Aufklärung als praktische Philosophie: Werner Schneider zum 65. Geburtstag [Reprint 2012 ed.] 9783110967272, 9783484365452

The Age of Enlightenment developed a whole series of its guiding principles in the field of Practical Philosophy. This l

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German Pages 477 [480] Year 1998

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. EPOCHENGRENZEN UND EPOCHENSPEZIFIK
Die Moderne beginnt mit Sokrates
Diversités culturelles: Aufklärung allemande – Lumières françaises
Christian Wolff était-il un Aufklärer?
II. PRAXIS DER THEORIE: VERNUNFT UND ERFAHRUNG
Erfahrung mit Vernunft
Das metaphysische Bedürfnis
Pietismus, Platonismus und Aufklärung: Christian Thomasius' Versuch von Wesen des Geistes
»Naturae mentis nostrae nobis conscii ad exempla attendentes«
III. THEORIE DER PRAXIS: RECHT UND POLITIK
Die Grundregel des Naturrechts
Universal-Kameral-Wissenschaft als politische Theorie: Johann Friedrich von Pfeiffer (1718-1787)
The New Adam Smith
Carpzov und Thomasius
Leibniz und die gerechte Ordnung des Erbrechts
IV. PRAXIS DER AUFKLÄRUNG
Thomasius und das Geheimnis der Franzosen
Buch und Bauer in Ungarn im Zeitalter der Aufklärung
Praktische Aufklärung oder »die verbesserte Erziehung«
Passion und Reflexion
V. SCHLÜSSELBEGRIFFE DER AUFKLÄRUNG
Der Philosoph des 18. Jahrhunderts zwischen Esoterik und Exoterik
G.F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden
Moses Mendelssohn über Vorurteile
Vollkommenheit. Christian Wolffs Rede über die Sittenlehre der Sineser
Critique philosophique et critique des arts chez Diderot
Die Objektivität des Glücks
Et ego in Utopia
»... ut operaretur eum«
VI. KRITIK DER RELIGION: VERNUNFT UND GLAUBEN
Die Philosophie des 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Vernunft und Glauben
Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie
De l'Au-delà à l'Ici-bas: L'abbé Chaudon et Deserres de la Tour
Pietro Giannone: an itinerary in European freethinking
VII. NAMENREGISTER
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Aufklärung als praktische Philosophie: Werner Schneider zum 65. Geburtstag [Reprint 2012 ed.]
 9783110967272, 9783484365452

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FRÜHE NEUZEIT Band 45

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Aufklärung als praktische Philosophie Werner Schneiders zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Aufklärung als praktische Philosophie : Werner Schneiders zum 65. Geburtstag / hrsg. von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Frühe Neuzeit; Bd. 45) ISBN 3-484-36545-5

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt/Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort

IX

I. EPOCHENGRENZEN UND EPOCHENSPEZIFIK

1

Volker Gerhardt Die Moderne beginnt mit Sokrates

3

Roland Mortier Diversites culturelles: Aufklärung allemande - Lumieres franfaises

21

Jean Ecole Wolff etait-il un Aufklärer?

31

II. PRAXIS DER THEORIE: VERNUNFT UND ERFAHRUNG

45

Rainer Specht Erfahrung mit Vernunft. Leibniz und Locke über die Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften

47

Helmut Holzhey Das metaphysische Bedürfnis

71

Wilhelm Schmidt-Biggemann Pietismus, Piatonismus und Aufklärung. Christian Thomasius' Versuch von Wesen des Geistes

83

Claude Weber »Naturae mentis nostrae conscii ad exempla attendentes«. Zur Funktion des Exempels in Christian Wolffs Schriften zur Metaphysik

99

VI

Inhalt

III. THEORIE DER PRAXIS: RECHT UND POLITIK

127

Friedrich Vollhardt Die Grundregel des Naturrechts. Definitionen und Konzepte in der Unterrichts- und Kommentarliteratur der deutschen Aufklärung

129

Horst Dreitzel Universal-Kameral-Wissenschaft als politische Theorie: Johann Friedrich von Pfeiffer (1718-1787)

149

Knud Haakonssen The New Adam Smith

173

Hinrich Rüping Thomasius und Carpzov

187

Klaus Luig Leibniz und die gerechte Ordnung des Erbrechts

197

I V . PRAXIS DER AUFKLÄRUNG

209

Jean Mondot Thomasius und das Geheimnis der Franzosen

211

Istvän György Töth Buch und Bauer in Ungarn im Zeitalter der Aufklärung

223

Uta Janssens-Knorsch Praktische Aufklärung oder die »verbesserte Erziehung«. Ein illustres Vorbild: Marie Leprince de Beaumont

241

Frauke Annegret Kurbacher Passion und Reflexion - Zur Philosophie des Philosophen in Johann Georg Walchs Gedancken vom Philosophischen Naturell (1723)

253

Inhalt

VII

V . SCHLÜSSELBEGRIFFE DER AUFKLÄRUNG

269

Simone Zurbuchen Der Philosoph des 18. Jahrhunderts zwischen Esoterik und Exoterik: Zur Strategie der radikalen Aufklärung

271

Günter Gawlick G.F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden

281

Michael Albrecht Moses Mendelssohn über Vorurteile

297

Gerhard Sauder Vollkommenheit. Christian Wolffs Rede über die Sittenlehre der Sineser

317

Paolo Quintiii Critique philosophique et critique des arts chez Diderot. De VEncyclopedic aux »Salons« (1751-1781)

335

Frank Grunert Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung

351

Ulrich Dierse Et ego in Utopia. Tod und Unsterblichkeit in glücklichen Gefilden

369

Peter-Eckhard Knabe » ... ut operaretur eum«. Warum es gilt, unseren Garten zu bestellen, und wie Candide und Rasselas zu dieser Überzeugung gelangen

377

VIII

Inhalt

V I . KRITIK DER RELIGION: VERNUNFT U N D GLAUBEN

385

Ursula Goldenbaum Philosophie im Spannungsverhältnis von Vernunft und Glauben. Das Beispiel des Briefwechsels zwischen Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz

387

Daniel Minary Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie

419

Hisayasu Nakagawa De l'Au-delä ä l'Ici-bas: L'Abbe Chaudon et Deserres de la Tour

433

Giuseppe Ricuperati Pietro Giannone: an itinerary in European

V I I . NAMENREGISTER

freethinking

449

459

Vorwort

Die historische Aufklärung hat eine Reihe ihrer wichtigsten Leitgedanken im Feld der Praktischen Philosophie entwickelt. Aus der Orientierung an der Praxis erwuchsen Veränderungen, die das überkommene System der Wissenschaften und das Gefuge der gesellschaftlichen Institutionen ebenso betrafen wie die Formen der Kommunikation und nicht zuletzt die Regeln der individuellen Lebensführung. In der Rückschau hat man die großen emanzipatorischen Projekte der Aufklärung gewürdigt, zugleich aber auch deren Scheitern konstatiert und schließlich die Fehlentwicklungen der Moderne auf Errungenschaften der Aufklärung zurückgeführt. Die Liste der von der Aufklärung zwar nicht intendierten, ihr aber gleichwohl zur Last gelegten Folgen ist lang: sie reicht vom Terror der Französischen Revolution bis zu den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, von der Ausbeutung der Natur bis zu den Risiken der heutigen Nuklear- oder Gentechnik: »Looking over this list of charges, one wonders how one period could have been responsible for so much and so many different kinds of harm.«1 Gegen die Denunziation der Aufklärung als Epoche einerseits und als Programm andererseits hat Werner Schneiders aus philosophischer Perspektive ein Verständnis von Aufklärung entwickelt, das den selbstreflexiven Anspruch der Aufklärung historisch rekonstruiert und programmatisch ernstnimmt.2 Dabei betont Schneiders immer wieder, daß der selbst- und fremdreflexive Anspruch der Aufklärung nur dann sinnvoll erhoben und aufrechterhalten werden kann, wenn weder ihr rationales noch ihr emanzipatorisches Moment preisgegeben wird.3 Beide Momente - die rationale »Aufklärung des Verstandes« und die emanzipatorische Selbstbefreiung - stehen nicht unvermittelt nebeneinander, vielmehr nehmen sie im Horizont einer prinzipiel-

James Schmidt: What is Enlightenment? A Question, Its Context, and Some Consequences. In: What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and Twentieth-Century Questions, hrsg. v. James Schmidt, Berkeley, Los Angeles 1996, S. 1. Vgl. etwa Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 175ff. Siehe zuletzt Werner Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung, München 1997, S. 7; Robert Darnton, Jean Mondot und Werner Schneiders im Gespräch über Aufklärung und Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 20/2 (1996), S. 138.

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Vorwort

len Praxisorientierung in theoretischer wie in normativer Hinsicht Bezug aufeinander. Aufklärung wird auf diese Weise selbst zu praktischer Philosophie, und umgekehrt wird die Philosophie einem aufklärerischen Anspruch unterstellt. Und dies gilt über die Epoche der Aufklärung hinaus. Konturen gewinnt dieses Projekt sinnvollerweise nur im Rückgriff auf diejenige historische Konstellation, die am Anfang seiner Entwicklung stand. Der vorliegende Band versucht im Ausgang von Einzelanalysen und aus der Eigenperspektive der Epoche wichtige Grundzüge des denkgeschichtlichen und kulturellen Wandels zu beschreiben, um so die historische Grundlage fur die Frage nach den Wirkungen der aufklärerischen Praxislehren zu verbreitern. Die Autoren widmen dieses Buch Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Sein jahrzehntelanges Schaffen hat die Forschungsarbeit der Beiträger auch dann noch stimuliert, wenn sie aus der Perspektive ihrer unterschiedlichen Disziplinen mit eigenen Interpretationen zur Aufklärung als Epoche und als Programm hervorgetreten sind. Ein Buch macht sich nicht von allein, es erfordert die Geduld und das Engagement von vielen Beteiligten. Und so gilt unser Dank zunächst den Autorinnen und Autoren, die sich trotz knapper Terminierung mit einem Beitrag beteiligt haben. Die technische und redaktionelle Umsetzung des Bandes lag in den Händen von Wolfgang Thoeben und Richard Stratenschulte. Ihnen sei fur die Umsicht und die Mühsal der sich streckenden Kleinarbeit an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Zu danken haben wir auch der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und insbesondere dem Fachbereich 7 - Geschichte / Philosophie - , die die finanziellen Voraussetzungen für die Herstellung des Bandes geschaffen haben. Und schließlich möchten wir Frau Birgitta Zeller (Max Niemeyer Verlag) und den Herausgebern der >Frühen Neuzeit< danken, die das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben. Basel und Gießen, im März 1998

Frank Grunert, Friedrich Vollhardt

I. EPOCHENGRENZEN UND EPOCHENSPEZIFIK

Volker Gerhardt

(Berlin)

Die Moderne beginnt mit Sokrates

1. Epochengrenzen Es war einmal eine Zeit, da sollten alle, die nicht gestorben waren, schon tot sein. Diese Zeit, die so gerne >Postmoderne< geheißen hätte, ist mittlerweile so fern, daß selbst diejenigen, die durch die bloße Verkündigung dieser Zeit zu Ruhm und Beschäftigung kamen, sich heute gar nicht mehr an sie erinnern mögen.1 Deshalb ließe sich heute ein Thema nach der Art: >Nietzsche und die Postmoderne< schnell erledigen. Es hätte bestenfalls historischen Charakter. Man brauchte noch nicht einmal danach zu fragen, was die Epoche der >Postmoderne< denn eigentlich sein oder bedeuten sollte. Man könnte sich darauf beschränken, was die selbsternannten >Postmodernen< eigentlich wollten, obwohl sie, strenggenommen, gar nicht mehr wollen wollten. Doch lassen wir die Polemik gegen Phantome, die sich selbst erledigt haben, und gestehen wir den emeritierten Postmodernen das Verdienst zu, das Interesse an der Moderne belebt zu haben. Und da sie nicht in der Lage waren, mit dem angeblichen Ende der Moderne den Anfang der von ihnen suggerierten virtuellen Epoche zu benennen, stellt sich wie von selbst die Frage ein, wann denn die Moderne, wenn sie schon so schnell nicht enden will, begonnen hat. Dieser Frage möchte ich meine Aufmerksamkeit zuwenden. Die Postmodernen waren im schnellen Lauf ihrer versuchten Flucht vor ihrer eigenen Zeit genötigt, ihren historischen Ausgangspunkt immer noch ein Stückchen vorzuverlegen: Zunächst waren es die Dekonstruktivisten und Neostrukturalisten selbst, dann ihre Lehrer, dann verwies man auf Musil, dann auf Hofmannsthal, dann kam schon Nietzsche und mit ihm die ganze romantische Bewegung. Aber als man deren angeblich von der Moderne abweichende Stilelemente aufgezählt hatte, mußte man sich eingestehen, daß auch Goethe in ganzer Breite über sie verfugte. Die vorerst letzte Auskunft war, daß man zweien der meistgenannten Väter der Moderne, nämlich Shake-

Ein bemerkenswertes Beispiel gibt Wolfgang Welsch mit seinem Aufsatz: Ästh/ethik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, in: Ethik der Ästhetik, hrsg. v. Ch. Wulf, D. Kamper u. H.U. Gumbrecht, Berlin 1994, S. 3-22.

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Volker Gerhardt

speare und Montaigne die wichtigsten Impulse für die Auflösung der Moderne zuschreiben muß. Das klingt wie eine Parodie. Doch der Moderae ergeht es nicht anders: Die jahrzehntelang genannten Gründerväter wie Francis Bacon und Rene Descartes, Hobbes, Moliere oder Perrault,2 sind längst als epigonal erkannt. Sie haben ihre Vorläufer in der Renaissance, die ihrerseits Anregungen aus der Pariser Theologen- und der Oxforder Artistenfakultät des 13. und 14. Jahrhunderts bezogen haben. Und bei näherem Zusehen entdeckt man, daß dieser mittelalterliche Aufbruch in die Neuzeit nicht ohne die Wiederentdeckung der aristotelischen und platonischen Schriften möglich gewesen wäre. Die Moderne verweist von sich aus auf die Antike zurück. Dieser Einsicht, die wir heute mit den Namen von Hans Blumenberg, Louis Dumont oder Charles Taylor verbinden, war Nietzsche weit voraus. Für ihn beginnt die Moderne mit Sokrates. Dabei hatte seine Hinwendung zum sokratischen Denken von vornherein einen epochengeschichtlichen Einschlag. Mit der Kennzeichnung des Anfangs wollte er zugleich die Bedingungen für das erhoffte Ende benennen. Er gehört also nicht zu jenen, die wie sein Zeitgenosse Kierkegaard, in Sokrates den personifizierten Anfang des Philosophierens erkennen; er sieht in Sokrates vielmehr das anfängliche Verhängnis, das erst nach über zweitausend Jahren zu vollem Bewußtsein kommt. Und sein eigenes Schicksal sieht und erhofft er darin, alles das, was in und mit Sokrates zur Herrschaft gekommen ist, endlich zu überwinden.3

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Charles Perrault (1628-1703) veranlaßte die Querelle des Anciens et des Modernes mit dem Gedicht auf den Steele de Louis le Grand (1687) und die vier Bände Paralleles des anciens et des modernes (1688-1697). Bei der Sichtung des Materials für die folgenden Überlegungen waren zwei Arbeiten besonders hilfreich: Hermann Josef Schmidt: Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild, Meisenheim, Glan 1969; Werner J. Dannhauser: Nietzsche's View of Socrates, Ithaca, London 1974. In beiden Bänden ist auf die ältere Literatur zum Verhältnis Nietzsches zu Sokrates verwiesen, so daß ich mich auf wenige Hinweise beschränken kann: Richard Oehler: Nietzsche und die Vorsokratiker, Leipzig 1904 (Diss. Halle 1903 bei H. Vaihinger); Walter Kaufmann: Tragedy and Philosophy, New York 1969 (dt. Tragödie und Philosophie, Tübingen 1980); Dieter Bremer: Nietzsches Dionysos und Piatons Eros, in: Apohoreta. Für Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Andreas Parzer, Bonn 1975, S. 21-72; ders.: Platonisches, Antiplatonisches. Aspekte der Platon-Rezeption in Nietzsches Versuch einer Wiederherstellung des frühgriechischen Daseinsverständnisses, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 39-103. Das in seiner Parteinahme für Sokrates sympathische Buch von Ernst Sandvoss (Nietzsche und Sokrates, Leiden 1966) ist bedauerlicherweise nicht sehr zuverlässig. Zutreffend und sehr erhellend ist dagegen die von Beatrix Himmelmann vorgelegte Deutung in: Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität, Freiburg, München 1996, S. 39-62 u. S. 266-287.

Die Moderne beginnt mit Sokrates

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2. Ein Anfang mit Sokrates Nach Nietzsches Darstellung ist Sokrates der moderne Mensch schlechthin. Er ist der erste, bei dem sich die geistige Physiognomie des modernen Menschen ausprägt. In Sokrates glaubt Nietzsche einen Typus zu entdecken, der den frühen, den >vorsokratischen< Griechen gänzlich unverständlich sein mußte, uns Heutigen dagegen selbstverständlich ist. Denn es ist der ganz aus seinem Wissenstrieb lebende faustische Mensch, der hier erstmals die weltpolitische Bühne betritt und dafür sorgt, daß der Mensch auf das »weite wüste [...] Wissensmeer [...]« hinausgetrieben wird (GT 18; 1, 116).4 Hinter diesem Trieb ins Unermeßliche steht die »sokratische Erkenntnislust« (ebd.). Sie erzeugt die Wissenschaft im modernen Sinn und mit ihr die Kultur des Wissens samt dem darin eingeschlossenen Optimismus der Theorie: Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. (GT18; 1, 116)

Die frühe griechische Welt - und mit ihr das sie so überlegen und produktiv fortzeugende tragische Bewußtsein des vorsokratischen Menschen - wird vom »Socratismus der Wissenschaft« (GT 23; 1, 148) überspielt. Die rauschhaft lösende Kraft des Dionysos scheint verzichtbar. Der »theoretische Mensch«, für den Sokrates den »Typus« vorgegeben hat (GT 15; 1, 98), wehrt sich gegen die Hingabe an das Leben und setzt stattdessen auf den unerschütterliche[n] Glaube[n], dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. (GT 15; 1, 99)

Der Ahnherr der welthistorischen Kehre zur wissenschaftlichen Kultur ist Sokrates. Ihn nennt Nietzsche einen »Mystagogen der Wissenschaft«; er soll die »Universalität der Wissensgier« erzeugt haben (GT 15; 99), in deren Folge die Wissenschaft zur alles andere beherrschenden Macht werden konnte. In seinem Leben und Sterben habe Sokrates die »Universalität« exemplarisch gemacht, die erst von da an als ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, j a mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde.

An diese Schilderung knüpft Nietzsche die Schlußfolgerung:

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Nietzsches Schriften werden in der üblichen Abkürzung mit Buchtitel und AphorismenNummer zitiert. Zusätzlich werden auch die Band- und Seitenzahl der Kritischen Studienausgabe der Werke, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1980, angegeben.

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Volker Gerhardt wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich gar nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. (GT 15; 1, 100)

Das Erstaunliche an dieser Diagnose ist, daß Nietzsche die geradezu schicksalhafte Notwendigkeit der epochalen Kehre anerkennt. Ich brauche nur zu zitieren, um kenntlich zu machen, daß Sokrates hier nicht mehr und nicht weniger als die Rettung der Menschheit vor sich selbst inauguriert: Denn [so schließt Nietzsche an die These von Sokrates als dem »Wendepunkt und Wirbel« der Weltgeschichte unmittelbar an, der Verf.] dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz [der sokratischen Erkenntnis, der Verf.] verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vemichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmords, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermords aus Mitleid erzeugen könnte [...]. (GT 15; 1, 100)

Mit anderen Worten: Wäre Sokrates nicht gekommen und hätte die destruktiven Energien der Menschheit nicht durch Erkenntnis und Wissenschaft absorbiert, gäbe es nur noch Anlaß, den Tod dem Leben vorzuziehen. Der »Pesthauch« des Lebens wäre unerträglich (GT 15; 1, 100).

3. Es fehlt ein moderner Sokrates Spätestens diese Spekulation über eine Welt ohne Sokrates fuhrt vor Augen, wie ernst es Nietzsche mit seiner Diagnose ist. In ihr haben wir die zentrale Aussage der Geburt der Tragödie zu sehen. Die Ausfuhrungen über die beiden »Kunstgottheiten« Apollon und Dionysos dienen nur zur Erklärung dieses Vorgangs, und die schwerfallige Prophetie der bevorstehenden »Wiedergeburt des deutschen Mythos« aus dem Geiste der wagnerschen Musik (GT 23; 1, 147) wird nur vor diesem Hintergrund verständlich. Auch die Tragödientheorie ist lediglich Beiwerk zur Hauptthese, die sich ganz und gar auf Sokrates, den ersten Repräsentanten der verflachten, Wissen mit Weisheit verwechselnden und dennoch das nackte Dasein rettenden modernen Welt konzentriert. Und erst diese Zuspitzung auf Sokrates macht die Frage unausweichlich, wer denn die Welt vor diesem Retter rettet? Wer ihr mehr gibt als nur den Impuls zu überleben? Sollte es nicht möglich sein, etwas anderes zu bieten als bloß die Absorption der destruktiven Energien durch Wissenschaft? Hat sich nicht im dialektischen Zusammenspiel von Dionysos und Apoll ein positiver Sinn gezeigt, in dem sich das Leben durch die Kunst zu retten ver-

Die Moderne beginnt mit Sokrates

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mochte? Über den vorsokratischen Griechen konnte Nietzsche sagen: »Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich - das Leben.« (GT 7; 1, 56). Warum sollte dies nicht wieder möglich sein? Und nachdem durch die Kunst Richard Wagners das rettende Medium so nahe ist: Was fehlt denn noch, um sich endlich von dem jahrtausendealten Bann der sokratisch-alexandrinisch-faustischen Wissenschaft zu befreien? Nun: Es fehlt nur noch ein neuer Sokrates, ein Denker, der die entstandene Lage bedenkt und benennt und der fähig ist, die verhängnisvolle Einseitigkeit des bloß theoretischen Menschen aufzuheben. Auf diesen Retter in der Not der Moderne wird bereits in der Geburt der Tragödie hingewiesen. Aber sein Name wird nicht genannt. Und es ist verwunderlich, daß Nietzsches Leser bis heute, vermutlich aus Wohlwollen, darüberhinweg sehen, wer sich hier selbst ins Spiel bringt; sogar Richard Wagner dürfte erst nach dem Bruch mit Nietzsche aufgefallen sein, wer sich hier eigentlich als Retter empfiehlt. Wir aber brauchen nur die eben zitierte Formel von Sokrates als dem »Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte« im Ohr zu behalten, um sofort zu erkennen, von wem in Wahrheit die Rede ist. Denn im Vorwort zur ersten Auflage der Geburt der Tragödie taucht diese Formel, geringfügig umgestellt, wieder auf.

4. Die Suche nach dem modernen Sokrates Dieses Vorwort ist eine Unbotmäßigkeit, die jeden noch heute stutzig machen muß. Denn es enthält gar kein an die Leserschaft gerichtetes Wort, sondern es ist ein Vorwort an einen einzigen Leser, ein »Vorwort an Richard Wagner«! Wäre das ernstgemeint, hätte sich der Autor die Publikation des ganzen Buches ersparen können. Es hätte gereicht, wenn er ein einziges Exemplar hätte drucken, binden und nach Tribschen schicken lassen, wo Wagner damals noch lebte. Doch offensichtlich wollte der Autor hier ein wenig Theater spielen und zeigen, wen er von den erhofften zahlreichen Lesern am meisten schätzt. Mir scheint jedoch, daß Richard Wagner das Vorwort auch als einziger nötig hatte. Der Text ist kurz. Er umfaßt nur eine knappe Seite - aber Platz genug, um sieben Mal (!) vom >Ernst< und von der >Ernsthaftigkeit< der erhabenen Aufgabe zu sprechen, die vor dem Autor und seinem »hoch verehrten Freund« Richard Wagner liegt. Und da lesen wir denn »mit welchem ernsthaft deutschen Problem« wir es in dem Buch zu tun bekommen, mit einem Problem, das [...] recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird. (GT, Vorw. RW; 1 , 2 4 )

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Volker Gerhardt

Hier also ist mit Blick auf die Gegenwart die Formel gebraucht, die im Buch die welthistorische Leistung des Sokrates bezeichnet. Die »deutsche[n] Hoffnungen« sind auf einen neuen »Wirbel und Wendepunkt« der Menschheitsgeschichte gerichtet. Das, was Sokrates inauguriert hat, kann von deutschem Boden aus erneut in einen Strudel weltgeschichtlicher Veränderung gerissen und in ein neues, tieferes Verständnis des Daseins mit einer endlich wieder zurückgewonnenen ursprünglichen Produktivität überführt werden. Doch die Frage ist: Wer diese Großtat vollbringen wird? Ein Vorwort nur an Richard Wagner lenkt alle Erwartungen auf den Komponisten. Aber ist tatsächlich von ihm die Rede? Soll wirklich Wagner der neue »Wirbel und Wendepunkt« im Übergang zur Nach-Moderne sein? Wer zu dieser Annahme neigt, sollte den Text so lesen, wie Nietzsche es empfiehlt: »Wiederkäuend« und mit »Ohren hinter den Ohren« - also mit wachem Sinn fur die feinen Unterschiede. Und da wird er feststellen, daß es zumindest nicht sicher ist, ob Richard Wagner der Ahnherr jener Epoche werden wird, die auf die Moderne folgen soll: Denn nachdem mit schwerfalliger Ironie gegen jene polemisiert wird, die den hohen Ernst der großen Aufgabe nicht verstehen, weil sie kleinmütig am vermeintlichen Ernst ihres Geschäftsalltags hängen, endet Nietzsche mit dem Bekenntnis, dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet habe. (GT, Vorw. RW; 1, 24)

Ganz zweifellos ist hier von Richard Wagner die Rede. Er hat die Kunstauffassung in Szene gesetzt, an der sich Nietzsche orientiert. Er ist der »Vorkämpfer« auf der »Bahn« der »eigentlich metaphysischen Tätigkeit«. Aber was heißt eigentlich »Vorkämpfer«? Ist es der, der immer vorneweg die entscheidenden Schlachten schlägt, so daß den Nachrückenden nur noch die Aufgabe bleibt, das Errungene zu sichern? Oder ist es jener, der die Vorhut bildet, damit die Bahn fur den die Schlacht entscheidenden Streiter frei wird? Ist Richard Wagner selbst der »Wirbel und Wendepunkt« der modernen Zeit, oder ist er nur der Pionier Nietzsches, der es dem Jüngeren ermöglicht, die Wende schließlich selbst herbeizufuhren? Diese Fragen beantworten sich wie von selbst, wenn wir das einbeziehen, was wir schon wissen, nämlich daß es ein Philosoph ist, der die erste große Krise der Kultur herbeigeführt hat. Denn Nietzsche schließt aus dem folgenreichen Versagen eines Denkers nicht, daß die Philosophie damit auch für alle Zeiten ausgespielt hat. Im Gegenteil: Seine Logik zielt darauf ab, daß es nur ein Philosoph sein kann, der die Wiederherstellung des älteren Zustands herbeifuhrt. Das ist auch durchaus schlüssig: Wenn es die Philosophie ist, die eine seit über zwei Jahrtausenden angelaufene Schuld zu verantworten hat, dann kann es auch nur ein Philosoph sein, der sie zu tilgen vermag. Wäre es

Die Moderne beginnt mit Sokrates

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anders, hätte Nietzsche auf die Philosophie verzichtet. Das aber tat er, bei aller Kritik an ihr, nie!5

5. Nietzsche als neuer Sokrates Im Text der Geburt der Tragödie findet sich noch keine direkte Bestätigung für diese Wiedergutmachungsthese: Für die Korrektur alter philosophischer Fehler durch eine neue Philosophie. Aber es gibt Indizien dafür, daß Nietzsche tatsächlich schon hier so gedacht hat. Ein Anzeichen ist, daß Sokrates als Begleiter eines großen Dichters, des Euripides, eingeführt wird. Euripides, so heißt es, habe den Sokrates als Zuschauer auf die Bühne geholt und damit das Urteil des Publikums zum vorweggenommenen Kriterium der Dramaturgie gemacht. Überdies wird das schlecht bestätigte Gerücht wiederholt, Sokrates habe dem Euripides beim Dichten geholfen. Ist nicht auch Nietzsche gerade dabei, Richard Wagner zu helfen? Ist er nicht bereit, sich in den Dienst des Bayreuther Unternehmens zu stellen? In dem von ihm verfaßten Mahnruf an die Deutschen, mit dem sich die WagnerVereine an die Öffentlichkeit wenden sollten,6 rühmt er den »viergethürmten Nibelungen-Riesenbau« als das vollendete »Kunstwerk der Zukunft« und schließt den Ausruf an: »welche Bewegung in die fernste fruchtbringendste, hoffnungsreichste Weite - wer möchte kühn genug sein, hier auch nur ahnen zu wollen!« (GT 1, 895) Inzwischen wissen wir, daß Nietzsche selbst sich diese Kühnheit zutraute. Und demgegenüber fällt es auf, daß er Wagners Leistung ganz entschieden auf die Kunst beschränkt. Auch wenn hier der Komponist ein »Kämpfer« genannt wird (GT 1, 894), bleibt er doch auf die Rolle des »Vorkämpfers« beschränkt. Ein anderes Indiz haben wir darin zu sehen, daß Nietzsche in der Geburt der Tragödie gleich viermal auf ein Unvermögen des Sokrates zu sprechen kommt, das Piaton am Ende des Phaidon erwähnt: Kurz vor seinem Tod, bevor er den Schierlingsbecher auszuleeren hat, berichtet Sokrates davon, daß ihm Apollon mehrfach im Traum erschienen sei und ihn gemahnt habe, Musik zu treiben. Das habe ihn in Erstaunen versetzt, denn er habe stets geglaubt, die Philosophie sei seine Musik. Aber nachdem die Stimme des Gottes nun emeut zu ihm gesprochen habe, müsse er befürchten, sein Philosophieren habe den Göttern nicht genügt. Also habe er sich im Dichten versucht und einige Geschichten des Äsop in Verse gesetzt.

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6

Vgl. dazu: V. Gerhardt: >Experimental-PhilosophieAusüben und Erstellen< (poiein kai ergäzein) der musischen Kunst war ja bei Sokrates ganz auf ihn selbst bezogen. Vgl. die unvollendete Nachlaßschrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), 1, 824 u. 826. Vgl. den Mahnruf 1,895.

Die Moderne beginnt mit Sokrates

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merhin erhält er auch den Ehrentitel eines »freien Geistes« (MA 1, 437; 2, 284), und es bleibt bewußt, daß er ein »Zweifler« und »Neuerer« gewesen ist (M 116; 3, 108). Erst in der Götzen-Dämmerung, dem letzten Aphorismenbuch vor dem Zusammenbruch, kommt Nietzsche noch einmal ausfuhrlicher auf Sokrates zu sprechen.10 Und da haben wir sogleich wieder die extreme Auszeichnung des Alten als Epochengründer, der eben darin ein Verhängnis sein soll. Für die unerbittliche Auf- und Abwertung des Sokrates aber gibt es inzwischen eine Erklärung, die zugleich meine These stützt, daß sich Nietzsche in seinem Wunsch, die moderne Welt der Wissenschaft in Erwartung eines kraftvolleren, tiefer empfundenen, Kampf und Weisheit im tragischen Bewußtsein verbindenden Lebens zu überwinden, tatsächlich in die Rolle eines neuen Sokrates hineinphantasiert. Diese Erklärung liegt in einem schlichten Bekenntnis, das sich in Nietzsches Nachlaß findet. Es besteht in einem Satz, der in den Aufzeichnungen steht, in denen Nietzsche sich Rechenschaft darüber gibt, warum er nicht länger nur Philologe sein will. Der Satz, der mit allem übereinstimmt, was wir über die frühe Beschäftigung Nietzsches mit Sokrates und Piaton wissen, lautet: Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe. (N 1875, 6 [3]; 8, 97)

Für jeden, der nur die von Nietzsche veröffentlichten Schriften kennt, ist dies ein erstaunliches Eingeständnis; aber auch eine Begründung ganz nach Nietzsches Art: Sokrates steht ihm so nahe, daß er »fast immer« einen Kampf mit ihm kämpfen muß. Das Große in ihm sucht nach einer anderen Größe, erträgt aber deren Nähe nicht. Deshalb mußte es auch zum Bruch mit Wagner kommen; deshalb ging es mit Jacob Burckhardt auch nur aus der Entfernung gut; und Schopenhauer stilisierte er zu seinem Lehrer, dessen Werk erst im Schüler Vollendung findet. Aber warum ist ihm der über zweitausend Jahre entfernte Sokrates so nahe?

7. Die Identifikation mit Piaton Die Antwort ist nicht leicht zu geben; sie hängt, wie wir seit neuestem wissen, mit Nietzsches Einstellung zum bedeutendsten Schüler des Sokrates zusammen. Die erst jetzt allgemein zugänglichen Vorlesungen lassen uns heute nachvollziehen, wie stark sich Nietzsche auch noch in seiner Baseler Zeit mit 10

GD, Das Problem des Sokrates, 6, 67-79.

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Piaton auseinandersetzt. Die Bewunderung für Piaton ist grenzenlos. Sie fand bisher kaum Beachtung, weil sie von einer offenkundigen Geringschätzung des Piatonismus überdeckt wurde. Aber Nietzsche unterscheidet genau zwischen Piaton und dem Piatonismus. Vielleicht ist er sogar der erste, der den für uns heute so wichtigen Unterschied zu machen weiß. Und während der Piatonismus durch seine strikte Trennung zwischen Sein und Erscheinung, zwischen Seele und Leib, Urbild und Abbild von Nietzsche auf das Schärfste verworfen wird, gilt ihm Piaton selbst als das größte Rätsel, als der Philosoph, der mit dem Geheimnis des Wissens wie kein anderer umzugehen wußte, der Mythos und Logos lebendig verknüpfte und der vor allem eines vermochte: Philosoph und Künstler in einem zu sein. Selbst in der Geburt der Tragödie, wo Nietzsche allen Grund gehabt hätte, mit dem Lehrer auch dessen ersten Schüler abzuwerten, bleibt Piaton unangetastet. Ja, es wird ihm die höchste Leistung zugeschrieben, die einem Philosophen überhaupt bescheinigt werden kann: Er ist nicht nur künstlerisch produktiv gewesen, sondern er hat überdies eine neue Kunstgattung geschaffen: Nachdem das Epos an sein Ende gekommen ist, und Sokrates im Verein mit Euripides die Tragödie ruiniert hat, vollbringt Piaton das Außerordentliche und erfindet - den Roman. Man darf staunen: Piaton als Erfinder, als das »Vorbild des Roman's« (GT 14; 1, 94)! Das ist, wenn wir die erzählerische Meisterleistung bedenken, von denen Piatons Dialoge getragen sind, gar nicht so abwegig. Aber es kommt hier, wie auch bei den anderen historischen Urteilen Nietzsches nicht darauf an, ob er im Sinne der heutigen Geschichtsschreibung recht gehabt hat. Entscheidend ist allein, wie er sich die Vergangenheit im Interesse seiner eigenen Zukunft zurechtlegt. Und da müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Piaton für ihn eine über jeden Zweifel erhabene Größe darstellt. Doch Piaton dachte unter den Prämissen, für die sein Lehrer den Grund gelegt hatte. Die Wende zum Wissen, zur Hypertrophie der Theorie, zur »Superfotation« des Logischen (GT 13; 1, 90) war vor ihm vollzogen worden. Deshalb mußte Nietzsche, der - darin ganz Romantiker - vor allem die Wende, den Wandel, das Neue im Ältesten wollte, auf den Lehrer, auf Sokrates zurück. Nur an ihm ließ sich sein Verlangen nach einer alles erneuernden Krise stillen. Sein exaltierter Renaissancecismus,11 mit dem er sich so gut in die von revolutionären Erwartungen aufgeladene Stimmung des 19. Jahrhunderts fügt, treibt ihn auf Sokrates zurück.

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Siehe: V. Gerhardt: Die Renaissance im Denken Nietzsches, in: II Rinascimento nell' Ottocento in Italia e Germania. Jahrbuch des Istituto Storico Italo-Germanico 3 (1989), S. 93-116.

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8. Die verdrängte Liebe zu Sokrates Schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß allein die große Anteilnahme an Piaton dazu fuhrt, daß Nietzsche Sokrates liebt. Schon als Schüler sucht er die Nähe zu ihm. Auf eigenen Wunsch schreibt er in Schulpforta einen Aufsatz über die Rede des Alkibiades in Piatons Symposion,12 also über die erbitterte Klage eines Enttäuschten, der dennoch nicht von dem Geliebten lassen kann. Der Aufsatz endet mit einem hellsichtigen Lob für Piatons Kunst, der es gelingt, die »dämonische Doppelnatur des Eros« zur Anschauung zu bringen (FS 2, 423). Es ist, als hätte der Neunzehnjährige bereits eine Ahnung von der Ambivalenz seiner eigenen Beziehung zu dem, wie er später sagen wird, »Erotomanen« Sokrates.13 Und es ist tragisch, wie diese Liebe endet. In seinen letzten Schriften versucht Nietzsche, die intellektuelle und die affektive Bindung an Sokrates zu überspielen. Dazu ist ihm, das muß man leider sagen, jedes Mittel recht: Der in der Geburt der Tragödie noch als Ahnherr des theoretischen Optimismus vorgeführte Denker wird nun zum »pessimistischen Maulwurf« (J 208; 5, 137), zum Advokaten des »Herden-Instinkts« (J 202; 5, 124), zum »Plebejer« (J 191; 5, 112) und »Pöbelmann« (J 212; 5, 146), ohne Rücksicht darauf, daß Sokrates als Bildhauer ein geachtetes Handwerk ausgeübt hat. Schließlich verliert Nietzsche jede Hemmung, sieht im Scharfsinn des Sokrates eine »Rachitiker-Bosheit« (GD, Prob. 4; 6, 69), vermutet in der Dialektik »nur eine Form der Rache« (ebd., 7; 6, 70), nennt ihn einen »Hanswurst« (ebd., 5; 6, 70) oder fragt - so als könnte über die Antwort kein Zweifel bestehen: »War Sokrates ein typischer Verbrecher?« (ebd., 3; 6, 69) Das alles hat mit dem historischen Sokrates natürlich nichts mehr zu tun, wohl aber mit dem Maskenspiel Friedrich Nietzsches und - mit seinem exaltierten Verlangen nach einer Überwindung der eigenen Gegenwart. Je näher er sich der »Umwertung der Werte« wähnt und je weniger es ihm gelingt, zwischen sich und seinem selbsterfundenen Propheten Zarathustra zu unterscheiden, tun so wichtiger wird es für ihn, die Nähe zur Gründungsfigur jener Epoche abzuschatten. Denn die durch Sokrates initiierte Epoche der Moderne gilt es nunmehr mit Macht - mit dem »Willen zur Macht« - zu verlassen. Auch wenn Nietzsche mitunter ein klares Bewußtsein davon hat, daß er selbst ein Decadent bleiben wird, so setzt er doch seinen Ehrgeiz darein, wenigstens als der letzte Decadent gelten zu können. Also kommt es darauf an, den Ab-

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Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions (1864), in: Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften 2, hrsg. v. H.J. Mette, München 1994, S. 420-424. Noch in der Götzen-Dämmerung heißt es: »Sokrates war auch ein grosser Erotiker.« (GD, Prob. 8; 6, 71).

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stand zum ersten Decadent der alteuropäischen Geschichte, nämlich zu Sokrates (ebd., 3; 6, 69), so groß wie möglich auszumalen.

9. Die Triftigkeit der Diagnose Was aber ist denn nun von Nietzsches Diagnose zu halten? Gelingt es ihm, wenigstens das Ende der nach seinem eigenen Urteil so viel tiefer und nachhaltiger gegründeten Epoche der Moderne zu denken oder gar einzuleiten? Und was hat er mit seiner »Philosophie der Zukunft« eigentlich an radikal Neuem zu bieten? Auf diese drei Fragen will ich abschließend zu antworten versuchen. Dabei ist die erste für mich auch schon die wichtigste, denn von ihr hängt ab, wie groß man die Aufgabe einer Überwindung der Epoche einzuschätzen hat. Ich denke, sie könnte größer gar nicht sein! Denn mir scheint, daß Nietzsches These über den Anfang der Moderne, so sehr sie auch dem gewohnten Epochenschema von Antike, Medivium und Moderne widerspricht, zutreffend ist. Wenn wir unsere eigene Zeit in ihrer geistigen Physiognomie zu erfassen suchen, wenn es uns auf die maßgebenden Denk- und Handlungsformen ankommt, wenn es ein Kriterium sein soll, wie sich der Mensch selbst versteht, dann werden wir wohl oder übel auf die Antike zurückgehen müssen. Denn dort findet sich alles schon vor, was in der neuzeitlichen Zivilisation zum Tragen kommt - entweder selbstbewußt behauptet oder im Ansatz entwickelt. So können wir Nietzsche nur zustimmen, wenn er den Ursprung der Wissenschaft bei den Griechen findet. Die haben, wie er richtig sieht, nicht nur die Form der Theoriebildung vorgegeben, sondern haben sie auch mit den praktischen Erwartungen verknüpft, die bis heute mit Mathematik, Astronomie, Physik, Biologie oder Medizin verbunden sind. Entsprechendes gilt sogar für Geschichtsschreibung und Ethik, die ebenfalls griechische Erfindungen sind. Es dürfte auch schwerfallen, die Technik als eine Innovation der Neuzeit auszugeben. Verändert haben sich lediglich die Weite des Handlungsrahmens und das Tempo der Entwicklung. Vom 17. Jahrhundert an hat sich die szientifische und technische Verfügung über die Natur dramatisch beschleunigt. Es gibt unerhörte quantitative Veränderungen, die nicht ohne Folgen für die Qualität des menschlichen Lebens geblieben sind. Gleichwohl entspricht der Vorgang eher einer Radikalisierung als einer Revolution. Noch bis in die jüngste Zeit hinein hat man geglaubt, die Griechen wären an eine andere Zeitvorstellung gebunden gewesen und hätten den Fortschritt nicht gekannt. Aber wer planmäßig Erfahrungen sammelt und Wissen ordnet, um es weiterzugeben, und sich zu alledem der Schrift bedient, der denkt ganz

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von selbst in der Form linearer Progression. Gelegentlich findet man auch die Behauptung, erst die Erfindung von Teleskop und Mikroskop hätte den Menschen - gleichsam aus unendlicher Entfernung - die Distanz zur eigenen Welt gelehrt.14 Aber man lese nur, wie selbstverständlich die antiken Kosmologien über das Kleinste oder das Größte handeln, oder man folge Scipio in seinem Traum in die Sternensphäre, von der aus alles Menschliche, ganz gleich ob es sich um Rom, Karthago oder den Ruhm der Berühmtesten handelt, nichtig erscheint:15 Man sieht dann auch ohne den Aufwand gelehrter Interpretation, daß schon die Alten wußten, was es mit der Endlichkeit des Daseins auf sich hat. Und eine letzte Bastion nachromantischer Selbstauszeichnung ist, nicht zuletzt mit Nietzsches Hilfe, längst gefallen: Das Individuum - mit seiner ineffablen Individualität - gibt es nicht erst seit Schlegel, Byron oder Kierkegaard, auch nicht erst seit Montaigne, Shakespeare oder La Rochefoucault, sondern es ist spätestens seit der Frage des Sokrates: »Wie soll ich leben?« mit vollem Bewußtsein präsent.16 Zwar ist es unwahrscheinlich, daß Sokrates tatsächlich der erste gewesen sein soll, der sich als Individuum exponierte; aber er tritt uns, nicht zuletzt dank Piatons großer Kunst, mit einer Lebendigkeit entgegen, die gar nichts anderes übrig läßt, als ihn gerade in seiner Individualität als unseresgleichen anzusehen. Und wenn wir entdecken, daß beinahe alle Fäden der westlichen Theorietradition in Piatons Sokrates zusammenlaufen, gibt es sogar gute Gründe, im Typus des Sokrates, ganz so wie Nietzsche es meint, den ersten modernen Menschen anzunehmen.

10. Die Allgegenwärtigkeit der Moderne Gesetzt, diese Diagnose trifft zu, dann ist augenblicklich klar, wie umfänglich und allgegenwärtig die Moderne ist. Sie umschließt, zumindest für die europäisch geprägte Welt, die gesamte bewußt überlieferte Tradition. Was immer wir an Gedanken und Theorien finden, stammt aus diesem Zusammenhang und gehört ihm nicht nur äußerlich, sondern gerade auch in seiner inneren Verfassung zu. Selbst noch die Alternativen zu dieser modernen Welt sind von ihr imprägniert.

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So etwa bei Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, S. 365ff. Somnium Scipionis, in: Cicero: De re publica, 6. Buch (9,1-26,9). Dazu: V. Gerhardt: Das individuelle Gesetz. Über eine sokratisch-platonische Bedingung der Ethik, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), 1, S. 3 - 2 1 .

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Das ist keine formale Aussage aus der Schule der Dialektik, die uns weismachen kann, daß alles mit allem zusammenhängt. Wir stehen vielmehr vor der geschichtlichen Tatsache, daß der alteuropäische Geist sich wohl von Anfang an in bewußter Beziehung zu den real gegebenen und neugierig wahrgenommenen Alternativen entfaltet hat. Was wären die Griechen ohne ihr waches Verhältnis zur ägyptischen, minoischen und persischen Kultur? Wir wissen nicht, aus welchen Quellen sie ihren Mythos schöpften; aber daß ihr Logos ein Produkt der Auseinandersetzung mit dem ist, was ihnen vorher fremd erschien, das ist so gut wie sicher. Die Vernunft hat sich erst dort geregt, wo die Nötigung sich mit dem Reiz verknüpfte, das Eigene mit den Augen des Fremden zu sehen. Vielleicht ist die Vernunft im Grunde gar nichts anderes als die Fähigkeit, diesen Wechsel immer wieder bewußt zu vollziehen? Doch wie dem auch sei: Die geistige Tradition Europas hat sich im aktiv betriebenen Austausch mit anderen Kulturen entwickelt. Dabei hat sie sich soviel vormals Fremdes einverleibt, daß es schwer ist, ihr überhaupt mit einem Widerspruch von außen zu begegnen - ganz unabhängig davon, daß sie für solchen Widerspruch jederzeit empfanglich ist, ja, daß sie eben davon lebt, durch anderes ihrer selbst gefordert zu sein. Der Begriff des Eurozentrismus ist daher eine contradictio in se. Er hat natürlich seine moralische Berechtigung, wenn er den Kolonialismus der europäischen Nationen und den Imperialismus ihrer Ökonomie zu ächten sucht. Aber als Bezeichnung der intellektuellen Verfassung der zwar nicht bruchlos, aber dennoch konsequent von Athen bis Silicon Valley reichenden Kultur ist er völlig verfehlt. Das gilt für den Begriff des Logozentrismus ganz analog. Aber die gleichermaßen antike wie moderne Vernunft hat nicht nur im äußeren Verhältnis vom Widerspruch zu anderen Kulturen gelebt; auch in ihrem Selbstverhältnis wurde sie von internen Gegensätzen angetrieben. Der europäische Geist hat sich von Anfang an in Widerspruch zu sich selbst gesetzt. Piatons Dialoge vermitteln davon bereits einen komprimierten Eindruck, woraus sich schließen läßt, wie alt der innere Antagonismus des europäischen Denkens ist. Und zuletzt haben die Postmodernen erfahren müssen, daß alles, was sie in Opposition zum modernen Denken konstruierten, entweder schon längst dagewesen war oder sich nachträglich bestens integrieren ließ. 17 Und so liegt ihr Verdienst darin, daß sie anschaulich gemacht haben, wie vielfaltig die von ihnen als eindimensional kritisierte Moderne tatsächlich ist. Damit ist natürlich auch ein Urteil über Nietzsches Programm der »Umwertung aller Werte« gesprochen. Die neue Kultur, der er den Weg bereiten 17

Das ließe sich auch für die der Postmoderne vorausgehende Diagnose der Moderne zeigen: Der Irrtum der Autoren der Dialektik der Aufklärung lag darin, daß sie glaubten, auf einen neuen historischen Vorgang aufmerksam zu machen.

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will, war viel zu sehr an die Elemente der alten Kultur gebunden, als daß auch nur der innovative Charakter hätte sichtbar werden können. Der »Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten physis«, von der er 1874 schwärmt, »ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« (2. UB 10; 1, 334), ist, gerade auch in seinem arkadischen oder utopischen Anspruch, vollständig aus den Versatzstücken eben der Tradition genommen, welcher er zu entkommen sucht. Nietzsche war allerdings so klug, seine Alternative zum Ganzen seiner Zeit auf eine Realität zu gründen. Die von ihm heraufgefuhrte Epoche sollte ja nur die Wiedergeburt einer älteren sein, nämlich der frühen »hellenischen«, der vorsokratischen Kultur. Doch seine Rekonstruktion führt (was ich hier nicht zeigen kann) in noch größere Aporien: Die Darstellung der ersten griechischen Philosophen von Thaies über Heraklit bis Parmenides und Anaxagoras deckt nur auf, daß die Fehler, die angeblich erst der untragische, unmusikalische Sokrates in Umlauf gebracht hat, schon voll und ganz von seinen Vorläufern gemacht worden sind. Schon Thaies ist ein theoretischer Optimist, schon Parmenides logifiziert die Welt, schon Anaxagoras verselbständigt den Geist. Nietzsche läßt denn auch das Manuskript dieser Darstellung der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873) unvollendet liegen. Er kommt, wenn ich das so sagen darf, weder vorne noch hinten aus der europäischen Denktradition heraus.

11. Nietzsches Verdienst Das möchte ich abschließend an einem kleinen Beispiel verdeutlichen. Es handelt sich um einen einzigen Satz, der freilich von größter philosophischer Reichweite ist und schlagartig zu erkennen gibt, daß Nietzsche von Sokrates nicht loskommt. Der Satz findet sich im Umfeld jenes vorhin zitierten Bekenntnisses, demzufolge Nietzsche Sokrates so nahe ist, daß er ständig mit ihm kämpft. Und jetzt heißt es, offenbar als Ausdruck eines solchen Kampfes: Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie. (N 1875, 6 [21]; 8, 106)

Nietzsche spielt darauf an, daß wir Sokrates den Zugang zur Philosophie über die Selbsterkenntnis verdanken. Seitdem steht das >Selbst< im Zentrum des Philosophierens, und Nietzsches Exemplifikation dieses sokratischen Selbst am eigenen Ich belegt den hohen Abstraktionsgrad des Selbstbegrififs, der

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gleichwohl umstandslos von so einzigartigen und um Jahrtausende getrennten Individuen wie Sokrates und Nietzsche in Anspruch genommen werden kann: »Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst«. Hier also zeigt sich - unabhängig von der affektiven Nähe der Personen - die strukturelle Gleichheit im Selbstverständnis von Individualität. Soweit der erste Satzteil. Im zweiten wird es problematisch: Ist es wirklich die »Angst«, die Sokrates zur Selbsterkenntnis treibt und die somit sogar zur »Seele« der Philosophie werden soll? Nach allem, was wir über das tapfere Leben und Sterben des alten Weisen wissen, ist dies mehr als zweifelhaft. Aber vermutlich kommt es auf das Wörtchen »Angst« auch gar nicht an; wir können hier, mit Seitenblick auf die griechischen Texte, von »Sorge« (epimeleia), vielleicht sogar mit Foucault von »Selbstsorge« sprechen. 18 Wir sehen dann immer noch, was Nietzsches Anstoß erregt: Es ist der exponierte Selbstbezug des menschlichen Erkennens und Handelns. Von ihm möchte er sich lösen. Aber wie versucht er das? Er wird mit großem theatralischen Aufwand zum Psychologen, zum scharfsinnigen und unbestechlichen Protokollanten der menschlichen Seele. Dabei sucht er durch Entlarvung und Vivisektion vor allem das aufzuspüren, was hinter den Gespenstern der Seele, hinter den Gefühlen und Vorstellungen, hinter dem Wollen und Denken wirksam ist. So sucht er sich vom konstitutiven Selbstbezug der sokratischen Frage zu lösen und in die subjektlose Dynamik der Seele vorzustoßen. Doch das ist ganz im Geiste der modernen Wissenschaft gedacht. Und an keinem der modernen Psychologen (heißen sie nun Lichtenberg, Fechner, Wundt oder Freud) ist deutlicher geworden als an Nietzsche, daß man das sich jeweils als Ich auszeichnende Selbst nicht los wird. Man braucht es im Objekt wie im Subjekt, wenn überhaupt kenntlich sein soll, wovon und von wem die Rede ist. Und so kommt es zu dem paradoxen, vielleicht aber auch tragisch zu nennenden Ergebnis, daß gerade Nietzsche uns vor Augen fuhrt, daß keine uns wesentliche Erkenntnis ohne Selbsterkenntnis zu haben ist. Sokrates konnte noch in scheinbarer Harmlosigkeit sagen, er wolle »eigentlich nur den Satz prüfen, aber es ereignet sich dann wohl, daß dabei auch ich, der Fragende, und der Antwortende geprüft werden.« 19 Bei Nietzsche zeigt sich dieses Ergebnis allein an ihm selbst. Er radikalisiert den Sokrates und gerät so nur noch tiefer in die Moderne hinein, von der er sich ohnmächtig lösen will. Nach alledem brauche ich auf die dritte und letzte Frage nicht mehr einzugehen. Die Signatur einer neuen Epoche finden wir bei Nietzsche nicht; erst 18

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Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt am Main 1986, S. 60ff. In: Piaton: Protagoras 333 c.

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recht keinen realen Vorgriff auf ein postmodernes Zeitalter. Wer immer noch nach einem Übergang in eine alternative Zukunft sucht, kann sich von Nietzsche zwar abstrakten Zuspruch holen. Aber von den Ahnungen und Prophetien abgesehen, wird er in ihm noch nicht einmal einen »Vorkämpfer« finden. Im Gegenteil. Nietzsche hat zwar den übermächtigen Wunsch, unzeitgemäß zu sein; aber er bleibt in allem ein Abkömmling der Moderne. Gerade durch den versuchten Widerstand gegen sie hat er sie ausgelotet wie kaum einer zuvor; in seiner existentiellen Experimental-Philosophie hat er uns theoretisch wie praktisch vorgeführt, wie reichhaltig die Moderne auch noch in ihren Widersprüchen ist. Und so wissen wir wesentlich durch ihn, wieviel auch in der Nachfolge des Sokrates zu denken möglich und zu tun übrig bleibt. Dabei ist kaum ein anderer so anregend wie er.

12. Ein Ende mit Sokrates Aber die Gerechtigkeit fordert zum Abschluß die Bemerkung, daß Nietzsches Zeitgenosse Kierkegaard doch genauer gesehen hat, welche Bedeutung Sokrates für die Moderne hat. In Die Krankheit zum Tode, in der Kierkegaard seine epochengeschichtliche Diagnose von der um sich greifenden Verzweiflung des Menschen vorträgt (eine Diagnose, die hellsichtig die für den Menschen wohl gravierendste Folge des heraufziehenden Nihilismus benennt und insofern in größter Nähe zu Nietzsche steht), wird ein möglicher Retter genannt, der nicht in dem Verdacht steht, durch die christliche Botschaft einschlägig belastet zu sein. Und das ist kein Geringerer als - Sokrates. Ich zitiere, was Kierkegaard seinen Anti-Climacus sagen läßt und füge nur noch eine abschließende Überlegung an: Sokrates, Sokrates, Sokrates! Ja, man muß freilich deinen Namen dreimal nennen, es wäre nicht zuviel, ihn zehnmal zu nennen, wenn es etwas helfen könnte. Man meint, die Welt brauche eine Republik, und man meint, man brauche eine neue Gesellschaftsordnung und eine neue Religion: aber niemand denkt daran, daß es gerade ein Sokrates ist, was diese durch viel Wissen verwirrte Welt braucht. 20

Es gibt, wie wir gesehen haben, Hinweise genug, daß Nietzsche ähnlich dachte. Aber es gehört zur Tragik seiner philosophischen Existenz, daß er es sich selbst verbot, eine solche Einsicht zu äußern, weil ihm Sokrates allein nicht genügte. Er wollte einen Philosophen, der Sokrates und Piaton in einem war, und der beiden vor allem darin ähnlich war, daß er etwas völlig Neues inaugurierte. So wollte er letztlich nicht nur wie sie, sondern auch noch ihr

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Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Reinbek 1962, S. 87.

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Gegenspieler sein. Daran mußte er scheitern. Denn man kann eben auch in der Philosophie nicht alles haben.

Roland Mortier (Bruxelles)

Diversites culturelles: Aufklärung allemande - Lumieres franfaises

Les ouvrages de synthese consacres au siecle des Lumieres ont insiste le plus souvent, et non sans raison, sur les constantes de l'epoque: alliance de rationalite et d'optimisme, recherche du bonheur terrestre, confiance dans les progres des sciences et des techniques. Mais tous ces caracteres se manifestent ä des degres divers et ä des dates parfois eloignees, selon la situation culturelle, politique et sociale des regions concernees. II serait done abusif de parier des Lumieres dans une optique franfaise et de les tenir pour une totalite coherente au sein d'une doctrine unitaire. La complexite de l'Europe du XVIIIe siecle exclut ce genre d'universalisme. II convient done de prendre en consideration, dans chaque cas, les traits specifiques qui decoulent de la geographie, de l'histoire, des traditions culturelles, de la religion, de la situation socio-economique, des rapports entre les intellectuels et le pouvoir, etc. Ces decalages peuvent entrainer parfois une veritable dysrythmie (Est et sud-Est europeen). L'objet de la presente etude est de souligner les specificites des Lumieres franfaises par rapport ä celles d'autres cultures europeennes, et en particulier ä celles de Γ Aufklärung. Un facteur essentiel de ces discordances - souvent neglige ä tort - tient ä 1' organisation de l'enseignement, et plus precisement ä celle du systeme universitaire, mais aussi ä la fonction et & 1'efFicacite de la censure: en un mot ä la relation entre la vie intellectuelle et les structures de la societe. Dans les pays de langue latine, la pensee des Lumieres a dü se frayer une voie difficile en recourant ä la clandestinite, au sous-entendu, ä la fausse attribution, ä l'obscurite voulue, et Diderot s'en plaint amerement dans ses notes sur Hemsterhuis (1775). L'Universite y jouait un röle de frein, non de moteur. Elle se voulait le defenseur, le bastion de l'orthodoxie, seule detentrice de la verite. Au plan politique, elle se declarait - contre les incredules, et plus encore contre les jansenistes - l'alliee la plus sure de la monarchic de droit divin. La pensee libre et novatrice s'est done developpee en France en marge de l'Universite, et le plus souvent contre ou malgre elle. L'Universite fran