Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag


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German Pages [172] Year 1988

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Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag

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STREITBARE PHILOSOPHIE Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Gabriele Althaus und Irmingard Staeuble Grußwort von Oskar Negt

Mit Beiträgen von Gabriele Althaus, Norbert Bolz, Hans-Peter Duerr, Paul K. Feyerabend, Ossip K. Flechtheim, Helmut Fleischer, Johannes Fritsche, Hassan Givsan, Bodo von Greiff, Christa Hackenesch, Wolfgang F. Haug, Norbert Kapferer, H. D. Kittsteiner, Elisabeth Lenk, György Markus, Katrin Sello, Irmingard Staeuble, Jacob Taubes, Hella Tiedemann-Bartels

Zeichnungen von Urs Jaeggi

Inhalt Grußwort

von ÜSKAR NEGT

Vorwort

.............................................

9

Zeichnungen »Die Entfremdung werde sich selbst aufheben« von URS JAEGGI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ÜSSIP K. FLECHTHEIM Faschismus, Kommunismus

und Totalitarismus

JACOBTAUBES Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

53

GYÖRGYMARKUS praxis und poiesis: Eine fragwürdige Aristoteles-Renaissance

Der vorliegende Band erscheint mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin. © 1988 Metropol Friedrich Veitl-Verlag, Berlin Alle Rechte, auch der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlagzeichnung: Urs Jaeggi Lektorat: Brigitta Faralisch ISBN 3-926-893-00-1 Produktion: Albers Herstellungsbüro, Bremen Satz: VA Peter Großhaus, Wetzlar Printed in Germany

CHRISTAHACKENESCH Sich im Denken orientieren. Über den fragwürdigen Eigensinn der Philosophie

Booo voN GREIFF Geschichte, Naturwissenschaften

. . . . . 71

. . . . . . . . . . . . . . . . 93

WOLFGANGF. HAUG Notizen über Peter Weiss und die »Linie Luxemburgin einer »Epoche der Ambivalenz« .........................

H. D. KITTSTEINER Erneuerte Frage: Was ist Aufklärung?

20

. . . . . . . . . . . . . . . 29

PAULK. FEYERABEND Abstrakte oder persönliche Rechtfertigung

HELMUT FLEISCHER Denken in Personen- und Handlungsbegriffen

19

Gramsci« 115

.............

......................

und intellektueller

129

141

Stil

........

15 5

9 SELLO

KATRIN

• • • • • • • • • • • • • • • • • • · · · · 1 71

Gedichte .......................

Grußwort von Oskar Negt

NoRBERTBoLZ

Philosophie nach ihrem Ende

177

KAPFERER

NORBERT

Entschlossener Wille zur Gegen-Macht. Heideggers frühe Nietzsche-Rezeption 1916-1936

... • • • • • • • · · · 193

~1or-&Jh1~ ttt 1

G IVSAN

HASSAN

• • • • • • • • • · · · • 2 17

Der Streit um die Philosophie ................ JOHANNES

Ju··~

fRITSCHE

Zum Mythos bei Aristoteles

• • • • • • • • · · · · · · 2 33

................

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\.~ HANS- PETER

DUERR

.........

Norbert Elias und das mittelalterliche Badewesen HELLA

TIEDEMANN-

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• • • • • • • • • 2 69

• • • • • • • • • 2 85

ALTHAUS

Die Wirklichkeit der Soziologen .......... IRMINGARD

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LENK

Justine und Juliette. Antagonistisches Frauenbild und antagonistische Moral bei D.A.F. de Sade ....... GABRIELE

.

~

BARTELS

Les reveries du promeneur solitaire. Die literarische Selbstbehauptung der schönen Seele ............... ELISABETH

• • • • 2 53

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STAEUBLE

Das tödliche Mißverhältnis von Kopf und Herz

Autorenverzeichnis

................

......

• • • • • • • • • 31 9

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"w ,,lt~ l.: ,i.,.,... ungeheure Warenansammlung, ... « Das ist aber nur der stoffliche Vermittler zwischen »materieller« Reichtumsproduktion und Genuß materiellen Reichtums, und die Reichtumsproduktion hat ihrerseits noch einmal eine Reichtumsdimension, die in vielen (nicht in allen) Tätigkeiten als solchen und in ihren gesellschaftlichen Rangbestimmungen (nach ihrem A~teil und der Rei~hweite von »Selbstbetätigung«) beschlossen liegt. Die Re~chtumsprodukuon der großen Industrie ist eine gewaltige, immer ~eiter von der »großen Bourgeoisie« auf das ganze Ensemble der bürgerlichen un? der n~chtb~rg~rlichen Klassen ausgreifende Mobilisierung von und zu reicher dimens10merten und reichtumsbildenden Tätigkeiten. Erst wenn man diese Spontaneität gebührend gewürdigt hat, kann man mit dem nächsten Schritt die eingelagerten Momente von herrschaftlicher Nötigung und »systemischer« Disziplinierung ins Gesamtbild einzeichnen. Eine fatale Grundtatsache dieser in die Höhe und Breite wachsenden

Denken in Personen- und Handlungsbegriffen·

109

Reichtumsproduktion ist jedoch, daß sie zwischen vielerlei Kontrahenten in zunehmendem Maße strittig wurde. Die kritische »Klassenanalyse« der modernen Gesellschaft hat den Blick zuerst auf die beiden Protagonisten der »großen Industrie« gelenkt, auf die Bourgeoisie und das Proletariat . Daran denkt man auch heute meistens noch, wenn man von dem modernen Klassenkonflikt par excellence spricht (und davon, daß er mittlerweile institutionell stillgelegt sei). Für Habermas ist damit, wie wir sahen, überhaupt der »Verteilungskonflikt« hinter anders geartete, mehr »strukturelle« Konflikte zurückgetreten. Doch die Sache gewinnt sogleich ein anderes Aussehen, wenn man einen weiter gefaßten Inbegriff von Verteilungskampf ansetzt. Es geht dann nicht nur um die »Tarifauseinandersetzung« zwischen Arbeitern und Unternehmern, und am wenigsten um »Entschädigungen, die der Sozialstaat gewähren kann«. Neben der »Lohn-Gehaltsfront« hat der Verteilungskampf zudem noch die »Preisfront«, an der eine breite Schicht von freigewerblichem Kleinbürgertum kräftig engagiert ist, und zum dritten noch die »Steuer- und Abgabenfront«. Der Verteilungskonflikt zielt jedoch überhaupt nicht nur auf das gute Geld fürs Leben, sondern - eine Ebene höher - auf gute Positionen, auf ansehnliche Berufstätigkeiten und soziale Rangstufen. Er nimmt hier den Charakter von sozialen Aufstiegskonkurrenzen an. Sodann hat das Ringen um die Güter des guten Lebens noch seine internationalen Verteilungskoordinaten. In ihnen hat es sich unvergleichlich mehr erhitzt als zwischen Lohnarbeit und Kapital. Der Lohntarifkampf ist also nur zugunsten der anderen Dimensionen von Verteilungskampf zurückgetreten, doch der Verteilungskampf überhaupt hat nichts von seiner Aktualität und Energiegeladenheit verloren. Aus der überschießenden Energie eines nahezu totalisierten Verteilungskampfes lebte ein ganzes Zeitalter des modernen Imperialismus, des Weltkriegs, des Bürgerkriegs und der terroristischen Diktaturen. Habermas' sozialwissenschaftlicher Geist ist anscheinend so sehr von der Entwicklungsnormalität des »Modernisierungs«prozesses gebannt, daß nicht mehr als ein flüchtiger Seitenblick auf die großen Anomalien »Faschismus« und »Stalinismus« fällt, und deren Ursprungsraum, der Weltkrieg, gar keine Erwähnung findet. Auf dem »Entwicklungspfad« des Privatkapitalismus, lasen wir, kam es da und dort zu faschistischen Ordnungen, auf dem Pfad des bürokratischen Staatssozialismus kam es zu stalinistischer Zwangsherrschaft. Vielleicht lohnt es sich aber doch, etwas länger bei diesen »Anomalien« zu verweilen und auch einen theoretischen Nen-

1 IO ·

Helmut Fleischer

ner dafür zu finden - sofern diese Erbschaft der ersten Jahrhunderthälfte möglicherweise doch nicht ganz hinter uns liegt, sondern von paradigmatischer Bedeutung bleibt. Ich für meinen Teil komme jedenfalls nicht umhin, mich dieser Anfechtung auszusetzen. In früher Zeit habe ich die Vitalität jener epochalen Antriebs- und Konfliktenergien intensiv genug verspürt, so intensiv und nachhaltig, daß ich auch heute noch nicht felix Austria spielen kann. Die modern-kapitalistische Hochmobilisierung - so läßt sich der Befund vorläufig festhalten - war an verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Konfiguration - in eine Übermobilisation umgeschlagen. Ein solcher Umschlag findet statt, wenn in manchen Gesellschaftslagen und auf breiter Massenbasis die Anwartschaften auf Positionen des guten, besseren Lebens das Gesamtmaß der reellen gesellschaftlichen Reichtumsproduktion und das spezifische produktive Leistungsmaß der betreffenden Anwärter, also der »Übermobilisierten«, mehr oder weniger beträchtlich über_~teigt.(Außer totaler kann es auch partikulare Übermobilisation geben.) Ubermobilisation von höchster Potenz - besonders im Medium der bürgerlichen, klein- und kleinstbürgerlichen Klassen-Schicht-Kontingente - gehört zur Ausgangslage des Weltkriegs, sie charakterisiert namentlich das Kräfteaggregat der Faschismen (am massivsten das des deutschen); dies dürfte eine geschichtliche Haupterfahrung sein: daß das »Sturmzentrum« der säkularen Hoch- und Übermobilisation in den kleinbürgerlichen Schichtlagen zu suchen ist. Indessen ist Übermobilisation auc~-bei den sozialrevolutionären Bewegungen im Spiel. »Ubermobilisation« ergab sich mir als Schlüsselwort in den jüngsten Disputen über die NS-Zeit als eine »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Die lebendige Anschauung, auf die das Wort zielt, ist jedoch nicht die der Vergangenheit, sondern der Gegenwart, der hochmobilen bundesdeutschen Kleinbürgerwelt. Das Gedenken an den 8. Mai 1945 gab Anlaß zur Rückfrage, was aus jener unglaublichen imperial-kriegerischen Kraftentfaltung der deutschen Staatsnation seither geworden ist. Die eindeutige ~egativ-Demonstration, die der Kriegsausgang für das Aktiv der extrem Ubermobilisierten gewesen war, kam erst dadurch so recht zur Wirkung, daß jetzt die Erste Welt-Zivilisationsmacht das ruinierte Europa und nicht zuletzt den Westteil des besiegten Deutschland in das Reich der höheren Möglichkeiten ziviler Reichtumsproduktion einwies. Die Hoch- und sogar Übermobilisation konnte sich nach dem Krieg im Frieden mit anderen Mitteln in dem anderen Medium fortsetzen. Die zivile Reichtumsproduk-

Denken in Personen- und Handlungsbegriffen · 111 tion holte die vordem so gewalttätigen Ansprüche auf ein gutes und ansehnliches Leben zu einem beträchtlichen Teil ein: Es war jetzt auf einmal alles, fast alles, wonach man auf den Wegen der imperialen Machtpotenzierung, des Eroberungs- und Vergewaltigungskrieges in einem Großreich zu erlangen getrachtet hatte, nun durch friedliche und eifrige Arbeit bei maßvoller Anstrengung zu erreichen. Auch wer nach zwanzig Nachkriegsjahren schon recht zutraulich geworden war, kann heute den Sinn dafür zurückerlangt haben, daß die moderne Gesellschaft bei weitem nicht den »sicheren Gang« einer produktiven Zivilisationsentwicklung angenommen hat. Wie sehr auch die materiell-zivilisatorische Leistungskraft und die soziale Integrationskraft des Marktwirtschafter-Ensemble ganz unverhofft zugenommen haben mag, die Mobilisation für ein komfortables Leben auf gehobener Anspruchsstufe hat wiederum die reellen Möglichkeiten der Reichtumsproduktion überflügelt und ist in eine »Begrenzungskrise« (K. Biedenkopf) ausgemündet. Insbesondere sind mit der sozialen Aufstiegsmobilisation auf allen ihren Stufen erhebliche Verspannungen entstanden. Man kann somit durchaus der Ansicht sein, daß das Gewicht der neuen Probleme an das der alten noch längst nicht heranreicht. Fragen der »Grammatik von Lebensformen« bleiben jedenfalls unlöslich an das Substantielle der proportionalen Zuordnung von Personen(gruppen) zu den Lebens- und »Positions«gütern gebunden, also an das Strittige im »Verteilungskonflikt«, national-intern wie international.

Schlußbemerkung Die Differenz zwischen einer »substantialen« und einer »institutionalen« Wahrnehmung des Sozialen wäre ebenso gegenüber dem Schulmarxismus, dem Strukturalismus, dem Systemfunktionalismus und anderen Hypostasierungen des »Es« herauszuarbeiten. Ich wählte als Vergleichsbezug jedoch Habermas' Philosophie des kommunikativen Handelns, gerade weil diese das lebensweltliche Handeln so entschieden als Gegeninstanz zu allem systemischen Prozedieren einholen will. Die Differenz ist hier die am meisten spezifische.4 Der theoretischen und praktischen lntentionsverwandtschaft wegen kann die Kritik darum keine Kampfansage sein, verhält sie sich möglicherweise komplementär zu dem, wozu sie Distanz zu gewinnen sucht. Wenn es seine Triftigkeit hat, dieses Gegen-

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Helmut Fleischer

über als eine institutionelle Apperzeption des Sozialen zu charakterisieren, ist damit ja auch schon eingeräumt, daß sie in der Realität des Institutionellen ein gewichtiges Korrelat hat und wohl auch in diesem selbst operative Bedeutsamkeit erlangen kann. Nun ließ ich ja schon anklingen, daß die »Wahl« einer je bestimmten Wahrnehmungsmatrix des Sozialen (und einer ihr zugeordneten Begrifflichkeit) ein Politikum sei. Das soll jedoch nicht besagen, Sichtweise und Begrifflichkeit hätten jeweils für diese oder jene, zumal eine »richtige« und effiziente Politik einen instrumentellen Nutzeffekt - oder eventuell nachteilige Folgen. (Von einem solchen instrumentalistischen Verständnis der Theoriearbeit bin ich denkbar weit entfernt und halte es überhaupt für eine ideologische Mystifikation.) Es ist im übrigen nicht immer gleich um eine Politik zu tun, die man selber macht oder machen möchte, sondern ebensosehr um eine bestimmte Rezeptivität für die Politik, die andere machen und von deren Folgen man selber betroffen ist - wie z.B. vom lmpakt der kleinbürgerlichen Großmobilisation. Doch sicher verhält es sich so, daß mit der besagten Matrix auch die »Ebene« der Art von Politik mitdefiniert ist, zu der man sich selber tauglich findet: mehr für eine »institutionell« oder mehr für eine »außerinstitutionell« plazierte. Die Kategorien, die für mich das Mittelfeld der Wahrnehmung des Sozialen organisieren, sind sichtlich den vor- und außerinstitutionellen Möglichkeitsbedingungen des Institutionellen zugeordnet. Sie sind andererseits auch nicht Kategorien einer Popular-Politik des Protests und des Widerstands, der sich im Namen von Lebensweltlichem gegen Imperative und Effekte des »Systems« richtete.

Denken in Personen- und Handlungsbegriffen·

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Anmerkungen r »Daß aus dem völlig gesetzlosen Spiel der Freiheit, das jedes freie Wesen, als ob kein anderes außer ihm wäre, treibt, (welches immer als Regel angenommen werden muß), doch etwas Vernünftiges und Zusammenstimmendes herauskomme, was ich bei jedem Handeln vorauszusetzen genötigt bin, ist nicht zu begreifen, wenn nicht das Objektive in allem Handeln etwas Gemeinschaftliches ist, durch welches alle Handlungen der Menschen zu Einern harmonischen Ziel gelenkt werden, so, daß sie, wie sie sich auch anstellen mögen, und wie ausgelassen sie ihre Willkür üben, doch ohne, und selbst wider ihren Willen, durch eine ihnen verborgene Notwendigkeit, durch welche es zum voraus bestimmt ist, daß sie eben durch das Gesetzlose des Handelns, und je gesetzloser es ist, desto gewisser, eine Entwicklung des Schauspiels herbeiführen, die sie selbst nicht beabsichtigen konnten, dahin müssen, wo sie nicht hin wollten.« (System des transzendentalen Idealismus, (Erstausgabe 1800), Ausgabe Philosophische Bibliothek 254, S. 267; Ausgewählte Schriften, Bd. r, Suhrkamp, stw 521, s.666.) 2 Der Titel des »Gesetzes« ist in der nachmarxschen Theorietradition zu einem Knoten zahlloser Mystifikationen geworden. Sie wären durch eine gründliche Kategorialanalyse aufzulösen, wenn es sich nicht so verhielte, daß mit einer solchen Analyse überhaupt nur jemand etwas anzufangen weiß, der schon kraft seiner vorgängigen praktischen Apperzeption des Geschichtlichen jenen Mystifikationen nicht mehr aufsitzt. 3 Erst nachdem ich diese Betrachtung niedergeschrieben hatte, kam ich dazu, die Kritik von L. Ferry und A. Renaut an den »antihumanistischen« Prozeduren einer »Zerstörung der Subjektivität« in der französischen »68er«-Philosophie zu lesen. Zwischen dieser Kritik und meinen eigenen Monierungen besteht fraglos eine Parallelität, allerdings auch manche Divergenz. Namentlich ziele ich nicht auf die Bekräftigung eines konfessionellen Humanismus, auf eine philosophische »Grundlegung« von Menschenwürde und Menschenrechten. Ich bin gegenüber diesem Humanismus der Prinzipien und Ideen deswegen so skeptisch und desinteressiert, weil ich die Konstituierung menschlicher »Achtungsverhältnisse« als eine ganz und gar praktische Leistung ansehe, an der philosophische und sonstige ideative Statuierungen keinen formativen Anteil haben. Soweit sich Humanität überhaupt in Texten aussprechen möchte und kann, hat sie ihren »natürlichen Ort« hier sozusagen zwischen den Zeilen. Der aktiv-expressive Humanismus, der als »Idee« zur »materiellen Gewalt« (wirklichen Formativkraft) werden möchte, ist kompensatorische Ideologisierung

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14 · Helmut Fleischer

praktischer Ohnmacht oder eigenen Unvermögens. (Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München 1987.) Als man bei uns L. Althusser zu diskutieren begann, war mir der Abschied vom »Idealismus des (menschlichen) Wesens« durchaus recht, jedoch erhob ich Einspruch dagegen, daß ebenso Abschied zu nehmen sei von der Annahme einer absoluten Vorgegebenheit der »Individuen« (»Empirismus des Subjekts«) zugunsten der Position des »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. (H. Fleischer, Marxismus und Geschichte, Frankfurt a.M. 1975, S. 28 f.) Ich verwahre mich gegen den »theoretischen Antihumanismus« nicht, weil er eine Gefahr für die humanistische Konfession oder gar für die praktische Humanität bedeutete, sondern weil er den theoretischen Begriff von »menschlicher Gesellschaft« inkonsistent macht, ja mystifiziert. Wenn ich auf jenen Anti-Humanismus der 68er-Philosophen mit einer »genealogischen« Exploration ansetzte (die ich anders als Ferry /Renaut durchaus nicht verwerfe), täte ich es unter dieser Arbeitshypothese: Es hat weit weniger »praktische Konsequenzen« als vielmehr einen praktisch-konstitutionellen Grund, wenn maßgebliche »68er«-Philosophen den »Tod des Menschen als Subjekt« verkündet haben, während gleichzeitig die 68er-Bewegung eine geradezu überschwengliche Subjekt-Spontaneität gegen die Verdinglichungen des »Systems« an den Tag gelegt hat. Es dürfte an den praktischen Defiziten dieser Spontaneität und Subjektivität gelegen haben, wenn sie philosophisch - als eine, die sich »pathologisch« selbst verleugnete, in Objektivismen umgeschlagen ist: Das revoltierende Ego verriet darin seine Konstitutionsschwäche, die es unendlich weit vom Rang eines »revolutionären Subjekts« mit einer »revolutionären Produktivkraft« trennte. Der resignative Antihumanismus ist das trotzig-unartige Korrelat des frommen Humanismus. 4 Ich verweise auf die viel breiter angelegte Kritik, die A. Honneth an der kategorialen Organisation »kritischer Theorie« (von ihren Anfängen bis heute) geübt hat. (Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1985.)

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Wolfgang Fritz Haug

Notizen über Peter Weiss und die »Linie Luxemburg-Gramsci« in einer 1 »Epoche der Ambivalenz« I.

»Linie Luxemburg-Gramsci« - in den Notizbüchern, die Peter Weiss parallel zur Ästhetik des Widerstands niedergeschrieben hat, findet sich diese Formel. Wer an der Erneuerung des Marxismus interessiert ist, wird bei dieser Formel aufmerken. Aber darf man von einem Literaten mehr als Literatur erwarten? Warnt uns doch Gerd Ueding, Peter Weiss habe »vom Marxismus nicht viel mehr als die geläufigsten Schemata verstanden, die zeitgenössische marxistische und neomarxistische Diskussion erst gar nicht zur Kenntnis genommen« 2 • Aber Gelehrtheit schützt vor Torheit nicht, und so werden wir die Frage nach Gehalt und Tragfähigkeit dieser Formel selber prüfen bzw. zunächst einmal stellen, ohne die Möglichkeit von vornherein auszuschließen, daß jene Formel zur schwärmerischen Auswanderung ins Imaginäre eines historisch unbefleckten Marxismus führen könnte. Vereint die vermeintliche »Linie Luxemburg-Gramsci« nicht das Unvereinbare, den Ökonomismus der Luxemburg mit dem Antiökonomismus des Gramsci? Es ist wahr, Gramsci hat 1920 nach der Ermordung von Rosa und Karl in L'ordine nuovo die Kommunisten mit den Urchristen verglichen und die beiden Ermordeten für »größer als die größten Heiligen« der Christen erklärt.3 Und Rossana Rossanda kann mit Recht sagen, daß »der gesamte frühe Gramsci der Consigli, der Sowjetanhänger und Antijakobiner, sozusagen einen luxemburgischen Akzent« spricht.4 Aber in den Quaderni, den Gefängnisheften, wird Rosa radikal kritisiert wegen ihres »ferreo determinismo economistico« s, ihres eisernen ökonomistischen Determinismus, ihrer Erwartung des Zusammenbruchs des Kapitalismus und ihrer Vernachlässigung der Gesetze des »Stellungskrieges« der Klassen zugunsten des von ihr verabsolutierten schnellen »Bewegungskrieges« als Muster der Revolution usw. 6 Wie sollten diese Luxemburg und ihr Kritiker Gramsci zusammengehen in einer »Linie«?

116 · Wolfgang Fritz Haug

Notizen über Peter Weiss · 117 2.

Bevor wir versuchen, die Formel ein wenig auszuloten, betrachten wir den Kontext, in dem sie bei Peter Weiss auftaucht. Zwei Bestimmungen fallen zuerst ins Auge, die man vielleicht unzusammengehörig findet und von denen man annehmen mag, daß sie sich widersprüchlich zueinander verhalten: Es handelt sich erstens um eine Plannotiz für einen Roman, und die Notiz beginnt zweitens mit der Bekräftigung der Notwendigkeit einer marxistischen Partei, sei sie auch klein. Hier nun also die Eintragung, die auf den 30. Juli 1977 datiert ist: »Für den Schlußabschnitt: Mitgliedschaft in der Partei - daß es eine kleine Partei war, unwichtig. Mitgliedschaft Prinziperklärung - ideologische Zugehörigkeit - Abwesenheit von Zwang und Dogmatismus - Linie LuxemburgGramsci - Voraussetzung: Aufklärung der histor. Fehler - die lebendige kritische Wissenschaft, Ablehnung jeglicher Illusionsbildungen, Idealismen, Mystifikationen -« 7

Es geht um den Schlußabschnitt des dritten Teils der Ästhetik des Widerstands. Was hier ins Spiel kommt, ist die Nachkriegsperspektive und damit die aktuelle politische Position. Tatsächlich war Peter Weiss ja Mitglied einer kommunistischen Partei, wenn auch nicht der deutschen, für die· Gramsci noch bis zum Tode von Peter Weiss ein Fremdwort bleiben sollte und das Bekenntnis zu Rosa Luxemburg ein Lippenbekenntnis. Er war Mitglied der schwedischen Linkspartei/ Kommunisten, und diese kleine Partei, die etwa 5 Prozent der Wähler auf sich vereint, hat denn auch die große Anstrengung und die Kosten nicht gescheut, das Hauptwerk von Peter Weiss, das es bis heute noch in keiner der Weltsprachen gibt, ins Schwedische zu übersetzen und im eigenen Verlag herauszubringen. Ihr langjähriger Vorsitzender leitete als Pensionär eine gewerkschaftliche Lesegruppe zur Ästhetik des Widerstands. 8 So weit, so gut; aber geht es nicht doch nur um einen Roman, und ist der Romanautor nicht per Definition politisch inkompetent? Dagegen wäre in Erinnerung zu rufen, daß eine solche Auffassung vom Amt des Schriftstellers und seinen Zu- und Unzuständigkeiten ebenso bürgerlich wie ideologisch ist, weil sie das Gesellschaftliche und das Politische zur Frage einer Spezialzuständigkeit macht in einer Überlagerung von gesellschaftlicher Teilung der Arbeit und staatlicher Herrschaft. Als Marxist -

im freilich nicht offizialideologischen Sinn - nimmt Peter Weiss sich nicht nur die politische Kompetenz, sondern auch die wissenschaftliche des Historikers heraus, »und das in einer Intensität, die keine Geschichte der Arbeiterbewegung und des Widerstandes ... geleistet hat und wohl auch künftig nicht wird leisten können«, wie Wolf und Lisa Abendroth unter Berufung auf »eigene bittere Erfahrung« in der alten Arbeiterbewegung und im antifaschistischen Widerstand bezeugen.9 »Das Buch von Peter Weiss wird in beiden Lagern des Kalten Krieges eine der besten Waffen für die geschichtliche Wahrheit sein.« 10

3. »Linie Luxemburg-Gramsci« - wir müssen zuerst den weiteren Kontext dieser Losung aufsuchen, um zu sehen, was Peter Weiss damit verbunden hat. Die während der Arbeit an der Ästhetik geführten Notizbücher beginnen mit Buch 22 (am 9.9.1971) und reichen bis Buch 46 (bis zum 10.9.1980). Die Motive, die im zitierten Zusammenhang unserer Formel anklingen, durchziehen die Eintragungen dieser zehn Jahre. Eine der letzten Eintragungen gilt einem der Leitmotive, dem Systemgegensatz der Nachkriegszeit, dem Entweder - Oder des Kalten Krieges: »Stalins feindliche Haltung gegenüber Jugoslawien (das einzige Land im Westen, das die kommunistische Vorherrschaft aufrechtzuerhalten verstand) deutet darauf hin, daß die SU ihre Hegemonie über die Komm. Parteien behalten wollte. Es begann das Zeitalter der Machtvollkommenheit von oben. Jetzt gab es nur noch das Für und Wider, das Entweder oder. Widerstand, wo auch immer, mußte eliminiert werden.« 11

Und bereits die allererste Eintragung spricht vom Konflikt zweier »grundsätzlich verschiedener Auffassungen des Menschenbilds . . . (BRD DDR)«, sowie vom Konflikt, in den der »radikale Künstler« mit beiden gerät: »es handelt sich um 2 verschiedne Arten von Repression. Die eine ist bedingt von Profitüberlegungen, die andre von dogmatischer Ideologie.«"

Peter Weiss parallelisiert zwei Repressionen: die ideologische Repression von Kritik und damit von marxistischem Denken wie marxistischer

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Wolfgang Fritz Haug

Kunst; und die politisch-militärische Repression von »Erhebungen von ,unten«ZUrendlichen Errichtung ei?er wahren Philosor_hie, verwendet? - so würden wir bei all' unserm Reichthum und luxunosen Comfort beschämt verstummen müssen, auch würde uns das Nothgeschrei Millionen Hungernder, durch das Maschinenwesen Verarmter völlig übertönen.« 2 9 Die einzig interessierende Frage: wie denn, a~f welc~_en historischen Vermittlungsschritten diese Verkehrung hat stattfmden konnen, bleibt unbeantwortet. Die These: »schon der Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«3° ist ei? allz_u grobes Raster das zwar mit der Rückverwandlung von Geschichte m Natur spielt,' das aber zu sehr auf die ursprünglich schon falsche ~ntentio?. d_er »Naturbeherrschung« abhebt, anstatt den Umschlag von knsenstabihsierender Selbstbehauptung in die Unterwerfung unter ein fremdes Geschichtssubjekt präzise zu lokalisieren. . . . . . Selbst da, wo im Nachtrag »Zur Kritik der Geschichtsphilosophie« ~ie Hegelsche Schrulle zu Wort kommt, »die Weltg:schi_chte ( ... ) _im Hmblick auf Kategorien wie Freiheit und Gerechtigkeit konstruieren zu wollen« ist die Sicht durch einen undifferenzierten Begriff der »Naturgeschichte:, verstellt. Die zweite Natur im gesellschaftlichen System fließt ohne Umschweife in die erste Natur des Menschen zurück: »Denn soviel ist in der Tat am Anthropomorphismus richtig, daß die Naturgeschic~te gleichsam mit dem glücklichen Wurf, der ihm im Menschen gelungen ist,

148 · H. D. Kittsteiner

nicht gerechnet hat.« JI Mit gleichem - wenn nicht besserem - Recht könnte man fragen, ob nicht der europäischen Geschichte mit dem Kapitalismus ein »glücklicher Wurf« gelungen sei, mit dem die ganze bisherige Geschichte nicht gerechnet hatte. An den Folgelasten dieses Ausbruchs aus der bis dahin gültigen Verlaufsform von Geschichten tragen wir heute noch - und mehr denn je. Vergleichen wir die Schuldzuweisungen aus dem Kantischen Aufklärungsmodell mit denen der Dialektik der Aufklärung. Das »Selbst schuld« an der Seite des »Sapere aude« diente der Entlastung von religiöser Bevormundung. Es war gedacht als die Einsicht in die Selbstverantwortung für die Geschichte, zog aber sofort die Konstruktion eines teleologischen Geschichtssubjekts nach sich, in dessen wohlwollender Einhüllung die Verwirklichung von Freiheit allein gedacht werden konnte. Die Autoren des 20. Jahrhunderts stehen vor den Trümmern solcher Konstruktionen. Aber anstatt die Dialektik von Selbstverantwortung und Ohnmacht zu untersuchen, reduzieren sie die Aufklärung auf die Bereitstellung technischer Mittel zur Naturbeherrschung, um schließlich stereotyp auf den Schuldigen zu verweisen: »Es ist der Mensch.« 32 Dabei droht aus dem Blick zu geraten, wo der eigentliche Mangel des spätaufklärerischen Denkens gelegen haben könnte: in der Vorstellung einer - wenn auch zunächst nur hypothetisch gedachten - Zielbestimmung der Geschichte. Denn seltsamerweise ist dieser Gedanke, wenn auch verändert, in das Programm der Rettung der Aufklärung mit aufgenommen: »Als Organ solcher Anpassung, als bloße Konstruktion von Mitteln ist Aufklärung so destruktiv, wie ihre romantischen Feinde es ihr nachsagen. Sie kommt erst zu sich selbst, wenn sie dem letzten Einverständnis mit diesen absagt und das falsche Absolute, das Prinzip der blinden Herrschaft, aufzuheben wagt. Der Geist solcher unnachgiebigen Theorie vermöchte den des erbarmungslosen Fortschritts selber an seinem Ziel umzuwenden.« B Hier tritt nicht ohne Bedeutung der Konjunktiv in sein Recht. Vermöchte die Theorie wirklich, was sie nicht vermag? Wir können diese Unentschiedenheit hier nicht klären, vermuten aber, daß sie zusammenhängt mit dem prinzipiellen Rückgang von der gescheiterten Geschichtsphilosophie auf eine erneuerte Geschichtstheologie.34 Hier geht es nur um die praktischen Konsequenzen: Anstatt falsch gestellte Zielsetzungen aufzugeben, hat man sie in eine andere Sprache transformiert und so vermeintlich gerettet. Diese Rettung geht aber einher mit einer Überforderung: Die Aufklärung ist überfordert mit einem universalen Schuldspruch; sie ist

Erneuerte Frage: Was ist Aufklärung?·

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ebenso überfordert mit der dennoch beibehaltenen Perspektive auf Erlösung. Von beiden Zumutungen müssen wir uns verabschieden, wenn wir wieder sinnvoll von »Aufklärung« sprechen wollen.

III. Erneuerte Frage: Was ist Aufklärung? Die Erneuerung der Frage, nachdem die alte Antwort und die Kritik dieser Antwort historisch verschlissen sind, kann nur auf einem Grundsatz aufbauen: Aufklärung muß heute betrieben werden unter der Voraussetzung, daß die »blinde Herrschaft« der Geschichte über die Men_sche7: nicht aufgehoben werden kann. Jede libidinöse Besetzung des h1stonschen Prozesses, sei es in geschichtsphilosophischer, sei es in geschichtstheologischer Absicht, muß aufgegeben werden. Der Anspruch der Aufklärung richtet sich also zunächst an diejenigen, die die Welt verändern wollen. Nur rücksichtslose Selbstaufklärung kann überprüfen helfen, ob nicht die Theorien und Denkmodelle, unter denen die Kritik des Bestehenden antritt, längst veraltet sind. Wer ve,rsucht, in längeren Zeitabständen zu denken, wird die Beobachtung machen, daß die Transformation der vorkapitalistischen in die kapitalistischen Produktionsweisen zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Für die hochindustrialisierten Länder gilt das ohnehin; in der sogenannten »Dritten Welt« frißt sich dieser Prozeß, krebsartig Metastasen bildend, immer tiefer in die traditionalen Gesellschaften hinein. Keine Macht der Welt ist sichtbar, die imstande wäre, diesen Vorgang aufzuhalten; Revolutionen und/ oder fund~mentalistische Abwehrbewegungen beschleunigen ihn nur. Das Theonepotential der europäischen Linken aber, mit dem all das registriert wird, entstammt der letzten Phase der Übergangsbewegung seit 1789, in der jedes revolutionäre Ereignis noch mit der Hoffnung überlagert war, als hätte der Lauf der Geschichte doch noch eine andere Richtung nehmen können. Sicher sind Gesellschaftsformationen niemals stabile, unbewegliche Einheiten; die kapitalistische in ihrer Reproduktionsdynamik ist es am wenigsten. Dennoch muß das kritische Denken sich Rechenschaft geben, ob es sich noch in einer Transformationsperiode befindet oder ob es sozusagen in der Mitte einer neuen Gesellschaft angekommen ist. J?ie Geschichte läuft zwar weiter und bewegt sich schneller als zuvor, zugleich aber bringt sie eine neue Geschichtslosigkeit hervor. Der Effekt dieser

Erneuerte Frage: Was ist Aufklärung? · I 5 I

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ziellosen Bewegung ist nicht nur negativ: Die libidinös besetzte Geschichte war ein Moloc~, dem im 19. und 20. Jahrhundert ungeheure Opfer gebracht worden smd; Aufklärung über ihre Struktur läßt erkennen daß sie diese Opfer nicht wert war. Für die Täter war die Geschichte ei~ Ort d_erSc?uldverstrickung; schuldig aber wurden sie, weil sie glaubten, ihr eme_Z1el~etzung aufzwin~en zu müssen. Keine Ziele -keine Opfer; doch betnfft diese Forderung emer erneuerten Aufklärung nicht nur die politischen Ideologien. Sie richtet sich ebensosehr gegen die gedankenlose Verg~udung von _Lebe~ ~m Prozeß der alltäglichen Unterdrückung, aus dem Jene Ideologien mit ihrer Sucht nach Erlösung überhaupt erst hervorgegangen sind. In seiner Schrift: »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« gibt Kant eine Beschreibung, wie man sich zurechtfinden kann: »Sich orientieren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgeg~nd (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlichen den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, ~or_den_und_Osten zu finden.« 35 Zu dieser geographischen Orientierung 1st em h1stonsches Pendant gefordert. Es sieht in einer gegebenen historis~?en Si~uation zwar nicht die Sonne am Himmel, sollte aber sagen konnen, m welcher Epoche der Entfaltung einer Gesellschaftsformation es sich befindet. Diesen Zeitpunkt zu bestimmen, muß eme erneuerte Frage: Was ist Aufklärung? alle Kraft anwenden.

Anmerkungen

Ehrhard Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, s. 3. 2 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Akademie-Ausgabe (Textausgabe, Berlin 1968), im folg. zit. AA, Bd. VIII, S. 3 5. 3 Johann Georg Hamann, Brief an Christian Jacob Kraus, in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung, S. 19ff. 4 Jean Delumeau, Le peche et la peur. La culpabilisation en Occident (XIII"--XVIIIe siecles), Paris 1983, S. 7 ff. Günter Jacob, Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers. Tübingen 1929, s.9 u. 42. 6 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. VI, s.116f. 7 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, S. 35. 8 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 47. 9 Kant, ebd., S. 202. 10 Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Frankfurt 1978, Bd. I, S. 225 ff. 11 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. VIII, v. a. die Sätze 4, 8 u. 9, S. 2of. u. 27ff. 12 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.) AA Bd. III, S. 523ff. Die Vorstellung einer »volonte generale« ist hier praktisch in die Idee eines höchsten Wesens verlegt, das alle Privatwillkür unter sich zusammenfaßt: »Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann thue, was er soll, d.i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befaßt, entsprängen.« Ebd., I

S. 525f. 13 Vgl. Freuds Vorstellung eines »normalen oder gesunden« Verhaltens, das einen Kompromiß zwischen Selbstveränderung und Weltveränderung finden muß: »Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen. Normal oder ,gesund, heißen wir ein Verhalten, welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige, normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeitsleistung an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei der Psychose mit der Herstellung innerer Veränderun-

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gen; es ist nicht mehr autoplastisch, sondern alloplastisch.« S. Freud, Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, GW Bd. XIII, S. 365. 14 Vgl. H.D. Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S. 191ff. 15 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, S. 35. 16 Kant, ebd., S. 37 u. 41. 17 Kant, ebd., S. 41. 18 Über die »Wendung des Sittengesetzes ins Faktum« vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, S. 265 f. - Angesichts der neu konstituierten Würde des Menschen mußte die Unwürdigkeit des Verlaufs der Geschichte besonders schmerzhaft empfunden werden. Die Geschichtsphilosophie reagierte auf dieses Problem, indem sie deren Zwang in »Sinn« verwandelte: »Sind die Menschen einmal über die Vormacht des Allgemeinen belehrt, so ist es ihnen fast unumgänglich, sie als das Höhere, das sie beschwichtigen müssen, zum Geist zu transfigurieren. Zwang wird ihnen zum Sinn.« Adorno, ebd., S. 308. 19 Moses Mendelssohn, Über die Frage: was heißt aufklären?, in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung, S. 7. 20 Vgl. zu diesem Denkmotiv H.D. Kittsteiner, Über das Verhältnis von Lebenszeit und Geschichtszeit, in: D. Kamper / C. Wulf (Hg.), Die sterbende Zeit, Darmstadt und Neuwied 1987, S. 72f. 21 H. D. Kittsteiner, Ethik und Teleologie: Das Problem der ,unsichtbaren Hand, bei Adam Smith, in: EX.Kaufmann/ H.G.Krüsselberg (Hg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt u. New York 1984, S. 65 ff. 22 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften (Hg. A. Schmidt und G. SchmidNoerr), Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt 1985, S. 6or. 23 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 7 u. 10. 24 Horkheimer / Adorno, ebd., S. 24. 2 5 Horkheimer / Adorno, ebd., S. 42. 26 Vgl. dazu allgemein Theodore K. Rabb, The Struggle for Stability in Early Modem Europe, New York 1975. 27 H.D. Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 153ff. 28 Horkheimer/ Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 57. 29 Anton Theobald Brück (Hg.), Franz Bacon, Neues Organ der Wissenschaften (1830), Darmstadt 1974, S. 7. 30 Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. ro.

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Horkheimer / Adorno, ebd., S. 266. Horkheimer/ Adorno, ebd., S. 17. Horkheimer/ Adorno, ebd., S. 56f. H. D. Kittsteiner, Walter Benjamins Historismus, in: Norben Bolz/Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, München 1984, S. 163ff. u. 181ff. 35 1. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? AA Bd. VIII, S. 134.

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Bodo von Greiff

Geschichte, Naturwissenschaft

und intellektueller Stil

Vorbemerkung Die Bibliothek des Instituts für Physik an der Technischen Universität Berlin ist unvollständig. Unter dem Buchstaben K wie Kepler existiert im Katalog ein Loch. Um sicherzugehen, daß ich mich bei der Suche nicht geirrt und vielleicht eine Karteikarte überblättert habe, bat ich die Bibliotheksauskunft um Rat; ich fragte, ob es einen weiteren, von mir übersehenen Katalog gebe. Der Bibliotheksangestellte schüttelte verneinend den Kopf, begab sich mit mir zum Karteikasten und erkundigte sich freundlich helfend nach dem Namen des gesuchten Autors. »Kepler, Johannes«, sagte ich. Worauf der Fachmann den Karteikasten verdutzt zurückschob, mich an das Institut für Geschichtswissenschaft verwies und erklärend hinzufügte: »Mann, wir müssen hier immer auf dem neuesten Stand sein.« 1 Ein bemerkenswerter Stand! Noch immer bewältigt die mainstreamNaturwissenschaft die historische Dimension ihres Wissens durch Verdrängung, sei's in andere Disziplinen, sei's durch Vergessen. Als harte Wissenschaft ist sie stolz darauf, sich mit den weichen Anfängen nicht befassen zu müssen. Orientiert an einer primitiven trial-and-error-Theorie, betrachtet sie die Vergangenheit nicht als genetisches Reservoir ihrer Ideen, sondern als erledigten Irrtum, für den Historiker zuständig sind. Das Resultat ist eine geradezu universale historische Unbildung und eine theoretische Abstinenz, die in der Bundesrepublik bislang nur von Außenseitern, philosophischen Spezialisten und einer Handvoll kritischer Studenten mit ökologischen Interessen durchbrochen wird. Ich vermute indes, daß dieser Zustand sich in naher Zukunft verändern wird, sowohl aus außerwissenschaftlichen Gründen - das Problem potentieller Zivilisationskatastrophen ist viel zu brisant, als daß die mainstream-Naturwissenschaftler es dauerhaft ignorieren können - als auch aus Gründen, die in der Wissenschaftsentwicklung selbst liegen. In den USA namentlich nehmen Wissenschaftsforschung und historische Erkenntnistheorie inzwischen - seit den Studien von Th. S. Kuhn - unmittelbar Einfluß auf die Diskussion physikalischer Grundsatzfragen und sind dabei, soziale und historische Dimensionen der Erkenntnisbildung für die naturwissen-

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schaftliche Forschung nutzbar zu machen. Sonderbar, daß man daran erinnern muß. Ich widme meine Abhandlung dem unbekannten Bibliothekar in der physikalischen Bibliothek, der mich so überzeugend und freundlich über den aktuellen Zusammenhang von Geschichte und Naturwissenschaft informiert hat.

Aufklärung, Sprachstil und neue Wissenschaft Wissenschaftliche Publikationen der Gegenwart zeichnen sich in ihrer Mehrzahl durch die stilistische Eigenart der Affektlosigkeit und Eintönigkeit aus. Selbst wenn sie von weltbewegenden Dingen handeln, von bislang nie gesehenen Sternen im Kosmos, von atomarer Energie und atomarer Vernichtungstechnik, von existentiellen sozialen Problemen und angeblich neuen Möglichkeiten ihrer Bewältigung - sie ähneln in ihrer Argumentation eher einer statistischen Tabelle denn einem literarischen Werk, das argumentativ überzeugen und Einsicht hervorbringen will. Es ist anzunehmen, daß die Sprache der Wissenschaft ihre historisch sich wandelnde gesellschaftliche Funktion ausdrückt. Denn eklatant ist der Gegensatz zwischen der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart und jener, die am Anfang der modernen wissenschaftlichen Epoche steht. Die frühen wissenschaftlichen Erkenntnisse - noch in Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Weltbild entwickelt - werden von ihren Urhebern nicht nur geäußert, sondern wortreich und aufwendig bis in alle Einzelheiten begründet; sie werden in konzentrierter Ausführlichkeit vorgetragen und der Intention nach auch dem gebildeten Laien verständlich gemacht; es wird versucht, durch Problematisierung von scheinbar eindeutigen Alltagserfahrungen alte Erkenntnisse zu destruieren und neue an ihre Stelle zu setzen. Das heißt, die frühe Wissenschaft zeigt in ihrem Argumentationsaufwand und sprachlichen Ausdruck, daß sie nicht nur für, sondern immer auch gegen etwas argumentiert, und in dieser Gegnerschaft ist sie aktiver Teil und intellektueller Ausdruck des gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses, der die mittelalterliche Vorstellungswelt zertrümmerte und mit ihr die sie tragenden politischen und sozialen Mächte. Thomas S. Kuhn hat den sprachlichen Wandlungsprozeß innerwissenschaftlich verfolgt. Er bemerkt über den »schöpferischen Wissenschaftler«, wie wir ihn aus der Gegenwart kennen:

Geschichte, Naturwissenschaft und intellektueller Stil· 157 »Seine Forschungen gehen nicht mehr, wie bisher üblich, in Bücher ein, die sich, wie Franklins Experiments ... an Electricity oder Darwins Origin of Species, an jeden an dem Thema Interessierten wenden. Sie erscheinen vielmehr in kurzen Artikeln, die sich nur an die Fachkollegen wenden, an diejenigen, bei denen die Kenntnis eines gemeinsamen Paradigmas vorausgesetzt werden kann und die sich als die einzigen erweisen, welche die an sie gerichteten Arbeiten zu lesen vermögen. Bücher sind in den heutigen Wissenschaften gewöhnlich Lehrbücher oder rückblickende Betrachtungen über diesen oder jenen Aspekt des wissenschaftlichen Lebens. Wer eines schreibt, sieht sich dadurch in seinem wissenschaftlichen Ruf eher geschmälert als gefördert. Nur in den früheren Entwicklungsstadien ... pflegte das Buch die gleiche Beziehung zur wissenschaftlichen Leistung zu besitzen, wie man sie heute noch auf anderen schöpferischen Gebieten findet.« 2

Analog bemerkt Derek de Solla Price realistisch über die Standards der heute anerkannten, aber nur quantitativ interessanten Wissenschaften: »Wir können die Gewichtigkeit eines Mannes als den Logarithmus der Anzahl der Aufsätze definieren, die er im Laufe seines Lebens verfaßt hat.« - »Es ist von vornherein zugestanden, daß dies ein schlechter Maßstab ist. Wer würde es wagen, einen Aufsatz von Einstein über Relativitätstheorie zu vergleichen mit roo Aufsätzen von Dr. X ... , aber im großen und ganzen besteht eine ganz gute Korrelation zwischen der Bedeutung eines Wissenschaftlers und der Zahl seiner Aufsätze, ob uns das nun gefällt oder nicht.« J

Sind »Fachkollegen ... die einzigen«, die wissensi.:haftliche Publikationen heute überhaupt »zu lesen vermögen« (Kuhn) - sachlich und sprachlich-, erzeugt also die reif gewordene Wissenschaft durch ihren intellektuellen und sprachlichen Ausdruck ein Analphabetentum quasi zweiter Ordnung, so lautete Galileis Forschungsmaxime, die gleichsam als historisches Kontrastprogramm zitiert sei: »Ich bin keineswegs gewillt, philosophische Theorien auf engstem Raum zusammenzupressen und mir jenen steifen, knappen, ungraziösen und völlig schmucklosen Stil zu eigen zu machen, den die reinen Geometer pflegen, die kein einziges Wort aussprechen, das nicht absolut notwendig ist ... Ich betrachte es nicht als einen Fehler, über viele verschiedenartige Dinge zu sprechen, auch in Abhandlungen, die nur ein einziges Thema haben ... , denn mir scheint, daß unsere Taten und

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Erfindungen Größe, Adel und Qualität nicht durch das Notwendige erhalten wenn auch dessen Abwesenheit ein großer Fehler wäre -, sondern durch anderes ...

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Sprache Galilei »nicht weniger am Herzen lag als die wissenschaftliche Formulierung« und fährt fort:

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Stilistisch am deutlichsten tritt die intellektuelle und politische Aufklärungsarbeit der neuen Wissenschaft im sprachlichen Mittel des Dialogs hervor. Wenn Nikolaus von Cusa, Giordano Bruno, Galilei und viele andere ihre Erkenntnisse in die Form fingierter Gespräche kleiden, dann deshalb, weil die stilisierten Gesprächssituationen eine intellektuell überzeugende und emotional befriedigende Widerlegung der Vorstellungen gestatten. Die Dialogform erlaubt es, einem gleichsam lebendig erscheinenden Sprecher die Verteidigung des traditionellen aristotelischen Weltbildes in den Mund zu legen und ihn durch sukzessives Fragen und immanentes Argumentieren solange zu zermürben, bis er schließlich den Widersinn seiner Worte selbst verkündet. Stellvertretend an ihm kann der Leser die Widerlegung seiner eigenen Denkweise miterleben - er wird reif gemacht für den Zweifel an allem, was ihm sicher, verbürgt und heilig erschien. Doch schon Mitte des vorigen Jahrhunderts beschrieb John Stuart Mill das Stilmittel des Dialogs im Zustand des Verfalls:

»Galilei war in solchem Grade Künstler und Bildner, daß er in der beglückenden Hingabe an seine Neigungen die eigentlichen Pflichten seines Faches vergaß, eben weil sowohl seine Natur wie seine Überzeugungen ihn stets über die Fachgrenzen hinausführten. Vergebens drängten ihn die römischen Behörden und manche vorsichtigen Freunde zurück in die unpersönlichen Gebiete der mathematischen Gesetzmäßigkeit. Wenn er sich zu dieser Vetgewaltigung seiner Natur nicht bequemte, so geschah es nicht allein zum persönlichen, sondern auch zum Schaden der Wissenschaft. Der letzte Prozeß und das Unfertige wichtiger Erkenntnisse und Hervorbringungen galileischer Forschung bieten eindrucksvolle Zeugnisse für die Unverträglichkeit fachwissenschilftlicherund weltanschaulicher, mathematischer und literarischer Sphären ... « 6

»Der Verlust einer so bedeutenden Hilfe für die verständige und lebendige Erfassung einer Wahrheit, wie sie durch die Notwendigkeit gewährt wird, sie Widersachern zu erklären oder gegen sie zu verteidigen, ist . . . keine geringe Beeinträchtigung des Nutzens ihrer allgemeinen Anerkennung. Wo man auf diesen Vorteil fortan verzichten muß, da würde ich es, wie ich gestehe, gern sehen, daß die Lehrer der Menschheit einen Ersatz für ihn schaffen ... Die Sokratische Dialektik, so glänzend exemplifiziert in den Dialogen Platos, war ein Kunstgriff der hier beschriebenen Art. Sie war ihrem Wesen nach eine negative Diskussion der großen Fragen der Philosophie und des Lebens ... « 5

Doch Olschki übersieht in seinem Tadel, daß Sprache, politische Aufklärung und naturwissenschaftliche Forschung in Galileis Werk keine zufällige, sondern eine systematische Einheit bilden - und wenn in den berühmten Dialogen zwischen Salviati, Sagredo und Simplicio der letztere in wohlgesetzten Worten seinen Irrtum eingestehen muß, dann wackelt ein ganzes Weltbild und mit ihm das politische Gefüge des ausgehenden Mittelalters. Die intellektuelle und politische Potenz der frühen Wissenschaft sei mit einer Passage aus Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme belegt, geschrieben 1632. Es geht, inmitten der astronomischen Abhandlung (!), plötzlich um das Ansehen, das die aristotelische Lehre genießt, um die Frage, ob man nicht die durch Tradition und Kirche verbürgte Anschauung höher achten müsse als die eigene Einsicht - und gezielt läßt Galilei den armen Simplicio in die Sackgasse der Verteidigung purer Autorität laufen:

Galilei hat es in der Kunst des wissenschaftlichen Dialogs zu größter Meisterschaft gebracht. Wie der Historiker Leonardo Olschki in der Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur berichtet, verwandte Galilei auf die überzeugende literarische Stilisierung seiner Werke kaum weniger Mühe als auf seine »eigentliche« Forschertätigkeit. Doch Olschki interpretiert den Befund, typisch neuzeitlich, berei~~ als wissenschaftliches Defizit: Er bemerkt mit Bedauern, daß die Asthetik der

»SAGREDO: ... Ich befand mich eines Tages im Hause eines in Venedig sehr angesehenen Arztes, wohin öfters Leute kamen, teils ihrer Studien wegen, teils aus Neugier, um eine Leichensektion von der Hand eines ebenso wahrhaft gelehrten, wie sorgfältigen und geschickten Anatomen ausführen zu sehen. Diesen Tag nun geschah es, daß man den Ursprung und den Ausgangspunkt der Nerven aufsuchte, welches eine berühmte Streitfrage zwischen den Ärzten aus der Schule des Galen und den

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Peripatetikern (=Anhänger der aristotelischen Anschauung, B.v.G.) ist. Als nun der Anatom zeigte, wie der Hauptstamm der Nerven, vom Gehirn ausgehend, den Nacken entlang zieht, sich durch das Rückgrat erstreckt und durch den ganzen Körper verzweigt, und wie nur ein ganz feiner Faden von Zwirnsdicke zum Herzen gelangt, wendet er sich an einen Edelmann, der ihm als Peripatetiker bekannt war, und um dessentwillen er mit außerordentlicher Sorgfalt alles bloßgelegt und gezeigt hatte, mit der Frage, ob er nun zufrieden sei und sich überzeugt habe, daß die Nerven im Gehirn ihren Ursprung nehmen und nicht im Herzen. Worauf unser Philosoph, nachdem er ein Weilchen in Gedanken dagestanden, erwiderte: Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt - stünde nicht der Text des Aristoteles entgegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zugeständnis gezwungen, daß Ihr Recht habt. SIMPLICIO: Ich möchte die Herren doch darauf aufmerksam machen, daß dieser Streit über den Ursprung der Nerven keineswegs so ausgemacht und entschieden ist, wie sich mancher vielleicht einbildet ... Aristoteles hat so großes Ansehen nur durch seine schlagenden Beweise, seine tiefsinnigen Untersuchungen erlangt. Nur muß man ihn verstehen, und nicht nur verstehen, sondern in seinen Schriften auch so bewandert sein, daß man eine vollkommene Übersicht über sie hat, daß einem jedes seiner Worte stets vor der Seele schwebt. Denn er hat nicht für den großen Haufen geschrieben und sich nicht den Zwang angetan, seine Schlüsse nach elementarer Weise geordnet an den Fingern herzuzählen. Er bedient sich vielmehr bisweilen einer verworrenen Reihenfolge und bringt den Beweis einer Behauptung in einem Kapitel, das scheinbar von ganz etwas anderem handelt. Darum bedarf es jenes großen Einblicks in das Ganze; darum muß man diese Stelle mit jener kombninieren, diesen Paragraphen mit jenem ganz abgelegenen vergleichen. Es ist kein Zweifel, daß, wer diese Kunst versteht, aus seinen Büchern die Beweise für alles Erkennbare schöpfen kann; denn in ihnen ist alles enthalten. SAGREDO:Aber, lieber Signore Simplicio, wenn Euch das Durcheinanderwürfeln des Stoffes nicht verdrießt und Ihr durch Vergleich und Kombination einzelner Splitterehen die Quintessenz zu erlangen vermeint, so will ich die Prozedur, die Ihr und Euere wackeren Kollegen mit dem Texte des Aristoteles vornehmt, mit den Versen Virgils oder Ovids anstellen, will einen Flicken daraus auf einen anderen setzen und damit alle menschlichen Angelegenheiten und Geheimnisse der Natur erklären. Doch wozu brau-

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ehe ich Virgil oder einen anderen Dichter? Ich besitze ein weit kürzeres Büchlein ... , worin alle Wissenschaften enthalten sind und wovon man mit geringster Mühe die vollkommenste Übersicht erlangen kann; es ist das Alphabet. Kein Zweifel, durch richtige Anordnung und Verbindung dieses und jenes Vokals mit dem und jenem Konsonanten kann man die zuverlässigste Auskunft über jeden Zweifel erhalten, kann die Lehren aller Wissenschaften, die Regeln aller Künste gewinnen; gerade wie der Maler bloß verschiedene Farben mischt, die getrennt auf der Palette liegen, von dieser ein bißchen und von jener ein wenig, und daraus Menschen, Pflanzen, Bauten, Vögel, Fische bildet ... SALVIATI:Ich kenne einige Edelleute, noch heute frisch und gesund, welche zugegen waren, wie ein Doktor an einer berühmten Hochschule, als er das von ihm noch nicht gesehene Fernrohr beschreiben hörte, sagte, die Erfindung sei dem Aristoteles entnommen. Als er sich einen Text hatte bringen lassen, suchte er eine gewisse Stelle auf, wo die Gründe abgehandelt werden, infolge deren vom Boden eines sehr tiefen Brunnens die Sterne bei Tag am Himmel gesehen werden können. Er sagte zu den Umstehenden: Hier habt Ihr den Brunnen, er ist das Rohr; hier die dichten Dämpfe, ihnen ist die Erfindung der Linsen nachgebildet; hier habt Ihr endlich die Verstärkung der Sehkraft beim Durchgang der Strahlen durch ein dichteres, dunkeles und durchsichtiges Mittel. ( ... ) SIMPLICIO: Ich glaube und bin in manchen Fällen gewiß, daß es nicht an recht wunderlichen Köpfen fehlt; aber deren Albernheiten dürfen nicht zu Ungunsten des Aristoteles ausgebeutet werden, von dem Ihr, wie mich dünkt, bisweilen mit zu wenig Achtung sprecht. Das bloße Alter und der große Ruf, den er sich nach dem Urteile so vieler ausgezeichneter Männer erworben hat, sollten genügen, um ihn achtungswert in den Augen aller Gelehrten erscheinen zu lassen. SALVIATI:So liegt die Sache nicht, Signore Simplicio. Gerade einige seiner gar zu engherzigen Anhänger sind schuld daran und würden vielmehr schuld daran sein, daß man ihn minder hoch schätzt, wenn wir ihren seichten Erörterungen beipflichten wollten. Ihr aber, sagt mir mit Vergunst, seid Ihr wirklich so einfältig, um nicht einzusehen, daß, wenn Aristoteles zugegen gewesen wäre, wie er von dem Doktor zum Erfinder des Fernrohrs gemacht wurde, er weit mehr über diesen aufgebracht gewesen wäre, als über die, welche den Doktor und seine Auslegungsweise verlachten? Zweifelt Ihr etwa, daß Aristoteles seine Meinung ändern und seine Bücher verbessern würde, wenn er von den neuen astronomi-

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sehen Entdeckungen erführe; daß er sich zu so sinnenfälligen Lehren bekennen und alle die kleinen Geister von sich verbannen würde, die engherzig genug es über sich gewinnen, jedes seiner Worte aufrecht zu erhalten, die nicht einsehen, daß wenn Aristoteles so wäre, wie sie ihn sich vorstellen, er ein Dummkopf, ein Eigensinniger, eine Barbarenseele, voll tyrannischer Willkür wäre, der alle anderen als blödes Vieh betrachtet und den Kundgebungen seines Willens den Vorrang zuspricht vor der Sinneswahrnehmung, der Erfahrung, der Natur selber? Seine Anhänger haben dem Aristoteles die Autorität verliehen, nicht er hat sie sich angemaßt oder genommen.« 7 Galileis Worte machen Erklärungen überflüssig, denn lauterer und klarer kann argumentative Aufklärung nicht betrieben werden. Es ist daher konsequent und im Sinne der historischen Wahrheit, wenn Bertolt Brecht das »Leben des Galilei« dramatisch bearbeitet und ihn selbst zum Exponenten der Aufklärung gemacht hat. Die historisch-erkenntnistheoretische Reflexion heute muß jedoch einsetzen bei den Stichworten »Erfahrung« und »Natur«, auf die Galilei sich als entscheidende Beweiskriterien in seiner Argumentation beruft. Es hieß, man müsse »der Sinneswahrnehmung, der Erfahrung, der Natur selber« größeres Gewicht beimessen als den »Kundgebungen des Willens«. Gewiß, doch was heißt hier Erfahrung, und was versteht die neue Wissenschaft unter Natur?

Traditioneller und naturwissenschaftlicher Erfahrungsbegriff Andere Akzente als Galilei setzt Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahr 1 977: »Was in der Naturwissenschaft Erfahrung heißt, ist machtförmige Erfahrung .... Unsere naturwissenschaftliche Urteilsform ist machtförmig. Sie kann sich denken, daß die Dinge in anderem Zustand wären als sie sind, und sie fragt, was dann eintreten würde; der Realismus dieses Gedankens ist, daß man die Dinge willentlich in jene gedachten Zusammenhänge bringen kann. Der begriffliche Verstand ist dem wählenden Willen konform.« 8

Zwei Momente, die in der innerwissenschaftlichen Beachtung finden, sind hier angesprochen:

Diskussion nur selten

(a) Wissenschaft und Macht erscheinen nicht mehr als Gegensätze wie zu Zeiten Galileis, sie bilden nach Weizsäckers Urteil einen inneren Zusammenhang. Folglich erscheint auch der Wissenschaftler selbst nicht mehr als Widerstandskämpfer im Dienste einer natürlichen Wahrheit, sondern eher als Beamter in gehobener Stellung, der seinerseits an der Macht partizipiert, ja für sie unentbehrlich ist. Dies ist für die Gegenwart vermutlich ein zutreffendes Bild, realistischer als die Selbstwahrnehmung vieler Forscher, die sich immer noch kühn als politische Erben Galileis interpretieren. (b) Weizsäcker setzt mit Kant voraus, daß es mehrere Formen von ~rfahrung gibt. Die Rede ist von einer »machtförmigen Erfahrun~« m _der Naturwissenschaft; das impliziert, daß es auch andere Möglichkeiten der Naturerfahrung gibt. Es handelt sich nicht um »bessere« oder »tiefere« Erfahrungen , sie werden nicht qualifiziert. Aber die Augen werden geöffnet für das Faktum, daß andere Formen der Realitätswahrnehmung möglich sind als die heute vertraute wissenschaftliche Erfahrung, daß solche Formen historisch mit großen Kulturleistunge?" verbunden waren und daß sie sich von Wissenschaft nicht unterscheiden wie der Irrsinn von der Wahrheit.9 Was also heißt in der Naturwissenschaft Erfahrung, was zeichnet sie aus? Ich werde die Frage mit einigen Bemerkungen einzukreisen versuche_n und vertraute Tatbestände und Indizien so zusammentragen, daß sie einen verfremdenden phänomenologischen Blick auf die institutionalisierte Wissenschaft gestatten und aus der Distanz einige ihrer Besonderheiten erkennen lassen. Erstens sei daran erinnert, daß die wichtigsten erkenntnistheoretischen Leitbegriffe - die Ausdrücke »Begriff« und »Erf~hru1:1g«- ~nmit_telbare empirische Erfahrungen mit physischem Kontakt 1?1Smne emes d1~ekten Umgangs mit der Natur unterstellen. Der Terminus des »Begre1fens« macht den Zusammenhang evident; es wird von konkreter Berührung, von Kontakt, von physischem Befühlen als Erkenntnismittel ausgegangen. Und der Begriff der »Erfahrung« impliziert analaog körperliche Bewegung, ein »Fahren«, wobei heute natürlich ge_fra~twer~en muß, an welches »Fahren« der Begriff geknüpft ist. Vermutlich 1st es mcht das den Reisenden vom Rest der Welt isolierende Dahinrollen auf Gummirädern, dem sich die erkenntnistheoretische Rolle dieses Begriffs verdankt, eher ist zu denken an die Fahrt eines Marco Polo oder an das Fahren in der

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Kutsche, die Goethe nach Italien trug. Zumindest ist anzunehmen, daß bei diesen Formen der Bewegung mehr erfahren wurde als heute bei einer Fernreise auf die Malediven. Aus der Tatsache, daß die wichtigsten erkenntnistheoretischen Termini immer noch heißen: »Erfahrung« und »Begreifen« und daß diese mit unmittelbarem Wirklichkeitskontakt zusammenhängen, erklärt sich zweitens, daß die empirische Art der Erfahrung etwas mit dem Alter zu tun hat. Denn man kann davon ausgehen: Je weiter ein Mensch in seinem Leben voranschreitet, je älter er wird, desto reicher ist er an sogenannter Lebenserfahrung. Dieses Senioritätsprinzip der Erkenntnis hat sehr lange in der Menschheitsgeschichte Geltung und Bestand gehabt, etwa bis zur Epochenschwelle der beginnenden Neuzeit. Und es findet sich heute in antiquiert anmutenden politischen Begriffen wie »Senator« oder »Ältestenrat« wieder, die dem antiken Rom nachgebildet sind. In ihnen drückt sich Respekt und Ehrfurcht vor dem Alter aus, aber nicht vor dem Alter »an sich«, sondern weil und sofern es mit Wissen oder Weisheit verbunden ist. Heute aber findet auch innerhalb der Wissenschaft eine laufende, sich akzelerierende Entwertung des Alters statt. Man kennt Ordinarien, kaum über fünfzig, die darüber klagen, daß sie kein Gehör mehr finden in ihrer Disziplin, daß ihr Wissen überholt, verjährt und veraltet sei. Und umgekehrt: die jüngere Generation erscheint den Forschungsstrategen schon deshalb als förderungswürdig, weil sie unerfahren ist und die erkenntnistheoretische Voraussetzung mitbringt, die für die neuzeitliche wissenschaftliche Erfahrungsbildung die beste Voraussetzung ist, nämlich ein empirisch weitgehend unbelastetes tabula-rasa-Gehirn. Günstig ist allenfalls die moderne Lebenserfahrung aus dem Umgang mit der reinen Quantität, also der Umgang mit Fahrscheinautomaten, mit Gehaltsstreifen, mit Stromrechnungen, Kilometerzählern und Computern; d.h. günstig ist die quasi »transzendentale« Primärerfahrung, daß die gegenwärtige Welt bereits durch und durch, geistig und materiell, quantifiziert ist, ehe der erkennende Geist sich auf sie richtet. Ein in dieser quantitativen sozialen Realität erzogener und sozialisierter junger Mensch wird wenig Schwierigkeiten haben, die Entdeckungen der Wissenschaft nachzuvollziehen oder, wie es heißt, selbst innovativ zu werden. Was heißt »theoretische Erfahrung«? Ich weise drittens auf das phänomenologisch sonderbare Moment hin, daß ausgerechnet jene Wissenschaft, die in ihrem Begriff den Terminus »Natur« führt, neben der reinen Mathematik heute von allen die theoretischste ist. Wissenschaft ist primär

Geschichte, Naturwissenschaft und intellektueller Stil· 165 Bucherfahrung; das gilt auch und gerade für die Naturwissenschaft. Um was für Bücher handelt es sich? Offenkundig sind es keine Werke, in denen sich ein Autor oder ein Künstler bemüht, naturgetreue Bilder oder Abbilder der äußeren Realität anzufertigen, es sind keine Bilder von Breughel oder Abbilder wie von Brehm zu finden, sondern man sieht Kurven, Zahlen, Gleichungen, Funktionen. Dies gilt spätestens seit Newton und hat wiederholt die erkenntnistheoretische Frage provoziert: »Wie kommt die Mathematik in die Natur«? Die klarste Antwort hat Kant gegeben mit den Worten: »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht ... ursprünglich hineingelegt.« 10

Das operative, konstruktive, aktive Prinzip, das Kant für die neue Wissenschaft in Differenz zum passiven Betrachten hervorhebt, kann man als implizierten Industrialismus in der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung bezeichnen. Viertens: Gegen meine die Darstellung strukturierende These, daß es notwendig ist, zwei Formen der Erfahrung zu unterscheiden, eine empirische und eine theoretische, läßt sich ein starker Einwand vorbringen. Man könnte argumentieren, das empirisch-sinnliche Moment sei doch gerade das entscheidende Charakteristikum der neuzeitlichen Wissenschaft; schließlich sei die intellektuelle Neuzeit dadurch zu umschreiben, daß endlich Schluß gemacht wurde mit Aberglauben, Metaphysik und Religion oder - ich erinnere an Galileis Argumentation - mit den »Kundgebungen des Willens« und daß an ihre Stelle eben die »Erfahrung« (im ersten Sinne) getreten sei. Man wird betonen, daß das Wahrheitskriterium eine sinnliche Basis habe. Und man wird behaupten, daß der ideologisch, religiös oder subjektiv ungetrübte Kontakt zwischen Sinnesorgan und Außenwelt der entscheidende Mechanismus sei, über den das Erkenntnissubjekt in sukzessiver Steigerung zu Empfindungen, Wahrnehmungsresultaten und schließlich zu Erkenntnissen in Gesetzesform über die Natur vordringe. Doch wie steht es um die erkenntnistheoretische Bedeutung der Sinnesorgane in der Wissenschaft? Wolfgang Stegmüller, prominenter Wissenschaftsphilosoph, bemerkt in einer klaren Formulierung zu Recht:

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»Alle physikalischen Konstatierungen könnten in einem einzigen Sinnesgebiet vorgenommen werden. Die physikalischen Meßinstrumente lassen sich so konstruieren, daß alle Zeigerablesungen im visuellen Bereich erfolgen, aber auch so, daß nur akustische oder Tastmerkmale verwendet werden (z.B. die Konstruktion einander entsprechender Seh-, Photo-, Hör-, Tastspektroskope); auch ein vollständig Blinder und zugleich Tauber könnte daher sämtliche physikalischen Beobachtungen anstellen, die zur Überprüfung physikalischer Hypothesen erforderlich sind.« 11

Welche Bedeutung haben also die Sinne als Erkenntnisinstrumente in der Wissenschaft? Meine erste Schlußfolgerung lautet: Die korrekte phänomenologische Antwort auf die Frage nach dem »naturwissenschaftlichen Erfahrungsbegriff« (Kapitelüberschrift) heißt: Erfahrung ist das Registrieren von Zeigerstellungen. Es findet im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß eine Instrumentalisierung der Sinne statt. Doch mit dieser Antwort wird sich auch im philosophisch sehr abstinenten Naturforscher eine leise erkenntnistheoretische Neigung bemerkbar machen. Er wird nicht behaupten, für ihn sei schon das Erkenntnis, was sich seinen Sinnen präsentiere (und sei's auf einer Skala).,sondern auf weitere Ch~rakteristika des wissenschaftlichen Erkenntnisaktes verweisen. Er wird sagen, die Erfahrung in der Naturwissenschaft sei a) mathematisch, b) experimentell und c) objektiv; und auf die Zusatzfrage, »warum mathematisch und experimentell und objektiv«?, wird er hinzufügen, daß es doch sinnvoll sei, die Natur unverzerrt und systematisch zu beobachten, um das zu erhalten, was die Wissenschaft zuallererst sucht und will- ein Gesetz eine gesetzmäßige Erfahrung. Die Verallgemeinerung der Wahrnehmun1 bis zu dem Punkt, wo es möglich ist, statt »soviel wir bis heute wissen« »immer wenn - dann« zu sagen, das sei das Ziel der Wissenschaft. ' Das ist genau der Punkt, an dem die an Kant geschulte kritische Erkenntnistherorie Widerspruch einlegt. Kant insistiert darauf, daß mit der Wissenschaft ein Typus von Erfahrung beginnt, der auf einer »Revolution der Denkart« beruht 12 und der zwar korrekt beschrieben ist mit »mathematisch«, »experimentell« und »auf Gesetzmäßigkeit abzielend«; doch eben diese Kriterien sind den Naturphänomenen nicht empirisch abgelauscht, nicht in ihnen »an sich« enthalten, sondern operativ vom neuzeitlichen Wissenschaftler in sie hineingetragen. Ich gebe ein Beispiel. Zur Zeit, als die Wissenschaft noch nicht etabliert und folglich begründungsbedürftig war, beschrieb David Hume das Nebeneinander der zwei Prinzipien der Erfahrung in folgendem Modellfall:

Geschichte, Naturwissenschaft und intellektueller Stil· 167 ~Der gewöhnliche Mensch, welcher die Dinge nach dem ersten Anschein beurteilt, schreibt die Ungewißheit der Ereignisse einer Ungewißheit in den Ursachen zu, die sie ihre gewöhnliche Einwirkung oft verfehlen läßt, wenn auch kein Hindernis ihrer Tätigkeit entgegentritt ... Ein Bauer kann, wenn eine Uhr stehen bleibt, dafür keinen besseren Grund angeben, als daß sie eben auch sonst nicht immer in Ordnung ist; ein Mechaniker aber erkennt leicht, daß die gleiche Kraft in der Feder oder im Pendel stets den gleichen Einfluß auf die Räder hat, aber daß hier ihre übliche Wirkung versagt, weil vielleicht ein Staubkorn die ganze Bewegung aufhält.« 'l

Wie in einem Lehrbeispiel kreuzen sich hier die wissenschaftliche und vorwissenschaftliche Weise der Erfahrungsbildung. Einmal ist die Rede von empirischer bäuerlicher Wahrnehmung: Der Bauer schaut hin, sieht und urteilt entsprechend dem Augenschein. Zweitens betritt ein Wissenschaftler oder Mechaniker die Bühne, er sieht die gleiche Uhr, bemerkt ihren unregelmäßigen Gang, zieht aber aus seiner Wahrnehmung nicht den Schluß, daß die Uhr vermutlich immer falsch gehen wird (empirisch begrenzte Verallgemeinerung); sondern umgekehrt, entgegen seiner Wahrnehmung antizipiert er Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit und argumentiert: Es muß ein Störfaktor am Werke sein, der den unregelmäßigen Gang der Uhr verursacht und erklärt. Das heißt, er unterstellt eine empirisch nicht wahrgenommene Gesetzmäßigkeit als Normalfall und macht für das Nichteintreffen der Gesetzmäßigkeit einen noch unbekannten Faktor verantwortlich. Ich behaupte - und das ist meine zweite Antwort: Ohne die Antizipation einer Gesetzmäßigkeit, wo sie nicht ist oder sich nicht zeigt, gäbe es überhaupt keine Wissenschaft im neuzeitlichen Sinne. Die ideelle Antizipation von Gesetzmäßigkeit und ihre reelle Verwirklichung in experimentellen Anlagen ist, modern gesprochen, das grundlegende Forschungsprogramm der modernen Wissenschaft. Nicht die eine oder andere Detailhypothese, sondern der vorwegnehmende Gedanke genereller Gesetzmäßigkeit in der Welt ist das Paradigma, das der naturwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde liegt und ihre konkreten Forschungen anleitet - Kant hätte gesagt, es ist »die transzendentale Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung«. Mit der generellen Durchsetzung dieser transzendentalen Voraussetzung hat sich der intellektuelle Stil der Wissenschaft verändert. Seit dem Ende der Romantik ist die quantifizierende Naturwissenschaft in den gebildeten Zentren Europas ohne ernstzunehmenden Widersacher Goethes Kritik an Newton war wohl der letzte Einspruch, der einen

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seriösen Verleger fand, und die außereuropäische geistige Welt gilt seit der Aufklärung ohnehin als intellektuelles Niemandsland mit vorgezeichneter okzidentaler Entwicklungsrichtung. Fortan diskutiert die Wissenschaft mit sich selbst. Ihre Resultate nehmen mehr die schmucklose Form averbaler Tabellen und knapper Fachaufsätze an, denn die Grundfragen der Weltauffassung gelten als geklärt. Noch die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, ausgetragen im handlichen Format sogenannter Kontroversen, stärken die Wissenschaft und das Renommee der Beteiligten selbst da, wo sie im Irrtum sind; denn solange das Paradigma der Gesetzmäßigkeit der Welt respektiert bleibt und nur empirische Details in Frage stehen, gilt auch der Irrtum als Erkenntnisquelle. Die reife Wissenschaft ist ein Fachbetrieb ohne Gegner.'4

Geschichte, Naturwissenschaft und intellektueller Stil· 169 Anmerkungen 1 Die Begebenheit trug sich im Jahre 1981 zu, bei Drucklegung habe ich sie überprüft: Inzwischen führt die physikalische Bibliothek einen Band Kepler, die „Grundlagen der geometrischen Optik« in der Taschenbuchausgabe der Reihe »Ostwalds Klassiker« aus dem Jahre 1922. Die Zustände bessern sich. 2 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962, deutsch Frankfurt 1973, S. 4of. 3 Derek de Solla Price, Little Science, Big Science, 1963, deutsch Frankfurt 1974, S. 61 und 5of. 4 Galileo Galilei, zit. nach Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1975, deutsch Frankfurt 1976, S. 108 5 John Stuart Mill, Über Freiheit, 1959, deutsch Frankfurt 1969, S. 556 Leonardo Olschki, Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, Bd. 3, Halle 1927, S. 339· 7 Galileo Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische betreffend, 1632, deutsch von Emil Strauss, Leipzig 1891, S. n2-n6 (Hervorhebung von mir). 8 Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 1977, Taschenbuchausgabe Frankfurt 1980, S. 72. 9 »Wir haben uns zunächst klarzumachen, daß mathematische Naturwissenschaft kein unerläßlicher Bestandteil einer Hochkultur ist. Die klassischen Kulturen Vorderasiens, Indiens, Ostasiens, älter als die Kultur des Abendlandes und ihr bis tief in die Neuzeit hinein politisch, wirtschaftlich, technisch, künstlerisch, sittlich, metaphysisch gewachsen, wo nicht überlegen - sie alle haben mathematische Naturwissenschaft überhaupt nicht als großes Denksystem entwickelt.« Weizsäcker, ebd., S. 67. ro Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant-Werke, Weischedel-Ausgabe in 12 Bänden, Frankfurt 1968, Bd. 3, S. 179. 11 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1969, S. 39512 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 23. 13 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 1742, deutsch Hamburg 1964, S. 103. 14 Stanislaw Lern hat Stil und Ausdruck der Wissenschaft von morgen wie folgt beschrieben: »Jeder Redner hatte vier Minuten Zeit, um seine Thesen darzulegen. Das war ohnehin viel, wenn man bedenkt, daß 198 Referate aus 64 Staaten angemeldet waren. Um das Beratungstempo zu steigern, mußte jeder die

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Referate selbständig vor der Sitzung durchstudieren; der Vortragende aber sprach ausschließlich in Ziffern, die auf Kernstücke seiner Arbeit verwiesen. Um derlei reiche Sinngehalte leichter aufzunehmen, schalteten wir samt und sonders die mitgeführten Tonbandgeräte und Kleincomputer ein, welch letztere nachher die grundsätzliche Diskussion bestreiten sollten. Stanley Hazelton aus der Abordnung der USA schockierte sofort das Auditorium, denn er wiederholte nachdrücklich: 4, 6, II und somit 22 ... Ich suchte im Text seines Referats den Codeschlüssel und entnahm ihm, daß die Zahl 22 die endgültige Katastrophe bezeichnete.« Stanislaw Lern, Der futurologische Kongreß, Frankfurt 1974, S. 27f.

Katrin Sello

Hätt meine Mutter Fleisch gekocht ... So bin ich zurückgekommen, und das ist etwas, das ich nicht gekannt habe: Zurückkommen. (Man steigt nicht zweimal in den selben Fluß.) Wiederholen und wieder holen den Blick über den See und die Landschaft, die flach geworden war, seit ich sie nicht mehr sah. Das ist eine eigentümliche Grenze, wo Wirklichkeit etwas wirklicher wird. Auf der hölzernen Terrasse sitzend, die als ein schmaler Steg an der Rückseite der Datscha entlang führt, sehe ich jetzt in einen Bühnenraum hinein, darin die Birken zittern. Und ich habe die lichte Szene dir nicht beschreiben können in der Angst vor Abschied und Wiederholung, als hätte ich sie nie gesehn. Und wenn das jetzt auf einmal vor meinen Augen ist, so nicht wie etwas, das einst gewohnt und vertraut war, sondern wie der Schreck, das Unerwartete, das gegen die Wahrscheinlichkeit eintrifft und bekannt ist wie der böse Traum der Kindheit. Wie in den Szenarien des Innen oder im Kino wartet mit schwarzen Handschuhen schon

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Katrin Sello

der Fremde hinter der Tür. Und das ist so wirklich, daß es phantastisch ist. Mein Schrei kommt von weit. Von wo? Unveränderbar. Traum. Wiederholung. In der großen Musik folgt jeder Ton unerwartet und doch gesetzt, als könnte es nicht anders sein, vom Thema bis zur letzten Variation. Es ist die dreißigste und die der Kinder: Die Rüben, die Rüben, die haben mich vertrieben.

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Katrin Sello

Spaziergang in Herrenhausen Die Füße setzen die Fußballspieler in Mexico bei der We Ern, rennen, stolpern, treten den Ball, öfter dem Gegner die Beine und doch nach Regeln, die sie beherrschen. Und wir verstehen, wie sie die Füße setzen. Die brasilianischen Spieler laufen schön wie große Katzentiere ... Antilope wollte ich sein zur Nacht. In der Hitze des Mittags setzen die Füße Madeleine und ich in dem abgezirkelten Großen Garten auf den Kieswegen, die einst der Freiherr von Leibniz mit den Damen von Alten und von llten daher - dahin schritt, wandelte ja wie denn? Welcher Verfassung der Seele, welchem Konzept im Kopf ward hier Natur anverwandelt? Und zu was? Bizarre Muster am Boden aus Blumen, Buchs, Kies und Gras, weiträumige Perspektiven:

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ganz offensichtlich ein Plan, den wir unter der senkrechten Sonne langsam Fuß für Fuß setzend nicht entziffern. Gedanken sind in der Welt ein Zufall, wer sie ausspricht, und so bleibt das Gespräch abgelöst von den Bedingungen der Zeit und den Stimmen der Sprechenden. Und ich weiß, natürlich, wer diesen Gedanken ausgesprochen hat vor mir. Wozu denn Erfindung in einem vorgefundenen Text! Präsenz der Orte: die Füße setzen nach einem vorgezeichneten Plan, dessen Mechanik fremd und extrem bleibt: Monadologie, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade wie der barocke Garten des Freiherrn von Leibniz schattenlos in der Hitze des Mittags. Die Füße setzen als wären sie Tanzende in einer Lektüre, Schritt für Schritt, und jede Figur im Menuett eine Chiffre,

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die vorgetragen werden soll im polyphonen Chor der Sprechenden. Hitze und Schweigen. Der rationale Plan dementiert das Abenteuer des Labyrinths. Der Rhythmus der Wörter, die Geometrie der Wege, die Füße setzen. Und über kräftigen Waden sichtbar ein Knie; feine alte Narben bilden ein Ornament, Tagebuch der Kindheit: rennen, stolpern, die Füße setzen .....

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Philosophie nach ihrem Ende Nietzsche war wohl der erste Philosoph, der sich nicht mehr als Herr der diskursiven Ereignisse fühlte, die man dann mit seinem Autorennamen klassifiziert hat. Und befreit er nicht gerade damit die Geschichte vom anthropologischen Schema des Gedächtnisses? Am 30.3.1881 schreibt er an Köselitz: »wenn ich meine eigenen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig für uns monumentalisiren.« Das eigene Leben monumentalisieren - das fordert Nietzsche vom Philosophen der Zukunft. Still, kalt vornehm, fern, getrieben vom Willen zur Wüste - so charakterisiert er diesen Typus. Seine Schutzmaske ist der asketische Priester, jener »Repräsentant des Ernstes«, dem Nietzsches genealogische Studien gelten. Was bedeuten asketische Ideale? Im § 13 dieser Abhandlung heißt es: »Der asketische Priester ist der fleischgewordene Wunsch nach einem Anderssein« - aber die »Macht seines Wünschens« fesselt ihn ans diesseitige Leben. In ihm experimentiert der Mensch, das unfestgestellte kranke Tier, mit sich selbst und arbeitet seine Zukünftigkeitsstruktur heraus. Am Neujahrstag 1883 schreibt Nietzsche an Malwida von Meysenbug über seine freiwillige »Ascese des Geistes«: »Mein ganzes Leben hat sich vor meinen Blicken zersetzt: dieses ganze unheimliche verborgen gehaltene Leben ( ... ) ich bin es, der aus allen Zufällen sich Grausamkeiten gemacht hat.« Der Wille zur Wahrheit ist der Kern des asketischen Ideals, und er wird sich am Ende einer zweitausendjährigen »Zucht zur Wahrheit«, die man abendländische Tradition nennt, katastrophisch seiner selbst bewußt: Der Philosoph wandelt sich zum Genealogen seiner Praktiken. Steht in unbewußtem Vollzug und Automatismus das vollkommene Leben im Zenit, so hat die westliche Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts den Nadir erreicht: »die extremste Bewußtheit«. Nun stellt sich die Aufgabe der höchsten Selbstbesinnung in der Frage des Wozu als Ganzes. Und hierin rechtschaffen zu sein, ist die letzte Tugend des Geistes. Es erscheint der erste Philosoph des komparatistischen Zeitalters: »wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt.« 1 Wie die Psychoanalyse beginnt die Genealogie der Wissenschaft mit der Analyse von »unbewußten Wider-

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ständen im Herzen des Forschers« 2 und seines Willens, nichts über die Herkunft seiner Praxis zu wissen. Genealogie ist die Einübung des Willens zum Wissen des Vergangenen, der Anfänge; sie fordert einen historischen Instinkt, der stark genug ist, noch die eigene Erkenntnisbewegung genealogisch zu durchdringen - Ecce homo ist in diesem Sinne als Genealogie der Genealogie konzipiert. Gegen Ursprungsideologie gerichtet, beleuchtet der Genealoge die Kontingenzen der Anfänge: indem er den Ursprung des Ich zerstreut, löst er dessen chimärische Einheit auf. Der Weg des Genealogen folgt dem Ariadnefaden des Leibes, nicht den Phantasmata des Selbstbewußtseins. Das Maß des Geschichtlichen, auf das sich der genealogische Sinn richtet, ist die Tiefe der Einschreibung einer Erkenntnis in den Leib, und die Frage nach der Herkunft einer wissenschaftlichen Verfahrensweise führt auf den Triebgrund des Erkennens: »die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.« J So zeichnet Nietzsche eine Landkarte der Zivilisation, und die Genealogie der Wissenschaft erweist sich als Kernstück einer Naturgeschichte der Menschheit. Weil das Herkommen befiehlt, fragt der Genealoge stets nach der kommandierenden Instanz: Wer, nicht Was ist? Genealogie deckt den Befehl auf, der im Argument steckt. Wir gewöhnen uns an Befehle der Macht, halten sie für Argumente und vergessen die Gewalt in der Gewohnheit, bis wir die Gesetze, die uns unterwerfen, als Ausdruck der eigenen Macht empfinden. Das Vergessen des Ursprungs heiligt die Gewohnheit der Macht und ihre Erhaltungsbedingungen. »Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muß man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?«4 Genealogie ist radikal perspektivistisch. Der Perspektivismus Nietzsches darf nicht relativistisch mißverstanden werden, etwa als Beschränktheit in Hinsicht auf eine wahre Realität - wer nicht mehr an ein ,Wesen, glaubt, nennt auch nichts mehr ,bloße Erscheinung,, denn es gibt für ihn nur noch das aus unterschiedlichen Schätzungen kombinierte werdende Phänomenale. Jede Perspektive ist eine dem Leib eingeschriebene Interpretation, und das Begehren somit der polymorphe Interpret der Welt. Das Subjekt zerfällt in Triebperspektiven, nach denen die Welt je in ihrem Wert abgeschätzt wird. Große Erkenntnis wäre, jenseits von Gut und Böse, eine, die jene mannigfaltigen Wertschätzungen des polymorphen Begehrens nicht auf logische Widersprüche, die Differenzen nicht auf

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Negationsverhältnisse reduziert. Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen. Definiert man Interpretation als Verknüpfung eines Textes mit einer sinnsetzenden Kraft, so erweist sich das welthistorische Sinnvakuum, das man Nihilismus nennt, als Mangel an Interpretationskraft. Freie Sinnlichkeit interpretiert durch »Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretierens gehört« 5. Einern Dasein, das prinzipiell interpretiert, was es dann Ereignis heißt, und einem Erkennen, das eigentlich ein triebbestimmtes perspektivisches Abschätzen von Werten ist, öffnet sich eine intensive Unendlichkeit der Interpretation. »Der Perspektivismus ist nur eine complexe Form der Spezifität«, d. h. der bestimmten Art und Weise, in der ein Lebendiges agiert, um seine Welt darzust~llen, indem es sie zugleich herstellt. Dies dem Werden Seinsgepräge verleihende herstellende Darstellen des Daseins nennt Nietzsche »nothwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum - und nicht nur der Mensch - von sich die ganze übrige Welt construirt d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet« 6 • Das, was man Sein des Subjekts nennt, ist ein Kraftzentrum, das alles, was nicht es selber ist, in seiner Perspektive ordnet. Das Perspektivische konstituiert den Horizont, den wir Welt nennen. Der Sinn einer Sache liegt demnach in ihrer perspektivischen Beziehung auf einen Machtwillen. Die große Loslösung vom Zwang, der jeder Perspektive eignet, liegt in ihrer souveränen Beherrschung, der Kraft, »sie aus- und wieder einzuhängen« 7. Denn erst die Ignoranz gegen konkurrierende Interpretationen macht sie funktionsfähig. Ein Tatbestand wird durch perspektivische Sinnsetzung konstituiert. So zwar, daß sich das Interpretieren als affektiv_erProzeß ohne Subjekt entfaltet. »Man darf nicht fragen: ,wer interpretiert denn?, sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein ( ... ) als ein Affekt.« 8 Wenn interpretieren heißt, Machtdifferenzen durch die Wertfrage zu bestimmen, kann es zum Königsweg der Herrschaft werden. Denn: »Aller Sinn ist Wille zur Macht.« 9 Eines bringen Reden um keinen Preis zur Sprache: ihre eigene Materialität. Deshalb folgt Foucaults Analyse einer Partialmethodologie: sie klammert das Cogito ein und blendet die Repräsentationen ab, um die diskursive Technik erscheinen zu lassen. Was an gesagten Dingen zählt, ist nicht die Absicht des Sprechens. Dieser vorgängige Zwang erscheint genau da, wo der Sinn der Rede erlischt: Diskursanalyse reduziert die Rede auf das Daß ihrer Besonderheit, ihren Ereignischarakter. Die Rede

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aufs Ereignis reduzieren heißt, im Hasardspiel der Macht die Praktiken der Unterwerfung hier und jetzt beim Namen nennen. Jede Institution ist wesentlich Initiation in die Ordnung des sie regelnden Diskurses. Das Regelwerk einer diskursiven Praxis bildet das historische Apriori des Gesagten. Jedes soziale System verfolgt eine Wahrheitspolitik, die von einer diskursiven Polizei gesichert wird. Sie sichert das reibungslose funktionieren des wahren Diskurses, indem sie verhindert, daß nach dem Willen gefragt wird, der ihn treibt. Nietzsche folgend, richtet Foucault den Willen zur Wahrheit gegen die Wahrheit selbst und stellt ihre Geschichte durch die Machteffekte ihrer Reden dar. Gewiß: Es geht ihm um die Regeln einer diskursiven Praxis, die Gegenstände bildet und beherrscht. Diese Praxis entfaltet sich so äußerlich, daß sie vom Niveau der Wörter, Sachen und Subjekte aus gar nicht wahrgenommen werden kann. Das heißt: Die Effekte der Diskursregeln sind so oberflächlich, daß sie sich allen Sprechern einer Zeit als anonyme Gewalt auferlegen. Nur dieser fast unsichtbaren, weil allzu selbstverständlichen Positivität gilt das Interesse der Diskursanalyse. Und die Analyse erforscht das funktionieren von Texten und Reden umso eindringlicher, je entschlossener sie Sinn und Bedeutung ignoriert. Eine paradoxe Ethnologie unserer eigenen Vernunft versucht die sozialen Tatsachen, die man Kultur nennt, zu diagnostizieren, wie Nietzsches Genealogie es für die Moral praktizierte. Diese Methode zerstreut den Menschen und die Kausalität in ein historisches Strukturensemble, statt zu totalisieren. Dem entspricht ein erkenntnistheoretischer Vorrang der Signifikanten, d. h. der Zeichen eines Diskurses, sofern sie nicht Sinn zur Erscheinung bringen. Daß derart die Sprache in ihrem Sein zur Sprache kommt, ist unablösbar vom Verschwinden des mit sich identischen selbstbewußten Subjekts. Mit Nietzsches Genealogie wendet sich die Diskursanalyse gegen die Ideologie des Ursprungs und versucht, die Ereignisse in ihrer zufälligen Äußerlichkeit und historischen Einmaligkeit zu analysieren. Sie transponiert die Geschichte aus dem Register von Ursprung und Seele in das von Körper und Ereignis, denn das genealogische Verfahren zerstreut die Herkunft eines Individuums und präsentiert es als Knotenpunkt einer Vielzahl von Spuren. Jedes Wissen trägt Spuren seiner zufälligen Produktionsbedingungen und kann deshalb auf sein Werden und seine Effekte hin befragt werden. Es geht Foucault nicht um das Was eines Wissens, sondern um das Daß seiner Reden, die Diskurstatsachen: Wer spricht von wo aus? Welche Institutionen bringen zum Sprechen und

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archivieren das Gesagte? Wer spricht? Mit dieser Frage ist Nietzsche zum Ursprung der Sprache als Machtäußerung gelangt. Wer besitzt das Sprechen: das Herrenrecht, Namen zu geben? Wer heißt was gut, was böse? Es zeigt sich, daß zentrifugales Begehren und abweichendes Verhalten in der Geschichte der Modeme weniger durch schlichte Repression als vielmehr durch Diskursivierung, Verwandlung in wissenschaftliche Reden entmächtigt wurden. Macht und Begehren, die in jedem wissenschaftli~?en Reden auch am Werk sind, knüpfen den Diskurs an kontingente Außerungsbedingungen, genau bestimmbare Institutionen. Verbote sind heute anachronistisch. Soweit sich das Begehren diskursiviert, ist alles erlaubt. Diskursivierung ist die Kapillartechnik der Macht im intimsten Bezirk. Deshalb analysiert Foucault den Diskurs nicht primär als Ausdruck von Macht und Begehren, sondern als ihren Gegenstand. Sich einer Rede im Namen der Wahrheit bemächtigen heißt Macht durch die Produktion eines koextensiven Wissens stabilisieren. Keine Rede, in der nicht Macht am Werk wäre, hinter der nicht ein Begehren kommandierte. Zumal Tabus und Verbote werden von Foucault in ihrer Positivität analysiert: als Mächte, die zum Sprechen bringen. Die Macht läßt sich nicht negativ beschreiben: sie produziert. Repression ist ancien regime. Modeme Macht macht uns die Wahrheit sagen. Während wir immer noch ideologiekritisch auf die Verbote starren, beherrscht uns längst die unausgesetzte diskursive Macht der Befragung, die uns zu Geständnistieren gemacht hat. Bekanntlich hat sich Freud, um nicht zu schnell ans Ziel zu kommen, den Genuß der Nietzsche-Lektüre versagt. Das Ziel ist die Logik des »anderen Schauplatzes«. Daß das, was vorgestellt, nicht unbedingt bewußt wird, hat die traditionelle Psychologie skandalisiert; beides zu identifizieren, ist ihre »wesentliche Verkennung« 10 • Imago heißt, was in der Kontingenz der psychischen Effekte Traum, Fehlleistung und Symptom als unbewußte Vorstellung sein Wesen treibt. Das Akzidentielle der Verursachung und die Unmittelbarkeit des Symptomeffekts konfrontieren das Feld des Systematisch-Bewußten mit dem Real-Unbewußten. Als Analyse der Neurosen beginnt die Psychoanalyse. Die Neurose markiert die Grenze des souveränen Ich: daß die Einheit des Selbst Schein ist, und Teile von ihm stets sich selbst verborgen bleiben. »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.« Nämlich der Körperoberfläche im Spiegel: »Körper-Ich.« 11 Daß sich aber Ich zum Es wie eine Fassade

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verhält, verleiht der inneren Wahrnehmung einen Index des Virtuellen. Im Kern unseres Wesens stoßen wir gerade nicht auf das Ich, das vielmehr, wie der Narzißmus zeigt, Objekt ist - und zwar das »vornehmste« der sexualen. Psychoanalyse liest die Signatur des Selbst im Abfall seines Lebens; das Verfehlte, die Fehlleistung ist nicht nichts, sondern chiffriertes Unsagbares. Man muß nur, wie Freud, hinhören statt zu verstehen; hinsehen statt zu erkennen. Das Sprechen des Subjekts zeigt das Versteckte: »Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat.« 12 Das Faktum des unbewußten Wissens, in dem ein Schein von Vergessen ein Zugleich von Wissen und Nichtwissen deckt, besagt, daß ich weiß nicht »daß«, wie Sokrates, sondern - was ich nicht weiß. Dämon hieß solches Wissen einmal, ein psychisch von der Assoziation abgespaltener Gedanke: »Es gibt ein Wissen im Unbewußten, das schlechterdings nicht zu begreifen ist, wenn man es als ein sich vollendendes, sich schließendes Wissen auffaßt.« IJ So belehrt etwa der hysterische Wille zum Nichtwissen, der den Assoziationswiderstand bildet, darüber, daß gerade der Wille und die Absichtlichkeit des Analysanten den analytischen Fortschritt blockieren. Analyse untersagt Kritik, um die Aufmerksamkeit des Subjekts von seinem Willen zu dissoziieren; es soll »sich selbst mit dem objektiven Interesse des Forschers« 14 betrachten. In der analytischen Situation ereignet sich ein »Austausch von Worten« 1 5. So gibt sie dem Wort aber seine alte magische Zauberkraft zurück. Der Analytiker »interpretiert ein Symbol und auf einmal verschwindet ein Symptom, das jenes Symbol mit Buchstaben des Leidens ins Fleisch des Subjekts eingeschrieben hat« 16• Die Analyse will Stummheit aufheben. Das Symptom ist das Stummsein im Subjekt, das doch ein sprechendes sein soll. »Das Subjekt zu rezentrieren als sprechend« '7 - so lautet die Freudsche Aufgabe. Sie ist dem formulierbar geworden, der erstmals das methodologische Privileg der Hysterieanalyse erkannte. Denn die Hysterie, die im Krankwerden an Reminiszenzen die Macht der Erinnerung bezeugt und in der Wortwörtlichkeit ihres Ausdrucks den Wörtern ihren ,ursprünglichen< Sinn zurückgibt, zeigt uns die Konstitution des Begehrens in der Bewegung des Sprechens. Bekanntlich soll, wo Es war, Ich werden, aber »sich neue Stücke des Es aneignen« kann für das Ich nur heißen, die Außenwelt bei jenem zu

Philosophie nach ihrem Ende· 183 repräsentieren, um es einer vernichtenden Befriedigung zu entziehen. Freud läßt keinen Zweifel daran, daß alles, was an Machtsteigerung des Ich, »zum Heil des Es« geschieht. »Im Auftrag des Es« funktioniert die Ichinstanz.1 8 Noch das stärkste Ich bleibt »unterwürfiger Knecht, der um die Liebe seines Herrn wirbt« 19. Es geht also in der Psychoanalyse, zur Ent-Täuschung aufgeklärter Philosophen, nicht einfach um Herrschaft des Ich über das Es, sondern um die Wiedereroberung einer ganz bestimmten, verlorenen. Der Versprecher (oder das Verlesen), bei dem das Ich nicht bei sich ist, unterbricht dessen Verkennung. Im Augenblick der Fehlleistung bin ich nicht »da« - und wenn ich weiß, wo Es war, bin ich nicht mehr, sondern werde ich es erst. Das Es erobern, heißt (s)ich dort realisieren, nicht es delogieren. Wo Es war, soll Ich werden, heißt: am Ende der Analyse soll das Ich da sein, wo das Subjekt war, das nun das Wort hat, um mit dem wahren Anderen in Beziehung zu treten und seine membra disjecta zu reintegrieren. Diese verkennt es als Ich prinzipiell. Selbstreflexion systematisiert die Verkennung und schreibt die analytische Situation als duale Beziehung fest. Jede derart strukturierte Aufklärung bleibt dem narzißtischen Schema verhaftet. Psychoanalyse prozediert nicht durch Selbstreflexion, sondern im Sprechen des Subjekts. Dessen Ich soll nicht da, wo es ist, gestärkt, sondern anderswo realisiert werden, nämlich da, wo das unbewußte Subjekt ist und zum Anderen spricht. In der radikalen Beziehung der psychischen Instanz des Ich auf dessen grammatikalische Form schwinden die Trugbilder. Ich werde dort, wo Es war, indem ich, aus meiner Aussage verschwindend, es jetzt aussage. Das Subjekt steht radikal exzentrisch zum Ich - diese Heteronomie prägt die Identität des Menschen und mit ihr versöhnt ihn die Analyse: ein Anderer ist mir wichtiger als Ich. Das Ich muß aus der Aussage verschwinden, um - in diesem Augenblick - zum Sein zu kommen, weil das Subjekt des Signifikanten exzentrisch zu dem des Signifikats steht. »Ich bin nicht, da wo ich das Spielzeug meines Denkens bin; ich denke an das, was ich bin, dort wo ich nicht denke zu denken.« 20 Prämaturation, die verkürzte intrauterine Existenz, wirft etwas Unfertiges in die Welt. Vom ersten Lebensaugenblick an erscheint die Außenwelt lebensgefährlich, der Wert des pflegenden und gegen die Hilflosigkeit schützenden Objekts unendlich. Und deshalb entsteht hier die rätselvolle Eigenart des Menschen: sein »Bedürfnis, geliebt zu werden« 21 • Das Begehren gilt ab ovo dem Begehren des anderen. Am »Nebenmenschen« hat das Subjekt seinesgleichen als Objekt, an dessen Bild es sein Ich bildet. »Am

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Nebenmenschen lernt der Mensch erkennen.« 22 In der Prämaturation hat Lacan die Kluft des Menschlichen erkannt, welche die von der Imago-Funktion regulierte Beziehung zur Umwelt stört. Die Prämaturation läßt das Imaginäre, den Tieren unentrinnbar, aufklaffen und so die Verfremdung des Subjekts ins Bild (von Seinesgleichen; des Spiegels), in der sich das Ich als, weil Bild, Ideal-Ich bildet, nicht alles sein. Eröffnet wird, in der Kluft des Menschlichen, die »Symbiose mit dem Symbolischen« J, in dem sich das Subjekt als Sein zum Tode konstituiert. Jene Kluft, in der die entfremdende Spannung des Subjekts zum Bild gründet, ist das biologische Pendant des Mangels, wie der Prä/ Absenz-Alternanz des Symbolischen. Die Erfahrung der Todes-Verfallenheit, immer wieder genährt von den gleichsam lebensimmanenten »Toden« der Geburts- und Entwöhnungstraumen, drückt also die schmerzliche Differenz zwischen der großartigen Wahrnehmung des Körper-Ganzen im Bild und der Unfähigkeit aus, sich selbst als Ganzes zu empfinden. Es bedarf des narzißtischen Objekts, d. h. einer imaginären Körpergestalt, zum Schutz gegen die Hilflosigkeit und zur Abwehr der Angst vor dem Unheil des Zerrissenseins. Me connaitre = meconnaitre. Diese Gleichung bildet sich, sobald sich das Subjekt ein antizipiertes Bild von sich macht. Qua Spiegelbild wandelt der Mensch sich selbst in eine triumphale Übung. Wem aber gilt der Jubel? Der Einheit. Der Rettung durch die Imago des Doppelgängers. Indessen bleibt das Objekt klein a unrettbar abgetrennt. Ergo: Im StandBild seines Ich findet der Mensch seine entfremdende Einheit, im Begehren aber seine Zerrissenheit, in der sich seine wesentliche Unangepaßtheit, die sein Sein auf Sprache hin öffnet, bekundet. Im Zentrum des Bewußtseins ist deshalb ein Einheitswille am Werk, der die sogenannten ,mentalen FortschritteHeuteistististististSeinfrühe Spur< des Verdrängten erkennt Derrida in den Formen seiner Wiederkehr: den Schriftmetaphern des abendländischen Diskurses. Nicht von ungefähr intervenieren hier Vokabeln der Psychoanalyse, denn es war Freuds Traumdeutung, die die von der Phone beherrschte Schrift zur Schrift in der Schrift depossedierte: Auf dem anderen Schauplatz sind phonetische Schrift, Satz des Widerspruchs und Präsenzmetaphysik suspendiert. Diesen anderen Schauplatz, das Jenseits der Metaphysik, denkt Derrida mit dem lnterpretament der Heideggerschen Differenz als Temporalisation. Die Andersheit, mit der uns jener Schauplatz der Schrift konfrontiert, markiert sich so, daß sie in das Verhältnis das einschreibt, was nicht >gesetztalssolchen< seine Dissimulation. Dieselbe Bewegung der differance schreibt die Spur des Anderen ein und alteriert das Selbst; sein Selbstbezug eröffnet die Differenz mit sich. Das klingt dialektisch, soll es aber nicht sein. Denn der Selbstbezug muß radikale Endlichkeit markieren: Das Urmodell der Differenz als Temporalisation ist Heideggers >Sein zum Todea