Natur, die aus Furcht, ausschweifend oder arm zu scheinen, in goldenen Fesseln daher schreitet«; zu Goethes vergleichbarer Kritik am Begriff der schönen Natur vgl. II.4.1 u. II.4.2. 429 Vgl. zu dieser Differenz die Endfassung von Herders Shakespear. »In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland wars, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ists also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland gewesen.« (HW 1, 527) Mehr zu dem im 18. Jahrhundert einen »besonders schwerwiegendefn] Vorwurf« darstellenden »Nachweis einer falschen Überlieferungslinie« bei Koopmann, Zum Schäkespears Tag, S. 523. 430 MA 1.2, 412. Zu Alkibiades, dem Schüler und Gesprächspartner des Sokrates in Piatons Symposion, vgl. den Brief an Herder, Anfang 1772, in dem Goethe u.a. von der »wahren 423
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äußeren Beschaffenheit - der auf den später verwendeten Begriff der >inneren Form< vorausdeutet 431 - näher zu erläutern, suggeriert Goethe hier offensichtlich eine essentielle Korrespondenz des Theaters mit der jeweiligen historischen Verfassung und dem davon nicht unabhängigen Charakter des Autors; er stimmt hier augenfällig mit der Erstfassung von Herders Shakespear überein: Von ihrer Entstehung an, hat sich, wie mich dünkt, die Bühne mit jedem ihrer Hauptgenies so verändert und in eine andre Gestalt modificieret, daß fast für jeden Originalautor eines andern Volks und für jedes Originalstück desselben ein neuer Name, mithin ein neuer Regelkanon zu erfinden wäre, die doch immer nur ein Abstrahl ihres innem Scheins sein können.432 Die substantielle Vorstellung des »innern Scheins« wird von Herder in der Endfassung des Shakespear noch spezifiziert: Das [...] Drama ist nicht dasselbe; warum? weil im Innem nichts von ihm Dasselbe von Jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Sprache, Zweck, nichts - und was hülfe also alles Äußere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß Ein Held des großen Corneille ein Römischer oder Französischer Held sei? Spanisch-Senekasche Helden! galante Helden, abenteurlich tapfere, großmütige, veliebte, grausame Helden, also Dramatische Fiktionen, die außer dem Theater Narren heißen würden, und wenigstens für Frankreich schon damals halb so fremde waren, als sies jetzt bei den meisten Stücken sind.433 In Goethes Shakespeare-Rede findet sich konsequent - doch freilich in äußerster epigrammatischer Verdichtung - der Ansatz zu einem historischen Abriß der Entwicklung des griechischen Theaters: »Erst Intermezzo des Gottesdienste, dann feierlich politisch, zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der Väter, dem Volk«. 434 Herder ist hier freilich schon in seinem ersten, an Gerstenberg gerichteten Entwurf ausführlicher und zugleich konkreter: Was die Tragödie bei Thespis gewesen, mag nur Skribbler und Klotz wissen; [aber] bei Äschylus ist sie oft nur ein großes Allegorisch-Mythologisch- halb Episches Gemälde: bei Sophokles eine eigentliche Vaterlands- Geschlecht- und Heldenhandlung halb Musikalisch und halb im Schmuck der Pantomime; bei Euripides das vorige, nur Moralisiert und Ethopöiert; bei Corneille und den Franzosen eine eingefädelte Reihe Spanischer Heldenund Liebesgespräche ohne Charaktere und wider alle Natur der Leidenschaft, wo zuletzt jemand mit vielem Anstände, doch nur zum Schein, stirbt: bei den Engländern endlich, und bei Shakespear insonderheit - was bleibt ihm übrig? - Wer hats besser als Sie [i.e. Gerstenberg] empfunden - >der Mensch! die Welt! Alles!geheime Punkt< und das Böse Komplexer verhält es sich mit der Kategorie des Ganzen: Diese kann sich etwa auf die Gesamtanlage eines Dramas,460 aber auch auf die Charaktergestaltung einzelner dramatischer Figuren beziehen. Auf die erste Möglichkeit zielt offenbar Goethes Bemühung um eine genauere Bestimmung der >inneren Beschaffenheit von Shakespeares Trauerspielen: Seine Plane, sind nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punkt, (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.461
Dieser Versuch einer begrifflichen Bestimmung der Shakespearschen Tragödie ist zwar »aus der Atmosphäre des übersteigerten Subjektivismus heraus gesprochen«, wie Joachim Wohlleben festhält, nimmt aber »doch im Kern spätidealistische Tragödiendefinitionen, die die übersubjektive Geschichtshaltigkeit der Tragödie hervorheben, vorweg«.462 Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert freilich weniger der Umstand, daß die änigmatischen Worte des jungen Goethe auf Hegels später entworfene Theorie der Tragödie (insbesondere im 3. Teil der erst 1835 posthum veröffentlichten Vorlesungen über die Ästhetik463) vorausdeuten, sondern vielmehr der zeitgenössische Diskussionshorizont, auf den Goethes Formulierung verweist und den sie in ziemlich radikaler Weise durchbricht. Die Fixierung eines zentralen Punktes in Shakespeares Dramen war schon ein Anliegen von Alexander Popes Vorrede gewesen, die dann Wieland in die erste deutsche Shakespeare-Ausgabe übernahm; das Charakteristikum des großen Dra458 459
460
461 462 463
MA 1.2, 412. Vgl. Diderots einschlägige Worte in De la poésie dramatique: »La poésie veut quelque chose d'énorme, de barbare et de sauvage.« (DOE 261) Dazu Lessings Übersetzung im Theater des Herrn Diderot, S. 373: »Die Poesie verlangt etwas Ungeheures, Barbarisches und Wildes.« Vgl. z.B. [Gerstenberg,] Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 18. Brief, S. 161, wo »dieses Gigantische, diese Regellosigkeit, diese bis zum Ekel verschieene Wildheit« der Historiendramen Shakespeares relativ vage durch »ein gewisses Ganze« gerechtfertigt wird, »das Anfang, Mittel und Ende, Verhältniß, Absichten, contrastine Charakter, und contrastine Groupen hat«. MA 1.2, 413. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 62. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. "1996 (=Werke 15), S. 520-526, bes. 523.
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matikers wird da folgendermaßen umschrieben: »durch eine ihm ganz eigene Gabe, (ein Mittelding zwischen Scharfsinn und Glük), trift er allemal den besondern Punct, um den sich die Spize eines jeden Vernunft-Schlusses dreht, oder von dem die Stärke eines Beweggrundes abhangt.« 464 Der junge Goethe konnte diese Worte in der Bibliothek seines Vaters nachlesen, was ihn vielleicht zu seiner eigenen prägnanten dramentheoretischen Formulierung angeregt hat. Auch Herder war es in der Druckfassung seines Shakespear angesichts der schon damals überhandnehmenden Untersuchungen zum englischen Dramatiker um einen perspektivisch einzigartigen »Punkt« zu tun, »darauf ich den Leser nun festhalte, >hier stehe! oder du siehest nichts als Karrikatur!völlig ungleichem Bruder< des emanatistischen Denkens für eine »unreflektierte Übernahme der aus Fabricius sprechenden communis opinio, die sich im sachlichen Widerspruch der Goetheschen Ausführungen niederschlägt« (S. 20); Goethe übernehme »unkritisch das Spinoza-Verdikt seiner Vorlage« (S. 21) und kapituliere »vor der Tabuierung des Spinozismus« (S. 22), was auf »die Voreingenommenheit des Autors« (S. 18) schließen lasse. Von einer mehr als nur oberflächlichen Kenntnis Spinozas kann demnach zu Beginn der siebziger Jahre noch keine Rede sein. 471 472
Vgl. dagegen die Vermutungen Bollachers, Der junge Goethe und Spinoza, S. 75. WA IV, 7, 63.
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griff geführt hätte, kann aus den angeführten Quellen jedenfalls - trotz der apologetischen Absicht, die Goethe mit seinem letztzitierten Brief verbindet - nicht geschlossen werden.473 Tatsächlich ist das dramentheoretische Interesse am Zusammenstoß der »prätendiertefn] Freiheit unsres Wollens [...] mit dem notwendigen Gang des Ganzen« durchaus ohne Kenntnis der allem Anschein nach erst später rezipierten Schicksalslehre474 Spinozas denkbar. Die an Gundolf anschließende werkimmanente Deutungstradition sieht in Goethes Formel denn auch vor allem dessen Versuch, »seine eigenen persönlichen Probleme [!] in Shakespeare« hineinzuprojizieren: »Goethe interpretiert [...] Shakespeare hier auf eine sehr persönliche Weise, die jedoch durch den Inhalt von Shakespeares Werken nicht gerechtfertigt ist. Es ist unmöglich, alle Dichtungen Shakespeares auf einen solchen gemeinsamen Nenner zu bringen.«475 Statt dessen sei dabei eher an Goethes eigene Dramenpläne, etwa an Julius Cäsar, vor allem aber an Prometheus und Götz von Berlichingen zu denken.476 In der Tat scheint die >tragische< Formel besser auf Goethes Sturm und Drang-Dramatik als auf Shakespeare zu passen. Angemessen ist ein solcher g e meinsamer Nenner< aber überraschenderweise auch den tragischen Helden des von Goethe inkriminierten Corneille, wie schon Karl Viëtor - freilich ohne Erwähnung der Goetheschen Formulierung - in seiner richtungsweisenden Studie zur Idee des Erhabenen ausgeführt hat.477 Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund scheint Goethes Sentenz unter anderem als dramentheoretische Reaktualisierung der ästhetischen Kategorie des Erhabenen deutbar, die kurz zuvor von Lessings Mitleidskonzeption stark in Mißkredit gebracht worden war.478 Genaueren Aufschluß verspricht hier der weitere Kontext der epigrammatischen Formel, insbesondere eine - freilich mindestens ebenso änigmatische - Formulierung aus dem vorletzten Absatz der Shakespeare-Rede, welche der Forschung noch größere Schwierigkeiten bereitet hat:
473
Daran ändert auch die eher beiläufige Anspielung auf Spinozas Deutung der »Quelle [...] aller Controversien« (vgl. dazu die Komm, in HAB 1, 603 u. FA II, 1, 866) und die anschließende explizite Erwähnung des Philosophen im Brief an Lavater und Pfenninger vom 26.4.1774 wenig (WA IV, 2, 155f)· Zum Spinoza-Komplex insgesamt vgl. den Kommentar John Neubauers (MA 2.2, 874-877); mehr dazu in IV. 474 Vgl. dazu Braemer, Goethes Prometheus, S. 212. 475 Ermann, Goethes Shakespeare-Bild, S. 47. Ganz ähnlich schon Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, S. 226, der erkennen will, daß Goethe »Shakespeare hier seine eigenen damaligen Probleme in die Seele schiebt und nur ausspricht was er selber als Dichter auszudrücken versucht war« etc. Dagegen Koopmann, Zim Schäkespears Tag, S. 523: »Mit dieser Definition ist vielleicht nicht das Wesen der Shakespeareschen Komödien erfaßt, sicherlich aber das seiner Tragödien.« 476 Vgl. Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, S. 227. 477 Vgl. Karl Viëtor, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur. In: Κ. V., Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 234—266, 346-357 (Anm.), hier 236. 478 Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, S. 34—45.
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Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Schäkespearen, das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.479
Sowohl die von Goethe nicht näher benannten >edlen Philosophen^ wie auch die Erklärung des sogenannten Bösen als »die andre Seite vom Guten« erlauben in der gezielten Beiläufigkeit ihrer Formulierung eine Vielzahl an Spekulationen. Die Kommentatoren und Interpreten ergingen sich bislang denn auch in zahlreichen mehr oder weniger vagen Vermutungen, ohne daß sie indes eine überzeugende Erklärung zu liefern vermochten. Als Gewährsleute nennt Hanna Fischer-Lamberg in ihrem Kommentar etwa Giordano Bruno, Spinoza, Mandeville und Shaftesbury 480 - immerhin eine recht illustre Mischung. Bei genauerer Prüfung scheinen die Ähnlichkeiten allerdings so kontingent, daß sie vor allem für die Ratlosigkeit einer Germanistik stehen, deren kommentarische und interpretatorische Kunst sich bisweilen in der verzweifelten Suche nach mehr oder weniger willkürlichen Parallelstellen erschöpft. Nur wirklich überzeugende Entsprechungen könnten die fehlende Evidenz einer frühen Rezeption von Spinoza, Mandeville und Shaftesbury durch den jungen Goethe wettmachen. Und auch in dem bisweilen angeführten Bruno-Zitat der Ephemerides, das Goethe wahrscheinlich nicht einmal aus erster Hand hatte, sondern aus Bayles Dictionnaire historique et critique übernahm, ist keineswegs vom hier angesprochenen Bösen die Rede.481 Will man die >edlen Philosophen< tatsächlich in der Philosophiegeschichte dingfest machen, dann wäre es wohl naheliegender, das Diktum vom sogenannten Bösen als »die andre Seite vom Guten« auf die damals allgegenwärtige Problematik der Theodizee zu beziehen: Mit »edle Philosophen« wäre dann zuvörderst der dem jungen Goethe aus seiner (sporadischen) Beschäftigung mit der Philosophie482 479
MA 1.2, 414. Fischer-Lamberg (3DjG 2, 329) verweist auf Brunos Deila causa, principo et uno (1584), vgl. unten; zu Spinoza erwähnt sie knapp: »Sub specie aeternitatis gibt es nichts Böses«; noch bündiger der kommentarlose Verweis auf Mandevilles Fable of the Bees or Private Vices made Public Benefits (1723). Wieder ausführlicher, aber deshalb nicht plausibler ist der Verweis auf eine Stelle aus Shaftesburys Soliloquy (1,3), die mit den fraglichen Worten aus der Shakespeare-Rede wenig gemein hat. 481 Vgl. MA 1.2, 519f: »L'uno, l'infinito, lo ente e quello che é tutto, e per tutto anzi é l'istezzo Vbique. E che cossi la infinita dimenzione per non esser magnitudine coincide coli individuo. Come la infinita moltitudine, per non esser numero coincide coli unita.« Die von Goethe offenbar nach Bayles Dictionnaire historique et critique zustimmend zitierte Stelle lautet in der Übersetzung: »Das Eine, das Unendliche, das Wesen ist das, was in allem ist, und für alles ist es sogar dasselb [sie] Ubique. Und so fällt die unendliche Dimension, um nicht reine Größe zu sein, mit dem Einzelnen zusammen. Wie die unendliche Vielzahl, um nicht reine Zahl zu sein, mit der Einzahl zusammenfällt.« (MA 1.2, 878) 482 Vgl. etwa die Schilderung des Philosophieunterrichts durch den nicht namentlich genannten Freund (immerhin ein Hofmeister, der beim eklektischen Wolff-Gegner Joachim Georg Danes in Jena studiert hatte) im 6. Buch von Dichtung und Wahrheit (MA 16, 242f). 480
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trotz fehlender Rezeptionszeugnisse zweifelsohne geläufige Leibniz gemeint. Tatsächlich war das Problem der Existenz des Bösen in der Welt im gesamten 18. Jahrhundert untrennbar mit dem Namen Leibniz verknüpft, und zwar mit dessen Essais de théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l'homme, et l'origine du mal (1710), die sich in einer Hannoveraner Ausgabe von 1744 auch in der Bibliothek von Goethes Vater befanden.483 In dieser Theodizee hatte Leibniz darzulegen versucht, »qu'un monde avec le mal pouvait être meilleur qu'un monde sans mal«; argumentiert wurde hierfür damit, »que le meilleur parti n'est pas toujours celui qui tend à éviter le mal, puisqu'il se peut que le mal soit accompagné d'un plus grand bien«, oder anders formuliert: »qu'une imperfection dans la partie peut être requise à une plus grande perfection dans le tout«.484 Leibniz beruft sich für seine Beweisführung auf die Autorität des Augustinus, der unzählige Male gesagt habe, »que Dieu a permis le mal pour en tirer un bien, c'est-à-dire un plus grand bien«, und auf die des Thomas von Aquin, der ebenfalls der Meinung sei, »que la permission du mal tend au bien de l'univers«. 485 Bekanntlich übernahmen die Schulphilosophie mit Christian Wolff sowie zahlreiche Popularphilosophen die Leibnizsche Theodizee-Lösung, insbesondere die Optimismus-Formel von der >besten aller möglichen Weltensummus philosophus< des jungen Goethe mahnt: Einen klar bestimmbaren, »dominierenden Hauptphilosophen, von dem alle Gedanken und Vorstellungen Goethes herleitbar wären«,488 wird man auch für die 483
Vgl. Gotting, Die Bibliothek von Goethes Vater, S. 40. Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften. Bd. 2.2: Essais de théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l'homme, et l'origine du mal. Troisième Partie, Abrégé de la controverse, causa dei. Hg. ν. Herbert Herring. Darmstadt 1985, S. 286-288; der Abrégé de la controverse, réduite à des arguments en forme, aus dem die Zitate stammen, resümiert die Beweisführung der Théodicee. 485 Ebd. 486 Vgl. etwa Harald Weinrich, Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon. In: H. W., Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. München 1986, S. 74-90, hier 77. 487 Vgl. ebd., S. 77f. Goethes späterer Schwager Johann Georg Schlosser veröffentlichte 1776 einen Anti-Pope, oder Versuch über den natürlichen Menschen, nebst einer neuen prosaischen Übersetzung von Pope's Versuch Uber den Menschen-, vgl. Goethes Schilderung im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit (MA 16, 291; dazu den Komm. MA 16, 966f). Zum dramentheoretisch relevanten weltanschaulichen Optimismus, in dem auch Shaftesbury eine gewisse Rolle spielt, vgl. Alberto Martino, Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1: Die Dramaturgie der Aufklärung (1730-1780). Tübingen 1972 (=Studien z. dt. Lit. 32), S. 437^39. 488 Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 42; vgl. auch ebd., S. 19. 484
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knappe Gedankenfigur des sogenannten Bösen als »die andre Seite vom Guten« nicht finden. Die Gefahr einer allzu monolinearen und monokausalen Herleitung Goethescher Vorstellungen, vor der Zimmermann warnt, gilt freilich ebenso für die von ihm selbst so stark gemachte Hermetik-These: Denn gewisse Affinitäten zwischen der fraglichen Gedankenfigur des jungen Goethe und dem im 8. Buch von Dichtung und Wahrheit referierten Lucifer-Mythos 489 liegen zwar auf der Hand; doch scheint es deshalb kaum gerechtfertigt, darin nicht allein die »Bestätigung« der historischen »Authentizität« des rückblickenden Berichts zu sehen,490 sondern umgekehrt auch noch daraus zu schließen, »daß auch der >geheime Punckt< von Goethes Rede Zum Schäkespears Tag aus dem Lucifer-Mythos - und zwar aus dem bereits umgedeuteten [!] - hervorgegangen ist«.491 Um die Bedeutung dessen, »was wir bös nennen«, als »die andre Seite vom Guten« tatsächlich erhellen zu können, sollte zunächst wohl einmal der dramentheoretische Kontext rekonstruiert werden, von dem sich Goethes Diktum abhebt. Den polemischen Bezugspunkt der fraglichen Sentenz bilden ganz offensichtlich noch immer relativ vage die »Franzosen und angesteckte Deutsche«, besonders aber deren Anstoß an Shakespeares unmoralischen, >bösen< Charakteren. Auch in England standen die Anhänger Shakespeares in den sechziger Jahren unter einem Legitimationsdruck gegenüber dem Vorwurf fehlender Moral; so sah sich Garrick in seiner Shakespeare-Rede gezwungen, moralisierenden Einwänden gegen die Dramen seines Idols entgegenzuhalten: It has been objected to Shakespeare, that he wrote without any moral purpose, but I boldly reply, that he has effected a thousand. He has not indeed always contrived a series of events, from the whole of which some moral precept may be inferred, but he has conveyed some rule of conduct in every character.492
Goethe freilich denkt bei seinen eigenen Worten wohl in erster Linie an Lessings ausführliche Diskussion von Christian Felix Weißes Drama Richard der Dritte (1759, umgearbeitet 1765) im 73.-79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie; dort wird ja zu Beginn auch kurz eine Gegenüberstellung mit Shakespeares gleichnamigem Drama vorgenommen. Besonders stößt sich Lessing in seiner Besprechung am Charakter der Weißeschen Hauptfigur, 493 wie er schon im 74. Stück betont: »Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiß [sie] geschildert hat, ist unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.«494 Nach einer eingehenden, bis zum 78. Stück geführten Auseinandersetzung mit Aristoteles' Tragödientheorie, in der Lessing seine sympathetische Theorie von Furcht und Mitleid entwickelt,495 kommt er im 79. Stück wieder auf das Problem 489
Vgl. MA 16, 379-381. Vgl. Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 187. Ebd., S. 188. 492 Zit. bei Beutler, Goethe und Shakespeare, S. 18. 493 Vgl. LW 4, 574: »Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünsche.« 494 Ebd. 495 Ausgangspunkt ist dabei Lessings Deutung des Aristoteles im 74. Stück: »>Das Mitleid, 490 491
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des bösen Charakters zu sprechen: Die Figur Richards erwecke »eben so wenig Schrecken als Mitleid«, lautet die vernichtende dramaturgische Kritik, denn: [E]r ist so ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsem Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folgt, sie auch unsrer erwarte.496 Lessing moniert hier augenscheinlich die fehlende >Wahrscheinlichkeit< Richards: Es geht um das dramaturgische Postulat, zu dessen Einlösung es seiner Theorie zufolge >gemischter Charaktere< bedarf, denn das von der Lessingschen Aristoteles-Auslegung geforderte Mitleid stellt sich nur bei >identifikationswürdigen< Figuren ein. Daran kann auch die Anlehnung der dramatischen Fabel an historisch verbürgte Ereignisse wenig ändern, wie Lessing jetzt zur Gesamtanlage einer Tragödie und in ausdrücklicher Bezugnahme auf das Problem der Theodizee im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie hervorhebt (wobei er einen auffälligen Bruch innerhalb seiner subjektivistischen wirkungsästhetischen Argumentationsstrategie in Richtung einer objektivistischen Werkästhetik vollzieht 497 ): Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist. - Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern soll er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt diese seine edelste Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht, und geflissendlich unsem Schauder darüber erregt? - O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt!498 Lessings Übernahme der Leibnizschen Gedankenfigur ist unübersehbar; im Hinblick auf deren Installation in eine Theorie der Tragödie muß er freilich verlangen, daß der dramatische Dichter sämtliche erklärungsmächtige Elemente innerhalb seines Stückes ansiedelt, so daß dieses dann als »Ganzes«, »das völlig sich rundet«, sagt Aristoteles, verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsers gleichen. Der Bösewicht ist weder dieses, noch jenes, folglich kann auch sein Unglück, weder das erste noch das andere erregen.Zusammenhanges< steht dabei außer Zweifel. Und das unvermittelte >radikal Böse< hat in einer solchen >atragischen< Konzeption der Tragödie, die tatsächlich zu einer dramatisierten Theodizee gerät, ganz offensichtlich keinen Platz.499 Bei Lessings Auseinandersetzung mit Weißes Richard der Dritte gibt es also mindestens zwei Dimensionen, in denen das Böse eine wichtige Rolle spielt: die der individuellen Charaktergestaltung und die der Gesamtanlage des Stücks. Ein Vergleich mit Goethes Sturm und Drang-Poetik muß also die beiden Aspekte zunächst getrennt betrachten. Auf der Ebene der Charaktergestaltung stellt sich etwa die Frage, ob Goethes Bezeichnung dessen, »was wir bös nennen«, als »die andre Seite vom Guten« gegenüber Lessing auf eine Rehabilitierung böser Charaktere zielt. Dies scheint schon auf den ersten Blick nicht recht wahrscheinlich. Denn zumindest in seiner Dramenpraxis kennt auch Goethe keine >radikal bösengemischte< Charaktere.500 (In seiner Poetik wäre dementsprechend ausdrücklich nicht vom >Bösensogenannten Bösem nicht allein auf die Gestaltung dramatischer Charaktere, sondern auf eine viel grundsätzlichere Fragestellung zielte, wird von einer aufschlußreichen strukturellen Parallele aus der Farce Götter, Helden und Wieland indirekt bestätigt: Im Sinne einer weit über Lessing hinausgehenden, bewußten Zurückweisung der Antagonie von lügend und Laster schleudert die Figur des Herkules dem (hier der Figur des 499 500
Vgl. Martino, Geschichte der dramatischen Theorien, S. 439-441. Vgl. Eudo C. Mason, Goethe's Sense of Evil. In: PEGS N.S. 34 (1963-64), S. 1-53, hier 7. Schon Wieland verteidigte in seiner Göfz-Rezension (vgl. unten) die Charaktergestaltung des Weislingen gegen den Vorwurf, ein >gemischter< Charakter passe nicht zu so bösen Taten: »Gerade so wie ich ihn gleich in den ersten Scenen wo er auftritt kennen leme, ist er der Mann, dem ich alles zutraue, was er im ganzen Stück tut. Kein durchausverdorbner Bösewicht; nichts weniger; nur ein weicher, wollüstiger, schwacher Mensch; eine Seele ohne Nerven; gut bei den Guten, aus Neigung; verkehrt bei den Verkehrten, aus Schwäche; gefühlvoll wie alle Wollüstlinge, aber unfähig Widerstand zu tun, wenn ihn ein Fürst, der ihn anlächelt, oder eine schöne, glattzüngige Schlange wie Adelheid, zum Bösen versucht. Das übrige, was ihn auszeichnet, ist bloß Verfeinerung dieser Naturanlage - Weltkenntnis, Hofsprache, Geschmeidigkeit; und alles zusammen macht eines von diesen gewöhnlichen Mitteldingen [!] aus, die alles sind, wozu man sie macht; selten Böses tun, als andern zu gefallen; gerne edel und bieder wären, wenn die Tilgend nur keine Opfer verlangte; in einem Anstoß von Weichherzigkeit die besten Vorsätze fassen, und etliche Wochen später, in der Trunkenheit einer betörenden Leidenschaft sich zu Werkzeugen der ärgsten Bubenstücke machen lassen.« (WW 3, 289f) Daß Wieland Goethes Intentionen trifft, bestätigt dessen zustimmende Äußerung im (schon zitierten) Gespräch mit Johann Fahimer vom 6.5.1774: »Meinen Weißlingen beurteilt er, wie ich ihn will gelesen haben. - Gut! Besser als Wieland versteht mich doch keiner.« (FA II, 1, 363)
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Wieland in den Mund gelegten) Vorwurf griechischer Amoralität und Lasterhaftigkeit eine bezeichnende Sentenz entgegen, die sich ganz generell gegen die binäre Logik der überkommenen Moralvorstellungen wendet: Laster das ist wieder ein schönes Wort. Dadurch wird eben alles so halb bei euch daß ihr euch Tilgend und Laster als zwei Extrema vorstellt zwischen denen ihr schwankt. Anstatt euem Mittelzustand als den positiven anzusehen, und den besten, wies eure Bauern und Knechte und Mägde noch tun.501 Der positiv gezeichnete beste »Mittelzustand« zwischen den weltfremden Idealvorstellungen von »Tilgend und Laster« 502 entspricht hier in mehrerer Hinsicht dem »gemäßigten Himmelsstrich« der Shakespeare-Rede. Im auffallenden Unterschied zur Leibnizschen Lehre, die das Böse - gewissermaßen dialektisch - durch ein übergeordnetes Gutes aufgehoben wähnt, ist Goethes Kategorie des sich aus dem Guten und dem >sogenannten Bösen< erst konstituierenden >Ganzen< also bildlich gesprochen - in der Horizontale und nicht in der Vertikale angelegt; 503
501
MA 1.1, 691f. Die Figur des Herkules steht freilich für eine Übertreibung der Goetheschen Position, vgl. die distanzierende Bemerkung im Brief an Lavater, 20.5.1774: »Herkules Geschwäzze ist warrlich [sie] nicht mein Gefühl. Es ist nur daß man die Hansen bey der Perriicke zupft und Sachen sagt, die wie Du sprichst, niemand Wort haben will.« (WA IV, 2, 162) 502 Diese Wendung hat nichts zu tun mit der Rede von dem gegen Extreme aller Art gesetzten ausgleichenden, vernünftigen Mittelwege dem Goethe um diese Zeit noch wenig abgewinnen kann; vgl. das Konzept des Briefs an den jungen Hetzler, 24.8.1770: »Die Mittelstrase zu treffen wollen wir nicht verlangen so lang wir iung sind. Lassen Sie uns unser Tagewerck verrichten und den alten nicht in das Handwerk pfuschen.« (WA I, 1, 244) Schon eher in Richtung der zitierten Passage weist die abschließende Formulierung des Briefes an Johann Christian Limprecht, 19.4.1770, wo Goethe berichtet, Straßburg sei »nicht ein Haar besser noch schlimmer als alles was ich auf der Welt kenne, das heißt sehr mittelmäßig und das doch gewisse Seiten hat, die einen zum Guten und Bösen in Bewegung setzen und aus seiner gewöhnlichen Lage bringen können« (WA IV, 1, 234). Der Begriff des >Mittelzustands< begegnet wörtlich, jedoch mit anderer Bedeutung im Konzept eines weiteren (wahrscheinlich an Katharina Fabricius gerichteten) Briefs: vgl. WA IV, 1, 249. 503 Deshalb scheint es auch wenig stichhaltig, hier mit Ermann, Goethes Shakespeare-Bild, S. 51, eine frühe Vorwegnahme der Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz >Die Natur< zu sehen, einen »Hinweis auf die Polarität in der Natur [...]. Der gemäßigte Himmelsstrich wäre dann die Steigerung im Sinne der innigsten Verbindung aus dem Entgegengesetzten.« Von einer Steigerung ist im Zitat aus der Shakespeare-Rede nichts zu bemerken. Darüber hinaus erklärt Goethe in seinen erst am 24.5.1828 niedergeschriebenen erläuternden Worten zu dem 1783 im Journal von Tiefurt wiedergegebenen Text Die Natur den »Begriff von Polarität und von Steigerung« zwar tatsächlich zu den »zwei großen Triebräder[n] aller Natur«, betont jedoch im selben Atemzug, dies sei der nachgelieferte »Superlativ« bzw. die »Erfüllung« der »Vorstellungen«, »zu denen sich mein Geist damals [1783!] ausgebildet hatte« (MA 18.2, 358f). Wenn Goethe 1828 die »Stufe damaliger Einsicht« rückblickend bloß »einen Komparativ nennen [möchte]«, dann ist die Projektion des späten >superlativischen< Diktums auf eine >vorkomparativische< Formulierung von 1771 völlig unangemessen. - Zur historischen Situierung der Gesamtproblematik vgl. Rolf Christian Zimmermann, Goethes Polaritätsdenken im geistigen Kontext des 18. Jahrhunderts. In: JbDSG 18 (1974), S. 304-347. 111
bestätigt wird das durch die Analogie des nicht über, sondern zwischen der »Zona torrida« und »Lapland« gelegenen >gemäßigten HimmelsstrichsGanzheit< ist demnach im Hinblick auf die Gesamtanlage des Dramas keine übergeordnete Kategorie auf einer dialektisch höheren Stufe, sondern bezeichnet eher eine Vorstellung von gesellschaftlicher Totalität: Shakespeare »führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.«504 Es geht hier offenbar um die >wertfreie< Integration extremerer Elemente der äußeren Wirklichkeit in die Welt des Dramas - um >naturalistische< Aspekte also, die bislang von der optimistisch-harmonistischen Dramentheorie der Aufklärung (mit ihrer Vorstellung von stofflicher Dezenz und poetischer Gerechtigkeit505) aus dem Theater ausgeschlossen waren. So hob Wieland in seinen (von Goethe verhöhnten) Briefen an einen Freund über das deutsche Singspiel Alceste (1773) hervor, er sei »genöthiget gewesen«, »die Alceste (auf Unkosten der Natur und Wahrheit) zu verschönern«.506 Denn die gleichnamige Figur des Euripides rede zwar »die Sprache einer edlen, tugendhaften Frau«, doch das »in einer Zeit, wo Übermaas von Geselligkeit und Verfeinerung die charakteristischen Züge eines jeden Geschlechts und Standes noch nicht wegpoliert hatte«.507 Gegenüber diesem Bild einer noch >unpolierten< Epoche und der darin entstandenen dramatischen Poesie mit >charakteristischen< Zügen versteht sich Wieland - hierin die geschichtsphilosophische Position der französischen >Modernes< vertretend508 selbst als »Dichter, der sich seit mehr als zwanzig Jahren zur Idee des Schönen emporgearbeitet hat«. 509 Aus dem genannten Leitbild folgen dann bestimmte Grenzen des Darstellbaren, die etwa eine dramatische Darstellung von »Verzweiflung« ausschließen: »das Gesetz des Schönen ist für alle schönen Künste ein Grundgesetz, das keine Ausnahme leidet; und wie könnte man wüthende Verzweiflung schön mahlen?« 510 Dem gerade an »Natur und Wahrheit« orientierten jungen Goethe hingegen ist »das Gesetz des Schönen« als regulatives ästhetisches Prinzip längst abhanden gekommen, 511 weshalb ihm Wielands Ansinnen bloß zum Spott gereicht.512 Dasselbe gilt auch für die ethische Vorgabe der charakterlichen Tugendhaftigkeit. 513
504
MA 1.2, 414; Hervorhebung vom Verf. Vgl. dazu Martino, Geschichte der dramatischen Theorien, S. 441-448. 506 WGS I, 9, 395. 507 WGS I, 9, 396. 508 Vgl. etwa Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994, S. 87f. 509 WGS I, 9, 399. 510 WGS I, 9, 404. 511 Vgl. II.4.2. 512 Vgl. MA 1.1, 682. 513 Wieland zeichnet den Herkules als Mann, »der fiir die Tugend alles thut, alles wagt« (WGS I, 9, 385), der nachgerade von einem »Enthusiasmus für die lügend« (WGS I, 9, 390) beseelt sei, was wiederum Goethes höhnischen Spott hervorruft: vgl. MA 1.1, 690. 505
112
Welche Provokation Goethes Relativierung des strikten Gebots von Sitte und Anstand für die damaligen Moralkonventionen darstellte, deutet er selber an, indem er in seiner Farce der Figur des Wieland als Reaktion auf das zitierte Diktum des Herkules den empörten Ausruf in den Mund legt: »Ihr seid ein Unmensch! Ein Gotteslästerer!« 514 Diese Worte stehen für die christliche wie auch für die moralphilosophische Tradition.515 Tatsächlich bezeichnete Wieland wenig später in seiner (insgesamt lobenden) Rezension des Götz von Berlichingen, die 1774 im JuniHeft des Teutschen Merkur erschien, Goethe ironisch als Dichter, »dessen Philosophie auf den Grundsatz das Böse sei gut, und das Gute, böse, das Schöne, häßlich, und das Häßliche, schön, - gebaut ist«. 516 Wieland war zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner kritischen Bemerkung wegen des Erscheinens von Götter, Helden und Wieland etwas verstimmt, wie sich einigen Andeutungen in seiner Besprechung und Goethes eigenen lamentierenden Worten aus einem Brief an Sophie von La Roche vom Frühjahr 1774 entnehmen läßt. 517 Die Lektüre der von ausgesprochener Großmut zeugenden Wielandschen Antwort auf die >Personal-SatyreBösen< in einem ebenfalls gutwillig-ironischen Ton Bezug:
514
MA 1.2, 692. Vgl. Mason, Goethe's sense of Evil, S. 11. 516 WW 3, 294. 5,7 An Sophie von La Roche, Ende Mai 1774 (datiert nach HAB 1, 160; 3DjG 4, 16; FA II, 1, 366): »Liebe Mama ich begreiffe die Menschen nicht, ich muss mich noch so offt über sie wundem, und daran spür ich dass ich jung binn. Sonst wenn ich von einem grosen Geiste hörte, so gab meine Einbildungskrafft dem Mann eine Stärcke, eine hohe Vorstellungsart, und übrige Apertinenzien, und nun wie ich sie kennen lerne die Herrn, ists mit ihnen nicht besser, als einem eingeschränkten Mädgen deren Seele überall anstöst, und deren Eitelkeit mit einem Winckgen zu beleidigen ist. Ich dachte Wieland sollte sich so albern nicht gebärden. Denn was ist an der ganzen Sache? Ich hab ihm ein Gartenhäusgen seines papiernen Ruhms abgebranndt, ihm ein wächsern Desert Parterrgen verheert, kommt er darüber auser sich, was wird er erst gegen das Schicksaal toben, das mit unerhörter Impertinenz den Seschianischen Pallast, mit soviel Kunstwerken und Kostbaarkeiten, die Arbeit sovieler Hundert Menschenseelen, in Vierundzwanzig Stunden in die Asche legt.« (WA IV, 2, 164f; dazu die Komm, in HAB 1, 603f u. 3DjG 4, 329f) Die Weimarer Ausgabe datiert den Brief auf Mitte Juni 1774, was aber unmöglich ist, da sich zu diesem Zeitpunkt die Verstimmung zwischen Wieland und Goethe schon wieder gelegt hatte; vgl. unten. 518 Vgl. den wohl Anfang Juni 1774 (so datiert 3DjG 4, 17) verfaßten Brief an Sophie von La Roche, wo es heißt: »Ich habe des künftigen Merkurs Stellen gelesen, die mich betreffen. Er tracktirt die Sache wie ein braver Kerl, der vest im Sattel sizt. Ich habe nie was gegen ihn gehabt, und nun verzeih ich ihm auch seine Lästerungen wieder meine Götter!« (WA IV, 2, 163) 515
113
Un livre croyez moi n'est pas fort dangereux. Das Gute und das Böse, rauscht von [sie] den Ohren vorbey die nicht hören. Und ist das böse nicht gut und das gute nicht bös? Hass ich Wielanden, lieb ich ihn? - es ist wahrhafftig all eins - ich nehme Anteil an ihm -519 In diesen scheinbar spielerischen Wendungen offenbart sich wieder Goethes radikale Infragestellung des moralischen Dualismus, der jedem normativen Sittenkodex notwendig zugrundeliegt; »von einem schroff-antithetischen Dualismus der moralischen Welt« wollte Goethe offenbar schon damals »nichts wissen«. 5 2 0 Ausgeführt wird das brisante Thema - einer Formulierung aus Wielands Göfz-Rezension folgend 521 - am Beispiel des Feuers, das bekanntermaßen lebenserhaltend und lebensvernichtend zugleich ist: Ja liebe Mama es ist wahr, Feuer das leuchtet und wärmt nennt ihr Seegen von Gott, das verzehrt - nennt ihr Fluch! Seegen denn und Fluch! - binn ich euch mehr schuldig als die Natur mir schuldig zu seyn glaubte, leuchtete nicht mir, wärmts nicht - und verzehrt auch - nennen Sie mich bös, und lieben Sie mich.522 Das Gleichnis vom (zugleich >guten< und >bösenMittelzustands< bzw. des >gemäßigten Himmelsstrichsc »Conflict des bösen und guten kann nicht ästhetisch dargestellt werden: denn man muß dem Bösen etwas verleihen und dem Guten etwas nehmen, um sie gegeneinander ins Gleiche zu bringen.« Folgende Beispiele werden genannt: »Miltons verlohrnes Paradieß, wo eigentlich das Interesse auf Seiten des Teufels ist.« Und: »Die Messiade in diesem Sinn betrachtet.«557 Wie Goethe dann im 10. Buch seiner Memoiren anläßlich der rückblickenden Diskussion von Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield (1766) hervor552 553
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556
557
Entretiens sur le fils naturel (DOE 119). Das Theater des Herm Diderot, S. 125. Vgl. Saada, Diderot und der Sturm und Drang, S. 28 u. 33f. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 62f. Rousseaus Vorbehalte sind anthropologisch fundiert: Schon im Discours sur l'inégalité heißt es: »Tel est le pur mouvement de la Nature, antérieur à toute réflexion: telle est la force de la pitié naturelle, que les moeurs les plus dépravées ont encore peine à détruire, puisqu'on voit tous les jours dans nos spectacles s'attendrir et pleurer aux malheurs d'un infortuné, tel, qui, s'il etoit à la place du Tiran, aggraverò« encore les tourmens de son ennemi.« (ROC 3, 155) An dieses bloß erläuternde Beispiel zur Macht des natürlichen Mitleids knüpft dann die Argumentation der Lettre à d'Alembert (1758) an: »J'entens dire que la tragedie méne à la pitié par la terreur; soit; mais quelle est cette pitié? une émotion passagère et vaine, qui ne dure pas plus que l'illusion qui l'a produite; un reste de sentiment naturel étouffé bientôt par les passions; une pitié stérile, qui se repait de quelques larmes, et n'a jamais produit le moindre acte d'humanité.« (ROC 5, 23) Vgl. Bernd Bräutigam, Rousseaus Kritik ästhetischer Versöhnung. Eine der Bildungsästhetik Schillers. In: JbDSG 31 (1987), S. 137-155. WA I, 27, 389.
Problemvorgabe
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hebt, bedarf es in der Dichtung ganz allgemein einer »ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt«.558 Diese für Goethes weitere poetische Praxis folgenschwere Erkenntnis kündigt sich schon in der Shakespeare-Rede des erst zweiundzwanzigjährigen Dichters an.
558
MA 16, 461.
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II. Ästhetische Konzeption und Konzeption der Ästhetik im Essay Von deutscher Baukunst (1772). Mit Blick auf die Frankfurter gelehrten Anzeigen
Alexander Pope hatte am Ende der Vorrede zu seiner Shakespeare-Ausgabe den großen Dramatiker in eine bezeichnende Analogie gebracht: er meinte nämlich, man könne, ungeachtet aller seiner Fehler und aller Unregelmässigkeit seines Dramas, seine Werke, in Vergleichung mit andern die regelmässiger und auspolierter sind, so ansehen, wie man ein altes Majestätisches Werk von Gothischer Bauart in Vergleichung mit einem feinen neuen Gebäude ansieht: das leztere ist zierlicher und schimmernder, aber das erste ist daurhafter und feyrlicher. Man muß gestehen, daß in einem einzigen von jener Art Materialien genug sind, etliche von der andern zu machen. Es hat weit eine grössere Manchfaltigkeit, und weit edlere Gemächer und Säle, ob wir gleich oft durch finstre und enge Zugänge darein gefuhrt werden; und das Ganze rührt uns darum nicht minder mit grösserer Ehrfurcht, wenn schon manche Theile kindisch, übelangebracht, und in keinem Verhältniß mit seiner Grösse sind.1
Das tertium comparationis zwischen Shakespeares Dramen und dem gotischen Bauwerk stiftet sich zunächst über qualifizierende Begriffe wie »Unregelmässigkeit«, »daurhafter und feyrlicher«, »Manchfaltigkeit«, >edelfinsterVon deutscher BaukunstOffenbarung< des Genius, in der u.a. die »geheimnisvollen Kräfte« beschworen werden, »die jene beiden Türme hoch in die Luft heben sollten«. In deutlicher Entsprechung zu ihrer >verkündigenden Funktion< hatten die geplanten Türme demnach die Bestimmung, daß ihnen »die Provinzen umher huldigten«.101 Das Zentrum der >Offenbarungwahren< Schönheit des Münsterbaus: Alle diese Maßen waren notwendig, und siehst du sie nicht an allen älteren Kirchen meiner Stadt. Nur ihre willkürliche Größen hab ich zum stimmenden Verhältnis erhoben. Wie über dem Haupteingang, der zwei kleinere zu'n Seiten beherrscht, sich der weite Kreis des Fensters öffnet, der dem Schiffe der Kirche antwortet und sonst nur Tageloch war, wie, hoch drüber der Glockenplatz die kleineren Fenster forderte! das all war notwendig, und ich bildete es schön.102
Präludiert wurde diese emphatische Passage durch eine Vielzahl kleinerer motivischer Elemente: Gemeint sind Formulierungen wie »notwendig schön«, »notwendig und wahr«, »lebendige Schönheit«, »Wahrheit und Schönheit«.103 Sie stehen für eine bemerkenswerte ornamentale Vielfalt, für eine kombinatorische Variationsbreite, die einen ständigen motivischen Wandel bewirkt und bis in gegenläufige Bewegungen und Verschränkungen im Krebsgang verfolgt werden kann. Veranschaulichen läßt sich das an dem als »Geist der Massen«104 oder »Harmonie der Massen«105 eingeführten Massen-Motiv: Während dem >ermatteten< Betrachter des Münsters in der »Abenddämmerung« zunächst »die unzähligen Teile, zu ganzen Massen schmolzen«, erscheinen ihm, »aus dem Schlummer« geweckt, bei Sonnenaufgang und dem Erwachen der Vögel »die großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt«.106 Die auch orthographisch versinnbildlichte "MA MA 101 MA 102 MA 103 MA 104 MA 105 MA 106 MA 100
1.2, 415f. 1.2, 418. 1.2, 419. 1.2, 419. Die Laut-Elision »zu'n Seiten« ist typisch für Goethes Geniestil. 1.2, 415f. 1.2, 416. 1.2, 418. 1.2, 419. Die »leiblichen Erfahrungen von Müdigkeit und Erwachen, von Niedersin-
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Subsumption von Mannigfaltigkeit unter dem Prinzip der organischen Einheit durchzieht - »alles zweckend zum Ganzen«107 - den gesamten Text: »die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen«108, »Ein, ganzer, großer Eindruck« der »aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand«109, »das Werk des Meisters, der zuerst die zerstreuten Elemente, in Ein lebendiges Ganze zusammen schuf« 110 , »denn Eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen«.111 Trotz aller Statuierung von >Einheit< und >Ganzheit< vermeidet Goethe dabei gezielt den Eindruck, konstitutive »Widersprüche« systematisch nivellierend zu »vereinigen« ein Ansinnen, das auch dem bewegten »teurefn] Jüngling«112 verwehrt bleiben muß. Es sind vielmehr gerade (scheinbar) paradoxe Verbindungen, die das Inkommensurable der genialen Schöpfung bezeichnen. An Beispielen dafür ist kein Mangel. Etwa: »wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit.«113 Oder: »Und laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehn, sie wird ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen«. 114 Die auffallende innere Bewegtheit115 des Baukunst-Aufsatzes resultiert also weniger aus einer umfassenden argumentativen Progression,116 als vielmehr aus dem Umstand, daß keine einzige Formulierung unverändert wiederkehrt. Solcherart findet sich die thematisierte Organik des einzigartigen gotischen Bauwerks in der bewegten Sprache des >lebendigen< Textes reflektiert.117 Jeder Ansatz eines größer angelegten argumentierenden Fortschreitens etwa im Sinne der Dialektik wird durch ständige Verschiebungen und eine stets neue >ornamentale< Kombinatorik innerhalb der zwar auf binären Oppositionen beruhenden Begrifflichkeit tendenziell doch wieder unterminiert. Wenn begrifflich nichts identisch bleibt und alles dem ewigen Wandel unterworfen erscheint,118 dann fehlt einem systematisch-
ken und Aufstehen [...], die der junge Goethe als Schlüssel benutzt, um das Geheimnis des Ganzen - bei aller Vielfalt - in der gotischen Architektur des Straßburger Münster [sie] sich zu öffnen«, führt Hans Dietrich Irmscher auf Herder zurück: H. D. I., Zur Ästhetik des jungen Herder. In: Johann Gottfried Herder 1744-1803. Hg. v. Gerhard Sauder. Hamburg 1987 (=Studien z. 18. Jhdt. 9), S. 43-76, hier 75f; vgl. dazu II.4.3. 107 MA 1.2, 420. 108 MA 1.2, 417. 109 MA 1.2, 418. 110 MA 1.2, 420. '"MA 1.2, 421. 1,2 MA 1.2, 420. 113 MA 1.2, 420. 1.4 MA 1.2, 421. 1.5 Vgl. die Stilanalyse in Kremer, Von deutscher Baukunst, S. 565f. "'Freilich hat der Baukunst-Aufsatz - anders als die Shakespeare-Rede - neben seinem dithyrambischen Gestus auch eher argumentierende Passagen, die an Goethes kritischpolemischen Stil der FG/4-Rezensionen erinnern. 117 Vgl. dazu Liess, Goethe vor dem Straßburger Münster, S. 44 u. 47f. 118 Dies entspricht Goethes erkenntnistheoretischer Orientierung an der Organik; vgl. schon das Konzept des Briefes an Hetzler jun., 24.8.1770: »Dabey müssen wir nichts seyn, sondern alles werden wollen, und besonders nicht öffter stille stehen und ruhen, als die
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synthetischen Verfahren das nötige terminologische Fundament. Dies soll jedoch keineswegs heißen, daß dem Baukunst-Aufsatz und seinen ästhetischen Aussagen keine integrative theoretische Gesamtkonzeption zugrunde liegt. Das Gegenteil ist der Fall: Indem begriffliche Fixierungen und Abstraktionen bewußt vermieden werden, entspricht seine textuelle Gestalt nämlich wiederum zentralen anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen des sensualistischen Genie-Diskurses, deren kognitive Implikationen für die Ästhetik des jungen Goethe im folgenden Kapitel untersucht werden sollen.
2.
Ein Abschied vom Prinzipiellen aus dem Geist sensualistischer Vernunftkritik
In konzentrierter Form exponiert die erste, noch beiläufige Anspielung auf das Problem ästhetischer Erfahrung im Baukunst-Aufsatz sogleich dessen gesamte erkenntnistheoretische Problematik in nuce: »ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter«.119 Gemeint ist mit dem Pronomen »dich« wohl nicht allein der (vermeintliche) Kirchenarchitekt Erwin von Steinbach, sondern auch sein >Werkganzen Seelen< durchaus entbehren können. Da die direkt folgenden Worte keine nähere Auskunft geben, ist der Leser zum Verständnis des flüchtigen Ausspruchs auf den weiteren Verlauf des Textes angewiesen. Doch auch dieser erlaubt, aus seinem historisch-diskursiven Kontext gelöst, nur äußerst mangelhaften Aufschluß. Es empfiehlt sich deshalb ein Blick über die engeren Textgrenzen hinaus. Geklärt werden muß dabei zunächst einmal Goethes damaliges Verständnis des Terminus >erkennenRokoko-Tändelei< gibt sich Goethe schon lange vor seiner Begegnung mit Herder unNothdurfft eines müden Geistes und Körpers erfordert.« (WA IV, 1, 244) Mehr zu dieser Problematik in II.4.4. MA 1.2, 415. 120 WA IV, 1, 206. Die positiv gewendete »Erfahrung« als »Wissenschaft« steht hier für sinnlich vermittelte Empirie, nicht für deduktiv gewonnene systematische Erkenntnis, die an anderen Stellen von Goethe mit demselben Terminus bedacht wird; vgl. etwa den Brief an Hetzler jun., 14.7.1770: »lassen Sie mir die Freudenfeindliche Erfahrungssucht, die Sommervögel tödtet und Blumen anatomirt, alten oder kalten Leuten« (WA IV, 1, 239). 119
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mißverständlich als Anhänger des erkenntnistheoretischen Empirismus bzw. Sensualismus zu erkennen. Zum besseren Verständnis sei hier der größere historisch-diskursive Zusammenhang in groben Zügen skizziert: Nachdem die Protagonisten des (noch umfassend verstandenen) weltanschaulichen Rationalismus< zu Beginn der Frühen Neuzeit - in polemischer Absicht - vehement die Rehabilitation der Sinnlichkeit verfochten hatten, konnten sie sich sukzessive gegenüber dem alten (sinnenfeindlichen) ontologischen Rahmen der Theologie etablieren.121 In dem Maße, wie diese Durchsetzung erfolgreich verlief, zerbrach allerdings auch die polemisch gestiftete Verbindung122 in »eine rationalistische (intellektualistische) und eine empiristische Strömung. Der Rationalismus als weltanschauliche, auf [...] programmatisch-polemischen Annahmen beruhende Grundhaltung muß vom erkenntnistheoretischen und vom moralischen Rationalismus (Intellektualismus) streng unterschieden werden. Dieser letztere ist nur eine der möglichen gedanklichen Ausführungen bzw. Rationalisierungen des weltanschaulichen Rationalismus, sowie der Empirismus bzw. Sensualismus die andere ist.«123 Tatsächlich verläuft die umrissene Entwicklung freilich in einem komplexen und historisch wechselhaften »Differenzierungsprozeß«,124 der sich nur schematisch unter die beiden genannten >Grundhaltungen< bzw. >Ausgangspunkte< subsumieren läßt, an dieser Stelle aber nicht weiter verfolgt werden kann. Klar ist indes, daß Goethe von Beginn an eindeutig in die empiristische bzw. sensualistische Richtung tendierte und gegen abstrakt systematisierende Ansätze stets äußerst skeptisch blieb. Im Rahmen dieser großflächigen kulturhistorischen Veränderungen erfolgte nun der wissenschaftsgeschichtliche Siegeszug einer neuen erkenntnistheoretischen Disziplin, der zeitlich mit Goethes intellektueller Sozialisation koinzidierte: Gemeint ist die von Alexander Gottlieb Baumgarten mit dem - heute mißverständlichen - Namen >Ästhetik< benannte »Wissenschaft von den >aisthetaAesthetica< erstmals einführten, 126 forderte Baumgarten »eine Theorie der Sinnlichkeit mit der systematischen Absicht, den Künsten endlich, wie es schon den >Schweizern< für die Poetik vorgeschwebt habe, eine tragfähige philosophische Basis zu geben«.127 Und in seiner einschlägigen Hauptschrift, der Fragment gebliebenen Aesthetica (1750/58), definiert er seinen Objektbereich in der überkommenen Begrifflichkeit der Schulphilosophie entsprechend: »§ 1 AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae.«128 Aufbauend auf Baumgartens Lehre verfaßte dann dessen Schüler Georg Friedrich Meier das ausführliche Lehrbuch Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748-50) in deutscher Sprache, wodurch er eine Popularisierung der neuen erkenntnistheoretischen Disziplin »über den Universitätsbereich hinaus« ermöglichte129 und somit etwa über die Rezeption Herders130 - auch auf die Theoriebildung des Sturm und Drang wirken konnte.131 Wie sich noch zeigen wird, nahm Goethe an der Reflexion über >ÄsthetikAesthetica< (1750/58). Hg. v. H. R. S. Hamburg 1983 ^Philosophische Bibliothek 355), S. VII-XVI. 126 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Lat.dt. Übers, u. hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983 (=Philosophische Bibliothek 352), S. 85-87, § CXVI; die Definition des Objektbereichs der solcherart inaugurierten >Ästhetik< findet sich ebd. in § CXV. 127 Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990 (=Forschungen u. Berichte d. Evangel. Studiengemeinschaft 45), S. 19. 128 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der >Aesthetica< (1750/58). Lat.-dt. Übers, u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983 (=Philosophische Bibliothek 355), S. 3; ebd., S. 2 in deutscher Übersetzung: »§ 1 Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens[)] ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.« 129 Christoph Siegrist, Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hg. v. Rolf Grimminger. München 2 1984 (=Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3), S. 280-303, hier 300f; vgl. auch Solms, Disciplina aesthetica, S. 115f. 130 Herder kannte freilich sowohl die Werke Baumgartens, als auch jene Meiers. 131 Zur Bedeutung der Ästhetik als »Logik des unteren Erkenntnisvermögens« für die Theoriebildung des Sturm und Drang vgl. die Hinweise von Gerth, Poetik des Sturm und Drang, S. 58-60. 132 Vgl. Solms, Disciplina aesthetica, S. 16; Schweizer, Einfiihrung, S. IXf.
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Aesthetik aus dem ersten Band von Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste. 133 Zumindest hat Goethe nachweislich von der traditionellen philosophischen Trennung unterschiedlicher Erkenntisvermögen Notiz genommen, wie eine (freilich relativ vage) Formulierung aus den Frankfurter gelehrten Anzeigen verrät.134 An der neuen erkenntnistheoretischen Disziplin interessierten ihn sicherlich besonders deren Auswirkungen auf die Kunsttheorie bzw. auf die Theorie des Kunstschönen. Goethe, der großen systematischen Entwürfen und logischen Operationen zeitlebens eher skeptisch gegenüberstand,135 sah hier offenbar die Möglichkeit einer induktiven Gewinnung von ästhetischen Erfahrungswerten im engeren Sinne, wodurch er sich von dem nach wie vor deduktiv verfahrenden Baumgarten, von dessen streng wissenschaftlichen Absichten und den damit einhergehenden methodologischen Aponen freilich ganz grundsätzlich unterscheidet.136 Daß sein (im zitierten Brief an Friederike Oeser nur beiläufig geäußertes) empiristisches Credo schon in den späten sechziger Jahren gerade im Bereich der Ästhetik als Kunsttheorie eine bevorzugte Anwendung findet, bestätigt der bekannte Brief an Adam Friedrich Oeser vom 9. November 1768, der die große Bedeutung des Leipziger Lehrers für den jungen Goethe resümiert; schon hier wird sinnliche Erfahrung gegen die rationalistische (i.e. im folgenden immer >intellektualistischemorphologische< Rekonstruktion der unvollendeten TUrmspitzen des Straßburger Münsters berichtet; er resümiert: »so sollte es mir immer ergehn, daß ich durch Anschaun und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriffe gelangen mußte, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte.« (MA 16, 532) 149 MA 1.2, 398. 150 Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 2, S. 15, führt das systemkritische Denken Goethes auf die hermetische Tradition zurück, wobei er insbesondere auf den systemfeindlichen Charakter des hermetischen Eklektizismus abhebt. So zutreffend das auch sein mag, gilt es indes genauso für den nicht-hermetischen Eklektizismus. 151 Vgl. etwa Keller, Goethes Hymnus, S. 14, Anm. 20, bes. aber S. 22-28. 148
2.1 Ästhesiologie und Kunstwahrnehmung Daß Goethe sich zur Zeit der Konzeption des Baukunst-Aufsatzes tatsächlich intensiv mit Herders Anthropologie und Erkenntnistheorie auseinandersetzte, belegt etwa der schon zitierte >Pindar-Brief< vom Juli 1772. Es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um die Beschäftigung mit den Fragmenten (1766/67), deren Lektüre hier ausdrücklich erwähnt wird, sondern auch mit Herders noch unveröffentlichter Plastik, deren erste Niederschrift 1768-70 erfolgt war und deren Grundthese Goethe offenbar aus der Handschrift (oder aus mündlicher Mitteilung) kannte. Darauf läßt zumindest eine deutliche Anspielung in einer kritischen Analyse des eigenen »spechtischen Wesens« schließen; er sei nämlich, schreibt er dem älteren Freund, »überall herumspaziert«, habe »überall nur dreingeguckt« und »nirgends zugegriffen«, doch: Drein greifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft. Ihr habt das der Bildhauerei vindicirt, und ich finde, daß jeder Künstler, so lange seine Hände nicht plastisch arbeiten, nichts ist. Es ist alles so Blick bei Euch, sagtet Ihr mir oft. Jetzt versteh' ichs, thue die Augen zu und tappe. Es muß gehn oder brechen. Seht, was ist das für ein Musicus, der auf sein Instrument sieht!152
Goethe benennt hier das geradezu topische Credo Herders von der Zerstreuung durch das Auge, dem oberflächlichsten der Sinne, und setzt an dessen Stelle die von Herder ausdrücklich empfohlenen >tappendenplastisch arbeitendem Hände. Herder selbst hatte diese Umwertung gerade in der (nur handschriftlich überlieferten) Erstfassung der Plastik begründet: Im Zusammenhang einer Diskussion der unterschiedlichen Darstellbarkeit des >HäßlichenPindar-Brief< von Irmscher, Goethe und Herder, S. 31, Anm. 24: »Bis zu diesem Zeitpunkt kannte Goethe von Herders Schriften vermutlich nur das erste der >Kritischen WälderPindar-Brief< bestätigt, orientiert sich Goethes Analyse des eigenen »spechtischen Wesens« offensichtlich an der >augenkritischen< Ästhesiologie Herders. Dies wäre von sich aus jedoch nicht unbedingt zwingend. Schon in den wenigen überlieferten Fragmenten aus dem verlorenen Briefroman Arianne an Wetty, die von Hanna Fischer-Lamberg auf das Frühjahr 1770 datiert worden sind,156 stehen die bezeichnenden Sätze: Der kältste Sinn ist das Sehen, Erkenntnis ist sein Gefühl, und drum behaupte ich, daß man das nie mit einem zärtlichen Herzen lieben kann, was allein Ansprache macht unsern Augen zu gefallen. Ein Edelstein, ist das herrlichste Werk der toten Natur, aber er ist tot; und die eifrigste Betrachtung davon ist doch immer kalt; man muß ein Holländer sein um mit einer Hilpe zu sympathisieren, und dann ist auch die Sympathie dieser Wassermänner sehr phlegmatisch. [...] Und so meine liebe [sie] halt ich das Sehen für eine Vorbereitung der übrigen Sinne denn der Geruch ist Genuß und das Gehör und der Geschmack, das Sehen nicht.157
Höchst unwahrscheinlich ist es vor dem Hintergrund der erst im August 1770 erfolgten Bekanntschaft Goethes mit Herder, daß es sich bei dieser Passage aus Arianne an Wetty um eine Anlehnung an die zitierten Worte aus der noch unveröffentlichten Plastik handelt, oder gar um einen direkten Anklang an die noch ähnlichere Formulierung »Das Sehen ist der kälteste Sinn« aus der 1770 verfaßten und 1771 preisgekrönten Arbeit Über den Ursprung der Sprache.158 Diese hatte Herder dem jungen Goethe einige Monate nach der Niederschrift der Passage aus dem Goetheschen Briefroman (angeblich) in handschriftlicher Form »heftweise« mitgeteilt. Im Rückblick berichtet Goethe zwar, er habe »die Abhandlung mit großem Vergnügen und zu meiner besondern Kräftigung« gelesen, äußert jedoch die Einschränkung: »allein ich stand nicht hoch genug, weder im Wissen noch im Denken, um ein Urteil darüber zu begründen.«159 Es ist indes gar nicht nötig, zur Relativierung der traditionellen >einflußphilologischen< Suche nach einem »Ursprungsort bei Herder« 160 auf die (ohnehin bloß rekonstruierte) Entstehungschronologie oder auf (relativ ungenaue) retrospektive Selbstaussagen des alten Goethe zurückzugreifen. Vor dem Hintergrund der Herderschen Thesen überrascht zum
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Vgl. 3DjG 2, 287f, wo als Eckdaten der 20. Februar und der Juli 1770 gegeben werden; zustimmend Sauder (MA 1.2, 769f). Zunächst wurde das Fragment Arianne an Wetty sogar auf das Jahr 1767, dann auf 1769 datiert (vgl. Erich Schmidts Ausführungen in Scherer, Aus Goethes Frühzeit, S. 1-3), wegen der Analogie zu Herders Plastik aber bald behauptet, es könne »erst in Strassburg nach der Bekanntschaft mit Herder und dessen damaligen Gedanken über die Eigenart der Sinne geschrieben« worden sein (Minor in Minor/Sauer, Studien zur Goethe-Philologie, S. 82, Anm. 2). 157 MA 1.2, 192. 158 Über den Ursprung der Sprache, 1. Tl., 3. Abschn., 2. Kap. (HW 2, 297; FHA 1, 745). 159 Dichtung und Wahrheit, 10. Buch (MA 16, 438). 160 So Leitzmann, Der junge Goethe und Herders Schriften, S. 154. Gerade das gegenwärtige Beispiel dient dagegen Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 2, S. 36, aus chronologischen Gründen als »Warnung vor übertriebenem Zuschreibungsbemühen«.
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einen schon das Fehlen des für Herder zentralen >GefuhlsSehenGeruchGehör< und den >Geschmack< auflistet. Zum anderen erwähnt Goethe ausdrücklich, er halte »das Sehen für eine Vorbereitung der übrigen Sinne«, was dem Herderschen Credo diametral entgegenläuft, hatte dieser doch schon im 2. Stück des Vierten Kritischen Wäldchens erklärt, das »Gesicht« sei der kälteste unter den Sinnen. Es ist aber auch eben deswegen der Künstlichste, der Philosophischte [sie] Sinn: es wird nur, wie es Blindgewesene zeugen, mit vieler Mühe und Übung erlangt; es beruhet auf vielen Gewohnheiten und Zusammensetzungen: es würkt nicht anders, als durch unablässiges Vergleichen, Messen, und Schließen: es muß uns also, auch in dem es würkt, zu allen diesen feinen Seelenbeschäftigungen, Kälte und Muße lassen, ohne die es nicht würken kann [...].161
Bekanntlich hat Herder sein eigenes Manuskript des Vierten Kritischen Wäldchens, insbesondere dessen 2. Stück, für die Plastik (wie auch für andere Studien) >geplündertphilosophisch< hier (wie auch in der eben zitierten Passage) im Sinne von >abstraktSehens< als genußlose, rein erkenntnishafte »Vorbereitung der übrigen Sinne« - es dient als Gegenbild der tiefdringenden, liebenden >Empfindungphysiologischen< Konnex Goethes Gedichte An Kenner und Liebhaber sowie Kenner und Künstler, die beide wahrscheinlich 1774 entstanden, aber erst 1776 veröffentlicht wurden: MA 1.1, 258 (dazu Sauders Komm. MA 1.1, 888). Das erotische Moment des Tastens ist freilich auch in Herders Plastik-Studien wie in seinen späteren Statuenbeschreibungen gegenwärtig: vgl. Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 71; Helmut Pfotenhauer, Gemeißelte Sinnlichkeit. Herders Anthropologie des Plastischen und die Spannungen darin. In: H. P., Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991 (=Unters. z. dt. Literaturgesch. 59), S. 79-102. 168 MA 1.2, 192. Sauder erläutert in seinem Kommentar, allein schon Goethes »Wortwahl (>superfiziellkavalierementtiefdringendHerder-Einflusses< argumentiert auch Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 2, S. 32-38, wobei er die nach Herders Entthronung freiwerdende
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Straßburger Münster aber tatsächlich ästhetische und anthropologische Kategorien Herders aneignet, diese dadurch freilich auch wiederum verändert und kreativ weiterentwickelt, kann erst anhand einer genauen Textanalyse überprüft werden. Daß es Goethe etwa keineswegs um die Substitution des >Schauens< durch das >Tasten< zu tun ist, geht aus dem Wortlaut seiner dithyrambisch gehaltenen >Beschreibung< der Münsterfassade - die defacto nicht das Bauwerk, sondern die von ihm ausgelöste Empfindung beschreibt177 - deutlich genug hervor: Da ist im entscheidenden 3. Teil vom »Anblick«178 die Rede, der das allgemeine konventionelle »Hörensagen« augenblicklich verdrängt. Da wird die tägliche Rückkehr zum Münster beschworen mit der ausdrücklichen Absicht »zu schauen seine Würde und Herrlichkeit«. Und da wird in der »Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug, mit freundlicher Ruhe geletzt«. Doch bloß für eine Nacht: »Bis die Vögel des Morgens [...] der Sonne entgegen jauchzten« und den >ahndenden< Betrachter »aus dem Schlummer weckten«. Das Licht der Sonne bringt dabei auch das Werk des Genius zum >LeuchtenWandprinzip< entstandenen - ausdrücklich und konsequent als »Flächen«. 208 Daß er in seinem gesamten Essay jeden Ansatz einer räumlichen Beschreibung des Münsters tatsächlich bewußt vermied, bestätigt er rückblickend im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit: »Das Innere dieser würdigen Gebäude wagte ich nur durch poetisches Anschauen und durch fromme Stimmung zu berüh-
Kräfte, mit denen er überwunden, des Zufalls, der ihm geholfen, des Geists, der in gewissen Augenblicken über ihn gekommen, und ihn auf sein Leben erleuchtet, bis er zuletzt immer zunehmend sich zum mächtigen Besitz hinauf geschwungen, und als König und Überwinder, die benachbarten Künste, ja die ganze Natur zum Tribute genötigt.« Diese Worte erinnern an eine Passage aus Salomon Geßners Brief über die Landschaftsmahlerey (1770), welchen Goethe spätestens durch deren Wiederabdruck in den - von ihm selbst in den FGA 68 (25.8.1772), S. 537-540, rezensierten - Moralischen Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner (1772) kennenlernte; dort heißt es u.a.: »wie unendlich nützlich müßte das für die Kunst seyn, wenn man mehr die Geschichte der Kunst, durch was für Mittel Künstler zu ihrer Grösse gelanget sind, was für Schwierigkeiten, und wie sie solche überwunden, was sie auf ihrem Wege und bey ihrer Entwicklung für Bemerkungen gemacht haben, in der Mahler-Geschichte finden würde. Ihre Werke würden vielleicht weniger gelehrt als die Werke gelehrter Kenner seyn; aber sie würden Sachen enthalten, die sie jeder unter seinen besondern Umständen, jeder bey seinem Anwachs und bey seinen Arbeiten gemacht, auf die der Kenner niemals kommen kann.« Zit. nach: Salomon Geßner, Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 177f; vgl. auch S. 189f. 203
MA 1.2, 402. Vgl. Irmscher, Goethe und Herder, S. 30. 205 Utz, Das Auge und das Ohr, S. 96. 206 Von den Steinen, Mittelalter und Goethezeit, S. 278. 207 Vgl. Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 49; Von den Steinen, Mittelalter und Goethezeit, S. 278; v. Einem, Goethe und die bildende Kunst, S. 99, bzw. HA 12, 570. 208 MA 1.2, 418. 204
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ren.« 209 Durchaus folgerichtig liefert Goethe in seinem Dithyrambus also nur eine Evokation der Fassade, die sich in ihrem perzeptiven Verfahren allein auf das betrachtende Auge stützen konnte, keineswegs aber auch nur eine Andeutung räumlicher Aspekte des Münsters. 210 Das ist auch nicht weiter überraschend, wenn man sich vergegenwärtigt, daß »die ästhetischen Kriterien, einen solchen Raum sprachlich zu definieren«, noch gar nicht entwickelt waren. 211 Umstritten sind indes die genaueren Implikationen dieses Sachverhalts, etwa Harald Kellers Behauptung, noch für Herder sei »die Architektur eine reine Flächenkunst« 212 gewesen, weshalb Goethes Absehen von der räumlichem Dimension nicht weiter verwundere. Um auch an dieser Stelle Goethes angeblichen Rückgriff auf Herder 213 überprüfen und differenzieren zu können, empfiehlt sich ein Blick in das nachgelassene Vierte Kritische Wäldchen, in dessen Zweitem Stück Herder den Stellenwert der Baukunst innerhalb seines Entwurfs einer >ästhesiologischen Ästhetikmechanischen Künste< von einiger Bedeutung: Durch diese qualitative Abwertung erscheint die Architektur nämlich für pädagogische Aufgaben prädestiniert, wie folgende Empfehlung bestätigt: Wäre es [...] nicht besser, auch in der Seele der Jugend lieber einige ersten [sie] Ideen des Schönen, aus Betrachtung dieser Kunst, zu schöpfen, in der sie sich so groß und sicher und einfach offenbaren, als aus mancher andern verworrenem Poetik und Rhetorik? [...] wäre es nicht wenigstens notwendig, daß ein Theorist der schönen Künste, welch ein großer Name! erst ein Gebäude durchstudiert hätte, ehe er sich an die Ideen der Größe und Erhabenheit, Einheit und Mannichfaltigkeit, der Einfalt und Wohlordnung wagt?224 Als Begründung dieser didaktischen Empfehlung »für die Jugend« erläutert Herder dann im 12. Kapitel, zu Beginn seines »großen Gange[s] durch alle schönen Künste und Wissenschaften hindurch zu einer Theorie des Schönen«: Mich dünkt, die schöne Kunst, in der Einheit und Mannichfaltigkeit im simpelsten stärksten Augenscheine erscheinen, ist Baukunst. Die Zusammenfügung ihrer Glieder ist sehr einfach: das Verhältnis derselben zur Proportion des Ganzen, ihr gegenseitiges symmetrisches Entsprechen, ihre Regeln des Reichtums und der Stärke, der Fülle und Zartheit: ihr Eindruck von Schönheit und Schicklichkeit: ihre Größe und Anstaunung ist noch sehr einfach - alles ist vest und groß und wohlgeordnet, wie ein Gebäude. Unter allen 220
Vgl. MÄS 195: »Die Baukunst überhaupt, in so weit sie zu den schönen Künsten gehöret, ist nur als eine Nebenkunst anzusehen. Die Nothdurft, sich für die Ungestürmigkeiten der Witterungen und Jahrszeiten [sie] zu bewahren, hat die Menschen angetrieben, Gebäude aufzuführen, statt daß alle übrigen Künste ihren Ursprung blos dem Vergnügen zu verdanken haben. Daher müssen alle Schönheiten in der Baukunst, wie wir bereits oben erinnert, ihrer ersten Bestimmung, der Bequemlichkeit und Dauerhaftigkeit, untergeordnet werden.« 221 HW 2, 126; FHA 2, 322. 222 Vgl. Berkeley, A New Theory of Vision, S. 13, § 2: »It is, I think, agreed by all, that distance of itself, and immediately, cannot be seen. For distance being a line directed end-wise to the eye, it projects only one point in the fund of the eye. Which point remains invariably the same, whether the distance be longer or shorter.« Herder spricht dementsprechend von den »feinen Stäbe[n] der Lichtstrahlen« (HW 2, 96; FHA 2, 290). 223 HW 2, 200; FHA 2, 401. Darauf (und auf das ebd. nahegelegte Verfahren, »das Gebäude zu zerschneiden, und seinen Grundriß zu suchen« etc.) stützt sich Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 625, Anm. 30, wenn er die Angemessenheit von Kellers Deutung der Architektur als »Flächenkunst« für Herders Ästhetik bezweifelt. 224 HW 2, 171; FHA 2, 370.
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Künsten wird also die Baukunst mein erstes vastes225 Phänomenon der Betrachtung, und so wie überhaupt nach Piatons und Aristoteles Ausdruck, aus der Bewunderung alle Philosophie entstanden, so ist das große, das stille, das unverworrene, und ewige Anstaunen, was diese Kunst gibt, der erste Zustand, um den Philosophischen Ton der Seele zur Ästhetik zu stimmen.226
Angesichts dieser Begründung scheint die Annahme nicht völlig unplausibel, der >Pädagoge< Herder habe dem jungen Goethe in Straßburg die Baukunst als »erstes vastes Phänomen der Betrachtung« ans Herz gelegt, um bei ihm durch »das große, das stille, das unverworrene, und ewige Anstaunen [...] den Philosophischen Ton der Seele zur Ästhetik zu stimmen«. Daß ein solcher didaktischer Hinweis tatsächlich den Anstoß für Goethes ästhetisches Interesse am Straßburger Münster gegeben haben könnte, ergibt sich auch aus Herders ausdrücklicher und wiederholt formulierter »Wirkungsabsicht, die in eine ganz andere Richtung geht als in die von Goethe erhoffte. Nicht >Führung und Geleit< wollte er bieten, sondern die jeweils eigene Produktivität des anderen erwecken«.227 Diese auf indirektem Weg pädagogische »Wirkungsabsicht« kann in ihrem Bemühen, brachliegende Potenzen und >schlafende< Genies >aufzuweckenungeheuer groß, unermeßlicherhabentief< und >erhabenUnd das hat der Mensch gemacht! < und setzt gleich hinzu: und das wird ewig dauern !fortdauernde Sensation< ermöglicht, vgl. unten II.4.4. 237 HW 2, 172f; FHA 2, 371 f.
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Ob Herder bei seinen emphatischen Worten, die Keller als gedankliches und stilistisches Vorbild für Goethes Text präsentiert, an ein konkretes architektonisches Vorbild gedacht hat, scheint vor diesem diskursiven Hintergrund eher fraglich. 238 Weiteren Aufschluß verspricht hier die Fortsetzung der Passage aus dem 12. Kapitel, die in einer deutlich prophetischen Vision den kommenden »Jüngling« sämtliche »Phänomene« der Ästhetik aus der eigenen Anschauung entwickeln sieht: Anstaunend wirst du sie also in dir entwickeln, von dem Einfachen und Simpelsten der Säule bis zur reichsten Mannichfaltigkeit ihrer Teile, ihres Ganzen, ihrer Ordnungen: alsdann von der Symmetrie zweener Säulen zu ihrem Bogen hinaufsteigen und von da zum Pallaste in seinem ganzen Bilde: dann Seiten und Säulenreihen herunter fliegen: zurück kommen, das Gebäude zu zerschneiden, und seinen Grundriß zu suchen,239 und in allen Ausmessungen Ideen der Vollkommenheit finden, die sich im simpelsten Contour offenbaret. Dann wird deine Einbildungskraft wachsen, bis du in dem ausgehölten Marmorberge nichts als ein Ideal anschaulicher Vollkommenheit siehest und dich ins Staunen verlierest. Nun gehe hin, und nimm nicht bloß das Bild mit dir, und die simpeln Ideen, die du in ihm gefunden; es präge sich dir auch ein, um deine Seele selbst einzurichten: um ihr auf ewig die Größe und Stärke und Simplicität und Reichtum und Wohlordnung und Schicklichkeit zu geben; um sie, wie ein schönes Gebäude zu erbauen. Wenn dich alsdenn der Eindruck nie verläßt, wenn dir die Einrichtung ihrer Vollkommenheiten wesentlich geworden: Jüngling! so bist du zu den Geheimnissen des Schönen eingeweihet, und der Genius der Künste wird dir sein Heiligtum eröffnen.240 Bei flüchtiger Betrachtung könnte die Evokation der einfachen »Säule« und der »Säulenreihen« hier auf einen antiken oder antikisierenden Tempel schließen lassen, wohingegen der »Bogen« als Abschluß zweier Säulen eher an ein romanisches bzw. ein Renaissance- oder Barockgebäude denken läßt. Schon durch diese spärlichen Einzelheiten hebt sich Herders fiktives Bauwerk vom Straßburger Münster als realem Objekt der späteren Begeisterung Goethes augenfällig ab. Für ein konkretes architektonisches Vorbild der emphatischen Worte Herders gibt es jedoch keinen wirklichen Anhaltspunkt. Daß es Herder tatsächlich keineswegs um ein reales Bauwerk zu tun ist, geht aus den direkt folgenden Worten noch eindeutiger hervor: »Baukunst war deine Vernunftlehre des Schönen: die Metaphysik desselben folget.« Denn: »Die Vollkommenheit der Baukunst ist nur in Linien und Flächen und Körpern anschaulich, die ganz erdichtet, willkürlich abstrahiert und kunstmäßig zusammengesetzt ist. Sie war also nur eine Vorbereitung außer dem Tore der wahren Kunst - die Pforte tut sich auf, und siehe da! ein Naturbild, das
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Keller, Goethes Hymnus, S. 27, hält es für ausgemacht, daß »Herder beim Schreiben doch ein Gebäude aus der Neuzeit [...] vor dem geistigen Auge steht«. In einem Brief an Johann Daniel Salzmann, Herbst 1771, schreibt Goethe in diesem Sinn: »Dem Herrn Silbermann, wenn Sie ihn sehen, viele Grüße von meinetwegen. Bitten Sie ihn um eine flüchtige Copie des Münsterfundaments. Und seyn Sie so gut, unter der Hand zu fragen, ob und wie man zu einer Copie des großen Risses kommen könnte.« (WA IV, 2, 6) Vgl. dazu auch den Folgebrief an Salzmann, 28.11.1771 (WA IV, 2, 8f). Ob Goethe in seinem Interesse am Grundriß und den Seitenrissen des Straßburger Münsters tatsächlich durch Herders visionäre Worte angeregt wurde, kann freilich nicht mit Sicherheit entschieden werden. 240 HW 2, 200; FHA 2, 400f. 239
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wahre Ideal einer lebendigen Schönheit: die Statue.«241 Wie diese abschließenden und sogleich zur Plastik überleitenden Worte bestätigen, hat die Baukunst in Herders Entwurf einer ästhesiologischen Ästhetik kein wirkliches Eigenrecht, sondern - gleichsam als Propädeutik - nur eine didaktische >Hinleitungsfunktion< zur »wahren Kunst«, zum »Naturbild«, zum wahren »Ideal einer lebendigen Schönheit«; es geht, wie könnte es bei Herder auch anders sein, um »die Statue« und damit zugleich um die Verschiebung des perzeptiven Sinnes vom sehenden Auge zur tastenden Hand. Die Beschäftigung mit der Baukunst, dem unselbständigen »Pflegekind andrer Künste«,242 ist für Herder damit erledigt. Daß hingegen in Goethes Hymnus die Architektur keineswegs wie ein räudiger Hund »außer dem Tore der wahren Kunst« verharren muß, vielmehr - bei aller Differenzierung dieser Kategorie - als »höchste Schönheit«243 genossen sein will, ist aus dem gesamten Wortlaut des Baukunst-Essays ersichtlich. Von >willkürlicher Abstraktion und bloß >kunstmäßiger Zusammensetzung< kann beim charakteristischem Bauwerk keine Rede sein. Zumal der in die höchste Emphase gesteigerte sprachliche Duktus spricht gegen eine Deutung des Dithyrambus auf das gotische Münster als bloße Vorschule »zu einer Theorie des Schönen« im Sinne Herders. Für Goethe hat die Baukunst als »Phänomen der Betrachtung« durchaus Selbstzweck. Auch wenn er von Herders zitierten Worten und Gedanken angeregt worden sein sollte, ist die Vorstellung einer direkten Umsetzung Herderscher Theoreme kaum angebracht. Wenig überzeugend scheint überdies Kellers These, Goethe stehe »in seiner Jugendschrift nicht nur unter dem übermächtigen Eindruck von Herders Gedanken, auch der Sprachstil ist bis ins Letzte von Herders Diktion abhängig«.244 Kellers »Gegenüberstellungen« von Passagen aus beiden Texten, mit denen er seine Behauptung stützen will, geraten durch die unterschiedlichen Kontexte sowie den trotz aller Emphase - merklich verhalteneren Duktus Herders denn auch fast eher zum Gegenbeweis.245 Interessant scheint dagegen die Beobachtung, das in Goethes genialischem Sprachduktus sich ausdrückende Gefühl >übertrumpfe< das ebenfalls sprachlich forcierte Gefühl aus Herders emphatischem Text.246 Dies impliziert nämlich eine Textkonkurrenz zwischen beiden Autoren um die höhere >Authentizität< des dargestellten Gefühls, eine >WettkampfsituationPindar-Brief< geäußerte Selbstkritik Goethes an der Geschichte Gottfriedens (der Erstfassung des Götz) verwiesen, die dem von Goethe zitierten »Definitiv« Herders, »>daß Euch Shakespeare ganz verdorbenEmilia Galotti< ist auch nur gedacht, und nicht einmal Zufall oder Caprice spinnen irgend drein. Mit halbweg Menschenverstand kann man das Warum von jeder Scene, von jedem Wort, möcht' ich sagen, auffinden. Drum bin ich dem Stück nicht gut, so ein Meisterstück es sonst ist, und meinem eben so wenig. Wenn mir im Grunde der Seele nicht noch so vieles ahndete, manchmal nur aufschwebte, daß ich hoffen könnte >wenn Schönheit und Größe sich mehr in dein Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes thun, reden und schreiben, ohne daß du's weißt, warum.Welschenfühlenden< Betrachter des Münsters erschließt sich demnach dessen »Geist«, dem bloß »auf Zoll und Linien« 257 messenden normativen akademischen Kritiker bleibt er indes notwendig verborgen. Petra Maisak faßt die Bedeutung des >Fühlens< als perzeptive Form der Erkenntnis folgendermaßen zulen. Wahre Beispiele waren nicht lange hinlänglich; man erdichtete also andere, und weil eine Erdichtung, die nicht mehr sagt als vor Augen steht, immer abgeschmackt ist, so ging man aus der menschlichen Natur hinaus, und suchte in der übrigen belebten Schöpfung andere tätige Akteurs. Da kam man auf die Tiere, und so fabulierte man fort, bis die Menschen mehr anfingen, zu räsonieren, als zu leben. Nun erfände man Axiomen, Grundsätze, Systemen, u. d. gl. und mogte die Induktion nicht mehr leiden; zugleich entstünde das Unding der honetten Kompanie, zu welcher sich Dichter und Philosophen schlugen. Diese wollten der Fabel, die mit der Induktion gefallen war, wieder aufhelfen. Sie schminkten sie also, puderten sie, behängten sie mit Bändern, und da kam das Mittelding zwischen Fabel und Erzählung heraus, wodurch man nun nicht mehr lehren, sondern amüsieren wollte. Endlich merkte man, wie weit man sich von der ersten Erfindung entfernt hatte. Man wollte zu ihr zurückkehren, und schnitte die Auswüchse ab; allein, man konnte doch mit der Induktion nicht fort kommen, und behalf sich also mit dem bloßen Witz; da wurde die Fabel Epigramm. — So würde die Geschichte der Theorie aussehen, die wir von der Fabel schreiben würden.« (MA 1.2, 322f) 254 MA 1.2, 416. 255 Vgl. Christian Garves Kritik am polemischen Stereotyp im schon zitierten Brief an Christian Felix Weiße, 2.10.1773, anläßlich der Sammlung Von deutscher Art und Kunst. »Was ist denn das ewige Deklamiren gegen die Franzosen? Ist es nicht etwas blos Modisches?« (Briefe von Garve an Weiße, Tl. I, S. 26) Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 37, bezeichnet die zitierte polemische Formulierung als »eines der Kernworte des ganzen Büchleins«; seine Behauptung, Goethe stelle »die irrationale Grundhaltung gegen die rationale«, wodurch »hier wirklich nationale Ureigenschaften [!] zum Austrag« kommen würden, soll im folgenden jedoch stark relativiert werden. 256 Gerade das Fehlen dieser Offenheit moniert Goethe auch an seinem polemischen Gegenüber: »Was habt ihr getan, daß ihr verachten dürft?« (MA 1.2, 416). 257 MA 1.2, 416. 167
sammen: »In Übereinstimmung mit Herder verstand Goethe die Wahrnehmung durch das Gefühl, oder, in der Diktion der Zeit, durch die Empfindung, als einen Akt der umfassenden seelisch-geistigen Teilnahme, der es ermöglichte, einen Gegenstand in seiner Totalität zu erfassen und sich seiner innerlich zu vergewissern.«258 Während bei Herder der Terminus >Gefühl< freilich vor allem den Tastsinn, das taktile Fühlen bezeichnet, sonst aber eher umfassend von >Empfindung< gesprochen wird, operiert hingegen Goethe auch bei Verwendung des Verbs >fühlen< meist mit dem allgemeineren Wortsinn. Dieser freiere Wortgebrauch weist einmal mehr darauf hin, daß Goethes erkenntnistheoretische Konzeption ästhetischer Erfahrung nicht bloß in einer eindimensionalen Abhängigkeit von Herder steht, sondern viel grundsätzlicher aus dem zeitgenössischen sensualistischen Diskurs verstanden werden muß. So hatte schon Condillacs Traité des sensations (1754) in einer Radikalisierung der sensualistischen Thesen Lockes die unmittelbare sinnliche >Empfindung< bzw. das >Gefühl< zur alleinigen Quelle jeder menschlicher Erfahrung erklärt, bevor er sich noch auf die genauere Diskussion über die Leistung der einzelnen Sinne einließ.259 Im Spott über das >Messen< äußert sich nicht allein Goethes »Angriff auf die akademische Proportionenlehre« mit all seinen beschreibungstheoretischen Konsequenzen, wie Ernst Osterkamp dargelegt hat,260 sondern darüber hinaus auch die radikale Absage an jede deduktiv hergeleitete und allgemein gültige Wahrheit in ästhetischen Belangen. Der junge Goethe erweist sich hier einmal mehr als Schüler Oesers und ist wohl nicht zuletzt deshalb noch weitaus kompromißloser als sein Straßburger >Lehrer< Herder, der trotz aller anderslautenden empiristischen Postulate de facto zeitlebens (und nicht nur in aestheticis) »kein Mann empirischer Beobachtungen war«.261 Goethe, dessen Habitus kaum zu einer bedingungslosen Unterwerfung unter ästhetische Dogmen neigte, entwickelte freilich »trotz Oeser und Winckelmann ein eigenes, spezifisches Verhältnis zu Lessing und seinen Theorien«,262 was auch aus der Sulzer-Rezension deutlich hervorgeht: Der im 258
Petra Maisak, Natur - Gefühl - Genie. Die frühe Begegnung mit der Kunst. In: Goethe und die Kunst. Ausstellungskatalog Frankfurt/Weimar 1994. Hg. v. Sabine Schulze. Ostfildern 1994, S. 220-229, hier 224. 259 Vgl. etwa die Eingangssentenz des Précis de la première partie im nachgelieferten Extrait raisonée du traité des sensations: »Locke distingue deux sources de nos idées, les sens et la réflexion. Il serait plus exact de n'en reconnaître qu'une, soit parce que la réflexion n'est dans son principe que la sensation même, soit parce qu'elle est moins la source des idées, que le canal par lequel elles découlent des sens.« (Condillac, Oeuvres complètes, Bd. 3, S. 10) 260 Osterkamp, Im Buchstabenbilde, S. 18; mehr dazu in II.4.4. 261 So Gunter E. Grimm, >Die schönste Philosophienordische< Urhütte inkonsequenterweise auch für Griechenland gültig. Sauders Kommentar (MA 1.2, 986) legt nahe, daß Goethe in seiner Theorie der >Urhütte< u.a. durch eine Passage aus Rousseaus Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes angeregt worden war, was auch durch die im Drama verhandelte Eigentumsproblematik erhärtet wird: vgl. ROC 3, 167. 273 Den naheliegenden Zusammenhang zwischen Goethes Zeltmodell und dem Spitzbogen 171
Weinberghütte. Er bedient sich also selbstbewußt eines Beispiels aus den nordischen Gefilden, für welche die Säulentheorie von vornherein wenig plausibel scheint. Denn nicht nur vor Licht und gelegentlichem Regen, sondern auch vor ständiger Nässe, Kälte und Wind muß das Bauwerk hier schützen.274 Da sich die der gotischen Architektur diskutiert Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 621f. Da Goethe das >Urhütten-Prinzip< jedoch aus methodologischen Überlegungen heraus gerade generell abgelehnt hat, spielt auch das »zeltförmige Alternativmodell« für seine Argumentation eine bloß untergeordnete Rolle. Eine auffallende Parallele zu Goethes >Zeltkonzept< findet sich in Amédée-François Fréziers Remarques sur quelques Livres nouveaux concernant la beauté & le bon goût de l'Architecture. In: Mercure de France (Juillet 1754), S. 7-59, hier 20f, wo das »primitif & principal objet de l'Architecture« folgendermaßen erläutert wird: »c'est de faire avec des branches d'arbres, mutuellement inclinés, un espace vuide en prisme triangulaire, couvert à deux égouts, de feuilles, de paille ou autres choses équivalentes, pour empêcher l'eau de pluye d'y pénétrer, le soleil de les échauffer, les vents de les rafroidir [sic], ou de les inquieter, ou de les découvrir, ménageant à une des faces verticales triangulaires une porte pour y entrer [...]; c'est encore ainsi que sont faites nos tentes de campagne pour la guerre, avec cette différence, qu'elles font ordinairement de toile pour être plus facilement transportées. Voilà, sans contredit, le principal objet de l'Architecture, pleinement atteint par la voye la plus directe, par des principes évidens & invariables', en effet ils se réduisent tous à celui de mettre les hommes bien à couvert de la pluye, du chaud & du froid, & solidement, contre les efforts des vents qui agissent avec violence pour renverser de tels édifices.« 274
Vgl. dazu die nachgelieferten Erläuterungen aus dem 11. Buch von Dichtung und Wahrheit, wo Goethe seinen Jugendaufsatz aus der Sicht des Alters paraphrasiert: er habe hinsichtlich der deutschen Baukunst darauf gedrängt, »daß man sie nicht mit der Baukunst der Griechen und Römer vergleichen dürfe, weil sie aus einem ganz anderen Prinzip entsprungen sei. Wenn jene, unter einem glücklicheren Himmel, ihr Dach auf Säulen ruhen ließen, so entstand ja schon an und für sich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen Witterung schützen, und mit Mauern überall umgeben müssen, haben den Genius zu verehren, der Mittel fand, massiven Wänden Mannigfaltigkeit zu geben, sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge würdig und erfreulich auf der großen Fläche zu beschäftigen.« (MA 16, 542f) Dagegen hatte Laugier, Essai sur l'Architecture, S. 9 u. 12, trotz des von ihm durchaus konzedierten Temperaturproblems am Säulenprinzip festgehalten und gerade die von Goethe abgelehnte »Unschicklichkeit des Säuleneinmauems« (MA 1.2, 417) als Problemlösung zumindest angedeutet: »II est vrai que le froid & le chaud lui feront sentir leur incommodité dans sa maison ouverte de toute part; mais alors il remplira l'entre-deux des piliers, & se trouvera garanti.« Vgl. Laugier, Versuch in der Bau-Kunst, S. 10 u. 13f. Eine frühe Integration der Klimaproblematik in die Architekturtheorie findet sich dagegen in einer Anmerkung zur gotischen Architektur bei [Frans Hemsterhuis,] Lettre sur la Sculpture [...]. Amsterdam 1769, S. 30: »Les hommes aiant besoin de se garantir des injures de l'air, d'un soleil ardent, ou d'un froid excessif, n'avoient que deux moiens pour y parvenir, scavoir, de se cacher dans des cavernes, ou de se refugier sous le feuillage épais des arbres. Il est naturel que perfectionnant leurs idées, multipliant leurs plaisirs, leurs désirs & leurs besoins, & voulant enfin une architecture, ils dussent prendre un de ses moiens pour modèle: il est naturel encore que dans les climats où les seules cavernes pouvoient suffire à les défendre des ardeurs du soleil ou des rigueurs de l'hyver, les cavernes devinssent le principe de l'architecture, d'où naquirent les huttes des Hottentots & des peuples du Nord, & enfin les Pyramides d'Egypte; & que dans les climats temperés, où l'ombre du feuillage garantissoit assez d'une chaleur incommode, les hommes y prissent ces arbres pour le principe de leur façon de bâtir«.
172
Witterung in Zentral- und Nordeuropa seit den ersten Hütten offenbar nicht mehr wesentlich verändert hat, folgert Goethe aus dem (insofern an dieser Stelle durchaus angemessenen) Rekurs auf architektonische Ursprünglichkeit: Säule ist mit nichten ein Bestandteil unsrer Wohnungen; sie widerspricht vielmehr dem Wesen all unsrer Gebäude. Unsre Häuser entstehen nicht aus vier Säulen in vier Ecken; sie entstehen aus vier Mauern auf vier Seiten, die statt aller Säulen sind, alle Säulen ausschließen, und wo ihr sie anflickt, sind sie belastender Überfluß. Eben das gilt von unsern Palästen und Kirchen. Wenige Fälle ausgenommen, auf die ich nicht zu achten brauche.275
Am Beispiel der in der damaligen Architekturtheorie gängigen Debatte um Bedeutung und Funktion der Säule deckt Goethe die Mängel des von Laugier geübten prinzipiengeleiteten deduktiven Verfahrens auf. Er gelangt dabei zu einem bestechend formulierten methodologischen, ja geradezu ideologiekritischen Urteil: So vermag keiner deiner Schlüsse sich zur Region der Wahrheit zu erheben, sie schweben alle in der Atmosphäre deines Systems. Du willst uns lehren, was wir brauchen sollen, weil das, was wir brauchen, sich nach deinen Grundsätzen nicht rechtfertigen läßt.276
Mit dieser vernichtenden Kritik, die auch auf andere als ästhetische Belange Anwendung finden kann, denunziert Goethe die Gefahr, die von jedem abstrakt systematisierenden Denken notwendig ausgeht. Seine Ablehnung ist radikaler nicht mehr denkbar; in ihrer treffenden epigrammatischen Verdichtung stellt sie die Angemessenheit systematischer und prinzipiengeleiteter Philosophie aus einem pragmatischen Impetus heraus ganz grundsätzlich in Frage. Doch Goethes Kampf gegen die großen ästhetischen Theorien beschränkt sich nicht nur auf den Nachweis von deren Defizienz. Als Gegenmodell entwickelt er zugleich ein positives wahrnehmungstheoretisches Konzept der stets über die konkrete Anschauung verlaufenden ganzheitlichen ästhetischen Erfahrung. Dieses Konzept soll hier abschließend erläutert werden, wobei die aus anderen zeitgenössischen Texten herangezogenen Parallelen nicht auf geistesgeschichtliche Abhängigkeiten verweisen, sondern auf epistemologische Verwandtschaften. Die Einbeziehung des diskursiven Umfelds, die also statt auf Einflußkonstruktionen auf erhellende Ähnlichkeiten abzielt, ermöglicht ein besseres Verständnis des durch seine forcierte Stilisierung äußerst komplexen Textes. Nachdem der schöpferische Genius »der erste« ist, »aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten«,277 steht dessen Werk nun »einfach und groß« vor der rezeptiven »Seele« des Betrachters.278 Dem hier einsetzenden Prozeß ästhetischer Erfahrung ist mit der erlernbaren »allgemeine[n] Erkenntnis guten Geschmacks«, die als Ableitung aus einem festgefügten ästhetischen »System« - also aus einer systematischen Theorie der schönen Wissenschaften und Künste - denkbar wäre, in keiner Weise gedient.279 Im Gegenteil: An 275
276
MA 1.2, 417f.
MA 277 MA 278 MA 279 MA
1.2,417. 1.2,417. 1.2, 419. 1.2, 418. 173
die Stelle deduktiver »Schlüsse«280 setzt Goethe den konkreten ersten »Anblick«, der seinerseits eine >überraschendeÜberraschend< ist der somit begonnene Prozeß ästhetischer Erfahrung allenfalls für den fiktionalen Betrachter, das als unvorbereitet stilisierte dithyrambische Ichunerwartete Empfindungdithyrambischen Ich< den ästhetischen Erkenntnisprozeß erst in Gang setzt,283 sondern auch der weitere Verlauf der von Goethe skizzierten ästhetischen Erfahrung entspricht den erkenntnistheoretischen Vorstellungen des zeitgenössischen Sensualismus. Denn erst ein wiederholtes und >ermattendesanhaltende< Betrachtung unter den wechselnden »Lichtern« des Tages dem fiktionalen Kirchenbetrachter sogar, mit dem betrachteten Münster schließlich selbst eins zu werden, also die leidige Subjekt-Objekt-Trennung zu überwinden. Im schon zitierten Auszug aus der anonymen Schrift Architecture des Jardins, den Herder in das Vierte Kritische Wäldchen eingerückt hat, ist ganz ähnlich von einer >anhaltenden< Betrachtung der Bauwerke »mit ununterbrochner Empfin280
MA 1.2, 417. Vgl. dazu Osterkamp, Im Buchstabenbilde, S. 19f. 282 MA 1.2, 418f. Es braucht nicht hervorgehoben werden, daß es sich auch hier nicht um autobiographische Informationen, sondern um eine forcierte literarische Stilisierung handelt; vgl. dazu die Ausführungen von Robson-Scott, Goethe and the Gothic Revival, S. 95f. 283 Vgl. dazu auch den »Bestimmungsgrund unsrer ersten wichtigen Frage über die Natur des Erkennens und Empfindens« aus der nachgelassenen Erstfassung (1774) von Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele: »das Erkennen der Seele kann als ein deutliches Resultat all' ihrer Empfindungszustände betrachtet werden; die Empfindung also kann nichts anders sein als gleichsam der Körper, das Phänomenen des Erkennens, die anschaubare Formel, worin die Seele den Gedanken siehet.« (HW 2, 548f; FHA 4, 1094) Herder opponiert mit dieser Wendung gegen die Formulierung der Preisaufgabe der Berliner Akademie von 1773 (vgl. d. Komm. v. Jürgen Brummack in FHA 4, 1076-1081) und greift dabei zurück auf den westeuropäischen Sensualismus. 284 MA 1.2, 419. 285 MA 1.2, 499. 281
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dung« die Rede: Die »Masse der Gebäude [...] hält das Gesicht in einer starken Spannung, und die Sensation verstärkt sich, weil sie anhaltend ist, ohne Einmischung fremder Sensationen«.286 Gerade die unmittelbare Wirkung erhabener Objekte auf den Betrachter profitiert von der >anhaltenden< Betrachtung, wie der Artikel Erhaben (1771) aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste erläutert: [D]as Erhabene würkt mit starken Schlägen, ist hinreißend und ergreift das Gemiith unwiderstehlich. Diese Wiirkung thut es nicht blos in der ersten Ueberraschung, sondern anhaltend; je länger man dabey verweilet und je näher man es betrachtet, je nachdrücklicher empfindet man seine Würkung.287
Eine genauere Erklärung der psychologischen Implikationen >anhaltender< Betrachtung versucht Sulzer im Artikel Begeisterung (1771): Nun ist es eine aus der Erfahrung bekannte, wiewol schwer zu erklärende Sache, daß die Gedanken und Vorstellungen, die durch anhaltende Betrachtung eines Gegenstands entstehen, sie seyen klar oder dunkel, sich in der Seele aufsammeln, daselbst wie Saamenkörner in fruchtbarem Boden unbemerkt keimen, sich nach und nach entwikeln, und zuletzt bey Gelegenheit plötzlich an den Tag kommen. Alsdenn sehen wir den Gegenstand, zu dem sie gehören, der bis dahin verworren und dunkel, wie ein unförmiges Phantom, vor unsrer Stime geschwebt hat, in einer hellen und wolausgebildeten Gestalt vor uns. Dieses ist der eigentliche Zeitpunkt der Begeisterung.288
Wie ist dieser perzeptive Vorgang, den Sulzer in der Tradition der Pflanzenanalogie als »das geheime geistige Knospen von Samen-Vorstellungen« umschreibt, »die nach der Hervorbringung ihrer vollendeten Form die Bewußtseinsstufe durchstoßen«,289 nun erkenntnislogisch zu verstehen? Präziser ist hier Condillac, dessen Traité des sensations am Beispiel einer allein mit dem Tastsinn ausgestatteten Statue die Verfestigung von unmittelbaren »sensations« zu erkenntnistragenden »idées« bzw. »idées intellectuelles« exemplifiziert,290 was bezeichnenderweise durch die erinnernde Vergegenwärtigung geschieht und folgendermaßen erläutert wird: »comme les sensations actuelles sont la source de ses connaissances, le souvenir des ses sensations passés ou les idées intellectuelles en sont tout le fond: c'est par leur secours que les nouvelles sensations se démêlent et se développent toujours de plus en plus.«291 Genau dieser längerfristige Erkenntnisprozeß292 wird 286
HW 2, 172; FHA 2, 371. Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 2, S. 97. 288 Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 1, S. 353. 289 M. H. Abrams, Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. München 1978 (=Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. schönen Künste 42), S. 257. 290 Vgl. Condillac, Oeuvres complètes, Bd. 3, S. 168f (Traité des sensations, Tl. 2, Kap. 8, § 28-30). 291 Ebd., S. 169 (Traité des sensations, Tl. 2, Kap. 8, § 31). 292 Vgl. dazu schon Goethes frühe Überlegung aus dem Konzept eines Briefs an Hetzler sen. (d.i. Johann Ludwig Hetzler), 28.9.1770: »Der erste moralische Blick in die Welt so wenig als der erste phisikalische bringt unserm Kopf oder unserm Herzen eine deutliche Empfindung; man sieht, eh man weiß, daß das gesehen ist, und nur sehr lange hernach lernt man erkennen was man sieht.« (WA IV, 1, 248) 287
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indes bei einer bloß oberflächlichen Betrachtung verhindert; Goethe selbst führt in der Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 aus: Tausend Menschen ist die Welt ein Raritätenkasten, die Bilder gaukeln vorüber und verschwinden, die Eindrücke bleiben flach und einzeln in der Seele, drum lassen sie sich so leicht durch fremdes Urteil leiten, sie sind willig, die Eindrücke anders zu ordnen, verschieben und ihren Wert auf und ab bestimmen zu lassen.293 Wie schon angedeutet, führt der von Goethe skizzierte ästhetische Erkenntnisprozeß über die anhaltende Wirkung des >geschmeckten< und >genossenenerkennbaren< und >erklärbaren< Eindrucks schließlich zur sich »wonnevoll« entfaltenden perzeptiven »Kraft«, »zugleich zu genießen und zu erkennen«. 294 Die solcherart erreichte Einheit von Genuß und ästhetischer Erkenntnis erinnert ebenfalls an Condillacs Traité des sensations, hatte dieser doch >le plaisir< und >la peine< (bzw. >la douleurEmpfindung< bestimmt. 295 Neben dem französischen Sensualismus bieten sich freilich auch andere, vielleicht näherliegende diskursive Kontexte für Goethes positive Weitung des Genusses an, die von der germanistischen Forschung schon zu Genüge aufgezeigt wurden, mit den sensualistischen Theoremen in dieser Hinsicht indes durchaus kompatibel scheinen: So betont Gott293 294
295
MA 1.2, 304f. Die integrative Formulierung belegt die Unangemessenheit der Darstellung von Robert Hering, Johann Georg Sulzer. Persönliches und Literarisches zur 150. Wiederkehr seines Todestages (25. Februar 1929). In: JbFDH (1928), S. 265-326, hier 310. Hering behauptet, »daß Goethe dem Mann, den er bekämpfte, doch, ohne es zu wissen, ein Zugeständnis macht [...]. Denn in dem Geständnis, daß beim Anblick des Münsters ein ganzer, großer Eindruck seine Seele erfüllt habe, den er, weil er aus tausend harmonisierenden Einzelheiten bestand, wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte, liegt doch eine Trennung der Auffassungsvermögen zu Grunde, wie sie erstlich Sulzer vertreten hat.« Gerade gegen die »Trennung der Auffassungsvermögen« ist Goethes ganzheitliches Erkenntnismodell gerichtet. Noch im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit rühmt er (anläßlich der Schilderung seines Besuchs im Mannheimer Antikensaal) »die stille Fruchtbarkeit solcher Eindrücke«, »die man genießend, ohne zersplitterndes Urteil, in sich aufnimmt. Die Jugend ist dieses höchsten Glücks fähig, wenn sie nicht kritisch sein will, sondern das Vortreffliche und Gute, ohne Untersuchung und Sonderung, auf sich wirken läßt.« (MA 16, 537) Précis de la première partie zum Extrait raisonée du traité des sensations: »II n'y a de sensations indifférentes que par comparaison: chacune est en elle-même agréable ou désagréable: sentir et ne pas se sentir bien ou mal, sont des expressions tout-à-fait contradictoires. Par conséquent c'est le plaisir ou la peine qui, occupant notre capacité de sentir, produit cette attention d'où se forment la mémoire et le jugement.« (Condillac, Oeuvres complètes, Bd. 3, S. 16) Eine Veranschaulichung dieses theoretischen Leitsatzes findet sich im Haupttext des 2. Teils, 8. Kap. (§1): »Sans le plaisir, notre statue n'aurait jamais la volonté de se mouvoir; sans la douleur, elle se transporterait avec sécurité, et périrait infailliblement. Il faut donc qu'elle soit toujours exposée à des sensations agréables ou désagréables. Voilà le principe et la règle de tous ses mouvemens. Le plaisir l'attaque aux objets, l'engage à leur donner toute l'attention dont elle est capable, et à s'en former des idées plus exactes. La douleur l'écarté de tout ce qui peut lui nuire, la rend encore plus sensible au plaisir, lui fait saisir les moyens d'en jouir sans danger, et lui donne des leçons d'industrie; en un mot, le plaisir et la douleur sons ses seuls maîtres.« (S. 152)
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fried Arnold in seiner von Goethe 1769 mit großer Zustimmung gelesenen296 Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699-1703), man könne die göttliche Wahrheit »nicht allein finden/ sondern auch empfinden/ und in den kräften oder geistlichen sinnen seiner seelen schmecken/ hören/ sehen und gemessen«.297 Auch hier hat der Genuß als sinnliches Erkenntnismedium eine herausragende Stellung. Und in der unveröffentlichten Urfassung (1774) der Herderschen Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ist im 1. Abschnitt ebenfalls von der »innige[n] Vereinigung der Kraft zu erkennen und zu genießen, zu sehn und zu empfinden« 298 die Rede. Wie die begriffsgeschichtliche Forschung unterrichtet, hat »die Geschichte des Genußbegriffs« insgesamt im Sturm und Drang »ihren Höhepunkt erreicht«: »Genießend versichern sich das Genie oder der Empfindsame der wirklichen Wirklichkeit, die sie aufzufinden vermögen, des eigenen Seins.«299 Insbesondere ästhetische Erkenntnis erscheint von sinnlichem Genuß untrennbar, was auch die Sulzer-Rezension in plastischen Worten hervorhebt: »Denn wenn es nur auf Kennerschaft angesehn ist, wenn der Mensch nicht mitwürkend genießt, müssen bald Hunger und Ekel, die zwei feindlichesten Triebe, sich vereinigen, den elenden Pokokurante zu quälen.«300 Das somit nur auf den ersten Blick konfus anmutende ästhetische >Erkenntnismodell< des Baukunst-Aufsatzes liefert in seiner praktischen Ineinssetzung von Sinneneindruck und Erkenntnis wahrnehmungstheoretische Bausteine, die als zentrale Momente Goethes ästhetische Reflexion weit über die Genieästhetik hinaus prägen werden. Deutlich wird in seinen hier geäußerten Worten jedenfalls, daß eine Erkenntnis des Kunstwerks als solche zwar durchaus möglich ist; doch bedarf es dazu sowohl einer »anhaltendefn] Betrachtung«, welche erst erlaubt, »die Freuden der Empfindung und Erkenntnis zu genießen«,301 als auch >ganzer SeelenGenuß< in Dichtung und Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: W. B., Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur. Zürich/München 1976, S. 7-33, hier 14. HW 2, 547; FHA 4, 1092f; vgl. schon HW 2, 545; FHA 4, 1090: »Die Seele muß fühlen, daß, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich genieße, ihre Kräfte des Erkennens wohl angewandt, sich also fortstrebend, sich vollkommner wisse: je inniger und unaufgehalten sie das gewahr wird, desto inniger empfindet sie Wollust.« Binder, >Genuß< in Dichtung und Philosophie, S. 16 u. 18. MA 1.2, 401; zum Pokokurante, einer Figur aus Voltaires Candide, vgl. den Kommentar in HA 12, 575, bzw. in MA 1.2, 830. So Goethe selbst in der Rezension eines Kupferstichs nach Caravaggios Die drei Apostel·. in FGA 38 (12.5.1772), S. 304 (MA 1.2, 324); mehr zum Begriff der >anhaltenden Betrachtung< bei Osterkamp, Im Buchstabenbilde, S. 19. Goethes Konzept widerspricht diametral der erkenntnistheoretischen Maxime, die Hemsterhuis seiner Lettre sur la Sculpture, S. 6, zugrundegelegt hat: »L'AME veut donc naturellement avoir un grand nombre d'idées dans le plus petit espace de temps possible«.
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wurde. Völlig unerwünscht sind dagegen philosophische »Deuter«. An deren Stelle, also an die Stelle normativer Autoritäten, präskriptiver Sätze und deduktiver Schlüsse tritt der individuelle, sinnlich vermittelte >Genuß< des einzelnen Betrachters.302 Erwins geniale Schöpfung entspringe dem »tiefste[n] Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse, würkend aus starker, rauher, deutscher Seele«.303 Unabdingbare Voraussetzung zur adäquaten, ganzheitlichen Wahrnehmung des Münsters wie auch jedes anderen wahrhaft schönen, somit notwendig charakteristischen Kunstwerks304 ist deshalb nicht angelerntes Wissen, sondern eben das sinnlich vermittelte, kongeniale »Gefühl der Verhältnisse f...], deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann«.305 Dieses entwickelte, ganzheitliche »Gefühl der Verhältnisse« ist seinerseits ein Resultat der sich »in leisen Ahndungen« ankündigenden Offenbarung des »Genius des großen Werkmeisters« selbst.306 Wie schon das religiöse Vokabular belegt, handelt es sich hierbei um einen sakralen Akt, der sich dem sprachlichen Nachvollzug mehr oder weniger vollständig entzieht. Seine freilich kaum noch religiös zu nennende Funktion ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
3.
Die Vergötterung des kreativen Genies als Instrument der Autonomisierung
3.1 Methode der Ambivalenz Die ästhetikgeschichtlich bedeutsame Analogie zwischen Künstlergenie und Schöpfergott, die sich tendenziell schon in den prometheischen Passagen der Rede Zum Schäkespears Tag abgezeichnet hat,307 durchzieht den gesamten BaukunstAufsatz von Anbeginn: Nachdem einleitend von der vergeblichen Suche des dithyrambischen Ich< nach Erwins Grabstein die Rede war, folgt auf die Enttäuschung zunächst das Gelöbnis, dem Erbauer des Münsters einst »ein Denkmal [...] von Marmor oder Sandsteinen« zu setzen, »wenn ich zum ruhigen Genuß meiner Besitztümer gelangen würde«.308 Diese Verpflichtung des »tief in die Seele betrübt[en]«309 >Herzens< - zum Zeitpunkt der Suche nach der unauffindbaren »hei302
Im deutlichen Gegensatz zum oben erläuterten Fragment aus Arianne an Wetty, wo dem Sehen als dem >kältesten Sinn< nur »Erkenntnis«, nicht aber »Genuß« zugesprochen worden war (dieser blieb dort dem Geruch, dem Gehör und dem Geschmack vorbehalten), kann hier also auch die Betrachtung Genuß verschaffen. 303 MA 1.2, 42If. 304 Vgl. II.4.2. 305 MA 1.2, 421. 306 MA 1.2, 419. Im gegenwärtigen Kontext handelt es sich wohl um den »Genius als Garant der Harmonie«: vgl. Schmidt-Dengler, Genius, S. 146-148. 307 Vgl. 1.3. 308 MA 1.2, 415. 309 Vgl. Mt 26,38: »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod«; dieses und weitere Bibelzitate entnehme ich - soweit nicht anders angegeben - folgender Ausgabe: Die Bibel nach der
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ligen Stätte« noch »jünger, wärmer, töriger und besser als jetzt« 310 - weicht jedoch bald einer befreienden Einsicht, die emphatisch ausgerufen wird: Was brauchts dir Denkmal! Du hast dir das herrlichste errichtet; und kümmert die Ameisen, die drum krabeln, dein Name nichts, hast du gleiches Schicksal mit dem Baumeister, der Berge auftürmte in die Wolken.3"
Daß der Vergleich des irdischen mit dem göttlichen Baumeister hier nicht bloß die seinerzeit übliche rhetorisch-veranschaulichende Funktion antiker Mythologie innehat, vielmehr auf die kühne Gleichsetzung des Künstlers mit Gott abzielt, bestätigt die Wiederaufnahme der Sentenz wenige Zeilen später: Was brauchts dir Denkmal! und von mir! Wenn der Pöbel heilige Namen ausspricht, ists Aberglaube oder Lästerung. Dem schwachen Geschmäckler wirds ewig schwindeln an deinem Koloß, und ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter.312
Der Name des Künstlers ist also >heiligganzen Seele< ausgestattete >wahre Gläubige< keines >Deuters< zur >Erkenntnis< des kolossalen Kunstwerks bedarf. Einmal abgesehen von der Analogie zu der vom jungen Goethe in seinen beiden theologischen Essays empfohlenen unmittelbaren, nicht dogmatisch vermittelten religiösen Empfindung 313 fällt hier die menschliche Hybris auf, mit welcher das scheinbar noch bescheidene >Ich< (vgl. die Analogie zum »Pöbel«) den Schöpfer des Gotteshauses de facto auf die Ebene des unsterblichen Gottes selber hebt. Am deutlichsten wird das in der erläuternden Passage, die zwischen den beiden zitierten Ausrufen steht: Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes; wenigem, auf tausend bietende Hände zu treffen, Felsengrund zu graben, steile Höhen darauf zu zaubern, und dann sterbend ihren Söhnen zu sagen: ich bleibe bei euch, in den Werken meines Geistes, vollendet das begonnene in die Wolken.314
Wie Franz Gotting 1947 befremdet aufzeigte, werden die aus der Bibel geläufigen Worte Christi »ich bleibe bei euch« 315 hier dem Künstler »in den Mund gelegt, doch mit einer prometheischen Wendung«,316 nämlich dem Aufruf nach schöpferischer Umsetzung und Vollendung des hybriden >Babelgedankensdithyrambische Ich< dem verehrten Baumeister Erwin von Steinbach weiht. In der Apostelgeschichte hat das »T\ich«, das Petrus »an vier Zipfeln niedergelassen auf die Erde« vom Himmel »herabkommen« sah,337 tatsächlich jedoch wenig mit einem Opfer zu Ehren Gottes gemein. Die angesprochene Stelle hat vielmehr eine ganz spezifische Bedeutung, die erst aus dem weiteren Verlauf der Vision hervorgeht: In dem vom Himmel herabgelassenen Leinentuch nämlich »waren allerlei vierfüßige und kriechende Tiere der Erde und Vögel des Himmels«,338 was im Inhalt des Goetheschen >Schnupftuchs< noch eine gewisse Entsprechung findet. Doch dann berichtet die Bibel weiter: »es geschah eine Stimme zu ihm: Steh auf, Petrus, schlachte und iß! Petrus aber sprach: O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen.«339 Die darauf folgende, drei Mal wiederholte Sentenz bezeichnet resümierend den Sinn des Gleichnisses, welches nicht von ungefähr vor die Schilderung der Taufe des römischen Hauptmanns Kornelius gesetzt ist: »Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten.«340 334
Nach Goethes Maximen und Reflexionen, Nr. 751 (Hecker Nr. 279), spricht die s y m bolische Artrein< erklärt wird, während es sonst (nämlich in der allgemeinen Lehre des akademischen Klassizismus) noch als >unrein< galt, kann einzig und allein die gotische respektive >deutsche< Baukunst sein. Genau diese Vermutung wird nicht nur im 3. Teil des Essays bestätigt, 341 sondern kann sich auch auf eine entsprechende Parallele in Hamanns Aesthetica in nuce stützen. 342 Damit aber hat die Anspielung auf die Bibelstelle jegliche religiöse Funktion verloren, die biblischen Motive dienen nur noch als inhaltlich entleerte Versatzstücke. Dies fällt umso mehr in die Augen, als es hier nicht Gott ist, sondern das subjektive Befinden des dithyrambischen Ichdie alten religiösen Kräfte< (Eibl) zu tun ist. 343
Studienausgabe. Psalmen und Neues Testament Ökumenischer Text. Stuttgart 1987: »Was Gott für rein erklärt, nenne du nicht unrein!« 341 Vgl. MA 1.2, 418: »Als ich das erste Mal nach dem Münster ging, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. Unter die Rubrik Gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonimische Mißverständnisse, die mir von unbestimmtem, ungeordnetem, unnatürlichem, zusammengestöppeltem, aufgeflicktem, überladenem, jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht gescheider als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles gotisch, was nicht in mein System paßte, von dem gedrechselten, bunten, Puppen- und Bilderwerk an, womit unsre bürgerliche Edelleute ihre Häuser schmücken, bis zu den ernsten Resten der ältesten deutschen Baukunst, über die ich, auf Anlaß einiger abenteuerlichen Schnörkel, in den allgemeinen Gesang stimmte: >Ganz von Zierrat erdrückt!< und so graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers.« 342 Vgl. HSW 2, 200: »Sollte diese Rhapsodie im vorübergehen von einem Leviten der neuesten Litteratur in Augenschein genommen werden: so weiß ich zum voraus, daß er sich seegnen wird, wie der heilige Petrus vor dem großen leinenen IVich an vier Zipfeln gebunden, darin er mit einem Blick gewahr ward, und sähe vierfüßige Thiere der Erden und wilde Thiere, und Gewürme und Vögel des Himmels >0 nein; besessener Samariter!< — (so wird er den Philologen schelten in seinem Herzen) - >für Leser von orthodoxem Geschmack gehören keine gemeine Ausdrücke noch unreine Schüsseln — Impossibilissimum est, communia proprie dicereLiebhaber< des Schönen ihre »Seligkeit [...] verkünden«. Der »Genius«, so heißt es im Gegenteil, will auf keinen fremden Flügeln, und wären's die Flügel der Morgenröte, empor gehoben und fortgerückt werden. Seine eigne Kräfte sind's, die sich im Kindertraum entfalten, im Jünglingsleben bearbeiten, bis er stark und behend, wie der Löwe des Gebürges auseilt auf Raub.344
Eine genaue Analyse von Goethes Umgang mit den entsprechenden Bibelstellen bestätigt auch hier die säkularisierende Stoßrichtung des gesamten Textes, der keineswegs auf >die alten religiösen KräfteKnabengewöhnliche< Mensch als »Halbgott« bezeichnet wird, weil auch er »umher nach Stoff [greift] ihm seinen Geist einzuhauchen«, führt der geniale Meister den Ehrentitel des »gottgleichen Genius«,352 der »gottgleich sprechen kann, es ist gut!«353 Goethe überbietet hier bei weitem die in »moralphilosophischer Perspektive« vorgenommene »christliche Interpretation des sokratischen daimonion«354 - und somit auch Youngs in der englischen und deutschen Diskussion bislang maßgebliche Deutung des Genies als »Gott in uns«.355
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Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 650. Vorsichtiger argumentiert Eibl, >... mehr als PrometheusIhr Götter!< In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers. Stuttgart 1984 (=Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft 42), S. 303-327, bes. 305, wo er »konfliktlose Übereinstimmung zwischen Ich und Welt sowie reine Selbstbestimmung aus eingeborener Notwendigkeit« als inhaltliches Ziel der »tätige[n] Selbstvergötterung« bestimmt. Zum Begriff der >Vergötterung< vgl. auch Goethes 1773 entstandenes Dramenfragment Des Künstlers Vergötterung (MA 1.1, 748). 351 MA 1.2, 421. 352 MA 1.2, 421. 353 MA 1.2, 420. 354 Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 180. 355 Young, Gedanken, S. 31. Die »göttliche Begeisterung« (S. 28) ist deshalb als von Gott 349
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Der solcherart in die Sphäre des Göttlichen erhöhte Künstler löst mit seinem genialen Werk beim kongenialen Betrachter nicht mehr bloß sinnliches Wohlgefallen und sittliche Erbauung oder Reinigung aus, sondern eine unvergleichliche, »himmlisch-irdische Freude«.356 Dem Rezipienten wird angesichts einer solchen Intensivierung des ästhetischen Genusses konsequent eine neue Einstellung gegenüber dem künstlerischen Genie zuteil: Die wahren Liebhaber treten jetzt »anbetend vor das Werk des Meisters«. Auch der »liebef ] Bruder im Geiste des Forschens nach Wahrheit und Schönheit« wird im apodiktischen Ton des Dekalogs nachdrücklich gewarnt: »Hüte dich, den Namen deines edelsten Meisters zu entheiligen«.357 Je mehr die allein wahre und ewige Schönheit im genialen Kunstwerk erreicht wird,358 je mehr sich das Genie mit der »himmlischefn] Schönheit«359 vereint, »desto tiefgebeugter stehen wir da und beten an den Gesalbten Gottes«.360 Die neue Intensität der geradezu kultischen Künstlerverehrung361 kann sogar äußerst bedrückende Ausmaße annehmen: »Schwer ist's dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, daß er nur beugen, und anbeten muß.«362 Jochen Schmidt faßt die forcierte Auratisierung von Künstler und Kunstwerk in Richtung einer qualitativ neuen >Kunstreligion< folgendermaßen zusammen: »Das Genie erhält die Aura des Heiligen, das Verhältnis zur Kunst steigert sich zur Kunstreligion. Und der >Kunst-Genuß< [...], hier erscheint er zum ersten Mal als wesentlich innere Erfahrung: als höchste Möglichkeit vergeistigenden Empfindens. Das Wort >Genuß< hat in diesem Kontext die religiös-mystische Bedeutung einer auf ekstatischer Kommunikation beruhenden Teilhabe.«363 Freilich hat die Analyse der säkularisierenden, in ihrer Ambivalenz letztlich sogar profanisierenden Funktion von Goethes >biblischen Anspielungen den radikal innerweltlichen Charakter364 der neuen Kunstreligion offengelegt: An die Stelle des extramundanen Gottes tritt die neue, sich allein genügende und deshalb - trotz aller scheinbaren Transzendenz - ganz und gar irdische Kunst.
verliehene und nicht als ursprünglich eigene Kraft zu verstehen. Nach Sauder, Nachwort, S. 16, erfolgt die in der Formel »Gott in uns« fokussierte Parallelisierung zwischen »Gewissen (moralische Welt) und Genie (Welt des Verstands)« in Anlehung an die Ethik der Cambridge Platonists. 356 MA 1.2, 419. 357 MA 1.2, 420. Vgl. 2. Mose 20.7 bzw. 5. Mose 5.11: »Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.« Dazu Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 493. 358 Vgl. II.4.2. 359 MA 1.2, 423. 360 MA 1.2, 421. 361 Vgl. dazu Gerth, Poetik des Sturm und Drang, S. 62. 362 MA 1.2, 419. 363 Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 193f. 364 Dagegen Schmidt, ebd., S. 194. 187
3.2 Verabschiedung der Wirkungsästhetik Das einzige, was die im Baukunst-Aufsatz wirksame Verehrung von Kunst und Künstler mit einer tatsächlichen Religion verbindet, ist die Haltung des gläubigen Subjekts: dessen unerschütterliche Überzeugung von der höheren Dignität des verehrten, auratisierten Gegenstands, kurz: der (worauf immer beruhende) >Glauberéaliste< d'un personnage sacré des effets magiques, bénédictions, succès, guérisons, grâces, indulgences, etc.; de l'autre, l'oeuvre d'art, objet d'une dévotion artistique de la part de spectateurs attachés à la contempler en elle-même et pour elle-même, sans autre intérêt qu'iconographique pour le sujet religieux.«
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Ebd., S. 73. Vgl. zu diesem dispositiven Wandel auch den Aufsatz von Olivier Christin, Le may des orfèvres. Contribution à l'histoire de la genèse du sentiment esthétique. In: Actes de la recherche en sciences sociales 105 (1994), S. 75-90, bes. die beiden Abschnitte De l'image pieuse à l'oeuvre d'art: l'évolution des critères und Du dévot au spectateur, S. 79-84. Vgl. Bourdieu, Piété religieuse et dévotion artistique, S. 74: »Le passage de la croyance religieuse à la croyance proprement culturelle qui s'est étendu sur plusiers siècles peut
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antiken Götterwelt zu einem von aller numinosen Transzendenz entleerten Bildungsgut, dessen Versatzstücke in den ästhetischen Schriften des jungen Goethe allenthalben begegnen. Im historischen Zusammenhang der Entstehung eines >kulturellen Glaubens< reflektiert der Baukunst-Aufsatz indes nicht nur vorgängige Tendenzen; er ist vielmehr selbst Werkzeug der dispositiven Verschiebungen an einer maßgeblichen Schwelle des Umbruchs: Goethe nimmt das Straßburger Münster nämlich nicht mehr in dessen sakraler Funktion, sondern ausschließlich als Kunstwerk wahr, was sich gerade im Verzicht auf eine Thematisierung des Innenraums manifestiert.368 Der Baukunst-Aufsatz markiert somit einen entscheidenden Einschnitt in einem langfristigen historischen Prozeß der Herausbildung einer spezifisch ästhetischen Einstellung des Rezipienten gegenüber dem Kunstwerk. In ihrer letzten Konsequenz läuft diese Entwicklung darauf hinaus, »daß jedes legitime Kunstwerk faktisch die Formen seiner eigenen Wahrnehmung durchsetzt und als legitim unausgesprochen nur den Wahrnehmungsmodus gelten läßt, worin eine ganz bestimmte Einstellung und Kompetenz ins Werk gesetzt wird«, kurz: die ästhetische Disposition.369 Soziologisch betrachtet, ist die Differenzierung zwischen der religiösen (oder späterhin: der ethischen) und der ästhetischen Disposition das Ergebnis der sukzessiven Konstituierung eines künstlerischen Feldes, das in zunehmendem Maße nur noch seinen eigenen Normen gehorcht.370 Dieser Autonomisierungsprozeß läßt sich für den historischen Abschnitt des (deutschsprachigen) 18. Jahrhunderts folgendermaßen großflächig skizzieren: Im Rahmen der Aufklärung wurde die aus dem 17. Jahrhundert überkommene kirchliche oder dynastische Repräsentationsfunktion der Künste allmählich von einer moralischen Legitimation verdrängt.371 Die Abkoppelung des künstlerischen Selbstverständnisses von der hergebrachten Repräsentation außerkünstlerischer Institutionen ließ sich nämlich gegenüber traditionalistischen Einwänden (die sich etwa auf Piatons Verbannung der Dichter und der Dichtung aus dem Staat stützen konnten372) zunächst nur mit dem Verweis auf die sittlich vorbildliche, erbauliche (oder später reinigende) Wirkung bei den bürgerlichen Rezipienten legitimieren.373 Die in solcher Emphase qualitativ neue ethiêtre observé, dans une de ses étapes décisives, chez les humanistes de la Renaissance qui, s'ils sont capables de s'enflammer pour ce qui est devenu une rhétorique, dépouillent les dieux antiques de leur aura de démons redoutés ou de sorciers bienfaisants à mesure que, comme le montre Jean Seznec, ils les restaurent dans leur pureté philologique.« 368 Vgl. Robson-Scott, Goethe and the Gothic Revival, S. 104, sowie oben II.2.2. 369 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. "1991, S. 57f. 370 Vgl. ebd., S. 59. 371 Vgl. etwa die zusammenfassenden Bemerkungen von Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989, S. 282f. 372 Vgl. Piaton, Werke in acht Bänden. Griech. u. dt. Hg. v. Gunther Eigler. Bd. 4: Politeia. Der Staat. Bearb. v. Dietrich Kurz. Darmstadt 21990, S. 824-835 (605a-608b). 373 Vgl. dazu Goethes eigene Bemerkungen in den Schemata zum 13. Buch von Dichtung und Wahrheit·. »Die Geistlichkeit und die Moralisten bedrängen das Theater [...]. Um gegen diese Face zu machen, müssen die Vertheidiger zuviel [!] nachgeben, um es nicht allein 189
sehe Funktionszuschreibung an die Künste kann von Gottsched bis Lessing verfolgt werden und ist zumindest im deutschsprachigen Raum ein Gemeingut aller maßgeblichen Vertreter der Aufklärung während der beiden ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. 374 Noch in den sechziger und siebziger Jahren sahen sich Lessing und andere Autoren durch die Hamburger Geistlichkeit dem Vorwurf der Sittenlosigkeit ihrer Dramatik und der Bühne generell ausgesetzt; Goethe berichtet darüber rückblickend im 1811 verfaßten Aufsatz Deutsches Theater. Dieser Streit, der von beiden Seiten mit vieler Lebhaftigkeit geführt wurde nötigte leider die Freunde der Bühne, diese der höhern Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt, für eine sittliche auszugeben. Sie behaupteten das Theater könne lehren und bessern, und also dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen. Die Schriftsteller selbst, gute wackre Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sichs gefallen, und arbeiteten mit deutscher Biederkeit und gradem Verstände auf diesen Zweck los, ohne zu bemerken, daß sie die Gottschedische Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten und sie, ohne es selbst zu wollen und zu wissen, perpetuierten.375 Wie schon die Analyse der Shakespeare-Rede deutlich gemacht hat, richtete sich nun zur selben Zeit die avantgardistische Genieästhetik der jungen Stürmer und Dränger gerade gegen die erst wenige Jahrzehnte zuvor durchgesetzte, doch jetzt als äußerlich abgelehnte Form utilitaristischer Legitimierung von Kunst. 376 Sie übertrumpfte damit den zeitgenössischen Diskussionsstand des ebenfalls längst an Dynamik gewinnenden kategorialen Auseinandertriftens von ethischer Wahrheit und ästhetischer Wirkung, 377 also einer psychologisch argumentierten Differenzierung innerhalb der ästhetischen Theorie, die sie ihrerseits freilich voraussetzt. Daß die (in der Vermengung des Sitten- und des Kunstrichteramts durch die aufklärerischen Rezensionsorgane institutionell sich manifestierende) gemeinaufklärerische Vermischung moralischer und ästhetischer Ansprüche von den Vertretern der unschädlich, sondern auch zur Sittenschule zu machen.« (WA I, 28, 369) Ein exemplarischer Text für die genannte Tendenz ist Johann Christoph Gottscheds 1729 gehaltene (und 1736 gedruckte) Rede Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: J. C. G., Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 3-11. Allgemeine Informationen dazu bei Siegrist, Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten, S. 286-288, 298 u. 301. 374 Vgl. den Abschnitt Literarische Moral und praktische Wirkung in Jochen Schulte-Sasse, Poetik und Ästhetik Lessings und seiner Zeitgenossen. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hg. v. Rolf Grimminger. München 21984 (=Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3), S. 304-326, hier 306-315; spezifisch zur Dramentheorie: Kurt Wölfel, Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing. In: Deutsche Dramentheorien I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Wiesbaden 31980 (=Athenaion-Literaturwiss. 11), S. 56-122. 375 MA 9, 619f; vgl. dazu und zur Datierung dieses Textes den Kommentar v. Norbert Miller (MA 9, 1269f). Zum allgemeinen Kontext der Diskussion: Thomas Koebner, Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert. In: Fs. f. Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 26-57. 376 Vgl. 1.5.3. 377 Vgl. Carsten Zelle, Ästhetischer Neronismus. Zur Debatte über ethische oder ästhetische Legitimation der Literatur im Jahrhundert der Aufklärung. In: DVjs 63 (1989), S. 397-419. 190
Sturm und Drang-Generation vor allem als Instrument künstlerischer Restriktion erfahren wurde, belegt etwa das ausdrückliche und öffentlich mitgeteilte Bedauern Lenzens über die daraus resultierende Unmöglichkeit, das Goethesche Prometheus-Fmgment zu publizieren. 378 Auch Goethes Sulzer-Rezension schlägt augenscheinlich in diese Kerbe: Wenn nämlich das Berliner Akademiemitglied im Jahr 1772 moniert, daß die schönen Künste mittlerweile zwar »mehr als zu viel Beförderer und Freunde gefunden haben«, »aber zum großen Zweck, zur moralischen Besserung des Volks, noch nicht [!] gebraucht worden« seien, wie Goethe - durchaus verfälschend - paraphrasiert,379 dann kann der selbstbewußte junge >Prophet< einer neuen Künstlerästhetik darauf nur höhnisch replizieren:
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Lenzens gegen eine Vermischung von moralischer und ästhetischer Sphäre gerichtete »Gedanken« gibt Heinrich Leopold Wagner mit ausdrücklicher Billigung ihres Urhebers in einer Anmerkung zu seiner Mercier-Übersetzung wieder: »Ich habe den Torso eines Prometheus von Goethe gelesen, das vielleicht das gröste war, was er schrieb, ich zweifle aber, daß er ihn darf drucken laßen, so lang das deutsche Publikum moralische Abhandlungen und Gedichte zu vermischen schwach genug ist. Dieser Prometheus ist ein Götterverächter, wie er in der Geschichte war und seyn mußte. Ihn fromm zu machen hieße der Medicäischen Venus einen Rosenkranz in die Hände geben.« [Louis-Sébastien Mercier,] Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [übers, v. H. L. Wagner]. Mit einem Anhang Aus Goethes Brieftasche. Leipzig 1776. (Faksimiledruck n. d. Ausgabe v. 1776. Mit e. Nachwort v. Peter Pfaff. Heidelberg 1967; =Dt. Neudrucke, R. Goethezeit), S. 293, Anm. 379 MA 1.2, 401. Sulzer ist es in der fraglichen Passage um folgende Problematik zu tun: »Der große Haufe der Künstler kennet, nach dem gemeinen Vorurtheile, das die Großen nur zu sehr unterhalten, keinen andern Beruf, als müßige Leute zu vergnügen. Wie soll aber das glückliche Genie, auf dieses schwache Fundament gestützt, sich in die Höhe heben können? Woher soll es seinen Schwung nehmen? Große Kräfte werden nie durch kleines Interesse gereizt, und so bleiben die herrlichsten Gaben des Genies, die die Natur den Neuem, nicht mit kargerer Hand, als den AIten[,] ausgetheilet hat, meist ungebraucht liegen.« Darauf gibt Sulzer als Aufklärer zu bedenken: »Würde der Künstler, nicht in das Cabinet des Regenten, wo dieser nichts als ein Privatmann ist, sondern an den Thron gerufen, um dort einen eben so wichtigen Auftrag zu hören, als der ist, der dem Feldherrn oder dem Verwalter der Gerechtigkeit, oder dem, der die allgemeine Landespolizey besorget, gegeben wird; wären die Gelegenheiten, das Volk durch die schönen Künste zum Gehorsam der Gesetze und zu jeder öffentlichen Tugend zu führen, in dem allgemeinen Plane des Gesetzgebers eingewebef, so würden sich alle Kräfte des Genies entwickeln, um etwas Großes hervor zu bringen; und alsdann würden wir auch wieder Werke sehen, die die besten Werke der Alten vermuthlich übertreffen würden. Dort öffnet sich also der Weg, der zur Vollkommenheit der schönen Künste führet.« (Sulzer, Die schönen Künste, S. 69f; Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 89; Hervorhebungen v. Verf.) Goethes verfälschende Paraphrase mit der typographischen Hervorhebung des Zwecks der »moralischen Besserung« betont also zusätzlich die hier in Sulzers Argumentation gar nicht so stark im Vordergund stehende utilitaristische Grundlage, um sie danach umso radikaler zu verabschieden. Immerhin hatte Sulzer ja schon zu Beginn seiner Ausführungen die »Nutzbarkeit« der Künste zu einem Angelpunkt seiner Überlegungen gemacht (vgl. Die schönen Künste, S. 9; Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 72).
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[W]ir machen das Büchlein zu. Ihm mag sein Publikum von Schülern und Kennerchens getreu bleiben, wir wissen, daß alle wahre Künstler und Liebhaber auf unsrer Seite sind, die so über die Philosophen lachen werden, wie sie sich bisher über die Gelehrten beschwert haben.380 An die Stelle der utilitaristischen Begründung künstlerischer Praxis setzt Goethe die Apotheose des genialen Künstlers, der sich in seiner schöpferischen Autonomie von keinen moralischen 381 (oder anderen außerkünstlerischen) Rücksichten mehr einschränken läßt. 382 Eine fundamentale und folgenreiche Verschiebung des künstlerischen Selbstverständnisses deutet sich in dieser theoretischen Wendung an, die darauf hinausläuft, daß das überkommene wirkungsästhetische Denken der europäischen Aufklärung bis hin zu Lessing dem emphatisch verkündeten Primat einer genialischen Produktionsästhetik weichen muß: Wenn irgend eine spekulative Bemühung den Künsten nützen soll, so muß sie den Künstler grade angehen, seinem natürlichen Feuer Luft machen, daß es um sich greife und sich tätig erweise. Denn um den Künstler allein ists zu tun, daß der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Kunst, daß in sein Instrument versunken, er mit allen seinen Empfindungen und Kräften da lebt. Am gaffenden Publikum, ob das, wenns ausgegafft hat, sich Rechenschaft geben kann, warums gaffte, oder nicht, was liegt an dem?383 Freilich könnte man diesen Worten entgegenhalten, die Wirkungskategorie werde in der Sturm und Drang-Ästhetik durch die energetische »Forcierung des künstlerischen Effekts« 3 8 4 bloß auf eine andere Ebene verlagert, w o sie als Enthusiasmusund Intensitäts-Postulat mit dem produktionsästhetischen Aspekt zusammenfalle. Anläßlich einer Besprechung der Empfindsamen Reisen durch Deutschland, einer so Goethe - aus »kindischefr] Nachahmungssucht« 385 entsprungenen Sterne-Imitation von Johann Gottlieb Schummel, kommt Goethe selbst in den Frankfurter gelehrten Anzeigen auf die »Magie der Sympathie« zu sprechen, die bei genialen
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MA 1.2, 401. Allgemeine »moralische Gesetze oder Maximen«, welche Gottscheds Poetik zufolge einzelnen Dramenplänen ja jeweils zugrundeliegen müssen, bezeichnet Goethe in einer gemeinsam mit Merck verfaßten Rezension für die FGA 32 (20.4.1772), S. 225f, übrigens spöttisch als »Drähte, an welchen [...] Marionetten gezogen werden sollen«; diesem Bild hält er entgegen: »Die Natur hat uns Federn gegeben: Warum will man diese nicht lieber bearbeiten, diesen nicht lieber ihr freiwilliges Spiel geben?« (MA 1.2, 321) 382 Vgl. Dichtung und Wahrheit, 12. Buch, wo Goethe auch im Rückblick affirmiert: »Die Sulzersche Theorie war angekündigt, mehr für den Liebhaber als für den Künstler. In diesem Gesichtskreise werden vor allem sittliche Wirkungen gefordert, und hier entsteht sogleich ein Zwiespalt zwischen der hervorbringenden und benutzenden Klasse; denn ein gutes Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber moralische Zwecke vom Künstler fordern, heißt ihm sein Handwerk verderben.« (MA 16, S. 573f) Mehr dazu bei Heinz Hamm, Der Theoretiker Goethe. Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie. Berlin 1975 (=Lit. u. Ges.), S. 169-180. 383 MA 1.2, 402. Zu Goethes »Philosophie der Produktion, die nicht von ungefähr stark psychotherapeutische Züge trägt«, vgl. auch Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 2, S. 24. 384 Zelle, Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung, S. 167. 385 MA 1.2, 309. 381
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Werken den Rezipienten mitlachen und mitweinen lasse.386 Doch ändern solche wirkungsästhetischen Implikationen im weiteren Sinne wenig an der Tatsache, daß die Orientierung an der (moralisch-sittlichen) Wirkung fortan nicht mehr ausschlaggebend für die ästhetische Theoriebildung ist. Die Entwicklung zur Produktionsästhetik war theorieimmanent ja schon seit Winckelmann absehbar.387 Mit einem Paukenschlag macht Goethe nun die allgemeine Tendenz explizit: Das neue Zentrum aller Theorie ist der Genie-Begriff.388 Nicht mehr der Künstler muß sich nach der angestrebten Wirkung beim Publikum richten, sondern umgekehrt: Das Publikum muß zur Intention des Künstlers geführt werden; psychologische Erwägungen bleiben dagegen ausdrücklich hintangestellt: Wer also schriftlich, mündlich oder im Beispiel, immer einer besser als der andre, den sogenannten Liebhaber, das einzig wahre Publikum des Künstlers, immer näher und näher zum Künstlergeist aufheben könnte, daß die Seele mit einflösse ins Instrument, der hätte mehr getan als alle psychologischen Theoristen.389
Kurt Wölfel hat den internationalen theoriegeschichtlichen Kontext, in dem die Ablösung der letztlich sozial argumentierten Wirkungsästhetik durch die Produktionsästhetik des Sturm und Drang erfolgte, unter besonderem Bezug auf Rousseaus Kulturkritik skizziert: »Wie sich der Begriff des Bürgers von dem des Menschen absondert, derart, daß sie rousseauistisch als auf die Gesellschaft bzw. auf die Natur bezogene Größen antinomisch sich zueinander verhalten, so sondert sich der Begriff des Dichter-Genies, als des wahren Menschen und ursprünglicher Natur zugleich, von der bürgerlichen Gesellschaft ab, so findet das poetische Schaffen sein Substrat nicht mehr in der Gesellschaft, d.h. in einem gemeinsam gewußten und verfolgten Interesse, sondern - das enthält nun die Formel von der Schöpferkraft des Genies mit - in diesem Genie selbst, in der von der denaturierten Gesellschaft nicht entstellten Ursprünglichkeit seiner Natur. Gegen die (als prinzipiell verkehrt gedachten) Interessen der Gesellschaft - der realen, bürgerlichen Gesellschaft - nicht aus ihr kommt der substantielle Gehalt in das poetische Werk, ja damit es ein substantieller poetischer Gehalt sei, ist seine Gesellschaftsfremdheit notwendige Bedingung.«390 386
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MA 1.2, 310. Eine veritable »Theorie der Sympathisationen« liefert Goethe dann in seinem Aufsatz Nach Falkonet und über Falkonet, der - wie die unten diskutierte Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe - 1776 im Anhang zu Heinrich Leopold Wagners MercierÜbersetzung erschien; vgl. die an der Hermetik-These ausgerichtete Interpretation von Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 278-282, Zit. 278; mehr dazu bei Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 63-66, wo der kunsttheoretische Text in den diskursiven Zusammenhang der zeitgenössischen Dramentheorien gestellt wird. Vgl. Albrecht, Schönheit, Natur, Wahrheit, S. 164: »Winckelmann geht, als Anhänger Piatos und Plotins, unmittelbar vom Kunstwerk und Künstler aus; Lessing, als Vertreter des Aristotelischen Kunstbegriffs, nimmt die Kunstwirkungen zum Ausgangspunkt.« Vgl. MA 1.2, 402: Alle Theorie muß sich daran messen lassen, ob sie »dem Genie etwas nutzen« kann. MA 1.2, 402. Kurt Wölfel, Zur Geschichtlichkeit des Autonomiebegriffs. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972.
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Noch dreizehn Jahre nach dem >Anti-SulzerGanzheitBürgertum< ist; vgl. zu dieser Problematik jetzt Eibl, Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte, S. 15f (mit weitergehenden Literaturhinweisen). Wölfel übersieht zudem, daß es zunächst v.a. die höfisch geprägte Pariser Gesellschaft war, gegen die sich Rousseau in seinen kulturkritischen Schriften wendete; vgl. dazu etwa Robert Darnton, Rousseau in Gesellschaft. Anthropologie und Verlust der Unschuld. In: Ernst Cassirer, Jean Starobinski, Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen. Frankfurt a. M. 1989, S. 104-114. Freilich richtet sich Rousseaus Entfremdungskritik nicht allein gegen die mondän-aristokratische Gesellschaft des vorrevolutionären Paris, sondern auch schon »gegen die entstehende bourgeoise Gesellschaft« und »gegen den eben erst beginnenden Kapitalismus«, wie Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 15 u. 19, in aktualisierender Absicht (über)betont. 391 Vgl. [Saint-Lambert,] Artide Génie, S. 9: »La plupart des hommes n'éprouvent de sensations vives que par l'impression des objets qui ont un rapport immédiat à leurs besoins, à leur goût, etc. Tout ce qui est étranger à leurs passions, tout ce qui est sans analogie à leur manière d'exister, ou n'est point apperçu par eux, ou n'en est vu qu'un instant sans être senti, et pour être à jamais oublié.« Dagegen richtet der »homme de génie« sein (eigen)interesseloses Interesse umstandslos »à tout ce qui est dans la nature«. 392 MA 2.2, 304. 393 Vgl. dazu IV.3.2. 394 Vgl. II.4.4. 395 So vertritt etwa Moses Mendelssohn in der Erstfassung (1758) seiner Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften noch eine monistische Definition des Sublimen (vgl. dazu generell II.4.3), wonach »die Eigenschaften des aller194
sistierende Auratisierung der Kunst durch diese höchste Form des Sublimen ist dabei nicht allein innerästhetisch, sondern auch kultursoziologisch von einiger Relevanz.
3.3 Zur sozialen Funktion säkularisierter Frömmigkeitsformen in der Kunstreligion Am Beginn des 10. Buchs von Dichtung und Wahrheit berichtet Goethe von den schwierigen sozialen Voraussetzungen, unter denen die literarische Produktion im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu leiden hatte: Die deutschen Dichter, da sie nicht mehr als Gildeglieder für Einen Mann standen, genossen in der bürgerlichen Welt nicht der mindesten Vorteile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Ansehen, als in sofern sonst ein Verhältnis ihnen günstig war, und es kam daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren sein sollte. Ein armer Erdensohn, im Gefühl von Geist und Fähigkeiten, mußte sich kümmerlich ins Leben hineinschleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Musen erhalten hatte, von dem augenblicklichen Bedürfnis gedrängt, vergeuden. [...] [E]in Poet, wenn er nicht gar den Weg Günthers einschlug, erschien in der Welt auf die traurigste Weise subordiniert, als Spaßmacher und Schmarutzer, so daß er sowohl auf dem Theater als auf der Lebensbühne eine Figur vorstellte, der man nach Belieben mitspielen konnte.396 Das soziale und kulturelle Prestige der schönen Literatur waren der Entwicklung einer qualitativ hochwertigen Dichtung also in keiner Weise günstig. Es bedurfte deshalb - unter anderem - einer herausragenden Dichterpersönlichkeit, um die Entstehungsbedingungen für Literatur entscheidend zu verbessern: Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen. Er war, von der sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner Jüngling. Ernst und gründlich erzogen legt er, von Jugend an, einen großen Wert auf sich selbst und auf alles was er tut, und indem er die Schritte seines Lebens bedächtig vorausmißt, wendet er sich, im Vorgefühl der ganzen Kraft seines Innern, gegen den höchsten denkbaren Gegenstand. Der Messias, ein Name, der unendliche Eigenschaften bezeichnet, sollte durch ihn aufs Neue verherrlicht werden.397 In seiner Schilderung der zentralen Rolle Klopstocks für die Entwicklung der deutschen Literatur gibt Goethe einen deutlichen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Konjunktur des Geniegedankens und der fortschreitenden ökonomischen und ideologischen Schriftstelleremanzipation von direkten personalen Abhängigkeitsverhältnissen. Der vom dänischen Staatsmann und Mäzen Graf v. höchsten Wesens, die wir anschauend in seinen Werken erkennen, die allerentzückendste Bewunderung [erregen], weil sie alles übertreffen, was wir uns Großes, Vollkommenes oder Erhabenes gedenken können«: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Stuttgart/Bad Canstatt 1971, S. 194. 396 MA 16, 429. 397 MA 16, 429f. 195
Bernstorff geförderte Klopstock ist dabei in mehr als nur der ästhetischen Hinsicht eine wichtige Figur des Übergangs: Zwar verfügt er »von Jugend an« über ein bemerkenswertes Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein, was er nicht zuletzt seiner >gründlichen< Erziehung verdankt, doch bedarf er für die wirkungsvolle Konstitution dichterischer Dignität thematisch noch des >höchsten denkbaren Gegenstands dechristianisierten< Frankreich. Gerade dieser Sachverhalt hatte für Klopstock entscheidende Bedeutung, denn: »Die Würde des Gegenstands erhöhte dem Dichter das Gefühl eigner Persönlichkeit. [...] So erwarb nun Klopstock das völlige Recht, sich als eine geheiligte Person anzusehen, und so befliß er sich auch in seinem Hin der aufmerksamsten Reinigkeit.«399 Das mühsam erkämpfte »Gefühl eigner Persönlichkeit« mußte noch durch die würdevolle Haltung im gesellschaftlichen Umgang habituell abgestützt werden.400 Wie Goethe weiter ausführt, trug Klopstock gemeinsam mit dem patriotischen Liederdichter Gleim, zu dem er charakteristisch für die Dichterfreundschaften des 18. Jahrhunderts - eine empfindsame Korrespondenz unterhielt, nicht unerheblich zur Erhöhung des dichterischen Ansehens bei: »Jener hoher Begriff nun, den sich beide Männer von ihrem Wert bilden durften, und wodurch Andere veranlaßt wurden, sich auch für etwas zu halten, hat im Öffentlichen und Geheimen sehr große und schöne Wirkungen hervorgebracht.«401 Zu diesen >sehr großen und schönen Wirkungen< Klopstocks
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MA 16, 430. Klopstocks Sujetwahl war tatsächlich so gewagt, daß er in seiner Abhandlung mit dem bezeichnenden Titel Von der heiligen Poesie, die 1755 als Vorrede zum 1. Band des Messias (1748-73) erschien, eine ausholende Apologie angesichts der Frage anstrengte, »[o]b es erlaubt sei, den Inhalt zu Gedichten aus der Religion zu nehmen«; freilich konnte für ihn noch kein Zweifel daran bestehen, daß der »letzte Endzweck der hohem Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts [...] die moralische Schönheit« sei: Friedrich Gottlieb Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989, S. 187f u. 191. MA 16, 430f. Im Zusammenhang der forcierten Bemühungen um die Schaffung eines dichterischen Selbstwertgefühls vgl. Young, Gedanken, S. 47: »Weil es also gewiß ist, daß Menschen in ihren eigenen Fähigkeiten oft Fremdlinge sind, und eben, weil sie ohne rechtmäßige Ursache zu klein von sich denken, bald einen Namen, vielleicht einen unsterblichen Namen, verlieren können; so wünschte ich einige Mittel zu finden, um diesem Uebel zuvor zukommen. Alles, was die Tugend befördert, befördert noch etwas mehr, und erstreckt seinen glücklichen Einfluß noch weiter als auf den moralischen Menschen. Um diesen Uebeln zuvorzukommen, entlehne ich zwo güldene Regeln aus der Moral, die in der Composition nicht weniger als im Leben güldene Regeln sind. Die erste ist: Erkenne dich selbst. Die zweyte: Habe flir dich selbst Ehrfurcht.« MA 16, 432.
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und Gleims zählen vor allem das gehobene Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl der deutschen Dichter, was in der Folge auch das Prestige der Dichtung selber hebt: »Gesellte sich [...] die Muse zu Männern von Ansehen, so erhielten diese dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurückfiel.«402 Wie Klopstock sich selbst mit Fug betrachten kann, so betrachtet Goethe im Baukunst-Aufsatz den genialen Baumeister Erwin: als »geheiligte Person«. Der entscheidende Unterschied liegt nun freilich darin, daß die Dignität des sakralen Bauwerks (und indirekt auch des Goetheschen Textes) nicht mehr im »höchsten denkbaren Gegenstand«, also in seiner religiösen Funktion gründet, sondern allein in seiner qualitativen ästhetischen Beschaffenheit. An die Stelle des von und für Gott geheiligten Gebäudes tritt der vom Menschen geschaffene und geheiligte Kunstgegenstand. Die religiöse Einstellung weicht unwiderruflich der ästhetischen - eine dispositive Verschiebung, die - wie schon erwähnt - noch heute fortwirkt. Der sich in der ästhetischen Einstellung fokussierende >kulturelle Glaube< ist die Bedingung für das Funktionieren der >KunstreligionFetischcharakter< des Kunstwerks. Wie allen anderen gesellschaftlichen Kräftefeldern liegt nämlich auch dem kulturellen Feld notwendig eine (jedes legitime Verhalten erst ermöglichende) illusio zugrunde: Diese wird von Bourdieu deshalb soziologisch bestimmt als »kollektivejs] Verhaftetsein mit dem Spiel, das zugleich Ursache und Wirkung der Existenz des Spiels ist«,403 bzw. als »Anerkennung des Spiels und der Nützlichkeit des Spiels, Glaube in den Wert des Spiels und seines Einsatzes, die alle besonderen Sinn- und Wertstiftungen fundieren«. 404 Im 18. Jahrhundert mußte die ästhetische Einstellung, die spezifische illusio des künstlerischen Feldes, gegenüber anderen, konkurrierenden Letztbegründungen der Kunst erst erkämpft werden. Genau in diesem historischen Kontext ist nun Goethes enthusiastische Vergötterung des Künstlers zu verstehen: Dem von allen außerkünstlerischen Zwecken >gereinigten< ästhetischen Gegenstand, hier dem Straßburger Münster, mußte eine neue, säkulare Dignität jenseits der religiösen und der reinen Gebrauchsfunktion verliehen werden. Dies zu befördern, bedurfte es einer neuen, auratisierten Vorstellung vom Künstler, die am besten mit einer dem religiösen Kult entliehenen, auratisierenden Sprache zu bewerkstelligen war. Schon der Brief Goethes an Röderer vom 21. September 1771, in dem ja ausführlich vom Straßburger Münster gehandelt wird, bringt diese komplexe Problemlage ansatzweise zum Ausdruck: Die Gelegenheit die Sie finden praktisch an die Baukunst zu gehen, ist fürtrefflich. Wenn der Künstler nicht zugleich Handwerker ist, so ist er nichts, aber das Unglück! unsre meiste [sie] Künstler sind nur Handwerker. So lang's denn da bey alletags Gebäuden bleibt, da geht's noch so ziemlich; sobald Pallast oder Monument aufsteigen soll, ist ihr Feenstab zu schwach. Und dazu braucht man eigentlich den Baumeister, ieder Bauer giebt dem Zimmermann die Idee zur Schöpfung seiner Leimen Hütte; wer soll Jupiters Wohnung in die Wolken thürmen? wenn es nicht Vulkan ist, ein Gott wie er. Ja der Künstler 402 403 404
MA 16, 429. Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 270f. Ebd., S. 278.
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muß eine so große Seele haben, wie der König für den er Sääle wölbt, ein Mann wie Erwin, wie Bramante.405 Der Baumeister muß also >seelisch< den künftigen Bewohnern seiner Bauwerke entsprechen; baut er gar für einen Gott, so muß er »ein Gott« sein »wie er«. Exkurs: D i e Dritte
Wallfahrt
nach Erwins
Grabe
im Juli
1775
Ein besonders flagrantes Beispiel für die forcierte Auratisierung des Künstlers mit den sprachlichen Mitteln des religiösen Kults ist Goethes Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 177'5,406 die 1776 im Anhang aus Goethes Brieftasche zu der (von Heinrich Leopold Wagner besorgten) Übersetzung von Merciers Du théâtre ou nouvel essai sur l'art dramatique erschien. Die Entstehungsumstände 407 lassen sich folgendermaßen umreißen: Auf seiner ersten Schweizer Reise hat Goethe am 15. Juli 1775, dem Fronleichnamstag, gemeinsam mit den beiden Grafen Stolberg den Wallfahrtsort Maria Einsiedeln besucht. Dort ist er wohl zum ersten Mal mit Wallfahrtsbüchlein und Wallfahrtsgebeten in Berührung gekommen und war davon - wie er rückblickend in fast apologetischem Ton berichtet 408 - stark beeindruckt. Das überwältigende Erlebnis des Wallfahrtszyklus mit den vierzehn Stationen hat ihn wohl dazu angeregt, einen weiteren panegyrischen Hymnus auf Erwin als Wallfahrt zu stilisieren und in Vorbereitung, Gebet®9 und nachfolgende Stationen einzuteilen. Die Bezeichnung »Dritte Wallfahrt« ist dabei durchaus biographisch 405
WA IV, 2, 25. Bereits Laugier wollte das Prestige der Baukunst, die meist als >niederes< Handwerk galt, in den Bereich »der grösten Künste und Wissenschaften« anheben, blieb jedoch in seinem Auratisierungsbestreben noch weit hinter Goethe zurück; vgl. die (unpaginierte) Vorrede des Uebersetzers, zu der zwoten Ausgabe von Laugiers Versuch in der Bau-Kunst: »Er betrachtet die Baukunst nicht als ein Handwerk, sondern als eine der grösten Künste und Wissenschaften, und handelt sie nicht mechanisch, sondern gründlich und deutlich ab, daß sowohl Gelehrte als Maurer und Zimmerleute aus dessen Versuch der Baukunst, vielen Nutzen schöpfen, mithin selbigen nützlich lesen können.« 406 Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 69, sieht in Goethes formaler Anlehnung an eine »Prozessionslitanei« dagegen bloß eine - offenbar funktionslose - »spielerische[ ] Einkleidung«. 407 Die folgenden Informationen entnehme ich Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 53f, sowie den Kommentaren v. Einems (HA 12, 582) und Sauders (MA 1.2, 800). 408 Vgl. Dichtung und Wahrheit, 18. Buch: »Eine Anzahl von Wallfahrern, die schon unten am See von uns bemerkt mit Gebet und Gesang regelmäßig fortschritten, hatten uns eingeholt; wir ließen sie begrüßend vorbei und sie belebten, indem sie uns zur Einstimmung in ihre frommen Zwecke beriefen diese öden Höhen anmutig charakteristisch [!]. Wir sahen lebendig den schlangelnden Pfad bezeichnet, den auch wir zu wandern hatten und schienen freudiger zu folgen; wie denn die Gebräuche der römischen Kirche dem Protestanten durchaus bedeutend und imposant sind, indem er nur das Erste, Innere wodurch sie hervorgerufen, das Menschliche wodurch sie sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, und also auf den Kern dringend, anerkennt, ohne sich gerade in dem Augenblick mit der Schale, der Frucht-Hülle, ja dem Baume selbst, seinen Zweigen, Blättern, seiner Rinde und seinen Wurzeln zu befassen.« (MA 16, 779) 409 Dazu Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 496: »Goethe hat offenbar das [in einer Wallfahrt übliche, NCW] Vorbereitungsgebet aus flüchtiger Erinnerung in zwei Teile getrennt: Vorbereitung und Gebet«. 198
zu verstehen: Demnach war Goethes Studienzeit in Straßburg die >Erste Wallfahrt·«, als deren Zeugnis ja der Baukunst-Aufsatz gelten kann. Die >Zweite Wallfahrt erfolgte gemeinsam mit den Brüdern Stolberg bei einem kurzen StraßburgAufenthalt (24. bis 26. Mai 1775) während der Reise in die Schweiz. Seine Rückreise unterbrach Goethe abermals in der Hauptstadt des Elsaß und bestieg am 13. Juli 1775 erneut den südlichen Münsterturm. Die drei >Stationen< des Textes korrespondieren überdies wiederum auffallend mit der architektonischen Struktur des Münsters: »G[oethe] schrieb den Text auf der Plattform des Südturms. Die >Erste Station< wird mit der ersten Galerie, die >Zweite Station< mit der zweiten Galerie, die >Dritte Station< mit der Plattform in Verbindung gebracht.«410 Schon die »Vorbereitung« weist alle Züge einer Säkularisierung, ja Profanisierung des Wallfahrtszyklus auf: Wieder an deinem Grabe und dem Denkmal des ewigen Lebens in dir über deinem Grabe, heiliger Erwin! fühle ich, Gott sei Dank, daß ich bin wie ich war, 4 " noch immer so kräftig, gerührt von dem Großen, und o Wonne, noch einziger, ausschließender gerührt von dem Wahren, als ehemals, da ich oft aus kindlicher Ergebenheit das zu ehren mich bestrebte, wofür ich nichts fühlte und, mich selbst betrügend, den Kraft und Wahrheitsleeren Gegenstand mit liebevoller Ahndung übertünchte. Wie viel Nebel sind von meinen Augen gefallen und doch bist du nicht aus meinem Herzen gewichen, alles belebende Liebe! Die du mit der Wahrheit wohnst, ob sie gleich sagen, du seist lichtscheu und entfliehend im Nebel.412
Goethes hier manifeste »Scheu, den Namen Gottes unmittelbar anzurufen«, »sein immer neues Suchen nach Umschreibungen, die zugleich verhüllen und offenbaren«, sind keineswegs einer tiefen Ehrfurcht vor Gott geschuldet, wie Beutler suggeriert.413 Die »alles belebende Liebe« kann nämlich kaum als angemessene »Umschreibung des ehrfürchtig vermiedenen Namen Gottes«414 gelten, wenn man berücksichtigt, daß im folgenden Satz von dem - zwar offensichtlich als frevelhaft eingestuften - (Vor)Urteil gehandelt wird, diese Liebe sei »lichtscheu und entfliehend im Nebel«. Gotting vermutet dagegen mit einigem Recht, hier sei »nicht die 410
So der Kommentar Sauders (MA 1.2, 800). Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 58, behauptet sogar, die drei >Stationen< seien »auf der ersten und zweiten Galerie des Humes und dann auf der Plattform des Südturmes geschrieben«; ebs. v. Einem (HA 12, 582). Gegen eine bewußt stilisierte Korrespondenz zwischen der architektonischen Struktur des Münsterturms und den drei >Stationen< spricht freilich Goethes Erwähnung der »Gespräche«, »unter welchen die übrigen Stationen vollendet wurden« (MA 1.2, 305). 411 Mit diesen Worten will Goethe wohl kaum Gott einen »Dank« abstatten »dafür: daß er noch ist, der er war«, bzw.: daß es ihm »vergönnt gewesen« sei, »dem eigenen Wesen treu zu bleiben«, wie Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 57, vermeintlich textnah paraphrasiert. Der Sinn der im feierlichen biblischen Stil gehaltenen Formulierung ergibt sich vielmehr aus den ausgeklammerten Satzteilen: Das »dithyrambische Ich< dankt dafür, daß die eigene Kraft erhalten geblieben ist und daß die von der Betrachtung des Münsters ausgelöste >Rührung< nicht nachgelassen, sondern - wie das Folgende ausführt - sogar noch zugenommen hat; vgl. Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 496. 4,2 MA 1.2, 303; dazu Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 496. 413 Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 57f. 414 So v. Einem in seinem an Beutler angelehnten Kommentar (HA 12, 582).
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liebende Gottheit angesprochen, sondern die im Dichter entzündete Liebeskraft«, 415 die sich wohl auch und in erster Linie an das vom >dithyrambischen Ich< geheiligte Baukunstwerk richtet. Tatsächlich wäre es kaum überraschend, wenn jemand die »Liebe« zu einem gotischen Sakralbau im Zeitalter der Aufklärung als »lichtscheu« bezeichnet hätte. Die These, es handle sich bei dem Objekt der Liebe weniger um Gott, sondern allererst um das Münster, wird auch durch die direkte Anrede im »Gebet« unterstützt: Du bist Eins und lebendig, gezeugt und entfaltet, nicht zusammengetragen und geflickt.416 Vor dir, wie vor dem Schaum stürmenden Sturze des gewaltigen Rheins, wie vor der glänzenden Krone der ewigen Schneegebiirge, wie vor dem Anblick des heiter ausgebreiteten Sees, und deiner Wolkenfelsen und wüsten Täler, grauer Gotthard! Wie vor jedem großen Gedanken der Schöpfiing, wird in der Seele reg was auch Schöpfungskraft in ihr ist.417
Keineswegs »betet« hier der »schöpferische Mensch [...] zu dem Schöpfer der Welt«.418 Im Gegenteil: Die Prädikate »Eins und lebendig, gezeugt und entfaltet, nicht zusammengetragen und geflickt« sind eindeutig auf die Architektur bezogen, wie der Vergleich mit den einschlägigen Passagen aus dem Baukunst-Aufsatz belegt.419 Gotting resümiert deshalb zurecht, »daß Goethe das Münster als Werk des Künstlergenius neben die großen Gedanken der Schöpfung stellt, die ihm als Erinnerungsbilder seiner Schweizer Reise vor Augen stehen, wohlgemerkt Gedanken der Schöpfung, nicht des Schöpfers!«420 Diese Beobachtung kann vor der mittlerweile gängigen Deutung,421 es handle sich bei dem typographisch hervorgehobenen »großen Gedanken der Schöpfiing« um ein nicht ganz wörtliches Zitat aus der 1. Strophe von Klopstocks Ode Der Ziirchersee (1750), sogar noch profiliert werden: Klopstock pries nämlich ausdrücklich »den großen Gedanken/ Deiner Schöpfung«, wobei er sich an die »Mutter Natur« als Stellvertreterin Gottes wandte. 422 Indem nun Goethe das Possessivpronomen »Deiner« durch den neutralen Artikel »der« ersetzt, nivelliert er die göttliche Schöpfung zu einer unspezifischen Kreativität ohne notwendigen extramundanen Ursprung. Und indem er angesichts des vom Menschen geschaffenen Bauwerks und der (mit den einschlägigen Erhabenheitstopoi ausgestatteten) Natur »in der Seele« des Betrachters die künstlerische »Schöpfungskraft« affiziert sein läßt, appelliert er an die eigene schöpferische Produktivität des selbständigen und selbstbestimmten Künstlers.423 Von zentraler 415
Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 496. Zu dieser >Parodie< des Credos in der Messe und zu seiner Funktion vgl. ebd., S. 496f. 417 MA 1.2, 303. 418 So Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 58. 4,9 Vgl. II.4.4. 420 Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 497. 421 Vgl. HA 12, 582; MA 1.2, 801. 422 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke. Hg. v. Karl August Schleiden. München 1962, S. 53: »Schön ist, Mutter Natur, deiner Empfindung Pracht/ Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,/ Das den großen Gedanken/ Deiner Schöpfung noch einmal denkt.« 423 Goethes Analogie zwischen der erhabenen Natur und dem Kunstwerk fuhrt Gotting, Goe416
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Bedeutung ist dabei, daß es sich um eine »Anbetung« nicht des Schöpfers, sondern des »Schaffenden« handelt.424 Wenn also tatsächlich »die Gottheit im Werk des Künstlers erfahren« wird,425 wie Beutler meint, dann impliziert das vor dem genannten Hintergrund zumindest, daß es sich nicht mehr um eine extramundane oder gar um die christliche Gottheit handelt, im Gegenteil: Im genialen Kunstwerk konkretisiert sich symbolhaft die göttliche Kraft des Künstlers. Auch die drei >Stationen< weisen in dieselbe Richtung: So heißt es etwa gleich zu Beginn der >Ersten Stationc »Ich will schreiben, denn mir ists wohl, und so oft ich da schrieb, ists auch andern wohl worden die's lasen, wenn ihnen das Blut rein durch die Adern flöß und die Augen ihnen hell waren.«426 Das allgemeine Wohlergehen der >Reinen< geht hier offenkundig nicht mehr von der Lektüre der Heiligen Schrift aus, also von der Kunde des außerweltlichen Gottes, sondern vielmehr von den Worten des schreibenden >IchDritten Station< wird die Zielgruppe dieser Worte direkt angesprochen: Hätt ich euch bei mir, schöpfungsvolle Künstler, gefühlvolle Kenner! deren ich auf meinen kleinen Wanderungen so viele fand, und auch euch, die ich nicht fand und die sind. Wenn euch dies Blatt reichen wird, laßt es euch Stärkung sein gegen das flache unermüdete Anspülen unbedeutender Mittelmäßigkeit, und solltet ihr an diesen Platz kommen, gedenkt mein in Liebe.427
Das Wort des Dichters, nicht das Wort Gottes, dient hier als »Stärkung«, die ihrerseits auch nicht mehr gegen die unvermeidlichen Mühen des gläubigen Lebens, sondern »gegen das flache unermüdete Anspülen unbedeutender Mittelmäßigkeit« - also gegen ästhetische Defizienz - benötigt wird. Und es ist das liebevolle Andenken des Dichters, nicht das Andenken Gottes, welches das dithyrambische Ich< den Künstlern und Kennern ausdrücklich anempfiehlt. Schon Götthes Straßburger Credo, S. 497, zu folgendem Schluß: »Beides, die gewaltigen Kunstund Naturwerke, sind >gleichen Wesens< [...]. Der Künstler ist auf die Erde herabgestiegene fleischgewordene Schöpfungskraft der Natur, der neue Mittler zwischen Göttern und Menschen. Natur und Künstler stehen als Vater und Sohn im neuen Credo! Und der heilige Geist, qui ex patre filioque procedit, die durch beide, Natur und Kunstwerk entzündete Schöpfungskraft, - wo anders wird er lebendig als im Dichterl« Die vielleicht etwas gewagt anmutende These, im »Gebet« komme solchermaßen eine profanisierende Umdeutung des Trinitätsgedankens zum Ausdruck, stützt Gotting auf den abschließenden Satz: »In Dichtung stammelt sie [die Schöpfungskraft] über, in kriitzlenden [sie] Strichen wühlt sie auf dem Papier Anbetung dem Schaffenden, ewiges Leben, umfassendes unauslöschliches Gefühl des, das da ist und da war und da sein wird.« (MA 1.2, 303) Gotting verweist in diesem Zusammenhang auf folgende Formeln des Credos: »qui locutus est per prophetas« - »et vitam venturi saeculi«. Die abschließende Formel entspricht Offb. 1,4 und 1,8: »der da ist und der da war und der da kommt« (Hinweis in MA 1.2, 801). Die Natur wäre demnach Gottvater, der Künstler Gottes Sohn und der Dichter der heilige Geist - die Stichhaltigkeit dieser etwas forcierten Interpretation sei hier dahingestellt. 424
Vgl. MA 1.2, 303. Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 58. 426 MA 1.2, 304. 427 MA 1.2, 304. 425
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ting hat sich darum bemüht, »die Umschmelzung aufzuzeigen, die die Kultsprache im Munde des Dichters erfährt. Daß der Dichter die Sprache der Bibel spricht, könnte leicht zu der falschen Auslegung führen, der Dichter mache sich zum Verkünder einer christlichen Weltdeutung, die er gerade radikal hinter sich läßt.«428 Wie unschwer zu erkennen ist, richtet sich diese Warnung gegen die wenige Jahre zuvor veröffentlichte humanistisch-christliche Interpretation Beutlers, die am profanisierenden Charakter der Schriften des jungen Goethe zum Straßburger Münster geflissentlich vorbeisah. Die Nachkriegsgermanistik konnte sich an der harmonisierenden Deutung freilich besser erbauen als an den damals offenbar verstörend wirkenden Beobachtungen Gottings,429 die deshalb auch in Vergessenheit gerieten: »Der Künstler steht nicht mehr im Dienst des Heiligen, er ist heilig, und sein Atem haucht den Dingen heiliges Leben ein. Das gilt im Vollsinn des Wortes: hier allein bricht für den Geniegläubigen das Heilige auf: im Gefühls- und Schaffensdrang des menschlichen Herzens, sei es im Künstler, sei es im vom Kunstwerk entzündeten Dichter. Shaftesbury hatte vom Künstler als von dem >second maker< gesprochen. Bei Goethe ist er mehr. Er ist das eigentliche Gefäß der göttlichen Schöpferkraft selbst, und sein Werk ist eine Epiphanie des Göttlichen.«430 Schon die unmittelbaren Zeitgenossen Goethes hatten mit einer solchen >Frömmigkeit< Probleme: Manche ereiferten sich an der Sakralisierung des Künstlers,431 andere gingen kurzerhand mit einer abschätzigen Bemerkung darüber hinweg,432 wieder andere weigerten sich einfach, die blasphemische Komponente überhaupt wahrzunehmen.433 Noch größeres Unverständnis bis zu maßlosem Spott durch die akademische Kritik löste Goethes nationalpatriotisches Eintreten für die Bezeichnung der Gotik als >deutsche Baukunst< aus434 - seine »Forderung, daß den Deut428 429
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Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 498. So orientiert sich etwa v. Einems Kommentar der einflußreichen Hamburger Ausgabe an Beutler, während Gottings Aufsatz nicht einmal erwähnt wird. Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 498. Vgl. die Rezension des Baukunst-Aufsatzes in der Neuen Bibliothek der schönen Wisschenschafien und der freyen Künste 14/2 (1773), S. 293: »Was helfen doch alle übertriebenen Lobsprüche, die hier so weit gehen, daß der Baumeister Erwin, seiner göttlichen Kunst halber, der heilige Erwin genennet wird?« Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek 34/2 (1778), S. 497f, zur Dritten Wallfahrt: »Soll Gefühl seyn, ist aber wahrhaftig leeres Galimathias, in dem hie und da ein sehr abgenutzter Gedanken schwimmet.« Zit. bei Müller, Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil, S. 270. So Friedrich Jacobi in seinem Brief vom 12. August 1775, in dem er sich für die Zusendung des Manuskriptes bedankt und die profanisierende Stoßrichtung in der Verherrlichung Erwins völlig verkennt: »Ich habe die Wallfahrt [...], und nie fühlte ich deinen Geist dem meinigen näher: diese Blätter sind mir Erfüllung und Verheißung; Lohn des Glaubens, und mächtige Stärkung in ihm - Herrlich daß man aus so weiter Entfernung einander so wahrhaftig erscheinen kann, daß die Gegenwart inniger ist, als es tausendmal die leibhaftige war. Wie ich dich an mein Herz drücke, lieber Unsichtbarer!« (HABaG 1, 49) Kein Wunder, daß bei einer solchen Verkennung des Freundes die Freundschaft zwischen Jacobi und Goethe auf eine Krise zusteuerte. Vgl. MA 1.2, 420: »Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug verkennt, dein Werk
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sehen als einer künstlerisch schaffenden Nation auch ein eigener Ausdruck in der Baukunst zugehörig sein müsse«.435 Wohl nicht zuletzt aufgrund der Verständnislosigkeit unter den Zeitgenossen, die schon dem Baukunst-Aufsatz entgegengeschlagen war, klagt Goethe in der Dritten Wallfahrt unter der Hand über die mangelhafte Aufnahmefähigkeit des Publikums, wobei er auch unverhohlen die eigene stilisierte Ausdrucksweise zur Verantwortung zieht.436 Und resignierend fahrt er fort:
mit dem unverstandenen Worte gotisch verkleinert. Da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, da der Italiäner sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzos. Und wenn du dir selbst diesen Vorzug nicht zugestehen willst, so erweis uns, daß die Goten schon wirklich so gebaut haben, wo sich einige Schwürigkeiten finden werden.« Mit seinem zuletzt zitierten Argument gegen die Bezeichnung >gotisch< hat Goethe nicht ganz unrecht. Ebensowenig unberechtigt ist freilich der Spott der Neuen Bibliothek der schönen Wisschenschaften und derfreyen Künste 14/2 (1773), S. 291-293: »Wie kann denn [...] der Verf. die gothische Baukunst für eine deutsche Erfindung halten, und den Franzosen und Wälschen vorwerfen, daß sie keine Nationalbaukunst hätten? Hat ihm denn sein Genius nicht gesagt, daß in Spanien, mit Zuziehung der morischen und arabischen, die ebenfalls uralte morgenländischen [sie] Bauarten, und Geschwister der gothischen sind; daß da noch viele dergleichen Kirchen und Paläste stehen, und daß in Frankreich, England und Italien eben so zierliche gothische Kirchen zu sehen sind, als in Deutschland? [...] Heißt das den Deutschen Ehre erzeigen, wenn man Dinge von ihnen sagt, worüber sich Ausländer nur aufhalten müssen? Oder sagt man diese Dinge nicht bloß in Absicht eigener Ehre, um gleich einem Laugier durch etwas Neues und Unerwartetes Aufmerksamkeit zu erwecken?« 435
Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 43. Die Forderung nach einer nationalen Baukunst liegt auch Laugiers Eintreten für einen neuen >ordre françois< zugrunde; vgl. Des Abts Laugier neue Anmerkungen über die Baukunst. [...] Leipzig 1768, S. 178: »Es wäre ein erniedrigender Gedanke, wenn man sich einbilden wollte, die Griechen hätten allein das Vorrecht gehabt Säulenordnungen zu erfinden. Warum sollte es andern Nationen, wenn sie auf der von den Griechen gebrochenen Bahn fortfahren, verwehrt seyn, weiter zu gehen als jene gekommen?« Später betont Laugier: »Dieser Gedanke [einer französischen Säulenordnung, NCW] darf den französischen Künstlern nicht gleichgültig seyn. Sie streben nach Ruhm in den Künsten, warum sollten sie nicht eine Nationalarchitektur erfinden, da sie einen Nationalgeschmack in der Musik haben? Würde es Frankreich nicht zur Ehre gereichen, wenn man nach dem Beyspiele der griechischen auch französische Ordnungen hätte? Die Franzosen sind in manchen Künsten die einzigen, welche heutiges [sie] Tages genennt [sie] zu werden verdienen, sie haben in der Musik blos die Italiäner, mit denen man sie vergleichen könnte [hier fügt der deutsche Übersetzer eine erboste Anmerkung ein, NCW]; wie vortrefflich wäre es, wenn man auch die französische Baukunst der griechischen an die Seite setzen könnte.« (S. 193f) Vgl. den originalen Wortlaut in [MarcAntoine] Laugier, Observations sur l'Architecture. La Haye 1765, S. 251 u. 274. Bezeichnend ist im gegenwärtigen Zusammenhang, daß Goethes Postulat nach einer deutschen Baukunst nicht mehr von einer national spezifischen Säulenordnung ausgeht, sondern diese für die nordische Klimazone rundweg verwirft. Und seine Behauptung, daß sich »der Franzos« keiner eigenen Baukunst »rühmen darf«, bezieht sich vielleicht gerade auf Laugiers diesbezügliche Klage. Zur Polemik um die Gotik als >Nationalstil< vgl. HannoWalter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 31991, S. 215.
436
Vgl. die in II. 1.1 zitierte einschlägige Passage aus der >Zweiten Station< (MA 1.2, 304).
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[D]och geht mir's jetzt nicht besser. So sei es denn mein Schicksal, wie es dein Schicksal ist, himmelanstrebender Türm und deins, weitverbreitete Welt Gottes! angegafft und läppgensweise in den Gehirnchen der Welschen aller Völker auftapeziert zu werden.«437
Auffallend ist hier die Formulierung »der Welschen aller Völker«, die den zuvor als französisch konnotierten und verbissen bekämpften akademischen Rationalismus entnationalisiert und dessen idealtypische Vertreter generell zum Archetypus des unkreativen Menschen erklärt: »die >Welschen< sind jetzt nicht irgendwelche Nachbarn des Rheins. Der nationale Gegensatz ist verschwunden, und Kluft ist nur noch zwischen den Schöpferischen und der Menge der Gaffer und Urteilslosen, die sich bei allen Völkern in gleicher Weise finden.«438 Während sich also Goethes Apotheose des kommenden Genies zunächst noch gegen die als hemmend erfahrene kulturelle Hegemonie Frankreichs richtete - eine »forcierte Abgrenzung von der Kultur des Nachbarlandes«, die wohl vor allem der »Begründung einer eigenen, selbständigen Literaturtradition« diente439 - , verlor sie mit dem wachsenden Erfolg des jungen Dichters bald an Radikalität. In dieser augenfälligen Abkehr vom aggressiven Patriotismus des Baukunst-Aufsatzes kündigt sich schon leise Goethes übernationales Konzept der Weltliteratur an, dem die bloße nationale Herkunft von Kunst und Literatur nicht mehr zu einem qualitativen Kriterium gereichen sollte.440 Resümierend läßt sich festhalten: Erst der >kulturelle Glaube< macht die Statuierung eines intrinsischen Werts von Kunstwerken denkbar. Das »Funktionieren des Spiels« im literarischen Feld setzt »eine gewisse Form der Identifikation mit dem Spiel [voraus], des Glaubens an des Spiel und an das, was auf dem Spiel steht und dessen Wert das Spiel erst spielenswert macht«.441 Die in der >Kunstreligion< des jungen Goethe manifeste, forcierte Auratisierung des Künstlers mit den sprachlichen Mitteln des religiösen Kults hat somit eine wichtige Legitimationsfunktion für eine säkulare, nicht-utilitaristische künstlerische Praxis; eine solche beginnt sich nämlich zur Zeit der Niederschrift des Baukunst-Aufsatzes und der Dritten Wallfahrt erst langsam und mühevoll im noch keineswegs >dechristianisierten< Deutschland des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. Die große, nachgerade epochale Bedeutung von Goethes säkularisierter >Kunstreligion< für die Entstehung moderner, autonomer Kunst geht daraus hervor, daß in der - ja gerade kulturstiftenden Auseinandersetzung um kulturelle Legitimität noch heute eine grundlegende stillschweigende Übereinkunft jenseits aller Konkurrenz vonnöten ist: Bourdieu betont, »daß die collusio der Akteure in der illusio der Konkurrenz zugrunde liegt, die sie zueinander in Gegensatz bringt und die das Spiel selbst ausmacht. Kurz, die 437
MA 1.2, 304. Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 60. - Dieses (seinerzeit nicht selbstverständliche) Fazit hat Beutler mitten in der Zeit des größten Nazi-Terrors veröffentlicht. 439 So Krebs, Herder, Goethe und die ästhetische Diskussion um 1770, S. 95. Vgl. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 64. 440 Vgl. die Sammlung von Goethes Äußerungen zu diesem Thema in HA 12, 361-364. 441 Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 360. 438
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illusio ist die Voraussetzung für das Funktionieren eines Spiels und zugleich, zumindest partiell, auch sein Ergebnis.«442 Die als stillschweigende Übereinkunft jeder ästhetischen Konkurrenz vorgängige, folglich unentbehrliche ästhetische Disposition mußte als die für das künstlerische Feld spezifische illusio in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erst erkämpft werden. Hierher gehört die emphatisch proklamierte »Andacht des Schreibers«,443 von der Goethe angesichts des >genialen< Münsterbaus berichtet - eine soziale Strategie der Auratisierung in einem noch stark religiös disponierten kulturellen Umfeld, deren zivilisationstheoretische Funktion dem jungen Autor wohl kaum in ihrer ganzen Tragweite bewußt war. In einem anderen historischen Kontext konnte Goethes forcierte Auratisierung säkularer Kunst freilich äußerst verstörend wirken: 1947, kurz nach dem Ende des Dritten Reichs, hob Gotting die Gefährlichkeit der Goetheschen Künstlerapotheose »für die Folgezeit« hervor; sie sei insbesondere darin begründet, »daß der gottgleiche Künstlergenius ein deutscher Genius ist. [...] Hier werden zuerst alle die Gegensätze im Geistigen aufgerissen, die für die einseitige Vorstellung vom Wesen des Deutschen und die Geringschätzung des >Welschen< im kommenden Jahrhundert so verhängnisvoll geworden sind.«444 Gotting konnte sich eines fundamentalen Unbehagens angesichts der Goetheschen Vergötterung des deutschen Künstlers nicht erwehren. Die 1940 erfolgte nationalsozialistische Umwandlung des Straßburger Münsters in ein säkulares >Nationalheiligtum< war ihm »ein erschreckendes Beispiel dafür, in welcher Mächtigkeit und Kraft sich die Tat des Dichters - Worte sind Taten des Dichters - selbständig machen und in Taten der Machthaber umsetzen können, vor denen der Dichter selbst zurückgeschreckt wäre«.445 Wie Regine Otto aufgezeigt hat, bediente sich auch die nationalsozialistische Germanistik der Goetheschen Heiligsprechung des deutschen Künstlers für ihre unheiligen Absichten.446 Die hier vorgelegte kultursoziologische Interpretation der säkularisierten Frömmigkeitsformen in Goethes frühem Text versuchte - unter anderem - nachzuweisen, daß es sich bei den genannten späteren >Aneignungen< des Baukunst-Aufsatzes um ein ahistorisches Rezeptionsphänomen handelt, welches mit Goethes eigenen Intentionen sowie mit deren sozialhistorischer Funktion im ausgehenden 18. Jahrhundert wenig gemein hat. Dies bestätigt sich nicht zuletzt in Goethes bald nach der Niederschrift des Baukunst-Aufsatzes vorgenommener >Entnationalisierung< des inkriminierten >Welschen< - eine Wendung, die allen nationalistischen Bestrebungen klar zuwiderläuft.
442
Ebd. MA 1.2, 305. 444 Gotting, Goethes Straßburger Credo, S. 494. 445 Ebd., S. 498f. 446 Vgl. Otto, >Von deutscher Art und Kunstbildend< nicht mehr als imitative, sondern als produktive Kategorie verstanden wird: »Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist«.447 Während Lessings Laokoon, Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste und selbst noch Herders Plastik mit dem Terminus >bildende Künste< deren abbildende Leistung bezeichneten, gewinnt bei Goethe »>bildend< den Sinn des >Produktivenerdrechselten< »Prinzipien« à la Laugier.450 Gegen 447 448
449
450
MA 1.2, 421. So v. Einems Kommentar (HA 12, 569f); vgl. Einem, Goethe und die bildende Kunst, S. 92; Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 65. MA 1.2, 416. Dazu Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 620: »Nach Zedlers Universallexikon ist mit >Protoplastus< Adam gemeint, womit ein weiterer Hinweis auf >Adams Hüttebildenden Kraft< her ist auch sie Kunst so gut wie die Kunst der Griechen« (HA 12, 570). Dementsprechend betont Irmscher, Nachwort, S. 192, Goethe zerstöre mit dem Begriff der >bildenden Natur< »die seiner Zeit selbstverständliche Ansicht, daß ästhetisch relevante Kunst untrennbar sei von der Hervorbringung des >Schönenbildendwahr< und >charakteristischcharakteristischen< Kunst werde »zum ersten Mal die Lehre Winckelmanns und Lessings, die Schönheit sei >der höchste Endzweck und der Mittelpunkt und >das höchste Gesetz< 228
bar wird das Aufbrechen der binären ästhetischen Oppositionen in Goethes seltsam paradoxer Formulierung, die Kunst sei »lange bildend, ehe sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die Schöne selbst«. Diese Formel basiert einerseits auf einer wertenden Differenz zwischen >schöner< und >bildender< Kunst, deren Wirksamkeit sie andererseits gerade unterläuft, da auch die bildende Kunst schön werden kann. Das Paradox wiederholt sich im folgenden Absatz. »Diese charakteristische Kunst, ist nun die einzige wahre«, heißt es da mit einem offensichtlich exklusiven Anspruch, »da mag sie aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden«.558 Schon in dieser Erläuterung klingt ein innerer Widerspruch an: Denn wie soll die charakteristische Kunst, »unbekümmert, ja unwissend alles Fremden«, mit »gebildeter Empfindsamkeit« in Einklang zu bringen sein?559 Doch auffallender noch ist die völlig unvorbereitete Umwertung und positive Neufassung des bisher negativ konnotierten SchönheitsBegriffs in der emphatischen Passage, die den gesamten Absatz beschließt: Jemehr [sie] sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind [...]; jemehr diese Schönheit in das Wesen eines Geistes eindringt [...], desto glücklicher ist der Künstler, desto herrlicher ist er [...].560
Aus diesen Worten geht u.a. hervor, daß im Baukunst-Aufsatz mindestens zwei verschiedene Begriffe von Schönheit verhandelt werden,561 wodurch das (scheinbare) Paradox hier erst entsteht: es sind dies (1.) die dem Charakteristischen widersprechende >unbedeutendeglatte< Schönheit der >neueren Schönheitelei< augenscheinlich ein Dekadenzphänomen - und (2.) die >wahreewige< Schönheit, die allein dem »tiefste[n] Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse«562 entspringt. (In der prometheischen Schlußpassage des Essays wird hier zudem noch zwischen »irdischer Schönheit« und »himmlische[r] Schönheit« differenziert.563) Die zweite, positiv gefaßte Schönheit ist stets charakteristisch, was aber keineswegs den Umkehrschluß erlaubt, alle charakteristische Kunst sei zugleich stets notwendig schön. Im Gegenteil, wie Wolfram von den Steinen erläutert: »Die Kunst barbarischer Zeiten ist nicht, wie der Moderne mit Herder sagt, auf ihre Weise schön, sondern sie ist häßlich.«564 Dies schmälert freilich keinesder Kunst, öffentlich, energisch und wirksam angegriffen. Dieser 1772 von Goethe eingeführte Begriff des »Charakteristischem als Gegenpol des >Schönen< hat sich gehalten und hat noch eine wesentliche Rolle im ästhetischen Denken des späteren 18. Jahrhunderts gespielt; er hat sogar im deutschen Sprachraum den sinnähnlichen Begriff des >Ausdrucks< weitgehend verdrängt.« Zur Begriffsklärung vgl. die Analyse unten. 558 MA 1.2, 421. 559 Vgl. dazu II.4.4. 560 MA 1.2, 421. 561 Vgl. dazu die Ausführungen von Liess, Goethe vor dem Straßburger Münster, S. 44f. Da Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 187-191, dagegen diesen Sachverhalt verkennt und statt dessen einen reinen Dualismus von >schön< und >charakteristisch< annimmt, sind seine ästhetikgeschichtlichen Folgerungen zu Goethe problematisch. 562 MA 1.2, 42If. 563 MA 1.2, 423. Anders Mason, Schönheit, Ausdruck und Charakter, S. 98. 564 Steinen, Mittelalter und Goethezeit, S. 276.
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wegs ihre Berechtigung als charakteristische Kunst; Goethe selbst bestätigt aus seiner produktionsästhetischen Optik: »laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehen, sie wird ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen, denn Eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen.«565 Solcherart »rückt das Häßliche« nicht erst »im 19. Jahrhundert«, sondern bereits um 1770 »aus dem logischen Gegensatz zum Schönen heraus« und gewinnt sichtlich ästhetische Eigendynamik, wenn es auch noch nicht »zum positiven ästhetischen Leitbegriff aufgewertet« 566 wird. Abschließend läßt sich also folgendes Fazit der Schönheits-Reflexionen des jungen Goethe bestimmen: Die allein >wahre< Schönheit ist der Superlativ charakteristischer Kunst, das ausschlaggebende Ziel künstlerischer Praxis darf zunächst jedoch keineswegs Schönheit sein (was eine Weiterführung der Distanzierung vom klassizistischen Schönheitsdogma in den Ephemerides bedeutet), sondern allererst die sich >bildend< einstellende Wahrheit, die ihrerseits zur Erreichung >wahrer< Schönheit notwendig, aber noch lange nicht hinreichend ist. Jene a priori nicht anzustrebende Schönheit kann sich unter gewissen Voraussetzungen, nämlich dem entwickelten »Gefühl für Verhältnisse«, dann - gleichsam als Additiv - zusätzlich einstellen;567 doch dazu bedarf es einer erhobenen Seelemodelnden< Wilden offenbar bezieht: »der Wilde, dem ein glüklicheres Genie eingegeben hat, seine Hütte ordentlich einzurichten und ein schickliches Verhältniß der Theile daran zu beobachten, hat die Baukunst erfunden.« (Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 72) Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 3. Differenziert werden muß also das nivellierende Fazit von den Steinens, Mittelalter und Goethezeit, S. 277, wo es heißt: »Gibt es in den Schöpfungen des bildenden Menschen beides, das Wahre (Gehörige, Notwendige, Charakteristische) und das Schöne (Verhältnis, Harmonie, Gestalt), so ist das Meisterwerk, das >große Ganzewahrer< Schönheit, die deshalb ihrerseits nur wenig mit dem »Standpunkt des bekämpften Klassizismus« zu tun hat.
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4.3 Goethes >Begriff< des Erhabenen Die Situierung der Goetheschen Genieästhetik in die von Carsten Zelle profilierte Tradition der >doppelten Ästhetik< birgt neben ihren unbestreitbaren heuristischen Vorteilen freilich auch die Gefahr einer falschen Vereindeutigung: Wie die Differenzierung des traditionellen Schönheits-Begriffs in eine positiv und eine negativ konnotierte Schönheit nahegelegt hat, handelt es sich bei Goethes frühen ästhetischen Reflexionen keineswegs um eine bloße Anverwandlung der überlieferten »Regeln des Erhabenen« auf Kosten der »bisher gültigen poetischen Regeln des Schönen«. 568 Statt dessen sprengt er vielmehr - und nicht nur in ästhetikgeschichtlicher Hinsicht - die »für das Jahrhundert der Aufklärung insgesamt« kennzeichnende »große Serie der binären Oppositionen«.569 Was bedeutet dies nun für seine spezifische Fassung der ästhetischen Kategorie des Erhabenen? Einschlägig ist hier etwa der rückblickende Bericht aus dem 9. Buch von Dichtung und Wahrheit, der die von der Betrachtung des Straßburger Münsters ausgelösten Gedanken zunächst in folgende Worte faßt: Herabgestiegen von der Höhe verweilte ich noch eine Zeit lang vor dem Angesicht des ehrwürdigen Gebäudes; aber was ich mir weder das erste Mal, noch in der nächsten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß ich dieses Wunderwerk als ein Ungeheures gewahrte, das mich hätte erschrecken müssen, wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre. Ich beschäftigte mich doch keineswegs diesem Widerspruch nachzudenken, sondern ließ ein so erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken.570
Der erst allmählich wahrgenommene »Widerspruch« zwischen dem Ungeheuren, Erschreckenden und dem Geregelten, Angenehmen geht Goethe jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Gut zwanzig Seiten weiter im Text kommt er anläßlich einer genaueren Beschreibung des Münsters wieder auf ihn zu sprechen: Jemehr ich die Façade desselben betrachtete, desto mehr bestärkte und entwickelte sich jener erste Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem Gefälligen in Bund getreten sei. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Masse entgegentritt, nicht erschrecken, soll es nicht verwirren, wenn wir sein Einzelnes zu erforschen suchen: so muß es eine unnatürliche, scheinbar unmögliche Verbindung eingehen, es muß sich das Angenehme zugesellen. Da uns nun aber allein möglich wird den Eindruck des Münsters auszusprechen, wenn wir uns jene beiden unverträglichen Eigenschaften vereinigt denken; so sehen wir schon hieraus, in welchem hohen Wert wir dieses alte Denkmal zu halten haben, und beginnen mit Emst eine Darstellung, wie so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen und verbinden konnten.57'
Die mit dem Ungeheuren, Erschreckenden »scheinbar« unvereinbare Kategorie des Gefälligen, Angenehmen läßt sich unschwer als Spielart des Schönen identifizieren, das solcherart mit dem Erhabenen in einen paradoxalen »Bund« tritt. Goethes Postulat einer Vereinigung der »beiden unverträglichen Eigenschaften« 568
So Zelle, Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung, S. 160. So Zelle, Schönheit und Erhabenheit, S. 66. 570 MA 16, 386. 571 MA 16, 412. 569
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hebt insbesondere darauf ab, daß »so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen und verbinden konnten«. Der sich in diesen späten Worten offensichtlich äußernde Widerstand gegen den dualistischen Kantischen Rigorismus der Kritik der Urteilskraft ist wohl nicht bloß eine nachträgliche Retusche aus dem ausgleichenden Geist der Weimarer Klassik, wie das adverbiale Epitheton »friedlich« glauben machen könnte. Schon der Wortlaut des Baukunst-Aufsatzes weist in die angedeutete Richtung; da heißt es zum einen in eher dunkler und drückender Metaphorik: Schwer ist's dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, daß er nur beugen, und anbeten muß. Wie oft hat die Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug, mit freundlicher Ruhe geletzt, wenn durch sie die unzähligen Teile, zu ganzen Massen schmolzen, und nun diese, einfach und groß, vor meiner Seele standen [...].572
Die nivellierende Wirkung der »Abenddämmerung« kommt dem Effekt des Erhabenen zugute;573 denn, wie Herder im Vierten Kritischen Wäldchen ausführt: »Je einförmiger und näher zusammen die Teile des Gegenstandes: je leichter das Augenmaß: desto schneller der Begriff von Größe.« Herder fahrt freilich unmittelbar fort: »Je zerstreuter aber, je mannichfaltiger und ungleichartiger, desto langsamer, desto künstlicher.«574 In Goethes Baukunst-Aufsatz kehrt sich die drückende Bewegung mitsamt der Lichtmetaphorik denn auch bald nach der zitierten Passage infolge der >Offenbarung des Genius< um: »froh« jauchzt das dithyrambische Ich< nun mit den »Vögel[n] des Morgens« »der Sonne entgegen«. Betont wird jetzt gerade das Zerstreute und Mannigfaltige und somit auch dessen >entsublimierende< Wirkung: Wie frisch leuchtet er [der (!) Münster, NCW] im Morgenduftglanz mir entgegen, wie froh könnt ich ihm meine Arme entgegen strecken, schauen die großen, harmonischen
572
MA 1.2, 419. Wenige Zeilen später ist ausdrücklich von »düstern erhabnen Öffnungen« die Rede. Die Verbindung von Dunkelheit und Erhabenheit ist keineswegs originell, sondern war in der zeitgenössischen Diskussion schon topisch; so handelt auch Friedrich Just Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767, S. 229, von ästhetischen »Gegenständen, die durch ihre Dunkelheit erhaben werden«; zit. nach Herders Wiedergabe im Vierten Kritischen Wäldchen, 3. St., 7. Kap. (HW 2, 237; FHA 2, 439). Goethes produktive und reflexive Leistung besteht hier einmal mehr in der impliziten textuellen Umsetzung der expliziten ästhetischen Maxime: er verwandelt Theorie in Literatur. 574 Viertes Kritisches Wäldchen, 3. St., 1. Kap. (HW 2, 216; FHA 2, 417). Mißverständlich ist die Erläuterung von Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 645f, in der es heißt, daß Herder »den Begriff der Größe als Bedingung erhabener Wirkung mit dem der Einheit des Mannigfaltigen verbindet«. Nur das Einförmige und Massive dient nach Herder dem Erhabenen, während das Zerstreute und Mannigfaltige diesem Eindruck gerade entgegenwirkt. Die synthetisierende »Verbindung von Einheit und Mannigfaltigkeit, von Simplizität der Form und der Vielheit« steht deshalb keineswegs für das Erhabene, sondern für das - monistisch gedachte - übergreifende Schöne, wie Herder ausdrücklich formuliert: »Einheit und Mannichfaltigkeit, d.i. Schönheit.« (HW 2, 222; FHA 2, 423) 573
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Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt; [...] wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch fur die Ewigkeit.575
Wohlgemerkt: Es handelt sich jeweils um denselben ästhetischen Gegenstand, um das Straßburger Münster, dessen Wahrnehmung Goethe im gegenläufigen Modus von Konzentration und Expansion beschreibt. Nicht nur die sich zwischen beiden Passagen stiftende komplementäre Kette von Beleuchtungs- und Bewegungswörtern, die noch um die Oppositionen >ermattet-frisch< und > schwer-leicht< ergänzt werden kann, sondern gerade auch die ausklingenden paradoxen Formulierungen des zweiten Zitats stehen für Goethes Versuch einer Integration von Schönem und Erhabenem als die beiden Seiten einer Medaille. Exemplarisch äußert sich dies in der Verbindung der kennzeichnenden Epitheta >groß< und >harmonisch< oder in der gegenläufigen Entsprechung von »Abenddämmerung« und »Morgenduftglanz«.576 In dieselbe Richtung deutet auch schon eine frühere Passage des Baukunst-Aufsatzes, in welcher ebenfalls das Problem der Einheit und Mannigfaltigkeit577 verhandelt wird; Ausgangspunkt ist hier die notwendig auf Mauern beruhende Architektur des Nordens, deren plane Erhabenheit sich bei wachsender Größe zur Unerträglichkeit steigert: Eure Gebäude stellen euch also Flächen dar, die, je weiter sie sich ausbreiten, je kühner sie gen Himmel steigen, mit desto unerträglicherer Einförmigkeit die Seele unterdrücken müssen! Wohl! Wenn uns der Genius nicht zu Hülfe käme, der Erwinen von Steinbach eingab: Vermannigfaltige die ungeheure Mauer, die du gen Himmel führen sollst [...].578
Die Eingebung des Genius zielt auf die Abmilderung des Erhabenen zum Menschengemäßen, auf ein ganz spezifisches, aus der konkreten architektonischen Formensprache resultierendes ästhetisches Problem also, welches keineswegs bloß harmonisierend für die vorgeblich »klassizistische Tendenz«579 des Aufsatzes über ein gotisches Bauwerk steht. Doch auch die gegenteilige Bemerkung, der Bau575
MA 1.2, 419f. >Duft< ist hier laut Goethe-Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 1284, als »atmosphärisches] Phänomen« zu verstehen, nämlich »als Wolke, Nebel, Dunst, bläuliche Tönung der Ferne«, »meist in ästhetischer] Landschaftsbetrachtung u[nd] in Bildbeschreibung, besonders] als Stimmungselement«. In seinen wahrnehmungstheoretischen Implikationen entspricht der >Duft< deshalb der >DämmerungDuft< gerade hervorgehoben. 577 Irmscher, Nachwort, S. 190, unterstreicht hinsichtlich der zitierten Passagen, »mit welch dichterischer Kraft Goethe die abstrakten und schon zu seiner Zeit in der kunsttheoretischen Diskussion nahezu entleerten Begriffe >Einheit und Mannigfaltigkeit mit Anschauung zu füllen weiß, indem er gleichsam die Geschichte seiner Begegnung mit dem Münster erzählt«. Es handelt sich hier freilich keineswegs bloß um die nachträgliche Veranschaulichung einer schon strukturell verfestigten kunsttheoretischen Terminologie wie die Worte >entleert< und >füllen< suggerieren - , sondern im Gegenteil um die Stilisierung von deren völlig neuer Begründung aus der konkreten Anschauung. 578 MA 1.2, 418. 579 So Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 190, mit Blick auf das jeder Konkretion vorgängige klassizistische Grundaxiom der Einheit in der Mannigfaltigkeit, auf das Goethe hier rekurriere. Vgl. auch Beutler, Von deutscher Baukunst, S. 39f; Irmscher, Nachwort, S. 192f; Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, S. 215. 576
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kunst-Aufsatz sei »durch und durch von der Idee des Erhabenen durchdrungen«, 580 trifft nur die halbe Wahrheit. Gewissermaßen als nachgelieferte Erläuterung zum monistischen Charakter von Goethes Sturm und Drang-Ästhetik (wie auch zur gegenläufigen Verschränkung vom Schönen und Erhabenen im Baukunst-Aufsatz selber) kann der Beginn der folgenden Passage aus dem 6. Buch von Dichtung und Wahrheit dienen: [W]ie das Erhabene von Dämmerung und Nacht, wo sich die Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom Tage verscheucht, der alles sondert und trennt,581 und so muß es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind.582 Im zweiten Teil dieses Abschnitts, der die >Vernichtung< des nicht >schönheitsfähigem Erhabenen durch »Bildung« propagiert, ist die veränderte ästhetische Schwerpunktsetzung des nachitalienischen Goethe freilich mit Händen zu greifen; die klassizistische Schönheits-Doktrin scheint demnach eindeutig restituiert. Doch abgesehen von der ungleichen Gewichtsverteilung zugunsten des Schönen fällt auch hier auf, daß erst eine >glückliche< und >innige< Vereinigung des Erhabenen mit dem Schönen »beide gleich unsterblich und unverwüstlich« macht. Auch hier also ein Votum gegen die - nach 1800 noch weiter als um 1770 - fortgeschrittene Dichotomisierung der Ästhetik. 583 Schon der junge Goethe tendierte augenscheinlich in diese monistische Richtung, wobei er allerdings - wie schon herausgearbeitet wurde - aus einem antiklassizistischen Affekt gegen die Orientierung am 580
Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 646. Vgl. dazu Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764): »Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Gemütsarten, die ein Gefühl vor das Erhabene besitzen, werden durch die ruhige Stille eines Sommerabends, wenn das zitternde Licht der Sterne durch die braune [sie] Schatten der Nacht hindurch bricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht, allmählich in hohe Empfindungen gezogen, von Freundschaft, von Verachtung der Welt, von Ewigkeit. Der glänzende Tag flößt geschäftigen Eifer und ein Gefühl vor [sie] Lustigkeit ein. Das Erhabene rührt, das Schöne reizt.« (KW 2, 827) 582 MA 16, 245. 583 Freilich heißt es schon in Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, daß zwar »die Rührung von dem Erhabenen mächtiger ist wie die vom Schönen, nur daß sie ohne Abwechselung oder Begleitung der letzteren ermüdet und nicht so lange genossen werden kann.« (KW 2, 829f) In eine ähnlich integrative Richtung zielt Mendelssohn in der 3. Fassung (1771) seiner Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften, wenn er am »ausgedehnten Unermeßlichen« (bzw. am >unermeßlichen der ausgedehnten Größe< und im Unterschied zum >Unermeßlichen der Stärke, oder der unausgedehnten Größeklügsten< bezeichneten Schwester, welche ihre Augen und Ohren vor dem Schrecklichen verschließt, ist aufschlußreich: Denn Goethe vermeidet hier ganz offensichtlich jede affirmative Statuierung des Schrecklich-Erhabenen, mehr noch: Was die Rede von den »wunderbaren Grimassen« bereits erwarten läßt, erfüllt sich in der Beschreibung der »Keckheiten unserer jungen Schluckers«: Die erhabene Situation wird in ihr Gegenteil, nämlich ins Komische umgebogen, indem die jugendlichen Liebhaber sie zu anderen als sublimierenden Zwecken >mißbrauchenBeauty< erscheint somit kategorial von >Greatness< separiert; vgl. Zelle, Erhabenes, Sp. 1367f. 597 Goethe hat diese vorkritische Schrift Kants offenbar erst später kennengelernt; lobend erwähnt er ihre 3. Auflage im Brief an Schiller vom 18. Februar 1795, freilich mit folgender Einschränkung: »wenn die Worte schön und erhaben auf dem Titel gar nicht stünden und im Büchelchen selbst seltener vorkämen« (MA 8.1, 60). Herder hatte Kants Aufsatz schon in den sechziger Jahren gelesen, wie das Vierte Kritische Wäldchen bestätigt; dort auch der enthusiastische Ausruf, (der vorkritische!) Kant sei »ganz ein Philosoph 237
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1793, 3 1799] verlaufenden) dichotomischen Deutungstraditíon des Schönen und Erhabenen, sondern schließt - in formaler, nicht in inhaltlicher Hinsicht! - eher an die monistische Linie an, die vor ihm etwa Winckelmann 598 oder Klopstock 599 vertraten. Auch Baumgarten hatte das Erhabene im Sinne einer »Suprematie des Schönen« als dessen »Maximalleistung« verstanden, 600 woran Mendelssohn vor seiner Burke-Lektüre anknüpfte. 601 Ebenso begreift der (angeblich von Wieland verfaßte 602 ) Artikel Erhaben (1771) aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste das Erhabene als den »höchste[n] Grad des Schönen, und das Höchste in der Kunst überhaupt« und präfiguriert somit »Herders harmonistische Theorie«. 603 Augenfällig wird dies in der tendenziell kallistischen Kategorie der »Einfalt«, 604 deren normative Setzung zum bezeichnenden Schluß führt, daß »die höchste
des Erhabnen und Schönen der Humanität! und in dieser Menschlichen Philosophie ein Shaftesburi [sie] Deutschlands.« (HW 2, 219; FHA 2, 420) Vgl. Brandt, Edle Einfalt und stille Größe, S. 49. 599 Vgl. Winfried Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen >Bewegungangenehmen Schauerns< in der 3. Fassung (1771): MAS 207f. 602 Vgl. Hering, Johann Georg Sulzer, S. 312; Hering beruft sich auf das mir nicht zugängliche Werk von Ludwig Hirzel, Wieland und Martin und Regula Künzli. Leipzig 1891, S. 133. Anderen Quellen zufolge war der Schweizer Maler Johann Heinrich Füßli am Artikel Erhaben beteiligt; vgl. den Kommentar Andreas Beyers zur Italienischen Reise (MA 15, 914). 603 So Viëtor, Idee des Erhabenen, S. 252. Eine gewisse Dualisierung ist freilich - gegen Viëtors harmonisierende Zusammenfassung - auch hier festzustellen; vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 2, S. 97, wo das »blos Schöne und Gute« dem Erhabenen entgegengesetzt wird: »Was eine liebliche Gegend, gegen den erstaunlichen Anblik hoher Gebiirge, oder die sanfte Zärtlichkeit einer Zidli, gegen die rasende Liebe der Sappho, das ist das Schöne gegen das Erhabene.« (Interessanterweise wird hier die Figur der Cidli aus Klopstocks >erhabenen< Oden, hinter der sich dessen erste Frau Meta bzw. Margaretha Moller verbirgt, dem Schönen zugeordnet.) 604 Vgl. dazu Wolfgang Stammler, >Edle EinfalU. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos. In: Worte und Werte. FS f. Bruno Markwardt. Hg. v. Gustav Erdmann u. Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 359-382. Im gegenwärtigen Zusammenhang aufschlußreich sind auch die Bedeutungsvariationen der >Einfalt< beim jungen Goethe: vgl. die Briefe an Friederike Oeser vom 13.2.1769 (WA IV, 2, 200) und an Philipp Erasmus Reich vom 20.2.1770, in dem es heißt, »das Ideal der Schönheit sey Einfalt und Stille, und daraus folgt, dass kein Jüngling Meister werden könne« (WA IV, 2, 229); durch den bezeichnenden Nachsatz und die Verkürzung der dialektischen Formel >edle Einfalt und stille Größe< um die Komponenten >edel< und >groß< wird die kallistische Tendenz sogar noch verschärft. 598
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Leichtigkeit und Einfalt des Ausdrucks zum Erhabenen der Leidenschaften nöthig sey«. 605 Wie Carsten Zelle bestätigt, liefert Sulzer damit die »communis opinio der Spätaufklärung« 606 und bietet dem jungen Goethe trotz aller epistemologischen und ästhetischen Differenzen einen diskursiven Anschlußpunkt. 607 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch Sulzers expliziter Hinweis auf die Baukunst, die er im Rahmen seines Durchgangs durch die Künste auf ihre Eignung zum Erhabenen observiert: Selbst der Baukunst kann man das Erhabene nicht ganz absprechen. Wenn gleich unsre Baumeister es nicht erreichen, so läßt sich doch fühlen, wie durch Gebäude gewaltige Eindrücke von Ehrfurcht, von Macht und Größe, und auch von schauerndem Schreken zu bewürken wäre.608 Gegen das hier geäußerte Verdikt führt Goethe in seinem Essay Von deutscher Baukunst offensichtlich vor Augen, daß »unsre Baumeister« durchaus »gewaltige Eindrücke von Ehrfurcht, von Macht und Größe, und auch von schauerndem Schreken« bewirken und so das Erhabene »erreichen« können. Wie nicht nur die angeführten Beispiele aus Dichtung und Wahrheit bestätigen, ist bei ihm freilich das Schöne nie weit, wenn von dem >Erschrecken< auslösenden >Ungeheuren< des Münsterbaus die Rede ist. Goethe steht hier dem jungen Herder theoretisch gar nicht so fern; dieser hatte die Baukunst im Abschnitt Vom Großen und Erhabnen aus dem Vierten Kritischen Wäldchen - u.a. wohl aus Gründen ihrer Sichtbarkeit 609 - zu einem exemplarischen Gegenstand eben des Großen und Erhabenen erklärt und sie nachgerade als paradigmatischen Anschauungsgegenstand dafür empfohlen. Und die »scheinbar unmögliche Verbindung« (Goethe) des Sublimen mit der hier nicht wirklich antagonistischen Kategorie der Schönheit stellt sich auch beim jungen Herder wie selbstverständlich ein: Hat Baukunst keine Größe? [...] Ist sie nicht die Kunst, die aus dem ganzen Naturgebäude der Schöpfung sich in einen engen Raum zusammenzieht, um da groß und vest und schön [!] zu erscheinen? Welcher Begriff ist bei ihr also ursprünglicher, anschauender, allgemeiner, als Größe durch Vestigkeit, und Kraft, und Dauer? In ihrem Wesentlichen und ihrer Verzierung, in Säulenstärke und Symmetrie, und Zusammen- und Übereinanderordnung, bis auf die kleinsten Kennzeichen, Stellungen und Glieder ist Größe durch Vestigkeit herrschend: [...] sie ist stark und anstaunend: die nächste nach dem Tempel der großen Natur, und ganz aus den Materialien derselben errichtet, um diesen Begriff zu geben.610 605
Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 2, S. 106. Zelle, Erhabenes, Sp. 1372. 607 Dazu der Hinweis bei Zelle, Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung, S. 162. 608 Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 2, S. 102. 609 Vgl. Viertes Kritisches Wäldchen, 3. St., 1. Kap. (HW 2, 216; FHA 2, 4160: »Jeder Anfänger der Metaphysik weiß, daß Größe, Weite, Erhabenheit ein Beziehungsbegriff sei, durch eine lange Übung des Urteils am meisten bei Gegenständen des Gesichts gebildet. Da dies am klarsten, Teile neben einander und zu einander sich verhaltend, siehet: schnell nimmts Einen Teil zum dunkeln Maße an; setzt ihn über- oder neben einander; so ist der Begriff von Größe.« 610 HW 2, 220; FHA 2, 421. Unbegründet scheint mir angesichts dieser Passage die Behauptung, der junge Herder tendiere wie viele seiner Zeitgenössen zur »Dualisierung der Literatur- und Kunsttheorie in Kallistik und Erhabenheitsästhetik«: so Zelle, Erhabenes, 606
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In der Sturm und Drang-Ästhetik Goethes und Herders611 ist also keine Dichotomisierung, keine strenge kategoriale Disjunktion zwischen dem Schönen und dem Erhabenen zu beobachten. Beide Autoren werden der einmal eingeschlagenen monistischen Richtung auch in ihren späteren Schriften treu bleiben.612 Für den jedem rein begrifflichen Denken stets skeptisch gegenüberstehenden Goethe manifestiert sich dies etwa in einer höchst einschlägigen Passage, die sich in einem Brief an Charlotte v. Stein vom 3. Oktober 1779 (dem ersten seiner erst 1808 veröffentlichten Briefe aus der Schweiz• Zweite Abteilung613) findet: Das Erhabene giebt der Seele die schöne Ruhe, sie wird ganz dadurch ausgefüllt, fühlt sich so gros als sie seyn kann, und giebt ein reines Gefühl, wenn es bis gegen den Rand steigt ohne überzulaufen. [...] Wenn man solch ein Gefühl mit dem vergleicht, wenn wir uns mühseelig im Kleinen umtreiben alle Mühe uns geben ihm so viel als möglich zu borgen und aufzufliken und unserm Geist durch seine eigne Kreatur eine Freude und Futter zu geben, so sieht man erst wie ein armseelig behelf es ist.614
Die Abwendung von den ästhetischen Maximen des Sturm und Drang ist in dieser >präklassischen< Formulierung mit Händen zu greifen. Anstelle des im Tagebuch der Schweizerreise von 1775 manifesten aufgewühlten Gemüts angesichts der Schweizer Alpen tritt hier als »reines Gefühl« die »schöne Ruhe«, das Erhabene bewirkt nunmehr »eine grosse ruhige Empfindung«.615 Dies ist freilich als Ergebnis einer inneren Entwicklung des Betrachtenden zu verstehen, die Goethe als menschliche >Reifung< stilisiert: [W]enn wir einen solchen Gegenstand zum erstenmal erbliken so weitet sich die ungewohnte Seele erst aus und es macht dies ein schmerzlich Vergnügen eine Überfülle die die Seele bewegt und uns wollüstige Thränen ablokt, durch diese Operation wird die Seele in sich grösser ohne es zu wissen und ist iener ersten Empfindung nicht mehr fähig, der Mensch glaubt verlohren zu haben, er hat aber gewonnen, was er an Wollust verliert gewinnt er an innrem Wachstum [...].616
Der sublime Affekt des >angenehmen Grauens< wird dieser psychologisierenden Beschreibung zufolge bei einer häufigeren Konfrontation mit den auslösenden Gegenständen nicht durch Abstumpfung zunichte gemacht, sondern verhilft dem betrachtenden Subjekt vielmehr zu einer >Vergrößerung< der Seele, mithin zu »innSp. 1373. Die Zitate, mit denen Zelle seine Beweisführung untermauern will, stammen nämlich bloß aus einer Herderschen Burke-Paraphrase (vgl. HW 2, 151; FHA 2, 349) Eine eher >dualistische< Argumentation in eigener Sache findet sich dagegen im Reisejoumal (HW 1, 444). 611 In die (monistische) Richtung deuten auch mehrere der in II.2. zitierten Passagen aus dem 2. Stück des Vierten Kritischen Wäldchens. 6.2 Zum späteren Herder vgl. Jochen Schulte-Sasse, Herder's Concept of the Sublime. In: Herder Today. Contributions from the International Herder Conference. Nov. 5-8, Stanford, California. Hg. v. Kurt Mueller-Vollmer. Berlin/New York 1990, S. 268-291. 6.3 Zur komplexen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. den Kommentar v. Hannelore Schlaffer (MA 2.2, 922-926). 614 WA IV, 4, 70f; vgl. die davon abweichende, geglättete Fassung dieser und der in der Folge zitierten Passagen im später publizierten Text (MA 2.2, 595f). 615 WA IV, 4, 70. 616 WA IV, 4, 71.
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rem Wachstum«. Nicht Überwältigung durch das Ungeheure, sondern »ein hohes Gefühl von ewiger Festigkeit«617 stellt sich dementsprechend auch als Ergebnis von Goethes nachfolgenden Reflexionen über die (in gewaltigen »Revolutionen« und einer »ungeheuren Bewegung« vorgestellte) Entstehung der Alpen ein. Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert freilich vor allem die hier deutlich werdende abermalige Vermengung des Erhabenen mit Affektqualitäten des Schönen, die Goethe später in seiner Überarbeitung durch die Charakterisierung des Sublimen als »schöne ruhige Empfindung« (statt wie zitiert »grosse ruhige Empfindung«) sogar ausdrücklich anzeigt.618 Schon im Baukunst-Aufsatz erscheint die überwältigende Wirkung des Erhabenen durch eine gewisse Rücksicht auf das Schöne entschärft. Vorbereitet wurde Goethes frühe Bändigung seines radikalen jugendlichen Subjektivismus, der noch in der Shakespeare-Rede voll zum Ausdruck gekommen war, u.a. durch seine intensive Pindar-Lektüre, deren Auswirkungen er im Brief an Herder vom Juli 1772 folgendermaßen beschrieb: [E]s geht bei mir noch alles entsetzlich durch einander. Auch hat mir endlich der gute Geist den Grund meines spechtischen Wesens entdeckt. Ueber den Worten Pindars epikratein dynasthai [bändigen, beherrschen] ist mir's aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Kraft lenkst, den austretenden herbei, den aufbäumenden hinabpeitscht, und jagst und lenkst, und wendest, peitschest, hältst, und wieder ausjagst, bis alle sechzehn Füße in einem Takt ans Ziel tragen - das ist Meisterschaft, epikratein, Virtuosität.619
Die lenkende Kontrolle des schöpferisch >tätigen< Individuums über sich selbst und über seinen künstlerischen Gegenstand verrät - neben dem zur Schau gestellten genialischen Superioritätsbewußtsein620 - ein für Goethes Genieästhetik neues Motiv, nämlich die Suche nach einem (nicht bloß in formaler Hinsicht) einheitsstiftenden Prinzip, welches sich in der Vorgabe niederschlägt, daß »alle sechzehn Füße in einem Takt ans Ziel tragen«.621 Erstmals kündigt sich in diesem bewußten Formungs- und Gestaltungswillen eines der Schlüsselkonzepte seiner klassischen Ästhetik an. Freilich kann die Wendung zur gezielten Bändigung und Beherrschung unmittelbarer subjektiver Impulse noch durchaus im Zeichen einer Ästhetik des Erhabenen gelesen werden, entspricht sie doch gerade der rhetorischen Lehre vom Sublimen, wie sie aus der Spätantike überliefert ist: Im wegweisenden griechischen Traktat Peri hypsous (Vom Erhabenen) heißt es ausdrücklich, »daß große Naturen mehr gefährdet sind, wenn man sie ohne Wissen schwankend und
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WA IV, 4, 72.. MA 2.2, 595. Den »starcken Dialog übers Erhabene«, den Goethe mit Lavater angesichts des Rheinfalls »geführt« hat und den er im Brief an Charlotte v. Stein vom 7.12.1779 »auch aufzuschreiben« ankündigt, ist er tatsächlich »schuldig« geblieben (WA IV, 4, 153). 6,9 WA IV, 2, 16f. 620 Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 187. 621 Vgl. Irmscher, Goethe und Herder, S. 31, sowie den Kommentar von Mandelkow (HAB 1, 585f). 618
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schwerelos sich selber und ihrem blind verwegenen Drang überläßt, denn häufig bedürfen sie zwar des Sporns, aber genauso auch des Zügels.«622 Noch ist das Bild künstlerischer Meisterschaft also mit der überkommenen Vorstellung des Erhabenen kompatibel. Ausschlaggebend für die ästhetische Qualität eines Kunstwerks scheint aber schon hier nicht mehr allein die radikale >Verselbstung< des schöpferischen Genies, wie das in der Shakespeare-Rede noch mehr oder weniger der Fall war, sondern überdies der innere organische Zusammenhang,623 der nun die angestrebte einheitsstiftende Funktion versichert und sich vom genialen Schöpfer auf sein geniales Werk überträgt.
4.4 Der organische Zusammenhang charakteristischer Kunst< Im zweiten Teil des Baukunst-Aufsatzes wird der typisierte Vertreter der französischen klassizistischen Architekturtheorie624 erstmals direkt angesprochen: Hat nicht der, seinem Grab entsteigende Genius der Alten, den deinen gefesselt, Welscher! Krochst an den mächtigen Resten Verhältnisse zu betteln, flicktest aus den heiligen Trümmern dir Lusthäuser zusammen, und hältst dich für Verwahrer der Kunstgeheimnisse, weil du auf Zoll und Linien von Riesengebäuden Rechenschaft geben kannst.625
>Gefesselter Geniusaus Resten erbettelte Verhältnisses >aus den heiligen Trümmern zusammengeflickte Lusthäuser< - traurig und kümmerlich sind die Bilder,626 die Goethe für den Klassizisten erübrigt; sie erwecken trotz dessen Orientierung an Maß und Regel den Anschein ausgesprochener Arbitrarität und eines fehlenden inneren Zusammenhangs. Und Goethe fährt fort: Hättest du mehr gefühlt als gemessen, wäre der Geist der Massen über dich gekommen, die du anstauntest, du hättest nicht so nur nachgeahmt, weil sie's taten und es schön ist; notwendig und wahr hättest du deine Plane geschaffen, und lebendige Schönheit wäre bildend aus ihnen gequollen. So hast du deinen Bedürfnissen einen Schein von Wahrheit und Schönheit aufgetüncht.627
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Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, S. 31. Selbst hier kann Goethe an die spätantike Lehre des Erhabenen anknüpfen, die festgesetzt hatte, »daß eine Ursache für erhabene Dichtung in der Fähigkeit liegt, aus den Elementen die jeweils wichtigsten zu wählen und sie so miteinander zu verbinden, daß ein gleichsam organisches Gebilde entsteht« (ebd., S. 49). 624 Dahinter verbirgt sich wohl hauptsächlich, aber nicht ausschließlich Marc-Antoine Laugier. 625 MA 1.2, 416. 626 Nach Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 626, handelt es sich bei den zuletzt zitierten um »Anspielungen auf Piranesi-Stiche: so wird man an dessen Wiedergabe der Spolienfassaden römischer Villen denken dürfen - etwa der Gartenseite der Villa Medici, [...] [o]der [...] an Ruinendarstellungen antiker Tempel, wie etwa den Tempio de Bacco«. Knopp erwähnt auch einen im Familienbesitz der Goethes befindlichen Stich von Piranesi, auf dem Berninis Kolonnaden und der verschlammte Petersplatz (die »öffentlichen Kloaken«) abgebildet sind. 627 MA 1.2, 416. 623
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Die ästhetischen Kategorien >Notwendigkeit< und >Wahrheit< und die sich »bildend« einstellende »lebendige Schönheit« werden hier programmatisch gegen den als vordergründig gebrandmarkten »Schein von Wahrheit und Schönheit« gesetzt. Schon zu Beginn des Essays hatte Goethe seine maßgeblichen ästhetischen Kriterien gegen die klassizistische Schönheitsdoktrin des »schwachen Geschmäckler[s]« exponiert: »ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön«. 628 Auch in der Offenbarung des »Genius des großen Werkmeisters« heißt es entsprechend: Alle diese Maßen waren notwendig, und siehst du sie nicht an allen älteren Kirchen meiner Stadt. Nur ihre willkürliche Größen hab ich zum stimmenden Verhältnis erhoben.629 Wie über dem Haupteingang, der zwei kleinere zu'n Seiten beherrscht, sich der weite Kreis des Fensters öffnet, der dem Schiffe der Kirche antwortet und sonst nur Tageloch war, wie hoch drüber der Glockenplatz die kleineren Fenster forderte! das all war notwendig, und ich bildete es schön.630 Den genauen makrostrukturellen Zusammenhang der >Maße< an der Vorderfront des Münsters, der in seinem »stimmenden Verhältnis« dem ästhetischen Postulat der >Notwendigkeit< entspricht, hat Goethe später im 9. Buch von Dichtung und Wahrheit noch eingängiger beschrieben. 631 Schon im Baukunst-Aufsatz versucht er zudem, auch den auf das Mikrostrukturelle gerichteten Vorwurf »der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen« 632 durch den Aufweis einer >inneren< 628
MA 1.2, 415. Im Hinblick auf diese Passage erhärtet sich die These von Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 647, wonach schon der junge Goethe »die Gotik nicht pauschal als schön bewertet, sondern als urtümlich, den Schauder des Erhabenen erweckend, als Gegensatz zur Schönheit. Lediglich Erwin, das Genie, ahnt - vor aller Regel - die harmonische Schönheit. Er erreicht von dem Pol der Erhabenheit aus eine Verbindung dieser mit der Schönheit und schafft so ein vollkommenes Werk.« Weniger stichhaltig scheint jedoch Knopps historisierende Deutung, die aus diesem Sachverhalt schließt, »daß das Erhabene sich in der Geschichte zum Schönen hin entwickle« (S. 648); ähnlich Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 188 u. 191; dies mag vielleicht ansatzweise für den nachitalienischen Goethe und für den Herder der Plastik (1778) gelten (vgl. HW 2, 528f; FHA 4, 312), nicht aber für Goethes letztlich unhistorischen Baukunst-Aufsatz. 630 MA 1.2, 419. Goethe exemplifiziert die Kategorie der >Notwendigkeit< in den direkt darauf folgenden Worten, wenn er den Genius über die »beiden Türme« klagen läßt, »deren, ach, nur einer traurig da steht, ohne den fünfgetürmten Hauptschmuck, den ich ihm bestimmte«. Vgl. dazu den Bericht in Dichtung und Wahrheit, 11. Buch (MA 16, 532) sowie v. Einem, Kommentar (HA 12, 569); ders., Goethe und die bildende Kunst, S. 98f. 631 MA 16, 412-415. 632 MA 1.2, 418. So belächelt etwa Laugier, Essai sur l'Architecture, S. 3f, »les ornemens bisarrement configurés & puerillement entassés« und »les ridicules colifichets du gothique & de l'arabesque«. Vgl. Versuch in der Bau-Kunst, S. 4f, sowie auch Sulzers Artikel Gothisch (Allgemeine Theorie, Ή. 2, S. 343) oder [Hemsterhuis,] Lettre sur la Sculpture, S. 19: »on peut dire qu'ils [les Goths] ont consideré un total seulement comme un assemblage de parties; qu'ils ont orné, autant qu'il leur a été possible, ces parties, & qu'ils se sont imaginés d'avoir orné par là le total.« Diese angeblich partikularisierende Grundhaltung der gotischen Architektur, die - so meint Hemsterhuis - den Zusammenhang der einzelnen Teile vernachlässigt, entspreche letztlich der noch unausgebildeten Denkgewohnheit von Kindern. 629
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Notwendigkeit zu widerlegen, die das einzelne ornamentale Detail mit dem großen Ganzen verbindet. 633 Implizit erscheint dadurch gerade der bloß >äußerlichen< Regeln folgende architektonische Klassizismus mit dem Stigma des Willkürlichen behaftet. 634 Das Straßburger Münster als herausragendes Exempel der >deutschen Baukunst< hingegen wird mit der Analogie zur organischen Welt deutlich aufgewertet: »wie Bäume Gottes«, 635 »wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen«. 636 Goethes Formulierung gemahnt an »Zweige und Blätter«, die »aus dem Stamm hervorwachsen«, woraus dann folgt: »Kein Teil ist wegnehmbar oder überflüssig, sondern zuinnerst mit der Kemform verbunden und aus ihr hervorgegangen.« 637 Die gotische Architektur erscheint so erstmals »als organisches, im Geist des Genies gewachsenes Produkt«, 638 wie Meyer Howard Abrams aufgezeigt hat, wobei das Diktum v o m geringsten Zäserchen< die (u.a. auf Leibnizens Lehre von der essentiellen Gemeinsamkeit aller Monaden zurückgehende) Denkfigur der Pflanzenanalogie des Genies umspielt, die sich im deutschen Denken des 18. Jahrhunderts - im Gefolge
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Goethe antwortet hier auf die gängige Kritik an der gotischen Sakralarchitektur; so hatte Laugier, Essai de l'Architecture, S. 173, gerade die architektonischen Großformen und die Ornamente auseinanderdividiert: »A travers cette foule d'omemens grotesques qui les déparent beaucoup, on y sent je ne sait quel air de grandeur & de majesté qui saisit. On y trouve le facile & le délicat, il n'y a que le simple & le naturel qui y manquent.« Zur Kathedrale Notre-Dame in Paris heißt es entsprechend: »au premier coup d'oeil mes regards son [sic] arrêtés, mon imagination est frappée par l'étendue, la hauteur, le dégagement de cette vaste nef; je suis forcé de donner quelques momens à la surprise qu'excite dans moi le majestueux de l'ensemble. Revenu de cette premiere admiration, si je m'attache au détail, je trouve des absurdités sans nombre: mais j'en rejette le blâme sur le malheur des temps. De forte qu'après avoir bien épluché, bien critiqué; revenu au milieu de cette nef, j'admire encore, & il reste dans moi une impression que me fait dire: Voilà bien des défauts, mais voilà qui est grand.« (S. 174f) Vgl. die deutsche Übersetzung der zitierten Passagen in Laugier, Versuch in der Bau-Kunst, S. 146-148. Goethe erläutert sein Anliegen selbst ausführlich im 9. Buch von Dichtung und Wahrheit (MA 16, 416f).
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Vgl. Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 628: »Goethe kritisiert [...] Laugier, weil seine Kolonnade eine Idealarchitektur ist, die durch die Notwendigkeit Abstriche erfahren muß [wodurch sie realiter >willkürlich< wird, NCW] und stellt ihr in Erwins Bau eine Architektur gegenüber, die aus der Notwendigkeit heraus entwickelt wurde, aber zum Ideal hinstrebt.« 635 MA 1.2, 415. 636 MA 1.2, 419f. Dazu Jolies, Goethes Kunstanschauung, S. 188: »Der Grundgedanke der morphologischen Forschung Goethes ist hier beinahe wörtlich antizipiert. Es ist das Bestreben, >die Wechselwirkung aller Teile eines lebendigen Körpers < niemals aus den Augen zu verlieren.« 637 Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 637. 638 Abrams, Spiegel und Lampe, S. 260. Zur innovativen Leistung Goethes im zeitgenössischen Kontext vgl. Keller, Goethes Hymnus, S. 20: »Man studierte und montierte Details in barocke Zusammenhänge, aber niemand gab sich die Mühe, gotische Organismen in ihrer Eigengesetzlichkeit verstehen zu wollen.« Keller weist freilich darauf hin, daß Goethe im Baukunst-Aufsatz das »Wort Organismus samt seinem Adjektiv >organischWachstum< zurückführt: »In the first it is like a rich Soil in a happy Climate, that produces a whole Wilderness of noble Plants rising in a thousand beautiful Landskips without any certain Order or Regularity. In the other it is the same rich Soil under the same happy Climate, that has been laid out in Walks and Parterres, and cut into Shape and Beauty by the Skill of the Gardener.« (Spectator, Bd. 1, S. 484) 641 Vgl. Young, Gedanken, S. 17: »Man kann von einem Originale sagen, daß es etwas von der Natur der Pflanzen an sich habe: es schießt selbst aus der belebten Wurzel des Genies auf; es wüchset selbst, es wird nicht mehr durch die Kunst getrieben.« 642 Vgl. Abrams, Spiegel und Lampe, S. 250-253 u. 255-259, zur englischen und zur deutschen Diskussion. 643 Vgl. etwa den 1. Versuch, 1. Kap. in der Druckfassung (HW 2, 669f; FHA 4, 335f). Zum ideengeschichtlichen Kontext: Walter D. Wetzeis, Herders Organismusbegriff und Newtons Allgemeine Mechanik. In: Johann Gottfried Herder. 1744-1803. Hg. v. Gerhard Sauder. Hamburg 1987 (=Studien zum 18. Jhdt. 9), S. 177-185. 644 Vgl. etwa die negative Formulierung in der Druckfassung des Shakespear. »Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit - du hast ihm Otem und Seele genommen« (HW 1, 542; FHA 2, 515). Dagegen beruhe Shakespeares orginales »Wesen, Tilgend und Vollkommenheit« gerade »darauf, daß es nicht das Erste ist: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs« (HW 1, 535; FHA 2, 507f). 645 Knopp, Zu Goethes Hymnus, S. 637f. Im Kontext organizistischer Vorstellungen wird oft eine Passage aus dem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 21.8.1774 zitiert, in der Goethe auch das eigene (dichterische) Schaffen prometheisch stilisiert: »Sieh Lieber, was doch alles schreibens anfang [sie] und Ende ist die Reproducktion der Welt um mich, durch die innre Welt die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigner Form, Manier, wieder hinstellt, das bleibt ewig Geheimniß Gott sey danck, das ich auch nicht offenbaren will den Gaffern und Schwäzzern.« (WA IV, 2, 186f) Goethes Konzeption 245
Nicht allein die epistemologische Anleihe aus der Organik, sondern auch die dadurch erst zureichend begründete 646 - Vorstellung von der »unwiderstehliche[n] Macht des großen Ganzen« 647 untermauert Goethes totalisierenden Anspruch. Indem er dem gefeierten Baumeister Erwin von Steinbach »das tiefste Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse« zuschreibt, »die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann«, 648 verabschiedet er die von Laugier vertretene mathematisch berechnende Proportionenlehre 649 und erklärt die genialisch-intuitive »Einsicht in die Vermittlung des einzelnen mit dem Ganzen« 650 zum entscheidenden Sensorium für die Produktion und die adäquate Rezeption des genialen Kunstwerks. Mit dieser Denkbewegung kann Goethe im Blick auf das Straßburger Münster auch einen ästhetischen Haupteinwand gegen die Gotik entkräften, der - wie schon erwähnt auf die vermeintlich »verwormen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen« abzielte. 651 Dem wenig verständnisvollen Verdikt aus dem Geist des Klassizismus setzt er kongenial seinen produktionsästhetischen Ansatz entgegen, demzufolge schöpferische Genialität ein ganzheitliches Vermögen ist. Selbst die »aus den willkürlichsten Formen« bestehende »Bildnerei« des >Wilden< kann entsprechend auch »ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen, denn Eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen.« 652 Weit mehr noch gilt die Ganzheitsvorstellung eines je individuellen Zusammenhangs zwischen dem genialen Künstlersubjekt und dessen künstlerischem Produkt gilt ebenso für die bildende Kunst, wie das Beispiel Erwins belegt. 646 Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 131. Den inneren Zusammenhang organischer Gebilde betonte auch Mendelssohn in den Briefen Über die Empfindungen, 12. Brief, wo er der Figur des Theokies die These in den Mund legt, »daß von allen Begebenheiten in der organischen Natur, eine jede bald die Ursache, bald die Wirkung einer und eben derselben Veränderung seyn könne« (MAS 70). 647 MA 1.2, 420. 648 MA 1.2, 42if. 649 Vgl. Des Abts Laugier neue Anmerkungen über die Baukunst, S. lf, zur »Lehre von den Verhältnissen«: Der Baumeister müsse »alles wohl überlegen, und die Theile unter einander vergleichen, damit er ein richtiges Ganzes, eine schöne Verbindung und eine angenehm ins Auge fallende Uebereinstimmung herausbringe«. Wichtigster »Grundsatz« ist dabei die mathematische Formel, »daß keine Proportion statt findet, wo die Größen sich nicht in einander richtig theilen lassen« (S. 4). 650 Osterkamp, Im Buchstabenbilde, S. 19. 651 Selbst Herder hatte - wie oben in II.2.2 erwähnt - im Vierten Kritischen Wäldchen, 2. St., 9. Kap., durchaus zustimmend eine Passage aus der anonymen Schrift Architecture des Jardins zitiert, welche an den (überdies in einen auffallenden Gegensatz zur »regelmäßigein] Architektur« gesetzten) »Gotischen Gebäuden« beanstandet: »Die Vielheit ihrer Zierraten und ihrer Proportionen geben mehr eine Folge von Sensationen, als eine fortdaurende [sie] Sensation, und dadurch benimmt sie der Macht des Eindrucks.« (HW 2, 172; FHA 371) Der von Herder inkriminierten parzellierenden »Folge von Sensationen« stellte der junge Goethe seinen totalisierenden Blick während der Dämmerung entgegen, welcher »eine fortdaurende Sensation« auslöst, die dann auch bei Tage anhält. Erst nach dieser Erfahrung eröffnet sich dem Betrachter der innere Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen. 652 MA 1.2, 421. 246
für das unvergleichliche, geniale »Werk des Meisters, der zuerst die zerstreuten Elemente, in Ein lebendiges Ganze zusammen schuf«.653 Wie Ernst Osterkamp aufgezeigt hat, ist Goethes solcherart völlig neu perspektivierte Forderung nach Einheit in der Mannigfaltigkeit im Kunstwerk »keineswegs eine Übernahme des sich völlig anders begründenden klassizistischen Grundaxioms, sondern eine unmittelbare Konsequenz aus den Prämissen der Genieästhetik«.654 Das ganzheitlich strukturierte geniale Kunstwerk verlangt konsequent auch nach einer ganzheitlichen Wahrnehmung, nämlich nach einem »lebendigen Nachvollzug der organischen Einheit sämtlicher Einzelelemente«.655 Ohne Rücksicht auf das integrative »Formgesetz des Einzelwerks« kann sich dem Rezipienten die objektive Sinnhaftigkeit der verschiedenen Werkkonstituenten nicht erschließen. Goethe rekurriert hier auf die etwa von Edward Young vertretene »neue Vorstellung ästhetischer Objektivität, welche in der pointierten Eigengesetzlichkeit des Gebildes gründet«.656 Mit der hartnäckig wiederkehrenden Beschwörung des >Einen< und >Ganzen< in der künstlerischen Produktion und Rezeption kommt er auch den um dieselbe Zeit entstandenen, spinozistisch inspirierten Reflexionen Herders äußerst nahe.657 Denn die nicht nur im Baukunst-Aufsatz überaus häufig bemühte Kategorie der >GanzheitHolismus< meint nach Adler »im Bereich der Wissenschaften diejenige Richtung, die dem Ganzen einen Vorrang vor seinen Teilen einräumt. Mit anderen Worten: daß ein Ganzes seine Teile bestimme und daß es mehr und etwas qualitativ anderes als die Summe seiner Teile sei, ist das Grundaxiom des Holismus.« (S. 31)
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In der zitierten Formulierung vom »charakteristischen Ganzen« klingt überdies schon die zeitgenössische Individualitätsproblematik an, die nicht mehr aus dem »traditionellen, metaphysischen Begriff der Ganzheit« zu erklären ist, sondern eben aus dem qualitativ neuen, »apriorisch individuell bestimmtefn] Ganzheitsdenken« resultiert. 660 Der »Bestimmungsgrund« des neuen ästhetischen Individualismus ist nunmehr allein »die ästhetische Überzeugungskraft des Werks« 661 - eine Entwicklung, die Goethe im folgenden Absatz zu einem revolutionären ästhetischen Postulat kondensiert: Diese charakteristische Kunst, ist nun die einzige wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigner, selbständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig.662 Goethe versteht den somit erstmals exponierten Begriff der charakteristischen Kunst< hier ausschließlich als subjektive Leistung des schöpferischen Individuums, 663 während historische Vorgänger, gegenwärtige Zeitumstände und auf die Zukunft spekulierende didaktische Wirkungsrücksichten keine Rolle spielen dürfen: »Seine eigne Kräfte sind's, die sich i m Kindertraum entfalten, 664 im Jüng-
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Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 131f. So Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 186, zu einer Konsequenz aus Youngs Originalitätspostulat. 662 MA 1.2,421. Der provokative Gehalt dieser Passage erhellt aus dem völligen Unverständnis, das ihr die zeitgenössische Kritik entgegenbrachte; vgl. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 14/2 (1773), S. 293f: »Wenn er damit sagen will, ein jeglicher Künstler müsse fähigen Geistes zu seiner Kunst seyn, oder welches einerley ist, er müsse Genie dazu haben; so hat er etwas sehr Gemeines und Altes gesagt: und was konnte er sonst damit sagen wollen?« Nicht nur in der Unfähigkeit des Rezensenten, die radikal neue organizistische und holistische Dimension von Goethes Formel zu erfassen, sondern allein schon in der Formulierung »Genie haben< (gegenüber »Genie seinCharakteristisch-Individuelle< einen Anspruch auf Genialität haben kann.676 Präfiguriert findet sich die Denkfigur in Youngs Vorstellung der schöpferischen Originalität und Authentizität, »jene >Kraft< des in sich konsequenten ganzen Einzelwerks«, »das von keiner Gravitation eines >Musters< abgelenkt wird«.677 Auch in der zeitgenössischen französischen Diskussion gibt es begriffliche Korrelate mit zumindest teilweise analoger Stoßrichtung, so etwa Diderots (ebenfalls gegen die klassische Normativität des Schönen gerichtete) Kategorie des interessantem, 678 die im Unterschied zum Charakteristischen jedoch nicht auf den »unmittelbaren Ausdruck der unbedingten Individualität des >Geniesdeutsche< Baukunst als charakteristische Kunst wäre demnach die organisch begründete Baukunst der deutschen Nation.683 675
HW 1, 548f; FHA 2, 523; vgl. auch HW 1, 551: »Alle ganze, individuelle Wesen, jeder aus seinem Charakter und von seiner Seite historisch teilnehmend, mitwürkend, handelnd«. In der Endfassung des Shakespear heißt es darüber hinaus: »Dies Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke.« (HW 1, 540) Mehr und differenzierteres Material zu Herders Begriff des Charakteristischen findet sich bei Denk, Das Kunstschöne und das Charakteristische, S. 14-21. 676 Vgl. dazu Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 129. 677 Fischer, Authentizität und ästhetische Objektivität, S. 180. 678 Vgl. Karlheinz Stierte, Diderots Begriff des >InteressantenDer Kranz des Patrioten, S. 105. 681 MA 1.2, 421. 682 Vgl. Dahnke, Intentionen und Resultate, S. 241. 683 Im Artikel Erhaben aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste wird diesbezüglich betont, es sei nicht genug, »daß der Künstler von der Natur her die Anlage zum Erhabenen bekommen habe. Die Zeiten, darinn er lebt, die Gegenstände, womit er sich beschäftiget, der Nationalcharakter seiner Zeitverwandten, und noch mehr zufällige auf das Genie würkende Dinge, müssen die glüklichen Anlagen unterstützen.« (Tl. 2, S. 104) Weiter in die hier nur angedeutete nationaltypologische Richtung ging Kant schon einige Jahre zuvor in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, deren 4. Abschnitt Von den Nationalcharaktem handelt, in so ferne sie auf dem unterschied-
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Die weniger historisch als vielmehr typologisch gedachte Entsprechung zwischen dem genialen Baumeister und seiner Nation stiftet sich in Goethes Sturm und Drang-Ästhetik also über den Begriff des Charakteristischen. Einschlägig in diesem Zusammenhang ist die Besprechung zur Charakteristik der vornehmsten Europäischen Nationen in den Frankfurter gelehrten Anzeigen,684 als Protokollrezension gemeinsam verfaßt von Goethe, Schlosser und Merck. Die rezensierte Schrift war im Rahmen des von Christian Heinrich Schmid (1746-1800) aus dem Englischen Ubersetzten Sammelwerks Britisches Museum oder Beyträge zur allgemeinen Leetüre publiziert worden und zog sogleich den Spott der jungen Kritiker auf sich: Charakter polierter Nationen!685 werft die Münze in den Tiegel, wenn ihr ihren Gehalt wissen wollt; unter dem Gepräge findet ihr ihn in Ewigkeit nicht. So bald eine Nation poliert ist, so bald hat sie konventionelle Wege zu denken, zu handien, zu empfinden; so bald hört sie auf Charakter zu haben. Die Masse individueller Empfindungen; ihre Gewalt; die Art der Vorstellung, die Wirksamkeit, die sich alle auf diese eigene Empfindungen beziehen, das sind die Züge der Charakteristik lebender Wesen. Und wie viel von alle dem ist uns polierten Nationen noch eigen? Die Verhältnisse der Religion, die mit ihnen auf das engste verbundenen bürgerlichen Beziehungen, der Druck der Gesetze, der noch größere Druck gesellschaftlicher Verbindungen und tausend andere Dinge lassen den polierten Menschen und die polierte Nation, nie ein eigenes Geschöpf sein; betäuben den Wink der Natur, und verwischen jeden Zug, aus dem ein charakteristisches Bild gemacht werden könnte.686 Eine ganze Reihe von sozialen Bindungen in der zunehmend differenzierten Gesellschaft prägen »den polierten Menschen und die polierte Nation«. Diese sind solcherart nicht mehr in der Lage, den ihnen von der Natur zugedachten Charakter zu entwickeln. »Die Masse individueller Empfindungen; ihre Gewalt; die Art der Vorstellung, die Wirksamkeit, die sich alle auf diese eigene Empfindungen beziehen« - sämtliche »Züge der Charakteristik lebender Wesen« also werden von der konventionellen »Politur« erstickt. Der »Charakter einer polierten Nation« erscheint somit frei nach Rousseau und Herder als »Drapperie«, als dem essentialistisch vorgestellten >natürlichen< »Stoff« auferlegte »Lasten und Fesslen«. 687 Deslichen Gefühl des Erhabenen und Schönen beruhen (KW 2, 868-884); dort heißt es gleich zu Beginn: »Unter den Völkerschaften unseres Weltteils sind meiner Meinung nach die Italiener und Franzosen diejenige, welche im Gefühl des Schönen, die Deutsche aber, Engländer und Spanier, die durch das Gefühl des Erhabenen sich unter allen übrigen am meisten ausnehmen.« In auffallender Übereinstimmung damit findet sich in den Lesarten zum 6. Buch von Dichtung und Wahrheit folgender einschlägige, freilich abwertende Satz: »Der alte Deutsche begnügte sich in seinem beschränkten Zustande, im Gefühl des formlosen Erhabenen.« (WA I, 27, 380) 684 FGA 86 (27.10.1772), S. 686f. Vgl. dazu Dahnke, Intentionen und Resultate, S. 241-244. 685 Die Rezensenten verwenden den Begriff >polierter Nationen< im Sinne »gebildeter, verfeinerter, zivilisierter Nationen«; er wird hier - so Sauders Kommentar - »als Gegensatz zu charakteristischen Nationen< abwertend gebraucht« (MA 1.2, 825). 686 MA 1.2, 380f. 687 MA 1.2, 381. Demgegenüber lautet nach dem ebenso essentialistischen, aber stärker entwicklungsgeschichtlich angelegten Kulturkonzept Herders die »allein erste und letzte Frage: >wie ist der Boden? worauf ist er zubereitet? was ist in ihn gesäet? was sollte er tragen können?charakteristische< Nation zur >polierten< Nation verhält, so die >charakteristische< Kunst zur bloß >schönenPolierten< zum herkömmlichen >Schönen< nicht aus der Luft gegriffen ist, bestätigt auch der Wortlaut der kurzen Besprechung selbst. Denn dort heißt es zum attackierten Verfasser: Blickte in seinen Puffendorf [sie], konversierte mit schönen Herrn und Damen, und nahm sein Buch, und schrieb. Zum Unglück ist in der ganzen Welt nichts schiefer, als die schönen Heim und Damen, und so wurden seine Gemälde gerade eben so schief [...].689
Freilich dürfen dabei die Grenzen der Entsprechung nicht aus den Augen verloren werden, denn während die charakteristische Kunst (in einem modifizierten Sinn) auch schön sein kann, wie das Beispiel Erwins und der Alten belegt, bleibt bei den Nationen die >Politurihrem Stoff gemäß< ist, doch immer Politur. Mehr noch: Wie schon erwähnt, kann die charakteristische Kunst »aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden«, während die zivilisatorische >Politur< mit einer charakteristischen Nation nicht zu vereinen ist. Der essentialisierte Charakterbegriff wird also gegen die bloß oberflächliche, konventionelle >Politur< ausgespielt, welche a priori keine Einsicht in den von ihr verdeckten >Stoff< erlaubt. Dies übersehen zu haben, ist genau der Vorwurf der Rezensenten an den Verfasser der inkriminierten Schrift: Alles vom Hörensagen, Oberfläche, aus guten Gesellschaften abstrahiert - und das ist ihm Charakteristik! Wie so gar anders würden oft seine Urteile ausgefallen sein, wenn er sich herunter gelassen hätte, den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Burger [sie] bei seiner Kanne Wein, und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus zu sehen. Aber das fiel ihm nicht einmal ein, daß da Menschen wären; oder wenns ihm einfiel, wie sollte er die Geduld, die Zeit, die Herablassung haben? Ihm war ganz Europa feines französisches Drama, oder, was ziemlich auf eins hinaus kommt, Marionettenspiel! Er guckte hinein, und wieder heraus, und das war alles!690
688
MA 1.2, 381. Das Bild des >Stoffs< und der >Politur< entspricht der Herderschen Metaphorik von >Kern< und >Schlaube< im Skakespear-Aufsatz, ohne freilich dessen radikal historistische Implikationen zu teilen: »Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit: so sind ganze Nationen in Allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlaube [d.i. niederdt. f. Schale, NCW] nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten.« (HW 1, 527; FHA 2, 499) 689 MA 1.2, 381. 690 MA 1.2, 381f.
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Die Rezensenten monieren hier die bloß oberflächliche Betrachtung ausgewählter und daher notwendig selektiver Gesellschaftsschichten, wobei die Metapher des >feinen französischen Dramas< zudem auf die international konventionelle höfische Etikette zielt, die kaum als charakteristischer Ausdruck einer Nation verstanden werden kann. Gefordert wird dagegen ein totalisierender Blick, der sämtliche Glieder der jeweiligen Nationen >naturalistisch< aufzeichnen und überdies in ihrem organischen Zusammenhang untereinander berücksichtigen müßte. Als Denkfigur entspricht dies wiederum aufs genaueste dem Postulat nach ganzheitlicher Wahrnehmung sowie Darstellung im Bereich der Ästhetik.
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Überleitung: Die >innere Form< als substantielles Korrektiv von Kontingenz im Anhang Aus Goethes Brieftasche (1776)
Wie sich am Ende des vorhergehenden Kapitels gezeigt hat, beruht die gesellschafts- und kulturkritische Argumentation der FGA-Rezension Charakteristik der vornehmsten Europäischen Nationen methodologisch auf der Opposition zwischen dem essentialistisch vorgestellten natürlichen Stoff< einer Nation und deren konventionell-arbiträrer >Politureigentlichen< Nationalcharakter näherkommen, dann muß man unter die nur angenommene, heteronome Oberfläche blicken. Diese substantialistische Denkfigur, die zwischen den essentiellen und den kontingenten Eigenschaften betrachteter Gegenstände unterscheidet, kehrt in Goethes theoretischen Schriften regelmäßig wieder, auch und gerade in den Reflexionen zur Ästhetik. Bereits die Rede Zum Schäkespears Tag hatte kursorisch zwischen »innrer und äußerer Beschaffenheit« 1 des griechischen Theaters differenziert, ohne aber deren genaueren Zusammenhang oder auch nur den spezifischen Begriffsgehalt näher zu erläutern. Fünf Jahre später kommt Goethe noch einmal im (bereits erwähnten) Anhang zu Wagners Mercier-Übersetzung2 auf dieses Problem zu sprechen: Es ist endlich einmal Zeit, daß man aufgehöret hat, über die Form dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, und wie das Zeug alles hieß. [...] Deswegen gibts doch eine Form, die sich von jener unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußeren, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will. Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen kann, unser Herz muß empfinden, was ein andres füllen mag. Das Zusammenwerfen der Regeln gibt keine Ungebundenheit, und wenn ja das Beispiel gefährlich sein sollte, so ists doch im Grunde besser ein verworrnes Stück machen, als ein kaltes.3
Goethe differenziert hier terminologisch zwischen einer >inneren< und einer >äußeren Form< des Dramas und schreibt jener eine entscheidende dramenästhetische Bedeutung zu: Es sind nämlich nicht mehr die längst >zusammengeworfenen< konventionellen und äußerlichen »Regeln«, die aristotelischen >drei Einheiteninnere Forminneren Form< verläuft allerdings weniger über rationale gedankliche Operationen, sondern bedarf allererst
1 2 3
MA 1.2, 412. Einleitung zum Anhang Aus Goethes Brieftasche (MA 1.2, 491f); vgl. II.3.3. MA 1.2, 491.
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einer sympathetischen Empfindung des eigenen Herzens. 4 Ist diese verbürgt, dann kann das Stück zwar auf der Oberfläche >verworren< erscheinen, ist in seiner Konzeption jedoch ein für allemal gefeit vor der deduktiven Kälte >äußerer Forminnere Form< - einzufühlen. Freilich wenn mehrere das Gefühl dieser innern Form hätten, die alle Formen in sich begreift, würden wir weniger verschobne Geburten des Geists aneklen [sie]. Man würde sich nicht einfallen lassen, jede tragische Begebenheit zum Drama zu strecken, nicht jeden Roman zum Schauspiel zerstücklen! Ich wollte, daß ein guter Kopf dies doppelte Unwesen parodierte, und etwa die aesopische Fabel vom Wolf und Lamme zum Trauerspiel in fünf Akten umarbeitete.5 Goethes Bemerkung, daß die >innere Form< alle anderen »Formen in sich begreift«, ist wohl weniger ein Hinweis auf einen Unterschied im Begriffsumfang, 6 sondern bezeichnet in erster Linie einen unterschiedlichen ontologischen Status: Die >innere Form< ist allen anderen Formen erkenntnistheoretisch vorgängig, liegt ihnen sozusagen als Erzeugungsmodell zugrunde, 7 weshalb sie von der älteren Forschung auch in eine Analogie zum (neu)platonischen Ideen-Konzept gebracht worden ist. 8 Gestützt wurde diese Deutung durch die begriffsgeschichtliche Herleitung der >inneren Form< aus Shaftesburys entelechischem Prinzip der »inward form«. 9 Es scheint nun durchaus möglich, daß Goethe einen von Shaftesbury in den philosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eingeführten Begriff übernom-
4
Vgl. dazu Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 279-281; Schings, Poetik des Mitleids, S. 63-66. 5 MA 1.2, 491. 6 So Jakob Minor, Die innere Form. In: Euphorien 4 (1897), S. 205-210, hier 206: »Hier ist also innere Form der weitere, und das, was man gewöhnlich unter Form versteht (die Technik und die Gesetze der Gattung), der engere Begriff. Aber auch hier bezieht sich das Gefühl für die innere Form auf das Verhältnis zwischen dem Stoff einerseits und dem Produzierenden und Genießenden andererseits.« Allgemein zur Begriffsgeschichte führt Minor aus: »Im 18. oder im beginnenden 19. Jahrhundert ist oft von innerer Form die Rede, ohne daß überall derselbe oder auch nur ein klarer Begriff damit verbunden würde. Dieser Terminus ist einfach aus dem Gegensatz zu dem deutlichem und bestimmtem >äußere Form< entstanden, unter dem man in erster Linie Sprache und Wort verstand. [...] Alles, was zwischen dem rohen Stoff und der äußern Formgebung in der Mitte liegt, wird mit dem Gesamtnamen der >innern Form< bezeichnet: also die Auffassung des Stoffs (das Thema), die Motivierung, die Einkleidung in die Gattungen, die Komposition u.s.w.« (S. 210) 7 Anders Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 285, der die fragliche Stelle im Sinne seiner Hermetik-These interpretiert, was hier darauf hinausläuft, daß »der Mikrokosmos der Seele alle Formen des Lebendigen begreift«. 8 Vgl. Reinhold Schwinger, Innere Form. Ein Beitrag zur Definition des Begriffes auf Grund seiner Geschichte von Shaftesbury bis W. v. Humboldt. In: R. S. u. Heinz Nicolai, Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstudien zu einer neuen deutschen Poetik. Hg. v. Karl Justus Obenauer. München 1923, S. 1-89, hier 6f. 9 Vgl. ebd., S. 7-16. 256
men hat,10 doch verwendet er ihn selbst wohl kaum im neuplatonischen Sinn,11 was bei seinem immanenten Naturverständnis auch einigermaßen überraschen würde. Der bloße Rekurs auf eine hypothetisch rekonstruierte Begriffsgeschichte welcher Provenzienz auch immer - hilft hier offenbar wenig weiter. Genaueren Aufschluß erlaubt statt dessen ein Blick auf den unmittelbaren dramentheoretischen Kontext der Aussage: Die inkriminierten »verschobne[n] Geburten des Geists« entstehen nämlich durch ein bloß äußerliches Verständnis des Zusammenhangs von Stoff und Form. Sollen diese beiden Komponenten des Kunstwerks aber eine Einheit bilden, dann muß ihr Zusammenhang innerlich motiviert sein. Einschlägig für diesen Sachverhalt ist Goethes spätere Kritik an Gottscheds Abriß der verschiedenen Dichtarten im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit: Das >zusammengezimmerte< »Fächerwerk« einer »historischefn] Kenntnis von allen Dichtarten, worinne sich die verschiedenen Nationen ausgezeichnet hatten«, ziele auf eine bloß äußerliche Kenntnis herkömmlicher »Rubriken« und richte deshalb »den inneren Begriff von Poesie zu Grunde«.12 Tatsächlich liege indes, wie es an anderer Stelle heißt, im »innerefn] Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes [...] der Anfang und das Ende aller Kunst«.13 Goethe fährt fort: Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigen Stoff bezwingen könnte. Genau besehen entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk, welches auf einem würdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die Behandlung, durch Geschick, Mühe und Fleiß, die Würde des Stoffes nur desto glücklicher und herrlicher entgegenbringe.14
Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert an diesen Ausführungen weniger die hier zum Ausdruck kommende klassische Gegenstandslehre,15 die den späteren Goethe so augenscheinlich von frühen trennt, sondern der Gedanke, daß nur dann ein >wahres< Kunstwerk zustandekomme, wenn sich behandelter Stoff und behandelnde Form genauestens entsprechen, wenn also die Behandlung aus der >inneren Form< des Gegenstands resultiert.
10
Vgl. etwa die Kommentare v. Einems (HA 12, 579) u. Sauders (MA 1.2, 870). Dagegen belegt Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 283f, anhand zahlreicher Beispiele, daß der Begriff der »inneren Form< auch »überall in der hermetischen Tradition verwendet wird, sei es buchstäblich oder sinngemäß«; der junge Goethe brauchte demnach »nicht auf eine ins Jahr 1774 fallende Lektüre Shaftesburys zu warten [...], um den Begriff der »inneren Form< zu rezipieren und mit seinen eigenen Überzeugungen zu verschmelzen«. 11 Gegen die gängige Annahme, Goethe habe den Begriff der »inneren Form< unbesehen von Shaftesbury übernommen, hat schon Menzer, Goethes Ästhetik, S. 29f, anhand eines Vergleichs von dessen unterschiedlicher Fassung bei Shaftesbury und Goethe zu belegen versucht, »daß Goethes Gedanke von der inneren Form mit der Lehre des schottischen Philosophen nicht übereinstimmt«. 12 MA 16, 296. 13 MA 16, 303. 14 MA 16, 303f. 15 Vgl. IV.4.2.
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Wird das künstlerische Ergebnis eines solchen Verfahrens allerdings an der >Wahrheit< der Natur gemessen, dann entbehrt es niemals einer gewissen ontologischen Problematik: »Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres, allein sie ist ein für allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln. Aber das Glas!«16 Wie aus diesen Worten implizit hervorgeht, ist sich Goethe um 1776 der Notwendigkeit gezielter künstlerischer Formgebung (jetzt unter ausdrücklicher Berücksichtigung der objektiven Charakteristika des künstlerischen Gegenstands!) wohl bewußt, denn ohne das Brennglas wären »die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur« nicht in konzentrierter Weise »an das Herz der Menschen« zu bringen. Dieses freilich bedarf »zum Feuerblick« einer besonderen sympathetischen Übereinstimmung und Aufnahmefähigkeit, wie Goethe in einer Vorwegnahme des berühmtem Faustischen Diktums formuliert: »Wem's nicht gegeben wird, wird's nicht eijagen, es ist, wie der geheimnisvolle Stein der Alchimisten, Gefäß und Materie, Feuer und Kühlbad.«17 Wie geht nun der >wahre< Künstler konkret vor, um die skizzierte essentielle Entsprechung zwischen Stoff und Form zu erreichen? Der junge Goethe denkt hier an eine eigene >innere Form< im Künstlersubjekt, von der die >innere Form< des reproduzierten Gegenstands >neugeschaffen< werden muß, 18 wie aus einer etwas änigmatischen Äußerung im Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 21. August 1774 hervorgeht: Sieh Lieber, was doch alles schreibens anfang [sie] und Ende ist die Reproduction der Welt um mich, durch die innre Welt die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigner Form, Manier, wieder hinstellt, das bleibt ewig Geheimniß Gott sey danck, das ich auch nicht offenbaren will den Gaffern und Schwäzzern."
Obgleich Goethe sich hier ausdrücklich vor einer Offenbarung gegenüber »den Gaffern und Schwäzzern« verwahrt, gibt er dennoch ein knappes Resümee seines damaligen Verständnisses vom künstlerischen Schaffensprozeß, der keineswegs willkürlich, sondern eben den Gesetzen der >inneren Welt< entsprechend >neuschaffend< verfährt. 20 Deutlicher noch wird sein Streben nach Kontingenzreduktion im Essay Nach Falkonet und über Falkonet, der ebenfalls 1776 im MercierAnhang Aus Goethes Brieftasche erschien. Goethe gibt dem schaffenden Künstler jetzt zu bedenken, »daß jeder Menschenkraft ihre Grenzen gegeben sind«, und leitet daraus die prinzipielle Frage ab: »Wie viel Gegenstände bist du im Stande so zu fassen, daß sie aus dir wieder neu hervorgeschaffen werden mögen?«21 Anzahl 16
MA 1.2, 492. MA 1.2, 492; vgl. Faust /, V. 534 (MA 6.1, 550). 18 Vgl. Zimmermann, Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, S. 285. " W A IV, 2, 186f. 20 Zu den Implikationen dieser Konzeption künstlerischen Schaffens für den modernen Begriff von Autorschaft vgl. Martha Woodmansee, The Genius and the Copyright. Economic and Legal Conditions of the Emergence of the >Authorinneren Formhochklassischer< Ästhetik; so heißt es etwa ins Negative gewendet im (gemeinsam mit Schiller verfaßten) unveröffentlichten Schema Über den Dilettantismus (1799): »Was den Dilettanten eigentlich abgeht ist Architektonik im höchsten Sinne diejenige ausübende Kraft, welche erschafft bildet konstituiert er hat davon nur eine Art von Ahndung gibt sich aber durchaus dem Stoff dahin anstatt ihn zu beherrschen.«22 Einschlägiger noch im Sinne der gegenwärtigen Fragestellung nach der >inneren Form< ist eine Formulierung aus Goethes Rezension (1806) zu Des Knaben Wunderhorn: Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet, mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik, oder was sonst will, entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht, und wirkt selbst im dunkeln und trüben Element oft herrlicher, als es später im klaren vermag. Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Räume die ganze Welt zu sehen glauben.23
Die hier angesprochene Vorstellung eines >in sich vollendeten dichterischen Genies< verweist unübersehbar auf das klassische Konzept ästhetischer Autonomie, das an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden kann.24 Zentral für den gegenwärtigen Kontext ist dagegen die emeute Begriffsverwendung von >innerer Forminnere Form< dabei nicht auf die Qualität eines künstlerischen Gegenstands, sondern meint eine Eigenschaft des dichterischen Genies. Goethe folgt mit diesem uneinheitlichen Gebrauch des Terminus der begrifflichen Tradition, welche >innere Formen< sowohl in >psychischen Wesen< als auch in Kunstwerken wahrnahm. 25 Die zweite dieser beiden Begriffskomponenten findet sich ebenfalls in Goethes klassischer Ästhetik: Im Jahr vor der zitierten Äußerung aus der Wunderhorn-Rezension hatte er in einer anderen Besprechung die mißlungene »äußere Form« des rezensierten Gedichts ausdrücklich von der »inneren Form eines solchen Kunstwerks« unterschieden.26 22 23 24 25 26
MA 6.2, 1040. MA 6.2, 614f. Vgl. IV.3.2 u. IV.3.4. Vgl. Schwinger, Innere Form, S. 7-21. Besprechung von Anonym., Der Geburtstag, eine Jägeridylle in vier Gesängen (MA 6.2, 596).
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Doch während die >innere Form< für Goethe noch 1776 »nicht mit Händen gegriffen«, sondern ausschließlich »gefühlt sein will«,27 entwickelt er ab Mitte der achtziger Jahre und besonders nach der italienischen Reise eine veritable Methode zur objektiven Durchdringung des künstlerischen Gegenstands, die sich auf das bloß subjektive sympathetische Gefühl des Betrachters nicht mehr verläßt: Darstellerische Wahrhaftigkeit und künstlerische Authentizität werden fortan nicht mehr durch eine empathische Einfühlungsgabe beglaubigt, sondern können sich im Gegenteil am besten gerade dort konstituieren, wo sich die subjektive Einbildungskraft weitestgehend zurücknimmt.28 Dieses objektivistische Programm näher zu beleuchten und die damit einhergehenden sprachtheoretischen, feldsoziologischen, theoriegeschichtlichen sowie epistemologischen Implikationen zu erarbeiten, wird nun Aufgabe des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit sein.
27
Vgl. Nach Falkonet und über Falkonet, wo es vom Künstler heißt, er fühle »nicht allein die Würkungen, er dringt bis in die Ursachen hinein, die sie hervorbringen. Die Welt liegt vor ihm, möcht ich sagen, wie vor ihrem Schöpfer, der in dem Augenblick, da er sich des Geschaffnen freut, auch alle die Harmonien genießt, durch die er sie hervorbrachte und in denen sie besteht. Drum glaubt nicht so schnell zu verstehen, was das heiße: Das Gefühl ist die Harmonie und vice versa.« (MA 1.2, 496) 28 Vgl. ΙΠ.2.4 u. bes. IV.2.
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TEIL 2: 1788/89
III: Goethes italienische Ästhetik als Fanal des kallistischen Objektivismus: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) im Kontext der Reiseschriften
Am 17. November 1786 schreibt Goethe aus Rom einen Brief an Wieland, worin er relativ ausführlich auf einen jungen deutschen Antiquar namens Aloys Hirt zu sprechen kommt. Hirt müsse - so berichtet Goethe nach zwei einleitenden lobenden Sätzen - »auf ein Fundament seiner Existenz dencken«, wünsche deshalb »ein Journal als Beytrag zur Kunst und der Kenntniß von Rom herauszugeben« und habe »auch schon aus Deutschland leidliche Bedingungen«. Erst nachdem Goethe somit indirekt darauf hingewiesen hat, daß Hirt keineswegs auf eine Publikation in Wielands Teutschem Merkur angewiesen sei, erst nachdem er also dessen Marktwert relativ hoch angesetzt hat, gibt er die eigentliche Absicht seines Schreibens preis: »Ich dachte aber ob das nicht eine Acquisition für dich wäre.«1 In den folgenden Sätzen wird Goethe sogleich recht konkret2 und liefert daraufhin eine genaue Übersicht der thematischen Vorschläge Hirts, die im gegenwärtigen Zusammenhang freilich keine Rolle spielen. Von einigem Interesse scheinen dagegen die Worte, mit denen Goethe im Anschluß daran seine eigene Rolle in Rom reflektiert und den Vorschlag zur »Acquisition« Hirts für Wielands Zeitschrift 3 in einen viel umfassenderen Kontext stellt: Ich bin nun selbst hier, lerne Rom kennen, wie ich Deutschland kenne und wünschte daß dieß ein Anlaß würde etwas Gutes zu beginnen. Nach meinem Wunsch sollte alsdann dieser Theil des Merkurs für diejenigen die nach Italien gehen, für die die daher kommen und andre, die es nie sehn, mehr oder weniger interessant werden, man müßte aber eine gewisse Folge und Vollständigkeit der Sache geben.4
Goethe denkt hier offenbar an eine eigene Sparte im Teutschen Merkur, die für Reiseberichte aus Italien und einschlägige Aufsätze reserviert gewesen wäre. Dieses Ansinnen hat der Herausgeber Wieland mit der Begründung abgelehnt, er 1
WA IV, 8, 61. Vgl. ebd.: »Er kann sich und wird sich am liebsten auf eine Bogenzahl, auf ein gewißes fürs Jahr, gegen ein Gewißes engagiren.« 3 Tatsächlich hat Wieland dann Auszüge aus Briefen von Rom (mit einem Text Aloys Hirts über den Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und einer weiteren Notiz über den Naturwissenschaftler Adrian Gilles Camper) in die März-Nummer 1788 des Teutschen Merkurs (S. 266-273) aufgenommen. Schon früher waren (über die Vermittlung Johann Heinrich Mercks) Hirts Briefe aus Rom in Wielands Zeitschrift erschienen, nämlich im Dezember-Heft 1785 (S. 251-267) sowie in der Januar- und Februar-Nummer 1786 (S. 69-82 u. 169-186); vgl. dazu Goethes Angaben im eben zitierten Brief (WA IV, 8, 60). 4 WA IV, 8, 62. 2
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könne es nicht annehmen, »ohne den Merkur gänzlich in ein Kunst-Journal umzuwandeln«. 5 In der von Goethe zunächst ins Auge gefaßten Form wurde die Italien-Rubrik also nicht verwirklicht, was für ihn wohl umso schmerzlicher war, als auch sein eigenes Material bald rapide anwuchs, wie er in einem Brief an seinen und Wielands Verleger Göschen gut ein Jahr später aus Rom berichtet.6 Immerhin aber hat Wieland »dem allgemeinen Wunsch entsprochen«: denn »die folgenden Jahrgänge des >Merkur< sind wahre Italien-Kompendien«. 7 Die hier im Mittelpunkt stehenden Auszüge aus einem Reise-Journal, die 1788/89 in vier Monatsheften der Wielandschen Zeitschrift erschienen, 8 können gewissermaßen als Einsatz zu einer >Schwundstufe< der von Goethe geplanten eigenen Italien-Rubrik gelten. In ihrer Eigenschaft als zyklische Zusammenstellung kurzer, doch in höchstem Maße programmatischer Aufsätze bedeuteten sie »für das größere Publikum das Ergebnis der italienischen Reise, soweit es die bildende Kunst betrifft. Denn die eigentliche Redaktion der Briefe und Tagebücher erscheint erst dreißig Jahre
5
Vgl. den Brief Wielands an Johann Heinrich Merck vom 17.12.1786: »Ich habe [...] von unserm Goethe aus Rom eine große Empfehlung euers Protégé, des Hrn. Hirt, und ein Anerbieten desselben erhalten, nach einem sehr weitgrenzenden Plan den Merkur von Monat zu Monat mit höchstinteressanten Nachrichten u Notizen die schönen Künste u Wissenschaften, neu entdekte Antiquitäten, neuesten Kunstwerke etc. etc. betreffend, von Rom, aus der Quelle, aus, zu versehen. Weil ich dieses Anerbieten, wobey es billig auch um Hrn. Hirts Interesse zu thun war, nicht annehmen konnte ohne den Merkur gänzlich in ein Kunst-Journal umzuwandeln, so habe ich Göthen den Vorschlag gethan, daß Hr. Hirt seinen Plan in einem eigenen Kunst-Journal ausführen soll, wozu ich ihm einen guten Verleger zu verschaffen hoffe; und ich erwarte darüber seine weitere Willensmeynung.« (WB 9.1, 210) 6 An Georg Joachim Göschen, 9.2.1788: »Ich sehne mich recht nach der Vollendung unserer Ausgabe der acht Bände, um alsdann an neue Arbeiten zu gehen. Sie können denken, was für eine Menge Stoff ich dieß Jahr gesammelt habe, mehr als ich je zu verarbeiten hoffen kann.« (WA IV, 8, 343) Vgl. ebd. auch folgenden, im gegenwärtigen Kontext einschlägigen Hinweis Goethes: »Die Litteraturzeitung [wohl die ALZ] wird künftig regelmäsig litterarische Beyträge aus Italien erhalten.« 7 So der Kommentar von Christoph Michel (FA I, 15/2, 1556). 8 Vgl. Der Teutsche Merkur (Viertes Vierteljahr 1788, October): 1. Rosaliens Heiligtum (S. 32-38); 2. Zur Theorie der bildenden Künste (S. 3 8 ^ 5 , darunter Baukunst S. 3 8 ^ 3 und Material der bildenden Kunst S. 43^t5); 3. Stundenmaß der Italiener (S. 4 5 ^ 9 ) . TM (Viertes Vierteljahr 1788, November): 4. Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt (S. 97-103); 5. Neapel (S. 103-114); 6. Plinius Naturgeschichte (S. 114-115), daran ohne eigene Ziffer anschließend: Lebensgenuß des Volks in und um Neapel (S. 115-121). TM (Erstes Vierteljahr 1789, Februar), unter der Überschrift Fortsetzung der Auszüge aus dem Taschenbuche eines Reisenden: 7. Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (S. 113-120); 8. Von Arabesken (S. 120-126); 9. Naturlehre (S. 126-131). TM (Erstes Vierteljahr 1789, März), unter der variierten Überschrift Fortgesetzte Auszüge aus dem Taschenbuche des Herrn ***: [10.] Volksgesang (S. 229-252); 10. [eigentlich 11.] Naturlehre. Antwort (S. 252-256). - Nicht mehr unter dem Serientitel erschienen Goethes Aufsätze Heber die bildende Nachahmung des Schönen von Carl Philipp Moritz. In: TM (Drittes Vierteljahr, Julius 1789), S. 105-111; Ueber Christus und die zwölf Apostel nach Raphael. In: TM (Viertes Vierteljahr, December 1789), S. 269-277. 264
später.«9 Offenbar lag Goethe schon während der Reise10 oder unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien »viel daran, seine Gedanken mitzuteilen«," und er beabsichtige mit der Veröffentlichung im renommierten, allgemein ausgerichteten und überregional verbreiteten Journal12 - wie ein Jahrzehnt später mit den von ihm selbst herausgegebenen, publizistisch freilich weitaus erfolgloseren Propyläen wohl »auch auf Künstler zu wirken«.13 Dabei bezogen sich die Auszüge »nicht auf die Reise selbst, auf ihren Verlauf oder die Ereignisse, die G[oethe]s Erleben nachdrücklicher geprägt hatten, sondern waren immer Einzelbeobachtungen oder Ausarbeitungen zu punktuellen Fragen der Ästhetik oder der Naturwissenschaft«.14 Die direkten Vorbereitungen und Entstehungsumstände der in den Auszügen aus einem Reise-Journal versammelten Essays lassen sich aus einigen brieflichen Dokumenten rekonstruieren; so wendet sich Goethe am 31. August 1788 an Charlotte von Stein: Sey doch so gut mir die Briefe die ich auf der Reise an dich geschrieben zu schicken wenn du sie mit hast, oder anzuzeigen wo sie liegen, wenn sie noch hier sind, ich will nach und nach etwas daraus zusammenschreiben, und es dem Wieland in den Merckur geben. So sehe ich nach und nach selbst was ich habe und ob ich was habe. Ohne einen solchen Vorsaz hätte ich die alten Papiere gar nicht wieder ansehen mögen.15
Zu den >Briefen< zählt Goethe vielleicht auch das Reisetagebuch, welches durch die persönliche Adressierung der epistolarischen Form sehr nahe kommt. Daß Goethe sich bereits vor dem 31. August mit eigenen Briefen aus Italien beschäftigte, geht aus einem Schreiben an den Göttinger Altertumswissenschaftler Christian Gottlieb Heyne vom 24. Juli 1788 hervor.16 Schon hier ist von einer möglichen Redaktion und Veröffentlichung einzelner Beobachtungen oder kunsttheoretischer Reflexionen die Rede:
9
Wanda Kampmann, Goethes Kunsttheorie nach der italienischen Reise. In: JbGG 15 (1929), S. 203-217, hier 203. 10 So die Vermutung Christoph Michels (FA I, 15/2, 1555). Anders der Kommentar von Norbert Miller (MA 3.2, 524f). - Vgl. Goethes Brief an Carl Ludwig v. Knebel, 19.2.1787: »Gerne schrieb ich viel und interessantes. Ja ich wollte von Rom abscheidend, wenn ich Zeit hätte, nur über das was mir besonders vorgekommen und aufgefallen einen Quartband schreiben.« (WA IV, 8, 194) 11 Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 203; ähnlich der Kommentar Hartmut Reinhardts (MA 3.2, 422). Vgl. dazu den (in die Rückkehr aus Rom einwilligenden) Brief Goethes an Herzog Carl August, 17./18.3.1788, wo es u.a. heißt: »Mein Wunsch ist: [...] mich an Ihrer Seite, mit den Ihrigen wiederzufinden, die Summe meiner Reise zu ziehen und die Masse mancher Lebenserinnerungen und Kunstüberlegungen in die drey letzten Bände meiner Schriften zu schließen.« (WA IV, 8, 357) 12 Vgl. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 14; Gross, Ästhetik und Öffentlichkeit, S. 114. 13 Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 203. 14 So der Kommentar von Norbert Miller (MA 3.1, 524). 15 WA IV, 9, 13f. 16 Goethe berichtet da von »den Briefen die ich von dorther [Rom] an meine Freunde schrieb und die ich mir jetzt wieder zu Gesicht kommen« (WA IV, 9, 6).
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Wenn ich mich werde gesammelt haben, werde ich erst selbst erkennen was ich mir erworben habe und dann wird leider gleich das Gefühl eintreten von dem was mir noch abgeht. Was ich dem Publiko vorlegen könnte sind Bruchstücke, die wenig bedeuten und niemand befriedigen.' 7 Christoph Michel schließt aus diesen Worten, Goethe habe »gegenüber dem Philologen Heyne noch vor einer solchen Aufgabe resigniert«. 18 Relativiert wird dieser Eindruck freilich durch den kommunikativen Kontext: Denn in den direkt vorausgehenden Sätzen rechtfertigt sich Goethe für den Umstand, daß er auf Heynes Brief nach Rom so lange nicht geantwortet habe, mit einer ausführlichen Schilderung der wachsenden Sprachlosigkeit angesichts der antiken Kunst. 19 Danach allerdings ist von einer Resignation gegenüber der eigenen Absicht, Ergebnisse der Italienreise in Form eines Aufsatzzyklus zu veröffentlichen, nicht mehr allzu viel zu spüren: Wenn ich geneigt wäre etwas auf das Papier zu bringen; so wären es vorerst sehr einfache Sachen. Ζ. B. inwiefern die Materie, woraus gebildet worden, den klugen Künstler bestimmt, das Werck so und nicht anders zu bilden.20 So geben die verschiedenen Steinarten gar artige Aufschlüsse über Baukunst, jede Veränderung des Materials und des Mechanismus, giebt dem Kunstwercke eine andere Bestimmung und Beschränkung. Die Alten waren, nach allem, was ich bemercken konnte, auch besonders hierin unaussprechlich klug und ich habe mich oft mit großem Interesse in diese Betrachtungen vertieft. Sie sehen daß ich sehr von der Erde anfange und daß es manchem scheinen dürfte, als behandelte ich die geistigste Sache zu irdisch; aber man erlaube mir zu bemercken: daß die Götter der Griechen nicht im siebenten oder zehnten Himmel, sondern auf dem Olymp trohnten und nicht von Sonne zu Sonne, sondern allenfalls von Berg zu Berg einen riesenmäßigen Schritt thaten.21 Wenn Goethe hier seine geplanten Aufsätze als »vorerst [!] sehr einfache Sachen« bezeichnet, dann ist dies wohl eher ein Bescheidenheitstopos, denn Ausdruck einer veritablen Resignation. Ähnliches gilt auch für sein Eingeständnis, »daß ich sehr von der Erde anfange und daß es manchem scheinen dürfte, als behandelte ich die geistigste Sache zu irdisch«, wie die folgende Rechtfertigung augenfällig bestätigt: Mit transzendenten und spekulativen Erklärungen der (antiken) Kunst möchte Goethe nichts zu schaffen haben. 17
WA IV, 9, 6. FA I, 15/2, 1557. 19 Vgl. WA IV, 9, 5f: »Sie kommen mir durch Ihr gütiges Schreiben auf eine freundliche Weise zuvor, und beschämen mich dadurch um so mehr, als ich gewissermassen Ihr Schuldner geblieben bin. Ich mußte fürchten daß Sie mich für inkonsequent halten möchten, da ich, bey meinem Eintritt nach Rom, mein Verlangen Ihnen zu dienen bezeigte und nachher, ausser einer vorläufigen Antwort, nichts wieder von mir hören ließ. Allein ich darf zu meiner Entschuldigung sagen: daß es mir sonderbar genug und im Grunde doch ganz natürlich gegangen ist. [...] Im Anfange hatte ich noch Lust und Muth das einzelne zu bemercken, es nach meiner Art zu behandeln und zu beurtheilen; allein je weiter ich in die Sachen kam, je mehr ich den Umfang der Kunst übersehen lernte desto weniger unterstand ich mich zu sagen und meine letzten Briefe sind eine Art von Verstummen oder, wie Herder sich ausdrückt: Schüsseln, in denen man die Speisen vermißt.« 20 Es handelt sich um den Grundgedanken des Essays Material der bildenden Kunst, der dann im Oktober-Heft des Teutschen Merkur erschien. 21 WA IV, 9, 7f. 18
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Konkreter wird das Vorhaben der Beiträge für den Teutschen Merkur in einem undatierten Brief an Wieland von Ende August 1788; Goethe schreibt dort explizit: Du hast mir neulich gesagt daß du wünschest ich möchte dir von meinen Reisebemerkkungen manchmal etwas für den Merkur geben. Bisher habe ich meine Journale, die Briefe, die ich hierher geschrieben, unzähliche zerstreute Blätter durchgesehn und wünsche selbst nach und nach etwas in Ordnung zu sehen. Allein ohne Compelle [Druck, Zwang, NCW] ist dazu bey mir keine Hoffnung. Ich wollte dich also fragen ob du Lust hättest eine Folge solcher kleinen Aufsätze nach und nach in den Merkur aufzunehmen und zwar so daß ich mich engagirte monatlich vom nächsten Sept. biß zu Ende des Jahrs 89 mehr oder weniger zu liefern, damit ich eine Art Austheilung machen, einen Aufsatz mit dem andern verbinden, einen durch den andern erläutern kann. Ich habe so vielerley, so mancherley, das doch nach meiner Vorstellungs und Bemerckens-Art immer zusammenhängt und verbunden ist. Naturgeschichte, Kunst, Sitten, pp., alles amalgamirt sich bey mir. Heute früh dicktirte ich einen Beytrag zur Witterungs Lehre, der sich ganz natürlich mit der Luftperspecktiv endigte. Genug es steht dir mancherley nach und nach zu Dienste.22 Mit der Formulierung »eine Folge solcher kleinen Aufsätze« deutet Goethe die für die spätere Publikation konstitutive zyklische Erscheinungsform an - schon im römischen Brief an Wieland vom 17. November 1786 war ja von »eine[r] gewisse[n] Folge und Vollständigkeit« die Rede. Goethe möchte jetzt - seiner (ganzheitlich-morphologischen) »Vorstellungs und Bemerckens-Art« entsprechend - auf lockere Art und Weise »einen Aufsatz mit dem andern verbinden, einen durch den andern erläutern«. Gegen Ende des Briefes wird dann noch die organisatorische und materielle Seite des Unternehmens angesprochen: Nun wünschte ich zu wissen ob dir der Vorschlag annehmlich sey? Ob du monatlich etwas magst? Wieviel ohngefähr an Blätter und Bogenzahl dir recht wäre? Und, damit unser Contract ganz rein werde, was du mir dagegen an Gold oder Silber geben willst? Ob ich gleich keine Kinder zu ernähren habe; so muß ich doch darauf dencken etwas in den Beutel zu leiten, da so viel hinaus geleitet wird. Lebe wohl. Wenn wir einig sind arbeite ich dir gleich auf ein Paar Monate voraus.23 Goethe spielt hier auf seine prekäre Finanzlage nach den hohen Ausgaben für die kostspielige Italienreise an. Nicht zu Unrecht hat Christoph Michel erwähnt, daß die Veröffentlichung im Teutschen Merkur für Goethe »auch aus finanziellen Erwägungen attraktiv[ ]« 2 4 gewesen sei. Wielands Antwort, aus der unter anderem 22
WA IV, 9, 14f; Datierung nach FA II, 3, 422 u. 905. Christoph Michel weist darauf hin, daß mit dem »nächsten Sept.« wohl der September 1788 gemeint sei (FA I, 15/2, 1558). Er stützt sich dabei auf einen Brief Caroline Herders an ihren Mann vom 11./12.9.1788, in dem sie (über den in Kochberg verbrachten 6.9.) berichtet, »daß Goethe einiges vorlas das er in den Merkur geben will. Etwas über die Kunst, Beobachtungen über die Witterung u. von der heil. Cäcilia [i.e. Rosalie] in Palermo«: Johann Gottfried Herder, Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788-1789. Hg. v. Albert Meier u. Heide Hollmer. München 1988, S. 107. Die hier angesprochenen »Beobachtungen über die Witterung«, die ja auch im zitierten Brief an Wieland als »Beytrag zur Witterungs Lehre« figurieren, wurden nicht in die Auszüge aus einem Reise-Journal aufgenommen; Spuren davon finden sich allenfalls in den beiden unter dem Titel Naturlehre veröffentlichten (fingierten) Briefen (MA 3.2, 195-198 u. 214-216). 23 WA IV, 9, 15. 24 FA I, 15/2, 1557. 267
auch das projektierte Honorar für die Auszüge aus einem Reise-Journal hervorgehen würde, ist leider nicht erhalten. Obwohl Wieland mit Goethe eine herausragende »Acquisition« für sein Journal gelungen war, erschienen die Auszüge - einem allgemeinen Usus der Zeit entsprechend 25 - ohne Angabe des Verfassers. Die versteckten Hinweise auf dessen Besonderheit wurden während der Erscheinungszeit des Zyklus allerdings immer nachdrücklicher: Erreicht wurde dies etwa durch die Abänderung des Gesamttitels im Februar- und März-Heft 178926 (Fortsetzung der Auszüge aus dem Taschenbuche eines Reisenden, zuletzt Fortgesetzte Auszüge aus dem Taschenbuche des Herrn ***), welche durch die Variation vom Reise-Journal über das Taschenbuch eines Reisenden zum Taschenbuche des Herrn *** die Aufmerksamkeit der Leser wohl immer stärker auf den Autor der zunächst relativ unpersönlich präsentierten Texte lenken sollte, sowie durch eine Herausgebermitteilung im Dezember-Heft 1788, in dem keine Beiträge Goethes vertreten waren: Eigens zu den Auszügen aus einem Reise-Journal hebt Wieland hervor, daß deren »Verfasser wohl nicht genennt zu werden braucht, da die Hand oder vielmehr der Geist des Meisters niemand hoffentlich im Zweifel läßt«.27 Durch eine solche änigmatische Formulierung wurde zweifelsohne ein allgemeines Interesse für die Frage nach dem Autor und dessen >persönlichem< Stil geweckt. Denn Wielands laudative Mitteilung Ende 1788 steht im Kontext der Ankündigung weiterer Beiträge Goethes für den folgenden Jahrgang: Der unter dem bescheidenen Titel, Auszüge aus einem Reise-Journal, angefangene Artikel [...] wird im Jahre 1789 fleißig fortgesetzt werden, und ich zweifle nicht, daß er sowohl durch die Abwechselung und Mannigfaltigkeit der Materie, als durch ihren innern Gehalt, den Reichthum an feinen Bemerkungen und Combinationen, und das Interessante, das der Verf. auch da zu finden wußte, wo der gewöhnliche Schlag der leeren und eilfertigen Reisenden Nichts sieht, unsern Lesern sehr willkommen seyn wird.28
An diesen projektiven Worten, die gezielt ein qualitatives Pensum für den Autor und zugleich eine hohe Erwartungshaltung beim Publikum stimulierten, hebt Christoph Michel besonders die intendierte >Leserlenkung< hervor, den »Appell an das Qualitätsgefühl des Publikums, dessen es Wieland doch zu bedürfen schien, da seine Zeitschrift eine Vielzahl ähnlich landeskundlicher Artikel brachte (1789 u.a. Fortsetzungen aus einem ungedruckten Reise-Journal, Nachrichten über die Tos25
Vgl. etwa Johann Joachim Göschens Ankündigung Plan der Monatsschrift für unser Zeitalter. In: Der Teutscher Merkur (Erstes Vierteljahr, Februar 1789), S. 228: »Anonymisch müssen die Aufsätze seyn, weil man so freyer reden und unbekannt leicht mehr wirken kann.« 26 Dazu auch die Vermutung Michels: »Vielleicht ist der Titel Wechsel 1789 auch mit der Absicht verbunden gewesen, das Publikum auf die triadische Folge der Aufsätze hinzuweisen, nachdem der Rhythmus (im Oktober und November 1788 je drei Beiträge) bereits unterbrochen war« (FA I, 15/2, 1559). 27 Christoph Martin Wieland: Der Herausgeber des T. Merkurs an die Leser am Schluße des Jahres 1788 nebst einer kleinen Herzenserleichterung. In: Der Teutscher Merkur (Viertes Vierteljahr, December 1788), S. 294-301, hier 297. 28 Ebd.
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kana, Musikalische Anekdoten aus Italien: aus einem Schreiben des Herrn G**** [!], Etwas vom Venetianischen Carneval, aus einem Brief des Herrn G***e an einen seiner Freunde zu W. [!], Von der Luft in Campagna di Roma und den Einfluß den sie auf den Feldbau hat, Bemerkungen über den Nutzen und Schaden der Flüsse in Italien [...]) und der Generaltitel ganz in der Tradition der Miszellanen-Literatur [sie] stand (vgl. schon Sulzers Beobachtungen und Anmerkungen auf einer im Jahre 1775 und 1776 gethanen Reise. Als Fragment aus seinem Tagebuch gezogen. 1780). Diese nivellierende Praxis mag vor allem Goethes kompositorisches Konzept in seiner beabsichtigten Wirkung beeinträchtigt haben.«29 Wohl auch um einer solchen Beeinträchtigung entgegenzuwirken, sprach Wieland in seiner Herausgebermitteilung deutliche Worte, die ihrerseits offenbar ihre Wirkung nicht verfehlten: Denn in einer Anzeige vom 2. Januar 1789 kündigt Friedrich Johann Bertuch eine weitere Italienschrift Goethes an, Das Römische Carneval, das - ebenfalls anonym - im Journal des Luxus und der Moden erscheinen sollte; Bertuch nobilitiert nun in seiner Annonce den anonymen Verfasser dadurch, daß er ihn als den »Mann« identifiziert, den Teutschland unter seine feinsten Kunstkenner so wie unter seine ersten LieblingsSchriftsteller zählt, und den wir bloß durch seine in den letzten Stücken des T. Merkur von 1788 befindlichen vortrefflichen Auszüge aus einem Reise-Journale zu bezeichnen nöthig haben, um den Leser, der auch eben kein Oedipus wäre, über die Meister-Hand nicht falsch rathen zu lassen [...].30
Die Frage, welcher Autor hinter den Auszügen aus einem Reise-Journal steht, scheint also schon zur Zeit von deren erster anonymer Publikation ein relativ offenes Geheimnis gewesen zu sein. Von einiger Bedeutung für die zeitgenössische Rezeption - für die es freilich kaum direkte Zeugnisse gibt - ist zudem der Umstand, »daß die Journale die Wirkung der kleinen Schriften durch wechselseitige, >vernetzte< Propaganda potenzierten«.31 So annonciert Wielands Teutscher Merkur seinerseits wiederum die selbständige Ausgabe des Carneval als »Beschreibung dieses sonderbaren Ueberrests der alten Saturnalien, von eben dem Verfasser, dem wir die Auszüge aus dem Taschenbuch eines Reisenden in unserm Journal zu danken haben«, und wirbt für die Subskription.32 Die weitere Verbrei29
FA I, 15/2, 1558f. Intelligenz-Blatt des Journals des Luxus und der Moden 1 (1789), S. III-V, hier III. Damit Goethes Identifizierung leicht fallt, setzt Bertuch noch hinzu, daß der fragliche Autor »sich bekanntlich in den letzten Paar Jahren, und bis zur Mitte des vorigen Sommers in Italien und größtentheils zu Rom auf[hielt]«. 31 So Michels Kommentar (FA I, 15/2, 1561). 32 Der Teutscher Merkur (Erstes Vierteljahr, März 1789), S. 338f: »Die Herren Herausgeber des Journals des Luxus und der Moden haben den Kunstliebhabern ein interessantes Werk angekündiget, das Römische Carneval betitelt. Es besteht aus einer Beschreibung dieses sonderbaren Ueberrests der alten Saturnalien, von eben dem Verfasser, dem wir die Auszüge aus dem Taschenbuch eines Reisenden in unserm Journal zu danken haben - und aus zwanzig Blättern, nach den Handzeichnungen, die derselbe von den schönsten und vorzuglich charakteristischen Gruppen, worauf seine Beschreibung sich bezieht, durch einen geschickten Künstler in Rom ausführen ließ. [...] Die Subscribenten, die sich bis zu 30
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tung von Goethes frühklassischer Ästhetik unter ein größeres Publikum sollte durch diese Praxis sicherlich befördert werden. Inwiefern das tatsächlich gelang, bleibt der Vermutung anheimgestellt.33 Erhaltene briefliche Quellen belegen zwar die positive Aufnahme der Auszüge bei einigen wenigen,34 zeigen aber zugleich, daß der Absatz des Wielandschen Journals (Auflage: 1500 Stück) davon nicht merklich profitierte.35 Anders verhält es sich offensichtlich mit der Rezeption durch die heranwachsende literarische Elite, wie ein Brief Schillers vom 11. Mai 1798 nahelegt: Als Schiller nämlich mit Blick auf Goethes geplante Zeitschrift Propyläen bei diesem anfragt, »[o]b es nicht anginge, daß Sie die kleinen Aufsätze über Kunst, die Sie vor 8 Jahren in den Merkur eingerückt, dieser Sammlung einverleibten«, versieht er seinen Vorschlag mit der schmeichelhaften Begründung, er wisse, »daß sie schon damals als sie im M[erkur] erschienen, ein lebhaftes Interesse erregt haben«. 36 Dokumentiert ist mittlerweile zumindest die Wirkung der im zentralen Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl entwickelten Begriffsarchitektur auf Schillers letzten Kallias-Búef (28. Februar 1793), auf Friedrich Schlegels Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie (1795/97), auf August Wilhelm Schlegels Vorlesung Über das Verhältnis der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit, über Stil und Manier (gehalten 1802 in Berlin, Erstdruck 1808 in der Wiener Zeitschrift Prometheus) sowie auf Friedrich Wilhelm Joseph Schellings 1802 gehaltene Vorlesung Philosophie der Kunst (§ 69) und die Rede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807).37 Auch die Konjunktur des theoriegeschichtlich nicht unbedeutenden Begriffs der >Arabeske< im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts läßt sich auf Goenächster Ostermesse noch melden, erhalten ihre Exemplare auf geglättetem Atlas-Papier. [...] Der Preis ist vor und nach dem Schluß der Subscription Ein alter Louisd'or oder 5 Rthlr. Sächs. Courant.« 33 Ohne Angabe von Quellen schreibt Friedmar Apel, daß die Auszüge aus einem ReiseJournal »trotz des lapidaren Titels Goethes Ruhm erheblich beförderten« (FA I, 18, 1136). 34 Vgl. etwa den Brief Goethes an F. L. Graf zu Stolberg, 2.2.1789: »Die Herdern sagt mir: daß Ihr Anteil an den Auszügen im Merkur nehmt.« (WA IV, 9, 79) Caroline Herder selbst lobt den Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl im Brief an ihren Mann vom 13.2.1789; vgl. Herder, Italienische Reise, S. 341. 35 Vgl. den Brief des Merkur-Verlegers Göschen an Wieland, 17.7.1789: »Ich denke vor der Hand möchte die Auflage des Merkurs von 1500 genug sein. Reussirt die Sache so kann mann 500 bald nachdrucken. [...] Bey einer 14tägigen Waßerkur hab ich die Lektüre des disjährigen [sie] Merkurs nachgeholt. In der That ist er doch sehr intereßant, sehr unterrichtend, und sehr unterhaltend. Ich hatte geglaubt die Erzählungen von Peregrino Proteus, die Auszüge aus Göthens Reisebemerkungen und die Künstler [Schillers Gedicht] hatten dieses [sie] Journal den Vorzug vor allen jetz [sie] roullirenden Journalen geben müßen. Ich begreife nicht daß es nicht noch einmal so stark geht als es geht. Ich mag nichts lieber lesen als das.« (WB 10.1, 234) 36 MA 8.1, 574. 37 Vgl. dazu Oskar Walzel, Die Sprache der Kunst. In: JbGG 1 (1914), S. 3-62, hier 41f; Hilmar Frank, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: GHb Bd. 3 (1997), S. 570-577, hier 575f.
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thes kleinen Essay Von Arabesken zurückführen.38 Oskar Walzel hob in diesem Zusammenhang schon 1914 hervor: »Goethe der Denker, nicht bloß Goethe der Künstler ist der Lehrer der Frühromantiker und Schellings.«39 Gegen den hartnäkkigen Mythos vom untheoretischen, ja theorielosen und deshalb auch ästhetikgeschichtlich belanglosen Dichter Goethe unterstrich Walzel mit allem Nachdruck der damals gebräuchlichen Metaphorik:40 »Viel zu wenig wird beachtet, daß ungefähr gleichzeitig mit Kants >Kritik der Urteilskraft^ ja noch etwas früher Goethe eine Reihe von theoretischen Äußerungen veröffentlichte, in denen er die reifen Gewinne seiner ersten weimarischen Jahre und der italienischen Reise vortrug. Die Kunstanschauung, die er mit Herders Hilfe sich geschaffen hatte, eine Kunstanschauung, die mit seiner Naturanschauung aufs engste verknüpft war, gelangte in die Öffentlichkeit und wurde eine unentbehrliche Voraussetzung für die ästhetischen Versuche Schillers, der Frühromantiker und Schellings.«41 Höher kann man die Bedeutung der einschlägigen Texte aus dem Reise-Journal für die Ästhetikgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts kaum veranschlagen. Ihr theoretischer Kern, der Essay Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, soll hier deshalb einer genauen Analyse unterzogen werden. Zunächst geht es indes - analog zu den Analysen der Shakespeare-Rede und des Baukunst-Aufsatzes - um die theoretische Begründung einer für Goethes Ästhetik qualitativ neuen, >klassischen< Darstellungssprache, zu deren historischer Herleitung ein Blick auf ein größeres Textkorpus geboten scheint.
1.
Sprachliche Transparenz als Pensum und Darstellungsprinzip klassischer Ästhetik
Goethes klassischer Stil gilt der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung als »höchste und seither nicht wieder erreichte Stufe der deutschen Hochsprachentwicklung«.42 Dementsprechend hat Wolfgang Schadewaldt die Sprachform von Goethes >klassischen< Werken schon vor einiger Zeit als »unwillkürliche Norm« des Neuhochdeutschen bezeichnet. Goethe vollziehe »den Übergang von der Sprache des Pietismus und der Aufklärung zum >modernen< Deutsch des 19. und 20. 38
So Walzel, Die Sprache der Kunst, S. 42. Zum Kontext vgl. Kerstin Behnke, Arabeske (und) Bedeutung bei Kant, Goethe, Hegel und Friedrich Schlegel. In: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs >Theorie der Literatur^ Hg. v. Susi Kotzinger u. Gabriele Rippl. Amsterdam/Atlanta, GA 1994, S. 229-240, bes. 232f. 39 Walzel, Die Sprache der Kunst, S. 59. 40 »Goethe [schmiedete] dem jüngeren Geschlecht selbst die Waffen, mit denen es sich eine neue Ästhetik eroberte«. 41 Ebd., S. 39. 42 So Peter von Polenz, Der Weg zur klassischen Literatursprache in Deutschland. In: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt. Bd. 4: Aufklärung und Romantik 1700-1830. Hg. v. Erika Wischer. Berlin 1983, S. 237-245, hier 244.
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Jahrhunderts«. Das Besondere an seinem Stil sei dessen auffallende »Sach- und Wirklichkeit sgemäßheit «.4i Wenn Schadewaldts metasprachliche Charakterisierung auch heute ein wenig naiv anmutet, so trifft sie doch einen wesentlichen Punkt von Goethes eigenen stilistischen Intentionen nach seiner Abwendung vom Geniestil des Sturm und Drang. Es geht ihm jetzt nämlich zuvörderst um ^Gegenständlichk e i t der Rede«, er »fordert von ihr vor allem >Faßlichkeitmodernen< Darstellungsund Beschreibungssprache haben die genannten Postulate indes eine ganz grundsätzliche sprach- und auch ideengeschichtliche Bedeutung, 45 ja sind selbst in kultursoziologischer Hinsicht von Relevanz. 46 Friedrich Schlegel hat im Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken, den er gegen Ende seines Gesprächs über die Poesie (1800) der Figur des Marcus in den Mund legt, folgende Feststellung getroffen:
43
Wolfgang Schadewaldt, Zu Goethes Sprache. Aus der Denkschrift: Das Goethe-Wörterbuch. In: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich/Stuttgart 1963, S. 397^104, hier 398f. 44 So ebd., S. 399. Schadewaldt zitiert hier im Gegensatz zu seinem sonstigen Usus >freierGegenständlichkeit< weist eine Stelle aus der späten Schrift Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1831), in der sich Goethe selbst »als einen gebornen Dichter« vorstellt, »der seine Worte, seine Ausdrücke unmittelbar an den jedesmaligen Gegenständen zu bilden trachtet, um ihnen einigermaßen genug [zu] tun« (MA 18.2, 450). Vgl. auch folgende Sentenz aus Maximen und Reflexionen, Nr. 1028 (Hecker Nr. 510): »Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich; je mehr sie sich ins Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken.« (HA 12, 5 lOf) Das »Faßliche« als poetologisches, nicht aber im engeren Sinn als sprachliches Kriterium (das freilich auch eine eminent rezeptionsbezogene Dimension hat), wird in Eckermanns Gesprächen mit Goethe exponiert: Eintrag vom 24.2.1825 (MA 19, 133). 45
Vgl. Erich Kleinschmidt, Klassik als >Sprachkriseklassischen< Periode schon den Zeitgenossen offensichtlich. Zweitens bezog sich der Begriff des Stils bereits damals sowohl auf »Ansichten und Gesinnungen«, also auf den Gehalt von sprachlichen Aussagen, wie auch auf die »Art der Darstellung« und die formale Gestalt. Drittens belegt die Analogie zu »den verschiedenen Manieren eines Meisters« in der Malerei schon das Bewußtsein von der individualpsychologisch-ontogenetischen Komponente des (hier noch traditionell mit der >Manier< synonym gesetzten) Stilbegriffs, die heute in der Vorstellung eines >Individualstils< enthalten ist. Und viertens steht der Vergleich »mit dem Stufengang der durch Umbildungen und Verwandlungen fortschreitenden Entwicklung, welchen wir in der Geschichte der alten Kunst und Poesie wahrnehmen«, für die historisch-phylogenetische Dimension des Stilbegriffs, die nunmehr mit dem Terminus >Epochenstil< bezeichnet wird. Abgesehen vom Gattungsstil, »der bestimmten Textarten entspricht«, exponiert Schlegel in der zitierten Stelle die maßgeblichen der noch heute gebräuchlichen Bedeutungen des Terminus >Stilspäteren Werken< in eine >mittlere< und in eine >dritte Perioden für die der Tasso bzw. Hermann und Dorothea repräsentativ seien, ist für den gegenwärtigen Kontext irrelevant. Hans-Martin Gauger, Zur Frage des Stils - etymologisch gesehen. In: Comparatio 2 - 3 (1991), S. 3-16, hier 7, nennt den Individualstil, den Gattungsstil und den Epochenstil die »drei verschiedenen Ausformungen« des modernen Stilbegriffs. Eine genauere Differenzierung der verschiedenen Bedeutungen des heutigen Stilbegriffs findet sich bei Claudia Kestenholz, Emphase des Stils. Begrijfsgeschichtliche Erläuterungen zu Goethes Aufsatz über >Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil·. In: Ebd., S. 36-56, hier 37, Anm. 2.
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durchbrechen, ist bemerkbar.« 49 Dieses unbedingte Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen^ das mit deren Substitution durch eine neuartige Vorstellung vom schöpferischen Genie einhergeht, gilt auch und gerade in stilistischer Hinsicht. Wie schon zitiert wurde, bemerkt Goethe im 12. Buch ( 1 8 1 4 ) von Dichtung und Wahrheit zum Baukunst-Aufsatz von 1772, er habe dort, »durch Hamans und Herders Beispiel verführt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen [verhüllt]« und »das Licht das mir aufgegangen war, für mich und andere [verfinstert]«. 50 Im 15. Buch schreibt Goethe dann anläßlich der Schilderung seines Prometheus-Projekts entsprechend, er habe damals »weder in Prosa noch in Versen eigentlich einen Stil« gehabt. 51 Die spätere Kritik des eigenen Jugendstils läßt sich noch genauer aus der rückblickenden Charakterisierung des Hamannschen Stils ermitteln, der dem Sturm und Drang j a zum Vorbild gereicht hatte; wiederum im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit fuhrt Goethe nämlich aus: [B]ei jeder Überlieferung durch's Wort [...], die nicht gerade poetisch ist, findet sich eine große Schwierigkeit: denn das Wort muß sich ablösen, es muß sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, muß für den Augenblick einseitig werden; es gibt keine Mitteilung, keine Lehre, ohne Sonderung. Da nun aber Haman [sie] ein für allemal dieser Trennung widerstrebte, und wie er in einer Einheit empfand, imaginierte, dachte, so auch sprechen wollte, und das Gleiche von andern verlangte; so trat er mit seinem eignen Stil und mit allem was die andern hervorbringen konnten, in Widerstreit. Um das Unmögliche zu leisten, greift er daher nach allen Elementen; die tiefsten geheimsten Anschauungen, wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen, erleuchtende Verstandesblitze, die aus einem solchen Zusammentreffen hervorstrahlen, bedeutende Bilder, die in diesen Regionen schweben, andringende Sprüche der heiligen und Profanskribenten, und was sich sonst noch humoristisch hinzufügen mag, alles dieses bildet die wunderbare Gesamtheit seines Stils, seiner Mitteilungen. Kann man sich nun in der Tiefe nicht zu ihm gesellen, auf den Höhen nicht mit ihm wandeln, der Gestalten, die ihm vorschweben, sich nicht bemächtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeuteten Stelle herausfinden; so wird es um uns nur trüber und dunkler jemehr wir ihn studieren, und diese Finsternis wird mit den Jahren immer zunehmen, weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Literatur augenblicklich herrschende Eigenheiten vorzüglich gerichtet waren. [...] Solche Blätter verdienen auch deswegen Sibyllinisch genannt zu werden, weil man sie nicht an und für sich betrachten kann, sondern auf Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu ihren Orakeln seine Zuflucht nähme.52 Wenn auch Hamann dem rückblickenden späten Goethe »in Lebens- und Freundschaftsverhältnissen höchst klar gewesen zu sein« scheint - wobei insbesondere seine Briefe »vortrefflich und viel deutlicher als seine Schriften [waren], weil hier der Bezug auf Zeit und Umstände so wie auf persönliche Verhältnisse klarer hervortrat« 53 - , so ändert das (in der Einschätzung Goethes) dennoch wenig an der
49
MA 14, 16, MA 16, MA 16, MA 16,
5 0 MA 51 52 53
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10. 543. Vgl. II.l.l. 681. 549f. 550.
problematischen, weil äußerst änigmatischen Gestalt des Hamannschen Werks, dessen eigentümliche stilistische Verfaßtheit (u.a. durch die eminente Zeitbezogenheit) eine fortdauernde Lesbarkeit schlechterdings konterkariert. Schlimmer noch: Gerade Hamanns bewußte stilistische Absicht, die >Vereinzelung< der Wörter zu hintertreiben und somit »das Unmögliche zu leisten«, führte laut Goethe nolens volens dazu, daß er »er mit seinem eignen Stil und mit allem was die andern hervorbringen konnten, in Widerstreit [trat]«. Die angestrebte »Einheit« bewirkt also trotz der »wunderbare[n] Gesamtheit seines Stils« letztendlich Entzweiung. Was den >klassischen< Goethe - bei aller Sympathie54 - an den >sibyllinischen Blättem< des >Magus aus Norden< besonders verstören mußte, ist sicherlich der Umstand, daß »man sie nicht an und für sich betrachten kann«, daß sie in ihrer qualitativen Beschaffenheit also keineswegs den Anforderungen der Autonomieästhetik genügten.
1.1 Adelungs klassizistische Stillehre und Goethes klassisches Stilideal Eine zeitgenössische deutsche Darstellung der stilistischen Voraussetzungen >zeitenthobenerklassischer< Lesbarkeit, welche Goethes nachitalienischen Vorstellungen in mancher Hinsicht entsprach - obgleich er sie allem Anschein nach nicht kannte55 - , ist Johann Christoph Adelungs zuerst 1785 in drei Teilen erschienene Abhandlung Ueber den deutschen Styl. Dieses (in breiter Front mindestens bis 1800, mit Einschränkungen aber bis 1820) im doppelten Wortsinn >Schule machende< Werk, das erstmals den Begriff des >Stils< auch im Titel trägt, steht mit zahlreichen Folgepublikationen verschiedenster, heute oft vergessener Autoren am Beginn eines »kleinen Diskursfes]« der klassizistischen Stillehre; sein Verfasser wurde deshalb von der Rhetorik-Forschung als »anerkannte[r] Diskurs-Autor« bezeichnet.56 Die schulische und akademische Repräsentativität der Adelungschen 54
So findet sich selbst in der Italienischen Reise, 5.3.1787, anläßlich der Erwähnung von Giovanni Battista Vicos Principi di una scienza nuova d'intorno alla comune nature delle nazioni (1725/1744) eine freundliche Würdigung Hamanns: »Es ist gar schön wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt, den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Codex werden.« (MA 15, 235) 55 Ruppert, Goethes Bibliothek, verzeichnet von Adelungs Werken folgendes: S. 89, Nr. 638: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart [...] (1774-86); S. 99, Nr. 702: Über die Geschichte der Deutschen Sprache, über Deutsche Mundarten und Deutsche Sprachlehre (1781); Nr. 703: Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in d. Königl. Preuß. Landen [...] (1781); Nr. 704: Über den Ursprung der Sprache und den Bau der Wörter, besonders der deutschen. Ein Versuch (1781). Alle genannten Bücher wurden 1780 bzw. 1781, also lange vor Goethes Italienreise, erworben. - Am 9.10.1788, nach der Rückkehr aus Italien, bittet Goethe seinen Verleger Göschen: »Senden Sie mir doch Adelungs Schrift deren Titel hier beyliegt.« (WA IV, 18, 32) Dem Brief an Göschen vom 15.12.1788 zufolge (WA IV, 18, 35) meint Goethe damit Adelungs Vollständige Anweisung der Deutschen Orthographie nebst einem kleinen Wörterbuch flir die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Leipzig 1788 (vgl. auch FA II, 3, 913). 56 Rüdiger Campe, Die zwei Perioden des Stils. In: Comparatio 2-3 (1991), S. 73-101, hier 79.
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Anschauungen für die Zeit bis 1800 legt es nun nahe, Goethes eigene, nur bruchstückhaft überlieferte Vorstellungen von >klassischem< Stil mit ihnen zu vergleichen. Einige zentrale Punkte aus Adelungs Darstellung, die über weite Strekken an die traditionellen Lehren der Rhetorik anschließt, sollen im folgenden referiert werden, um in Analogie oder aber kontrastiv dazu das normative stilistische Konzept des klassischen Goethe zu entwickeln und historisch zu situieren. Die erkenntnisleitende Frage lautet dabei, ob und inwiefern sich Goethes nachitalienische Anschauungen tatsächlich in den von Adelung angeführten »kleinen Diskurs« einfügen. Zur größeren Klarheit der analytischen Terminologie wird zwischen dem (meist akademischen und tendenziell rationalistischen) Klassizismus und Goethes (nichtakademischer und antirationalistischer) Vorstellung von klassischem Stil unterschieden; der Begriff >klassisch< impliziert hier jedoch keine normative Wertvorstellung, sondern wird stets nominalistisch verwendet. Schon in seiner Einleitung entwirft Adelung eine geschichtsphilosophische Begründung der Sprach- und Stilentwicklung, die mit den für den Sturm und Drang charakteristischen geschichtsphilosophischen Anschauungen des jungen Herder auf den ersten Blick manches gemein hat: Was den Umfang von Wörtern betrifft, so hat ein rohes und von wissenschaftlichen Kenntnissen entblößtes Volk zwar den in seinem Wirkungskreise ihm nothwendigen und möglichen Vorrath von sinnlichen Vorstellungen und deren Nahmen; aber an Ausdrücken unsinnlicher und abstracter Gegenstände muß es so arm seyn, als an den Vorstellungen selbst, und was es ja davon hat, das druckt es immer auf eine ihm eigene sinnliche und dunkele Art aus. Je weniger aufgeklärt es ist, desto stärker sind bey demselben die untern Kräfte, besonders die Einbildungskräfte und die Leidenschaften, und diese drucken denn auch ihr Gepräge der ganzen Sprache auf, die dadurch in diesem Zustande für die Dichtkunst freylich bequemer ist, als in einem höhern Grade der Cultur. Daher denn die gehäufte Biegung der Wörter, Ellipsen, kühne Tropen, harte und kühne Versetzungen, Ableitungen und Zusammensetzungen; daher zwar mehr Kürze und Nachdruck, aber auch mehr Dunkelheit, welche indessen hier minder nachtheilig ist, weil ein solches Volk nur für die gegenwärtige Zeit lebt, denkt und spricht, und den Mangel der Klarheit allenfalls durch Ton und Geberde ersetzt.57
Auch die folgende Entwicklungsskizze entspricht noch ungefähr den fast zwanzig Jahre zuvor geäußerten Ansichten Herders: So wie nun diese Volk durch und mit seiner Vermehrung an Wildheit und Stärke des Körpers abnimmt, so wie die bürgerlichen Verhältnisse immer verschlungener werden, und Einbildungskraft und Leidenschaften durch kühle Ueberlegung und ruhige Kaltblütigkeit gemildert werden, so wie es an klaren Vorstellungen, Kenntnissen und Geschmack zunimmt, so wie es den edlen Stolz zu nähren anfangt, nicht bloß für seinen gegenwärtigen Wirkungskreis, sondern für alle seine Sprachgenossen, und selbst für die Nachwelt zu sprechen; so erweitert und verfeinert sich auch die Sprache, und sucht sich dem jedesmaligen Grade der Cultur auf das genaueste anzuschmiegen.58
57
Johann Christoph Adelung, Ueber den deutschen Styl. 3 Tie. Berlin 1785 (Nachdruck Hildesheim/New York 1974; =Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts, Ergänzungsreihe), Tl. 1, S. 13f. 58 Ebd., S. 14f.
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In der Rede vom »edlen Stolz«, der darin liege, »nicht bloß für seinen gegenwärtigen Wirkungskreis, sondern für alle seine Sprachgenossen, und selbst für die Nachwelt zu sprechen«, deutet sich freilich bei Adelung schon eine wertende Tendenz an, die mit Herders organizistischem Geschichtsdenken und dessen impliziter Bevorzugung der historischen Frühstadien kaum mehr vereinbar scheint.59 Durchaus vereinbar scheint die benannte Tendenz dagegen mit den Vorstellungen des nachitalienischen Goethe, der am änigmatischen Stil Hamanns ja insbesondere auszusetzen hatte, daß »es um uns nur trüber und dunkler [wird,] jemehr wir ihn studieren«, und daß »diese Finsternis [...] mit den Jahren immer zunehmen« werde, »weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Literatur augenblicklich herrschende Eigenheiten vorzüglich gerichtet waren«. Sichtbarer noch werden die manifesten Unterschiede zwischen Herders und Adelungs Konzeption der Sprach- und Stilgeschichte, wenn man die positive Wertung der stilistischen Konsequenzen betrachtet, die Adelung in seinem Referat »der vornehmsten Hülfsmittel« darstellt, »wodurch die Deutsche Sprache sich seit dem neunten Jahrhunderte verfeinert hat«; er zählt dazu nämlich - trotz seiner auffallenden Zugeständnisse an den Sensualismus60 - nachgerade die »Beförderung der möglichsten Klarheit des Ausdruckes«,61 was Herders radikalsensualistischer Empfehlung einer möglichst »sinnlichen Sprache«62 für die Poesie offen zuwiderläuft. Adelungs stilgeschichtlicher Abriß kommt schließlich zu folgendem Fazit: 59
Vgl. Herders Fragmente, 1. Sammlung, 2. Stück: »So wie sich das Kind oder die Nation änderte: so mit ihr die Sprache. [...] Je älter der Jüngling wird, je mehr ernste Weisheit und politische Gesetztheit seinen Charakter bildet: je mehr wird er männlich, und hört auf Jüngling zu sein. Eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stufe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten poetischen annehmen: so muß nach demselben die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Natur. Je eingezogener und politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je mehr man am Perioden künstelt, je mehr die Inversionen abschaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln eine Sprache erhält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie.« (FHA 1, 182f) 60 Vgl. Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 2f: »Ich kann es wohl für bekannt voraussetzen, daß alle unsere Erkenntniß aus Empfindungen entstanden ist, daher man wenigstens bey diesen anfangen muß, wenn man dem Gange jener nachspüren will. Eine Empfindung im engsten Verstände ist das Bewußtseyn des Eindruckes eines Dinges auf einen der äußern oder innem Sinne; aber auch nur dieses Bewußtseyn allein, und weiter nichts. Merkt die Seele auf diesen Eindruck, sucht sie an demselben etwas zu unterscheiden, oder mit andern Worten, sucht sie dieses Bewußtseyn zu einiger Klarheit zu bringen, so entstehet aus der Empfindung eine Vorstellung. Dasjenige, was sich an einem Dinge unterscheiden läßt, ist immer sehr vielfach, und nachdem die Seele mehr oder weniger von diesem Vielfachen unterscheiden lernet, sind auch bey den Vorstellungen mehrere Grade von Klarheit möglich. Wird die Vorstellung so klar, daß ich die Art und Weise der Empfindung und ihrer Ursache einsehe, so entstehet daraus ein Begriff im eigentlichsten und schärfsten Verstände.« 61 Ebd., S. 15. 62 Herder, Fragmente, 1. Sammlung, 5. Stück (FHA 1, 189).
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Unter diesen Umständen kann die Sprache so sehr verfeinert, aufgekläret und abgeschliffen werden, daß sie in den Augen eines andern Volkes alle Kraft und Stärke verlieret; freylich nur in den Augen dieses andern Volkes, denn nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Volkes, welches sie spricht, hat sie dessen immer genug, und etwas mehr würde sie diesem Volke hart, rauh und dunkel machen, so wie stärkere Leidenschaften dessen Nervensystem nur erschüttern, wo nicht gar zerrütten würden. Die heutige Französische Sprache befindet sich in diesem Falle; aber auch die Deutsche? Ich glaube gewiß nicht, und finde es daher sehr sonderbar, daß man uns rathen kann, wieder zu der nervigen Sprache des dreyzehnten Jahrhunderts zurück zu kehren, die weder unserer Vorstellungsart, noch unserm Empfindungsvermögen mehr angemessen seyn kann.63
In Adelungs Ironie angesichts des Rats, »wieder zu der nervigen Sprache des dreyzehnten Jahrhunderts zurück zu kehren«, offenbart sich deutlich seine Distanzierung vom stilistischen Credo des jungen Herder, der ja seinerseits ein flammendes Plädoyer für »die wichtigen Vorteile der schwäbischen Sänger, und die körnichte Sprache deutscher Schriftsteller voriger Zeiten«64 gehalten hatte - also gerade für die mittelhochdeutsche Dichtersprache des 13. Jahrhunderts als epochales stilistisches Leitbild. Und just an solchen und ähnlichen Vorgaben hatte sich der junge Goethe beim Stil der Shakespeare-Rede und des Baukunst-Aufsatzes von 1772 orientiert. Adelung dagegen propagierte in seiner »Kurzefn] Geschichte der Wohlredenheit« ein ganz anders geartetes stilistisches Vorbild: Das erste bekannte Volk, bey welchem sie einen beträchtlichen Fortschritt machte, waren die Griechen, und da dieses Volk es in dem Geschmacke überhaupt zu einem Grade brachte, der seit dessen Zeit wenigstens noch nicht ist übertroffen worden, so ist es auch in der Wohlredenheit noch immer das erste und vornehmste Muster. Sie blühete bey diesem Volke in ihrem größten Glänze, zu der Zeit, da dessen Geschmack den höchsten Grad der männlichen Schönheit erreicht hatte, und so lang er sich in demselben erhielt, d.i. von dem Peloponnesischen Kriege an bis auf Alexandern; ein Zeitpunkt, der zwar nicht viel über hundert Jahre dauerte, aber doch die vortrefflichsten Schriftsteller aller Art hervor brachte.65
Während der junge Herder an der Sprache Homers in erster Linie das (den konventionellen Vorstellungen vom Schönen entgegengesetzte) Charakteristische wahrgenommen hatte,66 erblickte Adelung in ihr »den höchsten Grad der männlichen Schönheit«, also vor allem kallistische Qualitäten. Daß der italienische und nachitalienische Goethe - »[d]as Land der Griechen mit der Seele suchend«67 mit diesem de facto ahistorischen Stilideal der griechischen »Wohlredenheit« als »erstefm] und vornehmste[m] Muster« voll und ganz übereinstimmte, braucht nicht eigens hervorgehoben werden. Die Idolatrie für das klassische Griechenland, für dessen Sprache und Dichtung, ging bei ihm so weit, daß sich seine hohe 63
Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 18. Fragmente, 3. Sammlung, I. Teil, 2. Stück (FHA 1, 381). 65 Adelung, Ueber den deutschen Styl, Π . 1, S. 20f. 66 Vgl. Fragmente, 1. Sammlung, 8. Stück: »Alle alte Sprachen haben, so wie die alten Nationen, und ihre Werke überhaupt, mehr Charakteristisches, als das, was neuer ist.« (FHA 1, 200) 67 Iphigenie aufTauris, V. 12 (MA 3.1, 161). 64
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Wertschätzung alles Griechischen sogar bis auf den Klang der (neu)griechischen Sprache erstreckte.68 Und auch Adelungs despektierliches Urteil über die stilistischen Qualitäten der deutschen Texte aus dem 16. Jahrhundert69 - einst ebenfalls ein Vorbild des Sturm und Drang - hätte jetzt wohl zweifellos Goethes Zustimmung erhalten. Selbst in der Einschätzung des (Epochen-)Stils zeitgenössischer Literatur zeigt sich in mancher Hinsicht eine gewisse Kongruenz zwischen den Anschauungen Adelungs und Goethes; jener meinte nämlich: In Ansehung der Wohlredenheit zeichnete sich besonders das zweyte Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts aus, in welchem diejenigen guten Schriftsteller von Sachsen ausgingen, welche in kurzem Muster für ganz Deutschland wurden. War bisher der wenige Schmuck, welchen man auf den Ausdruck wandte, fast nur allein auf die Dichtkunst eingeschränket, so verbreitete er sich von dieser Zeit an nach und nach auf die meisten Arten des Ausdruckes. Auf den philosophischen freylich am spätesten, aber doch endlich, und wir haben nunmehr auch hierin Schriftsteller aufzuweisen, die wir einem Plato an die Seite setzen können, wenn anders Deutscher Geschmack auf einige Art dem Griechischen an die Seite treten darf.70 Adelung skizziert hier einen historischen Diffusionsprozeß des guten Stils, wonach sich dieser - von der Poesie ausgehend - auf die pragmatischeren Prosaformen ausbreitet und zuletzt auch die philosophische Schreibart erreicht. Doch während in der Poesie und zunehmend auch in pragmatischeren Prosaformen »Sprachrichtigkeit, Reinigkeit, Klarheit, Angemessenheit und Würde die glänzendste Seite der Schriftsteller« der Jahre von 1725 bis 1750 seien, würden diese - insofern hervorstechenden - Autoren »an Erfindung und Lebhaftigkeit des Ausdruckes, oder wie man es lieber nennt, an Darstellung, von ihren Nachfolgern übertroffen«. 71 Angesichts dieser historisch ambivalenten, weil keineswegs einfach linear verlaufenden Entwicklung des guten Stils entwirft Adelung nun ein stilistisches Pensum für die Literatur des späten 18. Jahrhunderts, wobei er die durchaus anerkannten Leistungen des Sturm und Drang in bezug auf »Erfindung und Lebhaftigkeit des Ausdruckes« zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht:
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Aus Rom berichtet er am 13. Januar 1787 dem Weimarer Freundeskreis über einen Besuch der Kongregation De propaganda fide (der Missions-Kongregation an der Piazza de Spagna) am Dreikönigstag folgendes: »nach verlesnen einigen lateinischen Gedichten [...] traten bey 30 Seminaristen nach und nach auf und laßen kleine Gedichte jeder in seiner Landessprache. [...] Die Gedichtgen schienen meist im Nationalsylbenmaaße verfaßt, mit der Nationaldeklamation vorgetragen zu werden, denn es kamen barbarische Rhytmen [sie] und Töne hervor. Das Griechische klang, wie ein Stern in der Nacht erscheint.« (WA IV, 8, 131) 69 Vgl. Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 22: »Zwar ward die Reformation so wohl für den Geschmack als für die Sprache überaus vortheilhaft, indem beyde von dieser Zeit an sehr schnelle Schritte zu ihrer Ausbildung thaten. Allein das Empfindungsvermögen war noch zu grob und zu stumpf, und die Sprache noch zu ungebildet, als daß ihre Verfeinerung das Werk eines Jahrhundertes seyn konnte, daher auch die besten Köpfe des 16ten und 17ten Jahrhundertes für uns kaum mehr lesbar sind.« 70 Ebd., S. 22f. 71 Ebd., S. 23.
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Von dieser Seite hat unsere neueste Litteratur allerdings Vorzüge. Allein es fehlet ihr dagegen etwas, welches zu einer schönen Litteratur eben so nothwendig ist, als dieses, ich meine die Beobachtung der eben genannten Eigenschaften des Ausdruckes [Sprachrichtigkeit, Reinigkeit, Klarheit, Angemessenheit und Würde], auf welche in den neuesten Zeiten zu wenig Rücksicht genommen wird. Hierzu kommt noch, daß unter den Schriftstellern der neuesten Zeit so wenig Einheit, selbst in Ansehung der Sprache herrschet, indem ein jeder sich den Sprachgebrauch nach eigenem Gefallen modelt; eine Erscheinung, welche in der ganzen Geschichte des Geschmackes, von den Griechen an, ohne Beyspiel ist, und allein schon beweiset, daß wir von dem Zeitpuncte einer vollkommen schönen Litteratur noch sehr weit entfernet sind. Wüßten unsere neuesten Schriftsteller ihre Gabe der Darstellung mit Klugheit und weiser Sparsamkeit anzuwenden, und verbänden sie damit die Richtigkeit, Reinigkeit, Klarheit, Würde und Einheit des gedachten Zeitraumes, so würden sie in der Geschichte der Deutschen Wohlredenheit Epoche machen, und ihre nächsten Vorgänger eben so weit übertreffen, als diese die Schriftsteller des vorigen Jahrhundertes hinter sich zurück gelassen haben.72
In der Polemik gegen die Beobachtung, daß die zeitgenössischen Schriftsteller ihren »Sprachgebrauch« einzig nach dem eigenem Gutdünken richten, klingt Adelungs deutlicher Vorbehalt gegenüber dem forcierten Subjektivismus des Sturm und Drang an - ein zwar stilistisch begründeter Einwand, der in seinen epistemologischen, ideologischen und ästhetischen Implikationen freilich weit über den engeren stilistischen Bereich hinausweist. Entscheidend scheint dem Stilkritiker dabei die historische Beispiellosigkeit dieses radikalen Individualismus. Und daraus geht für Adelung - scheinbar folgerichtig - hervor, »daß wir von dem Zeitpuncte einer vollkommen schönen Litteratur noch sehr weit entfernet sind«. Indem er sich auf die stilistischen Kategorien »Richtigkeit, Reinigkeit, Klarheit, Würde und Einheit« als auf »die unveränderlichen Gesetze der Schönheit«73 beruft, argumentiert Adelung innerhalb seiner auf die Exempel der Geschichte gestützten Beweisführung auffallend ahistorisch, ja die normative Tendenz seiner Stillehre überwiegt deren historische Begründung bei weitem. Gegenüber Adelungs systematisch entwickelter Stillehre lassen sich die expliziten Affirmationen des stilistischen Ideals des klassischen Goethe nur aus verschiedenen verstreuten Bemerkungen rekonstruieren. Doch auch bei ihm kann man die Vorstellung eines historischen Diffusionsprozesses des guten Stils beobachten: etwa in der zehn Jahre nach Adelungs großer Abhandlung veröffentlichten literaturpolitischen Streitschrift Literarischer Sansciilottismus (1795),74 deren unmittelbarer Schreibanlaß eine (aller Wahrscheinlichkeit nach) vom Popularphilosophen Daniel Jenisch im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks publizierte Polemik war, welche »die entschiedenste Dürftigkeit oder vielmehr Armseligkeit der Deutschen, an vortrefflichen classisch-prosaischen Werken jeder Gattung«75 72
Ebd., S. 23f. Ebd., S. 24. 74 Dazu jetzt die instruktiven Ausführungen von Franz Schwarzbauer, Die Xeniert. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik. Stuttgart/Weimar 1993 (Germanist. Abhandlungen 72), S. 182-190. 75 Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 1 (März 1795), S. 249-254; (April 1795), S. 373-377. Zit. nach [Daniel Jenisch,] Ueber Prose und Beredsamkeit der Deut73
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bemängelte. Goethes ebenfalls polemische Replik kann in ihren stilhistorischen Aussagen und stilkritischen Implikationen durchaus mit Adelungs Darstellung verglichen werden, wenn sie auch (oder gerade weil sie) in zentralen Punkten augenfällig von dessen Konzeption abweicht: [D]as Glück, das junge Männer von Talent jetzt genießen, indem sie sich früher ausbilden, eher zu einem reinen, dem Gegenstande angemessenen Styl gelangen können, wem sind sie es schuldig, als ihren Vorgängern, die in der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts mit einem unablässigen Bestreben, unter mancherlei Hindernissen sich, jeder auf seine eigene Weise, ausgebildet haben? Dadurch ist eine Art von unsichtbarer Schule entstanden, und der junge Mann, der jetzt hinein tritt, kommt in einen viel größeren und lichteren Kreis, als der frühere Schriftsteller, der ihn erst selbst beim Dämmerschein durchirren mußte, um ihn nach und nach, gleichsam nur zufallig, erweitern zu helfen.76 Zunächst kann festgestellt werden: Goethe stimmt Mitte der neunziger Jahre mit Adelung darin Uberein, daß ein angehender Schriftsteller am Ende des 18. Jahrhunderts weitaus bessere Voraussetzungen zur Ausbildung eines guten Stils finde als noch ein halbes Jahrhundert früher. 77 Wenn er dabei den Durchbruch des guten Stils um 25 Jahre später als Adelung ansetzt, dann bedeutet das wohl vor allem, daß ihm, dem literarisch in der Phase der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang sozialisierten Autor, die stilistischen Leistungen der frühaufklärerischen Literaten schon sehr viel ferner gerückt sind als dem akademischen Sprachgelehrten, der in ideologischer und epistemologischer Hinsicht der Frühaufklärung noch näher steht (in diesem Sinne spricht Goethe auch vergleichsweise generalisierend sehen. In: D. J., Ausgewählte Texte. Mit einem Nachwort hg. v. Gerhard Sauder. St. Ingbert 1996 (=K1. Archiv d. 18. Jhs. 26), S. 49-56, hier 49. Goethe gibt die angezeigte Stelle in seiner Replik nahezu wörtlich wieder: MA 4.1, 16. 76 MA 4.2, 19. Herbert Jaumann, Die verweigerte Alterität oder über den Horizont der Frage, wie Wieland zur Weimarer Klassik< steht. In: Aufklärung als Problem und Aufgabe. FS f. Sven-Aage J0rgensen. Hg. v. Klaus Bohnen u. Per 0hrgaard. München/Kopenhagen 1994 (=Text u. Kontext, Sonderr. 33), S. 99-121, hier 105f, stellt das solcherart entwickelte »Klassik-Modell« Goethes in den Rahmen »des alteuropäischen Klassizismus«, dessen Paradigma er folgendermaßen umreißt: »Klassische Autoren sind demnach Musterschriftsteller für die imitatio von Stil und Gattung, und von primärem Interesse ist dabei ursprünglich die Systematik der Stilphänomene (elocutio, decorum) und der genera. Man übt sich in der Aneignung und Befolgung von Regeln (praeeepta), orientiert sich dabei zu diesem Zweck an jeweils als musterhaft geltenden Autoren, Werken, Stellen (auetores classici: benutzt als exempla) und versucht dieses Studium umzusetzen in e i gene Praxis< (exercitatio, so noch wörtlich bei Adelung, 1785). In diesem seit der römischen Antike im Prinzip (bei allen Akzentverschiebungen) gültigen Paradigma sind die klassischen Muster als nachgeordnete Größen funktional auf den Kontext von Regelwissen und eigener imitatorischer, aemulativer Praxis des Schreibens bzw. Dichtens bezogen.« Daß dieses traditionelle rhetorische Modell mit Goethes Vorstellungen von 1795 keineswegs kongruiert, sollte im weiteren Verlauf der hier angestellten Überlegungen deutlich werden. 77
Vgl. auch MA 4.2, 19f: »Viel zu spät kommt der Halb-Kritiker, der uns mit seinem Lämpchen vorleuchten will; der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen. [...] So sieht ein heitrer billiger Deutscher die Schriftsteller seiner Nation auf einer schönen Stufe und ist überzeugt, daß sich auch das Publikum nicht durch einen mißlaunischen Krittler werde irre machen lassen.« 281
von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, während Adelung hier stärker differenziert). Und Goethe fährt fort: [D]er muß sehr üble Laune haben, der in dem Augenblicke Deutschland vortreffliche Schriftsteller abspricht, da fast jedermann gut schreibt. Man braucht nicht weit zu suchen, um einen artigen Roman, eine glückliche Erzählung, einen reinen Aufsatz über diesen oder jenen Gegenstand zu finden. Unsre kritischen Blätter, Journale und Kompendien, welchen Beweis geben sie nicht oft eines übereinstimmenden guten Styls! die Sachkenntnis erweitert sich beim Deutschen mehr und mehr und die Übersicht wird klärer. Eine würdige Philosophie macht ihn, trotz allem Widerstand schwankender Meinungen, mit seinen Geisteskräften immer bekannter, und erleichtert ihm die Anwendung derselben. Die vielen Beispiele des Styls, die Vorarbeiten und Bemühungen so mancher Männer setzen den Jüngling früher in Stand, das was er von Außen aufgenommen und in sich ausgebildet hat, dem Gegenstande gemäß mit Klarheit und Anmut darzustellen. So sieht ein heitrer billiger Deutscher die Schriftsteller seiner Nation auf einer schönen Stufe [...].78 Goethes kritische Bewertung der stilistischen Qualitäten deutschsprachiger Prosaliteratur kurz vor 1800 fällt eindeutig positiv aus: Es handle sich um eine Zeit, »da fast jedermann gut schreibt«. Von den angeführten Prosagattungen interessiert im gegenwärtigen Zusammenhang vor allem das Genre des »Aufsatz [es] über diesen oder jenen Gegenstand«, also des thematischen Essays. Wenn Goethe meint, es ließen sich unschwer >reine< Beispiele dafür anführen, dann denkt er vielleicht auch an seine eigenen, gut fünf Jahre zuvor veröffentlichten Auszüge aus einem Reise-Journal, die teils Impressionen aus den später vernichteten Reisetagebüchern mitteilten, teils kunsttheoretische Überlegungen behandelten. Jedenfalls sind auch diese Texte »mit Klarheit und Anmut« geschrieben, was besonders dann in die Augen fällt, wenn man sie mit entsprechenden Texten der Sturm und DrangZeit vergleicht. Noch anläßlich der (schon zitierten) stilkritischen Bemerkungen zum Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772) im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit erklärt Goethe es (freilich negativ formuliert) zu seinem Leitbild, »klar und deutlich, in vernehmlichem Stil« 79 zu schreiben. Diese diskursive Vorgabe entspricht scheinbar 78
MA 4.2, 19f. Jaumann, Die verweigerte Alterität, S. 105f, sieht in Goethes Aufsatz Literarischer Sanscülottismus den aus der rhetorischen Tradition überkommenen »Primat des funktionalen Mustergebrauchs noch deutlich präsent« (»allenfalls erweitert um die >NationalgeistAusbildung< im engeren Sinn auf die traditionelle Vorstellung der imitatio, die er vielmehr schon in seiner Sturm und Drang-Ästhetik über Bord geworfen hatte - vgl. II.4.1 - , noch ist sein Stil-Begriff gleichzusetzen mit den rhetorischen Kriterien des »traditionellen Paradigmas«, wie Jaumann suggeriert. Was es einerseits mit der Goetheschen Kategorie der >inneren Ausbildung< (die eine >Aufnahme von Außen< voraussetzt, aber nicht mit ihr ineinsfállt) und andererseits mit dem Begriff des >Styls< tatsächlich auf sich hat, soll unten eine eingängige Analyse des Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl zu Tage fördern; vgl. III.2.4 u. IV.4.
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MA 16, 543. Dagegen heißt es in Herders Fragmenten, 1. Sammlung, 5. Stück, anders als
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aufs genaueste der klassizistischen Stillehre Adelungs, welche die stilistische Eigenschaft »Klarheit und Deutlichkeit« zur »erste[n] und wesentlichste[n] Schönheit eines jeden guten Styles« erklärt, »deren Abwesenheit sich durch nichts ersetzen läßt«; Adelung erläutert seine normative und ahistorische Vorstellung von sprachlicher Transparenz ganz aus dem Geist des Wolffianismus: Klar nennet man das, was viele Lichtstrahlen durchläßt, einen hohen Grad der Durchsichtigkeit hat. Die Klarheit des Styles, bey den Römischen Schriftstellern Perspicuitas, ist also diejenige Eigenschaft desselben, nach welcher die ganze Vorstellung, welche der Sprechende hat, rein und unvermischt durch die Worte gleichsam durchscheinet; wo der Vortrag lauter Licht, und die Rede ein heller Strom ist, wo man überall auf den Grund sehen kann. Deutlich, oder mit einem andern bey nahe gleich bedeutenden Ausdrucke, verständlich ist, was leicht gedeutet oder verstanden werden kann, d.i. dessen Sinn sich ohne Mühe entdecken läßt, und sich mit den Worten dem Leser gleichsam von selbst aufdringet. Diese Eigenschaft ist nicht bloß negativ [...]; indem es nicht genug ist, daß eine Rede nur keine auffallende Dunkelheit habe; sondern sie ist eine positive Schönheit, welche das möglichste Licht in den Vorstellungen und ihren Ausdrücken erfordert, dieses aber von der bloßen Abwesenheit der Dunkelheit noch sehr verschieden ist.80 Sein Plädoyer gegen stilistische »Dunkelheit« begründet Adelung mit dem (normativen und häufig wiederholten) Argument, daß »die erste Absicht, warum man schreibt oder spricht, darin bestehet, verstanden zu werden«. 81 Als »Quellen [...] des Unsinnes« führt er hingegen unter anderem die »Verworrenheit der Begriffe« an, welche daraus resultiere, daß Schriftsteller sich nicht Zeit und Mühe nehmen, ihre Vorstellungen klar und deutlich werden zu lassen, sondern sie kaum halb gebildet hinwerfen. Da sie alsdann selbst keine klaren Vorstellungen haben, so ist es auch unmöglich, daß der Leser etwas dabey denken kann, und wenn gleich die einzelen Worte ihm verständlich sind, so bleibt ihm doch das Ganze ein Räthsel und Unsinn. Das Uebel wird desto ärger, wenn sich zu dieser Verworrenheit eine ausschweifende Einbildungskraft und ungeordnete Liebe zum Neuen gesellen, da denn Unsinn aller Art die Folge davon ist. Diese Quelle ist für unsere modischen Schriftsteller sehr ergiebig geworden, besonders seit der Geschmack an der bildlichen Schreibart unter ihnen so beliebt geworden ist, welchem wir ganze Bände des herrlichsten Unsinns zu danken haben.82 Adelungs Hinweis auf die programmatische Spontaneität sowie auf die »ausschweifende Einbildungskraft und ungeordnete Liebe zum Neuen« zeigt unmißverständlich an, auf welche Gruppe von Schriftstellern er hier abzielt. Gerade der inkriminierte »Geschmack an der bildlichen Schreibart«, welcher unter den »modischen Schriftstellerin] [...] so beliebt geworden« sei, galt ja als stilistisches Charakteristikum der Sturm und Drang-Autoren 83 - ähnlich übrigens wie deren Vorder Philosoph wolle der Dichter »nicht Begriffe deutlich und bestimmt, sondern Begriffe und Empfindungen rührend und reich ausdrücken« (FHA 1, 188). 80 Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 126f. 81 Ebd., S. 128. 82 Ebd., S. 130. 83 Mehr zu dieser Problematik in II. 1.1. Vgl. auch Herders Lob der Bildlichkeit in den Fragmenten, etwa 1. Sammlung, 7. St.: »Wir bemühen uns also mehr um Hausgerät: [ ] Kunstwörter: bürgerliche Ausdrücke: Redensarten des Umganges sind die häufigsten 283
liebe für die von Herder so hochgehaltene Figur der Inversion, von der hingegen Adelung in seiner Stillehre eine wohlüberlegte und eher sparsame Anwendung empfiehlt.84 In scheinbarer Analogie zu Adelungs klassizistischer Stilkritik aus dem Geist des Wolffianismus wendet sich auch der nachitalienische Goethe gegen die in seinen ästhetischen Texten der Genie-Zeit manifeste »Dunkelheit« und »Verworrenheit der Begriffe«, genauer: gegen die »Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen«, wodurch er »das Licht das [ihm] aufgegangen war, für [s]ich und andere« verfinstert sieht.85 Noch 1823, im zweiten Essay Von deutscher Baukunst, bittet er sogar ausdrücklich um Verzeihung dafür, daß der erste Aufsatz dieses Titels »etwas Amfigurisches in seinem Styl bemerken läßt«.86 Sprachliche Opazität ist jetzt kein darstellerisches Pensum mehr, im Gegenteil: Schon in einem Brief aus Rom an Seidel entschuldigt Goethe seine äußerst knappe briefliche Antwort auf dessen »Microscopische Beobachtungen« und »Gedancken« mit der Begründung, es handle sich dabei um »zu zarte Sachen, und die Bestimmung der Worte und Ausdrücke verlangt große Genauigkeit die in Schriften kaum, in Briefen nie erhalten werden kann«; eine >umständlichere< Erörterung der naturwissenschaftlichen Experimente Seidels bleibt deshalb der offenbar genaueren mündlichen Aussprache vorbehalten.87 Und der frühklassischen Programmschrift Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl setzt Goethe dann programmatisch folgende Einleitung voran: Es scheint nicht überflüssig zu sein, genau anzuzeigen, was wir uns bei diesen Worten denken, welche wir öfters brauchen werden. Denn wenn man sich gleich auch derselben schon lange in Schriften bedient, wenn sie gleich durch theoretische Werke bestimmt zu sein scheinen; so braucht denn doch jeder sie meistens in einem eignen Sinne, und denkt sich mehr oder weniger dabei, je schärfer oder schwächer er den Begriff gefaßt hat, der dadurch ausgedruckt werden soll.88
Bei aller vornehmen Konzilianz der Formulierung89 geht es Goethe nun offensichtlich um eine möglichst klare Bestimmung der eigenen Terminologie.90 Scheidemünzen im mündlichen und Bücherkommerz: die alten hingegen wechselten mit Goldstücken: sie sprachen durch Bilder; wir höchstens mit Bildern, und die bildervolle Sprache unsrer schildernden Dichter verhält sich zu den ältesten Poeten, wie ein Exempel zur Allegorie, wie eine Allegorie zum Bilde in einem Zuge.« (FHA 1, 195) 84 Vgl. Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 304. Die Inversion werde sogar zu einer veritablen Fehlerquelle, »[w]enn sie zu häufig gebraucht wird«. Denn: »Die Inversion ist, so wie alle übrige [sie] Figuren, eine Würze; sie muß daher mit der gehörigen Sparsamkeit gebraucht werden, weil sonst die Würze sehr bald aufhört, Würze zu seyn.« 85 MA 16, 543. 86 MA 13.2, 164. Wie der Kommentar Norbert Millers ausweist, handelt es sich hier um eine »eigenwillige Übertragung eines französischen Begriffs auf die eigene Stilanalyse. Nach dem »Dictionnaire de l'Académie Française< ist >Amphigouri< ein Dokument, dessen Sätze bruchstückhaft, verworren und ohne durchlaufenden Sinn sind. Gfoethe] gebraucht beide Worte (Amfigurie, amfigurisch) häufiger im Sinne von »wortreicher Verhüllung des eigentlichen Gedankenkernskünstliche Vorstellung< erreichbar schien), 96 spricht Goethe nun deutlich objektivistisch von »einem reinen,
stilistische Gegenüberstellung zwischen Goethes und Schillers Begriffsarbeit vornimmt. Ihre gedankliche Entsprechung erhält diese Vorstellung einer möglichst transparenten Sprache in der strengen, häufig sogar als >dialektisch< bezeichneten Logik der Textkomposition, die einen auffälligen Kontrast bildet zur rhapsodischen Darstellungsform von Goethes Genie-Ästhetik; vgl. III.2.1. 91 MA 4.2, 16. Vgl. auch die Einleitung (1798) in die Propyläen: »Um von Kunstwerken, eigentlich und mit wahrem Nutzen für sich und andere, zu sprechen«, komme es u.a. »darauf an, daß bei dem Wort, wodurch man ein Kunstwerk zu erläutern hoffe, das bestimmteste gedacht werde, weil sonst gar nichts gedacht wird« (MA 6.2, 22). 92 MA 4.2, 16. Schon Goethes erstes Notât zu Jenischens Text lautete bündig: »Übel gedacht und übel geschrieben.« (WA I, 40, 483) Vgl. Schwarzbauer, Xenien, S. 185. 93 So hält es Lessing im 16. Kapitel des Laokoon für »unstreitig«, daß »die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen« (LW 6, 102f) - es handelt sich dabei um die argumentative Grundlage seiner gattungsdifferenzierenden Zeichentheorie. Darüber hinausgehend skizziert Schiller in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) die Korrelation der »naiven Denkart« des Genies mit dessen »naive[m] Ausdruck« folgendermaßen: »Wenn der Schulverstand, immer vor Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu sein, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freien Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt.« (SSW 5, 706) 90
94 95 96
Vgl. II. 1.2. Vgl. Herder, Fragmente, 3. Sammlung, I. Tl., 6./7. St. (FHA 1, 402-413). FHA 1, 403; vgl. auch Burdach, Die Sprache des jungen Goethe, S. 48. 285
dem Gegenstande angemessenen Styl«;97 ausschlaggebend sind dafür »Sachkenntnis«, eine klare »Übersicht«, die Bekanntschaft des Schreibenden »mit seinen Geisteskräften« und eine leichte »Anwendung derselben«.98 Nachdrücklicher noch erscheint die objektivistische Tendenz von Goethes klassischem Stilverständnis in der Begriffsbestimmung des Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (auf die noch ausführlicher zurückzukommen sein wird): Nach der hier entwickelten Typologie - deren Geltungsanspruch freilich nicht unbedingt mit dem sprachlichen Stil im engeren Sinn kongruiert, zumindest weit über diesen hinausgeht - »ruht der Styl auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen«.99 Erst eine solche Einsicht in das »Wesen der Dinge« erlaubt es dem Schreibenden also, seine Gedanken »dem Gegenstande gemäß mit Klarheit und Anmut darzustellen«.100 Hier zeigt sich erstmals eine ganz grundsätzliche Differenz zwischen Goethes Sprachauffassung und jener Adelungs: eine Differenz nämlich, die es hinsichtlich der höchst unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Basis auch nicht geraten erscheinen läßt, analog zum oben diskutierten Genie-Diskurs einen beide umfassenden >Klassik-Diskurs< zu postulieren. Im Blick auf die an der Oberfläche zweifelsohne bestehenden Gemeinsamkeiten der Stilauffassungen Adelungs und Goethes kann allenfalls von einer (nicht nur ästhetisch, sondern auch epistemologisch) 97
MA 4.2, 19. Erst der späte, >nachklassische< Goethe wird Gegenstandsbezogenheit und Empfindungsausdruck gleichermaßen als Ziel sprachlicher Mitteilung verstehen; vgl. die Formulierung in der Wohlgemeinten Erwiederung (sie), die im letzten Heft (1832) der Zeitschrift Über Kunst und Altertum unter dem (besser bekannten) Titel Für junge Dichter erschien: »Die deutsche Sprache ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt daß einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstände wie der Empfindung gemäß, nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken.« (MA 18.2, 217) 98 MA 4.2, 19. Goethes Bestimmung entspricht hier den Ausführungen seines Freundes Karl Philipp Moritz in der 11. Vorlesung aus dem 1. Teil der Vorlesungen über den Stil (1793); gegen die traditionelle rhetorische Vorstellung verschiedener Stilhöhen, die auch Adelung noch vertritt (vgl. Ueber den deutschen Styl, Tl. 2, S. 7-65), werden dort folgende Argumente vorgebracht: »Die Sprache soll mit ihrem Gegenstande sinken oder sich erheben; und es gibt daher, an und für sich betrachtet, gar keine höhere oder niedere Schreibart. Auch ist nichts lächerlicher, als in der höhern oder niedern Schreibart sich absichtlich üben zu wollen, indem es ja vorher drauf ankömmt, zu welcher Vorstellungsart von den Dingen man die meiste Fähigkeit oder Anlage besitzt, die man sich nicht selber geben kann, und aus und nach welcher doch allein die Schreibart sich bilden muß. In den Lehrbüchern über den Stil aber scheint die Vorstellung zu herrschen, als ob eine jede Art des Stils in eines jeden Gewalt wäre, und durch Regeln füglich erlernt werden könnte [...]; da es doch schon zu den besondern Vorzügen des Geistes gerechnet wird, wenn einer nur in einer einzelnen Art nicht gewöhnliche Talente zeigt. Der falschen Vorstellungsart, wo man das in dem Ausdruck sucht, was in der Sache liegt, kann nicht genug entgegengearbeitet werden« (MW 3, 653). 99
MA 3.2, 188. Dementsprechend kritisierte Moritz in der 2. Vorlesung am überkommenen rhetorischen Begriff der »Schreibart«, daß dieser nur »die Oberfläche« des »Ausdrucks«, nicht aber »die tiefste Grundlage« der gemeinten »Sache« bezeichne (MW 3, 596f). 100 MA 4.2, 20.
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relativ offenen >diskursiven FormationWeimarer Klassik< exponiert diesen Begriff Helmut Pfotenhauer, Evidenzverheißungen. Klassizismus und Weimarer Klassik< im europäischen Vergleich. In: H. P., Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991, S. 137-155, hier 143. Unter >diskursiver Formation< versteht Pfotenhauer »wiederkehrende, strukturell sich verfestigende intellektuelle Organisationsformen oder literarische Konzeptionen, die mit den hermeneutischen Kategorien des Werkganzen oder des Autorselbstverständnisses nicht hinreichend zu fassen sind«. 102 Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 26. 103 Ebd., S. 27f. 104 Ebd., S. 166. 105 Vgl. Kleinschmidt, Klassik als >Sprachkriseobjektiven, darstellendem Poesie« (gegenüber der »subjektive[n] oder sogenannte[n] sentimentalefn] Poesie«) äußere »sich das Bedürfnis, aus den Zwängen der sprachlichen Subjektbedingtheit herauszukommen. Die stete Spannung zwischen Subjekt und Objekt im Kreuzungsfeld der >Darstellung< wird auf der Ebene von Autor- wie Leserschaft zwar empfunden und zugegeben, aber doch als ein irritierender Faktor eingeschätzt, den es zu
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bei Adelung. Während dessen klassizistische Stillehre nämlich keinerlei erkenntnistheoretische Prätentionen verfolgt, sondern letztlich bloß in der überkommenen rhetorischen Tradition verankert bleibt, beruft sich Goethe mit seinem klassischen Stilideal auf die »tiefsten Grundfesten der Erkenntnis«, ja auf das »Wesen der Dinge, in so fem es uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen«. Deutlich wird hier ein nachgerade wissenschaftlicher Anspruch,106 der mit den in erster Linie instrumentellen Zwecken der Rhetorik nicht mehr allzu viel gemein hat und in seiner nachgelieferten Einschränkung zudem vom kritischen Bewußtsein einer nie vollständig erreichbaren Transparenz107 geprägt ist - deutlich wird mithin eine fundamentale Differenz zwischen den Sprach- und Stilauffassungen Goethes und Adelungs. Die benannte Differenz erschöpft sich indes noch nicht im Unterschied zwischen Goethes gewaltigen (und epistemologisch durchaus prekären) erkenntnistheoretischen Prätentionen und Adelungs Verharren in der instrumenteilen Sprachauffassung der Rhetorik; ihre (damit freilich zusammenhängende) weiterreichende Konsequenz geht aus einem einschlägigen, auf Adelung gemünzten Distichon (bzw. Xenion) von 1796 hervor, das mit »A.« (bzw. mit »Der Sprachforscher«) überschriebenen ist: »Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver,/ Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.«108 Der Verlust von »Geist und Leben« erscheint umso gravierender, als Goethe an anderer Stelle ausdrücklich hervorhebt: »Nicht die Sprache an und für sich ist richtig, tüchtig, zierlich, sondern der Geist ist es, der sich darin verkörpert«.109 Ausführlicher noch widmet sich Goethe der Problematik von »Geist und Leben« der Sprache in einer Reflexion, die sich wiederum als direkte Antwort auf Adelungs stilkritisches Vorhaben interpretieren läßt: Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern, ist das Geschäft der besten Köpfe. Reinigung ohne Bereicherung erweist sich öfters geistlos; denn es ist nichts bequemer, als von dem Inhalt absehen und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe; der geistlose hat gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat. Wie sollte er fühlen, welches kümmerliche Surrogat er an der Stelle eines bedeutenden Wortes gelten läßt, da ihm jenes Wort nie lebendig war, weil er nichts dabei dachte? Es gibt viele Arten von Reinigung und Bereicherung, die eigentlich alle zusammengreifen müssen, wenn die Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen beherrschen gilt. Mit der Hinwendung zur sprachlichen Referenzseite, zur Eigenwelt der Signifikate, auf die hin >Darstellung< zu orientieren sei, unterstellt Goethe eine objektivierende Sicherung der Deskription.« 106 Vgl. dazu IV. 107 Vgl. Kleinschmidt, Klassik als >Sprachkriseklassischen< episteme der Repräsentation - in Goethes (kunst)theoretischen Essays zielt die dekonstruktivistische Arbeit von Burgard, Idioms of Uncertainty, vgl. etwa die begrifflich äußerst rigorosen Ausführungen zum Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (S. 66-71). 120 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 101. 290
licher Transparenz, die sich in seinem (erst später entwickelten 121 ) Symbolbegriff exemplarisch konkretisieren wird, 122 unübersehbar in eine andere Richtung.
1.2 Die Bedeutung Wielands In der Streitschrift Literarischer Sanscülottismus hebt Goethe lobend die »vielen Beispiele des Styls, die Vorarbeiten und Bemühungen so mancher Männer« hervor, die dem nach stilistischer Vollendung strebenden »Jüngling« äußerst nützlich seien. 123 Der nachitalienische Goethe ist stilistischen Vorbildern gegenüber weitaus aufgeschlossener als der radikale Stürmer und Dränger, der die überkommene rhetorische Vorstellung von Exemplarität ganz generell in Frage gestellt hatte. 124 Nun fordert Goethe die Leser der Hören sogar nachdrücklich auf, »die Arbeiten deutscher Poeten und Prosaisten von entschiedenem Namen« zu betrachten: »Mit welcher Sorgfalt, mit welcher Religion folgten sie auf ihrer Bahn einer aufgeklärten Überzeugung!« 125 Daß Goethe die genannten stilistischen »Vorarbeiten und Bemühungen so mancher Männer« indes nicht bloß als direkt nachzuahmende Vorbilder im rhetorischen Sinn der imitatio versteht, 126 sondern - viel umfassender - vor allem in ihrer allgemein Stil- und geschmacksbildenden Funktion wahrnimmt, 127 belegt ein bezeichnendes Beispiel: So ist es [...] nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein verständiger, fleißiger Literator, durch Vergleichung der sämtlichen Ausgaben unsres Wielands, eines Mannes, dessen wir uns, trotz dem Knurren aller Smelfungen128 mit stolzer Freude rühmen dürfen, allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers, die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können. Jeder aufmerksame Bibliothekar sorge, daß eine solche Sammlung aufgestellt werde, die jetzt noch möglich ist, und das folgende Jahrhundert wird einen dankbaren Gebrauch davon zu machen wissen.129
121
Eine erste explizite Reflexion über das Symbolische findet sich in Goethes Brief an Schiller vom 16./17.8.1797 (MA 8.1, 391-393), worin er Anregungen Schillers aufnimmt und entwickelt; vgl. den Kommentar von Manfred Beetz in MA 8.2, 353f. Vorweggenommen erscheinen manche Aspekte des Goetheschen Symbol-Begriffs in Karl Philipp Moritzens Reflexionen über die »Gleichnisse«; vgl. Vorlesungen über den Stil, Tl. 1, 9. u. 10. Vorlesung (MW 3, 641-652). 122 Vgl. Maximen und Reflexionen, Nr. 749-752 (HA 12, 470f; Hecker Nr. 279, 314, 1112, 1113). 123 MA 4.2, 19f. 124 Vgl. II.4.1. 125 MA 4.1, 18. 126 So Jaumann, Die verweigerte Alterität, S. 106, der bei Goethe den aus der rhetorischen Tradition überkommenen »Primat des funktionalen Mustergebrauchs noch deutlich präsent« sieht. 127 Vgl. Kleinschmidt, Klassik als >SprachkriseVervollkommnungsästhetik< soll noch die Rede sein. Darüber hinaus gereicht Wieland hier »zum Signal der Hoffnung auf einen deutschen Gemeinstil«,130 und das durchaus zurecht: Denn die neuere Forschung setzt die Bedeutung Wielands für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts tatsächlich sehr hoch an und läßt erst mit ihm »die Urbanität des Ausdrucks, die Eleganz des Stils, allgemein die ästhetische Bildung in Vers, Prosa und Weltliteratur [?], den Ausgriff ins Kosmopolitische«, kurz: »die Entprovinzialisierung« beginnen.131 Goethe hat diesen Sachverhalt schon frühzeitig erkannt. Die laudative Äußerung zu Wieland steht auch nicht isoliert in seinem Werk. Im Nekrolog Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813) heißt es entsprechend: Die Wirkungen Wielands auf das Publikum waren ununterbrochen und dauernd. Er hat sein Zeitalter sich zugebildet, dem Geschmack seiner Jahresgenossen so wie ihrem Urteil eine entschiedene Richtung gegeben [...].132
Und noch am 18. Januar 1825 notiert Eckermann: »Wielanden, sagte Goethe, verdankt das ganze obere Deutschland seinen Styl. Es hat viel von ihm gelernt und die Fähigkeit sich gehörig auszudrücken ist nicht das geringste.«133 Einige Beachtung verdient bei dieser Formulierung der Umstand, daß Goethes eigene sprachlich-stilistische Entwicklung als »Übergang vom Oberdeutschen südwestdeutscher Prägung zum Hochdeutschen auf Meißnerischer Grundlage«134 gilt, daß er hier also nicht zuletzt von sich selber spricht. Schon Wielands Gete-Besprechung und seine noble Reaktion auf die >PersonalSatyre< Götter, Helden und Wieland135 war ja »ein bewußter Akt der Erziehung«, 136 und das nicht nur hinsichtlich einer >geselligen Bildung< und eines überlegen-kultivierten Umgangstons: Bekannt ist auch, daß Wieland »unmittelbar und mittelbar einiges dazu beigetragen hat, Goethe dem Sturm und Drang und dem Einfluß Herders zu entziehen und ihn an der Tradition der europäischen Renaissance neu zu orientieren«.137 Als direktes stilistisches Vorbild Goethes seit den achtziger Jahren kann Wielands Bemühung um Transparenz und Leichtigkeit in den dramatischen Arbeiten - etwa gerade in dem von Goethe zunächst der Lächerlichkeit preisgegebenen Singspiel Alcestem - und in den (späteren) Versepen 130
So Borchmeyer, Weimarer Klassik, S. 90. Walter Hinderer, Wielands Beiträge zur deutschen Klassik. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hg. v. Karl Otto Conrady. Stuttgart 1977, S. 44-64, hier 46. 132 MA 9, 948. 133 MA 19, 129. 134 Schadewaldt, Zu Goethes Sprache, S. 398, beruft sich hier auf Burdach, Die Sprache des jungen Goethe, passim. 135 Vgl. 1.5.3. 136 Friedrich Sengle, Wieland und Goethe. In: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Hg. v. Heinz Otto Burger. Darmstadt 1972 (=Wege der Forschung 210), S. 251-271, hier 256. 137 Hinderer, Wielands Beiträge, S. 54. 138 Dazu Sengle, Wieland und Goethe, S. 258: »Von >Götter, Helden und Wieland< führt kein Weg zur >IphigenieAlceste< [...]. Der naturalistische Impuls des Sturm und Drang weicht in Goethes Weimarer Werk Schritt für Schritt zurück.« - Vgl. 131
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gelten: So läßt sich Goethes Begeisterung für den Oberon schon gleich nach seiner ersten Kenntnisnahme im Sommer 1779139 sowie nach der Veröffentlichung im Teutschen Merkur (1. Vierteljahr 1780) belegen.140 Und er verteidigt das beim großen Publikum zunächst relativ erfolglose Werk, das ihm - so Friedrich Sengle »zu einem lebendigen Begriffe klassischer Vollendung« verholfen hat, bald vehement »gegen Lavaters mystischen Naturalismus«,141 indem er sein früheres Urteil der eigenen Sturm und Drang-Phase vom bloß >talentiertengenialengroße Haufen< der Leser mit jeder »neue[n] Fabrikware, worin's irgend was zu lachen oder zu weinen gibt«, vorliebnimmt.170 Dem kritischen »Kenner« freilich können solche unausgeglichenen poetischen Produkte keineswegs genügen; Wieland stellt das auf heftige Affekte abzielende und (deshalb auch bewußt) den eigenen Affekten ausgelieferte, erhitzte Dichtertum - ein poetologisches Ideal des Sturm und Drang mithin - ausdrücklich unter Schwärmerei- und Melancholieverdacht, wie eine frühere Äußerung aus dem Mai-Heft des ersten Merkur-Jahrgangs (1773) belegt: Ich besorge immer daß unsre Poesie, zwischen allen diesen Bemühungen den Waldgesang der Barden, die bacchische Wuth der Dithyramben, und die kühne enthusiastische Sprache der Griechischen Chöre in unsre Sprache überzutragen [sie], in kurzem allen Wohlklang, und überhaupt alle Wahrheit, Regelmäßigkeit, Eleganz und Grazie verliehren werde. Einige unsrer Dichter scheinen sichs vorgesetzt zu haben, den Ausspruch des Demokritus, daß ein Poet rasen müsse, durch ihr Beyspiel zu rechtfertigen; aber die Poetische Wuth sollte doch, dächte ich, nicht gar zu nah an diejenige grenzen, die in eine dunkle Stube führt.17'
Stil und Gesinnung gehören für Wieland unmittelbar zusammen, weshalb der Klassizist anläßlich eines Herderschen Beitrags für den Teutschen Merkur auch konsequent an dessen so anders geartetem »Ton« Anstoß nimmt.172 Die von Wieland verlangte »Grazie der höchsten Leichtigkeit« gerät hingegen zu einem Pensum Goethes bei seiner Überarbeitung der Iphigenie während der italienischen Reise, wie der Eintrag in das Reisetagebuch für Frau von Stein vom 30. September 1786 zeigt; Goethe selbst beschreibt hier die Dimension der vollzogenen ästhetischen Neuorientierung - freilich in mehrerer Hinicht über Wielands Vorgaben hinausgehend - mit drastischen, nachdrücklicher kaum denkbaren Worten als »Revolution«: [D]ie Seele quoll auf und er [Goethe als »Künstler«, NCW] fühlte eine innere Art von Verklärung sein selbst ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz Leichtigkeit und Grazie. Wollte Gott ich könnte meine Iphigenie noch ein halb Jahr in Händen behalten, man sollte ihr das mittägige Klima noch mehr anspüren.173 169
WW 3, 441f. Vgl. dazu Beißner, Poesie des Stils, S. 79. WW 3, 442. 171 Christoph Martin Wieland, Anmerkungen und Zusätze des Herausgebers zu Christian Heinrich Schmids Schrift Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses (WGS 21, 46). Das indirekte Demokrit-Zitat entnimmt Wieland sinngemäß der Ars poetica des Horaz (V. 296): vgl. Horatius Flaccus, De arte poetica liber. Die Dichtkunst., S. 32f (V. 295-303); mehr zum Topos des >rasenden Dichtersc ebd., S. 44f (V. 453^76). 172 Vgl. Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 13f; zu dieser Problematik auch Hinderer, Wielands Beiträge, S. 50. 173 Reisetagebuch, 4. St. (MA 3.1, 95f); Hervorhebungen v. Verf. - Zur »Grazie der höchsten Leichtigkeit« als Signum künstlerischer Produktion vgl. auch den Eintrag vom 4.10.1786: 170
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Gut fünfzehn Monate später wird Goethe anläßlich seiner Fertigstellung der ersten beiden Akte des >leichten< Singspiels Claudine von Villa Bella noch konkreter: »Es ist schweer so ein Werckchen, nach erkannten Gesetzen, mit Einsicht und Verstand und zugleich mit Leichtigkeit und Laune zu machen. Es geht viel Zeit darüber hin.«174 Gemäß der Vorgabe, daß bei aller Anstrengung des Dichters »nirgends einige Spur von Mühe und Arbeit zu sehen« sein dürfe, bekennt Goethe zu Claudine sowie zu Erwin und Elmire: »Beide Stücke sind mehr gearbeitet als man ihnen ansieht, weil ich erst recht mit Kaysern die Gestalt des Singspiels studiert habe.«175 Ganz im Wielandschen Sinn äußert er sich auch noch in der Einleitung in die Propyläen (1798), wo er betont, daß »der Gipfel dessen, was Kunst und Genie darstellen, eine leichte Erscheinung ist«; daraus resultiert nun eine bezeichnende Gefahr, die Wielands Diktum von der notwendigen unendlichen Mühe< aufnimmt und ins Negative transformiert: Leider aber erregen Kunstwerke, die mit solcher Leichtigkeit aussprechen, die dem Menschen ein bequemes Gefühl seiner selbst, die ihm Heiterkeit und Freiheit einflößen, bei dem nachstrebenden Künstler, den Begriff daß auch das Hervorbringen bequem sei.176
Wenn also seit der italienischen Reise die Kategorie der »Leichtigkeit« auch für Goethe »das höchste Lob« ist, »das er für Werke des Geistes und der Kunst zu vergeben hat«,177 dann wirft schon allein dies ein bezeichnendes Licht auf seine Neuorientierung in Richtung von Wielands >Kunst der Grazie< und >Poesie des Stilskünftigen Dichtern< die ästhetische Orientierung am Drama des französischen Klassizismus ausdrücklich nahelegt. 181 Zwar konzediert Wieland 1782 - ähnlich wie Goethe dreizehn Jahre später in Literarischer Sanscillottismus - zunächst folgendes: »Unsere Litteratur hat seit vierzig Jahren unleugbar, in Vergleichung mit dem was sie vor dieser Zeit war, große Schritte vorwärts gemacht: Aber,« 182 so fährt er fort, 180 181
182
WW 3, 465f. Im 3. Brief wird diese Empfehlung (angesichts von Ayrenhoffs legitimatorischer Inanspruchnahme der ersten beiden Briefe an einen jungen Dichter für die klassizistische Form seines Trauerspiels Kleopatra und Antonius, vgl. unten) freilich wieder relativiert: »Wenn ich [...] ein verifiziertes und gereimtes teutsches Trauerspiel, das neben einem von Racine oder Voltaire stehen könnte, zu sehen gewünscht habe, so wollte ich damit weder mehr noch weniger sagen: als daß wir, soviel ich wüßte, noch kein solches Stück hätten; und daß es uns nicht eher anstehe, die Franzosen herabsetzen zu wollen, bis wir gezeigt hätten, daß wir es ihnen in ihrer Manier zuvor tun könnten. Aber ich war weit entfernt diese Manier, die Form, für die einzige, oder nur für die beste zu halten [...]. Ich wünsche nicht, daß wir uns sclavisch weder nach den Griechen noch nach den Franzosen bilden: sondern daß wir eine Schaubühne hätten, die sich so gut für uns schickte als die Schaubühne des Sophokles und Aristophanes für die Zeit des Perikles, oder die des Racine und Moliere für den Hof und die Hauptstadt Ludwigs des 14ten; die aber von allen Fehlem, die den allgemeinen Menschensinn beleidigen und dem wahren Zweck der Schauspiele zuwider sind, gereinigt, in ihrer Art vortrefflich genug wäre, um Personen von Verstand und Geschmack, welches Landes und Volkes sie auch sein möchten, auch durch Schönheiten die von National- und Local-Verhältnissen, und allen Arten conventioneller Form unabhängig sind, zu gefallen. Ich glaube daß man gegen die Franzosen gerecht sein kann, ohne darum Partei gegen die Engländer zu nehmen.« (WW 3, 480f). WW 3, 464. Vgl. dazu auch folgende Passage aus dem 2. Brief: »Unrecht würden Sie haben, wenn Sie darum, weil unsre Sprache nicht so sanft und sonor wie die Italiänische ist, die Augen vor ihren würklichen Schönheiten, und selbst vor dem was sie gleichwohl auch in diesem Stücke würklich ist, verschließen wollten. Ohne hier zu wiederholen, was von vielen andern, und von mir selbst anderswo, hierüber schon gesagt worden, - bedürfen wir eines stärkem Beweises, als die Dichter, die wir schon besitzen, und den unge-
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wer kann sagen, daß sie den Punct schon erreicht habe, wo sie sich der Französischen entgegen stellen könnte? Wo sind unsre Boileau, unsre Moliere, unsre Corneille, unsre Racine u.s.w. Wo sind die teutschen Trauerspiele, die wir dem Cid, dem Cinna, der Phädra, dem Britannicus, der Athalie, dem Catilina, der Alzire, dem Mahomed, wo die Lustspiele, die wir dem Misantrope, dem Tartuffe entgegen stellen können? Ich [...] wünsche, daß mir nur ein einziges gedrucktes Stück genennt [sie] werde, welches in allen Eigenschaften eines vortrefflichen Trauerspiels (Sprache, Versifikation und Reim mit einbedungen) neben irgend einem von Racine stehen könne.183
Die rhetorische Frage nach »teutschen Trauerspielefn], die wir dem Cid, dem Cinna, der Phädra, dem Britannicus, der Athalie, dem Catilina, der Alzire, dem Mahomed [...] entgegen stellen können«, war seinerzeit wohl ebenso wie die Frage nach entsprechenden Lustspielen als direkte Aufforderung zur dramatischen Produktion zu verstehen. Dies geht auch aus dem expliziten Wunsch nach einem Trauerspiel hervor, das in sämtlichen formalen Eigenschaften den >klassischen< Werken Racines ebenbürtig wäre. Konkreter noch wird Wieland im dritten Brief (1784), in dem er es dem angesprochenen jungen Dichter mit Blick auf die Dramatik des Sturm und Drang nach wie vor angeraten sein läßt, »den Geschmack der Nation durch Meisterstücke in dieser Art von Irrwegen zurückzubringen, auf denen wir uns eben so weit von der Natur, welcher wir zu opfern vermeinten, als von der Kunst entfernt haben«.184 Zunächst freilich distanziert sich Wieland vom primitiv-klassizistischen Dogmatismus des österreichischen Offizirs und Dramatikers Cornelius Hermann von Ayrenhoff; dieser nämlich hatte sein Trauerspiel Kleopatra und Antonius (1783) im Anschluß an die beiden ersten Briefe an einen jungen Dichter »dem Herrn Hofrath Wieland« gewidmet und es überdies mit einer poetologischen Zueignungsschrift versehen, die seinem »Unmut über die Nachahmer Shakespeare und der Engländer überhaupt«185 sowie über den Goetheschen Götz im besonderen deutlichen Ausdruck verlieh.186 Wielands differenzierter Begriff des klassischen Dramas erweist sich dagegen in seiner engagierten Shakespeare-Verteidigung, worin er den englischen Dichter unter anderem in eine bezeichnende Analogie mit der »Fassade des Strasburger-Münsters« bringt.187 Und ebenso nachdrücklich ist seine Rechtfertimeinen Zuwachs an Biegsamkeit, Sanftheit und Wohllaut, den sie unter ihrer Bearbeitung nur seit 40 Jahren gewonnen hat?« (WW 3, 455) 183 WW 3, 464f. 184 WW 3, 468. 185 WW 3, 472. 186 Zum weiteren Kontext vgl. Meessen, Wieland's >Bríefe an einen jungen Dichter, S. 200. 187 Vgl. WW 3, 470f: »Shakespeare Werke sind, in Vergleichung mit regelmäßigen Tragödien nur in sofern Ungeheuer [...] als die Domkirche zu Mayland oder die Abtey von Westminster in Vergleichung mit Griechischen Tempeln, oder die Fassade des StrasburgerMünsters in Vergleichung mit der Fassade vom Louvre Ungeheuer sind. Ein mittelmäßiges Tempelchen nach Ionischer Ordnung gebaut, wäre freilich eleganter als die majestätische Cathedral-Kirche zu York, die eines der prächtigsten Denkmäler im sogenannten Gothischen Geschmacke ist: aber was müßte das für ein Kopf sein, der, (wenn es auf ihn ankäme) diese niederreißen lassen wollte, um jenes an ihren Platz zu setzen? [...] Seine Werke, an denen die Natur so viel und die Kunst so wenig Anteil hat, werden ewig das
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gung Goethes: Gegen Ayrenhoffs Invektiven legitimiert er ausführlich dessen (vermutete) »Absicht«, im Götz »seine Kräfte an einem großen Dramatischen Zeitund Sitten-Gemälde zu versuchen«, 188 um dann ein aktuelleres, noch unveröffentlichtes und ihm zufolge noch weitaus vielversprechenderes Werk anzukündigen, das er selber sowohl in einer Weimarer Liebhaberaufführung (mit Goethe in der Rolle des Orest) gesehen als auch im Manuskript gelesen hatte: Aber wer die Iphigenia in Tauris, eine noch ungedruckte Tragödie in Jamben, von eben diesem Verfasser, eben so ganz im Geiste des Sophokles als sein Götz im Geiste Shakespeare geschrieben, und (wenn ja in Regelmäßigkeit ein so großer Wert liegt) regelmäßiger als irgend ein französisches Trauerspiel, - wer (sage ich) diese Iphigenia gelesen, oder gehört hat: wird keinem wannen Freunde unsrer Litteratur verdenken, wenn ihm, auch in Absicht dieses Falles, einige demütige Zweifel gegen Meister Panglossens Lieblingssatz [»Tout est au mieux dans ce monde!«, NCW] aufstoßen. Welcher andre, als ein Dichter, der, je nachdem ihn sein Genius trieb, mit gleich glücklichem Erfolge, mit Shakespeare oder Sophokles um den Preis ringen konnte, würde geschickter sein den Gebrechen unsrer Schaubühne abzuhelfen, den Ausschweifungen der Nachahmer Einhalt zu tun, und durch Verbindung der Natur, welche die Seele von Shakespeare Werken ist, mit der schönen Einfalt der Griechen, und mit der Kunst und dem Geschmacke, worauf die Franzosen sich so viel zu gute tun, unsrer dramatischen Muse einen eigentümlichen Character und einen Vorzug zu verschaffen, den ihr keine andre Nation so leicht hätte streitig machen können?189 Wieland wollte mit diesen projektiven Worten ganz offensichtlich ein ästhetisches Pensum für den Weimarer Goethe erstellen, was schon daraus hervorgeht, daß die zu diesem Zeitpunkt bestehende Fassung der Iphigenie noch keineswegs in Jamben, wie Wieland vorwegnehmend schreibt, sondern nur in rhythmischer, teils jambischer Prosa vorlag. 190 Die von Wieland vorexerzierte »Heimkehr zur strengen Form« 191 wurde dem voritalienischen Goethe also erst einmal möglichst eindringlich nahegelegt. Wielands Ermunterungen haben dann offenbar tatsächlich zu ihrem Ziel geführt: Denn vor dem Antritt der italienischen Reise hat sich Goethe mehrmals mit Wieland »darüber besprochen, wie er von den Alceste-Versen für die Versifizierung seiner >Iphigenie< lernen könne«. 1 9 2 Und am 13. Januar 1787, als Goethe die Vergnügen aller Leser von unverdorbenem Gefühl, und das Studium aller wahren Künstler bleiben«. 188 WW 3, 473. 189 WW 3, 474. 190 Vgl. die Kommentare von Hartmut Reinhardt (MA 2.1, 661f) und Andreas Beyer (MA 15, 951). 191 So Beißner, Poesie des Stils, S. 87. 192 Sengle, Wieland und Goethe, S. 259. Vgl. die Briefe an Charlotte v. Stein, Mitte April [statt »etwa 26. Juni«] 1786: »Um 11 Uhr kommt Wieland meine Orest Maske liegt schon da und wird der Alceste aufgeopfert werden.« (WA IV, 7, 232; die Aussagekraft dieser Briefstelle für den Zusammenhang zwischen den Alceste-Versen und denen der Iphigenie ist allerdings fraglich; vgl. dazu und zur Datierung: WA IV, 7, 331). 15.6.1786: »Wenn du doch Wielanden dein Exemplar der Iphigenia zum Durchgehen schicktest, er weis schon was er damit soll.« (WA IV, 7, 230) 25.6.1786: »Heute Mittag ißt Wieland mit mir, es wird über Iphigenien Gericht gehalten u.s.w.« (WA IV, 7, 231) 302
unter Zuhilfenahme von Karl Philipp Moritzens Versuch einer deutschen Prosodie193 (1786) endlich fertiggestellte neue Fassung aus Rom an Herder sendet, äußert er im beigelegten Brief ausdrücklich die Bitte: »Auch wünscht ich daß es Wieland ansähe der zuerst die schlotternde Prosa in einen gemeßnern Schritt richten wollte und mir [sie] die Unvollkommenheit des Wercks nur desto lebendiger fühlen ließ.«194 Wieland - und nicht Herder195 - gab demnach den ersten direkten 193
MW 3, 471-577. Vgl. die rückblickende Würdigung in der Italienischen Reise, 10.1.1787: »Iphigenia in Jamben zu Ubersetzen hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens Prosodie nicht ein Leitstern erschienen. Der Umgang mit dem Verfasser, besonders während seines Krankenlagers hat mich noch mehr darüber aufgeklärt, und ich ersuche die Freunde, darüber mit Wohlwollen nachzudenken. Es ist auffallend daß wir in unserer Sprache nur wenige Sylben finden, die entschieden kurz oder lang sind. Mit den andern verfahrt man nach Geschmack, oder Willkür. Nun hat Moritz ausgeklügelt, daß es eine gewisse Rangordnung der Sylben gebe, und daß die dem Sinne nach bedeutendere, gegen die wenig bedeutendere [sie] lang sei, und jene kurz mache, dagegen aber auch wieder kurz werden könne, wenn sie in die Nähe von einer andern gerät, welche mehr Geistesgewicht hat. Hier ist denn doch ein Anhalten, und wenn auch damit nicht alles getan wäre, so hat man doch indessen einen Leitfaden an dem man sich hinschlingen kann. Ich habe diese Maxime öfters zu Rate gezogen und sie mit meiner Empfindung übereinstimmend getroffen.« (MA 15, 186; dazu den Komm. MA 15, 951) Im Brief an Herder vom 13.1.1787 ist von einer Hilfestellung durch die Prosodie Moritzens freilich keine Rede (vgl. v. Einem in HA 11, 632), weshalb die zitierte Passage ihre besondere Funktion als nachträgliches Denkmal für den früh verstorbenen Freund und Mitstreiter in aestheticis erhält. Vgl. auch den Brief an Herder vom 17.2.1787, worin Goethe ein Wort für Moritz einlegt und Herder abschließend bittet: »Sage doch auch Moritzen ein Wort über seine Prosodie.« (WA IV, 8, 189)
194
WA IV, 8, 134. Freilich spielte auch Herder eine bedeutende Rolle fur die endgültige Gestalt der Iphigenie, insbesondere in der Schlußredaktion, in der er Goethe mehr als Wieland unter die Arme griff; vgl. den Brief an Herzog Carl August, 18.9.1786: »Ich bin fleißig, und arbeite die Iphigenie durch, sie quillt auf, das stockende Sylbenmaas wird in fortgehende Harmonie verwandelt. Herder hat mir dazu mit wunderbarer Geduld die Ohren geräumt.« (WA IV, 8, 25) Vgl. auch die einschlägigen Passagen aus Goethes Brief an Herder dessen »folgsame[r] Schüler« er sei und dem er sein Stück deshalb »gewiedmet und geweyht« haben will (WA IV, 8, 123f) - vom 13.1.1787: »Hier lieber Bruder die Iphigenia. [...] Du hast nun auch hier einmal wieder mehr was ich gewollt, als was ich gethan habe! Wenn ich nur dem Bilde, das du dir von diesem Kunstwercke machtest, näher gekommen bin. Denn ich fühlte wohl bey deinen freundschafftlichen Bemühungen um dieses Stück, daß du mehr das daran schätztest was es seyn könnte als was es war. Möge es dir nun harmonischer entgegen kommen. Lies es zuerst als ein ganz neues, ohne Vergleichung, dann halt es mit dem alten zusammen wenn du willst. Vorzüglich bitt ich dich hier und da dem Wohlklange nachzuhelfen. Auf den Blättern die mit resp. Ohren bezeichnet sind, finden sich Verse mit Bleystift angestrichen die mir nicht gefallen und die ich doch jetzt nicht ändern kann. Ich habe mich an dem Stücke so müde gearbeitet. Du verbesserst das mit einem Federzuge. Ich gebe dir volle Macht und Gewalt. [!] Einige halbe Verse habe ich gelaßen, wo sie vielleicht gut thun, auch einige Veränderungen des Sylbenmases mit Fleiß angebracht. Nimm es nun hin und laß ihm deine unermüdliche Gutheit heilsam werden. Lies es mit der [sie] Frauen, laß es Fr. v. Stein sehen und gebt euren Segen dazu. [...] Macht damit was ihr wollt, dann laß es abschreiben und [...] verzeih der Plage. Ich bin selbst ein geplagter Fremdling, den nicht die Furien, den die Musen und Grazien und die ganze Macht der seligen Götter mit Erscheinungen überdek-
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Anstoß zur klassischen Versifikation der Iphigenie196 und stimulierte damit wohl generell Goethes Interesse an der die Kunstautonomie befördernden klassischen Versform. 197 Er blieb für Goethe auch nach dem Abschluß der Arbeit eine wichtige Urteilsinstanz, 198 worüber er sich selbst übrigens durchaus im Klaren war. 199 Die Hochachtung, welche Goethe nicht nur zur Zeit seiner Italienreise Wielands stilistischer Kompetenz entgegenbrachte, geht noch lange später aus der gegenseitigen Durchsicht von Arbeiten für die Gesamtausgaben der beiden Autoren hervor. 200 Abschließend sei noch erwähnt, daß Wieland in seinen Briefen an einen jungen Dichter nicht ausschließlich von dramatischen Werken handelt; im zweiten Brief dehnt er die Reichweite seines Stilideals und seiner poetologischen Desiderate ausdrücklich auch auf Prosaformen und Epik aus: Aber auch selbst in dem Fache der erzählenden oder Epischen Poesie (im weitläufigsten Verstände des Wortes) worin wir, Verhältnisweise mehr Gutes als in der Dramatischen aufzuweisen haben - wie Vieles ist noch zu tun? Wie weit sind wir noch entfernt, alle Gattungen derselben, oder alle guten Siijets in jeder Gattung erschöpft zu haben; oder, in allen Arten des Styls, Werke die von keiner Seite übertroffen werden könnten zu besitzen? Wie mancher hat durch seine Versuche (so viel Verdienst man ihnen auch mit Rücksicht auf Zeit und Umstände billig zugestehen muß) gleichwohl nur der Nachkommenschaft den Weg gezeigt, es besser zu machen?20' Angesichts der großen Verdienste Wielands um Goethes klassischen >Stilwillen< scheint es kaum allzu gewagt, neben dem ästhetischen Gehalt der Auszüge aus ken.« (WA IV, 8, 133f) An Herder, 25.-27.1.1787: »habe die Güte nun die letzte Hand an meine Wercklein zu legen, [...] zu korrigiren und zu interpuncktiren« (WA IV, 8, 151f). 196 Gegen einen möglichen Einfluß von Lessings »dramatischem Gedicht< in Blankversen Nathan der Weise (1779) auf die Form von Goethes >klassischer< Iphigenie argumentiert mit guten Gründen Meessen, Wieland's >Briefe an einen jungen Dichten, S. 207f. Vgl. dazu auch Beißner, Poesie des Stils, S. 84. 197 Vgl. etwa Goethes Verteidigung der Versform des Singspiels Claudine von Villa Bella gegen die zu unmittelbar kulinarischen (und deshalb im höchsten Maße interessegeleiteten) Lektüregewohnheiten seines Dieners Seidel in einem Brief vom 15.3.1788: »Was Claudinen betrifft; so fehlen dir einige Data das Stück ganz richtig zu beurtheilen. [...] Du bist eben ein prosaischer Deutscher und meynst ein Kunstwerck müße sich verschlingen laßen wie eine Auster. Weil du die Verse nicht zu lesen verstehst, denckst du es solle niemand in Versen schreiben.« (WA IV, 8, 354f) 198 Vgl. die Briefe an Charlotte v. Stein, wo es zum Fortgang der Göschenschen Werk-Ausgabe heißt: 12.8.1788: »Mein achter Band ist bald zusammengeschrieben. Wenn ihn Wieland durchgesehn hat, ertiältst du ihn« etc. (WA IV, 9, 10). 24.8.1788: »In einiger Zeit schicke ich dir die Abschriften meiner Gedichte, Wieland hat sie jetzt.« (WA IV, 9, 12) Dazu auch den Brief an Herder, 3./4.9.1788 (WA IV, 9, 18). 199 Vgl. dazu den Brief von Johannes Daniel Falk an Karl Morgenstern vom 25.9.1796, wo eine im Gespräch gefallene Äußerung Wielands zu »Freund Goethens Meister« referiert wird: »Nur selten stößt man auf kleine Sprachunrichtigkeiten und selbst die hätte er verwischt, wenn er mir dies Werk so wie manche früheren zur Durchsicht mitzutheilen Zeit gehabt hätte. Er pflegt auf meine Erinnerungen viel Rücksicht zu nehmen.« Zit. in Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 2: >Der berühmteste Mann in Teutschlandkörnigten< Diktion, war stilbildend für die weitere Sprachentwicklung in der deutschen Klassik.«208 Wenn das Stilideal der brevitas, der »Kürze und Prägnanz der Darstellung«, etwa bei der von Goethe in Italien rezipierten Reisebeschreibung Riedesels als »ein genuin Winckelmannsches Erbe« 209 zu verstehen ist, dann gilt dieser Befund mit gewisser Einschränkung auch für die italienische Ästhetik des klassischen Goethe, dessen essayistischer Stil freilich schon in der Sturm und Drang-Periode kaum durch übertriebene Weitschweifigkeit hervorsticht. Winckelmanns >antibarockes< sprachliches Stilideal210 findet sich weniger in seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Abhandlungen reflektiert, sondern vor allem verstreut in seinen bald nach dem Tod edierten Briefen, die Goethe in Rom als »die Spur eines guten verständigen Mannes«211 mit begeisterter Zustimmung las. Die 205
Vgl. Rausch, Die Kunst der Grazie, S. 21f u. 27-29. Ebd., S. 20. 207 Horst Rüdiger, Pura et illustris brevitas. Über Kürze als Stilideal. In: Konkrete Vernunft. FS f. Erich Rothacker. Hg. v. Gerhard Funke. Bonn 1958, S. 345-372, hier 365. Rüdiger hebt Winckelmann übrigens scharf von den überkommenen »Regelbüchern« à la Adelung ab, »welche als Fortsetzung rhetorischer Anweisungen um die Reinigung des Geschmacks im Sinne des >Vernünftigen< und »Natürlichem bemüht sind« (S. 364f). 208 Ernst Osterkamp, Goethe als Leser Johann Joachim Winckelmanns. In: Ars naturam adiuvans. FS f. Matthias Winner. Hg. v. Victoria v. Flemming u. Sebastian Schütze. Mainz 1996, S. 572-582, hier 574. Das zeitgenössische Epitheton >körnig< steht für »nachdrückliche Kürze«; vgl. dazu Eberhard Wilhelm Schulz, Winckelmanns Schreibart. In: Studien zur Goethezeit. FS f. Erich Trunz. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Eberhard Mannack. Heidelberg 1981 (=Beihefte zum Euphorion 18), S. 233-255, hier 252. Wenig brauchbar ist hier der im Allgemeinen verharrende ältere Artikel von E. M. Butler, Goethe and Winckelmann. In: PEGS N.S. 10 (1934), S. 1-22. 209 So Ernst Osterkamp, Johann Hermann von Riedesels Sizilienreise. Die Winckelmannsche Perspektive und ihre Folgen. In: Europäisches Reisen im Zeitalter der Aujklärung. Hg. v. Hans-Wolf Jäger. Heidelberg 1992 (=Neue Bremer Beiträge 7), S. 93-106, hier 99. 210 Dazu das materialreiche Kapitel Die Kunst zu schreiben in Hanna Koch, Johann Joachim Winckelmann. Sprache und Kunstwerk. Berlin 1957 (=Winckelmann-Ges. Stendal, Jahresgabe 1956/57), S. 12-19 u. S. 155-157 (Anm.). Dieser Arbeit sowie den freundlichen Hinweisen von Johannes Rößler verdanke ich die Kenntnis zahlreicher einschlägiger Äußerungen Winckelmanns. Zu den Hintergründen des Winckelmannschen Stilideals vgl. auch Schulz, Winckelmanns Schreibart, S. 245-247. 2,1 So im Brief an das Ehepaar Herder, 13.12.1786. Zuvor heißt es: »Heute früh fielen mir Winckelmanns Briefe, die er aus Italien schrieb in die Hand. Mit welcher Rührung hab ich 206
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Äußerungen des Kunsttheoretikers, Kunsthistorikers und Archäologen zur Stilistik sind solcherart ähnlich bruchstückhaft wie diejenigen Goethes. Kurz nach der Erstveröffentlichung seiner Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werkke in der Malerey und Bildhauer-Kunst (1755) teilte er etwa Konrad Friedrich Uden aus Dresden mit: Meine Absicht war, nichts zu schreiben, was schon geschrieben ist: ferner etwas zu machen, da ich so lange gewartet und alles gelesen was an das Licht getreten ist in allen Sprachen über die beyden Künste, das einem Original ähnlich werden möchte, und drittens nichts zu schreiben, als wodurch die Künste erweitert werden.212 Die Vorgabe stilistischer Prägnanz erscheint hier eng mit dem Originalitätpostulat 213 sowie mit der Vorstellung geradliniger und zielstrebiger Gedankenführung verbunden. Einige Zeilen weiter wird noch einmal ausdrücklich betont: »ich schreibe gerne kurz, wie meine Schrift zeiget«. 214 Zwei Jahre später - Winckelmann ist jetzt in Rom - erläutert er dem Verleger Georg Conrad Walther sein Postulat größtmöglicher stilistischer Präzision 215 wie folgt: »im Schreiben ist mei-
sie zu lesen angefangen! Vor 31 Jahren in derselben Jahreszeit kam er, ein noch ärmerer Narr als ich, hierher, ihm war es auch so deutsch Ernst um das Gründliche und sichre der Alterthümer und der Kunst. Wie brav und gut arbeitete er sich durch! Und was ist mir nun das Andenken dieses Mannes auf diesem Platze.« (WA IV, 8, 89) Mandelkows Kommentar zufolge (HAB 2, 483) benutzte Goethe in Rom die Ausgabe Johann Winckelmartns Briefe an einen seiner vertrautesten Freunde in den Jahren 1756 bis 1768 nebst einem Anhange von Briefen an verschiedene andere Personen. 2 Tie. Berlin/Stettin 1781; dagegen bezieht sich Eibl in seinem Kommentar (FA Π, 3, 837) auf die Ausgabe Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Hg. v. Karl Wilhelm Dassdorf. Tl. 1: Dresden 1777 (Tl. 2: Dresden 1780). Beide Ausgaben liegen jedenfalls (neben einer weiteren) den .Auszügen aus Briefen Winckelmanns zugrunde, die Goethe 1804 für den Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert zusammenstellte (vgl. MA 6.2, 1066f). Vgl. auch Osterkamp, Goethe als Leser Winckelmanns, S. 576. 212 An Uden, 3.6.1755 (WmB 1, 171). Zum ersten Punkt vgl. die ähnlichen Formulierungen in den Briefen an Johann Georg Wille, 2. Maihälfte 1758 (nach der Abschrift Willes in einem Schreiben an Caspar Füssli, 10.6.1758): »Es wird wenig darin [in der Geschichte der Kunst des Altertums] zu finden seyn, was schon wäre gesagt worden, und ich werde suchen dieser Schrift so viel mir möglich ist, den höchsten Grad menschlicher Vollkommenheit zu geben« (WmB 1, 369). An Christian Ludwig v. Hagedom, 13.1.1759: »Ich bin in dieser Arbeit [Beschreibung der geschnittenen Steine des seligen Baron Stosch], wie in meinem Versuche der Geschichte der Kunst im Alterthum verfahren; ich habe vermieden zu sagen, was gesaget ist« (WmB 1, 445). 213 Gerade das von Winckelmann stets hochgehaltene Originalitätspostulat war für ihn anders als für die Stürmer und Dränger - mit der Vorstellung inhaltlicher und stilistischer Perfektion untrennbar verknüpft, wie eine Formulierung aus einem Brief an den Verleger Waither vom 4.6.1763 zeigt: »Große Bücher, wie die Wolfischen Werke, sind ohne große Mühe zusammen geschmiert; aber eine Schrift, welche nichts erborgtes hat, und worinnen alles gedacht, und nichts ausgeschrieben, oder aus andern angeführt ist, erfordert lange Zeit und viel Präcision.« (WmB 2, 324) 214 WmB 1, 172. 215 Vgl. dazu Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 190: »Die Präcision des Styles ist diejenige Vollkommenheit, nach welcher jeder Begriff in der bündigsten Kürze dargesteilet, folglich alles Ueberflusses, oder alles dessen entladen wird, was nach der jedes307
ne Regel nichts mit zwey Worten zu sagen, was mit einem einzigen geschehen kann«.216 Und anläßlich seiner Beschreibung der Laokoon-Gruppe rechtfertigt er Wilhelm von Muzell-Stosch gegenüber die Knappheit seines Stils mit den Worten: »ich sollte freilich mehr sagen, aber ich fürchte mich Episoden zu machen, welche kein Verhältniß zu einer kleinen Schrift haben und die Grenzen meines Entwurfs überschreiten.«217 Winckelmann »will schreiben wie ein Mann, und nicht wie ein Schul-Bube«.218 Während er selber in der Geschichte der Kunst des Alterthums »die Kürze, ja die strengeste Kürze gesucht habe«,219 wie er in Anlehnung an eine Formulierung Ciceros220 hervorhebt, bezeichnet er seinen Gegner, den Grafen Caylus, abschätzig als einen »Mann der die Gabe hat von Nichts viel zu sagen«.221 Noch der häufig kritisierte222 Stil des Versuchs einer Allegorie, besonders für die Kunst (1766) wird vor Johann Michael Francke damit legitimiert, daß es sich um ein »Lehrbuch« handle und ja auch der »Werth der Aphorismen des Hippocrates [...] in der Kürze und Einfalt« bestehe.223 Die rhetorische Kategorie der brevitas lag also nicht nur implizit den kunsttheoretischen und kunsthistorischen Werken Winckelmanns zugrunde, sondern fand sich in seinen Briefen, die für Goethe eine herausragende Bedeutung hatten, auch explizit verhandelt.224 Neben den manifesten Differenzen zwischen Wielands und Winckelmanns klassizistischen Stilvorstellungen, die sich gerade in Winckelmanns strikter und konsequenter Befolgung des Ideals der brevitas kristallisieren, gibt es freilich auch zahlreiche Gemeinsamkeiten, an die Goethes klassischer >Stilwille< anschließen konnte: So erinnert eine beiläufige Äußerung in der Geschichte der Kunst des Alterthums (1764, 21776), mit der Winckelmann die Bedeutung der Gewänder in der griechischen Plastik veranschaulichen will, augenfällig an Wielands Ideal der mahligen Absicht nicht unmittelbar zur möglichsten Verständlichkeit, oder zum nothwendigsten Schmucke gehöret.« 216 An Walther, 9.3.1757 (WmB 1, 273). Fast wortgleich eine Formulierung zum »Versuch einer Geschichte der Kunst« im Brief an Walther vom 15.5.1758: Winckelmann spricht hier von seinem »Gesetz«, »nichts mit 2 Worten zu sagen, was mit einem geschehen kann« (WmB 1, 364). 217 An Stosch, 28.10.1757 (WmB 1, 311). Winckelmann meidet hier bewußt die Gefahr der »Weitschweifigkeit«, welche laut Adelung, Ueber den deutschen Styl, Tl. 1, S. 200, etwa dann entsteht, »[w]enn man sich länger bey den Neben-Ideen verweilet, als ihr Verhältniß zur Haupt-Idee es erfordert. Schon der Nähme gibt es, daß jene von geringerer Wichtigkeit sind, als diese, daher sie auch weniger Bearbeitung erfordern. Verweilt man bey ihnen zu lange, gibt man ihnen mehr Ausdehnung, als ihnen gebühret, so verleitet man den Leser, sie für die Haupt-Idee zu halten, und ziehet ihn folglich von dieser ab.« 2,8 An Stosch, 2.2.1760 (WmB 2, 78). 219 An Leonhard Usteri, 14.9.1763 (WmB 2, 344). 220 Vgl. den Kommentar Rehms (WmB 2, 509) sowie Rüdiger, Pura et illustris brevitas, S. 350. 221 An Stosch, 26.7.1769 (WmB 2, 96). 222 Vgl. dazu den Kommentar Rehms (WmB 3, 497). 223 An Francke, 17.5.1766 (WmB 3, 177). 224 Nach Rüdiger, Pura et illustris brevitas, S. 365, »ist Kürze das erste Stilideal im engeren Sinne, das er [Winckelmann] konkret benennt, und sie bleibt stets seine >legge principale nello scriverePoesie des StilsGrazierechte Grad der Leichtigkeit und die seelische Überwindung aufgebrachter Neigungen< war also schon für Winckelmann ein Gegenstand kunsthistorischer und kunsttheoretischer Reflexion und zugleich ein sprachliches Anliegen. Wieland konnte in seinen späteren einschlägigen Überlegungen direkt an Winckelmann anknüpfen,235 die Parallelen zwischen den beiden Autoren sind insbesondere in deren jeweiliger Konzeption darstellerischer >Anmut< offensichtlich. Ähnliches gilt für Winckelmanns allgemeines Ideal stilistischer Perfektion, das hinsichtlich der normativen Vorstellung einer beharrlichen Überarbeitung und Verbesserung schon ausgeführter Texte nicht von ungefähr an Wielands klassizistische >Vervollkommnungsästhetik< erinnert. Auch hierfür gibt es zahlreiche briefliche Zeugnisse. An Hieronymus Dietrich Berendis schrieb Winckelmann etwa aus Rom: »Meine erste Schrift von der Ergäntzung der alten Statuen und der übrigen Wercke des Alterthums war schon zum Drucke fertig; aber ich fange sie an von neuen [sie] umzuschmelzen und ich weiß nicht, ob sie künftige Leipziger Meße wird erscheinen können«. 236 Einen guten Monat später kündigte er dem Verleger Walther gegenüber an, er werde nach seiner geplanten »Rückkunft« aus Neapel dieser Schrift »die letzte Hand geben«; ausdrücklich wird dabei deren anhaltende Überarbeitung erwähnt: »Unterdessen habe ich dieselbe von neuen [sie] ganz und gar umgeworfen und umzuschmelzen angefangen.«237 Knapp ein Jahr danach ist in einem Brief an Berendis vom »Versuch einer Historie der Kunst« (einer frühen Fassung der Geschichte der Kunst des Alterthums) die Rede: »Meine Absicht ist ein vollkommenes Werck zu liefern und das Dencken und die Schönheiten der Gedanken und der Schreibart aufs höchste zu treiben.«238 Diese integrative gehaltliche und stilistische Vorgabe, deren kondensierte Zielvorstellung größtmöglicher »Präcision« auch eine gewaltige, bis an die Grenzen des körperlichen Zusammen233
Den Zusammenhang von >Grazie< und >Kürze< bei Winckelmann erläutert Rüdiger, Pura et illustris brevitas, S. 366f u. 369. 234 WmKS 157. 235 Vgl. Hinderer, Wielands Beiträge, S. 49; speziell zu Wieland: Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 15 u. passim. 236 An Berendis, 29.1.1757 (WmB 1, 267). 237 An Walther, 9.3.1757 (WmB 1, 272). 238 An Berendis, 5.2.1758 (WmB 1, 328).
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bruche führende persönliche Kraftanstrengung bedeutet, 239 gilt letztlich von allen Schriften Winckelmanns, wie 1760 ein Schreiben an Wilhelm von Muzell-Stosch bestätigt: »Was ich weiß ist dieses, daß ich gelernet habe zu schreiben, weil ich alle Critiken angehöret und mehr als einmahl meine Sachen von neuen [sie] umgearbeitet, wie ich thue und thun werde mit meiner Historie der Kunst«. 240 Die zunächst 1759 in Manuskriptform abgeschlossene Geschichte der Kunst des Alterthums konnte wegen des Siebenjährigen Krieges ( 1 7 5 6 - 6 3 ) und aufgrund verschiedener Differenzen mit Waither, aber auch wegen der ständigen Verbesserungen durch Winckelmann selbst erst 1764 erscheinen und erfuhr noch danach eine fortgesetzte Überarbeitung, die erst durch den überraschenden Tod des Autors am 8. Juni 1768 abgebrochen wurde. 241 Nicht zuletzt durch die in Rom begonnene Lektüre von Winckelmanns Korrespondenz war Goethe über dessen ständige Arbeit an der Perfektionierung der eigenen Werke bestens im Bilde, wie sein späterer Beitrag zur Gedenkschrift Winkelmann und sein Jahrhundert (1805) zeigt: Daß sie so, wie sie da liegen, erst als Manuskript auf das Papier gekommen, und sodann später im Druck für die Folgezeit fixiert worden, hing von unendlich mannigfaltigen, kleinen Umständen ab. Nur einen Monat später, so hätten wir ein anderes Werk, richtiger an Gehalt, bestimmter in der Form, vielleicht etwas ganz Anderes. Und eben darum bedauern wir höchlich seinen frühzeitigen Tod, weil er sich immer wieder umgeschrieben, und immer sein ferneres und neustes Leben in seine Schriften eingearbeitet hätte.242 239
Vgl. den Brief an Johann Wiedewelt, 18.8.1759: »Ich fieng an über die Kunst zu raisonniren und Untersuchungen über verschiedene Punkte des Alterthums anzustellen; und machte ein ganzes vollständiges Werk daraus [die Beschreibung der geschnittenen Steine des seligen Baron Stosch], in so weit es nämlich die Gränzen eines Catalogs und diejenige Präcision verstatten wollten, die ich so sehr schätze, und die ich in allen meinen Arbeiten so eifrig zu erreichen suche. Ich habe so ununterbrochen und rastlos daran gearbeitet, daß ich sechs ganze Monate hindurch nur des Abends eine halbe Stunde ausgegangen bin. Aber diese Anstrengung hat auch fast alle meine Nerven abgespannt. Ich sähe mich genöthigt Wasser zu trinken, häufige Clystire zu nehmen, und konnte kaum selbst die Chokolate noch vertragen. Allein ohngeachtet dieses schlechten Zustandes meiner Gesundheit, bin ich doch hartnäckig auf dem Entschlüsse geblieben, diesen ersten Versuch zu Florenz zu endigen. Ich habe französisch geschrieben, und mir den Stil von einem gelehrten Franzosen durchsehen lassen, und seit dem Monat May, nämlich seit meiner Zurückkunft nach Rom, bin ich stets mit Verbesserung desselben beschäftiget.« (WmB 2, 21f) 240 An Stosch, 2.2.1760 (WmB 2, 77). 241 Vgl. den Kommentar Rehms (WKS 477). Michel Espagne, >Le style est l'homme même.< A priori esthétique et écriture scientifique chez Buffon et Winckelmann. In: Leçons d'écriture. Ce que disent les manuscrits. FS f. Louis Hay. Hg. ν. Almuth Grésillon u. Michael Werner. Paris 1985, S. 51-67, hier 57, bestätigt am handschriftlichen Material des Winckelmann-Nachlasses in der Pariser Bibliothèque Nationale: »En fait Winckelmann était tout à fait incapable de fixer sa pensée sous une forme achevée et Die Geschichte der Kunst im Altertum constitue un processus d'écriture beaucoup plus qu'un texte. La dernière étape parue du vivant de l'auteur est représentée par les Anmerkungen de 1767, livre composé à partir de notes destinées à une seconde édition trop longtemps retardée (la seconde édition posthume ne paraîtra qu'en 1776).« 242 MA 6.2, 370. Daß Goethe sich schon in Rom mit Winckelmanns (inhaltlicher wie stilistischer) >Überarbeitungsästhetik< auseinandersetzte, belegt der Brief an Herder vom 311
Goethe erweist sich hier als guter Kenner des langwierigen Winckelmannschen Schreibprozesses, wie er sich aus den überlieferten Manuskripten rekonstruieren läßt: Denn ganz gleich, ob es um die theoretische Relationierung von historischem Schönheitskonzept und ahistorischem Griechenideal243 oder um die den verschiedenen Statuengruppen zugrundeliegende idea geht,244 oder aber nur um die stilgeschichtliche Einordnung bestimmter Einzelstatuen,245 Winckelmann gelangte nie wirklich an einen definitiven Abschluß seiner Arbeit. Exemplarisch manifestiert sich das in den Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums (1767), die in zahlreichen Fällen die Ergebnisse der Geschichte der Kunst des Alterthums relativieren, statt sie - wie eigentlich geplant - bloß mit zusätzlichem Material zu untermauern.246 Am Beispiel Winckelmanns versucht Goethe auch sein (oben erläutertes) klassisches Credo zu exemplifizieren, wonach das sprachliche Stilvermögen direkt aus einer genauen Sachkenntnis entspringe (damit ist eine stilistische Kompetenz angesprochen, die Schelling wenig später von der einzigartigen »Objektivität« des Winckelmannschen Stils und »seiner ganzen Betrachtungsweise« handeln läßt247): Schon als W. zuerst in Dresden der Kunst und den Künstlern sich näherte, und in diesem Fach als Anfänger erschien, war er als Literator ein gemachter Mann. Er übersah die Vorzeit, so wie die Wissenschaften in manchem Sinne. Er fühlte und kannte das Altertum, so wie das Würdige der Gegenwart, des Lebens und des Charakters, selbst in seinem tiefgedrücktem [sie] Zustande. Er hatte sich einen Stil gebildet.248
Diese Ausbildung eines eigenen Stils ist in Goethes Formulierung durchaus auch als sprachschöpferische Leistung zu verstehen. Da Winckelmann zu seinen Zwekken »keine Sprache vorfand, in welcher er sich angemessen ausdrücken konnte, 13.1.1787: »ach Winckelmann! wie viel hat er gethan und wieviel hat er uns zu wünschen übrig gelaßen. [...] Er hat mit denen Materialien die er hatte geschwinde gebaut um unter Dach zu kommen. Lebte er noch; (und er könnte noch frisch und gesund seyn) so wäre er der erste der uns eine neue Ausarbeitung seines Wercks gäbe. Was hätte er nicht noch beobachtet, was berichtigt, was benutzt das nach seinen Grundsätzen gethan und beobachtet, was neuerdings ausgegraben worden. Und dann wäre der Cardinal Albani todt, dem zu Liebe er manches geschrieben, und was mir noch schlimmer daucht, manches verschwiegen.« (WA IV, 8, 134f) 243 Vgl. Espagne, >Le style est l'homme mêmeLe style est l'homme mêmePoetenIn allen Dingen in welchen das Menschliche Geschlecht sich hervorgethan hat, ist das größte Meister-Stück der Natur, Gut zu schreiben«, und ich erkenne den hohen Werth Ihres Wercks.« (WmB 2, 113f) Zu dem (hier Roscommon zugeschriebenen) Vers aus dem Essay on Poetry des Duke of Buckingham, den Winckelmann mehrmals zitiert, vgl. Koch, Winckelmann, S. 12f u. 155, Anm. 6. 252 253 254
MA 6.2, 372f. MA 6.2, 373. Pfotenhauer, Evidenzverheißungen, S. 144. 313
inkriminierten »französierenden Neigungen«255 Wielands abhob. Winckelmann der seinen Freund und Korrespondenten Friedrich Rudolph v. Berg vor der »Lesung mittelmäßiger Dichter und kleiner nichtswürdigen französischen [sie] Toiletteschriften« eindringlich warnte256 - befleißigte sich selbst in seinen Briefen einer »nachdrückliche[n] Schwere, einer[r] oratorische[n] Würde und gemessene[n] Feierlichkeit« - stilistischer Eigenschaften also, die Walther Rehm mit dem »römische[n] Pathos« und den dazugehörigen Kategorien der gravitas und majestas in Zusammenhang gebracht hat.257 Jedenfalls erklärt sich gerade auch aus der überzeugend vermittelten Würde des Winckelmannschen Stils - neben der brevitas sein »zweites und geschichtlich wirksamstes Ideal«258 - die bereits zeitgenössische Reputation des Archäologen »als Schriftsteller, der selbst wie ein Antiker zu schreiben vermöge und mithin den lange zurückgebliebenen Deutschen und ihrer Literatur zu eigenständiger, ja erstmals klassischer Geltung verhelfe«.259 Daß Winckelmann sich bewußt und mit recht konkreten Hintergedanken um einen möglichst würdigen Stil bemühte, belegt ein Schreiben an Berendis vom Mai 1758, in dem Winckelmann erklärt: Meine Absicht ist allezeit gewesen und ist es noch, ein Werck zu liefern, dergleichen in Deutscher Sprache in was vor Art es sey, noch niemahls ans Licht getreten, um den Ausländern zu zeigen, was man vermögend ist zu thun. Mir sind wenigstens nicht viel Bücher bekannt, in welchen so viel wichtige Sache [sie], fremde und eigene Gedanken in einem würdigen Stil gefaßet sind. [...] Ich wünsche daß man aus meiner Schrift lerne, wie man schreiben und würdig sich und der Nachwelt dencken soll. In dieser eigenen Versicherung werde ich die Zuschrift an den Chur-Prinzen so abfaßen, daß Prinzen lernen soll[en], daß nicht wir sondern sie sich eine Ehre daraus zu machen haben, ihren Namen an der Spitze eines solchen Werks zu sehen.260
Der zuletzt zitierte Satz steht für Winckelmanns eigentümliche Akzentsetzung im Verständnis der zeitgenössischen Dedikationspraxis: Nicht der widmende bürgerliche Autor profitiert von der obrigkeitlichen Gunst, die sich traditionell in der 255
So Polenz, Der Weg zur klassischen Literatursprache, S. 242. An Berg, 3.11.1762 (WmB 2, 270). 257 Walther Rehm, Winckelmanns Lebensform und Selbstbildnis in seinen Briefen. In: W. R./Ernst Heidrich/Arthur Schulz, Beiträge zur Gestalt Winckelmanns. Berlin 1958 (=Winckelmann-Ges. Stendal, Jahresgabe 1958), S. 9-41, hier 15. - Wolf Lepenies, Fast ein Poet, S. 96, verweist in diesem Kontext auf die große »Bedeutung des Stils« für den französischen Naturforscher Buffon, dessen Histoire naturelle - bzw. deren erste Bände Winckelmann zwischen 1751 und 1753 ausführlich exzerpiert hatte; in den methodologischen Bemerkungen zur Naturgeschichte werden die stilistischen Kategorien der gravité und majesté als »die höchsten Ausdrucksformen« beschrieben, »die man in der Darstellung der Natur erreichen kann«. Buffons stilkritische Äußerungen im berühmten Discours sur le style (1753), den wahrscheinlich weder Winckelmann noch Goethe kannten, der aber zahlreiche Affinitäten zu ihren jeweiligen Stilkonzepten aufweist, umreißt Lepenies in seinem Buch Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1978, S. 141. 258 Rüdiger, Pura et illustris brevitas, S. 369. 259 Pfotenhauer, Evidenzverheißungen, S. 143. 260 WmB 1, 368; Hervorhebungen v. Verf. 256
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Erlaubnis zur Widmung ausgedrückt hat, sondern - im Gegenteil - der adelige Adressat der Widmung hat »sich eine Ehre daraus zu machen«, daß ihm ein so würdevolles Werk dediziert wird. Diese in solcher Emphase neue und äußerst selbstbewußte Sichtweise zeugt von den sozialhistorischen Implikationen des Winckelmannschen >StilwillensWürde< und >Leichtigkeit< sind demnach offenbar auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen angesiedelt. Goethe selbst bestätigt diese Vermutung, indem er gerade zu Winckelmanns gesellschaftlichem Auftreten, zu seinem >Lebensstilbesseren Gesellschaft^ Damit wird eine maßgebliche sozialhistorische Implikation des klassischen Stilideals, die in der Folge genauer beleuchtet werden soll, von Goethe bestätigt. Durchaus in Übereinstimmung mit den eigenen sozialen Erfahrungen seit der Übersiedlung nach Weimar (1775) wird er im Stil seiner ästhetischen und 261
MA 6.2, 376. Zur Möglichkeit der »gesellschaftlichen BildungMan muß alle Sachen in Rom mit einem gewißen Phlegma suchen, sonst wird man für einen Franzosen gehalten. Im Rom, glaub ich, ist die hohe Schule für alle Welt, und auch ich bin geläutert und geprüfte Das gesagte paßt recht auf meine Art den Sachen hier nach zu gehn und gewiß hat man außer Rom keinen Begriff wie man hier geschult wird. Man muß so zu sagen wiedergebohren werden und man sieht auf seine vorigen Begriffe wie auf Kinderschue zurück. Der gemeinste Mensch wird hier zu etwas, wenigstens gewinnt er einen ungemeinen Begriff wenn es auch nicht in sein Wesen übergehen kann.« (WA IV, 8, 89f) 315
kunsttheoretischen Schriften aus dem Reise-Journal - wie auch seiner späteren Prosatexte - die Winckelmannsche Würde und die Wielandsche Leichtigkeit, die Winckelmannsche brevitas und die Wielandsche perspicuitas zu vereinigen suchen. Daß dies bei Goethe auf höchst charakteristische Weise geschieht, muß nicht eigens hervorgehoben werden.
1.4 Der klassische Stil als Medium >etablierter Avantgarde< Während der Stil und die ästhetische Formensprache des Sturm und Drang in erster Linie an bürgerlichen Wertvorstellungen ausgerichtet war,262 orientierte sich Goethe seit seiner Bindung an den Weimarer Hof (die er im übrigen gerade seinen >bürgerlichLeichtigkeitUngezwungenheitFreiheit< zu übersetzen ist. Am Beispiel der Gräfin von Werthern führt Goethe diese Vorstellung näher aus: Sie scheint iedem das seinige zu geben wenn sie auch nichts giebt, sie spendet nicht, wie ich andre gesehn habe, nach Standesgebühr und Würden iedem das eingesiegelte zugedachte Packetgen aus, sie lebt nur unter den Menschen hin, und daraus entsteht eben die
262
Vgl. Friedrich Sengle, Die klassische Kultur von Weimar, sozialgeschichtlich gesehen. In: IASL 3 (1978), S. 68-86, hier 73: »Der Sturm und Drang war eine bürgerliche Erscheinung gewesen, er konnte nur in Städten wie Frankfurt und Straßburg entstehen.« 263 Vgl. Heinz Otto Burger, Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Hg. ν. Η. Ο. B. Darmstadt 1972 (=Wege der Forschung 210), S. 177-202. 264 WA IV, 5, 75f. 265 MA 6.2, 376. 316
schöne Melodie die sie spielt daB sie nicht ieden Ton sondern nur die auserwählten berührt. Sie tracktirts mit einer Leichtigkeit und einer anscheinenden Sorglosigkeit daß man sie für ein Kind halten sollte das nur auf dem Klaviere, ohne auf die Noten zu sehen, herumruschelt, und doch weis sie immer was und wem sie spielt. Was in ieder Kunst das Genie ist, hat sie in der Kunst des Lebens. Tausend andre kommen mir vor wie Leute die das durch Fleis ersezzen wollen was ihnen die Natur versagt hat, noch andre wie Liebhaber die ihr Conzertgen auswendig gelernt haben und es ängstlich produziren, noch andre - nun es wird uns Stoff zur Unterredung genug geben. Sie kennt den größten Teil vom vornehmen, reichen, schönen, verständigen Europa, theils durch andre, das Leben, Treiben, Verhältniß so vieler Menschen ist ihrer gegenwärtig im höchsten Sinne des Worts, es kleidet sie alles was sie sich von iedem zueignet und was sie iedem giebt thut ihm wohl.266 Während der junge Goethe in seiner Besprechung zur Charakteristik der vornehmsten Europäischen Nationen die international konventionelle höfische Etikette noch mit beißender Kritik bedacht hatte, 267 zeichnet er hier ein nachgerade ideales Bild höfischer Umgangsformen, deren historische Wurzeln Heinz Otto Burger mit Blick auf Baidassare Castigliones Libro del Cortegiano (1527) und Baltasar Grecians Oráculo manual y arte de prudencia (1647) folgendermaßen umreißt: »In erster Linie zeichnet den Hofmann die gracia aus, die Anmut, deren Voraussetzung die sprezzatura ist. Castiglione nennt das selbst una nova parola; er meint damit die Leichtigkeit, die jede Anstrengung und Kunst verbirgt (nascondere l'arte) und den Anschein erweckt, was man tun und sagt, geschehe ganz von selbst [...]. Ebenso wie Castiglione erklärt es Gracián für den Gipfel der Lebenskunst, diese als mühelose Natürlichkeit erscheinen zu lassen [...]. Die aisance, die Goethe an Gräfin Werthern bewundert hatte, entspricht durchaus der sprezzatura Castigliones.« 268 Nicht allein die von Goethe hervorgehobene aisance, sondern auch die wohltemperierte gesellschaftliche Performanz von Würde und Feierlichkeit war Teil des alteuropäischen Adelsideals, das sich solcherart als gegenseitige Verschränkung von Anmut und Würde präsentiert: Schon den Fürstenspiegeln des Humanismus zufolge sollen edle Sitten und gute Umgangsformen »den Eindruck von gravitas = Würde und facilitas = Anmut, Grazie, sprezzatura erwecken, doch darf nach keiner Richtung übertrieben werden«. 269 Wenn nun - wie oben aufgezeigt - sowohl Würde als auch Leichtigkeit eine eminente Vorgabe des klassischen Goetheschen >Stilwillens< war, dann gründet dies unter anderem sicherlich in der ästhetischen Faszination, welche die Welt des 266
WA IV, 5, 76f. Vgl. II.4.4. Burger, Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik, S. 186. 269 Ebd., S. 187. Die Verwandtschaft dieser sozialen Maximen mit maßgeblichen Stilbegriffen der Rhetorik liegt auf der Hand. Burger betont ausdrücklich, »daß die Maßstäbe für die aristokratische Stilisierung des Lebens sich zum Teil von den Stilbegriffen der Rhetorik herleiten, die ja nicht nur Redekunst, sondern mehr noch Lebenskunst, Humanität, zum Inhalt hatte. Wie die gravitas auf Bewunderung - admiratio -, so zielt die facilitas auf Gefallen - iucunditas. Castigliones >Libro del Cortegiano< schließt nicht zufällig im Aufbau und in vielen stilistischen wie inhaltlichen Einzelheiten an Ciceros >De oratore< und an >Orator ad M. Brutum< an.« 267
268
317
Adels auf den aufstrebenden Bürgersohn ausübte (über die Gründe für diese Faszination ist damit freilich noch nichts gesagt). Auch die italienischen Quellen bieten dafür manche Belege: So trägt Goethe am 7. Oktober 1786 angesichts eines Hochamts in Venedig in sein Reisetagebuch ein: »Etwa fünfzig Nobili [...] klug ohne Anstrengung, ruhig selbst gewiß. Leichtigkeit des Daseins und durchaus eine gewisse Fröhlichkeit«.270 Und am 8. Juni 1787 berichtet er seiner Geliebten aus Rom über den im preußischen Dienst stehenden Marquis Girolamo Lucchesini: »In ihm hab ich einen echten Weltmenschen gesehen und recht gesehen warum ich keiner seyn kann.«271 Goethe bleibt sich also des damals unüberwindbaren sozialen (und damit auch habituellen) Unterschieds zwischen einem geborenen Bürger und einem Vertreter des Altadels wohl bewußt. Dennoch gibt es einen Bereich, in dem er für sich selbst das Ideal adeliger Lebenskunst und Geselligkeit ungebrochen verwirklichen kann: Gemeint ist natürlich seine Dichtung, innerhalb derer sich die ästhetische Auseinandersetzung mit dem alteuropäischen Adelsideal spätestens seit der italienischen Reise unübersehbar niederschlägt. Die von der Forschung immer wieder hervorgehobene höfische Formensprache der Iphigenie ist dafür nur das nächstliegende Beispiel.272 Die ideologiekritische Literaturwissenschaft hat in der ästhetischen Neuorientierung Goethes, ja überhaupt in seiner Entscheidung für Weimar »die Tendenz eines resignativen Teils des deutschen Bürgertums« gesehen, die hier »beispielhaft zur Erscheinung« komme. 273 Voraussetzung eines solchen - die innere Eigengesetzlichkeit des literarischen Feldes negierenden - Urteils ist eine normative Geschichtsphilosophie, die stets weiß, welche ästhetische Entwicklung der historische Autor >eigentlich< hätte nehmen müssen, wäre er nicht vom rechten Wege abgekommen. Inwiefern im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus die Entscheidung zu einer aktiven politischen Rolle an einem reformerischen Fürstenhof wie Weimar als >resignativ< bezeichnet werden kann, soll hier nicht diskutiert werden. Auch die im klassischen Weimarer Humanitäts- und Stilideal (neben aller Anverwandlung adeliger Normen) nach wie vor wirksamen bürgerlichen Wertmuster seien hier nur im Vorübergehen erwähnt.274 Viel zentraler für eine adäquate sozio270
MA 3.1, 115. WA IV, 8, 229. 272 Vgl. Christa Bürger, Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe. Frankfurt a. M. 1977, S. 51; Sengle, Die klassische Kultur von Weimar, S. 74-76. 273 Bürger, Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst, S. 51. 274 Vgl. Sven-Aage J0rgensen, Ist eine Weimarer Klassik ohne Wieland denkbar? In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Bamer, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers. Stuttgart 1984 (=Veröffentl. d. Dt. Schillerges. 42), S. 187-197, hier 189. Nach Hinderer, Wielands Beiträge, S. 49, lasse sich bei Wieland die »die Umfunktionierung der adligen Lebenskunst aus dem Geiste der Rhetorik zur bürgerlichen ästhetischen Anthropologie« beobachten. »Aus dem Ideal des Cortegiano, des allseitig gebildeten Virtuoso, wurde das Ideal des vollkommenen bürgerlichen Menschen.« Zur sozialen Funktion des bürgerlichen Humanitätsideals< und der >Kultivierung des Allgemeinmenschlichen< vgl. schon Balet/Gerhard, Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik, S. 167ff u. 232ff. 271
318
logische Interpretation des klassischen Stilideals sind die strukturellen Mechanismen des literarischen Feldes, das in Deutschland um 1800 bereits eine >relative< Autonomie erlangt hatte. 275 Die soziologische Analyse von literarischen Werken, die einem solchen >relativ< autonomen gesellschaftlichen Mikrokosmos entstammen, hat nach Pierre Bourdieu »die Korrespondenz zwischen zwei homologen Strukturen zum Gegenstand«, nämlich »zwischen der Struktur der Werke (das heißt der Gattungen, aber auch der Formen, Stile, Themen usw.) und der Struktur des literarischen [...] Felds, eines Kraftfelds, das immer zugleich auch ein Feld von Kämpfen ist. Die Triebkraft des Wandels der kulturellen Werke [...] kommt aus den Kämpfen, die in den entsprechenden Produktionsfeldern ausgetragen werden: Diese Kämpfe, bei denen es um Erhalt oder Veränderung der im Feld der Produktion bestehenden Kräfteverhältnisse geht, bewirken natürlich auch den Erhalt oder die Veränderung der Struktur des Felds der Formen, welche Mittel wie Gegenstand dieser Kämpfe sind.« 276 Das treibende Prinzip der literarischen Entwicklung liegt demnach niemals unmittelbar in »externen Determinanten« begründet, 277 sondern resultiert stets aus der internen Struktur des Feldes selbst. 278 Für die soziologische Motivierung der Entstehung des klassischen Goetheschen Stilideals (wie auch seiner klassischen Ästhetik insgesamt) wäre also eine eingehende Analyse der Konstellation des deutschen literarischen Feldes im Übergang vom Sturm und Drang bis zur Erscheinungszeit der Auszüge aus einem Reise-Journal erforderlich.
275
Vgl. die Einführung in die vorliegende Arbeit. Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 64. 277 Ebd., S. 62: »Das Feld bewirkt eine Brechung (wie ein Prisma): Deshalb kann man die Veränderungen, die zum Beispiel anläßlich eines Regimewechsels oder einer Wirtschaftskrise im Verhältnis zwischen den Schriftstellern eintreten, zwischen den Vertretern verschiedener Gattungen [...] oder zwischen verschiedenen Kunstauffassungen (beispielsweise L'Art pour l'art und soziale Kunst), nur dann verstehen, wenn man die spezifischen Gesetze des Funktionierens dieses Felds kennt (seinen >Brechungskoeffizientenmeinenvölkischen< Perspektive mündet. Genannt seien hier auch die einschlägigen Passagen in Menzer, Goethes Ästhetik, S. 69f; Jolies, Goethes Kunstanschauung, S. 162-173; Joachim Müller, Goethes Italienerlebnis, sein Stilbegriff von 1789 als Erkenntnispostulat und die Voraussetzungen seines Menschenbildes in der Winckelmannschrift. In: Philosophie und Humanismus. Beiträge zum Menschenbild der deutschen Klassik. Hg. v. Bolko Schweinitz. Weimar 1978 (=Collegium philosophicum Jenense 2), S. 140-159, bes. 145-149; Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 90-92. Vgl. neuerdings Bernd Leistner, Stil. In: GHb Bd. 4/2 (1998), S. 1013-1015, der auf knappem Raum eine Begriffsgeschichte von »Stil« in Goethes theoretischen Schriften gibt. 310 Nicht eigentlich mit Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, sondern in erster Linie mit Goethes 1799 publizierter Antwort auf Diderots Essai sur la peinture beschäftigt sich die begriffsgeschichtliche Arbeit von Ursula Link-Heer, Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe). In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986, S. 93-114. Im Kontext einer römischem Ästhetik analysiert den Essay Jutta Van Selm, Mengs, Moritz, Goethe: Aspects of a >Roman< Aesthetic Theory. In: Eighteenth-Century German Authors and their Aesthetic Theories: Literature and the Other Arts. Hg. v. Richard Critchfield u. Wulf Koepke. Columbia SC 1988, S. 77-101, bes. 91ff. Wenig Neues zu Goethes Aufsatz von 1789 erfährt man bei Gabi Ziegler-Happ, Das SPIEL des STILS. Interpretation von Goethes Stilbegriff vor dem Hintergrund von Schillers Spieltheorie. Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1989 (=Analysen und Dokumente 25), bes. S. 19-40, sowie bei Heinrich Nie327
plikationen wurden dabei ebenfalls diskutiert.311 Zuletzt hat sich noch die >poststrukturalistische< Literaturwissenschaft des Goetheschen Textes angenommen und ihn nach allen Regeln ihrer Kunst dekonstruiert.312 Trotz zahlreicher methodischer und inhaltlicher Differenzen stimmen sämtliche Untersuchungen indes darin überein, dem Aufsatz innerhalb der Auszüge aus einem Reise-Journal einen zentralen Stellenwert zuzuschreiben. Das ist insofern auch naheliegend, als sich die theoretischen Kernaussagen der meisten anderen relevanten Texte (Zur Theorie der bildenden Künste, Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt, Von Arabesken und Naturlehre) mehr oder weniger nahtlos in das durch die Begriffstrias Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl bezeichnete Problemfeld einfügen lassen. Im folgenden werden diese Texte, erweitert um zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge aus der italienischen Zeit sowie spätere einschlägige Schriften, deshalb immer dann herangezogen, wenn ihre Berücksichtigung erlaubt, bestimmte Aspekte und Probleme der klassischen Ästhetik Goethes besser zu beleuchten. Die für die Rekonstruktion dieser Ästhetik hier strukturbildende Analyse von Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl sollte freilich stets den historischen Entstehungs- und Erscheinungskontext im Blick behalten.
2.1 Entwicklungsgeschichte und Typologie Heinrich Niewöhner resümiert die begriffliche Konsistenz des Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl313 folgendermaßen: »Goethes Gliederung begreift die >Entwicklung< von der einfachen Nachahmung< zum >Stil< genetisch; sie ist seine notwendige >Voraussetzungfrühsten Zeit< metamorphierend in den späteren sich bilden kann. Dieses Schema geht aus anwöhner, >Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·. Grundbegriffe der Poetik und Ästhetik Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1991 (=Europäische Hochschulschriften, R. 1: Deutsche Sprache und Literatur 1219), S. 111-120. Die wohl genaueste und beste Arbeit zum Thema ist Claudia Kestenholz' schon zitierter Artikel Emphase des Stils (1991). Vgl. dazu noch den ebenfalls bereits genannten Beitrag zum neuen GoetheHandbuch von Hilmar Frank, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1997). 311 Vgl. etwa Ernst H. Gombrich, A Primitive Simplicity. >Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl· in englischer Sicht. In: Kunst um 1800 und die Folgen. FS f. Werner Hofmann. Hg. v. Christian Beutler, Peter-Klaus Schuster u. Martin Warnke. München 1988, S. 95-97. 312 Vgl. Burgard, Idioms of Uncertainty, S. 66-70. - Weitere Literatur zu speziellen Aspekten wird unten bei deren jeweiliger Behandlung im Text angefühlt. 313 Goethes Begriffsarchitektur rekurriert auf die zuhandene Terminologie der zeitgenössischen Kunsttheorie; vgl. dazu den Kommentar v. Einems (HA 12, 585f); Link-Heer, Maniera, passim, v.a. S. 93-96; Ziegler-Happ, Das Spiel des Stils, S. 19-21; Kestenholz, Emphase des Stils, passim, v.a. S. 36-40; Frank, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, S. 571. Die im gegenwärtigen Kontext notwendigen begriffsgeschichtlichen Informationen werden in den entsprechenden Abschnitten rekapituliert.
328
thropologischen Überlegungen hervor, die eine Analogie zwischen der Gattungsund Individualgeschichte sehen.«314 Folgt man Niewöhners Zusammenfassung, dann ist Goethes Begriffsarchitektur sowohl typologisch als auch entwicklungsgeschichtlich angelegt; im Blick auf die entwicklungsgeschichtliche Ausrichtung scheint zudem die Unterscheidung zwischen einer phylogenetischen und einer ontogenetischen Dimension naheliegend. Diese verschiedenen Lektüremöglichkeiten,315 die sich auf verstreute Indizien in Goethes Text berufen, sollen hier zur Einleitung in das Thema näher beleuchtet und zugleich kritisch überprüft werden. Auffallend ist dabei zunächst einmal die strukturelle Zweiteilung des Essays in einen systematischen und einen eher erläuternden Teil316 - ein Umstand, den die Analyse stets im Auge behalten sollte. Als Ausgangspunkt für die genetische Betrachtung kann die einleitende Sentenz des knappen Abschnitts zum >Styl< aus dem systematischen Teil dienen, die einen fortschreitenden Reifeprozeß künstlerischer Entwicklung zumindest andeutet: Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst, endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen neben einander zu stellen und nachzuahmen weiß: dann wird der Styl der höchste Grad, wohin sie gelangen kann [...].317
Die zweimalige Verwendung des prozessualen Verbs >gelangenwerden< sowie das terminative Adverb »endlich« legen ein diachrones Verständnis dieser Passage als aufsteigender Entwicklungsgang relativ nahe.318 Ihr Wortlaut läßt freilich unentschieden, ob der solcherart skizzierte Prozeß als ontogenetisch oder als phylogenetisch (beziehungsweise historisch) begriffen werden soll. Zur Klärung dieser Frage muß der Blick auf den gesamten Text sowie auch (in differentieller Absicht) auf seinen mittelbaren entstehungsgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden.
3,4
Niewöhner, >Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·, S. 114. Vgl. auch den Kommentar Friedmar Apels, demzufolge die Systematik des Aufsatzes »zunächst eine hierarchische und historische Abfolge [suggeriert], jedoch postuliert Goethe eine virtuelle Gleichzeitigkeit und damit eine Gegenwärtigkeit des Sichtbaren und Sprechenden [?] in der Kunst« (FA I, 3, 1027). 3,6 Vgl. Kestenholz, Emphase des Stils, S. 46: »Auf die systematische Darstellung der Begriffs-Trias folgen eine Reihe von Erläuterungen, die in einem ganz anderen Ton gehalten sind. Goethe unterscheidet ganz offensichtlich zwischen theoretischem und nicht-theoretischem Sprachgebrauch. Die in fast erzählender Weise die definierten Begriffe noch einmal umspielenden Schlusspassagen halten sich im Bemühen um grösstmögliche Konkretisierung und Veranschaulichung nicht mehr an die strenge Sprachregelung des systematischen Teils. Hier werden nun auch probeweise Formulierungen durchgespielt, die dort der Sprachlogik zum Opfer gefallen wären.« 317 MA 3.2, 188. 3,8 Zur These, »that the three stages can be thought of as successive in time«, vgl. Matthew Bell, Goethe's Naturalistic Anthropology. Man and other Plants. Oxford 1994, S. 193, Anm. 10. 315
329
Die phylogenetische Deutung der (von Niewöhner zwar konsequent, doch zu stark vereindeutigend bloß als »Entwicklungsschema«319 bezeichneten) Begriffsarchitektur Goethes kann sich auf eine handgreifliche Analogie zu einem historischen Verlaufsmodell berufen, das Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums für die Entwicklung der klassischen griechischen Kunst in Anschlag gebracht hat: Der ältere Styl war auf ein Systema gebauet, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren, und sich nachher von derselben entfernet hatten, und Idealisch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorschrift dieser Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn die Kunst hatte sich eine eigene Natur gebildet. Über dieses angenommene Systema erhoben sich die Verbesserer der Kunst, und näherten sich der Wahrheit der Natur.320
Wenn hier davon die Rede ist, daß die Kunst des älteren Stils »sich eine eigene Natur gebildet« habe, die mehr an der »Vorschrift« angenommener »Regeln« als an der tatsächlichen äußeren Natur orientiert gewesen sei, dann weist das voraus auf Goethes Bestimmung des Künstlers der >Maniernatürlich< und greift somit die Begriffstradition der kunsttheoretisch adaptierten Idea-Lehre auf.322 Auch der 3. Teil (1787) von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, den Goethe in Italien mit starkem Interesse und großer Zustimmung las,323 entfaltet mit den besten historischen Argumenten »die ganze genetische Art der griechischen Kunst«.324 Bei der Absicht einer historisierenden Begriffsverwendung im Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl hätte Goethe also äußerst naheliegende theoretische Anschlußstellen gehabt. 319
Niewöhner, >Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·, S. 115; so schon v. Einem, Goethe und die bildende Kunst, S. 126. 320 Geschichte der Kunst des Alterthums, Tl. 1, 4. Kap., 3. St., S. 224. Vgl. dazu Niewöhner, >Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·, S. 115, sowie Peter Sprengeis Kommentar (BdK 3, 602). 321 MA 3.2, 187f. 322 Hintergrundinformationen und weiteres Material zur Idea-Tradition finden sich in III.3. 323 Vgl. schon den Brief an Charlotte v. Stein vom 8.6.1787: »Auf Herders dritten Theil [der Ideen, NCW] freu ich mich sehr, hebe mir ihn auf, biß ich sagen kann wo er mir begegnen soll.« (WA IV, 8, 233); in der Italienischen Reise ist die Äußerung leicht verändert und auf den 27.5.1787 umdatiert (MA 15, 404). Im Zweiten römischen Aufenthalt findet sich dann unter dem 12.10.1787 ein Dankesbrief an Herder für die Übersendung des 3. Teils der Ideen: »Sie sind mir als das liebenswerteste Evangelium gekommen und die interessantesten Studien meines Lebens laufen alle da zusammen. Woran man sich so lange geplackt hat, wird einem nun so vollständig vorgeführt. Wie viel Lust zu allem Guten hast du mir durch dieses Buch gegeben und erneut!« (MA 15, 500) Und am 10.1.1788 heißt es entsprechend: »Der dritte [Teil der Ideen] ist uns ein heilig Buch, das ich verschlossen halte« (MA 15, 566). 324 FHA 6, 537.
330
Finden sich nun in Goethes Text tatsächlich Hinweise auf eine solche historische Dimension der begrifflichen Kategorien? Die Frage ist relativ leicht zu verneinen: Abgesehen von der im großen und ganzen konsequent durchgehaltenen Tempusform Präsens, die schon für sich allein keine geschichtliche Perspektive indiziert, spricht dagegen auch die Exemplifizierung der Kategorie >einfache Nachahmung der Natur< an einem einzigen Künstler, die ahistorisch nivellierende Formulierung »gewöhnlich« im Abschnitt über die >Manier< sowie die abschließende, synchron vergleichende Nebeneinanderstellung der drei unterschiedlichen Kategorien im kurzen Abschnitt über den >StylEinfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·, S. 116, der auf diese Weise die Stellung Goethes zwischen Winckelmann und Vasari bestimmen will. Die in Goethes Ausführungen manifeste »scharfe Abgrenzung gegen die historische Betrachtung« betonte dagegen schon Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 209 (vgl. auch die Gegenüberstellung von Goethes ahistorischem und A. W. Schlegels historischem Stil-Begriff, S. 213); im Gegensatz dazu handelt Kampmann freilich wenige Zeilen später scheinbar paraphrasierend von »der generellen und individuellen Entwicklung der Kunst« (S. 210). Keine »Historisierung« des Goetheschen »Dreischrittes« konstatiert auch Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 92. 328 Vgl. dazu den nur in der Italienischen Reise wiedergegebenen und auf den 17.5.1787 datierten neapolitanischen Brief an Herder, in dem Goethe u.a. feststellt: »Ich bin freilich, wie Du sagst, mit meiner Vorstellung sehr ans Gegenwärtige geheftet« (MA 15, 392). 329 Jürgen Jacobs, Der >Winckelmannische Fadenlöst< Goethe diesen Konflikt dahingehend, daß er »die von Winckelmann angeregte historische Betrachtungsweise der Kunst« zunächst zwar durchaus zur Kenntnis nimmt, unter der Hand jedoch umgehend »seinen klassizistischen Prämissen unterordnet«. 331 So überrascht es auch kaum, daß sich Goethe gerade mit Winckelmanns wichtigstem Beitrag zur historischen Kunstbetrachtung, der Geschichte der Kunst des Altertums, nicht dauerhaft anfreunden konnte. 332 In seiner Rekonstruktion der Goetheschen Auseinandersetzung mit Winckelmann kommt Ernst Osterkamp zu folgendem Ergebnis: »Was Goethe an Winckelmanns Werk offensichtlich am wenigsten befriedigte, war gerade dessen geschichtliches Herzstück, das Kapitel über die Stilgeschichte der griechischen Kunst«, 333 aus dem ja auch das oben zitierte historische Verlaufsmodell stammt. 330
Zum »Gegensatz«, der schon in Winckelmanns Erstlingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) »zwischen dem normativen, generalisierenden Charakter der Geschmacksbegriffs und dem historischen, individualisierenden der Himmel-, der Klima- und Umwelt-Vorstellung besteht«, vgl. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Hg. v. Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt a. M. 1974 (=Studienausgabe der Vorlesungen 2), S. 26-29, Zit. 26. 331 Jacobs, Der >Winckelmannische FadenGeschichte der Kunst des Altertums< nur in wenigen Wochen, im Dezember 1786 und im Januar 1787, kurz nach Goethes Ankunft in Rom also, nachweisbar ist«: Nach einem bloß kursorischen Hinweis in einem Brief an Charlotte von Stein vom 15.-18.11.1786 (vgl. WA IV, 8, 56; dazu Eibls Komm, in FA II, 3, 830) erwähnt Goethe dem Ehepaar Herder gegenüber im Brief vom 2./9.12.1786 den Kauf der von Carlo Fea besorgten, »sehr brauchbar [en]« dreibändigen »neue[n] Italiänische[n] Ausgabe« von 1783/84 (WA IV, 8, 76). Am 6.1.1787 berichtet er dann dem Weimarer Freundeskreis: »Winckelmanns Geschichte der Kunst hab ich angefangen zu lesen, und habe erst Egypten zurückgelegt und fühle wohl daß ich nun erst wieder von vorne sehen muß; auch hab ich es in Absicht auf die Egyptischen Sachen gethan. Je weiter hinauf desto unübersehlicher wird die Kunst und wer sichre Schritte thun will muß sie langsam thun.« (WA IV, 8, 119f) Bei seiner römischen Lektüre des Winckelmannschen Hauptwerks hatte Goethe tatsächlich keine besonders große Eile. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es auf eine äußerst konzentrierte Lektüre schließen ließe, was Goethe mit seiner Rede von den >sichren Schritten< auch suggeriert. Doch: »Schon eine Woche später formuliert Goethe seine berühmte Gesamtwürdigung von Winckelmanns Kunstgeschichte, die so abgefaßt ist, als beruhe sie auf genauester Kenntnis des ganzen Werks« (S. 577). Ganz gleich, ob den einschlägigen Worten aus dem Brief an Herder vom 13.1.1787 eine (eher unwahrscheinliche) besonders intensive Auseinandersetzung mit Winckelmanns Hauptwerk in der Zeit vom 6.-13.1. zugrundeliegt - sie geben jedenfalls offen zu erkennen: »So groß Goethes Winckelmann-Verehrung auch ist, mit dessen Hauptwerk, der >Geschichte der Kunst des AltertumsGeschichte der Kunst des AltertumsStyls< zitiert. 335 Vgl. Italienische Reise, 24.4.1787, zum griechischen Hippolytossarkophag in Girgent (dazu den Komm, in HA 12, 653, u. MA 15, 1043f): »Mich dünkt von halberhabener Arbeit nichts herrlichers gesehen zu haben, zugleich vollkommen erhalten. Es soll mir einstweilen als ein Beispiel der anmutigsten Zeit griechischer Kunst gelten. In frühere Epochen wurden wir zurück geführt durch Betrachtung einer köstlichen Vase von bedeutender Größe und vollkommener Erhaltung.« (MA 15, 336) Zur Münzsammlung des Prinzen Biscari in Catania heißt es unter dem 3.5.1787: »Ich lernte wieder und half mir an jenem dauerhaften Winkelmannischen Faden, der uns durch die verschiedenen Kunstepochen durchleitet, so ziemlich hin.« (MA 15, 358) 336 Jacobs, Der >Winckelmannische Fadeneinfache Nachahmung der NaturManier< und >Styl< im Sinne dreier aufeinanderfolgender psychologischer »Begabungstypen« vertrat zuerst in prononcierter Weise der Kunsthistoriker Herbert von Einem, der in Goethes »drei Formen« eine Fortführung von Anton Raphael Mengs' weniger historisch als vielmehr psychologisch ausgerichteter »Typenlehre« 340 sah: »Jede [Form] ist in sich vollendet und kann auf einen hohen Grad gebracht werden. Sie stellen zugleich aber auch eine Stufen- und Wertfolge dar.« 341 Als Movens für eine gemäß dieser aufsteigenden Linie verlaufende >naturanaloge< künstlerische Entwicklung nennt Matthew Bell den individuellen Zuwachs an Erfahrung. 342 Das ist durchaus plausibel, entspricht es doch den gängigen Vorstellungen zeitgenössischer Kunstdidaktik, wie etwa ein Blick auf die Darstellung der eigenen künstlerischen Entwicklung in Salomon Geßners Brief über die Landschaftsmahlerey (1770) bestätigt. 343 Auch die Dreistufigkeit des Goetheschen Mo-
sehr dir auch in der Geschichte entgegen zu kommen. Denn was du durch die Gewalt des Geistes aus der Überlieferung zusammengreifst, das muß ich nach meiner Art aus jeder Himmelsgegend, von Bergen, Hügeln und Flüßen zusammenschleppen.« (WA IV, 8, 152) Und im schon zitierten Schreiben vom 3.2.1787 heißt es: »Du wirst auch mir einen großen Dienst erzeigen wenn du in den Ideen den Gesichtspunckt der Geschichte zurechte rückst. Denn wie es mir jetzt scheint hat uns das alte und neue Rom, alles schief gerückt. Ich wollte dir, bey deiner Übersicht der Völcker den Einfluß wünschen den ein Vorsteher der Propaganda hat.« (WA IV, 8, 164) 339 Vgl. Pierre Bertaux, Goethes >Italienische Reiset als Anti-Herder. In: Bausteine zu einem neuen Goethe. Hg. v. Paolo Chiarini. Frankfurt a. M. 1987, S. 43-54, hier 45; auch Wilfried Barner, Die Trümmer der Geschichte. Über römische Erfahrungen Goethes. In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990, S. 140-150. Zu dem in der Italienischen Reise implizit angelegten Widerspruch zwischen historischer Programmatik und ahistorischer Ausführung vgl. Osterkamp, Goethe als Leser Winckelmanns, S. 579. Genaueres zum Stellenwert der Historizität in Goethes italienischer und nachitalienischer Ästhetik wird unten bei der Gegenüberstellung von seinem und Winckelmanns Stil-Begriff zur Sprache kommen. 340 Vgl. v. Einem, Goethe und die bildende Kunst, S. 122; mehr dazu im Kommentar zu Der Sammler und die Seinigen (HA 12, 607f). 341 Einem, Goethe und die bildende Kunst, S. 123; vgl. auch den Kommentar (HA 12, 586). Ganz ähnlich Ziegler-Happ, Spiel des Stils, S. 23. Niewöhner, >Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil·, S. 119, spricht ebenfalls von »drei Begabungstypen, die doch auch genetisch miteinander verbunden sind«. 342 Vgl. Bell, Goethe's Naturalistic Anthropology, S. 193f; auch Van Selm, Mengs, Moritz, Goethe, S. 92. 343 Vgl. Geßner, Idyllen, S. 180: »Meine Neigung gieng vorzüglich auf die Landschaft; und ich fieng mit Eifer an zu zeichnen, aber mir begegnete, was so vielen begegnet. Das beste und der Haupt-Endzweck ist doch immer die Natur; aber was für Schwierigkeiten, da ich mich noch nicht genug nach den besten Mustern in der verschiedenen Art des Ausdrucks der Gegenstände geübt hatte! Ich wollte der Natur allzugenau folgen, und sah mich in Kleinigkeiten des Detail [sie] verwickelt, die den Effect des Ganzen störten, und fast 334
dells ist in der zeitgenössischen Ästhetik geläufig 3 4 4 und gerade in Verbindung mit einem Entwicklungsschema traditionell - vorgeprägt etwa in den kunsthistorischen und kunsttheoretischen Arbeiten Giorgio Vasaris, Christian Ludwig von Hagedorns und Karl Philipp Moritzens, wobei Hagedorn und besonders (der auf Mengs aufbauende) Moritz in ihren jeweiligen Konzeptionen zentrale Aspekte der klassischen Vorstellungen Goethes vorwegnehmen. 3 4 5 Von Einem nun legte es nahe, eine solche »Stufen- und Wertfolge« auf Goethes eigene künstlerische Entwicklung zu beziehen. 3 4 6 Gedanklich daran anknüpfend meint Petra Maisak in ihrem Aufsatz über Goethes »frühe Begegnung mit der Kunst«, es handle sich bei der Kategorie der einfachen Nachahmung der Natur< um die »schlichte, treue Wiedergabe der Wirklichkeit«, die den rousseauistisch geschulten jungen Goethe bei der niederländischen Malerei (sowie in deren Nachfolge bei den zeitgenössischen Frankfurter Malern, die im Gemäldekabinett seines Vaters vertreten waren) begeistert habe und deren Hochschätzung »den Beginn seines künstlerischen Sehens« markiere. 347 Folgt man der Konsequenz dieser Argumentation, dann läßt sich die Kategorie der >Manier< wohl zuvörderst in Goethes
immer fehlte mir die Manier, die den Gegenständen der Natur ihren wahren Character beybehält, ohne sclavisch und ängstlich zu seyn. Meine Gründe waren mit verwickelten Kleinigkeiten überhäuft, die Bäume ängstlich und nicht in herrschende Hauptpartien geordnet, alles durch zu ängstliche Arbeit zu sehr unterbrochen. Kurz: Mein Auge war noch nicht geübt, die Natur wie ein Gemähide zu betrachten, und ich wußte die Kunst noch nicht, ihr zu geben und zu nehmen, da wo die Kunst nicht hinreichen kann. Ich fand also, daß ich mich zuerst nach den Künstlern bilden müsse.« Die Nachahmung der Meister und ihrer >Manieren< führt nun zur Entwicklung einer eigenen: »Durch diese gemischte Übung erhielt ich Leichtigkeit im Ausdruck, und mehr eigentümliches in meiner Manier« (S. 182). Die neugewonnene Erfahrung ermöglicht schließlich sogar eine qualitativ neue >Nachahmung der NaturStyl< fánde sich folgerichtig vor allem in seiner klassischen Kunstanschauung mit ihrer Orientierung an der Kunst der Antike, der Renaissance und (weniger) des italienischen Klassizismus. Die solcherart ontogenetisch verstandene begriffliche Trias aus einfacher NatumachahmungManier< und >Styl< entspräche also zumindest tendenziell der individuellen (bild)künstlerischen Geschmacksentwicklung Goethes. Ahnliches ließe sich auch bei einer Ausweitung des Geltungsbereichs der Kategorien auf die literarische Produktion selbst behaupten. Für die These, die Begriffsarchitektur von Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl verfolge implizit die Schematisierung einer idealtypischen Stufenfolge von Goethes eigener ästhetischer Entwicklung, lassen sich sogar verschiedene briefliche Zeugnisse aus der Zeit des zweiten Rom-Aufenthalts als zusätzliche Indizien anführen. Schon in Rom war es Goethe ja darum zu tun, sein künstlerisches Schaffen in verschiedene Entwicklungsphasen einzuteilen. So berichtet er in einem Brief vom 11. August 1787 seinem Gönner Herzog Carl August zunächst von seiner in Italien enorm angewachsenen »Kunstkenntniß«, zu deren weiterer Ausbildung auch das aktive »Zeichentalentchen« geschult werden sollte.349 In der Folge kommt er dann mit allem Nachdruck auf seine schriftstellerischen Absichten zu sprechen: Noch eine andre Epoche dencke ich mit Ostern zu schließen: meine erste (oder eigentlich meine zweyte) Schriftsteller-Epoche. Egmont ist fertig, und ich hoffe biß Neujahr den Tasso, biß Ostem Faust ausgearbeitet zu haben, welches mir nur in dieser Abgeschiedenheit möglich wird. Zugleich hoffe ich sollen die kleinen Sachen [...] fertig werden [...]. Somit werde ich auch dieser Verbindlichkeit los und kann an etwas neues, kann mit Emst an Wilhelm gehn, den ich Ihnen recht zu erb und eigen schreiben möchte. Daß ich meine älteren Sachen fertig arbeite, dient mir erstaunend. Es ist eine Rekapitulation meines Lebens und meiner Kunst, und indem ich gezwungen bin, mich und meine jetzige Denckart, meine neuere Manier, nach meiner ersten zurückzubilden, das was ich nur entworfen hatte nun auszuführen; so lern' ich mich selbst und meine Engen und Weiten recht kennen. Hätte ich die alten Sachen stehen und liegen laßen, ich würde niemals soweit gekommen seyn, als ich jetzt zu reichen hoffe. 350
Goethe teilt hier das eigene Schaffen in >Epochen< ein, und indem er von der »Rekapitulation [s]eines Lebens und [s]einer Kunst« spricht, betrachtet er sich als Künstler selbst mit einem ebenso >genetischen BlickSchriftstellerEpochen< entsprechen hier nämlich jeweils verschiedene >ManierenManier< zurückversetzen. Der Manier-Begriff wird dabei als entwicklungsgeschichtliche Ordnungskategorie wertneutral angewendet und erscheint keineswegs negativ gefärbt. Goethes Äußerung impliziert augenfällig eine genetische Stufenfolge in der eigenen künstlerischen Entwicklung und zielt auf eine - in der Werkfassung der Italienischen Reise noch verdeutlichte351 Selbstperiodisierung. Schon gut einen Monat früher hatte er dem Herzog diesbezüglich berichtet: Ich werde täglich fleißiger und treibe die Kunst, die eine so ernsthafte Sache ist, immer ernsthafter. Wenn ich nur über einige Stufen im Machen hinwegkönnte. Im Begriff, und zwar im ächten, nahen Begriff bin ich weit vorgeruckt. Da ich doch einmal ein Künstler bin; so wird es viel zu meiner Glückseligkeit und zu einem künftigen fröhlichen Leben zu Hause beytragen, wenn ich mit meinem kleinen Talente nicht immer zu kriechen und zu krabeln brauche, sondern mit freyem Gemüthe, auch nur als Liebhaber, arbeiten kann. 352
Auch hier begegnet die Vorstellung von einer Stufenfolge in der künstlerischen Entwicklung, wobei Goethe zudem noch zwischen dem aktiven künstlerischen »Machen« und dem eher passiven klassifikatorischen »Begriff« unterscheidet. Im »ächten, nahen Begriff«, den er keineswegs bloß als theoretische Konstruktion verstanden wissen will, ist Goethe demnach Anfang Juli 1787 schon recht »weit vorgeruckt«, was ihn aber als Künstler noch nicht befriedigt. Deutlich wird wieder die tendenziell produktionsästhetische Optik Goethescher Theoriebildung, die sich ebenso in seiner Konzeption der tragenden Kategorien des Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl als verschiedene »Arten, Kunstwerke hervorzubringen« manifestiert.353 Jetzt, in der klassischen Zeit, sind Goethes kunsttheoretische Bemühungen freilich weitaus stärker auf das Kunstwerk selbst ausgerichtet als noch in der subjektivistischen Sturm und Drang-Ästhetik.354 Die von Wanda Kampmann inaugurierte typologische Deutung schließlich versteht selbst die in Goethes Essay skizzierte »Entwicklung [!] der Kunst« als »nicht historisch, sondern systematisch gedacht«.355 »Systematisch von großer Bedeu351
Vgl. im Zweiten römischen Aufenthalt Goethes noch pointiertere Formulierung im Eintrag zu eben diesem 11.8.1787: »Ich habe alsdann eine Hauptepoche zurückgelegt, rein geendigt und kann wieder anfangen und eingreifen wo es nötig ist. Ich fühle mir einen leichtern Sinn und bin fast ein andrer Mensch als vorm Jahr.« (MA 15, 464) Dazu der Kommentar Beyers (MA 15, 1109). Einschlägig auch folgende Einträge: 27.10.1787: »Es geht mit mir jetzt eine neue Epoche an.« (MA 15, 505) 1.2.1788: »Es ist ein wunderlich Ding, so ein Summa Summarum seines Lebens zu ziehen.« (MA 15, 608) 352 An Herzog Carl August, 6./7.7.1787 (WA IV, 8, 235f). 353 MA 3.2, 189; Hervorhebung v. Verf. Vgl. Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 207; Kestenholz, Emphase des Stils, S. 42. 354 Vgl. IV.2. Genauere Einzelheiten zur ontogenetischen wie auch spezifisch zur autobiographischen und kunstpolitischen Dimension von Goethes begrifflichen Kategorien werden unten in den einschlägigen Abschnitten verhandelt. 355 Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 207.
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tung« ist auch für Paul Menzer der Text, den er als einen frühen Versuch Goethes vorstellt, »kunstgeschichtliche [?] Begriffe zu schaffen, um die unermeßliche Fülle der Kunst, wie er sie in Italien geschaut hatte, zu ordnen und zu bewerten«.356 Als Ausgangspunkt einer solchen typologischen Betrachtung kann die (kürzere) zweite Hälfte des knappen Abschnitts zum >Styl< dienen: Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruhet, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Styl auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern es uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Dingen zu erkennen.357
Die unterschiedlichen künstlerischen Verfahrensweisen erscheinen in dieser Passage weniger als diachrone Entwicklungstufen, sondern eher als synchron nebeneinander betrachtete Kategorien. Claudia Kestenholz plädiert sogar für die These, daß »es sich nicht um eine kunsttheoretische Skizze, sondern um ein begriffstheoretisches System handelt«.358 Stützen kann sich eine solche Lesart auf Goethes explizite Charakterisierung seiner Begriffstrias als »drei hier [!] von einander geteiltef ] Arten, Kunstwerke hervorzubringen«, die an sich jedoch »genau mit einander verwandt« seien und wovon »eine in die andere zart sich verlaufen kann«.359 Goethes dreistufiges Modell vollziehe - so Kestenholz - eine »idealtypische Differenzierung«, unterscheide sich zugleich aber deutlich von der (auf der Vorstellung eines scharfen Antagonismus beruhenden) dialektischen Logik im Sinne Hegels.360 Dieser Umstand nun stehe keinesfalls im Widerspruch zur Beobachtung, daß »das konzeptuelle Skelett trotz der Differenz einem dialektischen durchaus vergleichbar ist. Wir haben hier den vielleicht einzigartigen Fall eines in der Konzeption der Begriffe dialektischen Modells, das die Grundkategorie und Grundoperation aller Dialektik, die Negation systematisch ausspart.«361 Die solcherart ausgesparte, auf einem komplementären Antagonismus beruhende Negation hat Goethe übrigens selbst seinem (in erster Linie naturwissenschaftlichen) Konzept von Polarität und Steigerung eingeschrieben;362 als Gedankenfigur wäre sie seinem Denken bei einer entsprechenden Absicht also keineswegs völlig fremd gewesen. 356
Menzer, Goethes Ästhetik, S. 69. MA 3.2, 188. 358 Kestenholz, Emphase des Stils, S. 42. 359 MA 3.2, 189. 360 Kestenholz, Emphase des Stils, S. 42f: »das Hin-und-her-Geworfenwerden zwischen den Extremen des bedingt Falschen, das für jede Erhebung zur souveränen Beruhigung über den Gegensätzen notwendig ist, ist hier ein mählicher Uebergang und ein mählicher Aufstieg. Der Künstler lernt nach und nach, er lernt nicht aus seinen Fehlern: Das System der Kunst-Arten stellt Normen auf, ohne sie negativ abzugrenzen, sie begrenzen sich gegenseitig - restlos.« 361 Ebd., S. 43. 362 Vgl. dazu Jörn Göres, Polarität und Harmonie bei Goethe. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik Hg. v. Karl Otto Conrady. Stuttgart 1977, S. 93-113; jetzt auch Peter Huber, Polarität/Steigerung. In: GHb Bd. 4/2 (1998), S. 863-865. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 91, meint, die drei >Typen< des Aufsatzes von 1789 seien »ganz gewiß in Goethes Sinn als Polarität und Steigerung zu begreifen«. 357
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Indem Kestenholz nun mit ihrer begrifflich rigorosen Analyse gedanklich direkt an die beachtenswerten Ergebnisse Kampmanns anschließt, 363 hebt sie die Forschungsdiskussion - die sich bislang meist mit dem bloßen Verweis auf den quasi dialektischen Charakter von Goethes Begriffsarchitektur begnügt hat 364 - auf ein neues Niveau. Denn die Hegeische Dialektik stand Goethe noch gar nicht zur Verfügung, auch sein Konzept von Polarität und Steigerung war noch nicht ausformuliert, 3 6 5 und die Beziehung der drei begrifflichen Kategorien zueinander ist tatsächlich nicht im strengen Sinn dialektisch konzipiert, wie aus dem erläuternden zweiten Teil des Essays hervorgeht: Wenn sich nämlich der >einfache Nachahmen durch konzentrierte und fortgesetzte Anstrengung >einen Styl bilden< kann, dann impliziert das zwar, daß die >einfache Nachahmung< im >Styl< sozusagen aufgehoben und mithin synthetisch enthalten ist; die Progression von der niedrigsten in die höchste Stufe muß aber offenbar keineswegs notwendig antithetisch über die >Manier< verlaufen, sondern kann - so zumindest die Suggestion des Textes - auch direkt geschehen. Mit seiner Bestimmung, daß die >einfache Nachahmung< »also gleichsam im Vorhofe des Styls [arbeitet]«, 366 legt Goethe diese Vorstellung sogar nochmals ausdrücklich nahe, wohingegen er die >Manier< an dieser Stelle gar nicht berührt. Auf dem Weg von der e i n f a c h e n Nachahmung< in den >Styl< kann indes ebenso die >Manier< - gewissermaßen als Zwischenstufe - durchschritten werden; Goethe hebt ja ebenfalls explizit hervor, »daß sie im höchsten Sinne und in der reinsten Bedeutung des Worts ein Mittel zwischen der einfachen Nachahmung und dem Styl sein könne«. 3 6 7 Angesichts solch verwirrender Verhältnisse plädiert Joachim Wohlleben für ein Verständnis der »Dreiergruppierung nicht als Pyramide, sondern als Kreis«: »Die drei Kunstweisen berühren sich und können auseinander hervorgehen.« 3 6 8 Diese Deutung wirkt indes nur bedingt schlüssig, denn die unan-
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Vgl. Kampmann, Goethes Kunsttheorie, S. 208: »Die Gegensätzlichkeit, die sich nicht ausschließt, sondern sich in stetiger Wechselwirkung steigert, ergibt ein Neues, Höheres, den Stil. Während jeder eingeschränkten Auffassungsform die Welt ein bestimmtes Gesicht zuwendet, so daß wir es mit einer deutlichen Wechselbeziehung von Subjekt und Objekt zu tun hatten, begegnen sich hier beide, vereinigen sich und heben sich auf.« 364 Vgl. Menzer, Goethes Ästhetik, S. 69; Müller, Goethes Italienerlebnis, S. 147; Sprengeis Kommentar (BdK 3, 601). Wenn auch nicht wirklich ablehnend, so doch differenzierter gegenüber einer Deutung der Goetheschen Begriffsarchitektur als »triadische Bildung nach dem Muster des deutsch-idealistischen Dreischritts« dagegen Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 91 f. 365 Nach Huber, Polarität/Steigerung, S. 864, »dürfte das Konzept der Polarität erstmals 1791 in den Beiträgen zur Optik, Erstes Stück, § 72 formuliert worden sein« (vgl. MA 4.2, 290). Die Einleitung in die Propyläen erwähnt es dann im weiteren ästhetischen Zusammenhang, nämlich hinsichtlich der (erst 1810) fertiggestellten Goetheschen Farbenlehre (vgl. MA 6.2, 16). »In späteren Jahren wird G[oethes] Polaritätskonzept durch den von Schelling übernommenen Begriff der Steigerung erweitert«: Huber, ebd. 366 MA 3.2, 190. 367 MA 3.2, 190. 368 Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 92. Wohl in Anlehnung daran spricht Friedmar Apel in seinem Kommentar von einer »triadisch-kreisförmige[n] Modellvorstellung« Goethes, »die er immer wieder gem benutzt hat, so z.B. in den Noten zum 339
gefochtene Spitzenstellung des >Styls< steht in Goethes Text außer Frage; eine vom >Styl< ausgehende Entwicklung in Richtung einer der beiden anderen »Kunstweisen« scheint völlig unvorstellbar. Freilich ist der Weg von der >Manier< in den >Styl< nicht so deutlich ausgeführt wie der von der einfachen Nachahmung< ausgehende. Hierin mag man vielleicht schon eine gewisse Distanzierang des klassischen Goethe von der subjektivistischen Kategorie der >Manier< sehen; zunächst handelt es sich aber um eine bloße Vermutung, die noch einer genaueren Überprüfung bedarf. Unentschieden muß - zumindest vorerst - zudem die Frage bleiben, ob und inwiefern auch die >Manier< im >Styl< synthetisch enthalten und aufgehoben ist; Goethes Text gibt Uber die jeweils individuelle Komponente des >Styls< nämlich keine näheren Auskünfte, jedenfalls keine expliziten.369 Ebenfalls höchst ungenau informiert der Text über den ins Auge gefaßten allgemeinen Objektbereich, auf den die theoretische Begrifflichkeit abzielt. Zu Beginn des zweiten Teils heißt es zwar scheinbar präzise: »Wir [...] werden, so oft von bildender Kunst [!] die Rede ist, Gelegenheit haben uns dieser Blätter zu erinnern.«370 Doch konnten sich die Interpreten nicht einmal darauf einigen, ob der projektive Satz auf sämtliche theoretische Bemühungen Goethes zumindest der klassischen Phase bezogen werden kann371 - so etwa auf die Novelle Der Sammler und die Seinigen (1799) oder auf die kommentierte Übersetzung Diderots Versuch über die Malerei (1799), in denen die hier erstmals aufgeworfenen Probleme weiter diskutiert werden - oder ob er sich auf die Auszüge aus einem Reise-Journal als »Rahmen der Publikation beschränkt«.372 Des weiteren wurde keinerlei Einigkeit darüber erzielt, ob Goethes Überlegungen den Künsten allgemein gelten oder ob sie sich bloß auf die bildende Kunst im heutigen Sprachgebrauch beziehen: Während nämlich Kampmann, Pyritz, Müller und Link-Heer den Geltungsanspruch der Goetheschen Typologie auf sämtliche Künste ausweiten,373 beschränken Friese, Kestenholz und Leistner die intendierte Reichweite der triadischen Begriffsarchitektur mit Blick auf Goethes Formulierung konsequent auf den engeren Bereich der bildenden Kunst.374 Doch selbst wenn dies zutrifft, wenn also die »sichtbaren und greiflichen Gestalten« (d.i. Malerei und Plastik) den alleinigen Bezugspunkt der hier entwickelten Typologie abgeben, kann die zentrale Bedeutung des Essays - mit seinen weit über den singulären Anlaß und die konkreten Beispiele hinausDivan zur Beschreibung des Verhältnisses der drei >Naturformen der DichtungIntention< und >MethodeManier< ausdrücklich eine »Art der Nachahmung«, und selbst der >Styl< beruht zweifelsohne auf Naturnachahmung,388 ja wurde zurecht als »höchste Form der künstlerischen Aneignung der Natur« bezeichnet.389 Dementsprechend hat Goethe seine erste Kategorie nicht grundlos als einfache Nachahmung spezifiziert. Im großen und ganzen ergibt sich somit eine gewisse Analogie der Goetheschen Begriffsarchitektur zur Dreistufung der Nachahmung, mit der Karl Philipp Moritz seine Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen einleitet.390 Goethe selbst hat diese Dreistufung in seiner Anzeige von Moritzens Abhandlung zusammengefaßt: Zuvörderst entwickelt er [der anonyme »Verfasser« Moritz, NCW] den Begriff der Nachahmung durch ein Beispiel. Er nimmt an, Socrates werde von einem Toren, einem Schauspieler und einem Weisen nachgeahmt. Der Tor ä f f t dem Socrates nach, der Schauspieler parodiert ihn, der Weise ahmt ihm nach. Nachahmen, im edlen moralischen Sinn wird mit den Begriffen Nachstreben und Wetteifern fast gleich bedeutend.391
Die ersten beiden Kategorien Moritzens entsprechen hier als Nachahmung der äußeren Natur noch eher der traditionellen Vorstellung von Mimesis, während das »Nachahmen, im edlen moralischen Sinn«, tendenziell eine entwickelte Form der imitatio darstellt. Diese Dimension des Nachahmungsbegriffs spielt freilich in Goethes Gedankengang keine tragende Rolle, worauf noch zurückzukommen sein wird. Goethes eigene Ausführungen zu seiner ersten und mithin >primitivsten< Kategorie, der einfachen Nachahmung der NaturStyls< erweist sich u.a. darin, »daß sie [...] die verschiedenen charakteristischen Formen [...] nachzuahmen weiß« (Hervorhebung v. Verf.). Freilich sollte man nicht aus den Augen verlieren, daß der Begriff >Nachahmung< im 18. Jahrhundert häufig auch als Synonym fur künstlerische Praxis im allgemeinen gebraucht wurde; zur Begriffsverwendung im Sinn von >DichtungPoesie< vgl. Petersen, Nachahmung der Natureinfache< und höchste Form aufgeteilt«. 390 Vgl. MW 2, 55lf. Dagegen Müller, Goethes Italienerlebnis, S. 146. 391 MA 3.2, 271. 388
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Wenn ein Künstler, bei dem man das natürliche Talent voraussetzen muß, in der frühsten Zeit, nachdem er nur einigermaßen Auge und Hand an Mustern geübt, sich an die Gegenstände der Natur wendete, mit Treue und Fleiß ihre Gestalten, ihre Farben, auf das genaueste nachahmte, sich gewissenhaft niemals von ihr entfernte, jedes Gemälde das er zu fertigen hätte wieder in ihrer Gegenwart anfinge und vollendete; ein solcher würde immer ein schätzenswerter Künstler sein; denn es könnte ihm nicht fehlen daß er in einem unglaublichen Grade wahr würde, daß seine Arbeiten sicher, kräftig und reich sein müßten. Wenn man diese Bedingungen genau überlegt, so sieht man leicht, daß eine zwar fähige aber beschränkte Natur, angenehme aber beschränkte Gegenstände, auf diese Weise behandlen könne.392
Folgt man diesen Worten, dann scheint das Naturell des »einfachen Nachahmers< trotz alles legitimatorischen Aufwands - recht schlicht zu sein: Zwar ist für die Praxis der »einfachen Nachahmung der Natur< durchaus ein »natürliches Talent< vonnöten, doch wird diese ontogenetisch »in der frühsten Zeit« angesiedelte künstlerische Verfahrensweise in ihrer Dignität gleich wieder durch die Bestimmung eingeschränkt, ein Künstler könne sie schon ausüben, wenn »er nur einigermaßen Auge und Hand an Mustern geübt«. So überrascht es auch keineswegs, daß Goethe den dergestalt charakterisierten Künstler abschließend als »zwar fähige aber beschränkte Natur« klassifiziert. Ausschlaggebend für die Begriffsbezeichnung ist die direkte Orientierung an den »Gegenständen der NaturWahrheit< der künstlerischen Produktion. Die vorzüglichen Gegenstände dieser eher bescheidenen, aber dennoch geachteten künstlerischen Verfahrensweise bezeichnet Goethe als »angenehm aber beschränkt^ in der Folge wird er hierzu noch konkreter: Solche Gegenstände müssen leicht und immer zu haben sein; sie müssen bequem gesehen und ruhig nachgebildet werden können [...]. Diese Art der Nachbildung würde also bei sogenannten toten oder stilliegenden Gegenständen, von ruhigen, treuen, eingeschränkten Menschen in Ausübung gebracht werden. Sie schließt ihrer Natur nach eine hohe Vollkommenheit nicht aus.394
Das adäquate künstlerische Genre des »einfachen Nachahmers< ist demnach das Stilleben, wie auch die Beispiele aus dem zweiten Teil des Essays belegen.395 Die abschließende Qualifizierung der »einfachen Nachahmung der Natur< im ersten Teil kennzeichnet diese als einer »hohen Vollkommenheit zwar durchaus fähig, 392
MA MA 394 MA 395 Vgl. 393
344
3.2, 3.2, 3.2, MA
187. 187. 187. 3.2, 189.
doch zögert Goethe nicht, durch die abermalige Klassifizierung der entsprechenden Künstler als >ruhige, treue, eingeschränkte Menschen< deren künstlerische Verfahrensweise - bei allem Wohlwollen - vor einer Überschätzung zu bewahren. Indem er überdies feststellt, »das Gemüt, das sich mit einer solchen Arbeit beschäftigt«, müsse »still, in sich gekehrt, und in einem mäßigen Genuß genügsam sein«, 396 macht er deutlich, daß es sich hier keineswegs um ein Phänomen des Genialen handelt. Äußerst freundlich wird der Typus des einfachen Nachahmers< dann im erläuternden zweiten Teil des Aufsatzes gezeichnet: Die einfache Nachahmung leicht faßlicher Gegenstände, (wir wollen hier zum Beispiel Blumen und Früchte nehmen) kann schon auf einen hohen Grad gebracht werden. Es ist natürlich, daß einer, der Rosen nachbildet, bald die schönsten und frischesten Rosen kennen und unterscheiden, und unter Tausenden die ihm der Sommer anbietet, heraussuchen werde. Also tritt hier schon die Wahl ein, ohne daß sich der Künstler einen allgemeinen bestimmten Begriff von der Schönheit der Rose gemacht hätte. Er hat mit faßlichen Formen zu tun; alles kommt auf die mannichfaltige Bestimmung und die Farbe der Oberfläche an. Die pelzige Pfirsche, die fein bestaubte Pflaume, den glatten Apfel, die glänzende Kirsche, die blendende Rose, die mannigfaltigen Nelken, die bunten Hilpen, alle wird er nach Wunsch im höchsten Grade der Vollkommenheit ihrer Blüte und Reife in seinem stillen Arbeitszimmer vor sich haben; er wird ihnen die günstigste Beleuchtung geben; sein Auge wird sich an die Harmonie der glänzenden Farben, gleichsam spielend, gewöhnen; er wird alle Jahre diesselben Gegenstände zu erneuern wieder im Stande sein, und durch eine ruhige nachahmende Betrachtung des simplen Daseins, die Eigenschaften dieser Gegenstände ohne mühsame Abstraktion erkennen und fassen: und so werden die Wunderwerke eines Huysums, einer Rachel Ruysch entstehen, welche Künstler sich gleichsam über das Mögliche hinüber gearbeitet haben.397
Angesichts des zuvor Gesagten scheint die Rede vom »hohen Grad«, auf den die >einfache Nachahmung< gebracht werden könne, durchaus bemerkenswert. Goethe begründet dieses überraschend positive Werturteil mit dem »höchsten Grade der Vollkommenheit«, der allein schon den Gegenständen gelungener Stilleben bei kluger »Wahl« der nachzuahmenden Objekte und deren günstiger »Beleuchtung« innewohnt; entsprechend bezeichnet er die >primitiv-mimetischen< Gemälde zweier ausgewählter Niederländer achtungsvoll als »Wunderwerke«, in denen sich die Künstler »gleichsam über das Mögliche hinüber gearbeitet haben«. Es wird noch zu klären sein, welche Gründe Goethe gehabt haben mochte, die >einfache Nachahmung der Natur< an dieser Stelle so offensichtlich aufzuwerten. Der Vergleich mit anderslautenden Äußerungen Goethes mag indes erst einmal dazu beitragen, diesen Sachverhalt noch deutlicher zu konturieren. Kritischer betrachtet erscheint die >einfache Nachahmung der Natur< nämlich in zahlreichen anderen verstreuten Bemerkungen Goethes der italienischen und nachitalienischen Zeit: Daß ihm Wiedererkennbarkeit im Bereich der bildenden Kunst vor allem als Pensum des >primitiven< Geschmacks galt, demonstriert etwa seine Beschreibung des die Piazza Pretoria in Palermo dominierenden Monumental396 397
MA 3.2, 187. MA 3.2, 189.
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brunnens aus dem 16. Jahrhundert.398 An diesem »von dem ganzen Inselvolke angestaunte[n] Brunnen«, den der Goethe der Italienischen Reise in seinem Eintrag zum 5. April 1787 als paradigmatisches Exempel für die Entfernung der sizilianischen Baukunst »vom guten Geschmack« anführt, kann er außer der »Fähigkeit natürliche Dinge nachzuahmen« wenig Positives erkennen. Doch selbst die genannte kleine Konzession, die sich dem Umstand verdankt, daß auf dem Brunnen zumindest die »Tierköpfe gut genug gearbeitet sind«, führt letztlich bloß zu einer wenig schmeichelhaften Feststellung: »Dadurch wird freilich die Bewunderung der Menge erregt, deren ganze Kunstfreude nur darin besteht, daß sie das Nachgebildete mit dem Urbilde vergleichbar findet.«399 Die Behauptung einer Affinität des >primitiven< Kunstgenusses zur Forderung unmittelbarer Wiedererkennbarkeit war in der klassizistischen Kunsttheorie längst topisch400 und gilt noch heute als Signum einer populären Ästhetik.401 Ähnlich hatte sich der künstlerisch ungebildete junge Goethe auch selbst verhalten, wenn man seinem späteren Bericht über den Besuch der Dresdner Galerie (Februar/März 1768) während der Leipziger Studienzeit glauben darf. Während er sich da nämlich äußerst intensiv mit der Gemäldegalerie, insbesondere mit den dort ausgestellten niederländischen Meistern befaßte, hatte er für die antiken Skulpturen und sogar für die italienische Renaissancemalerei nur geringes Interesse.402 Begründet wird das im Rückblick folgendermaßen: »Was ich nicht als Natur ansehen, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten Gegenstand vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam. Der materielle Eindruck ist es, der den Anfang selbst zu jeder höheren Liebhaberei macht.«403 398
Vgl. dazu die Erläuterungen von Andreas Beyer (MA 15, 1016f). Italienische Reise, 2. Teil (MA 15, 292). 400 Vgl. etwa schon Giovanni Pietro Bellori in seiner berühmten (und unten ausführlicher diskutierten) Akademierede L'Idea del Pittore, dello Scvltore e dell'Architetto. Scelta dalle Bellezze naturali superiore alla Natura. In: G. P. B., Le Vite de' Pittori, Scvltori et Architetti moderni. Tl. 1. Rom 1672 (Nachdruck Rom 1931), S. 3-13, hier 11: »il popolo referisce il tutto al senso dell'occhio: Loda le cose dipinte dal naturale, perche è solito vederne di si fatte«. Dazu die (relativ freie) deutsche »Übertragung« von Kurt Gerstenberg in Giovanni Pietro Bellori, Die Idee des Künstlers. Hg. v. K. G. Berlin 1939, S. 22: »Das Volk [...] bringt alles nur mit seiner Sinnenlust in Verbindung. Es lobt alles, was naturgetreu gemalt ist, weil es gewöhnlich nur darauf sieht, wie so etwas ausgeführt wird«. 401 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 64. 402 Vgl. Dichtung und Wahrheit, 8. Buch: »Die wenigen Tage meines Aufenthalts in Dresden waren allein der Gemäldegalerie gewidmet. Die Antiken standen noch in den Pavillons des großen Gartens, ich lehnte ab sie zu sehen, so wie alles Übrige was Dresden köstliches [sie] enthielt; nur zu voll von der Überzeugung, daß in und an der Gemäldesammlung selbst mir noch Vieles verborgen bleiben müsse. So nahm ich den Wert der italienischen Meister mehr auf Treu und Glauben an, als daß ich mir eine Einsicht in denselben hätte anmaßen können.« (MA 16, 347) 403 MA 16, 347. Dazu Maisak, Natur-Geßhl - Genie, S. 224. Schon mehr in die Richtung der »Manier« weist dagegen die Selbstinterpretation, welche Goethe im selben Zusammenhang über »das Entzücken« äußert, »das ich bei Stücken äußerte, wo der Pinsel über die Natur den Sieg davon trug: denn solche Dinge waren es vorzüglich, die mich an sich 399
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In den 1796 entstandenen und 1808 erstmals gedruckten Briefen aus der Schweiz. Erste Abteilung legt Goethe diese noch unausgebildete ästhetische Disposition dann der tendenziell pathologisierten, zumindest aber als problematisch gezeichneten Figur des Werther in den Mund: »Du siehst daher, daß meine Freude, meine Neigung bis jetzt nur solche Kunstwerke [sie] gelten konnte, deren natürliche Gegenstände mir bekannt waren, die ich mit meinen Erfahrungen vergleichen konnte.« 404 Gegen eine solche >naturalistische< Position formuliert Goethe dann zwei Jahre später in seiner programmatischen Einleitung (1798) in die Propyläen scharf und unmißverständlich: »Der echte gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der Gesetzlose, der einem blinden Trieb folgt, nach Naturwirklichkeit, durch jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihrer niedrigste Stufe gebracht.« 405 Als Erläuterung hierzu mag eine entsprechende Passage aus Goethes Kommentar zu seiner Übersetzung (1799) der ersten beiden Kapitel von Diderots Essais sur la peinture (1765) dienen: Der Künstler soll nicht so wahr, so gewissenhaft gegen die Natur, er soll gewissenhaft gegen die Kunst sein. Durch die treuste Nachahmung der Natur entsteht noch kein Kunstwerk, aber in einem Kunstwerke kann fast alle Natur erloschen sein, und es kann noch immer Lob verdienen.406 Im Unterschied zum Essay Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl ist »die treuste Nachahmung der Natur« hier nicht einmal eine wirklich künstlerische Kategorie, sondern allenfalls die conditio sine qua non für die Entstehung von >Kunstwahrheitbekannte Natur< des nicht-künstlerischen, d.h. >natürlichen< Objekts gehalten haben will. Der »Wert der Kunst« wäre ihm demnach durch die in beifalliger Absicht vorgenommene »Vergleichung« erhöht erschienen. 404 MA 4.1, 638f. Die nachgelieferten Sujets belegen freilich, daß Werther terminologisch nicht klar zwischen »einfacher Nachahmung der Natur< und >Manier< unterscheidet: »Ländliche Gegenden, mit dem was in ihnen lebt und webt [Manier, NCW], Blumen und Fruchtstücke [einfache Nachahmung, NCW], Gotische Kirchen [Manier, NCW], ein der Natur unmittelbar abgewonnenes Portrait [einfache Nachahmung, NCW], das könnt' ich erkennen, fühlen und, wenn du willst, gewissenmaßen beurteilen.« Manifest wird die konzeptuelle Vermischung im Text von 1796 auch in den folgenden Worten, die in ihrer Tendenz eher auf die >Manier< als auf die »einfache Nachahmung< verweisen: »Geistreiche gefühlte Kunstwerke sind es, die mich entzücken. Das kalte Wesen, das sich in einen beschränkten Zirkel einer gewissen dürftigen Manier, eines kümmerlichen Fleißes einschränkt, ist mir ganz unerträglich.« Was hier polemisch als »dürftige Manien figuriert, hätte Goethe 1789 wohl wiederum »einfache Nachahmung der Natur< genannt. 405 MA 6.2, 20. 406 Diderots Versuch über die Malerei, 1. Kap. (MA 7, 541). 407 Vgl. dazu Der Sammler und die Seinigen, 8. Brief, 1. Abt.: »Man kann dieses Talent als die Base der bildenden Kunst ansehen. Ob sie davon ausgegangen, mag noch eine Frage bleiben. Fängt ein Künstler damit an, so kann er sich bis zu dem höchsten erheben, bleibt er dabei kleben, so darf man ihn einen Kopisten nennen und mit diesem Wort gewissermaßen einen ungünstigen Begriff verbinden. [...] Der Nachahmer verdoppelt nur das 347
manifesten kategorialen Trennung zwischen Kunst und Natur (ebenso wie mit dem möglichen Erlöschen der Natur im Kunstwerk) auf sich hat, bedarf freilich noch einer eingehenderen Diskussion.408 Ähnlich wie in der bildenden Kunst präsentiert sich dem klassischen Goethe die Nachahmungsproblematik auch im Blick auf das Theater. Einschlägig dafür ist der kleine Essay Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt, der im November 1788 ebenfalls in den Auszügen aus einem Reise-Journal erschien. Als Ziel der theatralischen Darstellung bestimmt Goethe hier in Übereinstimmung mit der Lessingschen Dramaturgie die Erzeugung von »Illusion«; die spezifische »Ursache« für sein selbst erlebtes und ihm vordem »noch unbekanntes Vergnügen« an den »römischen Komödien« bestehe nun aber darin, »daß bei einer solchen Vorstellung, der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst, immer lebhaft blieb, und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde«.409 Die somit erzielte >selbstbewußte Illusion< erhält das Wissen um den Kunstcharakter des Dargestellten also stets aufrecht, der kategoriale Unterschied zwischen entwickelter Kunst und unbehandelter Natur bleibt dem Zuschauer gewärtig, was Goethe in der Folge noch weiter erläutert: Wir Teutschen erinnern uns, durch einen fähigen jungen Mann, alte Rollen bis zur größten Täuschung vorgestellt gesehen zu haben, und erinnern uns auch des doppelten Vergnügens das uns jener Schauspieler gewährte. Eben so entsteht ein doppelter Reiz daher, daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern Frauenzimmer vorstellen. Der Jüngling hat die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen und Betragen studiert; er kennt sie und bringt sie als Künstler wieder hervor; er spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur. Wir lernen diese dadurch nur desto besser kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat, und uns nicht die Sache, sondern das Resultat der Sache vorgestellt wird.410
Zentral ist hier der Unterschied zwischen einer beliebigen individuellen Erscheinung der äußeren Natur und der >überdachten< Darstellung ihres >Resultatsselbstbewußte Illusion< erst wirklich ästhetisch genießbar: »man empfand hier das Vergnügen, nicht die Sache selbst, sondern ihre Nachahmung zu sehen, nicht durch Natur sondern durch Kunst unterhalten zu werden, nicht eine Individualität sondern ein Resultat anzuschauen.«413 Ganz anders ausgerichtet schien dagegen die künstlerische Fertigkeit des seinerzeit berühmten französischen Schauspielers Aufresne (d.i. Jean Rival), die Goethe später im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit schildert: »Er war ein sehr geübter Künstler, und von den wenigen, die das Künstliche ganz in die Natur und die Natur ganz in die Kunst zu verwandeln wissen.« Die harsche Kritik folgt freilich auf dem Fuß: »Diese sind es eigentlich, deren mißverstandene Vorzüge die Lehre von der falschen Natürlichkeit jederzeit veranlassen.«414 Und das gilt selbstredend nicht allein von der Leistung eines einzelnen Schauspielers, sondern ebenso von der Anlage ganzer Dramen, wie er am Beispiel »eines kleinen aber merkwürdig Epoche machenden Werks« erläutert: es handelt sich um Rousseaus Melodram Pygmalion (1762), das der junge Goethe nicht zuletzt aufgrund der darin vermittelten »Wahrheit« mit großer Begeisterung aufgenommen hatte.415 Jetzt - nach den Erfahrungen mit dem römischen und später mit dem Weimarer Theater - heißt es dagegen äußerst kritisch: Viel könnte man darüber sagen: denn diese wunderliche Produktion schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen. Wir sehen einen Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee außer sich, kunstgemäß dargestellt und ihr ein höheres Leben verliehen zu haben; nein! sie soll auch in das irdische Leben zu ihm herabgezogen werden. Er will das Höchste was Geist und Tat hervorgebracht, durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zerstören.416
Der hier geschilderte Rückfall von der künstlerischen Nachahmung in den »gemeinsten Akt der Sinnlichkeit« illustriert die aus dem unentschiedenen >Schwanken< zwischen Natur und Kunst resultierenden Gefahren, denen Goethe zufolge etwa Heinses zeitgenössischer italienischer Künstlerroman Ardinghello erliegt.417 412
MA 3.2, 174; es geht im konkreten Beispiel um den »Ausdruck jener unbezwinglichen Kälte, jener süßen Empfindung der Rache, der übermütigen Schadenfreude« an einer Frau. An Goethes Behauptung der alleinigen Darstellbarkeit dieser schlechten charakterlichen Eigenschaften durch einen männlichen Schauspieler aus Gründen der Schicklichkeit kritisiert Menzer, Goethes Ästhetik, S. 71, Goethe lasse hier »auf sein Urteil außerästhetische Motive einfließen«, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. 413 MA 3.2, 175. 414 MA 16, 522. Mit der »Lehre von der falschen Natürlichkeit« meint Goethe wohl die >falsche Lehre von der Natürlichkeit^ 415 Vgl. den Brief an Sophie v. La Roche, 19.1.1773: »Pygmalion ist eine treffliche Arbeit; soviel Wahrheit und Güte des Gefühls, soviel Treuherzigkeit im Ausdruck. Ich darfs doch noch behalten, es muss allen vorgelesen werden deren Empfindung ich ehre.« (WA IV, 2, 57) 4,6 MA 16, 522; dazu der Kommentar v. Peter Sprengel (MA 16, 1005). 417 Vgl. Glückliches Ereignis (MA 12, 86); mehr dazu in III. 1.4.
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Wahrhafte Kunst - so läßt sich daraus schließen - hat mit einem solchen kruden >Naturalismus< nichts gemein. Nicht von ungefähr gemahnt die Formel vom >Höchsten was Geist und Tat hervorgebracht an die absolute Wertung des >Stylseinfache Nachahmung der Natur< als tragende künstlerische Verfahrensweise ganz offensichtlich von selber aus. Wohl nicht zuletzt deshalb hat Goethe für seinen (1798 in der ersten Nummer der Propyläen erschienenen) Dialog Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke die Oper als zentrales Exempel seiner Argumentation gegen eine unmittelbare mimetische Orientierung am »Naturwirklichen« gewählt.418 Die weitgehende Abmilderung und Differenzierung des Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitspostulats ist dort besonders zwingend, wo ästhetische Wahrscheinlichkeit ohnehin ausschließlich als >innere Stimmigkeit< verstanden werden kann. 419 So fällt es dem »Anwalt des Künstlers« nicht schwer zu veranschaulichen, »daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte, noch dürfe, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine«.420 Dies gilt nicht allein für den Produzenten, sondern im gleichen Maße für den Rezipienten des Kunstwerks: »nur dem ganz ungebildeten Zuschauer kann ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen, und ein solcher ist dem Künstler auch lieb und wert, ob er gleich nur auf der untersten Stufe steht«.421 Der »Zuschauer«, zunächst paradigmatischer Anhänger der einfachen Nachahmung der NaturGesprächs< immer mehr mit der Meinung des »Anwalts« überein, was sich etwa in einem »sonderbaren Gedanken« niederschlägt, der die - zur Propyläen-Zeit noch gewachsene - antinaturalistische Grundhaltung Goethes exemplarisch zum Ausdruck bringt: »Sollte der ungebildete Liebhaber nicht eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es nur auch auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise genießen [zu] können.« 422 Es spricht durchaus für sich, daß Goethe diesen interrogativen Satz nicht mit. einem Fragezeichen versehen hat. Abschließend sei nochmals die überraschende Aufwertung der einfachen Nachahmung der Natur< im zweiten Teil des Essays von 1789 in Erinnerung gerufen, die vor dem Hintergrund zahlreicher geradezu konträrer Äußerungen des klassischen Goethe zur ästhetischen Natürlichkeits- und Wahrheitsproblematik besonders auffällt. Während in diesen Äußerungen meist das >Rohe und Gemeine< und damit auch die Anmaßung des primitiven >Naturalismus< hervorgehoben wird, erwies sich dort die positiv bewertete Naivität des einfachen Nachahmers< nicht 418
419 420 421 422
Vgl. den Brief Schillers an Goethe vom 2.11.1798, wo im Blick auf diesen Text und auf einschlägige Passagen aus der Einleitung in die Propyläen von »der unästhetischen Foderung des Naturwirklichen« die Rede ist (MA 8.1, 643) Urspiinglich hatte Goethe für sein >Gespräch< sogar den Titel Über das Natürliche in Kunstwerken vorgesehen (vgl. WA III, 2, 83). Vgl. MA 4.2, 91f. MA 4.2, 93. MA 4.2, 93. MA 4.2, 94.
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allein in der gemütvollen Hingabe an das dargestellte Objekt, sondern ebenso in der bescheidenen Beschränkung auf >naive< Gegenstände. Nur dadurch blieb er vor den Gefahren des platten Naturalismus und der kruden Sinnlichkeit gefeit, nur insofern bewegte er sich »gleichsam im Vorhofe des Styls«. 423 Bevor hier allerdings noch mehr über die genaueren Gründe für die erwähnte Aufwertung der einfachen Nachahmung< spekuliert wird, muß - kontrastiv dazu - die Rekonstruktion von Goethes Werturteilen zur >Manier< erfolgen. Erst dann nämlich ist eine gegenseitige Relationierung möglich. Wie die angeführten Beispiele belegen, konzipiert Goethe die >einfache Nachahmung der Natur< jedenfalls als künstlerische Verfahrensweise sowohl der bildenden als auch der darstellenden Kunst, wenn ihr Geltungsanspruch nicht sogar noch weit über diese beiden spezifischen Bereiche hinausgeht. Die verschiedenen Künste werden von Goethe in dieser Hinsicht selbst häufig vermischt beziehungsweise einander durchaus gleichgesetzt; so äußert er im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit eine ganz generelle Kritik an der einfachen Nachahmung< mit folgenden Worten: »Die höchste Aufgabe einer jeden [!] Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.« 424 Aus dieser Formulierung kann ex negativo geschlossen werden, daß die >einfache Nachahmung der Natur< als kritische Kategorie prinzipiell auf sämtliche Bereiche der Kunst übertragbar ist.
2.3 Goethes Konzept der Manier als Revokation der charakteristischen Kunst Der gegen Ende des 14. Jahrhunderts mit Cennino Cenninis Libro dell'arte (ca. 1390) in die italienische Kunsttheorie eingeführte, vorerst auf das Gebiet der bildenden Künste beschränkte (ursprünglich volkssprachliche) Begriff der Manier Citai, maniera, frz. manière, engl, manner) geriet mit der zweiten Auflage von Giorgio Vasaris Vite de' più eccellenti Pittori, Scultori et Architetti italiani (1550, 2 1568) ZU einem kunsttheoretischen »Schlüsselkonzept«, das fortan die Geschichte der Ästhetik begleiten sollte. 425 Zunächst bedeutete >Manier< »nichts weiter als >ArbeitsweiseStil< spricht; vgl. Ingrid Kreuzer, Studien zu Winckelmanns Aesthetik. Normativität und historisches Bewußtsein. Berlin 1959 (=Winckelmann-Ges. Stendal, Jahresgabe 1959), S. 29, Anm. 1.
351
eine »spezifische Bedeutung des Ausdrucks >maniera< im Sinne einer naturfremden oder naîurfernen Kunstübung«. 427 Diese zwei zentralen Begriffskomponenten, die neutral-beschreibende und die normativ-abwertende, erwiesen sich beide als äußerst tragfähig, was am Umstand ablesbar ist, daß ihre parallele Tradierung und Weiterentwicklung bis ans Ende des 18. Jahrhunderts (und darüber hinaus) verfolgt werden kann. 428 So stand die >Manier< im gleichnamigen kurzen Artikel (1774) aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste sowohl für die stets individuelle >Handschrift< des Künstlers im modernen Sinn von Individualstil 4 2 9 als auch - in »besondre[r] Bedeutung« - für »ein Verfahren in der Bearbeitung«, »das etwas unnatürliches und dem reinen Geschmak der Natur entgegenstehendes an sich hat« und mithin die reine Nachahmung kontaminiert. 430 Darüber hinaus fungierte die Binnendifferenzierung zwischen >großer< und >kleiner Manien als Parameter für die qualitative Bewertung von Künstlern.431 Der Anwendungsbereich des vordem ausschließlich in der Kunsttheorie gebräuchlichen Begriffs hatte sich mittlerweile freilich extrem ausgeweitet: Denn neben Beispielen aus Malerei (und Kupferstecherei) wurden nun auch Baumeister, Dichter, »Tonspieler«, Redner und Schriftsteller als Exempel angeführt. 432 Daraus läßt sich schließen, daß die >Manier< zu Goethes Zeiten als deskriptive und analytische Kategorie - ebenso wie die >Nachahmung der Natur< - generell in sämtlichen Bereichen der Kunst Anwendung fand. 433 427
Panofsky, Idea, S. 114f, Anm. 244. Vgl. Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens, S. 374—376; Link-Heer, Maniera, S. 94. 429 Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 357: »Das jedem Mahler eigene Verfahren bey Bearbeitung seines Werks kann überhaupt mit dem Namen seiner Manier belegt werden. Wie jeder Mensch im Schreiben seine ihm eigene Art hat, die Züge der Buchstaben zu bilden, und aneinander zu hängen, wodurch seine Handschrift von andern unterschieden wird: so hat auch jeder zeichnende Künstler seine Manier im Zeichnen und in andern zur Bearbeitung gehörigen Dingen, wodurch geübte Kenner das, was von seiner Hand ist, mit eben der Gewißheit erkennen, als man die Handschriften kennet.« 430 Ebd., S. 357f. »Wenn man von einem Gemälde sagt, es sey Manier darin, so will man damit sagen, es habe etwas gegen die Vollkommenheit der Nachahmung streitendes. Eigentlich sollte man bey jedem vollkommenen Werke der Kunst nichts, als die Natur, nämlich die vorgestellten Gegenstande sehen, ohne dabey den Künstler, oder sein Verfahren gewahr zu werden.« 431 Vgl. ebd., S. 359: »Man sagt von einem Künstler, er habe eine große Manier, wenn er sich begnüget, das, was wesentlich zur Darstellung des Gegenstandes gehört, in der höchsten Richtigkeit und Kraft in das Werk zu bringen, ohne den größten Reiß auf weniger wesentliche Theile anzuwenden: die kleine Manier liegt hauptsächlich darin, daß auf diese unwesentliche [sie] Theile große Sorgfalt gewendet wird, wodurch geschiehet, daß man bey dem Werke weit mehr den Künstler, seinen Fleiß, und seine auch auf Kleinigkeiten gehende, beynahe ängstliche Sorgfalt, als die Kraft des Gegenstandes selbst empfindet. [...] Diese kleine Manier ist das, vor dem der Künstler sich am meisten hüten sollte, weil es dem Werk allen Nachdruck benimmt.« Die >große< oder >hohe Manien begegnet indes auch als Synonym des >hohen StilsManier< in diesen Zitaten eher allgemein im Sinn von Eigenart, Denkart, Gewohnheit oder auch Arbeitstechnik gebraucht wird, 439 begegnet er in einem am 10. Februar 1787 abgegangenen commun à tous les beaux-arts. [...] Je ne cite ici que des peintres; mais la manière a lieu dans tous les genres, en scuplture, en musique, en littérature.« (DOC 16, 529 u. 531) Für die deutsche Diskussion sei auf eine Passage aus Johann Heinrich Mercks Aufsatz Heber die Landschaft-Mahlerey (1777) verwiesen, aus der ebenfalls die allgemeine Anwendbarkeit des Manier-Begriffs hervorgeht: »Manier soll und muß werden, aber spat [sie], wie bey Jean Jaques [sic] Rousseau, der im 40sten Jahre zu schreiben anfieng. Wo sie zu früh entsteht, ist's Selbstbetrug, verkleidete Armuth unter reichem Ameublement, und Fertigkeit ohne Wissenschaft. Wer viel nach dem Blatt und der Leinewand studiert hat, ist wie der, der viele Bücher gelesen hat. Er mag sie dann erst lesen, wenn er selbst was ist, und wenn er auf eignem Wege versucht hat, das zu werden, was jene Meister auf dem Ihrigen geworden sind.« (MeW 384) 434 Vgl. den (bereits zitierten) Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.8.1774: »Sieh Lieber, was doch alles schreibens anfang und Ende ist die Reproducktion der Welt um mich, durch die innre Welt die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigner Form, Manier, wieder hinstellt, das bleibt ewig Geheimniß Gott sey danck, das ich auch nicht offenbaaren will den Gaffern und Schwäzzern.« (WA IV, 2, 186f). 435 Vgl. etwa den Reisetagebuch-Einiiig aus Padua vom 26.9.1786, in dem Goethe Giovanni Battista Piazzettas (in der Kirche San Lorenzo aufgehängtes) Gemälde Enthauptung des Johannes folgendermaßen charakterisiert: »Ein recht brav Bild. Immer des Meisters Manier vorausgesetzt. [...] Der Gedanke ist neu und die Komposition frappant« (MA 3.1, 85). Zur Scuola del Santo heißt es ebd.: »Die Bilder von Titian wundemswürdig wie sie der alten deutschen holbeinischen Manier nah kommen. Von der sich jenseits der Alpen keiner erholt hat. Eine erstaunende alles versprechende Wahrheit ist drin.« (MA 3.1, 85f) 436 WA IV, 8, 66. 437 WA IV, 8, 216. Goethe fährt fort: »Wenn ich mich hier aufhielte wollte ich ein Tableau de Naples geben dessen man sich freuen sollte, es ist eben eine Stadt die man übersehen kann und doch so unendlich manigfaltig und so lebendig. Es müßte aber zugleich ein wohlüberdachtes gründliches Werck werden.« 438 WA IV, 8, 309. 439 Vgl. die ganz ähnliche Begriffsverwendung in Wilhelm Meisters Lehrjahren: 3. Buch, 12. Kap. (MA 5, 194, Ζ. 38); 4. Buch, 2. Kap. (MA 5, 208, Ζ. 33); 4. Buch, 4. Kap. (MA 5, 219, Ζ. 15); 4. Buch, 18. Kap. (MA 5, 273, Ζ. 5); 5. Buch, 4. Kap. (MA 5, 293, Ζ. 18) u. 8. Buch, 6. Kap. (MA 5, 558, Ζ. 36). 353
Brief an Charlotte von Stein als Bezeichnung jeweils bestimmter Schaffensphasen und der dazugehörigen ästhetischen Prinzipien in der individuellen stilistischen Entwicklung des Künstlers: Heute hab ich den ganzen Tag gezeichnet. Dieses Verlangen arbeitete schon lang in mir. [...] Wenn es glückt; so erhälst [sie] du durch Kränzen ein Dutzend kleine Stückgen Versuche in einer neuen Manier. Es kostet mich Aufpaßens biß ich meine kleinliche deutsche Art abschaffe.440 Die verschiedenen Beispiele aus den italienischen Briefen Goethes machen deutlich, daß sein Begriffsgebrauch zu dieser Zeit (wie übrigens auch später) keineswegs eindeutig festgelegt war, sondern je nach Kontext und konkretem Bedürfnis beim Schreiben variierte. 441 Besonders anschaulich zeigt das der Eintrag in das Reisetagebuch vom 27. September 1786; im Rahmen der Schilderung des Prato della Valle in Padua figuriert dort nämlich zunächst ein neutral-beschreibender Manier-Begriff mit historisch relativierender Funktion: »Die Statuen sind in einer modembraven Manier gemacht.« Doch direkt darauf folgend heißt es überraschenderweise im normativ-abwertenden Sinn des Terminus: »Wenig übermanieriert, einige recht natürlich].« 442 Diese Engführung der beiden unterschiedlichen Manier-Begriffe hat Goethe unter demselben Datum fast unverändert in die später redigierte Werkfassung der Italienischen Reise übernommen. 443 Generell fällt allerdings auf, daß das dezidiert pejorative >Manierierte< als Begriff zwar mehrmals in der Italienischen Reise,444 aber nur selten in den erhaltenen unmittelbaren Quellen aus Goethes italienischer Zeit begegnet. 440
WA IV, 8, 180; zur Datierung vgl. FA II, 3, 857 u. 1043. Ein vergleichbarer ManierBegriff figuriert im (schon zitierten) Brief an Herzog Carl August vom 11.8.1787, wo Goethe schreibt, daß er »gezwungen« sei, »[s]ich und [s]eine jetzige Denckart, [s]eine neuere Manier, nach [s]einer ersten zurückzubilden« (WA IV, 8, 241). Ähnlich im Zweiten römischen Aufenthalt, 6.2.1788: »Gleich sobald sie [Angelika Kauffmann] die Bilder im Hause hatte, fing sie an in einer neuen Manier zu malen, um zu versuchen wie man gewisse Vorteile jener Meister sich eigen machen könne.« (MA 15, 609f) Vgl. auch den Brief Goethes an Johann Heinrich Meyer vom 19.9.1788: »Sie werden mich sehr verbinden wenn Sie von Zeit zu Zeit an mich dencken und einige gezeichnete Köpfe in den verschiednen bekannten Manieren schicken. [...] Wäre der Raphaelische Johannes Kopf, den Tischbein besitzt nicht ein Gegenstand den Sie mir zeichnen möchten.« (WA IV, 9, 27f) Dazu der vorausgehende Brief Meyers an Goethe vom 22.7.1788: »Mein einziger Trost [...] ist der Johannes von Raffael, den Tischbein hat, der aus der sogenannten zweiten Manier dieses Meisters zu sein scheint und dessen Kopf insbesondere eins der schönsten und vortrefflichsten Dingen sein mag, die in der Welt sind.« (HABaG 1, 103) 441 Zum selben Bild führt auch die Übersicht der einschlägigen Stellen in der Italienischen Reise; vgl. MA 15, 70 (Ζ. 25f), 71 (Ζ. 5), 81 (Ζ. 6), 172 (Ζ. 10), 523 (Ζ. 22), 542 (Ζ. 6) u. 609 (Ζ. 39). 442 ΜΑ 3.1, 87. 443 Vgl. ΜΑ 15, 70: »Die Statuen sind in einer braven modernen Manier gemacht, wenige übermanieriert, einige recht natürlich, sämtlich im Costum ihrer Zeit und Würden.« 444 Vgl. hier neben der eben genannten Stelle den (im Original nicht erhaltenen!) Brief an Herder vom 17.5.1787, in dem Goethe ausführt, daß »alles Übertriebene, alles Manierierte, alle falsche Grazie, aller Schwulst« in der modernen Kunst aus der nunmehrigen Angewohnheit der Künstler resultiere, »den Effekt und auf dem Effekt« zu arbeiten (MA 15, 393). Erstaunlicherweise verwendet Goethe den Begriff nicht im naheliegenden Kon354
Wirklich konsequent findet sich Goethes normativer Manier-Begriff erst im Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl verwendet, in dessen systematischem Teil der Terminus stark individualistisch geprägt erscheint. Zur Natur des solcherart bezeichneten Künstlers gibt Goethe nur recht allgemeine Hinweise, was daraus resultiert, daß hier allererst die individuelle Komponente künstlerischen Schaffens zum Tragen kommt; 445 die weitaus stärker entwickelte eigene Kreativität des >ManieristenManier< mit dem Adjektiv »gewöhnlich« einleitet, dann gibt er einen Hinweis darauf, daß die ontogenetische Entwicklung vom einfachen Nachahmer der Natur< zum >Manieristen< zu den üblichen Begleiterscheinungen des künstlerischen Reifeprozesses gehört. (Die Prozeßhaftigkeit erscheint dabei durch das Verbum »wird« angedeutet.) In den abschließenden Wendungen dieser Passage klingen zwar erstmals manierkritische Töne an, mit denen Goethe die Gefahr einer ungebührlichen, wenn auch noch nicht vollständigen Entfernung des >Manieristen< von der Natur aufzeigt. Insgesamt aber sind diese charakterisierenden Sätze, die augenscheinlich die zweite, normativ-abwertende Komponente des traditionellen Manier-Begriffs aktualisieren, im Vergleich zur zeitgenössischen Konvention auffallend wertfrei gehalten. 448 Das gilt text seiner Auseinandersetzung mit der >manieristischen< Barockarchitektur der Villa Patagonia in Bagheria bei Palermo: Italienische Reise, 9.4.1787 (MA 15, 301-308). Vgl. auch Zweiter römischer Aufenthalt, Bericht April 1788, über die Wirkung von Gipsabgüssen der antiken Statuen: »Diese edlen Gestalten waren eine Art von heimlichem Gegengift wenn das Schwache, Falsche, Manierierte über mich zu gewinnen drohte.« (MA 15, 643) Die dezidiert pejorative Verwendung des Begriffs >manieriert< durch den klassischen Goethe belegt eine Stelle aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, 1. Buch, 17. Kap.: »Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von keiner sonderlichen Farbe, und die Ausführung durchaus manieriert.« (MA 5, 69) 445 Vgl. Kestenholz, Emphase des Stils, S. 45. 446 Als >Manieristen< werden hier und im folgenden nicht Vertreter der stilgeschichtlichen Epoche des >Manierismus< bezeichnet, sondern Künstler, deren künstlerische Verfahrensweise dem Goetheschen Manier-Begriff entspricht. 447 MA 3.2, 187f. 448 Vgl. etwa Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 358: »Bey Gemählden, die manieri [sic] sind, wird man sogleich eine besondere Behandlung, einen besondern Geschmak des Künstlers gewahr, die von der Betrachtung des Gegenstandes abführen, und die Aufmerksamkeit blos auf die Kunst lenken. Darum ist die Manier schon in sofern etwas unvollkommenes: sie wird es aber noch viel mehr, wenn der Künstler eine gewisse Behandlung, die er sich angewöhnt hat, auch bey solchen Arbeiten anbringet, wo sie sich 355
auch für die direkt vorausgehenden zentralen Bestimmungen der künstlerischen Vorgangsweise des >ManieristenManier< ist nachgerade das Einfallstor für den künstlerischen Individualstil: Nun wird es eine Sprache, in welcher sich der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet. Und wie die Meinungen über sittliche Gegenstände sich in der Seele eines jeden der selbst denkt, anders reihen und gestalten: so wird auch jeder Künstler dieser Art, die Welt anders sehen, ergreifen und nachbilden, er wird ihre Erscheinungen, bedächtiger oder leichter fassen, er wird sie gesetzter oder flüchtiger wieder hervorbringen.«449
Der Passus macht offensichtlich, daß die >Manier< keineswegs ausschließlich als negative Größe verstanden werden darf, sondern in ihrer je individuellen Ausformung der Meinungsvielfalt selbst denkender (also aufgeklärter) Menschen »über sittliche Gegenstände« entspricht. An anderer Stelle konzediert Goethe dem >Manieristen< in seiner positiven Ausformung sogar ausdrücklich »eine reine lebhafte, tätige Individualität«,450 womit er ihm eine Eigenschaft zuschreibt, die durchaus nicht despektierlich gemeint ist. Wie schon erwähnt wurde, sind es vielmehr gerade die stets spezifischen persönlichen Eigenschaften, die bei einer jeweils notwendig individuellen Bewertung des einzelnen >Manieristen< den Ausschlag geben. Den bevorzugten Objektbereich der >Manier< bestimmt Goethe folgendermaßen: Wir sehen daß diese Art der Nachahmung am geschicktesten bei Gegenständen angewendet wird, welche in einem großen Ganzen viele kleine subordinierte Gegenstände enthalten. Diese letzteren müssen aufgeopfert werden, wenn der allgemeine Ausdruck des großen Gegenstandes erreicht werden soll, wie z.E. bei Landschaften der Fall ist, wo man ganz die Absicht verfehlen würde, wenn man sich ängstlich beim Einzelnen aufhalten, und den Begriff des Ganzen nicht vielmehr fest halten wollte.451
Das adäquate künstlerische Genre des >Manieristen< ist demnach das Landschaftsbild, das eine bestimmte Auswahl und Pointierung tragender Bildelemente aus dem Kontinuum des unbestimmten landschaftlichen Vorbilds geradezu erzwingt. Einige Verwirrung kann dabei wohl der Umstand stiften, daß hier »der allgemeine Ausdruck des großen Gegenstandes« zum Ziel des >Manieristen< erklärt wird, während es zuvor doch hieß, daß sich in der >Manier< »der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet«.452 Es handelt sich hierbei offensichtlich nicht schiket. [...] Diesen manierten Künstlern fehlet es an der Beugsamkeit des Genies, jeden Gegenstand nach der ihm eigenen Art darzustellen; sie zwingen alles in die ihnen allein geläufigen Formen und Farben; und dadurch werden sie unnatürlich, gezwungen, und auch in der größten Mannichfaltigkeit ihrer Werke einförmig und langweilig.« 449
MA 3.2, MA 3.2, 451 MA 3.2, 452 MA 3.2, 450
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um zwei verschiedene Bezüglichkeiten, nämlich um die Relation zwischen Darstellung und dargestelltem Objekt auf der einen sowie zwischen Darstellung und darstellendem Subjekt auf der anderen Seite. Auf diese Ambivalenz, die auch die einschlägige ästhetische Kategorie des >Charakteristischen< betrifft, wird noch zurückzukommen sein. Kritischer gerät Goethes Charakterisierung des >Manieristen< dann im erläuternden zweiten Teil seines Aufsatzes: Dort erwähnt er nämlich unmißverständlich, daß ein zum >Styl< tendierender einfacher Nachahmers »wenn er es nicht gar so genau nähme, wenn er nur das auffallende, blendende leicht auszudrücken beflissen wäre, gar bald in die Manier übergehen würde«.453 Der allererst durch eine auktoriale Wahl aus der unkonturierten Masse der Gegenstände resultierenden >Manier< - so läßt sich daraus schließen - ist strukturell eine gewisse Tendenz zur Ungenauigkeit sowie zum leichten Ausdruck des >Auffallenden< und >Blendenden< eingeschrieben. Dies kann dann Folgen zeitigen, die Goethe äußerst negativ bewertet: Unterläßt ein solcher Künstler sich an die Natur zu halten und an die Natur zu denken so wird er sich immer mehr von der Grundfeste der Kunst entfernen, seine Manier wird immer leerer und unbedeutender werden, je weiter sie sich von der einfachen Nachahmung und von dem Styl entfernt.454
Die im zweiten Teil des Aufsatzes zweifelsohne überwiegende negative Wertung der >Manier< bedarf noch einer genaueren Begründung. Überraschend und wohl vor allem in antizipatorischer Absicht (gegen den Vorwurf einer zu radikalen Abwertung) geäußert wirkt vor diesem Hintergrund jedenfalls Goethes abschließende Apologie: Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, daß wir das Wort Manier in einem hohen und respektablen Sinne nehmen, daß also die Künstler, deren Arbeiten, nach unserer Meinung, in den Kreis der Manier fallen, sich über uns nicht zu beschweren haben.455
In diesem Zusammenhang sei abermals hervorgehoben, daß die immer noch vergleichsweise differenzierten Ausführungen Goethes zur >Manier< sich augenscheinlich von der völligen Geringschätzung abheben, die in der zeitgenössischen Kunsttheorie üblich war.456 453
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MA 3.2, 190. Vgl. Diderots verwandten Gedanken in De la manière: »C'est de l'imitation de nature soit exagérée soit embellie que sortiront [...] le maniéré et le faux; parce qu'alors l'artiste est abandonné à sa propre imagination. Il est sans aucun modèle précis.« (DOC 16, 534) MA 3.2, 190. Vgl. dazu Diderots Überlegungen in De la manière: »l'imitation rigoureuse de nature rendra l'art pauvre, petit, mesquin, mais jamais faux ou maniéré.« (DOC 16, 534) MA 3.2, 190f. Dazu Kestenholz, Emphase des Stils, S. 51, Anm. 30: »Der Respekt, der der Manier gezollt wird, ist der souveräne Respekt des Ueberlegenen.« Nach Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 3, S. 358, »sollte der Künstler große Sorgfalt anwenden, sich vor der Manier zu verwahren«. Einen ähnlich abwertenden Manier-Begriff vertritt auch Anton Raphael Mengs; vgl. dazu III.3.1. Wohl nicht zuletzt deshalb hat Kestenholz, Emphase des Stils, S. 40, Anm. 9, sogar von Goethes »Aufwertung des Be-
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Vergessen werden sollte angesichts einer solchen Erinnerung aber nicht die in Goethes italienischer und nachitalienischer Ästhetik generell vorherrschende, dezidiert anti-subjektivistische Tendenz, die schon in einem römischen Brief an Charlotte v. Stein vom 29. Dezember 1786 zum Tragen kommt: »Immer muß ich wiederholen: ich glaubte wohl hier etwas rechts zu lernen, daß ich aber soweit in die Schule zurückgehen müßte glaubt ich nicht, und je mehr ich mich selbst verläugnen muß je mehr freut es mich.«457 Das hier sichtbare Bemühen des klassischen Goethe um die künstlerische Verleugnung seiner eigenen Subjektivität korrespondiert mit seiner - nunmehr bis ans Lebensende beibehaltenen - äußerst kritischen Haltung gegenüber jeder Art von >Manier< und >ManieriertheitManier< - übrigens in Übereinstimmung mit der Begriffstradition 459 - bisweilen weit über den spezifischen Bereich der Kunst hinausreicht, folglich sich problemlos auf sämtliche Gattungen innerhalb der Kunst beziehen läßt. Entsprechendes geht auch aus einem Brief Goethes an Schiller vom 2. Mai 1798 hervor, in dem dramentheoretische Probleme verhandelt werden (erstaunlicherweise übrigens anläßlich der Diskussion um eine vertonte Übersetzung von Rousseaus Melodram Pygmalion, das doch in Dichtung und Wahrheit als Exempel des >falschen Bestrebens< dienen wird, die Kunst in die Natur aufzulösen); Goethe formuliert dort auffallend apodiktisch: »Man kann jeden Manieristen loben und das Verdienst das er hat auseinandersetzen, nur muß ich ihn nicht mit Natur und Styl vergleichen.«460 In dieser Bemerkung erscheinen »Natur und Styl« als verwandte Phänomene, die mit der offenbar als konträr gedachten >Manier< kaum etwas gemein haben. Von einer dialektischen oder auch nur quasi dialektischen Konzeption der Begriffstrias kann dabei keine Rede mehr sein. Der künstlerische >Manierist< hat zwar durchaus ein Existenzrecht und kann sich mit seinen Produkten sogar um die Kunst verdient machen, doch findet er sich auf einer grundsätzlich anderen Ebene angesiedelt als der Künstler des >StylsManier< der »Natur und höheren Sinnesart« mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstellt.461 Weitaus schärfer noch sind die einschlägigen Stellen aus den Maximen und Reflexionen, die sich ebenfalls auf sämtliche Künste beziehen. Da heißt es etwa in paradoxer Formulierung: »Was nicht originell ist, daran ist nichts gelegen, und was originell ist, trägt immer die Gebrechen des Individuums an sich.«462 Individualität figuriert hier fast ausschließlich als Signum ethischer und ästhetischer Defizienz. Seine eindeutig negative Wertung begründet Goethe mit der angeblichen Unbelehrbarkeit des >ManieristenManierierte< und folglich auch der >Manierist< erscheinen nunmehr ausschließlich als Phänomene des grundsätzlich Abwegigen und Irregeleiteten; die noch im Essay von 1789 durchaus affirmativ 464 beschriebene Funktion der >Manier< als »Mittel zwischen der einfachen Nachahmung und dem Styl«465 ist in weite Ferne gerückt. Und für die insbesondere im Baukunst-Aufsatz (1772) entwickelte Vorstellung charakteristischer KunstManier< und dem vordem favorisierten Goetheschen Begriff des >Charakteristischendie charakteristische Kunst< ge461
Vgl. MA 11.2, 498f: »Wir [...] bekennen, daß Manieristen sogar, wenn sie es nur nicht allzuweit treiben, uns viel Vergnügen machen, und daß wir ihre eigenhändigen Arbeiten sehr gern besitzen. Künstler die man mit diesem Namen benennt sind mit entschiedenem Talente geboren; allein sie fühlen bald, daß nach Verhältnis der Tage so wie der Schule worein sie gekommen, nicht zum Federlesen Raum bleibt, sondern daß man sich entschließen und fertig werden müsse. Sie bilden sich daher eine Sprache, mit welcher sie, ohne weiteres Bedenken, die sichtbaren Zustände leicht und kühn behandeln und uns, mit mehr oder minderm Glück, allerlei Weltbilder vorspiegeln, wodurch denn manchmal ganze Nationen mehrere Dezennien hindurch angenehm unterhalten und getäuscht werden, bis zuletzt einer oder der andere wieder zur Natur und höheren Sinnesart zurückkehrt.« 462 Maximen und Reflexionen, Nr. 812 (HA 12, 480; Hecker Nr. 1016). 463 Maximen und Reflexionen, Nr. 814 (HA 12, 480; Hecker Nr. 1120). 464 Nämlich »im höchsten Sinne und in der reinsten Bedeutung des Worts«. 465 MA 3.2, 190. 466 Vgl. MA 1.2, 421. 467 Maximen und Reflexionen, Nr. 813 (HA 12, 480; Hecker Nr. 1119).
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nannt hatte, während der Gegenpol dazu, Stil, dem von Oeser, Winckelmann und Lessing vertretenen Ideal der Schönheit entspricht«.468 Läßt sich diese Vermutung belegen, dann kommt das Ergebnis einer regelrechten Umkehr der Akzentsetzung in Goethes Ästhetik gleich. Zwar kann der zweite Teil von Masons These hier noch nicht genauer überprüft werden;469 ihr erster Teil läßt sich indes relativ problemlos mit einer Formulierung aus dem systematischen Teil von Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl verifizieren: Wie schon ausgeführt wurde, ist der >Manierist< ja darum bemüht, »das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken, einem Gegenstande den er öfters wiederholt hat eine eigne bezeichnende Form zu geben«.470 Dieser Gedanke kongruiert - zumindest annäherungsweise - mit der oben entwickelten Vorstellung charakteristischer Kunst< 471 Und wenn Goethe demgegenüber im erläuternden Teil seines Essays dem >Manieristen< nahelegt, »das Charakteristische der Gegenstände zu ergreifen und faßlich auszudrucken«,472 dann bedient er sich in seiner expliziten Begriffsverwendung jetzt einfach eines anderen Bedeutungsgehalts.473 Denn gemeint ist damit offensichtlich nicht die »Sprache, in welcher sich der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet«, sondern eben der allgemein faßliche »Ausdruck« des je individuellen »Gegenstandes«.474 Daraus folgert Mason mit gutem Grund: »Goethe läßt den Manieristen nur gelten, sofern dieser den ihm angeborenen [?] Hang zur Betonung der eigenen Subjektivität in seiner Gestaltungsweise überwindet und sich dafür um das Charakteristische der Gegenstände, also um das Objektive bemüht«.475 Der >Manierist< erfahrt demgemäß im zweiten Teil des Aufsatzes allein dann eine positive Bewertung, wenn er seine »reine lebhafte, tätige Individualität« - und das ist ja seine zentralste Errungenschaft, die ihn allererst definiert - durch eine kontinuierliche Anstrengung, »sich an die Natur zu halten und an die Natur zu denken«, sogleich wieder einschränkt.476 Analog zum Wandel von Goethes sprachlichem Stilideal, der sich als Akzentverschiebung vom Subjektivismus des Sturm und Drang zum Objektivismus der nachitalienischen Klassik beschreiben läßt,477 kann also auch hinsichtlich der Kategorie des Charakteristischem eine entsprechende Umkehr der Akzente beobachtet werden: Denn bezog sich der Begriff für Goethe in den frühen siebziger Jahren noch in erster Linie auf den unmittelbaren individuellen Ausdruck des künstlerischen Subjekts, so versteht 468
Mason, Schönheit, Ausdruck und Charakter, S. 99f. Vgl. dazu IV.3.1. 470 MA 3.2, 187. 471 Vgl. Π.4.4. 472 MA 3.2, 190. 473 Er aktualisiert den schon seinerzeit gängigen zweiten Bedeutungsgehalt des Terminus; zur »Doppeldeutigkeit«, die dem Begriff des >Charakteristischen< generell eingeschrieben war und die sich über weite Strecken der Begriffsgeschichte verfolgen läßt, vgl. Mason, Schönheit, Ausdruck und Charakter, S. 97f u. 100. 474 MA 3.2, 188. 475 Mason, Schönheit, Ausdruck und Charakter, S. 100. 476 MA 3.2, 190. 477 Vgl. HI. 1.1. 469
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er ihn nunmehr als den adäquaten allgemeinen Ausdruck des künstlerischen Objekts, so spezifisch und individuell dieses auch sein mag. 478 Goethe wird diese objektivistische Neufassung des Begriffs >charakteristisch< auch in den ästhetischen Schriften der neunziger Jahre - und darüber hinaus 479 beibehalten: Wie er etwa in seiner programmatischen Einleitung (1798) in die Propyläen ausführt, sieht er die Qualität eines guten Zeichners darin begründet, daß »er das Wichtige und Bedeutende der Teile, woraus der Charakter des Ganzen entspringt, einsieht, und den Nachdruck darauf legt« 4 8 0 In der Folge erläutert er diese Maxime an organischen und »unorganischen Naturen«, wobei er sich des Terminus >charakteristisch< augenfällig im gewandelten Sinn bedient: »Der Maler bedarf einige Kenntnis der Steine, um sie charakteristisch nachzuahmen, der Bildhauer und Baumeister um sie zu nutzen, der Steinschneider kann eine Kenntnis der Edelsteine nicht entbehren, der Kenner und Liebhaber wird gleichfalls darnach streben.« 481 An der ganz prinzipiell objektivistischen Ausrichtung ändern auch die relativierenden Nuancen wenig, mit denen Goethe in der Propyläen-Zeit nicht nur der mittlerweile unumgänglichen Kantischen Erkenntnistheorie seine Referenz erweist, sondern auch die gestalterische Bedeutung des künstlerischen Individuums wieder gebührend würdigt. 482 Jedenfalls prägt die nach wie vor objektivistische Tendenz von Goethes klassischer Kunstanschauung noch die Diskussion um die >Manier< und das >Charakteristische< in der Künstlernovelle Der Sammler und die Seinigen (1799), 483 auf die kurz zurückzukommen sein wird. 478
Vgl. etwa Italienische Reise, 23.3.1787, wo Goethe in diesem Sinn von den Bemühungen seines Maler-Gefahrten Christoph Heinrich Kniep berichtet, »in der Gegend von Alla Cava, einen prächtigen Berg, welcher sich gerade vor uns scharf am Himmel abzeichnete, nicht weniger die Seiten so wie den Fuß dieser Höhe, reinlich und charakteristisch im Umriß aufs Papier zu befestigen« (MA 15, 272). Schon im Brief an Friedrich (»Maler«) Müller vom 21.6.1781 spricht Goethe vom »individuellen Charakter« des künstlerischen Gegenstands; er denkt dabei an »einzelne Köpfe und Figuren«, deren »innere[s] Leben der Gestalt« nach dem absolut gesetzten Muster Raffaels, der Alten oder einfach der Natur »aus dem Papier oder aus der Leinwand« hervorzutreiben sei (WA IV, 5, 138). 479 Vgl. die einschlägigen Stellen: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1. Buch, 2. Kap. (MA 5, 13, Ζ. 26) u. 4. Buch, 18. Kap. (MA 5, 270, Ζ. 16); Serbische Lieder (1825; MA 13.1, 416; Ζ. 2); Shakspear als Theaterdichter (1816/1826; MA 11.2, 184, Ζ. 33); Dichtung und Wahrheit, 17. Buch (MA 16, 741, Ζ. 280, 18. Buch (MA 16, 773, Ζ. 8) u. 20. Buch (MA 16, 819, Ζ. 14). - Weniger eindeutig ist der Begriffsgebrauch in Goethes Rezension (1806) von Des Knaben Wunderhorn (MA 6.2, 603, Ζ. 31) sowie in der Campagne in Frankreich 1792 (1820-22; MA 14, 439, Ζ. 2). Vollends eine Ausnahme bildet der subjektivistische Charakter-Begriff, den Goethe im Nachruf Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813) verwendet; es geht hier um die der deutschen Literatur angeblich eingeschriebene Neigung zum >CharakteristischenManier< in der Kunsttheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgehoben wurde und in der Folge auch die Frage nach der Übertragbarkeit der spezifisch Goetheschen Fassung des Begriffs auf den Bereich der Literatur und des Theaters bejaht werden konnte, sollen abschließend kurz weitere Implikationen dieses Sachverhalts zur Sprache kommen. Einschlägig ist hier eine Passage aus dem 7. Buch von Dichtung und Wahrheit, in der über die Poetik Bodmers und Breitingers berichtet wird; Goethe referiert da zunächst deren zentrale Maximen, wobei er im Vorübergehen auch einen kritischen Blick auf die prinzipielle Möglichkeit von Naturnachahmung in der Dichtkunst wirft: Der Maler ahmte die Natur offenbar nach; warum der Dichter nicht auch? Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: sie enthält so vieles Unbedeutende, Unwürdige, man muß also wählen; was bestimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufsuchen; was aber ist bedeutend? Hierauf zu antworten mögen sich die Schweizer lange bedacht haben: denn sie kommen auf einen zwar wunderlichen, doch artigen, ja lustigen Einfall, indem sie sagen, am bedeutendsten sei immer das Neue; und nachdem sie dies eine Weile überlegt haben, so finden sie, das Wunderbare sei immer neuer als alles Andere.484 Indem die Schweizer - zumindest Goethes Referat zufolge - das jeweils »Neue« zum vorzüglichen Gegenstand der Dichtkunst erklärten, nahmen sie in ihrer Theorie das dynamische Prinzip der kumulativen Überbietung vorweg, das der Sturm und Drang dann erstmals auch praktisch umsetzte und das als immer rasantere Abfolge von innovatorischen Avantgarde-Bewegungen bekanntlich bis heute die Ästhetikgeschichte der Moderne prägt. 485 Die ästhetische Kategorie des jeweils allem den Abschnitt über die »Charakteristiker« und das abschließende Schema im 8. Brief (MA 6.2, 125f u. 129f)· Die Überzeugungen der äußerst distanziert gezeichneten Figur des Gastes entsprechen in zahlreichen Einzelheiten den Anschauungen des zeitgenössischen Altertumsforschers Aloys Hirt, den Goethe in Rom kennengelemt hatte (vgl. Einleitung zu Tl. III sowie IV.3.1). In ihrer Eigenschaft als Charakteristiken kann diese Figur jedoch auch als Inkorporation der nun >überwundenen< Aufwertung des Charakteristischen durch den jungen Goethe gesehen werden; zentral sind deshalb die Einwände des Arztes und des Philosophen. 484 MA 16, 286f. »Nun hatten sie die poetischen Erfordernisse ziemlich beisammen«. Als weitere Elemente nennt Goethe in seinem Referat freilich noch den »Bezug auf den Menschen« sowie die »moralisch[e]« Ausrichtung, die eben auf »die Besserung des Menschen« abhebe, wodurch »das letzte Ziel« eines Gedichts erreicht werde, nämlich »nützlich« zu sein. »Nach diesen sämtlichen Erfordernissen wollte man nun die verschiedenen Dichtungsarten prüfen, und diejenige, welche die Natur nachahmte, sodann wunderbar und zugleich auch von sittlichem Zweck und Nutzen sei, sollte für die erste und oberste gelten.« Goethe beurteilt die daraus resultierende wirkungsmächtige »Ableitung« der »Aesopischen Fabel« im Sinne einer vorrangigen Gattung ironisch als »wunderlich«. Doch immerhin bemüht er sich um »Gerechtigkeit« bei der historischen Gesamteinschätzung der »Schweizertheorie«, zumindest aber Breitingers: Denn mit dem Postulat »Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren Menschen, auf den die Dichtkunst doch wohl vorzüglich angewiesen ist«, treffe dieser - »von einem falschen Punkte ausgehend, nach beinahe schon durchlaufenem Kreise« - »am Ende seines Buchs gleichsam als Zugabe« doch noch »die Hauptsache« (MA 16, 287f). 485 Zur »Autorität des Avantgardismus mit seiner Verpflichtung, daß man sich in der ge362
>Neuen< blieb zumindest bis ins frühe 20. Jahrhundert zudem untrennbar mit der Vorstellung der jedem Künstler eigenen Individualität verbunden, wodurch sich augenfällig eine gewisse Affinität zu Goethes - hier freilich pejorativ gewendetem - individualistischem Verständnis der >Manier< stiftet. Auch das >Wunderbare< als optimale Konkretion dieses stets individuellen >Neuen< ist ja für den klassischen Goethe letztlich nur denkbar als Aberration von einer wie immer mimetisch verstandenen Orientierung an der äußeren Natur. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es durchaus legitim, die klassisch Goethesche Fassung des Manier-Begriffs in ihrer normativ-abwertenden Tendenz auch als implizite, aber umso dezidiertere Stellungnahme zur inneren Dynamik der ästhetischen Moderne zu verstehen, sozusagen als ihre versteckte Kritik aus der persönlichen Erfahrung der Schicksale des Sturm und Drang. Es handelt sich mithin um eine theoretische Wendung zur Antimoderne, doch gewonnen aus dem Geist der Aufklärung, dem - polemisch formuliert - das zur bloß selbstbezüglichen Eigendynamik permanenter und kumulativer Überbietungen geronnene kunst- und literaturgeschichtliche Entwicklungsprinzip ebendieser Moderne nicht genügen kann.486 In diesem Zusammenhang einer - freilich hypothetisch erweiterten - Rekonstruktion der Haltung des italienischen und nachitalienischen Goethe zur ästhetischen Aufwertung des >Neuen< und >Wunderbaren< durch die Schweizer sei auf eine Bemerkung aus einem römischen Brief Goethes verwiesen; dort heißt es knapp aber deutlich: »Wir haben die famose Hexen Epoche in der Geschichte, die mir psychologisch noch lange nicht erklärt ist, diese hat mich aufmercksam und mir alles wunderbare verdächtig gemacht.«487 Wie dem auch sei - zusammenfassend kann jedenfalls festgestellt werden, daß Goethe im ersten, systematischen Teil seines Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl um eine möglichst objektive Darstellung der beiden ästhetischen Kategorien >einfache Nachahmung< und >Manier< bemüht ist. Im zweiten, exemplifizierenden Teil vollzieht er dagegen augenscheinlich eine Aufwertung der einfachen Nachahmung* und - komplementär dazu - eine Abwertung der >ManierManierNaturalismusManier< verdankt sich demnach auch einem - nicht notwendig immer bewußt verfolgten - eminent strategischen Kalkül.
2.4 Die Inszenierung des >Styls< als Synthese Der dem klassisch lateinischen >stilus< entstammende und von der spätantiken Rhetorik im Sinne von >Schreibweise< automatisierte (ursprünglich metonymische) Terminus >Stilstilo< oder >stilestylemaniera< getan hatte, nichts anderes als die besondere Kunstweise der Zeiten, Völker und Personen bezeichnen sollte«. Dazu scheint sich in hervorragender Weise der Ausdruck >Stil< geeignet zu haben, zumindest wird er jetzt auf einmal »zur Bezeichnung der individuellen bildnerischen Gestaltungsweise herangezogen, die bislang durch den Ausdruck >maniera< bezeichnet wurde«.491 Diese Entwicklung setzte sich besonders schnell in Frankreich durch, wo man im 18. Jahrhundert unter >Stil< nun allgemein »die Ausdrucks- und Gestaltungsweise eines Kunstwerkes« verstand, »durch die sich die individuelle schöpferische Kraft des Künstlers, verbunden mit außerindividuellen Komponenten wie Volkszugehörigkeit, Zeitgeist und Zeitgeschmack, Vorbilder und Schulen zu einer Einheit vereint« 492 Auffallend langsamer verlief die »allgemeine Rezeption des für die Theorie der bildenden Künste neuen Terminus« außerhalb Frankreichs, vor allem in Deutschland, wo »der Sieg des Ausdrucks >Stil< [...] wohl erst durch Winckelmann entschieden worden sein [dürfte]«.493 Wie sieht nun diese begriffsgeschichtlich für den deutschen Sprachraum so entscheidende Einführung des fraglichen Ausdrucks durch Winckelmann in dessen konkretem Begriffsgebrauch aus? Anhand einer genauen Analyse konnte Ingrid Kreuzer zeigen, daß Winckelmann den Terminus >Stil< anstelle des vordem be489 490 491 492 493
Ein Beispiel dafür ist die Entwicklungsgeschichte des Wilhelm Meisier-Projekts. Vgl. Link-Heer, Maniera, S. 93, sowie Kestenholz, Emphase des Stils, S. 51f, Anm. 31. Panofsky, Idea, S. 115, Anm. 244. Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens, S. 443. Panofsky, Idea, S. 115, Anm. 244.
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nutzten normativen >Geschmacks< erst in der Geschichte der Kunst des Altertums regelmäßig verwendet, womit auch eine manifeste Historisierung seiner ästhetischen Anschauungen einhergeht.494 Doch nicht allein im Sinne von Epochenstil findet der Begriff >Styl< bei Winckelmann Verwendung: Ähnlich wie zuvor schon in Frankreich umfaßt er auch hier weitaus mehr Phänomene, nämlich »den Individual-Stil des Künstlers, die Kraft zur Gestaltung, die Eigenart sowohl des einzelnen Kunstwerks als auch der nationalen Kunstepochen und die Formkraft der geschichtlichen Mächte, die den Künstler als Gestaltenden und das Kunstwerk als Gestaltetes gleichermaßen bestimmt«.495 Wie Kreuzer ausdrücklich betont, »hat für Winckelmann nicht alles Gestaltete in irgendeinem Sinne >StilStil< wird zugleich Kriterium künstlerischen Ranges und Attribut bestimmter geschichtlicher Entwicklungsphasen.«496 Es ist zweifellos die erste der beiden Komponenten, an die Goethe mit der Begriffsbestimmung seines Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl anschließen kann. Die einleitenden Worte von Goethes Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl dienen Kestenholz als historischer Beleg dafür, daß »der Stil-Begriff schon im 18. Jahrhundert kein eindeutiger Begriff mehr ist«.497 Diese fehlende Eindeutigkeit resultiert freilich nicht allein aus der seit dem 17. Jahrhundert wirksamen terminologischen »Konkurrenz zwischen Manier und Stil«, die - trotz der beeindruckenden Konjunktur des >Stils< gegenüber einer zunehmenden Abwertung der >Manier< - letztlich nicht zu begrifflicher Klarheit, vielmehr »zu einer eher chaotischen Synchronie geführt« hatte;498 sie betrifft naheliegenderweise mindestens ebenso den stark ausgeweiteten Anwendungsbereich des Stil-Begriffs selbst: Denn wie die französische Debatte zeigt, bezieht sich dieser jetzt sowohl auf die Dichtkunst als auch auf die bildende Kunst und sogar auf die Musik. 499 Ähnliches gilt zumindest in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die deutsche Diskussion: So ist im Artikel Schreibart; Styl aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste, in dem der Terminus vor allem im Sinn von Individualstil gebraucht wird,500 (anders als die scheinbare Titelgleichung suggerieren mag) ausdrücklich auch vom »Styl des Mahlers« die Rede.501 Die Universalisierung im 494
Vgl. Kreuzer, Studien zu Winckelmanns Aesthetik, S. 26-29. Ebd., S. 29. 496 Ebd., S. 30. 497 Kestenholz, Emphase des Stils, S. 39. 498 Link-Heer, Maniera, S. 95. 499 Vgl. Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens, S. 444 u. 448f. 500 Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie, Tl. 4, S. 329: »Das besondere Gepräge, das dem Werk von dem Charakter und der, allenfalls vorübergehenden Gemiithsfassung des Künstlers eingedrükt worden, scheinet das zu seyn, was man zur Schreibart, oder zum Styl rechnet.« Es geht also um »das Charakteristische der Schreibart«. 501 Vgl. ebd., S. 328: »Daß beym Schriftsteller nicht blos der Ausdruk, oder die Wörter, ihre Verbindung, ihr Ton und die daraus zusammengesetzten langem oder kürzern Einschnitte oder Perioden, sondern auch ein Theil der Gedanken zur Schreibart gerechnet werden müsse, wird jedermann zugeben; und eben so rechnet man zum Styl des Mahlers nicht 495
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Anwendungsbereich des Stil-Begriffs ist folglich in der Begriffsgeschichte selbst schon angelegt. Die allgemein relativ unklare Begriffslage spiegelt sich in Goethes höchst variablem persönlichen Begriffsgebrauch. In den Zeugnissen aus Italien sowie in der später redigierten Werkfassung der Italienischen Reise begegnen mehrere, zum Teil völlig unterschiedliche Begriffe des Stils. Am 13. Januar 1787, der Zeit seiner Lektüre von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, berichtet er etwa dem Weimarer Freundeskreis von einer im Palazzo Giustiniani aufgestellten Statue: Im Pallaste Giustiniani steht eine Minerva die meine ganze Verehrung hat. Winckelmann gedenckt ihrer kaum, wenigstens nicht an der rechten Stelle und ich fühle mich nicht würdig genug über sie etwas zu sagen. [...] Wollen meine Freunde ein näheres Wort hören; so lesen sie was Winckelmann vom hohen Styl der Griechen sagt. Leider führt er dort diese Minerva nicht an. Wenn ich aber nicht irre so ist sie von jenem hohen strengen Styl da er in den schönen übergeht, die Knospe indem sie sich öffnet und eben eine Minerva deren Charakter eben dieser Übergang so wohl ansteht!502
Goethe bezieht sich hier nicht nur explizit auf Winckelmanns Kapitel Von dem Wachsthume und dem Falle der Griechischen Kunst, in welcher vier Zeiten und vier Style können gesetzet werden,503 sondern zeigt sich zudem auch darum bemüht, dessen Angaben zum >hohen Stilhohen< zum >schönen StilAthena< nach einem griechischen] Bronzeoriginal, wahrscheinlich aus dem 4. Jh. v. Chr., die Euphranor von Argos zugeschrieben wurde« (MA 15, 952). 506 Vgl. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Tl. 1, 4. Kap., 3. St., S. 214: »Der ältere Stil hat bis auf den Phidias gedauret; durch ihn und durch die Künstler seiner Zeit erreichte die Kunst ihre Größe, und man kann diesen Stil den Großen und Hohen nennen; von dem Praxiteles an bis auf den Lysippus und Apelles erlangete die Kunst mehr Gratie und Gefälligkeit, und dieser Stil würde der Schöne zu bennenen seyn. Einige Zeit nach diesen Künstlern und ihrer Schule fing die Kunst an zu sinken in den Nachahmern derselben, und wir könnten einen dritten Stil der Nachahmer setzen, bis sie sich endlich nach und nach gegen ihren Fall neigete.«
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Das wichtigste, woran ich nun mein Auge und meinen Geist übe sind die Style der verschiednen Völcker des Alterthums und die Epochen dieser Style in sich, wozu Winckelmanns Geschichte der Kunst ein treuer Führer ist. Mit Hülfe der Künstler Augen und eigner Combinations Gabe, suche ich so viel als möglich manches zu finden und zu suppliren, was uns Winckelmann jetzt selbst geben würde, wenn er in diesen Jahren eine neue Ausgabe veranstalten könnte. Von der neuen Kunst genieß ich was ich darneben kann.507 Goethes stilgeschichtliche Wißbegierde schlägt sich hier augenfällig nieder. Ähnlich formuliert wie im ersten Satz dieses Zitats begegnet der historisch-relative Stilbegriff auch in einem vom 15. bis zum 27. Januar 1787 niedergeschriebenen Brief an Herder: Ein sorgfältiges Auge wende ich immer fort auf die verschiedenen Style der Völcker und die Epochen dieser Style in sich. Man könnte Jahre sehen und würde noch immer neue Bestimmungen finden, es ist zu sehr Stückwerck was uns übrig bleibt.508 >Styl< fungiert in allen diesen Äußerungen Goethes - genau wie bei Winckelmann - »als epochales Ordnungsprinzip und zugleich als ästhetische Erkenntniskategorie«; doch handelt es sich dabei wohl nur sehr äußerlich um den Begriff, »der zur Abhandlung von 1789 [...] hinleitet«, 509 keineswegs aber um eine tatsächliche terminologische Kongruenz. Im Gegenteil: Wie nicht allein die angeführten Briefpassagen belegen, waren Goethe die relationierenden Implikationen des »historischen Phänomens >StilWinckelmannische Fadenhohen< und dem natürlichen Styl< legt Goethe (im Zweiten römischen Aufenthalt) auch noch den Bezeichnungen >großer Stylsolider Stylschönen und edlen Styl< offenbar gleichsetzt519 - einen typologischen Stil-Begriff zugrunde. Zur Vervollständigung dieses Überblicks sei abschließend auf Goethes Begriffsverwendung im Sinne von schriftstellerischem Individualstil520 oder von musikalischem Epochenstil521 verwiesen. Daneben begegnen in der Italienischen Reise522 und in anderen Texten noch weitere Begriffe des >Stylsreinen< und >großen< Stils erinnert wohl erstmals an zentrale Aspekte der Begriffsverwendung in Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. Freilich sollte dabei nicht übersehen werden, daß der Terminus letztlich noch immer im Sinne von Individualstil gebraucht wird, wie das vorangestellte Possessivpronomen bestätigt. Hier wie auch an allen anderen angeführten Beispielen wird jedenfalls deutlich, daß Goethe während seines Italienaufenthalts keinen absoluten Stil-Begriff vertrat, sondern stets einen (meist historisch oder typologisch) relationalen, ja daß bei ihm >Styl< sogar häufig als dezidiert historischer Terminus fungierte. Wie schon aufgezeigt wurde, ist die Terminologie des Aufsatzes Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl dagegen generell ahistorisch. Das gilt wohl in besonderem Maße für den Begriff des >StylsNachahmung< und objektferner >ManierAufhebunglebhafter GeistImagination< und selbst das >Nachdenken< in seinen künstlerischen Produkten dem Urteil Goethes zufolge ausgeprägt zur Geltung kommt, fehlt ihm dagegen die allein über die genaue Nachahmung der Natur und der großen Meister zu erwerbende Sorgfalt, »welche die großen Fähigkeiten ausbildet und den Weg zur Unsterblichkeit mit sicheren Schritten führt«. In komplementärem Gegensatz zu der im genielosen Kleben am Objekt beschränkten »matten Ängstlichkeit« der einfachen Nachahmung< ist das Resultat hier letztlich subjektive »Willkürlichkeit«,529 oder - anders ausgedrückt eben >Manier< im negativen Wortsinn. Auf der Basis dieses strengen Befundes verfaßt der dreißigjährige Goethe nun »einen regelrechten Lehrbrief über die Malerei, die rechte Wahl der Gegenstände und die rechte Schulung an den großen Meistern«, der über weite Strecken »wie eine Kritik der romantischen Malerei avant la lettre« erscheint und seinen Verfasser schon 1781 »im Übergang zur klassizistischen Kunstgesinnung«530 zeigt; im gegenwärtigen Kontext interessiert dabei weniger die bei diesem Anlaß erstmals ausführlicher entwickelte Gegenstandslehre,531 sondern vor allem die Frage nach dem methodischen Wert einer Schulung an der Natur und den alten Meistern: Nach meinem Rath müßten Sie eine Zeit lang sich ganz an Raphaeln, die Antiken und die Natur wenden, sich recht in sie hineinsehen, einzelne Köpfe und Figuren mit Sorgfalt zeichnen und bei keiner eher nachlassen, bis sie den individuellen Charakter und das innere Leben der Gestalt nach ihren möglichsten Kräften aus dem Papier oder aus der Leinwand wieder hervorgetrieben hätten; dadurch werden Sie sich allein den Namen eines Künstlers verdienen. Das Hinwerfen und Andeuten kann höchstens nur an einem Liebhaber gelobt werden.532
Auf die in Goethes bezeichnender Auswahl der zu studierenden Kunstwerke schon 1781 manifeste klassizistische Gesinnung wird noch zurückzukommen sein. Von besonderem Interesse ist hier aber das einem solchen intensiven Studium zugedachte didaktische Ziel: Müller müsse sich damit in die Lage versetzen, »den 528
WA IV, 5, 137. Vgl. dazu den Kommentar Hartmut Reinhardts (FA II, 2, 940) u. Karl Robert Mandelkows (HAB 1, 704). 530 So der Kommentar Hartmut Reinhardts (FA II, 2, 939f). 531 Vgl. IV.4.2. 532 WA IV, 5, 138. 529
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individuellen Charakter und das innere Leben der Gestalt« so weit wie ihm möglich zu erfassen und künstlerisch wiederzugeben. Es geht also - gemäß der im Aufsatz Nach Falkonet und über Falkonet (1776) erstmals angedeuteten533 und in den neunziger Jahren weiterentwickelten Gegenstandslehre534 - um die möglichst intensive Durchdringung des darzustellenden Objekts,535 was eine adäquate künstlerische Wiedergabe allererst erlaube. In dieser deutlich objektivistischen Vorstellung, die dennoch nicht der »matten Ängstlichkeit« des reinen >Nachbuchstabierens< anheimfällt, kann mit gutem Grund eine Präfiguration des nachitalienischen Stil-Begriffs gesehen werden, wohingegen das schon hier als künstlerisch ungenügend bewertete bloße »Hinwerfen und Andeuten« augenscheinlich der später noch mehr problematisierten »leichteren Methode«536 der >Manier< entspricht. Im weiteren Verlauf seiner brieflichen Ausführungen kommt Goethe auf den konkreten Anlaß des Schreibens zurück: Es geht um einen Vorwurf für eine Zeichnung oder ein Gemälde Müllers,537 den er wenig ästimiert: »In der Wahl Ihrer Gegenstände scheint Sie auch mehr eine dunkle Dichterlust als ein geschärfter Malersinn zu leiten.«538 Mit diesem Urteil bestätigt Goethe nochmals, daß er in Müller einen >Manieristen< sieht. Konsequent ist deshalb der Hinweis auf das einzig mögliche Remedium, eben die >einfache Nachahmung der Nature »Wollen Sie mir einen Gefallen thun, so zeichnen Sie mir etwas, es sei, was es wolle, nach der Natur, und sei es eine Gruppe Bettler, wie sie auf den Kirchtreppen zu liegen pflegen.« 539 Die gedankliche Nähe dieser (vorderhand bloß auf die Malerei Müllers bezogenen) Darlegungen zu den generalisierenden Intentionen des Aufsatzes von 1789 liegt auf der Hand und wurde in der Forschungsliteratur schon verschiedentlich erwähnt.540 Jedenfalls reflektiert Goethe bereits hier mit einiger Konzentration über die grundsätzliche Problematik eines synthetischen Ausgleichs von 533
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Vgl. MA 1.2, 499: »Wie viele Gegenstände bist du im Stande so zu fassen, daß sie aus dir wieder neu hervorgeschaffen werden mögen?« Vgl. v. Einem, Kunstphilosophie, S. 79; ders., Goethe und die bildende Kunst, S. 116f; Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 82-89. Mehr dazu in IV.4.2. Vgl. den Beginn von Goethes folgendem (angeblichen, aber nicht verifizierbaren) Selbstzitat, das in seinem Vokabular zwischen typischen Formulierungen der Geniezeit und der Klassik oszilliert: »Es kommt nicht darauf an, was für Gegenstände der Künstler bearbeitet, sondern vielmehr, in welchen Gegenständen er nach seiner Natur das innere Leben erkennt und welche er wieder nach allen Wirkungen ihres Lebens hinstellen kann. Sieht er durch die äußere Schale ihr innerstes Wesen [!], rühren sie seine Seele auf den Grad, daß er in dem Glänze der Begeisterung ihre Gestalten verklärt sieht, hat er Übung des Pinsels und Mechanisches der Farben genug, um sie auch so hinzustellen, so ist er ein großer Künstler.« (WA IV, 5, 138f) Im Gegensatz zur späteren Vorstellung vom >Styl< ist hier freilich noch nicht an eine reflexive, quasi wissenschaftliche Durchdringung gedacht, sondern wohl allein an eine Erkenntnis nach dem Muster der intuitiven >WesensschauImaginationPolaritätNachahmung< und objektferner >Manier< in allen Arten der Kunst beschäftigte Goethe auch während seiner Italienreise; davon zeugt etwa ein Eintrag in das Reisetagebuch fiir Frau von Stein vom 22. September 1786, worin über folgende Begebenheit in Vicenza berichtet wird: Heut Abend war ich in einer Versammlung welche die Akademie der Olympier hielt. [...] Der Präsident hatte die Frage aufgegeben: ob Erfindung oder Nachahmung den schönen Künsten mehr Vorteil gebracht habe? Du siehst daß wenn man die beiden trennt und so fragt, man hundert Jahre hinüber und herüber reden kann.543 Daß die hier im Gegensatz zur >Nachahmung< stehende >Erfindung< zweifelsohne bloß ein anderes Wort für das primär vom Kopf ausgehende, naturferne >dipingere di manieraManier< in sämtlichen »schönen Künsten« - , muß nicht eigens erläutert werden. An Goethes folgender Schilderung der akademischen Debatte interessiert im gegenwärtigen Kontext weniger deren (begeistert mitgeteilter) genauerer Hergang, sondern in erster Linie die dabei unter der Hand transportierten Informationen über Goethes eigenen theoretischen Standpunkt:
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Vgl. dagegen im selben Text die auf die Goethesche Farbenlehre (1810) vorausdeutende »Vermutung, daß die farbigen Naturwirkungen, so gut als die magnetischen, elektrischen und andere, auf einem Wechselverhältnis, einer Polarität, oder wie man die Erscheinungen des Zwiefachen, ja Mehrfachen, in einer entscheidenden Einheit nennen mag, beruhen« (MA 6.2, 16).
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MA 6.2, 24f. Vgl. dazu den schon zitierten Passus aus der kommentierenden Übersetzung Diderots Versuch über die Malerei, 2. Kap.: »Der Mensch, der seinen Trieben und Neigungen unaufhaltsam nachhängt, entfernt sich immer mehr von der Einheit des Ganzen, ja sogar von denen die ihm allenfalls noch ähnlich sein könnten, er macht keine Ansprüche an die Menschheit und so trennt er sich von den Menschen.« (MA 7, 558) Weiterentwikkelt wird dieser Gedanke in Der Sammler und die Seinigen, 8. Brief (MA 6.1, 129). 543 MA 3.1, 76. 544 Vgl. IU.3.1. 373
Überhaupt fanden die, die für die Nachahmung sprachen, mehr Beifall denn sie sagten lauter Dinge die der Haufe denkt und denken kann, ob sie gleich der schwächer Teil waren. Einmal gab das Publikum, mit großem Hände klatschen, einem recht groben Sophism seinen herzlichen Beifall. Einer der fur die Erfindung sprach sagte recht gute Sachen, die aber grad nicht sentiert wurden.545
Während die Verfechter der >Nachahmung< also letztlich bloß die Ansichten des ungebildeten >Haufens< reproduzieren und deshalb als schwächerer Teil< vorgestellt werden,546 erscheint der Protagonist der >Erfindung< hier noch in deutlich positiverem Licht. Doch obwohl Goethes Sympathie demzufolge 1786 nach wie vor eher der >Manier< gilt, kennzeichnet er die ausschließende Fragestellung des Akademiepräsidenten gleich zu Beginn seines Berichts skeptisch als Scheinalternative.547 Angesichts der Tatsache, daß der italienische Goethe die Problematik der >Naturnachahmung< als solche schon deutlich differenzierter sieht als noch der junge, ist es nur konsequent, daß er auch die kategoriale Trennung zwischen >Nachahmung< und >Erfmdung< ablehnt und somit indirekt bereits einer Synthese das Wort spricht. Wenn man der gängigen Forschungsliteratur glauben mag, dann kondensiert sich diese gezielt angestrebte Synthese nun offenbar im Stil-Begriff von 1789. Ein genauerer Blick auf den Wortlaut der entsprechenden Passage aus Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl führt freilich zu einigen offenen Fragen; es heißt dort nämlich: Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst, endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen neben einander zu stellen und nachzuahmen weiß: dann wird der Styl der höchste Grad, wohin sie gelangen kann f...].548
Goethes Inauguration des >Styls< hat es in sich. Denn es ist bei seiner - scheinbar bloß die zuvor eingeführten Kategorien synthetisierenden - Formulierung in der rhetorischen Figur der Gradation nicht ganz einfach zu entscheiden, ob die »Bemühung sich eine allgemeine Sprache zu machen« nun für die Kategorie der >Manier< steht - etwa für den Aspekt, der im einschlägigen Abschnitt am Beispiel der Landschaftsmalerei als Streben nach einem »allgemeine[n] Ausdruck des großen Gegenstandes« bezeichnet worden war. Wenn dem so ist, wo bleibt dann in der Bestimmung des >Styls< das Individuelle der eigenen Ausdrucksweise, das doch als maßgebliches Kriterium der >Manier< herausgearbeitet wurde - sozusagen
545
MA 3.1, 77. Bezeichnenderweise fehlt dieser negativ wertende Nachsatz dann im autorisierten Text der Italienischen Reise (vgl. MA 15, 66), was wohl v.a. mit Goethes späterer Aufwertung der >Nachahmung< und Abwertung der >Manier< zu erklären ist. 547 Vgl. die noch schärfere Formulierung in der Italienischen Reise, 22.9.1786: »Der Einfall war glücklich genug, denn wenn man die in der Frage liegende Alternative trennt, so läßt sich hundert Jahre hinüber und herüber sprechen.« (MA 15, 65) 548 MA 3.2, 188. 546
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der Aspekt der >Erfindung