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German Pages 477 [482] Year 2022
Scintillae Leibnitianae Wenchao Li zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Friedrich Beiderbeck, Nora Gädeke und Stephan Waldhoff
Philosophie Franz Steiner Verlag
Scintillae Leibnitianae Wenchao Li zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Friedrich Beiderbeck, Nora Gädeke und Stephan Waldhoff
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13121-6 (Print) ISBN 978-3-515-13132-2 (E-Book)
VORWORT Dieser Band ist Wenchao Li zum 65. Geburtstag zugeeignet. Er versammelt Freunde und Wegbegleiter ebenso wie Kollegen und Mitarbeiter aus der LeibnizEdition, der Leibniz Universität Hannover, der Gottfried Wilhelm Leibniz-Gesellschaft und der internationalen Leibniz-Welt zur Gratulation. Ein Grußwort von Erich Barke eröffnet den Band. Als einstiger Präsident der Leibniz Universität Hannover wie als Präsident der Leibniz-Gesellschaft schildert er aus enger, von persönlicher Wertschätzung getragener Zusammenarbeit die Zeit der Leibniz-Stiftungsprofessur in Hannover – und damit die Zeit der größten öffentlichen Wirksamkeit des Leibnizforschers Wenchao Li. Als die Herausgeber – Mitarbeiter der Potsdamer Arbeitsstelle bzw. der Leibniz-Gesellschaft – im Spätwinter 2020 den Entschluss zu diesem Unternehmen fassten, wussten sie nicht, dass sie gerade den Beginn einer Zeitenwende erlebten. Manche Adressaten, die auf unsere Einladung vom März 2020 mit großer Bereitwilligkeit und Freude reagiert hatten, machten alsbald die Erfahrung, dass ihnen der Zugang zum Material monatelang verschlossen blieb. All denen, die unter den insgesamt schwierigen Bedingungen dieser Zeiten uns ihre Beiträge lieferten, danken wir sehr, dass sie sich auf dieses Unternehmen nicht nur eingelassen haben, sondern auch „am Ball geblieben“ sind. Der Kreis derer, die wir eingeladen haben, sei es zur Mitarbeit, sei es zur Gratulation in der Tabula gratulatoria, spiegelt – aufgrund der Vertraulichkeit bei der Planung – möglicherweise eher unseren eigenen Gesichtskreis als den des Jubilars. Ute Beckmann und Simona Noreik (einst Leibniz-Stiftungsprofessur) haben durch die Bereitstellung von Informationen viele Wege geebnet. Besonderer Dank gilt Sven Erdner, der die drucktechnischen Probleme des Mathematiksatzes meisterte. Dem Franz Steiner Verlag gilt unser Dank für seine spontane Bereitschaft, die Festschrift in sein Programm aufzunehmen, für ein Druckangebot zu sehr freundlichen Konditionen und für die gute Zusammenarbeit. Als sich zeigte, dass dank der zahlreich eingetroffenen Beiträge der Band den gesetzten Rahmen überschreiten würde, konnten wir auf eine großzügige Zuwendung eines Spenders zurückgreifen. Vor allem gilt unser Dank aber Wenchao Li selbst – für Inspiration, Gesprächsbereitschaft und das Öffnen von Fenstern. Ad multos annos! Potsdam und Staufen im Breisgau, im Oktober 2021 Friedrich Beiderbeck – Nora Gädeke – Stephan Waldhoff
GRUSSWORT Erich Barke, Hannover Wir schreiben das Jahr 2009. Vor drei Jahren hat sich die Universität Hannover nach Gottfried Wilhelm Leibniz benannt. Der neue Name wirkt als Vorbild und Verpflichtung zugleich. Alle Fakultäten können sich damit identifizieren. Die Stadtgesellschaft ist begeistert. Für eine intensivere Befassung mit dem Namensgeber fehlt allerdings das Geld. Schließlich gelingt es, mit Unterstützung des Oberbürgermeisters und einiger Aktiver der Stadtgesellschaft die Mittel für eine Stiftungsprofessur bereit zu stellen. Nun sucht die Universität dafür die richtige Besetzung. Viele wollen mitreden, unterschiedliche Kriterien werden zur Auswahl vorgeschlagen. Schließlich setzt sich die Universität mit einem wissenschaftsorientierten Verfahren durch. Höchst respektable Kandidaten zeigen Interesse. Berufen wird schließlich ein damals in der Leibniz-Welt als Leiter der Potsdamer Abteilung der Leibniz-Akademie-Ausgabe renommierter, in der Stadt Hannover jedoch nur einschlägigen Kreisen bekannter Wissenschaftler, der im Berufungsverfahren alle Nörgler und Zweifler überzeugen konnte. Sein Name: Wenchao Li, dem diese Festschrift zu seinem 65. Geburtstag gewidmet ist. In der Berufungsverhandlung legt Herr Li ein klares, aber auch höchst anspruchsvolles Konzept für die Stiftungsprofessur vor. Der für den Haushalt zuständige Vizepräsident stöhnt, doch angesichts der herausragenden Stellung der Professur und der Qualität des zu Berufenden einigt man sich schnell. Und Herr Li hat nicht zu viel versprochen. Sehr bald gelingt es ihm, sich die erforderliche Reputation innerhalb der Universität zu verschaffen. Doch nicht nur das: Er schafft es auch, Leibniz, sein Leben und Nachleben, sein Wirken und seine Werke in die Stadtgesellschaft zu tragen, so dass die Stiftungsprofessur weit über die Grenzen der Universität hinaus wirken kann. Nicht zuletzt entsteht eine enge Verbindung zur Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft, deren Schriftführung er 2011 übernimmt. In vielen Veranstaltungen hat er die internationale Leibniz-Welt in Hannover zusammengeführt; nachhaltig geblieben ist von diesen sieben reichen Jahren eine stattliche Anzahl daraus hervorgegangener Bände. Dabei helfen nicht nur seine intime Kenntnis des Leibniz’schen Oeuvre und sein großer wissenschaftshistorischer Sachverstand, sondern auch seine Offenheit für neue Wege, seine besonderen kommunikativen Fähigkeiten und seine höchst angenehme menschliche Art des Umgangs. Viele ‚schlafende‘ Potentiale hat er so geweckt; gibt es ein Problem, findet er immer eine Lösung. Und er kann sehr überzeugend sein. So überzeugte er auch mich, dass es eine gute Idee sei, mich ab 2015 als Präsident der Leibniz-Gesellschaft zu engagieren.
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Erich Barke
Sehr gerne wollte ich deshalb die Zusammenarbeit mit ihm fortsetzen. So gelang es, mit Hilfe des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, die 2015 auslaufende Stiftungsprofessur um zwei Jahre zu verlängern. Leider ging es danach nicht weiter, denn die dazu notwendigen Mittel konnten nicht bereitgestellt werden. So endete diese „Glanzzeit“ und Li ging zurück nach Potsdam, was ich persönlich und mit mir die ganze Stadt Hannover sehr bedauerte. Glücklicherweise ist er uns als Vizepräsident und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft erhalten geblieben, und so sehen wir uns wenigstens hin und wieder in Hannover. Es war mir stets ein großes Vergnügen, ihn zu treffen und mit ihm zusammen arbeiten zu dürfen. Er hat sich für die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft immer außerordentlich engagiert und ich kann nur hoffen, dass das noch viele Jahre so bleiben wird. Herzlichen Glückwunsch zum 65., lieber Herr Li!
TABULA GRATULATORIA Peter Antes, Hannover Maria Rosa Antognazza, Oxford/London Annette Antoine, Berlin Christoph Asmuth, Neuendettelsau Ute Beckmann, Hannover Philip Beeley, Oxford Thomas Behme, Berlin Friedrich Beiderbeck, Potsdam Gerhard Biller, Münster Elfriede Billmann-Mahecha, Hannover Annette von Boetticher, Hannover Herbert Breger, Hannover Manfred Breger, Langelsheim Thomas Brose, Berlin Hubertus Busche, Hagen Adelino Cardoso, Lisboa Martin Carrier, Bielefeld Wing-Cheuk Chan, St. Catharines, Kanada Maria Deiters, Potsdam Irene Dingel, Mainz François Duchesneau, Montréal Sven Erdner, Hannover Stefanie Ertz, Berlin Anne Eusterschulte, Berlin Michel Fichant, Strasbourg Eva Fitz, Berlin Wolfgang-Uwe Friedrich, Hannover
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Tabula Gratulatoria
Nora Gädeke, Staufen Gábor Gángó, Budapest/Erfurt Ursula Goldenbaum, Berlin Jürgen Gottschalk, Hamburg Florian Grumbach, Berlin Martina Hartmann, München Hartmut Hecht, Berlin Christine van den Heuvel, Ronnenberg-Benthe Eike Christian Hirsch, Hannover Anke Hölzer, Hannover Michaela Hohkamp, Hannover Helena Iwasinski, Hildesheim Stefan Jenschke, Münster Jacqueline Karl, Potsdam Michael Kempe, Hannover Herma Kliege-Biller, Münster Ulrich Knemeyer, Hannover Eberhard Knobloch, Berlin Alexander Košenina, Berlin Sebastian Kühn, Berlin Wolfgang Künne, Hamburg Thomas Leinkauf, Berlin Michael-Thomas Liske, Passau Stefan Lorenz, Münster Stefan Luckscheiter, Potsdam Ansgar Lyssy, Dresden Christina Marras, Rom Michael Marx, Berlin/Potsdam Anne May, Hannover
Tabula Gratulatoria
Stephan Meder, Hannover Monika Meier, Hannover Stephan Meier-Oeser, Berlin/Münster Jürgen Mittelstraß, Konstanz Martin Mulsow, Erfurt/Gotha Simona Noreik, Weimar Lucia Oliveri, Münster W. Georg Olms, Hildesheim Rüdiger Otto, Leipzig Roberto Palaia, Rom Margherita Palumbo, Rom Enrico Pasini, Turin Samuel Patterson, Seeburg Jörg Paulus, Weimar Volker Peckhaus, Paderborn Arnaud Pelletier, Bruxelles Constanze Peres, Dresden Horst Petrak, Potsdam Pauline Phemister, Edinburgh Carola Piepenbring-Thomas, Hannover Hans Poser, Berlin Karin Reich, Berlin Markku Roinila, Helsinki Concha Roldán, Madrid Paolo Rubini, Berlin Hartmut Rudolph, Hannover Georg Ruppelt, Wolfenbüttel Kiyoshi Sakai, Tokio Jaime de Salas, Madrid
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Tabula Gratulatoria
Marco Santi, Berlin Brigitte Saouma, Paris Günter Schmidt, Hannover Wilhelm Schmidt-Biggemann, Berlin Helwig Schmidt-Glintzer, Hannover Sabine Sellschopp, Berlin Harald Siebert, Berlin Walter Sparn, Erlangen-Nürnberg Jürgen Stolzenberg, Halle (Saale) Sebastian W. Stork, Berlin Lloyd Strickland, Manchester Jens Thiel, Berlin Johannes Thomassen, Berlin Toon Van Hal, Antwerpen Giovanna Varani, Porto Astrid Wagner, Madrid Charlotte Wahl, Hannover Stephan Waldhoff, Potsdam Thomas Wallnig, Wien Armin Weber, Berlin/Heppenheim Matthias Wehry, Hannover Friedrich-Wilhelm Wellmer, Hannover Henrik Wels, Berlin Rolf Wernstedt, Garbsen Joachim Wolschke-Bulmahn, Hannover Karin Yamaguchi, Yokohama/Arnsberg
INHALT
Vorwort …………………………………………………………............. 5 Erich Barke Grußwort ..…………………………………………................................. 7 Tabula Gratulatoria …………………………………………………....... 9 Friedrich Beiderbeck/Nora Gädeke/Stephan Waldhoff Einleitung ………………………………………………………………. 17
I. ERKENNTNISTHEORIE, POLITISCHE PHILOSOPHIE UND ETHIK Arnaud Pelletier Leibniz et l’archéologie du savoir ……………………………………… 37 Hans Poser Moralische Prinzipien als eingeborene Ideen zwischen metaphysischer Notwendigkeit und Kontingenz in Leibniz’ Nouveaux Essais ……………………………… 53 Peter Nickl Esel, Hund und Papagei: Leibniz und die (sprechenden) Tiere …………………………………... 63 Ursula Goldenbaum Rationalismus und Empirismus über die natürliche Gleichheit der Menschen ……………………………….. 77 Kiyoshi Sakai Leibniz’ Politische Philosophie. Die Implikationen und die Reichweite seiner Monadologie aus der Sicht einer Gerechtigkeitstheorie …………………………….. 119
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Inhaltsverzeichnis
Stephan Meder Eher Leibniz als Kant: Ulpians praecepta iuris im Spiegel differenter Rechtsbegriffe ………………………………… 137 II. GRUNDLAGEN, ORDNUNGEN UND GRENZEN DES WISSENS Sven Erdner Leibniz’ „Necrologium du monastere della Vangadizza“ auf der Spur ………………………………………. 163 Malte-Ludolf Babin Leibniz’ Ordnungen …………………………………………………... 179 Michael Kempe Tod des Feuersalamanders. Sintflut, Erdgeschichte und Entwicklung des Lebens bei Gottfried Wilhelm Leibniz …………………………… 189 Daniel J. Cook Leibniz on Eastern Religions …………………………………………. 203 Rita Widmaier Das Längengradproblem und andere Fragen. Leibniz und der aus China zurückkehrende Augustiner Nicola Agostino Cima ……………………………………. 213 III. INNOVATIONEN UND IHRE KOMMUNIKATION Eberhard Knobloch Warum und wie schuf Leibniz die Determinantentheorie? …………... 251 Charlotte Wahl Grundsteinleger und Erbauer. Aushandlungsprozesse um Ruhm und Status im Mathematikerkreis um Leibniz …………….. 271 Margherita Palumbo „Ad geometricas plane factus meditationes“. Das Unglück Lorenzinis und seine außergewöhnliche Rezeption von Leibniz’ Calculus ……………………………………... 301
Inhaltsverzeichnis
Friedrich-Wilhelm Wellmer/Jürgen Gottschalk/Ariane Walsdorf Leibniz’ Scheitern im Oberharzer Silberbergbau. Neu betrachtet unter dem Gesichtspunkt eines modernen Projekt- und Innovationsmanagements ……………………. 313 IV. LEIBNIZ IN SEINER PUBLIZISTISCHHÖFISCHEN LEBENSWELT Regina Stuber Leibniz’ Konzeption von 1713 zu einer Befriedung Europas im Kontext des Großen Nordischen Krieges ………………... 337 Siegmund Probst 1708: Ein Gespenst geht um in Europa ………………………………. 357 Gerd van den Heuvel „L’histoire anecdote de nostre tems“. Leibniz liest mit Königin Sophie Charlotte die Briefe Liselottes von der Pfalz an Kurfürstin Sophie ………………………... 363 V. LEIBNIZ-BILDER UND LEIBNIZ-FORSCHUNG Juan A. Nicolás Leibniz in Spanish Philosophy (18th – 21st century) ………………….. 379 Simona Noreik „As above, so below“. Leibniz in Präraffaelitischer Perspektive ……………………………... 393 Stefan Lorenz Leibniz im Dienst der „Reeducation“. Paul Schrecker und sein Aufsatz über Leibniz’ Prinzipien des Völkerrechts in der Amerikanischen Rundschau (1947) …………………………..... 411 Stefan Luckscheiter Paul Ritter (1872–1954) – oder Leibniz’ aristokratische und deutsch-nationale Liebhaber ……………………………………... 451 Abkürzungsverzeichnis ……………………………………………….. 477
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EINLEITUNG Friedrich Beiderbeck, Potsdam Nora Gädeke, Staufen Stephan Waldhoff, Potsdam Scintillae Leibnitianae – Leibniz-Funken: Der Titel dieser Wenchao Li zugeeigneten Festschrift mag zunächst an die Leibniz-Zeit erinnern, in der Buchtitel – sei es aus intellektuellem Spiel, sei es aus vorsichtiger Dissimulation – gerne verrätselt wurden. Tatsächlich ist die Titelmetapher älter. Sie lässt sich bis in das frühe Mittelalter zurückverfolgen. Eine Reihe von Eigenschaften des Bildspenders scintilla – ‚Funkeʻ bot und bietet sich an, das Wort als metaphorischen Buchtitel einzusetzen und mittels dieser Titelmetapher eine Fülle von Bildern und Assoziationen, Überlieferungen und Anknüpfungspunkten zu evozieren. Da ist zunächst die Kleinheit des Funkens. Wer ihn in den Titel setzt, zeigt eine gewisse Bescheidenheit. Aber Vorsicht! So klein der Funke ist – so groß kann seine Wirkung sein, etwa wenn er in das metaphorische Pulverfass fliegt. Positiv formuliert: Er steckt an, zündet, inspiriert. Der ‚zündende Gedankeʻ gehört zum Bildfeld der Metapher. „‚Scintilla ingeniiʻ in der Antike entspricht ungefähr unserem ‚Geistesblitzʻ.“ 1 Wenn der Funke überspringt, entflammt er die von ihm Getroffenen. Angeregt – entflammt – von Leibniz schlagen die Autorinnen und Autoren des Bandes neue Funken aus dessen inspirierendem Werk, die nun wiederum auf die Leser überspringen sollen. Vom Funken als Metapher ist hier bis jetzt im Singular gesprochen worden. In Buchtiteln begegnet er jedoch zumeist im Plural. Das entspricht nicht nur dem tatsächlichen Auftreten des Bildspenders, es hängt auch mit der Art der Bücher zusammen, die so betitelt wurden. Als Titelmetapher hat man scintillae für Sentenzensammlungen und Florilegien benutzt, also nicht für – modern gesprochen – Monographien, sondern für Sammelwerke. Auch insofern passt die Metapher auf dieses Buch, das als Festschrift eine Anzahl von kleineren und größeren Beiträgen enthält. Sie nehmen zwar ihren gemeinsamen Ausgangspunkt von Leibniz’ Gestalt und Werk, aber wie Funken, die aus einem Feuer in alle Richtungen stieben, sprechen sie ganz unterschiedliche Aspekte des übergreifenden Themas an und verfolgen sie unter verschiedenen Fragestellungen in ganz unterschiedliche Richtungen. Damit spiegeln sie nicht allein die Fruchtbarkeit und Vielfalt von Leibniz’ Denken und Schaffen wider, sondern auch die Offenheit und das Interesse des Jubilars
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Paul Lehmann: Mittelalterliche Büchertitel, in: Ders.: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 5, Stuttgart 1962, S. 1–93, hier S. 84.
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für diese Vielfalt sowie seine zahlreichen Aktivitäten, dieses alle modernen disziplinären Grenzen überschreitende Leibniz’sche Denken in der Wissenschaft zur Geltung und darüber hinaus in das öffentliche Bewusstsein zu bringen – besonders in seiner Zeit als Leibniz-Stiftungsprofessor in Hannover (2010–2017). 2 Die Resonanz, die nicht nur diese Aktivitäten, sondern auch seine Tätigkeit als Leiter der Leibniz-Editionsstelle Potsdam (seit 2007), als Schriftführer (2011–2017) dann als Vizepräsident und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft (seit 2017) und als Hauptherausgeber der Studia Leibnitiana in der Leibniz-Forschung gefunden hat, spiegelt sich wiederum in den Beiträgen und in der Tabula gratulatoria der Festschrift. Nicht zuletzt evoziert das Bild des Funkens die Metapher vom Licht der Wahrheit und der Aufklärung. Im Blick auf Gottfried Wilhelm Leibniz kommt da schnell seine bekannte Formulierung über den Austausch mit den Chinesen in den Sinn: „Laßt uns unsere Verdienste zusammenwerfen, das Licht am Licht entzünden.“ 3 Ja, er dachte an einen regelrechten „Handel mit Licht“ – un commerce de lumière. 4 Wenchao Li hat diesen Aspekt von Leibniz’ Denken nicht nur erforscht – man kann sogar fragen, ob er nicht einer jener Missionare aus China sei, von denen Leibniz schon vor über 300 Jahren meinte, „daß es beinahe notwendig erscheint, daß man 2
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Neben den 30 Heften der Leibniz-Stiftungsprofessur, deren Titel hier nicht aufgezählt werden können, vermitteln v. a. die Tagungsbände einen Eindruck von der Vielfalt der im Rahmen und/oder mit Mitteln der Stiftungsprofessur behandelten Themen: Theologie: Wenchao Li, Hans Poser, Hartmut Rudolph (Hg.): Leibniz und die Ökumene, Stuttgart 2013; Wenchao Li, Hartmut Rudolph (Hg.): Leibniz im Lichte der Theologien, Stuttgart 2017. Philosophie und gelehrte Praxis: Wenchao Li, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): 300 Jahre Essais de Théodicée – Rezeption und Transformation, Stuttgart 2013; Wenchao Li, Simona Noreik (Hg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus. Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln/Weimar/Wien 2016; Arnaud Pelletier (Hg.): Leibnizʼs experimental philosophy, Stuttgart 2016; Wenchao Li (Hg.): 300 Jahre Monadologie. Interpretation, Rezeption und Transformation, Stuttgart 2017. Rechts- und Staatsphilosophie, Politik und Zeitgeschehen: Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit, Göttingen 2015; Wenchao Li (Hg.): „Das Recht kann nicht ungerecht sein ...“. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit, Stuttgart 2015; Ders. (Hg.): Leibniz, Caroline und die Folgen der englischen Sukzession, Stuttgart 2016. Fremde Kulturen: Wenchao Li (Hg.): Leibniz and the European Encounter with China. 300 Years of Discours sur la théologie naturelle des Chinois, Stuttgart 2017. Rezeption, Edition und Forschung: Wenchao Li (Hg.): Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012; Wenchao Li, Hartmut Rudolph (Hg.): „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2013; Wenchao Li, Monika Meier (Hg.): Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800, Hildesheim/Zürich/New York 2016; Nora Gädeke, Wenchao Li (Hg.): Leibniz in Latenz. Überlieferungsbildung als Rezeption (1716–1740), Stuttgart 2017. „[...] misceamus beneficia et lumen de lumine accendamus“ (an Claudio Filippo Grimaldi, [21.(?) März 1692; A I, 7 N. 348, S. 618). Die Übersetzung aus Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714), hg. und mit einer Einleitung von Rita Widmaier, Textherstellung und Übersetzung von Malte Ludolf Babin (= Philosophische Bibliothek 548), Hamburg 2006, S. 37. Wenchao Li: Un commerce de lumière – Leibniz’ Vorstellungen von kulturellem Wissensaustausch, in: Beiderbeck, Dingel, Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung (wie Anm. 2), S. 293– 306.
Einleitung
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Missionare der Chinesen zu uns schickt“. 5 Eine derartige Vermutung legt jedenfalls das Grußwort von Erich Barke zu diesem Band nahe. I. Erkenntnistheorie, politische Philosophie und Ethik Im Folgenden wird ein knapper Durchgang durch den Band unternommen, der die einzelnen Beiträge kurz vorstellen, sie zugleich miteinander verknüpfen und ihre (An-)Ordnung durchsichtig machen soll. Insofern steht dieser Band auch darin in der Tradition jener als libri scintillarum oder ähnlich betitelten Florilegien, dass das gesammelte Material, so heterogen es auch zunächst sein mag, in eine Ordnung gebracht wird. Freilich können wir uns diese Ordnung nicht mehr als einen in sich geschlossenen und gerundeten „Kosmos des Wissens“ 6 vorstellen. Es bleibt die bescheidene Hoffnung, dass die gewählte Anordnung der Beiträge Einsichten über die einzelnen Aufsätze hinaus vermitteln kann, gerade durch die ‚kontextuelle Kontingenz’ 7 in der sie zu den vorangehenden wie folgenden Texten stehen. Übrigens hat kein geringerer als Michel Foucault in Leibniz geradezu den Repräsentanten der épistémè der Ordnung im âge classique gesehen. Und damit sind wir bereits bei dem ersten Beitrag. Arnaud Pelletier, der seine Untersuchung über Leibniz et l’archéologie du savoir mit diesem Hinweis beginnt, zeigt freilich, dass diese Einschätzung auf einem Missverständnis beruht, ja, dass Leibniz und der vermeintliche Anti-Leibnitianer Foucault mehr miteinander gemeinsam haben, als dem Letzteren bewusst gewesen ist. Foucault war kein Leibnizkenner, so dass der vergleichende Blick auf die beiden Denker nicht nach Rezeptionsspuren fragt, sondern nach Analogien und Differenzen. Ähnlich wie später Foucault – wenngleich aus anderer Perspektive – kritisierte Leibniz den Mangel an originellen Gedanken, dem er durch eine mathesis generalis beheben wollte. So war seine scientia generalis, wie Pelletier erklärt, kein Konzept der Ordnung, sondern der Vermehrung und Erweiterung des Wissens. Vielleicht hat Leibniz deshalb nicht den Begriff der ‚Archäologieʻ übernommen, den bereits Johann Heinrich Alsted im frühen 17. Jahrhundert in diesem Zusammenhang gebraucht hatte. Es ging ihm eben nicht um die Grundlagen und Ursprünge, sondern um die Zukunft, die Entdeckung des Neuen. So war sein Blick auf den Horizont gerichtet, auf das Kommende. Insofern steht dieser Aufsatz aus gutem Grund am Anfang der Beiträge, indem er den Leser einlädt, diese Perspektive aufzunehmen und auf das folgende gespannt zu sein.
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„[...] ut propemodum necessarium videatur Missionarios Sinensium ad nos mitti, [...]“ (Novissima Sinica historiam nostri temporis illustrata, Praefatio; A IV, 6 N. 61, S. 401). Die Übersetzung aus Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Neueste von China (1697). Novissima Sinica, mit ergänzenden Dokumenten hg., übersetzt, erläutert von Heinz Günther Nesselrath, Hermann Reinbothe, Köln 1979, S. 19. Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte, Stuttgart, 2. Aufl. 1999, S. 187. Der Begriff nach Karin Knorr Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt/M., 2., erw. Aufl. 2002, S. 34.
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In einem weiteren Punkt sieht Pelletier Übereinstimmungen zwischen Foucaults Archäologie des Wissens und einem grundlegenden Konzept des Leibniz’schen Denkens. Wie Foucault die Verwurzelung des Denkens im Zufälligen, im Assoziativen, im Nicht-Denken betont, stellte Leibniz die Bedeutung der petites perceptions heraus, die nicht nur unterhalb der Ebene der Reflexion liegen, sondern auch unterhalb der bewussten sinnlichen Wahrnehmung. In seinem erkenntnistheoretischen und ethischen Philosophieren hat Leibniz weiteren menschlichen Erkenntnisweisen, die nicht in der Vernunft gründen, nämlich den Instinkten, eine tragende Rolle zugeschrieben. Das zeigt der folgende Beitrag, in dem Hans Poser Moralische Prinzipien als eingeborene Ideen zwischen metaphysischer Notwendigkeit und Kontingenz in Leibniz’ Nouveaux Essais untersucht. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet ein Problem, das sich Leibniz stellte, als er gegen John Locke die moralischen Prinzipien als eingeborene Ideen verteidigte. Leibniz zählt unter die eingeborenen Ideen zunächst nur die absolut oder metaphysisch notwendigen Wahrheiten. Zu diesen rechnet er die moralischen Prinzipien jedoch nicht. Ihnen komme nur eine weniger zwingende, moralische oder hypothetische Notwendigkeit zu. Wie können sie dann gleichwohl zu den eingeborenen Wahrheiten gehören? Um das Problem zu lösen, unterscheidet Leibniz zwei Arten von eingeborenen Wahrheiten: jene, die wir durch das Licht der Vernunft in uns finden, von denen, die durch den Instinkt vorgegeben sind. Die eingeborenen instinktmäßigen Wahrheiten gründen nicht in der Vernunft, lassen sich durch sie aber bestätigen, wenn man über sie nachdenkt. Die Instinkte sind zudem keineswegs von der Erkenntnis getrennt. So bilden die instinktive Suche nach der Lust und das Vermeiden der Unlust eines der wichtigsten Prinzipien der Moral. Zugleich handelt es sich aber nicht bloß um Affekte, sondern auch um verworrene Erkenntnisse. Damit „werden Instinkte in eine erkenntnistheoretische Überlegung, genauer, in das Fundierungsproblem der Ethik, einbezogen“, wie Poser erklärt. Auch in Peter Nickls Beitrag Esel, Hund und Papagei über Leibniz und die (sprechenden) Tiere spielt Leibniz’ Überzeugung, dass Vernunft und Erkenntnis aus defizitären Vorformen erwachsen eine bedeutende Rolle. Bei Nickl wird John Locke in der Rolle des intellektuellen Widerparts durch René Descartes abgelöst. Gegen dessen scharfe Dichotomie von denkendem Subjekt und erkannten Objekten, in der den Tieren der Status bloßer Maschinen zukommt, bringt er Leibniz’ Gesetz der Kontinuität in Stellung. Dieses greift auf das traditionelle Konzept der großen Kette der Wesen zurück, in der jedem Lebewesen ein bestimmter Platz in einer hierarchischen Abfolge zugewiesen ist, wobei allerdings die Abstufungen so fein sind, dass die Übergänge verfließen: Die Natur macht keine Sprünge. Auf dieser Grundlage konnte Leibniz für Tiere nicht nur ein Perzeptionsvermögen postulieren, sondern ihnen auch eine Sprache zubilligen. Ja, sogar ein Weiterleben der Tierseelen nach dem Tode klingt bei ihm an. Mit der Hochschätzung tierischer Fähigkeiten und der Relativierung der intellektuellen Ausnahmestellung des Menschen vertrat Leibniz Positionen, die in jüngster Zeit stark an Ansehen und Verbreitung gewonnen haben. Die sprechende Eselin aus der biblischen Bileam-
Einleitung
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Erzählung (Num 22–24) hat er jedoch in Anlehnung an die rationalistische Bibelexegese seines Helmstedter Korrespondenzpartners Hermann von der Hardt als bloße Vision gedeutet. Eine ebenso aktuelle – und politisch brisante – Konsequenz aus Leibniz’ philosophischen Positionen verfolgt Ursula Goldenbaum in ihrem Beitrag zu Rationalismus und Empirismus über die natürliche Gleichheit der Menschen. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang von Noam Chomskys These, es seien vor allem die Empiristen gewesen, welche eine natürliche Ungleichheit verschiedener Menschengruppen verfochten und damit rassistische Positionen vertraten oder ihnen zumindest vorarbeiteten, während die Rationalisten eher für die natürliche Gleichheit aller Menschen plädierten. Diese These wird materialreich auf breiter Quellengrundlage und immer auch mit Seitenblicken auf den historischen Kontext von Kolonialexpansion und Sklaverei untersucht. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die thematisch einschlägigen Stellen und zieht nicht nur die politische Philosophie der untersuchten Autoren heran, sondern greift – gemäß dem Ausgangspunkt der Fragestellung – auf deren Erkenntnistheorie zurück. Die Untersuchung läuft auf Leibniz zu, der als Rationalist die Gleichheit der Menschen vertrat, begründet in der prinzipiell allen gegebenen Vernunft. In Hinsicht auf die Sklaverei folgte der junge Jurist zunächst dem Römischen Recht, das diese fraglos voraussetzte und die Sklaven unter das Sachenrecht einordnete. Goldenbaum macht zurecht darauf aufmerksam, dass nicht nur für Leibniz, sondern für viele frühneuzeitliche Autoren das Römische Recht einen theoretischen Referenzrahmen lieferte, dem jedenfalls im zeitgenössischen Europa keine gesellschaftliche Realität entsprach. Später hat sich Leibniz schrittweise von dieser Position gelöst. So zweifelte er zunächst an der naturrechtlichen Legitimität der Sklaverei, der er nur völkerrechtliche Geltung zubilligen wollte. Schließlich gelangte er zu der Überzeugung, dass der Sklavenhalter zwar nach Völker- und Eigentumsrecht den Körper des Sklaven beanspruchen könne, nicht jedoch seine Seele. Aber dieses Recht wird von dem höheren, göttlichen Recht aufgehoben. Da nach göttlichem Recht die Seele eines Menschen Eigentümerin seines Körpers ist, die Seele aber nicht ver- oder gekauft oder erbeutet werden könne, gelte dies auch für den Körper des Sklaven, der von seinem Herrn zwar gebraucht, aber nicht beschädigt werden dürfe. Goldenbaums kontextualisierende und streng empirische (nicht empiristische!) Argumentation kann – so ist zu hoffen – angesichts von manchem aufgeregten Diskussionsbeitrag dazu beitragen, die Debatte etwas mehr zu erden. Der anschließende Beitrag von Kiyoshi Sakai präsentiert ein Verständnis der Monadologie als Gerechtigkeitstheorie. Es wird anschaulich, inwieweit Leibniz sein Gerechtigkeitsideal nicht nur als Teil seiner Politischen Philosophie entwarf, sondern ihm eine sehr viel breitere Grundlegung im Rahmen seiner auf dem Substanzbegriff aufbauenden Metaphysik gab. Seine Politische Philosophie unterscheidet sich darin deutlich von der wichtiger Zeitgenossen wie Hobbes, Locke oder Pufendorf. Sakai schließt kritisch an Patrick Rileys Vortrag Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit an, wie bereits sein Untertitel nahe legt: Die Implikationen
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und die Reichweite seiner Monadologie aus der Sicht einer Gerechtigkeitstheorie. Rileys Interpretation, die einseitig durch den Liberalismus seines Lehrers John Rawls’ geprägt worden sei, ergänzt Sakai um eine kommunitaristische Sichtweise. Leibniz’ vielzitierte und auch sozio-politisch zeitlos aktuelle Formel von der Einheit in Vielfalt hat so für Sakai ihr philosophisches Fundament in einer monadologischen Metaphysik, die – liberalistische und kommunitaristische Aspekte zusammendenkend – dem Individuellen damit einen besonderen gesellschaftlichen Raum zuteilt. Der letzte Beitrag dieser Abteilung rückt die eigentliche Jurisprudenz in den Fokus. Die bekannten praecepta iuris des römischen Juristen Ulpian († 228): ehrenhaft leben (honeste vivere), niemandem schaden (alterum non laedere) und jedem das Seine geben (suum cuique tribuere), spielen in Leibniz’ Rechtsdenken eine prominente Rolle. Sie sind bereits in Ursula Goldenbaums Beitrag angeklungen. Nun rückt Stephan Meder sie ganz in den Mittelpunkt, indem er die Frage untersucht, ob Leibniz oder Kant in ihren Interpretationen dem – vermutlichen – ursprünglichen Anliegen Ulpians näher gekommen ist (Eher Leibniz als Kant: Ulpians praecepta iuris im Spiegel differenter Rechtsbegriffe). Beide Denker haben die fest in der juristischen Tradition verankerten praecepta iuris zum Ausgangspunkt ihres Begriffs vom Recht gemacht, dabei aber ganz eigene, grundlegend voneinander verschiedene Interpretationen entwickelt. Meder beginnt mit Kant. Dessen Deutung wird grundsätzlich von seiner strikten Trennung zwischen Recht und Ethik bestimmt, die es nicht erlaubt, in den praecepta auch ethische Anweisungen zu finden, sondern alle dem strengen Recht zuweisen muss. Das bereitet ihm besonders beim ersten (ehrenhaft leben) Schwierigkeiten. Zudem liest er in Ulpians Regel seine eigene Staatstheorie hinein. Die daraus folgende Interpretation fasst Meder so zusammen: „Aus dem ersten Satz, anderen eine Rechtsperson zu sein (honeste vive), folgt der zweite, niemandem Unrecht zu tun (neminem laede), und der dritte Satz, mit jeder Rechtsperson in einen bürgerlichen Zustand zu treten (suum cuique tribue)“. Ganz anders hat Leibniz die praecepta interpretiert, indem er aus ihnen eine ‚Dreistufenlehreʻ des Rechts abgeleitet hat: Die erste Stufe bildet das strenge Recht des neminem laedere. Die zweite, höhere Stufe die Billigkeit des suum cuique tribuere und die dritte und höchste die pietas des honeste vivere. Im Gegensatz zu Kant hat er also keine Angst, strenges Recht und Billigkeit, Recht und Ethik miteinander zu verbinden. Damit bietet er nicht nur eine für die Rechtsanwendung praktikablere Lösung, indem etwa der Umschlag von konsequent angewandtem strengen Recht in Unrecht durch den Rückgriff auf die Billigkeit vermieden werden kann, sondern sicherlich auch eine Interpretation, die näher bei Ulpian steht, wenngleich bis heute nicht geklärt ist, was dieser mit seinen praecepta iuris genau sagen wollte.
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II. Grundlagen, Ordnungen und Grenzen des Wissens Fragt man nach Leibniz’ gelehrter Praxis, nach den Quellen seiner Kenntnisse, ihrer Ordnung, aber auch ihren Grenzen, ist es weniger der Philosoph, auch nicht der Mathematiker und Naturwissenschaftler, deren Untersuchung den reichsten Ertrag verspricht. Vielmehr findet man diesen auf den eher traditionellen Feldern der Gelehrsamkeit. Das liegt an der einzigartigen Fülle seines überlieferten Arbeitsmaterials, besonders für die Welfengeschichte, mit deren Bearbeitung er – neben vielen anderen Tätigkeiten – dreißig Jahre beschäftigt war, ohne sie abschließen zu können. Was die historiographische Arbeit prägen sollte, war eine Vielzahl von Einzelfragen, mit denen sich der Historiker Leibniz konfrontiert sah und für deren Beantwortung eine noch größere Zahl an Quellen zu suchen und auszuwerten war. Dabei steckte nur allzu häufig eher der Teufel als der liebe Gott im Detail. Ein anschauliches Beispiel für die penible Quellensuche und -auswertung, schildert die Studie von Sven Erdner, die Leibniz’ „Necrologium du monastere della Vangadizza“ auf der Spur ist. Im Kern geht es um einen Necrolog-Eintrag von wenigen Worten. Doch weder der welfische Haushistoriograph Leibniz, noch der moderne Autor pflegen hier die antiquarische Andacht zum Unbedeutenden. Denn diese knappe Notiz half Leibniz, die Genealogie des Hauses Este in der Zeit des Übergangs von den ‚älteren‘ zu den ‚jüngeren‘ Welfen zu rekonstruieren. Damit bildete der knappe Eintrag ein wichtiges Dokument für die zu schreibende Welfengeschichte. Als Quelle hatte Leibniz gegenüber Ludovico Antonio Muratori „le Necrologium du monastere della Vangadizza“ genannt, aber zugleich eingeräumt, die mittelalterliche Handschrift gar nicht selbst, sondern nur einen Auszug aus dem Jahr 1546 gesehen zu haben. Dieser Auszug ist in der GWLB überliefert, aber die ursprüngliche Quelle, das Necrolog aus Vangadizza, konnte bisher nicht identifiziert werden. Jetzt bietet Erdner eine überzeugende Identifizierung an: Es handelt sich um die Handschrift Beinecke Ms 910 der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University. Der leider nur noch schlecht lesbare Necrolog-Eintrag ist sogar noch kürzer als in dem Auszug, aber die Provenienz des Kodex verweist auf die Familie jenes Gelehrten, der den besagten Auszug angefertigt hat. Zudem nennt der Auszug als Vorlage einen Pergamentkodex, der als „Regula“ des Klosters bezeichnet werde, und die Benediktsregel geht in dem Kodex der Beinecke Library dem Kalendar-Necrolog voraus, in dem sich der besagte Eintrag findet. Die beiden Zettel, auf denen dieser Necrolog-Eintrag notiert ist, sind Teil einer nach Tausenden Zetteln und Blättern zählenden Masse, welche das überlieferte Arbeitsmaterial (vor allem) für die Welfengeschichte bildet. Auf welche Weise Leibniz versuchte, in diese Masse an Papieren Ordnung zu bringen, untersucht MalteLudolf Babin in seinem Beitrag über Leibniz’ Ordnungen. Als sehr ordentlich sieht er den Universalgelehrten nicht, der bereits selbst gegenüber Briefpartnern einräumen musste, gesuchte Papiere nicht finden zu können. Die Berichte über einen von Leibniz genutzten speziell konstruierten Exzerptenschrank lehnt er aus guten Gründen ab. In der Ablage des Briefwechsels lässt sich zudem immer wieder eine Durch-
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brechung der Ordnung nach Korrespondenzen durch eine eher assoziative Zuordnung beobachten. Allerdings kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass die von Leibniz’ selbst geschaffene Ordnung nach seinem Tod unverändert überliefert worden ist. Somit können für Leibniz’ eigene Ordnungen nur solche Papiere in Anspruch genommen werden, auf denen Spuren seiner Ordnungsbemühungen nachzuweisen sind. Auf solche Blätter konzentriert sich Babin denn auch. Bei diesen Kennzeichnungen handelte es sich zunächst um eine Verschlagwortung. Der Autor hat auf gut 850 untersuchten Exzerpten 68 unterschiedliche Schlagwörter gefunden (ohne Formulierungsvarianten). Dieses – relativ grobe – System hat Leibniz durch ein wesentlich elaborierteres ersetzt, das mit Nummern arbeitete. Jede Nummer steht für ein bestimmtes Thema, dessen Identifizierung durch eine mehrfach überarbeitete und ergänzte Liste ermöglicht wird. So konnten die Themen vermehrt und differenziert werden, ohne dass umfangreiche Formulierungen auf den häufig nur wenige Quadratzentimeter großen Zetteln notiert werden mussten. Konsequent hat Leibniz freilich keines dieser beiden Systeme angewandt. So finden sich Exzerpte mit Schlagwörtern, aber ohne Nummern, solche mit Schlagwörtern und Nummern, wieder andere nur mit Nummern und schließlich auch solche, ohne jede ordnende Kennzeichnung. Die Untersuchungen von Erdner und Babin zeigen die am Arbeitsmaterial der Welfengeschichte so hervorragend zu beobachtende gelehrte Praxis. Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass trotz aller mühsamen Detailrecherchen Leibniz’ historiographisches Werk keineswegs im Klein-klein antiquarischer Pedanterie geendet ist. Auch hier fehlen nicht die großen Entwürfe und neuen Konzeptionen. Dies gilt besonders für den ersten Teil des geplanten Werkes, die Protogaea, in dem er die Erdgeschichte besonders des niedersächsischen Raumes, modern gesprochen: seine Geologie und Paläontologie, dargestellt hat. Den dort behandelten oder doch aufscheinenden Fragen widmet sich Michael Kempe, der unter dem barockenigmatischen Titel Tod des Feuersalamanders nach Sintflut, Erdgeschichte und Entwicklung des Lebens bei Gottfried Wilhelm Leibniz fragt. Er stellt dazu einen bisher kaum beachteten Text in den Mittelpunkt, die an Louis Bourguet gerichtete „Lettre sur les changements du globe de la terre“ aus dem Jahr 1714, die klarer als die für die Veröffentlichung bestimmte, zwanzig Jahre zuvor vollendete Protogaea zeigt, wie stark Leibniz von dem in dieser Frage noch weithin geltenden biblischen Weltbild abwich. Mit diesem musste er sich in doppelter Hinsicht auseinandersetzen: Zum einen mit der biblischen Chronologie, nach der die Erde nicht viel älter als 6.000 Jahre war, und zum anderen mit der Interpretation der Erzählungen von Weltschöpfung und Sintflut. Nachdem er die Argumentation des dänischen Arztes Niels Stensen, bei den Fossilien handele es sich um versteinerte Lebewesen, übernommen hatte, war die biblische Chronologie jedenfalls nicht mehr für die Erdgeschichte und die Entwicklung des Lebens akzeptabel. In dieselbe Richtung wiesen die Funde von versteinerten Fischen und Muscheln im Hochgebirge, die Spuren erdgeschichtlicher Katastrophen gigantischen Ausmaßes zu sein schienen. Diese auf die einmalige vierzigtägige Flut, von der die Bibel erzählt, zurückzuführen, schien Leibniz nicht möglich.
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Gegen diese Katastrophen-Theorie vertrat er das Konzept einer creatio continua, die sich in unvorstellbar langen Zeiträumen vollziehe. Dabei kam wiederum die alte, von Leibniz hochgeschätzte Überzeugung, die Natur mache keine Sprünge, zur Geltung (vgl. den Beitrag von Peter Nickl). Entsprechend interpretierte er die Entwicklung der Lebewesen als eine langsame Auswicklung und Differenzierung einfacher Anfänge. Das klingt schon stark nach Darwin, aber es zeigen sich doch deutliche Unterschiede zur modernen Evolutionstheorie. Wie Kempe resümierend formuliert: „Leibniz’ Evolution ist eine präformistische und Präformation Ausdruck prästabilierter Harmonie.“ Nicht allein für den Blick zurück in die Erdgeschichte oder die Genealogie des Welfenhauses war Leibniz auf Zeugnisse angewiesen, seien es Fossilien oder mittelalterliche Schriftquellen. Dies galt auch für den Blick in die Ferne. Für das Verständnis der östlichen Religionen – des Islams, des Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus – war Leibniz auf schriftliche Quellen und Nachrichten angewiesen, da er keine dieser Religionen aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Dies hatte, wie Daniel J. Cook in Leibniz on Eastern Religions zeigt, gravierende Folgen und führte zu Miss-, ja Unverständnis. Hier zeigen sich die Grenzen, die Quellen(un)kenntnis einem frühneuzeitlichen Gelehrten ziehen konnte. Ein derartig vermittelter Zugang war nämlich mit mehreren Problemen behaftet. Heilige Texte der genannten Religionen konnte Leibniz nicht in der Originalsprache lesen. Er war vor allem auf die Berichte von Missionaren angewiesen (soweit es sie denn gab), deren Voreingenommenheiten er nicht kritisch prüfen konnte. Schließlich war sein Blick durch die Perspektive eines protestantischen Christen geprägt, der Offenbarungstexte bevorzugte, Kulte und Riten dagegen schnell mit dem Verdikt des Aberglaubens belegte. Am günstigsten war die Lage eigentlich im Blick auf den Islam, da der Koran im Europa dieser Zeit bereits seit längerem in Übersetzung vorlag. Allerdings war Leibniz mit ihm nicht vertraut. Überhaupt war sein Blick auf den Islam maßgeblich vom militärisch-politischen Konflikt mit dem Osmanischen Reich geprägt. Doch konnte er ihm zugleich eine nur geringe Abweichung von der natürlichen Religion attestieren. Gleichwohl hat er gegenüber den Muslimen nie die von ihm bevorzugte Missionsmethode der propagatio fidei per scientias empfohlen, die er im Blick auf China immer wieder propagiert hat. Über Hinduismus und Buddhismus besaß Leibniz fast keine Kenntnisse. Neben dem aus der Antike überkommenen Bild indischer Asketen (Gymnosophisten) musste er sich auf zeitgenössische europäische Auskünfte verlassen, die ihrerseits durch die Perspektive der muslimischen MoghulHerrscher vermittelt (und verzerrt) waren. Ohne Kenntnis ihrer Literatur rechnete er Hindus und Buddhisten zu den ‚Barbarenʻ, die einer Missionierung per scientias unzugänglich seien. Während Cook vor allem auf den Mangel an und die fehlende Kenntnis der heiligen Schriften verweist, die Leibniz an einem adäquaten Verständnis der östlichen Religionen hinderten, bot selbst der persönliche Austausch mit einem ChinaMissionar keine Garantie, zuverlässig informiert zu werden. Rita Widmaier, Das Längengradproblem und andere Fragen, zeigt dies exemplarisch an dem italienischen Augustinereremiten und China-Missionar Nicola Agostino Cima (1650–
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1722). Dieser war 1707 aus Ostasien zurückkehrend in Dänemark gelandet und reiste von dort durch Deutschland bis Venedig. Auf seiner Reise suchte er Protektion und vor allem finanzielle Unterstützung an den Fürstenhöfen und kam mit den Gelehrten in ihrem Umfeld in Kontakt. Leibniz war aus Dänemark früh auf ihn hingewiesen und um Unterstützung des mittellosen Ordensmannes gebeten worden. Er lieferte nicht nur die erhofften Empfehlungsschreiben, sondern trat auch in einen allerdings nur schmalen und leider nicht vollständig überlieferten Briefwechsel mit Cima ein. Zudem hatte er am 8. Oktober 1707 eine persönliche Begegnung mit ihm in Hildesheim. Der Augustiner war außerdem Diskussionsgegenstand im Austausch mit anderen Korrespondenten. Allerdings muss Leibniz schnell gemerkt haben, dass Cima nicht nur nicht die Lösung der für die Seefahrt so wichtigen Längengradbestimmung besaß, mit der er sich vollmundig brüstete, sondern nicht einmal deren Probleme verstanden hatte. Fasziniert war er dagegen von Cimas Auskunft, sämtliche chinesischen Schriftzeichen ließen sich auf einen Grundbestand von 400 Zeichen zurückführen, alle anderen seien nur Zusammensetzungen. Hier schien die Möglichkeit eines allgemeinen Zeichensystems auf, bis ihn sein Berliner Briefpartner La Croze dieser Illusion beraubte. Wie die Rekonstruktion seiner tatsächlichen Chinareise zeigt, hat Cima auch in dieser Hinsicht seine Erfahrungen und Kenntnisse übertrieben. Gleichwohl zeichnet Widmaier ein von Sympathie geprägtes Bild des umtriebigen und aufschneiderischen Augustinereremiten, der in China zwischen die Räder der konkurrierenden geistlichen und weltlichen Institutionen der Mission geraten war. III. Innovationen und ihre Kommunikation In den vier Beiträgen dieser Abteilung geht es nicht nur um Innovationen in Mathematik und Technik, sondern auch um ihre Vermittlung – bzw. deren Fehlen oder Scheitern. Damit zeigen sie den engen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Innovation und Kommunikation auf. Gleich der erste Beitrag kann – auch – für Verzicht auf Kommunikation, das (für Leibniz so charakteristische) 8 Zurückbehalten von Werken ‚in der Schublade’ stehen. In Warum und wie schuf Leibniz die Determinantentheorie? behandelt Eberhard Knobloch eine von Leibniz’ großen mathematischen Entdeckungen, die er in zentralen Stufen und Dokumenten nachzeichnet. Sie war eher zufällig erfolgt: Bei der (vergeblichen) Suche nach einem Algorithmus für Gleichungen fünften und höheren Grades, die er vor allem in der Pariser Zeit intensiv betrieb, 9 gelangte Leibniz statt dessen zu einem Hilfsmittel zur Lösung linearer Gleichungssysteme, das er in Hannover stufenweise perfektionierte: eben der Determinantentheorie. Hier kommt 8
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Dazu Heinrich Schepers: Zur Geschichte und Situation der Akademie-Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Kurt Nowak, Heinrich Schepers (Hg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposion zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April 1996 in Leipzig, Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 291–298, S. 291. Von Eberhard Knobloch zusammen mit Walter S. Contro ediert in A VII, 1 u. A VII, 2.
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sein lebenslanges Interesse an der ars combinatoria, an Formalisierung und Abkürzungen und an „Schönheit“ in der Mathematik 10 ins Spiel – und nur ansatzweise dann doch wissenschaftliche Kommunikation. Denn Untersuchungen von 1678, aus der ersten Zeit in Hannover, richteten sich an den Dialogpartner der intensiven mathematischen Studien in Paris, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus – wurden aber zurückbehalten. Sie stellen Vorstufen von noch nicht allgemeiner Gültigkeit zu einem Text von 1684 dar, in dem Bildungs- und Vorzeichengesetze von Determinanten erkannt sind; ihn bezeichnet Knobloch als „Durchbruch“ (und gibt ihn hier erstmals in deutscher Übersetzung wieder, zusammen mit einem Glossar). Da Leibniz diese Entdeckung, deren Bedeutung er selbst im Titel der Abhandlung formulierte, nicht in die Öffentlichkeit brachte, wurde sie unabhängig von ihm durch Gabriel Cramer wiederholt und 1750 veröffentlicht. Charlotte Wahl behandelt in Grundsteinleger und Erbauer: Aushandlungsprozesse um Ruhm und Status im Mathematikerkreis um Leibniz einen weniger bekannten ‚Prioritätsstreit’ um den Infinitesimalkalkül, den Leibniz mit einem seiner wichtigsten Mitstreiter führte: mit Johann Bernoulli. Im Zentrum steht, dass nach der Nova methodus pro maximis et minimis von 1684, der Veröffentlichung der Differentialrechnung in den Acta Eruditorum, Jahre vergingen, bis es zur breiten Rezeption kam – die vor allem durch Johann und Jacob Bernoulli in Gang gesetzt wurde. Daraus resultierten nicht nur terminologische Differenzen, sondern auch unterschiedliche Erzählungen, insbesondere zur Rollenverteilung, die hier weit über die Lebenszeit der Protagonisten hinaus detailliert nachgezeichnet und analysiert werden. Wahl stellt fest: „Die Auseinandersetzungen […] zeigen, wie im Mathematikerkreis um Leibniz mit […] entstehenden Konflikten umgegangen wurde und auf welche Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zurückgegriffen werden konnte“. Hier wird auf zwei Seiten versucht, das Feld zu behaupten, mit unterschiedlichen Mitteln. Den Bernoullis kam zu, dass sie den kryptischen, geradezu „obskuren“ Acta Eruditorum-Artikel erst erschlossen, die Differentialrechnung weiterentwickelt und das von Leibniz nur en passant eingeführte Gegenstück dazu, die Integralrechnung, systematisch behandelt hatten. Zudem beruhte das erste Lehrbuch des Differentialkalküls, die Analyse des infinement petits des Marquis de L'Hospital von 1696, auf Vorlesungen und brieflichen Unterrichtungen Johanns. Abgesehen von einer begrifflichen Auseinandersetzung um letztere war Leibniz zunächst auch bereit, den Brüdern Gleichrangigkeit mit ihm zuzugestehen. Dies änderte sich 1705, als der Tod Jacobs einen ersten Anlass zur Historisierung bot. Als in mehreren Elogen „die Verdienste der Bernoullis stärker zu Lasten von Leibniz hervorgehoben“ wurden, setzte er, sein Gewicht in der Gelehrtenrepublik in die Waagschale werfend, dem sein eigenes Narrativ entgegen, indem er die zuvor „minimierte“ „Differenz zwischen dem Erfinder und denjenigen, die die Methode ausbauen und weiterverbreiten“, wiederherstellte. 10 Vgl. Herbert Breger: Die mathematisch-physikalische Schönheit bei Leibniz (1994), wiederabgedr. in: Herbert Breger: Kontinuum, Analysis, Informales – Beiträge zur Mathematik und Philosophie von Leibniz, hg. v. Wenchao Li, Berlin/Heidelberg 2016, S. 105–113, S. 110.
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Etwa ein weiteres Jahrzehnt später brachte Johann Bernoulli den Anspruch, „Miterfinder“ zu sein, erneut zum Ausdruck: „Sich auf den Kontext des Prioritätsstreits beziehend, verglich er den Differential- und Integralkalkül mit einem Gebäude, für dessen Entstehung nur die Grundsteinleger (Leibniz und Newton), nicht aber die Erbauer angemessen gewürdigt würden“. Den Weg in die Öffentlichkeit fand dies eher zufällig; Johann Bernoulli hielt sich weitgehend zurück, so lange Leibniz noch lebte. Unverkennbar ist auch auf dessen Seite die Bereitschaft zur Harmonie: so suchte er von ihm kritisierte Artikel als für die Bernoullis diffamierend darzustellen; scharfe briefliche Äußerungen wurden nicht abgesandt. „In den hier geschilderten Auseinandersetzungen um Ruhm und Status unter den frühen Anhängern des Differentialkalküls ging es […] darum, Ansprüche durchzusetzen, ohne den friedlichen Austausch zu gefährden“. In „Ad geometricas plane factus meditationes“: Das Unglück Lorenzinis und seine außergewöhnliche Rezeption von Leibniz’ Calculus behandelt Margherita Palumbo eine frühe Auseinandersetzung mit Leibniz’ Calculus – und eine „prekäre“ 11 Gestalt der Wissenschaftsgeschichte. Dem Florentiner Adligen Lorenzo Lorenzini, Lieblingsschüler des großen Viviani, schien schon früh eine glänzende Zukunft als Mathematiker vorgezeichnet. Zudem nahm er eine Funktion am MediciHofe ein. Das wurde ihm zum Verhängnis: 1681 plötzlich inhaftiert (die Gründe können nur vermutet werden), verbrachte er, ohne Prozess, Jahrzehnte in strenger Festungshaft; lange Zeit ohne jede Kommunikation mit der Außenwelt. Aufrecht hielt er sich mit mathematischen Problemen: „mit den Elementen der Geometrie als einzigem Kapital und ohne Bücher“ (zu ihnen wurde ihm der Zugang unterbunden, weil seine Bewacher in den mathematischen Symbolen magische Zeichen vermuteten). Als er um die Jahrhundertwende peu à peu wieder ins Leben zurückkehren konnte, kam der Mathematiker auf ihn zu, der Multiplikator des Calculus in Italien war: Guido Grandi. In der umfangreichen, über fast anderthalb Jahrzehnte geführten Korrespondenz spiegeln sich Lorenzinis Versuche eines Dialogs mit der neuen Mathematik, die detailliert nachgezeichnet werden. Grandi wollte, so Palumbo, „offenbar den hochtalentierten Lorenzini zur neuen Analysis bekehren“; er wies in Schriften und Briefen auf ihn hin (auch gegenüber Leibniz), er übersandte ihm seine eigene Quadratura circuli et hyperbolae und legte ihm ein von Leibniz übermitteltes Problem vor. Lorenzini ließ sich „mit Enthusiasmus“ darauf ein, musste aber feststellen, dass ihm, von der klassischen Geometrie herkommend, die „metodi algebratici“ fremd seien. Auch „hielten ihn seine Kränklichkeit und die wachsende Augenschwäche, als Auswirkung der Dunkelheit seiner Gefängniszelle, vom intensiven Lesen und Studieren ab“; bedauernd vermerkte er, dass ihm dies den Zugang zu Leibniz’ Analysis erschwere. Im Dialog mit Grandi zeigte er sich weiterhin offen – und verfolgte doch seinen eigenen geometrischen Zugang weiter. Für einige mathematische Aufzeichnungen aus der Haftzeit entwickelte er Pläne zur Publikation. Eine seiner exercitationes geometricae stand kurz vor dem Erscheinen, als er 1721 11 Vgl. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, zur Definition des Begriffs v.a. S. 11–20.
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verstarb. In seiner – lobenden – Rezension in den Acta Eruditorum stellte Christian Wolff Augenhöhe und doch einen gewissen Anachronismus fest: Lorenzini löse „per lineares demonstrationes problemata, qualia hodie per artem analyticam eruuntur“. In Leibniz’ Scheitern im Oberharzer Silberbergbau. Neu betrachtet unter dem Gesichtspunkt eines modernen Projekt- und Innovationsmanagements werfen Friedrich-Wilhelm Wellmer, Jürgen Gottschalk und Ariane Walsdorf neues Licht auf einen bekannten Befund, unter Einbeziehung einer Theorie des Ablaufs von Lernprozessen, dem stufenweisen Ausbau von Lerneffekten durch Wiederholung. Leibniz' Ideen zur Optimierung des Harzer Bergbaus gelten heute als innovativ – und ließen sich damals nicht durchsetzen. Die vielfältigen Gründe (darunter klimatische, organisatorische, technische), die von Seiten der Montanwissenschaft dafür angeführt worden sind, werden von den Autoren auf zwei hauptsächliche reduziert: „Leibniz’ Schwierigkeiten im Umgang mit den Oberharzer Bergleuten“ und „Materialprobleme, wobei diese Probleme sich wohl auch häufig auf zwischenmenschliche Probleme zurückführen lassen“. Dem Bergbaurevier im Harz, einem der technisch bedeutendsten in Europa, hatte Leibniz’ Interesse seit seinen ersten Hannoveraner Jahren gegolten – und dies nicht nur als einer lukrativen Einnahmequelle für die welfischen Territorien. Das dort kumulierte, hochkarätige technische Wissen kam seiner lebenslangen Aufgeschlossenheit für Handwerkerwissen entgegen, seiner Bereitschaft, von Praktikern zu lernen, in einem Prozess, den man heute als transdisziplinär bezeichnen würde. Dazu gehörte auch die Einbeziehung des Zeitfaktors – die Erkenntnis von Lernkurven. „Zumindest im Bergbau gibt es jedoch keinen Hinweis, dass er einen Praktiker auf seinem Lernprozess mitnehmen konnte“: Leibniz’ Ansatz stieß bei den Bergleuten auf wenig Gegenliebe. Charakteristisch ist eine von den Autoren geschilderte Szene. Als ein auf Leibniz’ Ideen basierendes Experiment scheitert, wird seine Forderung nach Wiederholung vom Bergamt abgelehnt: nach diesem Ergebnis sei kein anderes mehr zu erwarten. Das „zeigt klar, dass es, jedenfalls auf der Bergbau-Management-Ebene, noch keine Vorstellung von Lerneffekten gab“. Neben den Auswirkungen dieses ‚Unwissens‘, auch der von Leibniz früh beklagten Interesselosigkeit der Bergleute gegenüber Innovationen, untersucht der Beitrag auch dessen eigenen Anteil. Dieser lag vor allem in der Kommunikation mit den Bergleuten: Als Kind seiner Zeit trat Leibniz den Bergleuten als Beauftragter der Landesregierung gegenüber, ganz gegen deren Selbstverständnis als Teamarbeitern. IV. Leibniz in seiner publizistisch-höfischen Lebenswelt Eine seltene Möglichkeit zu einer inoffiziellen gesandtschaftlichen Vermittlungstätigkeit bot sich Leibniz 1712/13. Autorisiert von Herzog Anton Ulrich für eine außerordentliche Mission sollte sich Leibniz für Verhandlungen zwischen Kaiser Karl VI. und Zar Peter I. verwenden. Regina Stuber (Leibniz’ Konzeption von 1713 zu einer Befriedung Europas im Kontext des Großen Nordischen Krieges) thematisiert den Grenzbereich, in dem Leibniz als gelehrter Emissär tätig wurde und der nicht
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nur wissenschaftlich-kulturelle Vorhaben wie eine Akademiegründung umfasste, sondern auch bündnispolitische Interessen einschloss. Im Hinblick auf den sich eröffnenden Verhandlungsspielraum entwickelte Leibniz eigenständige europapolitische Vorstellungen, die eine engere Verbindung von Kaiser und Reichsverband mit dem Zarenreich erwogen und in den Kontext des Utrechter Friedens 1713 gestellt werden sollten. Auf welch kuriose Weise der Name eines gewissen Isaac Bickerstaff Einzug in den Arbeits-Katalog der Leibniz-Edition hielt, erläutert Siegmund Probst in seinem Beitrag 1708: Ein Gespenst geht um in Europa … Bei Bickerstaff, angeblich Astrologe und Kalendermacher, handelt es sich um eine fiktive Gestalt. Sie wurde zunächst von Jonathan Swift als literarische Figur verwendet, später dann auch von weiteren Autoren wie Daniel Defoe und Richard Stelle. Es dauerte etwas, ehe Bickerstaff mit seinen ihm von Swift angedichteten Vorhersagen als satirische Figur entlarvt wurde. Leibniz sollte dabei – so wohl Swifts Kalkül – als fiktiver Korrespondenzpartner dem „Gespenst“ Bickerstaff Leben einhauchen. Die über vier Jahrzehnte umfassende Korrespondenz der Liselotte von der Pfalz mit ihrer Tante Kurfürstin Sophie bildet das umfangreichste überlieferte Briefcorpus der Korrespondenz der Herzogin von Orléans. Auch Leibniz’ Einsatz trug dazu bei, dass die zeithistorisch außerordentlich wertvollen Briefe erhalten blieben. Gerd van den Heuvel („L’histoire anecdote de nostre tems“) unterstreicht nicht nur die Bedeutung, die diese Korrespondenz als Quelle für Hof- und Sittengeschichte des Zeitalters Ludwigs XIV. besitzt, sondern präzisiert Leibniz’ Funktion für deren Bearbeitung und Überlieferung. Denn dieser begleitete Sophie und später Sophie Charlotte bei der Lektüre dieser Korrespondenz, die die preußische Königin als „histoire anecdote de nostre tems“ im Sinne einer „histoire secrète“ auffasste, also eines Berichts von der Öffentlichkeit unzugänglichen Begebenheiten bei Hofe. In diesem Sinne spiegelt die von Sophie Charlotte und Leibniz gemeinsam getroffene und von Leibniz exzerpierte Auswahl die Bandbreite der Liselotte-Briefe. Die in der Akademieausgabe (I, 23) erstmals chronologisch gedruckten, zwischen der Königin und Leibniz gewechselten Briefe des Jahres 1704 lassen die Rezeption der Liselotte-Korrespondenz als Abstimmungsprozess zwischen Sophie, ihrer Tochter und Leibniz erkennbar werden. V. Leibniz-Bilder und Leibniz-Forschung Der letzte Abschnitt widmet sich Leibniz’ Nachleben: im Blick auf eine spezifische Forschungslandschaft, in bildlicher Evozierung und als „Identitätsfigur“. 12 Juan Antonio Nicolás betritt mit seinen Beitrag Leibniz in Spanish philosophy (18th – 21st century) weitgehend Neuland: Das geht aus seinem Eingangssatz hervor: „The history of Leibniz’s reception in Spanish philosophy has yet to be written 12 Dazu Wenchao Li: Der Wandel des Leibniz-Bildes, in: Friedrich Beiderbeck, Wenchao Li, Stephan Waldhoff (Hg): Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick, Stuttgart 2020, S. 791–815, S. 791.
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in a rigorous and detailed way“. Leibniz’ Rezeption in Spanien, bereits im 18. Jahrhundert einsetzend, blieb bis ins spätere 19. Jahrhundert sporadisch; der Zugang zu den bereits international vorliegenden Editionen war schwierig. Das Erscheinen der fünfbändigen Ausgabe Patricio de Azcárates Obras de Leibnitz puestas en lengua castellana 1878/79, konzentriert auf philosophische Schriften und Briefe, macht Nicolás als den Beginn einer signifikanten Leibniz-Rezeption in Spanien aus; Leibniz-Studien begannen sich fortan im Kanon der spanischen Forschung und an den Universitäten zu etablieren. Eine Vielzahl von (über den Rahmen der Philosophie hinausgehenden) Untersuchungen und Übersetzungen kulminierte in den Jahren um Leibniz’ 300. Geburtstag 1946. Längerfristig kam eine entscheidende Rolle José Ortega y Gasset zu, dessen philosophisches System auch auf Leibniz basierte; längst ist diese Beziehung selbst Forschungsthema. Weitere Breitenwirkung brachten die zunehmend intensivierte Teilnahme spanischer Forscher an den Internationalen Leibniz-Kongressen der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft und ihre daraus resultierenden persönlichen Beziehungen zu den Leibniz-Institutionen in der BRD; mündend in die Gründung der Sociedad Leibniz de España 1989. Diese Gründung sieht Nicolás als Kulminations- und Wendepunkt in der spanischen und insbesondere auch der lateinamerikanischen Leibnizforschung: „From that moment on, the results of the studies on Leibniz in Spain began to occupy a place on the international scene“. Mit breiter thematischer Streuung über die Philosophie (im weiten Sinne) hinaus, mit Ausweitung auf den ibero-amerikanischen Raum (Gründung der RED Iberoamericana Leibniz 2012), mit dem großangelegten Projekt Leibniz en español, darunter der Edition Obras filosóficas y científicas, der Bibliographie Biblioteca Hispánica Leibniz und schließlich einem der Leibnizforschung gewidmeten Lehrstuhl an der Universität Granada, dem weitere Leibniz-Projekte zugeordnet sind: das Bild einer blühenden Landschaft. Von Leibniz-Bildern im Wortsinn handelt der Beitrag von Simona Noreik „As above, so below“: Leibniz in Präraffaelitischer Perspektive. Im Zentrum steht die Leibniz-Statue des schottischen Bildhauers Alexander Munroe (1825–1871), die dieser für eine Skulpturengruppe des Oxford University Museum of Natural History schuf. Das 1860 eröffnete Museum war gedacht als „Ort der Bildung und Forschung, aber auch als der natürlichen Welt nachempfundene[r] Mikrokosmos, in dem jedes Exponat exakt den Plan einzunehmen habe“, der ihm zukomme „in God’s own Museum, the Physical Universe“ (so die Worte eines frühen Unterstützers). Diese Idee steht auch hinter der bildkünstlerischen Ausschmückung des Museums. Für die Haupthalle waren Standbilder „von Personen von außerordentlicher wissenschaftsgeschichtlicher Relevanz vorgesehen“. Insgesamt 19 Statuen und zehn Büsten konnten realisiert werden, darunter auch die von Leibniz und Newton (beide finanziert von Königin Victoria). Diese beiden Statuen (sowie vier weitere) wurden von Munroe geschaffen. Noreiks vielschichtige Analyse des Bildprogramms ist bestimmt von Munroes von den Präraffaeliten geprägter Kunstauffassung, die neben das detailgetreue Erfassen des Gegenstands die Subjektivität des Künstlers und die Perspektive des Betrachters stellt. Im Skulpturenprogramm des Oxford Museum geht diese bereits in
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die Positionierung der Gestalten ein. Anders als bei anderen Werken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen Leibniz, als Einzelfigur, unverbindlich als „Denker“ erscheint, ist er im Oxford Museum eingebunden in ein System vielbezüglicher Korrespondenzen. Es bringt ihn „in einen Dialog [...] einerseits mit den anderen Wissenschaftlern, andererseits mit der Öffentlichkeit des Vereinigten Königreichs“. An der Kreuzung zweier Säulengänge steht er an prominenter Stelle. Noch prominenter aber Newton: dem Betrachter beim Eintritt sogleich ins Auge fallend, steht er neben Prinzgemahl Albert (dem einzigen Nicht-Wissenschaftler der Gruppe), er wird damit „in eine Perspektive gebracht, die ihn [...] mit dem Königshaus assoziiert“. Und doch wird eine Spiegelung des Prioritätsstreits, jede Anspielung darauf vermieden. Denn die beiden Protagonisten standen zwar laut Planung für das „mathematical department“ – in der Realisierung aber weit gefasst. Bei Newton verweist der zu seinen Füßen liegende Apfel auf die Gravitationstheorie; Leibniz wird, mit einer Sternkarte als Accessoire und dem Blick gen Himmel, als Astronom imaginiert. Stefan Lorenz stellt den Leibnizforscher Paul Schrecker (1889–1963) in den Mittelpunkt: Leibniz im Dienst der „Reeducation“: Paul Schrecker und sein Aufsatz über Leibniz’ Prinzipien des Völkerrechts in der Amerikanischen Rundschau (1947). Schrecker, Mitarbeiter an der Akademie-Ausgabe in Berlin in ihrer Frühzeit, lehrte nach der Emigration in die USA an verschiedenen Universitäten, zuletzt als Professor für Philosophie an der University of Pennsylvania. Dort wird jetzt sein umfangreicher Nachlass verwahrt. Schreckers Wirken wird quellenbasiert und umfassend behandelt, als LeibnizEditor (der auch in den USA für eine philologisch verlässliche Grundlage der Leibnizforschung sorgte), als akademischer Lehrer (ein umfangreicher Exkurs gilt seiner Bedeutung für den Studenten Martin Luther King Jr.), als Forscher (insbesondere mit dem geschichtsphilosophischen Werk Work and History. Am Essay on the Structure of Civilization) – und als Publizist. Im Zentrum steht der im Titel angesprochene Aufsatz, der, zunächst zu Leibniz’ 300. Geburtstag 1946 englisch im Journal of the History of Ideas veröffentlicht, 1947 auf deutsch erschien. Lorenz sieht diesen Text „in die Bemühungen der amerikanischen Besatzungsmacht eingebunden […], das deutsche Publikum des Jahres 1947 über die Erinnerung an die eigenen, aber verschütteten, freiheitlichen Traditionen womöglich einer Umerziehung zuzuführen“. Schrecker behandelt Leibniz’ Rechtsdenken philosophisch-systematisch, changierend „zwischen philosophiehistorischem Referat der historischen Position Leibnizens […] und der unverkennbaren Zielsetzung, dieser Leibniz’schen Position für die Gegenwart des Jahres 1946 womöglich eine theoretisch valide Geltung zu vindizieren“. Es „verbindet sich […] seine als Philosophiehistoriker und Editor angewandte Akribie, seine profunde Sach- und Quellenkenntnis sowie sein kritischer Blick mit dem Impetus des philosophischen Systematikers, eine Verbindung die ihn […] die Einsichten in die von ihm wahrgenommenen Wahrheiten des Leibnizschen Denkens einer Mitwelt und Gegenwart zur Beherzigung und Verwirklichung empfehlen liess, deren geistige
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Situation von den Spuren der verheerenden Folgen eines irrationalen Voluntarismus und Dezisionismus schwer […] betroffen war“. Rezeption scheint diesem Aufsatz kaum beschieden gewesen zu sein, weder im Nachkriegsdeutschland noch in rezenten Untersuchungen zu Leibniz’ Rechts- und Staatsphilosophie. Und die „Würdigung des systematischen Philosophen Schrecker bleibt – zumal im deutschsprachigen Raum – ein Desiderat“. Im letzten Aufsatz des Bandes, Paul Ritter (1872–1954) oder Leibniz’ aristokratische und deutsch-nationale Liebhaber, behandelt Stefan Luckscheiter einen der Gründerväter der Akademie-Ausgabe, der sie seit den allerersten Vorbereitungen begleitet, ihr nach dem Neubeginn 1918 das Gesicht gegeben und sie in vielem nachhaltig geprägt hat. 13 Paul Ritter, der „Hilfsarbeiter“ Wilhelm Diltheys, gehörte nach dem Akademien-Beschluss von 1901 zur Herausgabe von Leibniz’ Sämtlichen Schriften und Briefen zu den Männern der ersten Stunde; nach den ersten Katalogisierungsarbeiten von 1902 kam ihm bald die Leitung des Unternehmens zu, die er, lang über die Versetzung in den Ruhestand hinaus, faktisch bis 1939 innehatte; unter ihm erschienen die ersten Bände. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Ritters Biographie; wobei das Wirken für die Leibniz-Edition – von Ritter selbst als sein „Lebenswerk“ bezeichnet – hinter seiner Zeitgenossenschaft zurücktritt. Gleichwohl durchzieht „Leibniz“ diese Lebensgeschichte, sei es, dass die Tätigkeit für die Ausgabe Ritters Freistellung vom Kriegsdienst begründen konnte, sei es in wissenschaftlichen Vorhaben wie einer Leibniz-Biographie (die ihn bis zum seinem Lebensende begleiten sollte) oder dem (kurzzeitigen) Plan einer deutschsprachigen Leibniz-Ausgabe, und vor allem in Vorträgen und Schriften, mit denen er sich an eine breitere Öffentlichkeit wandte. Auf diesen basiert ein Kapitel Luckscheiters zu Ritters Leibniz-Bild, das eine konservativ-deutschnationale Ausrichtung spiegelt. Zunächst Protagonist einer „Kultur der Menschheit, getragen von den führenden Nationen Europas“, wird Leibniz nach dem Ersten Weltkrieg zum Vertreter des Deutschtums; Aussagen, die bis auf eine aus der Zeit vor 1933 stammen. Dies wird von Luckscheiter grundiert mit einer Skizzierung von Ritters Freundeskreis um Heinrich Yorck von Wartenburg. In dieser zunächst auf der gemeinsamen Dilthey-Verbindung basierenden Beziehung kam Ritter zu, „dass er in der Lage war, das adlig-konservative Weltbild theoretisch zu fundieren“ – nicht zuletzt mit seinen Leibniz-Interpretationen.
13 Das spiegelt sich in Bezeichnungen („Ritter-Technik“, „Ritter-Katalog“); es gilt für die Editionstechnik, die, wenngleich in vielen Details inzwischen überholt, in den Grundzügen nach wie vor Bestand hat, und mehr noch für Festlegungen zur Reihenaufteilung, wie sie in der Einleitung zu A I, 1 dargelegt sind.
I. ERKENNTNISTHEORIE, POLITISCHE PHILOSOPHIE UND ETHIK
LEIBNIZ ET L’ARCHÉOLOGIE DU SAVOIR Arnaud Pelletier, Bruxelles 1. Dits et édits L’expression d’archéologie du savoir est indissociablement liée au programme d’une nouvelle manière de « décrire ce qui a été dit » tel qu’il fut exposé par Michel Foucault dans l’ouvrage éponyme. 1 A première vue, rien ne semble rapprocher Leibniz et Foucault, et ils semblent même s’opposer comme les partisans de la continuité et de la discontinuité. D’un côté, en effet, Leibniz reconnaît la loi de continuité comme un « principe de l’ordre général ». 2 Non seulement y a-t-il un ordre derrière les irrégularités voire les discontinuités apparentes des choses, mais cet ordre est soumis à la loi de continuité : tout ce qui existe, se produit ou se dit arrive toujours de manière continue. D’un autre côté, Foucault insiste sur la diversité des règles qui ont présidé, historiquement, à la formation des différents discours et qui valent comme autant d’édits de ce qui est dit à une certaine époque. En particulier, il identifie dans la conception d’une mise en ordre de toutes choses – laquelle n’advient pas sans un sujet qui ordonne – le caractère propre ou l’épistémè de toute l’époque classique. Dans cette lecture, l’épistémè de l’ordre et de la représentation à l’âge classique (que Foucault fait durer jusqu’à Kant) fait suite à l’épistémè de l’interprétation (qui caractérisait la Renaissance), et sera remplacé par l’épistémè moderne de la mort de l’homme : autant de séquences discontinues dont les savoirs sont incompatibles. Foucault associe alors la configuration particulière de toute l’époque classique avec le nom de Leibniz, qu’il ne cite pourtant presque jamais: Le fondamental, pour l’épistémè classique […] est un rapport à la mathesis qui jusqu’à la fin du XVIIIe siècle demeure constant et inaltéré. […] Le rapport de toute connaissance à la mathesis se donne comme la possibilité d’établir entre les choses, mêmes non mesurables, une succession ordonnée. […] En ce sens, le projet leibnitien d’établir une mathématique des ordres qualitatifs se trouve au cœur même de la pensée classique. 3
1 2 3
Michel Foucault : L’archéologie du savoir, Paris 1969 (désormais cité : Archéologie). Lettre de M. L. sur un principe general utile à l’explication des loix de la nature par la consideration de la sagesse divine, pour servir de replique à la reponse du R. P. D. Malebranche (1687); GP III, 52. Michel Foucault : Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 (desormais cité : Les mots et les choses), p. 71.
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Le nom de Leibniz est ainsi associé à cette prévalence de l’ordre général et à cette primauté du sujet représentant dont le projet foucaldien d’archéologie du savoir cherche précisément à se déprendre. De ce point de vue, on a pu parler d’un « antileibnizianisme » de Foucault. 4 Toutefois, si on laisse de côté ces grandes oppositions, un peu forcées et sur lesquelles nous reviendrons, il est un autre aspect qui rapproche au contraire les deux auteurs : la question de l’archive. En effet, l’un des motifs de l’archéologie foucaldienne est de ne pas s’en tenir aux unités toutes faites que sont les livres et les œuvres mais de recueillir, dans sa dispersion, la totalité de ce qui a été dit, de décrire l’archive d’une époque. 5 Certes, Leibniz n’est pas le nom d’une époque. Mais son nom est associé à un fonds unique d’archives qui se présente, matériellement, comme un ensemble dispersé d’énoncés, qu’aucune continuité ne relie d’abord et dont aucune continuité ne pourra peut-être être restituée : ni continuité conceptuelle, ni continuité chronologique ni même continuité de l’auteur. Avant même d’envisager la question des règles d’édiction des discours, le thème de la discontinuité apparaît concrètement comme un problème d’édition des énoncés. C’est que le statut problématique de l’auteur – que Foucault thématise dans une conférence célèbre parue la même année que l’Archéologie du savoir 6 – est aussi, et d’abord, un problème pour l’éditeur. En effet, l’histoire de l’édition des manuscrits de Leibniz nous a déjà amplement averti qu’on ne peut postuler qu’il est l’auteur de chaque note dont il est le scripteur. Mentionnons le cas bien connu de l’Unvorgreiffliches Bedencken de 1699, cette tentative de réduire les points de controverse entre luthériens et réformés, que Leibniz rédige en commun avec Gerhard Wolter Molanus et où l’un finit, littéralement, des phrases commencées par l’autre. 7 En ce cas précis, on pourra encore dire que l’autorité du texte est globalement répartie entre les deux scripteurs. 8 Mais l’assignation d’auteur est problématique en d’autres cas. Il arrive en effet que Leibniz mette au point un argument qui n’est pas le sien ou restitue une thèse qu’il ne défend pas, sans pour autant expliciter sa réserve ou sa distance à leur égard. C’est le cas du soi-disant Systema theologicum de 1686, aujourd’hui connu comme l’Examen religionis christianae, où Leibniz expose si clairement le point de vue catholique que les éditeurs au XIXe siècle y ont vu le témoignage de son catholicisme caché. 9 C’est le cas aussi d’un certain nombre de correspondances où des stratégies de concession, provisoires ou non, l’amènent à formuler des énoncés qui sont manifestement en décalage avec d’autres énoncés écrits pour soi-même. Ainsi, 4 5 6 7 8 9
Etienne Verley : L’archéologie du savoir et le problème de la périodisation, in : Dix-huitième Siècle, 5 (1973), p. 157. Voir Foucault : Archéologie, chapitre V. Michel Foucault : Qu’est-ce qu’un auteur ?, in : Dits et écrits, édition Daniel Defert et François Ewald, Paris 2001 (désormais cité DE, suivi du tome I ou II), p. 817–849. Unvorgreiffliches Bedencken über eine Schrifft genandt kurtze Vorstellung (1699) ; A IV, 7 N. 79. Voir Leibniz à Gerhard Wolter Molanus du 13 janvier 1699 ; A I, 16 N. 278. Examen religionis christianae (1686) ; A VI, 4 N. 420 (p. 2355–2455).
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dans sa brève correspondance avec le cartésien Arnold Eckhard, Leibniz maintient étonnamment que l’existence est une perfection qui augmente la réalité d’une chose, et que l’on conçoit « plus de réalité » dans une chose existante que dans une chose simplement possible. 10 L’énoncé n’est ici concédé que parce que la discussion porte en réalité sur la notion de perfection, dont Leibniz veut convaincre le cartésien de se débarrasser. Mais dans un texte privé rigoureusement contemporain, il nie à la fois que l’existence soit une perfection et qu’elle augmente la réalité d’une chose. 11 Mesurer ces effets de décalage – du scripteur et de l’auteur, d’un énoncé à un autre – n’est précisément possible que par une édition intégrale des manuscrits. Selon la métaphore en cours, l’édition doit donner à la masse océanique des manuscrits la forme d’une cathédrale. 12 Mais elle donnera surtout à voir ces décalages et ces distances, qui suspendent les continuités trop hâtives et récusent les interprétations linéaires articulées à quelques récifs extraits de l’océan. Il s’agit d’éviter deux écueils dans le recueil des énoncés : leur conférer par avance une unité, les rapporter à un seul auteur comme à une instance transcendantale. Ce sont précisément deux écueils dont Foucault a voulu se prémunir. La notion d’archive suggère ainsi, au-delà des oppositions de départ, un premier passage de type méthodologique : les règles de prudence formulées par Foucault à l’égard des inscriptions d’une époque ne pourraient-elles pas être transposables à l’échelle des archives d’une pensée associée à un nom propre ? Nous repartirons ainsi du programme foucaldien d’archéologie comme description de l’archive (§ 2 : Foucault). Mais nous verrons que ce programme ouvre à bien autre chose qu’une simple transposition de préceptes : c’est qu’il embarque avec lui une certaine conception de la rareté et de la régularité des énoncés, ainsi qu’une certaine limitation du sujet transcendantal, que Leibniz partage à bien des égards. Nous exposerons alors ces convergences souterraines relativement à l’image qu’ils se font tous les deux d’une pensée traversées d’autres pensées (§ 3 : Foucault/Leibniz). Enfin, nous verrons comment cette image de la pensée s’articule chez Leibniz à un véritable programme d’archéologie du savoir qui ne se laisse en rien réduire au programme d’extension universelle de la mathesis – ainsi que Foucault l’avait affirmé et, pour cette raison, rejeté – mais qui prend un sens prospectif : l’invention de ce qui n’a pas encore été dit (§ 4 : Leibniz).
2 10 Leibniz à Eckhard, été 1677 ; A II, 1 N. 148 (p. 543). 11 Existentia (1677) ; A VI, 4 N. 253 (p. 1354). 12 Voir Wenchao Li (Hg.) : Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012.
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2. Foucault : la description de l’archive Le problème abordé par Foucault dans les textes autour de l’Archéologie du savoir est celui de l’émergence des énoncés, à une époque donnée, sur le fond d’une « pensée d’avant la pensée ». Il la désigne même comme la tâche de la philosophie actuelle : On pense à l’intérieur d’une pensée anonyme et contraignante qui est celle d’une époque et d’un langage. Cette pensée et ce langage ont leurs lois de transformation. La tâche de la philosophie actuelle […] est de mettre au jour cette pensée d’avant la pensée, ce système d’avant tout système[…]. Il est le fond sur lequel notre pensée ‘libre’ émerge et scintille pendant un instant. 13
La tâche est de comprendre pourquoi quelque chose n’est plus pensable à un certain moment, ou pourquoi « en quelques années parfois, une culture cesse de penser comme elle l’avait fait jusque-là et se met à penser autre chose et autrement ». 14 Une telle tâche ne peut être formulée qu’en renonçant au préjugé continuiste qui soutient ce qui s’appelle l’histoire des idées, des mentalités ou des « visions du monde », laquelle postule comme un arrière-fond commun, une totalité donnée, sur fond de laquelle se développent, circulent, se modifient des idées. La perspective de Foucault se présente d’abord comme une longue polémique contre l’histoire des idées, et contre les préjugés de continuité et de totalité d’une période. Ce changement de perspective est d’abord exposé dans un article sur Ernst Cassirer intitulé Une histoire restée muette. Cassirer, écrit Foucault, a ouvert la « possibilité d’une nouvelle histoire de la pensée », c’est-à-dire d’une histoire « des fatalités de la réflexion et du savoir »: 15 dire que la pensée elle-même a une histoire, c’est poser qu’elle est indépendante des circonstances historiques ou des contingences individuelles. Le geste de Cassirer, tel que lu par Foucault, est de suspendre la continuité entre une pensée et l’époque dans laquelle elle se formule (révélant un domaine jusque-là confondu avec l’histoire des idées, avec l’esprit du temps, avec l’histoire des mentalités) mais aussi la continuité entre une pensée et celui qui la formule (révélant un domaine jusque-là confondu avec l’analyse des intentions de l’auteur 16). Le préjugé continuiste n’est pour Foucault que la conséquence d’un certain transcendantalisme du sujet, 17 de cette philosophie timorée qui veut, avant même de commencer, s’assurer de ses préalables et qui les trouve dans la fiction d’un fondement originaire, lui permettant ainsi de domestiquer par avance tout ce qui est nouveau, hétérogène, irréductible en
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Michel Foucault : Entretien avec Madeleine Chapsal (1966) ; DE I, p. 543. Foucault : Les mots et les choses, p. 64. Michel Foucault : Une histoire restée muette (1966) ; DE I, p. 573–577. Ibid., p. 576 : « Il serait grand temps de s’apercevoir une bonne fois que les catégories du ‘concret’, du ‘vécu’, de la ‘totalité’ appartiennent au royaume du non-savoir ». Par ‘concret’, Foucault vise l’anthropologie philosophique, par ‘vécu’ la phénoménologie, et par ‘totalité’ l’interprétation hégelienne et continuiste de l’histoire. 17 Foucault, Archéologie, p. 21 : « L’histoire continue, c’est le corrélat indispensable à la fonction fondatrice du sujet ».
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le soumettant aux constructions rétrogrades de la conscience falsificatrice et aux catégories tardives de la pensée en retard. Bref, il faut cesser de penser les événements (y compris ceux de la pensée) sur le modèle de la continuité psychologique et de la linéarité du discours. Par ce geste de suspension, Cassirer, poursuit Foucault, met à nu « l’espace autonome du théorique », « l’histoire du théorique », « cette nappe indissociable de discours et de pensée, de concepts et de mots, d’énoncés et d’affirmations » qui a ses propres nécessités, ses propres fatalités, ses propres contraintes, sa propre « force calme, irrésistible, enveloppante ». 18 Que permet précisément de découvrir cette épochè préméditée du transcendantal qui suspend les unités fictives de l’œuvre, de l’auteur, de l’origine, de la littérature, etc. et les fausses continuités de la tradition, de l’influence, du développement, de l’évolution, de la mentalité ou de l’esprit ? Une fois suspendues ces formes immédiates de continuité, tout un domaine en effet se trouve libéré […] : l’ensemble de tous les énoncés effectifs (qu’ils aient été parlés et écrits), dans leur dispersion d’événements et dans l’instance qui est propre à chacun. 19
Il ne s’agit pas de nier l’existence d’opérations transcendantales, mais de se placer sur un autre plan, plus profond que le sujet constituant, pour tenter de ressaisir l’émergence des pensées. C’est ainsi « par souci de méthode et en première instance qu’il faut accepter de n’avoir avoir affaire qu’à une population d’événements dispersés ». 20 Que signifie alors saisir des « règles d’émergence » 21 des énoncés ? Il ne s’agit pas de saisir des règles formelles ou d’en produire une théorie ou un tableau général. Foucault maintient en effet que la discontinuité reste « énigmatique dans son principe » 22 et qu’il faut même refuser la tentation d’une telle théorie englobante : les règles sont pour ainsi dire locales, en tout cas immanentes à la pratique et à la production de discours. 23 Il s’agit plutôt de décrire des « espaces » autour des énoncés. Dans l’Archéologie du savoir, il décrit trois types d’espace : l’espace collatéral du rapport de l’énoncé aux énoncés d’un même groupe ; l’espace corrélatif du rapport de l’énoncé avec ses sujets ses objets et ses concepts (qui en dérivent) ; enfin l’espace complémentaire ou des formations non discursives (institutions, événements politiques, pratiques et processus économiques). 24 Ils valent comme autant de conditions qui font que certains énoncés émergent plus facilement que d’autres, sans 18 19 20 21 22 23
Michel Foucault : Une histoire restée muette (voir la note 15) , p. 577. Foucault : Archéologie, p. 38. Ibid., p. 32. Ibid., p. 46. Foucault : Les mots et les choses, p. 229. Voir Michel Foucault : « Entretien radio-diffusé avec Georges Charbonnier, France Culture, 2 mai 1969 », accessible à l’adresse : https://www.franceculture.fr/michel-foucault-larchivecette-masse-complexe-de-choses-qui-ont-ete-dites-dans-une-culture : « Il ne s’agit pas de règles formelles que l’on pourrait établir une fois pour toutes et qui vaudraient pour toute société, pour toute culture, pour tout discours et pour tout individu parlant ; il s’agit de règles qui sont toujours investies à l’intérieur même des éléments qui sont mis en jeu ». 24 Nous suivons ici la présentation de Gilles Deleuze : Foucault, Paris 1986, p. 14–19.
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pour autant y voir des liens de causalité directe ou des contraintes fortes qui pèsent sur les énoncés. C’est du moins ce que Foucault maintient dans le texte de 1969 : les formations non discursives, les pratiques sociales ou les événements historiques ouvrent des champs, déterminent des horizons, assignent des limites – mais sans s’imposer comme limites – à certains discours. 25 Résumons la perspective d’ensemble : l’événement d’un énoncé ne relève ni de la spontanéité d’un sujet ni de l’apparition d’un objet, mais d’une certaine régularité – ou archive – qui permet justement l’émergence de nouvelles positions de sujet et de nouvelles constitutions d’objets. 26 D’un côté, ce qui parle n’est pas conscient des règles de formation d’un discours qui lui font mettre en relation des éléments hétérogènes. D’un autre côté, ce dont on parle – l’objet – n’existe pas indépendamment du discours qui le produit, qui le fabrique. En somme, l’ordre du discours ne se laisse réduire ni à l’ordre des choses ni à l’ordre de l’esprit : « Tant de choses ne surgissent pas selon les seules lois de la pensée ou selon le seul jeu des circonstances et ne sont pas la simple signalisation de ce qui se déroule dans l’ordre des choses ou dans l’ordre de l’esprit». 27 De nouveau, on comprend pourquoi un tel programme ne pouvait émerger dans le cadre de l’épistémè classique de l’ordre et de la représentation. Notons toutefois qu’il s’agit d’un programme dont Foucault reconnaît qu’il n’est peut-être pas possible de le mener parfaitement à bien. 28 Ce programme peut se résumer d’une formule tirée de la première version, restée inédite, de l’Archéologie du savoir : « Décrire ce qui a été dit ». 29 C’est-à-dire aussi : voir comment les choses ont pu être dites, sans projeter d’avance une quelconque unité, cohérence, continuité sur des énoncés dispersés, éparpillés. On peut enfin rappeler que ce nom d’archéologie a été donné à ce programme par une manière d’étymologie fantaisiste puisque, loin de signifier le commencement ou le principe d’une archè, il ne signifie rien d’autre que la description de l’archive :
25 Foucault : Archéologie, p. 63 : « Ce ne sont pas pourtant des relations extérieures au discours qui le limiteraient, ou lui imposeraient certaines formes, ou le contraindraient, dans certaines circonstances, à énoncer certaines choses. Elles sont en quelques sortes à la limite du discours : […] elles déterminent le faisceau de rapports que le discours doit effectuer pour parler de tels et tels objets ». Foucault reviendra sur ce point : voir la note 35. 26 Ibid., p. 170 : « L’archive c’est d’abord la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers […] c’est ce qui, à la racine même de l’énoncé-événement, et dans le corps où il se donne, définit d’entrée de jeu le système de son énonçabilité ». 27 Ibid. 28 Voir Michel Foucault : Les problèmes de la culture. Un débat Foucault - Preti ; DE I, p. 1241 : « Tout au long de ma recherche, je m’efforce d’éviter toute référence à ce transcendantal, qui serait une condition de possibilité pour toute connaissance. […] J’essaie d’historiciser au maximum pour laisser le moins de place possible au transcendantal. Je ne peux pas éliminer la possibilité de me trouver, un jour, face à un résidu non négligeable qui sera le transcendantal ». 29 Michel Foucault : Introduction à l’Archéologie du savoir. Texte établi par Martin Rueff, in : Les études philosophiques, 153 (2015), p. 332.
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Par "archéologie", je voudrais entendre quelque chose comme la description de l’archive. Je voudrais que le mot "archéologie" vienne de l’archive. C'est-à-dire, la description de cette masse extraordinairement vaste, complexe, de choses qui ont été dites dans une culture. 30
Le programme ainsi esquissé par l’Archéologie du savoir a suscité des réserves – que nous n’exposons pas ici. Soulignons simplement qu’il a un statut particulier pour Foucault lui-même. Il s’agit en effet pour lui d’un moment de mise au point méthodologique, d’explicitation rétrospective, voire de rectification, de la manière dont il a thématisé la question de la discontinuité dans ses trois ouvrages précédents : Histoire de la folie, Naissance de la clinique et Les mots et les choses. Il revient en particulier sur l’idée de discontinuités brutales, simultanées et totales qui caractérisait la succession des épistémè et formule désormais une approche plus nuancée, plus graduelle, plus locale aussi. 31 A peine formulé, ce programme sera de nouveau remanié dans l’Ordre du discours, et ne sera pas suivi dans les œuvres à venir. L’Archéologie du savoir n’expose ainsi ni la méthode suivie auparavant, ni celle qui sera suivie ensuite : « Elle est la méthode d’un ouvrage que Foucault n’a jamais écrit ». 32 Revenons à Leibniz, et précisément aux archives des énoncés leibniziens. Ne serait-il pas artificiel de vouloir transposer le programme foucaldien de description l’archive d’une époque aux archives d’une pensée ? Et ne serait-ce pas d’autant plus inapproprié que Foucault n’a pas donné suite à son programme ? Cette interpellation appelle deux réponses. La première est que l’on peut sans doute transposer certains préceptes méthodologiques de Foucault en des recommandations négatives au moment d’aborder les archives d’une pensée : ne pas conclure hâtivement du scripteur à l’auteur ; ne pas isoler un énoncé des énoncés corrélatifs ; ne pas réduire non plus la distance entre des énoncés discontinus. Mais la confrontation de Foucault à Leibniz livre plus qu’une simple et prosaïque transposition. En effet, Foucault insiste sur la régularité propre de l’archive qui s’impose au locuteur ou au scripteur. Or – et sans doute à l’encontre de l’image que Foucault a pu en avoir – Leibniz conçoit une articulation très semblable entre, pour le dire vite, la pensée individuelle et la régularité des savoirs. Plus qu’une simple analogie, il faut envisager maintenant un réel point de convergence autour de l’image de la pensée ‘individuelle’, de son rapport à des régularités données, des limites du sujet transcendantal et de la rareté des énoncés formulés.
30 Foucault : Entretien radio-diffusé avec Georges Charbonnier, France Culture, 2 mai 1969, op. cit. Voir aussi Foucault : Dialogue sur le pouvoir (1978) ; DE II, p. 468f. 31 Voir Foucault : Archéologie, p. 206. 32 Baptiste Mélès : Présentation, in : Les études philosophiques, 153 (2015), p. 324.
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3. Foucault/Leibniz : l’image de la pensée La métaphore d’une image de la pensée embarque avec elle la question de la visibilité de la pensée : toute pensée se donne selon une certaine image, une certaine forme, une certaine figure, une certaine species par laquelle elle se rend sensible, ou, comme le dit Leibniz, palpable. La figure donne à voir en se donnant à voir, comme un « œil du discours ». 33 Penser est d’abord donner une forme – qu’elle soit langagière, visuelle ou autre. Et Foucault insiste sur certains caractères que présentent les formes des énoncés effectivement dits : leur rareté et leur régularité, qui vient marquer les limites du sujet transcendantal. Or certaines analyses leibniziennes convergent vers ces caractères. La rareté des énoncés Tout n’est jamais dit. Peu de choses au final sont dites. Et, dans le cadre d’un discours, une infinité d’énoncés sont exclus, non seulement de fait, mais aussi de droit. Foucault appelle ce caractère la rareté des énoncés. Il en donne lui-même deux lectures. Dans l’Archéologie du savoir, il n’en fait pas l’effet d’un dispositif répressif.34 Mais il revient sur ce point deux ans plus tard dans l’Ordre du discours, sa leçon inaugurale au Collège de France, et tient alors que la production des discours est toujours restreinte, réprimée, bref « contrôlée, sélectionnée, organisée, redistribuée ». 35 En laissant ici de côté la question des dispositifs répressifs, on peut simplement rappeler que Leibniz a lui aussi souligné la rareté des énoncés. En effet, les nombreuses exhortations ou préfaces en vue d’un nouvel art d’inventer ou d’une nouvelle Science Générale ne manquent pas de rappeler la rareté des inventions, c’est-à-dire la rareté des énoncés nouveaux. Tel est le diagnostic leibnizien : on commente toujours les mêmes choses, on se recopie sans cesse, on emprunte toujours les mêmes voies et peu de choses au final ont été inventées, et encore moins sont susceptibles de l’être. Ainsi : A bien considerer les choses, la plus part de ceux qui ont traité les sciences n’ont fait que se copier, ou que s’amuser, c’est presque une honte au genre humain de voir le petit nombre de ceux qui ont travaillé veritablement à faire des découvertes; nous deuvons presque tout ce que nous sçavons (les experiences du hasard mises a part) à une dixaine de personnes, les autres ne s’estant pas seulement mis en chemin d’avancer. 36
Alors que quantités de savoirs et de pratiques risquent de rester sans suite et sans reprise faute d’être répertoriés, un petit nombre d’énoncés est commenté et repris 33 34 35 36
Jean-François Lyotard : Discours, figure, Paris 6 2017, p. 13. Foucault : Archéologie, p. 157. Michel Foucault : L’ordre du discours, Paris 1971 (désormais cité : L’ordre du discours), p. 10f. Essais sur un nouveau plan d’une science certaine (1688–1690) ; A VI, 4 N. 203 (p. 949). Voir aussi le texte contemporain du Discours touchant la méthode de la certitude et l’art d’inventer (1688–1690) ; A VI, 4 N. 204 (p. 959).
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sans cesse : « Je remarque parmi les gens qui font profession de philosophie et de mathématique, que ceux qui sont proprement cartésiens, demeurent ordinairement dans la médiocrité, et n’inventent rien de conséquence, n’étant que des commentateurs de leur maître » 37. Le risque alors n’est pas que les savoirs n’augmentassent plus mais qu’ils soient ensevelis sous des chicanes inutiles et toujours renouvelées : la bêtise des demi-savants, l’unilatéralité de leurs savoirs mènent en réalité à la barbarie de l’ignorance. La perspective leibnizienne sur la rareté des énoncés n’est pas celle de Foucault : une fois constatée, il s’agit pour Leibniz de combattre cette rareté précisément au moyen d’un nouvel art d’inventer – lequel ne se réduit pas à la mathesis universalis, comme nous le verrons dans la section suivante. La rareté des énoncés n’est pas, pour Leibniz, ce qui structure un discours ou une culture à une époque donnée, mais bien ce qui la menace de décomposition de l’intérieur : Et il est à craindre que si nous continuons ainsi, sans répondre enfin à ce mal incurable, et sans inspirer aux barbares le dégoût des études, alors la multitude excessive des choses et des livres enlèvera tout espoir de discernement, et les choses sérieuses et utiles seront recouvertes par une masse d’inanités. 38
Avant de poursuivre, on peut noter que ce refus du commentaire infini trouve aussi sa traduction dans la manière dont Leibniz lit les archives des autres. Ainsi, face aux interprétations divergentes d’Aristote qui s’appuient chacune sur des formules singulières, Leibniz recommande de ne pas essayer de reconstituer une interprétation unifiante et englobante de ce qui se donne dans la dispersion et, plutôt que de torturer (torqueri) un énoncé dans tous les sens, il vaut mieux le laisser de côté si on ne sait rien en dire, surtout s’il est par ailleurs désavoué par une infinité d’autres (infinitis aliis). 39 La mise en ordre ne viendra pas de l’interprétation. La racine de la pensée Mais qu’y a-t-il à la racine de la pensée pour que l’apparition d’un énoncé-événement, ou que l’invention d’un nouvel énoncé, soit possible ? La question n’est pas abordée par Foucault dans son programme de recherche des « fatalités de la réflexion » autour de Les mots et les choses ni dans sa formulation des régularités du discours dans l’Archéologie du savoir. Mais une brève remarque scintille dans l’Ordre du discours : il faut reconnaître le hasard à la racine de la pensée. A suivre les préceptes leibniziens, on ne doit pas surinterpréter la formule. Mais à suivre les préceptes foucaldiens, il faut la recueillir, surtout si elle désigne cette place laissée jusque-là vide de l’événement, que Foucault nomme 37 Leibniz à Christian Philipp, janvier 1680 ; A II, 12 N. 222 (p. 790). 38 Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (juin 1679) ; A VI, 4 N. 81 (p. 339). 39 Leibniz à Jakob Thomasius du 30 avril 1669 ; A II, 12 N. 11 (p. 30) : « Ego vero non dubito, Vir Cl. esse aliqua loca Aristotelis, quae huc trahi torquerive possint, sed tamen ea infinitis aliis ejus confessionibus obrui puto ».
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« hasard de la pensée », ou encore « aléa », ou encore spontanéité du discours. 40 Lisons : Il faut accepter d’introduire l’aléa comme catégorie dans la production des événements. Là encore se fait sentir l’absence d’une théorie permettant de penser les rapports du hasard et de la pensée. De sorte que le mince décalage qu’on se propose de mettre en œuvre dans l’histoire des idées et qui consiste à traiter, non pas des représentations qu’il peut y avoir derrière les discours, mais des discours comme des séries régulières et distinctes d’événements, ce mince décalage, je crains bien d’y reconnaître quelque chose comme une petite (et odieuse peut-être) machinerie qui permet d’introduire à la racine même de la pensée, le hasard, le discontinu et la matérialité. 41
Reprenons. La matérialité à la racine de la pensée renvoie à l’ensemble des énoncés qui, précédés d’aucun autre texte dont ils seraient les signes, précèdent toujours la pensée qui vient. Sous le fond archéologique des règles se dévoile le murmure sans commencement ni fin des énoncés qu’aucune règle ne vient mettre en série – ce que Foucault a par ailleurs appelé le sable de la non-pensée. 42 C’est pourquoi la matérialité désigne aussi l’épaisseur même de l’énoncé, le fait qu’il ne soit pas l’expression transparente d’une pensée ou la transparence de la pensée à la parole. 43 Et ce murmure d’énoncés, tout comme l’énoncé qui apparaît sur leur fond, ne sont reliés, à leur racine même, par aucune forme de continuité qui en assurerait par avance la pensabilité. Reste alors à comprendre ce que signifie la survenue au hasard des énoncés. Le hasard semble ici désigner la rencontre dans un locuteur/scripteur entre le fond indéfini et discontinu des énoncés dont il hérite et l’énoncé qu’il produit, parmi l’immensité des combinaisons, associations, dissociations qui étaient à la fois possibles et réglées d’une certaine manière. Ainsi posé, le hasard vient aussi dire la limite du sujet transcendantal, et en même temps la limite de la méthode historique : Notre inconscient historique est fait de ces millions, de ces milliards de petits événements qui, petit à petit, comme des gouttes de pluie, ravinent notre corps, notre manière de penser, et puis le hasard fait que l’un de ces micro-événements a laissé des traces, et peut devenir une espèce de monument, un livre, un film. 44
Le locuteur ou le scripteur n’est pour ainsi dire que le lieu d’accident des énoncés ; le lieu des associations involontaires plutôt que des continuités de la conscience ; le lieu de la multiplication des traces, à partir desquelles émergeront d’autres énoncés, qui accroitront à leur tour le hasard. Songeons prosaïquement au hasard de nos lectures et aux énoncés qu’elles suscitent en nous. Le hasard est associé à une certaine 40 Foucault parle de « l’événement aléatoire du discours » et des « séries aléatoires d’événements » (Foucault : L’ordre du discours, p. 11, 28 et 35), de « la dimension d’événement et du hasard du discours » (ibid., p. 23, 31 et 38), du « jaillissement spontané des discours » (ibid., p. 68). 41 Foucault : L’ordre du discours, p. 61. 42 Foucault : Les mots et les choses, p. 333. 43 Foucault : L’ordre du discours, p. 48. 44 Foucault : Le retour de Pierre Rivière (1976) ; DE II, p. 118.
Leibniz et l’archéologie du savoir
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fonction chez Foucault : désigner au cœur même des énoncés et du locuteur qui les porte, un certain dehors, une certaine multiplicité dont il est tissé, une certaine régularité qui échappe au locuteur. Une nouvelle convergence s’esquisse alors avec Leibniz qui a lui aussi posé une multiplicité et une régularité souterraines à la racine de la pensée. C’est en effet une proposition centrale de Leibniz que toute perception est toujours une perception de l’univers, à savoir de son état présent mais aussi de toute la suite de ses états passés et futurs. La perception n’est pas simplement « multitude dans l’unité » mais, rigoureusement, infinité dans l’unité. 45 Cette expression à l’infini n’est concevable qu’en posant une structure de composition à l’infini : toute perception ne va à l’infini que parce qu’elle résulte elle-même d’une infinité de perceptions, ce qui s’entend à la fois actuellement (au sens de l’intégration) et temporellement (au sens de la succession). L’aspect le plus notable est que toute perception consciente résulte, en ce double sens de l’ordre, d’une infinité de perceptions insensibles ou « petites perceptions ». 46 Ou encore : à la racine de toute pensée se trouve une multiplicité de pensées, d’ordres, de régularités qui ne paraissent pas explicitement, ou qui échappent, au locuteur. Leibniz ne décrit pas cette situation en terme de hasard, mais d’inquiétude de la pensée. 47 Et cette image de la pensée le conduit à deux propositions proches de l’analyse foucaldienne. La première proposition est que le locuteur/scripteur conscient est toujours en retard sur une infinité de pensées qui l’ont précédé, et qui s’expriment en lui et malgré lui. Partant de là, Foucault refusait de poser la question de l’origine de la pensée puisque nous pensons toujours à partir d’énoncés qui nous échappent mais qui nous font : « En un sens, nous ne sommes rien d’autre que ce qui a été dit, il y a des siècles, des mois, des semaines … ». 48Partant de là, Leibniz introduit la distinction – d’allure bien foucaldienne rétrospectivement – entre l’auteur et le porteur des pensées : «On n’est quelques fois que le truchement des pensées, ou le porteur de la parole d’autruy, tout comme seroit une lettre ; et même on l’est plus souvent qu’on ne pense». 49 La seconde proposition – rigoureusement corrélée à cette limite du sujet transcendantal comme origine de l’ordre – est que les savoirs, les pensées, les pratiques mettent en œuvre des principes, des ordres ou des lois qui sont immanentes aux choses, et qu’il s’agit pour nous d’inventer, c’est-à-dire d’abord de découvrir. Tout comme les deux grands principes du raisonnement et tout comme n’importe quelle vérité nécessaire ne résultent pas mais s’imposent à l’entendement, y compris l’entendement de Dieu, de même il est des régularités cachées, des logiques secrètes, des règles de formations souterraines dont on hérite et dont on n’a d’abord pas conscience.
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Monadologie (1714), § 14 ; GP VI, 608. Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), préface ; A VI, 6 N. 2 (p. 53–58). Ibid., II, 21, 36 ; A VI, 6 N. 2 (p. 188). Michel Foucault : Dialogue sur le pouvoir (1978) ; DE II, P. 469. Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), III, 2, 2 ; A VI, 6 N. 2 (p. 286).
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Rareté des énoncés, racine de la pensée, régularité immanente hors de tout transcendantalisme : ces convergences infirment le jugement de Foucault sur Leibniz. S’il y a eu une épistémè classique telle que Foucault la dessine, alors Leibniz a fait exception. En un sens, Leibniz incarne bien le triomphe de la représentation, puisque rien n’échappe à l’unité de la représentation ; mais cette unité n’est pas une condition de possibilité, mais un point de perspective sur une infinité d’énoncés, qui résulte lui-même d’une infinité d’énoncés. La justesse du jugement de Foucault importe peu ici, d’autant qu’il n’entre jamais dans le détail de la doctrine leibnizienne. Par contre, la convergence des prémisses ne peut manquer de soulever une question : l’archéologie du savoir n’est-elle pas un projet authentiquement leibnizien ? 4. Leibniz : l’autre archéologie du savoir Revenons une dernière fois sur l’épistémè classique pour marquer le contraste avec Leibniz. Foucault l’identifie avec le triomphe de la mathesis, c’est-à-dire au fait que tous les savoirs – y compris empiriques – se seraient « tous constitués sur fond d’une science possible de l’ordre ». 50 Il y aurait eu, jusqu’à Kant, un « fond unifié et unificateur d’une mathesis », un « rapport constant et fondamental du savoir, même empirique, à une mathesis universelle ». 51 Cela ne signifie pas pour Foucault que les savoirs empiriques aient trouvé leur fondement dans la mathesis, mais ils n’ont parfois émergé qu’en corrélation ou en rapport avec elle 52. Il reste cependant que c’est par la représentation – celle de la mathesis – que les choses sont unies et ordonnées ; et il faudra un changement d’épistémè pour que les choses se voient reconnaître leur ordre propre, hors de l’ordre de la représentation. Le point focal d’une mathesis universalis désigne plutôt Descartes que Leibniz comme nom propre associé. De fait, Foucault ne dissocie fondamentalement pas les deux et parle des « entreprises cartésienne ou leibnizienne » et d’une « époque de Descartes ou de Leibniz » qui aurait été celle de la « transparence réciproque du savoir et de la philosophie ». 53 La manière dont Leibniz se rapporte à la mathesis peut donc être instructive de ce décalage.
50 Foucault : Les mots et les choses, p. 71. 51 Ibid., p. 260. 52 Ibid. : « Mais d’autre part ce rapport à la mathesis comme science générale de l’ordre ne signifie pas une absorption du savoir dans les mathématiques, ni le fondement en elles de toute connaissance possible; au contraire, en corrélation avec la recherche d’une mathesis, on voit apparaître un certain nombre de domaines empiriques qui jusqu’à présent n’avaient été ni formés ni définis ». 53 Ibid. On pourrait dire que « Leibniz » est pour Foucault le nom d’un style cartésien vu de loin; tout comme Bonnet est dit suivre un « style leibnizien » lorsqu’il pense la continuité des espèces, à partir d’une lettre d’attribution par ailleurs douteuse (ibid., section « Monstres et fossiles », p. 164).
Leibniz et l’archéologie du savoir
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En effet, Leibniz mentionne bien une mathématique générale (mathesis ou mathematica generalis) dans ses projets et plans en vue d’une Science Générale qui doit remédier, ainsi que nous l’avons déjà indiqué, à la rareté des énoncés inventés, à la pauvreté des inventions. 54 Or, précisément, cette Science Générale ne prend pas la forme d’une science de l’ordre – unique, unifiée, unifiante – mais elle est pensée comme le recueil pluriel de tous les fondements (initia ou fundamenta) des savoirs constitués, et en même temps l’exposition de tous les échantillons (specimina) de doctrines démontrées, même si tous leurs fondements ne sont pas encore explicités. Dans ce cadre, la mathématique générale n’est pas le fond commun de cette science, mais son premier échantillon, que Leibniz décrit ainsi : I. La Mathématique Générale, qui traite de la Grandeur ou Quantité et de la Similitude ou Qualité, en tant qu’elles doivent être déterminées – qu’il s’agisse tant des nombres définis dont traite l’Arithmétique que des nombres indéfinis dont s’occupe l’algèbre – et par laquelle tout calcul peut être accompli par de nouveaux procédés afin de résoudre ce qui était jusque-là hors de son pouvoir. 55
Une partie de ce programme rejoint la description foucaldienne d’une « mathématique des ordres qualitatifs ». Mais ce programme ne désigne qu’un échantillon, certes premier mais local, de la Science Générale : une application de certains fondements à des « choses spéciales ». Mais à quel titre l’articulation de principes à une doctrine vaudrait, en outre, d’échantillon de la Science Générale ? C’est qu’elle présente de « nouveaux procédés » (novis artibus) permettant de résoudre ce qui était jusque-là hors de portée (hactenus non in potestate) de l'arithmétique et de l'algèbre. C’est donc en tant qu’elle présente une nouvelle voie d’invention, par l’explicitation de nouveaux initia, qu’elle appartient de plein droit au programme de la Science Générale. Comment mettre en œuvre un tel programme ? La vingtaine de textes que Leibniz rédige explicitement en vue d’une Science Générale indique en quoi consiste cette « logique secrète » ou ce « secret de l’art d’inventer » qui permettra de parvenir à ce qu’il désigne par ailleurs comme une « encyclopédie secrète »: 56 il s’agit d’abord de ne rien laisser secret dans les doctrines démontrées, c’est-à-dire d’en expliciter les principes, les procédés, les régularités inaperçues ; de sorte que ces derniers, à leur tour, puissent donner lieu à de nouveaux échantillons en mettant au jour de nouvelles régularités. C’est d’abord la mise en série des choses qui est le moyen le plus approprié pour découvrir leur régularité cachée, comme on découvre la loi de la suite des carrés des entiers en les mettant d’abord en série. 57 L’ordre n’est pas le produit d’une représentation ; il est déjà enveloppé dans les choses et dans les pensées, et la première tâche est de le découvrir. La seconde tâche est d’essayer d’étendre le domaine de ces régularités, 54 Voir notre présentation et traduction dans : Leibniz : Mathesis universalis. Écrits sur la mathématique universelle, Paris 2018, p. 211–221. 55 Initia Scientiae Generalis Conspectus Speciminum (1679) ; A VI, 4 N. 87 (p. 362). 56 Initia et specimina scientiae novae generalis (1682) ; A VI, 4 N. 110 (p. 442) ; Introductio ad encyclopaediam arcanam (1683–1685) ; A VI, 4 N. 126 (p. 527). 57 Consilium de encyclopaedia nova (juin 1679) ; A VI, 4 N. 81 (p. 340).
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qui restent toujours locales, par récursivité et transfert des principes ou fondements. La Science Générale n’a ainsi ni contenu ni limites déterminées ; elle s’invente et s’augmente en même temps que les échantillons ; elle n’est pas la doctrine de l’ordre mais le moyen d’une multiplication et d’une extension des savoirs. 58 Un motif puissant de cet imaginaire d’une Science Générale est donc la reconnaissance de régularités latentes, cachées, secrètes au cœur des pensées, des pratiques, des arts. C’est de toutes parts qu’il faut recueillir, indexer, cataloguer ces chemins d’invention. Même la lecture des romans et des narrations curieuses, où tout est fiction, peut rendre l’esprit plus propre à l’invention. 59 L’anecdote que Leibniz confie au duc Johann Friedrich peut valoir d’analogie avec nos situations propres dans le savoir : J’ai commencé à étudier presque sans direction du fait que mes parents sont décédés prématurément ; mais j’ai avant tout eu la chance d’avoir à disposition autour de moi des livres sur toutes sortes de langues, religions et sciences que je commençai à lire sans aucun ordre contraignant et guidé par la seul plaisir de lire ; ce qui se révéla être d’un usage inestimable puisque je fus ainsi libéré des préjugés communs et que j’ai eu accès à de nombreuses choses auxquelles je n’aurais jamais pensé sinon. 60
Nous sommes pour ainsi dire nés dans une bibliothèque qui nous précède, dont nous héritons, que nous lisons d’abord sans autre ordre que celui de nos commencements, et qu’il s’agit ensuite de cataloguer pour, peut-être, l’augmenter de nouveaux énoncés. Nous ne partons jamais de principes premiers, mais de nos commencements propres au milieu des choses : des initia qui formeront nos itinéraires dans le savoir. La quête de l’ordre n’impose aucun commencement absolu ni aucune origine, mais elle ouvre toutefois à la recherche de principes premiers (prima principia) et même à la métaphysique : Il nous est ainsi proposé de poursuivre cette Science Générale qui fasse pénétrer l’âme en toutes choses et qui enseigne à juger de ce qui est inventé, à inventer ce qui est recherché et à ordonner toutes choses, et qui constitue enfin les premiers principes et ouvre la voie aux causes suprêmes des choses (ad summam rerum causas supremas aperit viam). 61
Les énoncés ou les échantillons dont nous partons enveloppent non seulement des fondements mais aussi – et il ne faut pas les confondre – des premiers principes, qui ne sont pas ceux des choses, mais ceux de la recherche de leurs causes. Leibniz compte parfois ces premiers principes, de raison et de fait, au titre des praecognita; 62 et ne les considère pas comme des principes de clôture définitive mais leur donne précisément le nom d’ « ouvertures ». 63 Le dispositif de la Science Générale 58 Nous nous permettons de renvoyer à : Arnaud Pelletier Logica est Scientia : generalis : l’unité de la logique selon Leibniz, in : Archives de philosophie, 76 (2013), p. 271–294 ; The Scientia Generalis and the Encyclopaedia, in : M. R. Antognazza (ed.), Oxford Handbook of Leibniz, New York 2018, p. 162–176. 59 Voir Nouveaux essais sur l’entendement humain (1703–1705), IV, 1, 2 ; A VI, 6 N. 2 (p. 355). 60 Leibniz au duc Johann Friedrich, octobre 1671 ; A II, 12 N. 84 (p. 261). 61 Paraenesis de scientia generali (1688) ; A VI, 4 N. 206 (p. 978). 62 Introductio ad encyclopaediam arcanam (1683–1685) ; A VI, 4 N. 126 (p. 527). 63 Recommandation pour instituer la science Générale (1686) ; A VI, 4 N. 161 (p. 708).
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est à la fois celui d’un refus de l’origine, qui nous échappe radicalement, et en même temps celui d’une recherche ininterrompue de principes qui repousse toujours davantage le fondamental. En ce sens, il semble que Leibniz aurait pu revendiquer pour la Science Générale le nom d’archéologie du savoir, et peut-être de manière étymologiquement plus rigoureuse : comme avec Foucault, c’est une archéologie sans origine ; contrairement à Foucault, elle ne renonce pas à la recherche d’archai. Cette autre archéologie du savoir n’a plus le sens rétrospectif de la description de ce qui est dit, mais revêt le sens prospectif de l’invention de ce qui n’a pas encore été dit. Le programme foucaldien d’une archéologie du savoir permet de souligner des convergences notables avec le programme leibnizien d’une Science Générale. On pourrait toutefois objecter que le nom d’archéologie serait déplacé pour Leibniz, surtout si l’on suit Foucault qui rapporte ce nom, dans une justification rétrospective, à la mention par Kant d’une archéologie philosophique. 64 Mais le terme d’archéologie existait en philosophie avant Leibniz, et on peut brièvement suggérer, pour finir, les raisons pour lesquelles il ne l’a pas repris. C’est en effet chez le ramiste Johann Heinrich Alsted que l’on trouve la mention d’une archéologie – au sens de science des principes – dès 1612 : « L’archélogie (sic) est la première partie des praecognita philosophiques, qui porte sur les principes c’est-à-dire les fondements de toutes les disciplines ». 65 Cette première partie est suivie de l’hexilogia, la technologia et la canonica qui, toutes ensemble, permettent d’expliquer la constitution de toute connaissance, sans entrer dans le détail d’aucune, et en particulier pas dans le détail de cette ontologia qu’Alsted nomme et essaie de constituer comme discipline autonome à la suite de ses inventeurs calvinistes Lohrard et Timpler. Alsted vise bien une sorte d’inventaire des principes et des habitudes de penser en vue d’une encyclopédie. De loin, le parallèle est manifeste avec Leibniz. De près, toutefois, de multiples divergences justifient peut-être que Leibniz n’ait pas repris ce nom. Pour Leibniz, l’encyclopédie ne doit pas être cadastrale mais démonstrative ; l’inventaire des procédés ne doit pas être clos mais ouvert ; l’archéologie ne doit pas être constituée comme un préalable mais visée comme un horizon. Leibniz ne refuse pas tout discours de l’archè : à défaut d’une archéologie du savoir, nous disposons déjà d’échantillons architectoniques. 66
64 Kant : Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik (1793–1795), in : Immanuel Kant, Gesammelte Werke, vol. XX, Berlin 1942, p. 341. 65 Johann Heinrich Alsted : Philosophia digne restituta, Herborn 1612, p. 13 : « Archelogia (sic) est prima praecognitorum philosophicorum pars de principiis, seu fundamentis omnium disciplinarum ». 66 Monadologie (1714), § 83 ; GP VI, 621.
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Conclusion Il est temps de porter un regard rétrospectif. L’incompatibilité entre Leibniz et l’archéologie du savoir, mise en scène par Foucault, se dissout comme un malentendu ; l’opposition entre continuité et discontinuité, dont nous sommes partis, apparaît comme forcée. Foucault lui-même n’y voit pas deux catégories exclusives l’une de l’autre. 67 Leibniz non plus, d’ailleurs : que tout se produise continûment, que tout soit soumis à la loi de continuité, n’exclut en rien qu’il y ait des limites, des divergences, des discontinuités dans les choses réelles comme dans les choses dites. Leibniz, avant Foucault, et autrement sans doute, a été attentif aux choses dites : à cette situation particulière du locuteur ou du scripteur héritant d’énoncés qui parlent à travers lui, qui emportent avec eux leur épaisseur et leur régularité, qui ne permettent jamais de remonter à une origine première, dont la matérielle inertie entretient leur rareté et qui, pourtant, ouvrent secrètement la promesse de nouvelles inventions. L’image leibnizienne de la pensée peut inspirer une autre archéologie du savoir. Bien comprise, elle exige aussi que soit menée à bien la tâche d’une édition intégrale des choses écrites par Leibniz qui, il faut le tenir, doivent mener à de nouvelles ouvertures. * L’occasion du présent texte remonte à une journée organisée à la Leibniz-Edition de Potsdam le 2 juillet 2007, à laquelle j’ai eu la chance d’être convié, et où la distinction entre Leibniz-auteur et Leibniz-scripteur fut discutée. Il me donne l’occasion d’exprimer mon admiration envers les éditeurs de Leibniz, et particulièrement d’exprimer toute ma reconnaissance envers le Professeur Wenchao Li, qui m’a témoigné plus d’une fois de son soutien, et m’a accueilli comme chercheur dans le cadre de la Leibniz-Stiftungsprofessur de l’université et de la ville de Hanovre.
67 Michel Foucault : Réponse à une question (1968) ; DE I, p. 708 : « absolument pas question de substituer une catégorie, le “ discontinu ”, à celle non moins abstraite et générale du “continu” ».
MORALISCHE PRINZIPIEN ALS EINGEBORENE IDEEN ZWISCHEN METAPHYSISCHER NOTWENDIGKEIT UND KONTINGENZ IN LEIBNIZ’ NOUVEAUX ESSAIS Hans Poser, Berlin Leibniz hat keine geschlossene Abhandlung zur Ethik hinterlassen; und dennoch stehen Fragen der Moral immer wieder im Zentrum seiner Überlegungen – von den frühen Schriften bis zur Theodizee. Dabei stellt sich das Problem der Begründetheit und Verbindlichkeit moralischer Gebote in mehrfacher Hinsicht: 1. Traditionell beanspruchte die Kirche, dass moralische Regeln sich auf die Theologie zu stützen haben; noch Christian Wolff wurde ein Jahrzehnt nach Leibniz’ Tod des Atheismus verdächtigt, weil er die Auffassung vertreten hatte, sie gälten, „auch wenn kein Gott sei“, weil sie sich allein auf die Vernunft gründen. 2. Descartes hatte nicht nur Logik, Arithmetik und Geometrie, sondern auch die Ethik auf göttliche Willensentscheidungen gegründet – zugleich allerdings hatte er dies mit dem Vorhaben einer allein vernunftgegründeten morale par provision verbunden, die sich jedoch in ihren Regeln eher als stoisch-pragmatisch denn fundierend erweist. 3. Leibniz selbst unterscheidet zwischen absoluter Notwendigkeit (auch als logische oder metaphysische Notwendigkeit bezeichnet), die für Aussagen gilt, deren Negation widersprüchlich ist, und Kontingenz, für die dieses nicht gilt, so dass alle aufgrund des Prinzips des Widerspruchs und der Identität wahren Aussagen – also jene der Logik und mit ihnen der Arithmetik und Geometrie – als notwendig wahre Aussagen in allen möglichen Welten gelten, während alle vermöge des Prinzips des zureichenden Grundes wahren Aussagen keineswegs in allen möglichen Welten gelten, sondern – bezogen auf Aussagen über Individuen – allein in der geschaffenen Welt. Damit aber entsteht das spezifisch Leibnizsche Problem, dass moralische Prinzipien einerseits kontingent sind, andererseits jedoch der Beliebigkeit oder einem dezisionistischen Willkürakt Gottes entzogen sein müssen, mithin eine eigene Art von Notwendigkeit besitzen müssen. Nun spricht Leibniz tatsächlich von moralischer Notwendigkeit, die er auch als hypothetische Notwendigkeit bezeichnet 1 – aber dies geschieht
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„4. Il y a des necessités, qu’il faut admettre. Car il faut distinguer entre une necessité absolue et une necessité hypothetique. Il faut distinguer aussi entre une necessité qui a lieu, parce que l’opposé implique contradiction, et laquelle est appellée logique, metaphysique ou mathematique; et entre une necessité qui est morale, qui fait que le sage choisit le meilleur, et que tout esprit suit l’inclination la plus grande. 5. La necessité Hypothetique est celle, que la
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durchgängig bei allen kontingenten Aussagen, weil sie aufgrund eines dem Prinzip des Besten folgenden Willensentschlusses Gottes für diese von ihm geschaffene Welt gelten. Die moralische Notwendigkeit besitze „eine Gewissheit und Unfehlbarkeit, aber keine absolute Notwendigkeit“, schreibt Leibniz an Clarke; das jedoch bezieht sich auf „les choses contingentes“ (Hervorhebung H.P.) 2 und trifft damit nicht, worum es im folgenden geht, nämlich die spezifische Art der Begründetheit moralischer Prinzipien; denn fraglos bedeutet ihre Kontingenz nicht, dass sie zufälligerweise, sondern allein, dass sie nicht aus logischen Gründen gelten. 4. Erschwerend kommt ein weiterer Punkt hinzu: Leibniz zählt die moralischen Prinzipien zu den eingeborenen Wahrheiten im engeren, Lockeschen Sinne – also zu denjenigen, die sich auf Vernunft gründen oder gründen lassen, die also, wie man seit Kant sagt, a priori gelten. Damit ist ein modaltheoretischer Problemkreis umrissen, der bislang in der Behandlung der Leibnizschen Ethik allenfalls gestreift, jedoch nie eigens thematisiert worden ist. 1. Der logische Anteil Um die skizzierten Schwierigkeiten zu verdeutlichen, soll als Ausgangspunkt eine kleine Passage aus dem Dicours de Métaphysique gewählt werden. Dort weist Leibniz die Auffassung zurück, „dass die ewigen Wahrheiten der Metaphysik und der Geometrie und folglich auch die Regeln des Guten, der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit nichts anderes als Wirkungen des göttlichen Willens“ seien; „stattdessen scheint es mir, dass sie aus seinem Verstand (entendement) folgen, der ebenso wenig wie sein Wesen (essence) von seinem Willen abhängt.“ 3 Diese kurze Passage gibt bereits einen entscheidenden Hinweis, weil sie den Verstand und das Wesen Gottes – und das heißt hier vor allem: die Güte und Weisheit Gottes – als seine notwendigen Eigenschaften dem Willen vorordnet und so den (guten) Willen dem Verstand unterwirft. Nun unterscheiden sich für Leibniz göttliche und menschliche Vernunft nicht prinzipiell, sondern nur graduell. Damit aber ist die menschliche moralische Einsicht als verständige Einsicht nicht grundsätzlich, sondern nur gra-
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supposition ou hypothese de la prevision et preordination de Dieu impose aux futurs contingens.“ (5. Schreiben an Clarke, § 4f; GP VII, S. 389). „[la necessité morale ...] il y a une certitude et infallibilité, mais non pas une necessité absolue dans les choses contingentes.“ (Ebd., § 9; GP VII, S. 390). „C’est pourquoy je trouve encor cette expression de quelques philosophes tout à fait estrange, que les verités eternelles de la Metaphysique ou de la Geometrie (et par consequent aussi les regles de la bonté, de la justice et de la perfection) ne sont que des effects de la volonté de Dieu, au lieu qu’il me semble que ce sont des suites de son entendement, qui asseurement ne depend point de sa volonté non plus que son essence.“ (Dicours de Métaphysique § 2; A VI, 4 N. 306, S. 1533).
Moralische Prinzipien als eingeborene Ideen
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duell von der göttlichen Einsicht geschieden. So ist zugleich der kirchliche Einspruch vermieden, weil Leibniz sich damit verteidigen könnte, seine Ethik auf göttliche Vernunft und göttliche Güte zu bauen. Natürlich gibt es im Rahmen ethischer Prinzipien auch Vernunftelemente in Gestalt logischer Elemente, denn wie sollte eine vernünftige Begründung aussehen, wenn es solche Anteile nicht gäbe. Tatsächlich hat Leibniz einige Male auf diese Zusammenhänge hingewiesen, so etwa in den Elementa Juris Naturalis 4 und etwas später nochmals in den Modalia Juris. In beiden Fällen setzt er jedoch den „vir bonus“ als Handelnden voraus – „Aequum, Debitum est quicquid necessarium est fieri a viro bono“ 5 – , denn, so in den Modalia Juris, „Jeder Kluge ist ein guter Mensch.“ 6 Doch geht es Leibniz an jener Stelle nur um die formale Struktur deontischer Modi als ein Element deontischer Logik, während das Problem einer inhaltlichen Begründung gerade ausgeklammert bleibt. 7 Damit ist von vornherein klar, dass moralische Prinzipien und Regeln nicht zu den absolut notwendigen Wahrheiten zählen, denn auf Logik lassen sie sich nicht begründen; ihre Negation ist kein logischer Widerspruch. 2. Moralische Prinzipien als eingeborene Ideen In der Zurückweisung des Lockeschen Essay concerning Human Understanding und dessen These einer tabula rasa betont Leibniz das Vorhandensein eingeborener Ideen im Sinne der cartesischen Terminologie. Während für die Monadenlehre gilt, dass es in der Seele eines Individuums nichts gibt, das nicht eingeboren wäre, deutet Leibniz diese Position in den Nouveaux Essais nur an, um dann der Sprechweise Lockes beziehungsweise Descartes’ zu folgen, wonach solche Ideen (und vor allem Prinzipien) als eingeboren bezeichnet werden, die als Vernunftbegriffe und als Vernunftprinzipien in ihrer Begründung in keiner Weise mit sinnlicher Wahrnehmung verknüpft sind; 8 Leibniz verweist in diesem Zusammenhang immer auf Begriffe wie Möglichkeit, Essenz, Identität, die teilweise seit Platon herangezogen werden, und auf die Prinzipien der Arithmetik und der Geometrie, also auf notwendige – nämlich absolut oder auch metaphysisch notwendige – Wahrheiten. Von solcher Notwendigkeit sind jedoch die moralischen als kontingente Wahrheiten stets ausgenommen. In diesem Kontext nun findet sich die unerwartete These, dass auch die moralischen Prinzipien eingeboren seien! Zunächst formuliert Leibniz vorsichtig, dass wir in den moralischen, juridischen und theologischen Aussagen nicht ohne 4 5 6 7 8
A VI, 1 N. 125, S. 466, ebenso S. 465 und N. 126, S. 480. A VI, 1 N. 125, S. 465. „Omnis prudens est vir bonus.“ (A VI, 4 N. 4921, S. 2758). Vgl. auch S. 2759, wo dieser Bezug modal in einer später ersetzten Passage weiter entfaltet wird. Vgl. hierzu Hans Poser: Leibnizsche Handlungsmodi zwischen Ontologie und Deontologie, in: Thomas Buchheim, Corneille Henri Kneepkens, Kuno Lorenz (Hg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart 2001, S. 273–292. „Ainsi j’appelle innées les veritéz, qui n’ont besoin que de cette consideration pour étre verifiées.“ (Nouveaux Essais I.1, § 21; A VI, 6 N. 2, S. 84).
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die absolut notwendigen Wahrheiten auskommen; 9 das aber betrifft nur das gerade zur deontischen Logik Gesagte. Nun erklärt Philalethe für Locke, die Moral sei eine „demonstrative Wissenschaft“, habe aber dennoch keine eingeborenen Prinzipien, 10 und wiederholt dies nochmals – worauf Leibniz erwidert, er geben zu, „dass es Moralgesetze gibt, die keine eingeborenen Prinzipien sind, aber darum können sie doch eingeborene Wahrheiten sein“; und begründend ergänzt er: „denn eine abgeleitete Wahrheit ist eingeboren, wenn wir sie aus unserem Geist schöpfen“. 11 Leibniz bekräftigt dies wenig später: „Die Moralwissenschaft ist auf keine andere Weise als die Arithmetik eingeboren, denn auch sie hängt von Beweisen ab, welche das innere Licht darbietet.“ 12 Moralische Regeln sind also, was deren Begründung anlangt, ableitbar aus unserem Geist (oder in der heute vertrauten Terminologie: sie seien a priori gültig)! Nun bleibt Leibniz hierbei nicht stehen, sondern gibt seiner Darstellung eine gänzlich unerwartete Wende: „Es gibt“, schreibt er, „eingeborene Wahrheiten, welche wir auf zwei Arten finden, durch das Licht der Vernunft und durch Instinkt. Die, die ich soeben angeführt habe [d.i. der Arithmetik und Geometrie], werden aus unseren Ideen bewiesen, was Sache des natürlichen Lichtes ist. Doch kann etwas in bezug auf das natürliche Licht eine Folgerung sein, was in bezug auf den Instinkt ein Prinzip ist. So werden wir zu Handlungen der Menschlichkeit durch den Instinkt getrieben, weil uns dies angenehm, und durch die Vernunft, weil es gerecht ist. Es gibt in uns also instinktmäßige Wahrheiten, welche eingeborene Prinzipien sind, die man, auch ohne den Beweis dafür zu haben, empfindet und anerkennt, welchen Beweis man gleichwohl erhält, wenn man sich von diesem Instinkt Rechenschaft ablegt.“ 13 Leibniz bezieht dies auch auf die Logik, denn ohne uns jeweils darüber 9
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„il paroit que les verités necessaires, telles qu’on les trouve dans les Mathématiques pures et particulierement dans l’Arithmetique et dans la Geometrie, doivent avoir des principes, dont la preuve ne depende point des exemples, ni par consequent du témoignage des sens; […] La Logique encore avec la Metaphysique et la Morale, dont l’une forme la Théologie et l’autre la Jurisprudence, naturelles toutes deux, sont pleines de telles verités, et par consequent leur preuve ne peut venir, que des principes internes, qu’on appelle innés.“ (Ebd., Préf.; A VI, 6 N. 2, S. 50). „PH. La Morale est une Science demonstrative, et cependant elle n’a point de principes innés.“ (Ebd., I.2 § 1; A VI, 6 N. 2, S. 88). „§. 4. PH. Les Regles de Morale ont besoin d’estre prouvées, donc elles ne sont point innées, comme cette regle qui est la source des vertus qui regardent la Societé: ne faites à autruy que ce que vous voudriés qui vous fut fait à vous même. TH. Vous me faites tousjours l’objection, que j’ay déja refutée. Je vous accorde, Monsieur, qu’il y a des regles de morale, qui ne sont point des p r in ci p es i n né s mais cela n’empeche point que ce ne soyent des verités innées, car une verité derivative sera innée, lorsque nous la pouvons tirer de nostre esprit.“ (Ebd., § 4; A VI, 6 N. 2, S. 91). „La science Morale [...] n’est pas autrement innée que l’Arithmetique. Car elle depend aussi des demonstrations que la lumiere interne fournit.“ (Ebd., § 9; A VI, 6 N. 2, S. 92). „Mais il y a des verités innées, que nous trouvons en nous de deux façons, par lumiere et par instinct. Celles que je viens de marquer, se demonstrent par nos idées, ce qui fait la lumiere naturelle. Mais il y a des conclusions de la lu mier e nat u r ell e, qui sont des principes par rapport à l’i ns ti n ct. C’est ainsi que nous sommes portés aux actes d’humanité, par instinct parce que cela nous plaist, et par raison parce que cela est juste. Il y a donc en nous des verités
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Rechenschaft abzulegen, verknüpfen wir instinktmäßig Erfahrungen miteinander, die, wenn wir darauf reflektieren, sich als logisch verknüpfte oder mathematisch korrekte Aussagen erweisen würden. Die Wende zum Instinkt und dessen Einbeziehung bedeutet erstens, dass es nicht um den Willen Gottes im Gegensatz zum Vermögen Gottes geht, die verwechselt zu haben Leibniz Clarke vorwirft, wenn er absolute und moralische Notwendigkeit durcheinander würfelt; 14 Instinkte haben nur Menschen und Tiere, aber Gott nicht. Zweitens werden Instinkte in eine erkenntnistheoretische Überlegung, genauer, in das Fundierungsproblem der Ethik, einbezogen. Es gilt, diesen Zusammenhang auszuloten, denn in der Theodizee wird viel eher auf die rationale Seite gebaut, wenn Leibniz dort die moralische Notwendigkeit als „glückliche Notwendigkeit“ bezeichnet, die „den Weisen“ – also den vir bonus – „zwingt gut zu handeln, während eine Gleichgültigkeit gegen den Unterschied zwischen Gut und Böse einen Mangel an Güte oder Weisheit bezeichnen würde“, 15 wobei dieser Zwang, diese „moralische Notwendigkeit“ wenig später gemäß dem Prinzip des Besten gekennzeichnet wird als „Verpflichtung, das Beste zu wählen“. 16 Zunächst gilt es zu klären, worin jene Instinkte bestehen, die Leibniz als eingeboren betrachtet. Es sind solche, „kraft deren wir der Lust nachgehen und die Unlust fliehen“. 17 Zuvor schon hatte Leibniz erklärt, „der Satz, man müsse die Lust suchen und die Unlust fliehen“ sei „eines der ersten und praktisch bedeutsamsten“, aber „unerweisbaren Prinzipien“ der Moral, denn, so fügt er hinzu, „von dem, was Lust und Unlust ist, gibt es kein eigentliches Wissen“; das Prinzip gründet sich nicht auf Vernunft allein, sondern vielmehr auf „innere Erfahrung“ in Gestalt „verworrener Erkenntnis“! 18 Hier liegt der Schlüssel, bedeutet dies doch, dass Instinkte selbst nicht als Affekte vom Bereich des Kognitiven geschieden werden, sondern als eine innere Erfahrung, mehr noch, als eine Form von Erkenntnis, nämlich als verworrene
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d’instinct, qui sont des principes innés, qu’on sent et qu’on approuve, quand même on n’en a point la preuve, qu’on obtient pourtant lors qu’on rend raison de cet instinct.“ (Ebd., § 4; A VI, 6 N. 2, S. 91). Der Vorwurf gegen Clarke lautet: „On confond la necessité morale, qui vient du choix du meilleur, avec la necessité absolue; on confond la volonté avec la puissance de Dieu. Il peut produire tout possible, ou ce qui n’implique point de contradiction; mais il veut produire le meilleur entre les possibles.“ (5. Schreiben an Clarke, § 76; GP VII, S. 409). „[La necessité morale] est une heureuse necessité qui oblige le Sage à bien faire, au lieu que l’indifference par rapport au bien et au mal seroit la marque d’un defaut de bonté ou de sagesse.“ (Essais de Théodicée II, § 175; GP VI, S. 219). „c’est une necessité morale, que le plus sage soit obligé de choisir le meilleur“ (Ebd., § 230; GP VI, S. 255). – Zur Entfaltung der Gründung des Rechts auf die Konzeption des vir bonus vgl. Patrick Riley: Leibniz’ Universal Jurisprudence. Justice as the Charity of the Wise, Cambridge/Mass. 1996, S. 144–198. „les instincts comme celuy qui fait suivre la joye et fuir la tristesse“ (Leibniz: Nouveaux essais I.2 § 9; A VI, 6 N. 2, S. 92). „Et quoyqu’on puisse dire veritablement, que la morale a des principes indemonstrables, et qu’un des premiers et des plus practiques est, qu’il faut suivre la joye et eviter la tristesse, il faut adjouter que ce n’est pas une verité, qui soit connue purement de raison, puisqu’elle est fondée sur l’experience interne, ou sur des connoissances confuses, car on ne sent pas ce que c’est que la joye et la tristesse.“ (Ebd., § 1; A VI, 6 N. 2, S. 88).
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Erkenntnis, gedeutet werden. (Genau auf diesem Wege gelang es später Christian Wolff, die Falle zu überwinden, in die Christian Thomasius mit seiner Affektenlehre geraten war – ohne Kenntnis der Leibnizschen Lösung, denn die Nouveaux Essais wurden ja erst nach Wolffs Tod publiziert.) Wieso solche moralische Prinzipien oder Gesetze als Instinkte und nicht als Vernunfteinsichten eingeboren sind, rechtfertigt Leibniz mit ihrer Zweckmäßigkeit und Bedeutsamkeit für die Erhaltung der Gemeinschaft, sind sie doch „unserer Seele als notwendige Folgen unserer Selbsterhaltung und unseres wahren Wohls eingeprägt“; 19 doch zugleich betont er, dass dies als Begründung nicht zureicht. Denn bloße Lust ist auf die Gegenwart gerichtet; erst eine beständige Lust – und das sei nichts anderes als das Glück – beziehe sich auf die Zukunft, das aber sei erst mit der Vernunft erreichbar: durch sie geht die Neigung „in eine Vorschrift oder eine praktische Wahrheit über“; um etwas Eingeborenes handelt es sich dabei, wenn die Neigung, also der Instinkt, eingeboren ist. 20 Leibniz bringt damit einen Zusammenhang zum Ausdruck, den er für alle eingeborenen Wahrheiten in Anspruch nimmt, denn, so führt er aus, zunächst sind diese wie alle eingeborenen Ideen als Disposition, Virtualität und Potentialität angelegt, die erst schrittweise ausgehend von einer verworrenen Sinneserkenntnis zu einer klaren und deutlichen Erkenntnis geläutert werden. 21 3. Die Art der Notwendigkeit und ihre Geltung Der Weg von einer verworrenen zu einer distinkten Erkenntnis besteht in einer bloßen Klärung der jeweiligen Erkenntnisinhalte; doch er sagt gar nichts über die Art der Notwendigkeit der jeweiligen Prinzipien aus, ganz zu schweigen von einer Begründung. Dass es sich im Bereich der Ethik nicht um absolute, sondern um eine besondere Form moralischer Notwendigkeit handelt, ist schon gesagt worden; doch gilt es, diese spezifische Modalität näher zu charakterisieren. Die Notwendigkeit, die Leibniz eine „moralische“ nennt, ist nach Aussage der Théodicée immer eine „glückliche“, weil sie „verpflichtet, nach den Regeln der 19 „PH. Ils [les bandits] n’observent les maximes de justice que comme des regles de convenance, dont la practique est absolument necessaire pour la conservation de leur societé. TH. Fort bien. On ne sauroit rien dire de mieux à l’égard de tous les hommes en general. Et c’est ainsi que ces loix sont gravées dans l’ame, savoir comme les consequences de nostre conservation et de nos vrais biens.“ (Ebd., § 2; A VI, 6 N. 2, S. 89). 20 „Car la fel ic ité n’est autre chose qu’une joye durable. Cependant nostre penchant va non pas à la felicité proprement, mais à la joye, c’est à dire au present; c’est la raison qui porte à l’avenir et à la durée. Or le penchant exprimé par l’entendement passe en p re cep t e, ou verité de practique: et si le penchant est inné, la verité l’est aussi, n’y ayant rien dans l’ame qui ne soit exprimé dans l’entendement mais non pas tousjours par une consideration actuelle distincte“ (Ebd., § 3; A VI, 6 N. 2, S. 90). 21 Vgl. hierzu Hans Poser: Leibniz et la potentialité des idées innées: un problème modal, in: François Duchesneau, Jérémie Griard (Hg.): Leibniz selon les Nouveaux Essais (= Collection analytique 16), Montreal/Paris 2006, S. 21–33.
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vollkommenen Weisheit zu handeln“. 22 Das aber ist eine „Verpflichtung der Vernunft, die ihre Wirkung auf den Weisen nicht verfehlt“. 23 Genauer wird dies bestimmt als „Wahl des Besten“. 24 Damit ist der Anschluss an die Leibnizschen Prinzipienlehre erreicht, denn das Prinzip des Besten – das principe de meilleur – gilt ihm als Spezialfall des Prinzips des zureichenden Grundes. Nun ist damit erst wenig über die besondere Form der Notwendigkeit gesagt. Leibniz hatte zwar Philalethes/Locke darin zugestimmt, dass auch die Moral eine demonstrative Wissenschaft sei; aber die Überlegungen zur deontischen Logik zeigen, wie in der Argumentationsstruktur bereits ein vir bonus vorausgesetzt werden muss: insofern handelt es sich – wie Leibniz gelegentlich (aber zumeist im Zusammenhang mit Aussagen über die Phänomene) sagt, um eine hypothetische Notwendigkeit. In einem der Anhänge zur Théodicée erklärt er zur moralischen Notwendigkeit: „Jene Art Notwendigkeit, die keineswegs die Möglichkeit des Gegenteils ausschließt, trägt diese Bezeichnung nur im Sinne einer Analogie; sie wird wirksam nicht aufgrund des bloßen Wesens der Dinge, sondern durch das, was außerhalb ihrer und über ihnen liegt, nämlich durch den Willen Gottes. Jene Notwendigkeit wird moralisch genannt, weil Notwendigkeit und Pflicht dem Weisen äquivalent sind.“ 25 Für einen Willen wie den des vir bonus ist es „natürlich, das Gute zu wählen“; und je mehr die Kreaturen dieser Notwendigkeit folgen, desto mehr nähern sie sich dem Zustand vollkommener Glückseligkeit. 26 Die Geltung der moralischen Prinzipien hat nach allem Gesagten eine dreifache Grundlage – hier folge ich Albert Heinekamp – in der Bezugnahme – auf die Pflicht, der zu folgen dem Weisen, also dem vir bonus, notwendig ist, – auf ewige und allgemeine Gesetze, die allen vernünftigen Wesen einsichtig sind, und – auf das Glück, das jeder Handelnde zu erreichen sucht und das dann das höchste ist, wenn es beständig ist. 27 22 „une necessité morale; et c’est tousjours une heureuse necessité, d’être obligé d’agir suivant les regles de la parfaite sagesse.“ (Théodicée III § 344; GP VI, S. 319). 23 „la necessité morale porte une obligation de raison, qui a tousjours son effect dans le sage. Cette espece de necessité est heureuse et souhaitable, lorsqu’on est porté par de bonnes raisons à agir comme l’on fait“ (Reflexions sur l’ouvrage que M. Hobbes a publié en Anglois, de la Liberté, de la Necessité et du Hazard, § 3; GP VI, S. 390). 24 „la necessité morale, qui oblige le plus sage à choisir le meilleur“ (Théodicée III § 367; GP VI, S. 333). 25 „Mais cette maniere de necessité, qui ne detruit point la possibilité du contraire, n’a ce nom que par analogie; elle devient effective, non pas par la seule essence des choses, mais par ce qui est hors d’elles, et au dessus d’elles, savoir par la volonté de Dieu. Cette necessité est appelée morale, parce que chez le sage, necessaire et dû sont des choses equivalentes“ (Abregé de la Controverse reduite à des Argumens en forme, 3eme Objection; GP VI, S. 386). 26 „une necessité heureuse. Plus les creatures en approchent, plus elles approchent de la felicité parfaite. [...] Et une volonté, à laquelle il est naturel de bien choisir, merite le plus d’être louée“ (ebd.). 27 Albert Heinekamp: Das Problem des Guten bei Leibniz (= Kantstudien Erg. H. 98), Bonn 1969, S. 98. – Zur Weiterführung der Problematik moralischer Prinzipien bei Leibniz vgl. Hans Poser: Innate ideas as the corner stone of rationalism: The problem of moral principles in the
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Alle diese Elemente verbinden sich in der Ausrichtung des Handelns am Prinzip des Besten – und damit an einem Harmoniegedanken, dessen Leitprinzip die Vernunft ist. Solche Vernunft reicht damit weit über die bloßen Vernunftwahrheiten hinaus, sie verfügt über weit mehr als bloße Kombinatorik, weil ihr auch die Inhalte auf eine Weise eingeboren sind, die Kant synthetisch a priori nennen sollte. 4. Von Wolff zu Lessing und Kant Wenngleich Leibniz das hier Dargelegte nie geschlossen zur Darstellung gebracht hat, so war es doch wirkmächtig für die Aufklärung in Europa, für deren Harmonieund Toleranzgedanken. Insbesondere Christian Wolff sollte Leibnizens Gedanken aufnehmen – doch gerade in dem Bereich, um den es hier geht und in dem der ausdifferenzierteste Teil des Wolffschen Werkes liegt, konnte dieser nur das Wenigste kennen. Um so bemerkenswerter ist eine Lösung, die Wolff entwickelt, um der Falle von Thomasius’ Affektenlehre zu entgehen: Jener sah keine Möglichkeit, den Affekt der unvernünftigen Liebe durch Vernunft zu überwinden, weil die Vernunft von ihm nur instrumentell gesehen wird, nicht aber als etwas, das den Willen durch Erkenntnis zu zügeln vermag. Wir sahen, dass Leibniz dieser Schwierigkeit dadurch entgeht, dass er erstens alles Handeln als ausgerichtet auf das Glück auffasst, und zweitens den Weg von den eingeborenen Ideen zur klaren und schließlich zur deutlichen Erkenntnis bei den verworrenen Eindrücken der Sinne in ihrer Vermischung mit Affekten beginnen lässt. Wolff nun sieht diese vorantreibende Lust nicht als einen Affekt, sondern als eine Form verworrener Erkenntnis; dadurch wird es der Vernunft möglich, klärend-reflektierend einzugreifen und den Willen zu dem zu lenken, was er in letzter Instanz ja anstrebt – nämlich so zu handeln, dass der eigene Zustand wie der der anderen vervollkommnet wird. Aus dem Leibnizschen Gedanken einer Harmonia universalis, die wir zu vergrößern aufgerufen sind, wird so der aufklärerische Vervollkommnungsgedanke mit seiner geschichtstheoretischen optimistischen Konsequenz eines durch vermehrtes und differenzierteres Wissen zu bewirkenden Fortschritts der Menschheit auch in Sachen der Moral. Eine ganz andere Konsequenz, wirkungsgeschichtlich sicher nicht belegbar, doch in eine Zeit fallend, in der über Wolff zurückgreifend Leibniz wieder gelesen und rezipiert wird, mag man in dem Lessingschen Gedanken einer Erziehung des Menschengeschlechtes sehen: Hier ist ein Ineinandergreifen von Geschichte der Offenbarung und Geschichte der Vernunft dargelegt, das dem von Leibniz entwickelten Weg einer zu sich kommenden Vernunft entspricht, die durch glücksuchende Affekte zur Reflexion getrieben wird, sobald das vernünftiger werdende menschliche Wesen erkennt, dass ein dauerhaftes Glück erst mit der Vernunft allein (und ihrem Vermögen einer Vorausschau in die Zukunft) erstrebt werden kann:
Nouveaux Essais, in: Marcelo Dascal (Hg.): Leibniz: What kind of Rationalist? (= Logic, Epistemology, and the Unity of Science Series), Berlin/New York 2008, S. 479–493.
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Hier hat die moralische Notwendigkeit in ganz anderer Weise zu einem Fortschrittsgedanken geführt, der Vernunft und Offenbarung versöhnt – ein Gedanke, der nicht minder dem einer Harmonia universalis korrespondiert. Wenn schließlich Kant Pflicht und Neigung gegeneinander stellt, so bezeichnet dies in Leibnizscher Sprechweise die Differenz von noch nicht vernünftigem Affekt und der moralischen Notwendigkeit, die erst im vir bonus durch das Vernünftigwerden der Lust zur glücklichen Notwendigkeit zusammenfinden. Die Bezeichnung „moralische Notwendigkeit“ ebenso wie die Sprechweise von „eingeborenen Ideen“ allerdings wird auf diesem Wege von Wolff über Lessing zu Kant ersetzt durch „moralisches Gesetz“ beziehungsweise „a priori“ – doch trotz veränderter Termini bleiben die mit ihnen verbundenen Probleme ebenso erhalten wie die aus ihnen erwachsenden Verpflichtungen.
ESEL, HUND UND PAPAGEI: LEIBNIZ UND DIE (SPRECHENDEN) TIERE Peter Nickl, Hannover/Regensburg I. Einleitung Leibniz mochte Tiere. Das ist in vielen Anekdoten belegt. Allerdings, so möchte ich im folgenden zeigen, geht Leibniz’ Interesse an Tieren weit über eine Liebhaberei hinaus. Und es gewährt einen tiefen Blick in die völlig verschiedene Geisteshaltung von Leibniz und Descartes. Descartes hat mit seiner 1637 veröffentlichten Abhandlung Von der Methode das Grundbuch der Philosophie der Neuzeit vorgelegt. Dort stehen die berühmten Worte „ich denke, also bin ich“, oder dass die Befolgung der Methode (die erst einmal alles bisher Selbstverständliche in Zweifel zieht, um dann auf einem neuen Gewissheitsfundament sicheres Wissen aufzubauen) uns „zu Herren und Eigentümern der Natur“ machen könnte. 1 Dass die kleine, nur etwa 60 Seiten umfassende Schrift ein ganzes Kapitel zum Thema Vivisektion enthält, wird in den Einführungen in die Philosophie nicht weiter beachtet. Vielleicht ist die Zeit reif, sich einmal mit dieser Tatsache zu befassen. Wie kommt das ca. zehn Seiten lange Kapitel über den Blutkreislauf in den Grundlagentext der Philosophie der Aufklärung? Und warum fristete es dort so lange ein Schattendasein, so dass zwar fast alle Studierenden der Philosophie etwas von der Methode gehört haben, ohne dass jemand etwas Befremdliches an diesem Kapitel gefunden hätte? Aber hören wir Descartes selbst: 2 Damit das Verständnis des Folgenden nun weniger Schwierigkeiten macht, wünschte ich, daß in der Anatomie nicht Bewanderte sich die Mühe machen, ehe sie dies lesen, das Herz eines großen durch Lungen atmenden Tieres vor ihren Augen aufschneiden zu lassen, denn das Herz all dieser Tiere ist dem menschlichen Herzen ganz ähnlich.
Nur wenige Leserinnen dürften dieser Aufforderung nachgekommen sein. Nach der minutiösen Beschreibung des Blutkreislaufs lässt Descartes keinen Zweifel daran, dass er sich hier nicht auf anatomische Experimente anderer beruft, sondern dass er selbst den Blutkreislauf an lebenden Tieren studiert hat: Diejenigen, die seinen Ausführungen nicht vertrauen,
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René Descartes: Von der Methode, übers. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 26, 50. Ebd., S. 38.
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Peter Nickl mögen [...] sich gesagt sein lassen, daß der soeben erklärte Mechanismus sich alleine aus der Einrichtung der Organe ergibt, die man im Herzen mit den Augen sehen, aus der Wärme, die man dort mit seinen Fingern spüren, und aus der Natur des Blutes, die man durch Erfahrung kennenlernen kann 3
Descartes, der Vater der modernen Philosophie, war nicht nur ein begeisterter Vivisekteur, er hatte auch ein ganz anderes Verhältnis zu Büchern, bzw. eine ganz neue Vision einer Bibliothek. Hierzu eine schaurige Anekdote, die ein Zeitgenosse erzählt – vielleicht nicht ganz unparteiisch; er gibt den Bericht eines Freundes weiter, der Descartes einen Besuch in dessen holländischer Bleibe abgestattet hatte: Der Herr bat ihn, ihm zu sagen, von welchen Physik-Büchern er am meisten halte, und die er üblicherweise läse: Ich will sie Euch zeigen, antwortete er, wenn Sie mir gütigerweise folgen wollen. Und indem er ihn in einen Hinterhof führte, zeigte er ihm ein Kalb, das er am nächsten Tag zerlegen wolle. Ich glaube wirklich, dass er nicht mehr las 4
Descartes war nach allem, was wir von ihm wissen, ein frommer Mann, und in seiner neuen Begründung der Metaphysik spielt der Beweis der Existenz Gottes (sowie der Unsterblichkeit der Seele) eine wichtige Rolle. Wer allerdings mit dem Leben von Tieren schaltet und waltet, wie Descartes es getan hat, und wer Tiere kurzerhand zu Automaten erklärt – betreibt er nicht so etwas wie einen praktischen Atheismus, spielt er nicht Gott? So kann Nietzsches berühmtes „Gott ist tot – wir haben ihn getötet“ 5 als Echo auf die Gründungsakte der modernen Philosophie verstanden werden. II. Leibniz und die Hunde Wie anders geht Leibniz mit Tieren um! Als sich Im August 1680 die Nachricht verbreitet, der französische Erfinder Denis Papin habe einen Dampfkochtopf mit Sicherheitsventil entwickelt, mit dem man sogar Knochen weich kochen könne, verfasst Leibniz – augenzwinkernd – eine Bittschrift an den herzoglichen Küchenchef, die, aus dem Französischen übersetzt, so lautet: 6 3 4
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Ebd., S. 40f. „Ce gentilhomme le pria de luy dire quels estoient les Liures de Physique dont il faisoit le plus d’estat, et desquels il auoit fait sa plus ordinaire lecture. Ie vous le monstreray, luy responditil, s’il vous plaist de me suiure, et le menant dans vne basse court sur le derriere de son logis, il luy monstra vn veau, à la dissection duquel il dit qu’il se deuoit occuper le lendemain. Ie croy de vray qu’il ne lisoit plus guere“. Samuel Sorbière, zitiert in: Œuvres de Descartes, hg. v. Charles Adam, Paul Tannery, III, S. 353. – Vgl. den Brief an Mersenne vom 13. November 1639, wo Descartes berichtet, er sei im Winter 1629/30 fast täglich zu einem Metzger gegangen, um ihm beim Schlachten zuzuschauen und sich die Teile nach Hause liefern zu lassen, die er in Muße sezieren wollte: Œuvres, II, S. 621. – Dass Descartes auch lebendige Tiere aufgeschnitten hat, geht klar aus einem Brief an Plempius vom 15. Februar 1638 hervor: Œuvres, I, S. 526f. Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, § 125, Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 480f. Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz, München 2000, S. 158.
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Gesuch der Hunde, gerichtet an den Herrn Generalbevollmächtigten der französischen Küche. Wir – die unterzeichneten Doggen, Sankt-Hubertus-Hunde, Windhunde, Spürhunde, Große Wachhunde von Boulogne und andere große und kleine Hunde – bitten Eure Hoheit untertänig, unsere Gründe für eine wichtige Beschwerde anhören zu wollen. Denn wir haben erfahren, dass ein gewisser Jemand vorgibt, die Knochen weich und für Menschen genießbar machen zu können, ohne dass das Fleisch irgendwie beschädigt wird, und dass er sogar seine Kochtöpfe und sein ganzes Zubehör an den hannoverschen Hof senden will. Abgesehen davon, dass dieses neue Fressen böse Wirkungen unter den Menschen hervorrufen kann, überlassen wir es Ihrer Klugheit zu entscheiden, ob es sich für Menschen lohnt, derartig mit den Hunden zu brechen. Die Kunst der fürstlichen Vorschneider wird unnütz sein, wenn man das Fleisch ungeachtet der Knochen schneiden kann wie Butter. Aus diesen Gründen wird Eure Hoheit demütig gebeten, diesen Neuerer mit all seinem Zubehör sehr weit wegschicken zu lassen und ihm den Zutritt zu allen Küchen zu verbieten.
Leibniz hat also so viel Humor und Phantasie, dass er sich in die durch den Dampfkochtopf um ihre Knochen betrogenen Hunde hineinversetzt und sie einen Brief schreiben lässt. Aber damit nicht genug. Als er von einem angeblich sprechenden Hund in Zeitz hört, verfasst er – diesmal ganz im Ernst – einen Bericht, der sogar in den Jahrbüchern der Französischen Akademie der Wissenschaften erscheint. Es heißt dort: 7 Ohne einen Gewährsmann wie Herrn Leibniz als Augenzeugen hätten wir kaum die Kühnheit, zu berichten, dass es in Zeitz in Meißen einen sprechenden Hund gibt. Er gehört einem Bauern, ist von gewöhnlichem Aussehen und mittelgroß. Ein Kind hatte ihn Laute ausstoßen hören, die ihm deutschen Worten zu ähneln schienen, und setzte sich daraufhin in den Kopf, ihm das Sprechen beizubringen. Der Meister, der nichts Besseres zu tun hatte, scheute keinen Zeitaufwand und keine Mühe; und glücklicherweise hatte der Schüler Anlagen, die man schwerlich bei einem anderen gefunden hätte. Nach einigen Jahren schließlich konnte der Hund ungefähr 30 Wörter aussprechen, darunter Tee, Kaffee, Schokolade, Assemblée ... Er spricht nur nach, das heißt, nachdem sein Meister ein Wort ausgesprochen hat; und es scheint, dass er gezwungenermaßen und ungern wiederholt, obwohl man ihn gut behandelt. Noch einmal: Herr Leibniz hat ihn gesehen und gehört.
Andernorts präzisiert Leibniz, dass der Hund alle Buchstaben des Alphabets außer m, n, x sagen konnte. 8 III. Das „Prinzip der Kontinuität“ im Brief an Varignon Dass in seiner Weltsicht die Tiere überhaupt einen völlig anderen Status einnehmen als bei Descartes, ist die Konsequenz einer systematischen Grundannahme. Während Descartes alles tat, um zwischen den Menschen als „denkenden Wesen“ und dem nichtdenkenden Rest der Schöpfung eine Kluft zu etablieren, hängt für Leibniz alles mit allem zusammen. Sehr schön wird das erläutert in einem Brief, den Leibniz
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Exposé d’une lettre de MR. Leibniz A l’Abbé de St. Pierre, sur un chien qui parle., in: Dutens, Bd. 2, zweiter Teil, S. 180. Ich danke Herbert Breger für viele Stellennachweise sowie für instruktive Gespräche zu diesem Thema. Brief von Leibniz an Grimarest, in: Dutens, Bd. 5, S. 72.
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1707 an den französischen Mathematiker Pierre Varignon schreibt: er erläutert darin sein „Prinzip der Kontinuität“ 9. Auf das Reich der Natur angewandt, bedeutet es: „Die Menschen stehen also mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen und diese wiederum mit den Fossilien in Zusammenhang […]. So bilden notwendig alle Ordnungen der natürlichen Wesen eine einzige Kette ...“ Das heißt, das Reich des Lebendigen ist hierarchisch geordnet, die verschiedenen Ordnungen (Steine bzw. Fossilien, Pflanzen, Tiere, der Mensch) sind aber nirgends strikt getrennt – es gibt nicht, wie Descartes angenommen hatte, eine Kluft, sondern fließende Übergänge. Leibniz schreibt: 10 Es liegt demnach z. B. in der Existenz von Zoophyten oder [...] Pflanzentieren nichts Ungeheuerliches, sondern es entspricht durchaus der Ordnung der Natur, daß es solche gibt. Und so groß ist die Kraft des Prinzips der Kontinuität in meinem Denken, daß ich nicht im geringsten erstaunt wäre, wenn man Wesen entdecken würde, die hinsichtlich mancher Eigenschaften [...] mit gleichem Recht als Pflanzen wie als Tiere gelten können und die so die gewöhnlichen Regeln umstoßen würden, die auf der Voraussetzung einer vollständigen und unbedingten Trennung der verschiedenen Ordnungen der Wesen, die gleichzeitig das Universum erfüllen, gegründet sind. Ja, ich würde darüber, wie gesagt, nicht nur nicht erstaunt sein, sondern bin sogar davon überzeugt, daß es solche Wesen geben muß und es der Naturgeschichte vielleicht eines Tages gelingen wird, sie aufzufinden.
Auch die Viren, als Zwischenwesen, die Merkmale des Lebendigen aufweisen, aber z. B. nicht über Stoffwechsel verfügen, haben ihren Platz in dieser, wie ein berühmter Buchtitel von Arthur Lovejoy sagt, „großen Kette der Wesen“ (The Great Chain of Being, 1936, dt. 1985). Dieses „Gesetz der Kontinuität“ 11 entnimmt Leibniz der Physik und letztlich der Mathematik. Alles ist geordnet, und der Übergang von einem zum anderen geschieht nicht sprunghaft oder willkürlich, sondern nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit – etwa wie in einer mathematischen Funktion. Auch die Natur, meint Leibniz, folgt diesem Prinzip. „Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner bewährtesten Grundsätze, daß die Natur niemals Sprünge macht.“ 12 Die Vorstellung einer in hierarchischen Stufen geordneten Natur gehört zum Kernbestand nicht nur der abendländischen 13 Metaphysik. Thomas von Aquin stützt sich immer wieder darauf, wobei er sowohl Platon, als auch Aristoteles dafür
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Leibniz: Aus einem weiteren Brief an Varignon, in: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hg. v. Herbert Herring, Darmstadt 1992, S. 261. Ebd., S. 265, 267. – Leibniz spricht hier (S. 264) vom „Principe de continuité“, weiter oben auf der gleichen Seite vom „loi de la Continuité“. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (= Nouveaux Essais), Vorrede, übers. v. Ernst Cassirer, Hamburg 1996, S. 13 (A VI, 6 N. 2; S. 56). Ebd. (Hervorhebung im Original). Man könnte die These wagen, dass jede Metaphysik, in der es Engel gibt, diesem Gedanken verpflichtet ist. Vgl. Zohreh Abedi: „Alle Wesen bestehen aus Licht.“ Engel in der persischen Philosophie und bei Suhrawardi, Marburg 2018.
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anführt – beide vergleichen die Arten mit den Zahlen. So etwa in der Summa theologiae: 14 Es findet sich nämlich, daß die Arten und Dinge nach einer größeren und geringeren Vollkommenheit voneinander verschieden sind. So sind in der Ordnung der Dinge die beseelten Wesen vollkommener als die unbeseelten, die Tiere vollkommener als die Pflanzen, die Menschen vollkommener als die unvernünftigen Tiere. Und innerhalb dieser einzelnen Gattungen gibt es wieder verschiedene Stufen. Deshalb vergleicht Aristoteles in seiner Metaphysik die Arten der Dinge mit den Zahlen, die der Art nach verschieden sind, je nach der Addition oder Subtraktion einer Einheit.
Vielleicht bedarf der letzte Satz einer Erläuterung: die Zahlen wie die Arten sind qualitativ verschieden: die Sechs, verringert um die Eins, ergibt eine andere Zahl (die Fünf); vermehrt um die Eins, ergibt sie wieder eine andere Zahl (die Sieben). So kennen wir Pflanzen, die den leblosen Geschöpfen gleichen und Tiere, die sehr nah an den Pflanzen sind, da sie nur über den Tastsinn verfügen 15 – das Hinzukommen bzw. Wegfallen einer Eigenschaft wirkt artverändernd, so wie das Hinzukommen oder Wegfallen einer Einheit zahlverändernd wirkt. Wir haben anscheinend das Thema der sprechenden Tiere aus den Augen verloren. Aber der oben zitierte Leibnizbrief bietet eine Steilvorlage dafür: Leibniz hatte davon gesprochen, er erwarte geradezu die Entdeckung von Geschöpfen, „die [...] die gewöhnlichen Regeln umstoßen würden, die auf der Voraussetzung einer vollständigen und unbedingten Trennung der verschiedenen Ordnungen der Wesen [...] gegründet sind.“ Genannt wurden die „Pflanzentiere“, wobei man klassischerweise an die Auster dachte, die, obwohl Tier, unbeweglich wie eine Pflanze an ihrem Felsen klebt, oder wir könnten als Beispiel die Venusfliegenfalle nehmen, eine Pflanze, die sich von Insekten ernährt. Leibniz hätte die Entdeckung des Yeti sicher begrüßt. Jedenfalls war ein Zwischenwesen, ein Tier, das sprechen kann, in der Ordnung der Natur quasi vorprogrammiert. Anstatt, wie Descartes, den Mensch-Tier-Abstand möglichst groß zu machen, meinte Leibniz, die Ordnung und Vollkommenheit der Schöpfung müsse sich in der 14 Thomas von Aquin: Summa theologiae, I, qu. 76, art. 3, Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 6, S. 58f. (Wortlaut leicht geändert). – Vgl. die entsprechende Stelle in der Summe gegen die Heiden, IV, 24; hg. u. übers. v. Markus H. Wörner, Darmstadt 1996, S. 190f. Hier wird auf die Varianz der Arten „je nach der Addition oder Subtraktion einer Einheit“ mit nahezu denselben Worten rekurriert, allerdings mit Verweis auf Platon. – Was den oben zitierten Brief an Varignon angeht, so wird seine Echtheit angezweifelt, u. a. von Herbert Breger in dem Aufsatz: Über den von Samuel König veröffentlichten Brief zum Prinzip der kleinsten Wirkung, jetzt in: Herbert Breger: Kontinuum, Analysis, Informales – Beiträge zur Mathematik und Philosophie von Leibniz, Berlin, Heidelberg 2016, S. 43–52. Breger führt u. a. ein Gegenargument aus der Biologie an: es sei mit der Monadenlehre unvereinbar, „eine Kontinuität zwischen Monaden und Materie“ (a. a. O., S. 50) anzunehmen. Dem wäre entgegenzuhalten, dass es für das von Thomas und wohl auch von Leibniz in Anspruch genommene Kontinuitätsprinzip reicht, hier eine sinnvolle hierarchische Ordnung anzutreffen, in der eben die unbeseelten Wesen unvollkommener sind als die beseelten. – Vgl. dazu Goldenbaum (wie Anm. 17), S. 67–70. 15 Vgl. Thomas von Aquin: Quaestio disputata de anima, art. 7. – Außer auf das 8. Buch der Metaphysik bezieht sich Thomas hier auch auf Aristoteles’ Liber de vegetabilibus (gemeint ist wohl die pseudo-aristotelische Schrift De plantis).
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kontinuierlichen Ordnung zeigen: nicht hier der denkende und sprechende Mensch, dort das weder denkende noch sprechende Tier. Auch für diese Auffassung kann man Thomas von Aquin heranziehen. Thomas sagt: im allgemeinen haben Tiere keinen Anteil an Vernunft und Sprache – doch die Tiere, die mit dem Menschen leben, bilden eine Ausnahme. Sie kennen manche Wörter (z. B. ihren Namen), oder Kommandos, oder reagieren auf Fragen („willst Du – Gassi?“). So nehmen unsere Haustiere eine Zwischenstufe zwischen den wilden Tieren und dem Menschen ein. 16 IV. Das Gesetz der Kontinuität in den Nouveaux Essais Da der Brief an Varignon nicht von allen Leibniz-Forschern als echt anerkannt wird 17, soll hier noch eine vergleichbare Stelle aus den Nouveaux Essais herangezogen werden. Interessanterweise ist es hier Locke, der die Vorlage gibt, wenn er – ganz im Sinn der „großen Kette der Wesen“ – schreibt: 18 Wir sehen in der gesamten sichtbaren Körperwelt keine Unterbrechungen oder Lücken. Bis auf die allerunterste Stufe hinab führt uns eine Stufenleiter von kleinen Übergängen und in einer fortgesetzten Reihe von Dingen, die sich von Stufe zu Stufe immer nur ganz wenig voneinander unterscheiden. Es gibt Fische, die Flügel besitzen und denen auch die Luft kein fremdes Element ist. Ferner gibt es Wasservögel, deren Blut ebenso kalt ist wie das der Fische; das Fleisch dieser Vögel schmeckt dem Fischfleisch so ähnlich, daß sein Genuß selbst gewissenhaften Leuten an Fasttagen statthaft erscheint. Es gibt Tiere, die sowohl Vögeln als auch Vierfüßlern so eng verwandt sind, daß sie zwischen beiden in der Mitte stehen; die Amphibien bilden das Zwischenglied zwischen Land- und Wassertieren; der Seehund lebt auf dem Lande und im Wasser [...] Es gibt gewisse Tiere, die ebensoviel Erkenntnis und Vernunft zu haben scheinen wie manche Wesen, die man Menschen nennt. Ja, Tier- und Pflanzenreich berühren sich so eng, daß man schwerlich einen erheblichen Unterschied zwischen beiden wird feststellen können, wenn man die niedrigsten Erscheinungsformen des einen und die höchsten des anderen vergleicht.
Mit diesen Worten stellt sich Locke in die Tradition von Dionysius Areopagita, auf dessen Formel „Die höhere Natur berührt in dem, was in ihr das niederste ist, die niedere Natur in dem, was in ihr das höchste ist“ Thomas von Aquin immer wieder rekurriert. 19
16 Vgl. Summa theologiae, I, qu. 96, art. 1 ad 4 (Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 7, S. 123). 17 S. o., Anm. 14. – Vgl. dagegen Ursula Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? Plädoyer für seine Authentizität, Hannover 2016. Goldenbaum sieht den Adressaten des Briefes nicht in Varignon, sondern in Jakob Hermann. 18 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Drittes Buch, Kap. VI, 4. Aufl. Hamburg 1981, S. 60f. – In den Nouveaux Essais (s. o., Anm. 11) steht die Stelle auf S. 306f. Eigentlich müssten als Autoren der Nouveaux Essais Locke und Leibniz angegeben werden. In der Akademie-Ausgabe wird die entsprechende Rede von Philalethes kursiv gedruckt, vgl. A 6, VI N. 2, S. 306. 19 Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, II, 91; hg. u. übers. v. Karl Albert, Paulus Engelhardt, Darmstadt 1982, S. 464; Summa theol., I, qu. 78, Art. 2 (Deutsche Thomas-Ausgabe,
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Locke (Philalethes) fährt fort: So werden wir auch weiter hinab bis zu den tiefststehenden und unorganisch unentwickeltsten Teilen der Materie überall beobachten, daß die verschiedenen Arten miteinander verkettet sind und sich nur in kaum merklichem Grade voneinander unterscheiden. Ziehen wir sodann die unendliche Macht und Weisheit des Schöpfers in Betracht, so haben wir Grund zu der Annahme, daß es der großartigen Harmonie des Universums und dem hohen Endzweck sowie der unendlichen Güte seines Baumeisters entspreche, wenn die Arten der Geschöpfe in unmerklichen Abstufungen von uns aus auch aufwärts zu seiner unendlichen Vollkommenheit emporsteigen, ganz wie wir sie von uns stufenförmig nach unten hinabsteigen sehen.
Nun fällt Leibniz (Theophilus) freudig ein: 20 Ich hatte beabsichtigt, an einer anderen Stelle ähnliche Gedanken auszusprechen, wie Sie sie soeben entwickelt haben; ich freue mich aber, daß man mir zuvorkommt, wenn ich sehe, daß man die Dinge besser sagt, als ich es zu tun hätte hoffen können. Scharfsinnige Philosophen haben die Frage behandelt, utrum detur vacuum formarum, d.h. ob es mögliche Arten gibt, die gleichwohl nicht wirklich existieren und die die Natur scheinbar vergessen hat. [...] Ich glaube aber, daß alle Dinge, welche die vollkommene Harmonie des Weltalls in sich aufnehmen konnte, in ihm enthalten sind. Dieser nämlichen Harmonie entspricht es, daß es zwischen Geschöpfen, die einander fernstehen, Geschöpfe mittlerer Art gibt
Und dann kommt der Hinweis auf die sprechenden Tiere: Die Vögel, die in anderer Hinsicht vom Menschen so verschieden sind, kommen ihm doch in Bezug auf die Sprache so nah; wenn aber die Affen wie die Papageien sprechen könnten, so würden sie viel weiter gelangen. Das Gesetz der Kontinuität 21 bringt es mit sich, daß die Natur
Bd. 6, S. 127); De veritate, qu. 16, art. 1. – In De veritate wird dasselbe Prinzip in der Perspektive von unten nach oben beleuchtet: „inferior natura attingit in suo supremo ad aliquid quod est proprium superioris naturae, imperfecte illud participans.“ „Die niedere Natur berührt in ihrem Höchsten etwas, was der höheren Natur eigen ist, wobei es daran auf unvollkommene Weise teilnimmt.“ Das passt sehr schön zu dem „sprechenden“ Tier, das unvollkommen an dem den Menschen auszeichnenden Logos teilhat. 20 Leibniz: Neue Abhandlungen (wie Anm. 11), S. 307f.; A VI 6, N. 2, S. 307. 21 Bei Cassirer steht „Stetigkeit“, Leibniz schreibt „La Loy de la„ Continuité“. A VI 6, N. 2, S. 307, Z. 17 (Hervorhebung im Orig.). An späterer Stelle spricht Leibniz noch einmal vom „loy de la continuité“ (A VI 6, N. 2, S. 473, Z. 10), hier schreibt auch Cassirer „Kontinuität“. Neue Abhandlungen, Buch IV, Kap. 16, S. 515. – Herbert Breger (wie Anm. 14, S. 50) sieht einen Widerspruch zwischen der Kontinuität, wie sie hier präsentiert wird, mit der Darstellung im sogenannten Brief an Varignon und findet damit einen weiteren Beleg für die Fälschungsthese. Die Stufenordnung der Wesen sei in den Nouveaux Essais gelockert, da die „Schönheit der Natur [...] scheinbare Sprünge“ fordere. Dem kann entgegengehalten werden, dass die Sprünge eben nur scheinbar, nicht wirklich sind, und dass genau dies – scheinbare Diskontinuität bei vollkommener Kontinuität – im „Brief an Varignon“ mit einem schönen Beispiel aus der Geometrie illustriert wird: Leibniz erinnert an die äußerlich völlig disparaten Figuren der Kegelschnitte, die aus einer kontinuierlichen Bewegung einer Ebene durch einen Doppelkegel entstehen: „Betrachtet man nur die äußere Gestalt der Parabeln, Ellipsen und Hyperbeln, so wäre man versucht zu glauben, daß eine ungeheure Kluft zwischen diesen verschiedenen Kurven besteht. Wir wissen jedoch, daß sie eng miteinander verbunden sind, so daß es unmöglich ist, zwischen zwei von ihnen irgendeine andere mittlere Art einzuschieben“. „Brief an Varignon“ (wie Anm. 9), S. 263, 265.
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Peter Nickl in der Ordnung, die sie befolgt, keine Lücke läßt, aber nicht jede Form oder Art paßt für jedwede Ordnung.
Bevor wir uns die Papageien näher ansehen, werfen wir noch einmal einen Blick auf den Ausdruck vacuum formarum 22, der auch in einem Text auftaucht, den Leibniz kurz nach den Nouveaux Essais verfasst hat. In den Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens rückt Leibniz, mit einer deutlichen Kritik an Descartes und seinen Anhängern, die Tiere so weit an den Menschen heran, dass er ihnen sogar unsterbliche Seelen zugesteht. Wieder zeigt sich Leibniz als eifriger Verfechter der Kontinuitätsthese, der Idee nämlich von der großen Kette der Wesen: 23 Auch ist es vernunftgemäß, daß es unterhalb der unseren Substanzen mit Perzeptionsvermögen gibt, wie es solche über uns gibt, und daß unsere Seele, weit davon entfernt, die letzte aller zu sein, sich in einer Mittelstellung findet, von der man abwärts und aufwärts steigen kann; denn sonst würde es an Ordnung fehlen, was gewisse Philosophen Vacuum formarum nennen.
Hier kann man einen Seitenblick auf Darwin werfen: er suchte das „missing link“ zwischen Mensch und Tier in einem Tier, das dem Menschen im Körperbau möglichst nahekommt – also im Menschenaffen oder einem diesen verwandten Wesen. Leibniz dagegen achtete weniger auf den Körperbau, als auf die geistigen Leistungen: so ist für ihn ein sprechender Vogel den Menschen näher als ein stummer Orang-Utan. Nicht die körperliche, die geistige Ähnlichkeit ist entscheidend. Hätte Leibniz Delphine oder die Buckelwale mit ihren erstaunlichen Gesängen gekannt, wären sie nach seinem „Prinzip der Kontinuität“ möglicherweise die menschenähnlichsten Tiere, auch wenn sich das nicht an ihrem Skelett zeigt. Die Evolutionstheorie arbeitet mit dem Modell der Anpassung im Kampf ums Überleben, Leibniz hingegen mit dem der Einpassung der Lebensformen in ein Kontinuum abgestufter Vollkommenheiten. Wir greifen diesen Gedanken später noch einmal auf. V. Leibniz und der Papagei Mademoiselle de Scudéry ist wohl die berühmteste französische Schriftstellerin des 17. Jahrhunderts. Sie war bekannt für ihre Tierliebe, und besonders für ihren sprechenden Papagei. Als dieser starb, schrieb sie an Leibniz: 24 „ich hatte einen kleinen Papagei von der Größe eines Sperlings, der einen gewaltigen Geist besaß, der allein
22 Vgl. den Artikel Vacuum formarum von Stephan Meier-Oeser in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 530-531. 23 Leibniz: Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens (1705), in: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft (wie Anm. 9), S. 339. 24 Brief von Madeleine de Scudéry an Leibniz, Paris, 2. März 1699. „j’avois un petit perroquet de la grosseur d’un moineau qui avoit un esprit prodigieux et il sufisoit seul à detruire les Automattes de Mr Des Cartes“. A I, 16, N. 363.
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hinreichte, um die Automaten[-Theorie] von Herrn Descartes zu zerstören.“ Leibniz verfasste daraufhin ein lateinisches Gedicht, das auf deutsch etwa so lautet: 25 Du winziger Papagei, und doch von so groß-gelehrter Rede, ach, kürzlich warst du noch deiner Herrin Freude und Sorge. Wenn du nun die äußersten Gefilde der Vögel erreichst … , so belaste nicht die ganze Menschheit mit der Schuld weniger, für welche der nackten Maschine in euch keine Fühlsamkeit zukommt.
Dass der verstorbene Papagei nun in „die äußersten Gefilde der Vögel“ kommt, ist nicht einfach eine märchenhafte Vorstellung, sondern bringt Leibniz’ Überzeugung zum Ausdruck, dass auch die Tierseelen nach dem Tod weiterleben – wenn auch in einer anderen Form als unsere Seelen. 26 Aber nicht nur bei diesem Gelegenheitsgedicht hat Leibniz die Idee eines sprechenden (und damit auch vernünftigen) Tiers ernst genommen. In den Nouveaux Essais schreibt er: 27 [Es] hindert nichts, daß es vernünftige Tiere einer von der unserigen verschiedenen Art gebe, wie die Bewohner des poetischen Vogelreichs der Sonne, wo ein Papagei, der nach seinem Tode aus dieser Welt dorthin gekommen war, dem Reisenden das Leben rettete, der ihm hienieden wohl getan hatte. Wenn indessen, wie dies im Land der Feen und in den Erzählungen der Mutter Gans vorkommt, ein Papagei eine verwandelte Prinzessin wäre und sich durch die Sprache als solche zu erkennen gäbe, so würden ohne Zweifel Vater und Mutter ihn als ihre Tochter liebkosen, und überzeugt sein, sie, wenngleich unter dieser fremdartigen Gestalt versteckt, zu besitzen.
VI. Seelen- oder Geisterreich? In seinem Gedicht Die Freundschaft nimmt Schiller die Idee von der „großen Kette der Wesen“ auf. Der Germanist Wolfgang Düsing sieht hier einen Rückverweis „auf Leibniz’ Konzeption eines ,Continuum formarum‘.“ 28 „Aufwärts durch die tausendfache Stufen“ wird eine Reihe des Lebendigen evoziert, die bis zur Engelwelt („den lezten Seraf“) reicht – ganz ähnlich wie es in der Ode An die Freude heißt: „Freude trinken alle Wesen / an den Brüsten der Natur [...] Wollust ward dem Wurm gegeben, / und der Cherub steht vor Gott.“ Die besondere Bedeutung dieser 25 A I, 16, N. 394. Übers. v. Annette Antoine, in Dies.: Leibniz – Poet und literarischer Inspirateur, in: „Für unser Glück oder das Glück anderer“. Vorträge des X. Internationalen LeibnizKongresses, hg. v. Wenchao Li, Bd. 1, Hildesheim u. a. 2016, S. 493–506, hier S. 504. 26 Vgl. hierzu Herbert Breger: Die Tiere im Kontinuum der Monaden, in: Die Seele der Tiere, hg. v. Friedrich Niewöhner, Jean-Loup Seban, Wiesbaden 2001, S. 169–180, hier S. 172–174, mit Verweis auf Nouveaux Essais, A VI, 6, N. 2, S. 236; Neue Abhandlungen, Buch II, Kap. 27, S. 222. 27 Nouveaux Essais, Buch II, Kap. 27, § 8; S. 221; vgl. A VI, 6, N. 2, S. 234f. 28 Wolfgang Düsing: „Aufwärts durch die tausendfachen Stufen“. Zu Schillers Gedicht „Die Freundschaft“, in: Gedichte und Interpretationen, Band 2: Aufklärung und Sturm und Drang, hg. v. Karl Richter, Stuttgart 1983, S. 453–462, hier S. 460. – Das Gedicht ist abgedruckt a. a. O., S. 451f.
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gestuften Schöpfung liegt darin, dass sie in ihrer Diversität 29 einen Spiegel Gottes darstellt. Die letzte Strophe der Freundschaft heißt: Freundlos war der grose Weltenmeister, Fühlte Mangel – darum schuf er Geister, Sel’ge Spiegel seiner Seligkeit! – Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches, Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches Schäumt ihm – die Unendlichkeit.
Philosophinnen haben diese Zeilen wahrscheinlich in einer leicht abweichenden Fassung im Gedächtnis, nämlich als Schlusszitat von Hegels Phänomenologie des Geistes. Dort steht: 30 „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit.“ Für Hegel, so darf man annehmen, sind es die geschichtlichen Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes, die sozusagen zu einer göttlichen Dimension aufschäumen. Für Schiller gehören – ganz im Sinn von Leibniz – die Tiere dazu, ohne sie wäre das Seelenreich nicht vollständig. VII. Und der Esel? Der Esel kommt ganz zum Schluss. Anders als Hund und Papagei ist er nicht in zeitgenössischen Anekdoten bezeugt, sondern im Alten Testament. Es geht um die sprechende Eselin des Propheten Bileam. 31 Der Prophet wird auf sein Reittier zornig, weil es ihm nicht gehorcht. Der Ungehorsam hat aber einen vernünftigen Grund: ein Engel des Herrn stellte sich Bileam (und seiner Eselin) in den Weg, da dieser mit den Hofleuten des Moabiterkönigs Balak ausgezogen war, um Israel zu verfluchen. Als Bileam den unschuldigen Esel schlägt, geschieht folgendes: 32 Da öffnete der Herr dem Esel den Mund, und der Esel sagte zu Bileam: Was habe ich dir getan, daß du mich jetzt schon zum drittenmal schlägst? Bileam erwiderte dem Esel: Weil du mich zum Narren hältst. Hätte ich ein Schwert dabei, dann hätte ich dich schon umgebracht. Der Esel antwortete Bileam: Bin ich nicht dein Esel, auf dem du seit eh und je bis heute geritten bist? War es etwa je meine Gewohnheit, mich so gegen dich zu benehmen? Da mußte Bileam zugeben: Nein.
Dann erst erkennt auch Bileam, was die Eselin schon vor ihm gesehen hatte: den Engel des Herrn, der mit dem gezückten Schwert in der Hand den Weg verstellt. Offensichtlich hat sich in dieser Szene der Mensch sehr unvernünftig, die Eselin aber vernünftig verhalten. Da braucht sie eigentlich gar nichts mehr zu sagen. Leibniz, der dieser Bibelstelle einen eigenen Kommentar gewidmet hat, möchte den 29 Vgl. Thomas Leinkauf: „Diversitas identitate compensata“. Ein Grundtheorem in Leibniz’ Denken und seine Voraussetzungen in der frühen Neuzeit“, in: Studia leibnitiana XXVIII/1 (1996), S. 58–83 und XXIX/1 (1997), S. 81–102. 30 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 531. 31 Numeri (4. Buch Mose), Kap. 22, 22–33. 32 Numeri, Kap. 22, 28–30.
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Kern der Geschichte bewahren, arrangiert aber die Begebenheit so um, dass die Eselsrede sich in einer Traumvision Bileams ereignet. 33 In diesem Traum kommt es zu einer tiefenpsychologischen Verschiebung bzw. Aufspaltung: Bileam identifiziert sich einerseits mit der geträumten Eselin (die die Wege Gottes erkennt), andererseits mit dem Moabiterkönig Balak, der die Israeliten verfolgt (und für die Wege Gottes blind ist). Wieder erwacht, übernimmt er die Position der (sehenden und sprechenden) Eselin und distanziert sich endgültig von der des verblendeten Moabiterkönigs. Der unerwarteten Traumrede der Eselin entspricht die unerwartete Rede Bileams, der im Beisein des Moabiterkönigs, anstatt Israel zu verfluchen, es dreimal segnet (Numeri, Kap. 23 und 24). Es gibt eine lange, insbesondere in der jüdischen Kultur lebendige, Auslegungstradition, die für eine Verlegung der Eselsrede in einen Traum bzw. eine Vision plädiert. Das ist keine rationalistische Ausflucht, um nur ja kein Wunder annehmen zu müssen, sondern eine Frage der Textinterpretation. Es ist üblich, dass Gott sich seinen Propheten im Traum mitteilt. Dass Bileam nicht voller Schreck zusammenzuckt, als ihn auf einmal die Eselin anspricht, sondern ihr prompt antwortet, als wäre ein solches Gespräch das Allernormalste von der Welt, kann als Beleg für die Traumthese gelten. 34 Die im Traum redende Eselin ist also ein Vehikel, um Bileam die Augen zu öffnen. Zur Erhärtung dieser Deutung bedarf es freilich der Textkritik. Der zweite und dritte Segen über Israel wird folgerichtig eingeleitet mit den Worten „Spruch Bileams, des Sohnes Beors, Spruch des Mannes mit dem durchdringenden Auge“ (Numeri 24, 3 und 15) – in unserer Einheitsübersetzung steht hingegen, einer anderen Überlieferung folgend, „Spruch des Mannes mit geschlossenem Auge“ 35. Wie Leibniz sich die Geschichte mit der sprechenden Eselin im Austausch mit dem Helmstedter Orientalisten Hermann von der Hardt möglichst plausibel zurechtlegt, zeigt, dass es ihm nicht um eine möglichst umfangreiche Sammlung sprechender Tiere geht. Der Esel ist kein Fall für die Kontinuität der Formen, sondern für die Kunst der Schriftauslegung.
33 Vgl. Daniel J. Cook: Leibniz: Biblical Historian and Exegete, in: Leibniz’ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen, hg. v. Ingrid Marchlewitz, Albert Heinekamp, Stuttgart 1990, S. 267–276, hier S. 275. – Ich danke Nora Gädeke für den noch unveröffentlichten Aufsatz ,Interdum optarem autoritatibus Tua magis muniri caeteroque philologico apparatu“. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Kritik an Hermann von der Hardts rationalistischer Bibelauslegung“, in dem Leibniz’ Deutung der Bibelstelle ingeniös referiert wird. 34 Vgl. den Brief von Hermann von der Hardt an Leibniz vom 26. Oktober 1706 (A I. 26, N. 318 der Vorausedition: https://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/I26.pdf). Von der Hardt bringt Belege aus dem mittelalterlichen Jalkut (Blütenlesen, Anthologie) Schimoni und aus dem frühneuzeitlichen Jalkut Rubeni (a. a. O., S. 649f.). 35 Die Bibbia di Gerusalemme gibt an, dass hier je nach Vorlage entweder shettam (durchdringend, vollkommen) oder shetûm (geschlossen) steht. La Bibbia di Gerusalemme, Bologna 1971, S. 307, zu Num 24, 3. Die Nova Vulgata schließt sich der ersten Version an: „Dixit Balaam filius Beor,/ dixit homo, cuius apertus est oculus“.
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VIII. Ausblick Gibt es nun sprechende Tiere oder nicht? Neueste Forschungen legen es nahe, etwa wenn Graupapageien sich keine mehr Mühe machen, durch körperlichen Einsatz an eine Nuss zu kommen, wenn es statt dessen reicht, dem Wärter „Want nut“ zuzurufen, oder wenn Präriehunde in ihre variierende Pfeiflaute Informationen der Art einbauen, ob sie sich von einer Person mit grünem oder gelbem T-Shirt bedroht fühlen. 36 Schließlich bestätigt es die auch von Leibniz immer wieder geäußerte Annahme, dass Vögel trotz ihrer anderen Gestalt eine große Nähe zum Menschen aufweisen, wenn es 55 gemeinsame Gene gibt, die bei Vögeln und Menschen an der Sprechverarbeitung im Gehirn beteiligt sind. 37 Und wie steht es mit der Querelle von Leibniz und Descartes? Einerseits wurde die Theorie, dass Tiere seelenlose Maschinen seien, im ganzen 17. und 18. Jahrhundert bekämpft. Ein Zitat von Fontenelle führt sie geistreich ad absurdum: 38 Aber bringen Sie eine Maschine von Hund und eine von Hündin zusammen, wird daraus eine dritte kleine Maschine hervorgehen; während zwei Uhren ihr ganzes Leben lang nebeneinander sein werden, ohne jemals eine dritte Uhr zu machen.
Doch Tiere können noch mehr: sie können uns zu ihren Freunden wählen. So schrieb Mademoiselle de Scudéry an die Nichte von Descartes: 39 Es ist nicht meine Freundschaft für Tiere, die mich zu ihren Gunsten einnimmt – ihre Freundschaft für mich überzeugt mich davon, denn nichts, wo Wahl im Spiel ist, kann ohne eine Art von Vernunft bewirkt werden.
In der Ablehnung von Descartes’ Maschinentheorie ist sich sogar Voltaire mit Leibniz einig. Im Philosophischen Taschenwörterbuch heißt es beim Stichwort Bêtes – Tiere: 40 „Wie jämmerlich, wie armselig ist es doch, wenn behauptet wird, die Tiere seien Maschinen, des Erkenntnisvermögens und der Gefühle beraubt“. Dann präsentiert er als schlagendes Gegenbeispiel einen Hund, der aufgeregt ins Haus kommt, unruhig ist, nach unten und nach oben läuft, von Raum zu Raum, der schließlich den Herrn, den er liebt, in seinem Arbeitszimmer findet und diesem durch sein sanftes Bellen, seine Sprünge, seine Liebkosungen, seine Freude bezeigt.
Und was tun die Menschen, da ja angeblich der Hund weder über Sprache noch eine Seele verfügt? 36 Dirk Westerkamp: Das schweigende Tier. Sprachphilosophie und Ethologie, Hamburg 2020, S. 54f. 37 Ebd., S. 50. 38 Fontenelle, Lettres galantes du chevalier d’Her (1685), zitiert in: Leonora Cohen Rosenfield: From Beast-Machine to Man-Machine. Animal Soul in French Letters from Descartes to La Mettrie, New York 1940, S. 126. – Condillac schreibt: „Die Meinung Descartes’ über die Tiere ist nunmehr so veraltet, dass man davon ausgehen kann, dass sie kaum noch Anhänger finden dürfte“. Étienne Bonnot de Condillac: Traité des Animaux. Abhandlung über die Lebewesen (1755), französisch / deutsch., übers. v. Vanessa Kayling, Würzburg 2019, S. 44. 39 Zitiert in Leonora Cohen Rosenfield (wie Anm. 38), S. 161. 40 Voltaire: Philosophisches Taschenwörterbuch, übers. v. Angelika Oppenheimer, Ditzingen 2020, S. 64f.
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Barbaren bemächtigen sich dieses Hundes, der in seinen Freundschaftsbezeugungen dem Menschen so sehr überlegen ist, nageln ihn auf einem Tisch fest und sezieren ihn bei lebendigem Leibe, um dir die mesenterische Vene zu zeigen. Du entdeckst in ihm alle die gleichen Organe, die auch dich zur Empfindung befähigen. Antworte mir, Maschinist! Hat die Natur etwa alle Anlagen zur Empfindung in diesem Tier angelegt, damit es nichts fühlt? Hat es Nerven, um empfindungslos zu sein?
Sehr kluge Leute, ja sogar Wissenschaftler, träumen heute von einer Zeit, in der Menschen und Roboter zu guten Freunden werden. „Weißt du noch ...“ – Aber könnte das eine künstliche Intelligenz sagen, für die es ja keine Vergangenheit gibt? Darüber verfügen nur lebendige Wesen. Wir haben fast vierhundert Jahre lang Descartes’ Weg der strikten Trennung von Mensch und Tier verfolgt. Wissenschaftlich ist damit viel erreicht worden, aber um welchen Preis! Es zeigt sich, dass wir in eine Sackgasse geraten sind. Leibniz’ Kontinuum der Arten, das hinter seinem Interesse an sprechenden Tieren steht, könnte uns aus dieser Sackgasse herausführen. (Und wir dürfen froh sein, dass unsere Universität nicht nach Descartes, sondern nach Leibniz benannt wurde.) Ein anderes, naheliegendes Thema, haben wir bestenfalls gestreift: wenn es ein Kontinuum der Zahlen, der geometrischen Figuren, der Arten gibt, dann doch wohl auch ein Kontinuum der Sprachen? Darin hätten die Sprachen der Tiere (mit denen Leibniz sich anscheinend – im Gegensatz zu den sprechenden Tieren – nicht beschäftigt hat) eine besondere Funktion. Einerseits wäre es reizvoll, sie in eine Ordnung zu bringen (Bonobos kommunizieren anders als Delphine, Präriehunde oder Singvögel), andererseits wären sie insgesamt ein Teil der Sprachstufenleiter, die weiter hinauf 41 zum Menschen führt und schließlich zur Sprache der Engel – dem Thema, das Leibniz angeblich auf dem Totenbett beschäftigte. Sicher hätte sich Leibniz auch für Computersprachen interessiert. Er wäre aber, so vermute ich, kaum auf die Idee gekommen, dass diese Sprachen von irgendwem gesprochen werden. Denn künstliche Intelligenzen sind keine Subjekte, sondern Simulationen von Subjektivität. Tiere hingegen sind echte Subjekte – Selbstsein, wie Martin Buber sagen würde. Wir brauchen sie nötiger denn je, um den Halt in der analogen Welt nicht zu verlieren. Oder, um das Schlusswort einem der großen französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, dem Descartes-Kritiker Condillac zu geben: 42 „Es wäre wenig interessant, die Tiere zu erforschen, wenn dies nicht ein Mittel wäre, uns selbst besser kennen zu lernen – ein Mittel, um besser zu begreifen, was wir sind.“
41 Nach neuesten Forschungen auch hinunter in die Pflanzenwelt, vgl. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt, München 2019. 42 Condillac (wie Anm. 38), S. 43. – Condillacs Abhandlung über die Lebewesen erschien im gleichen Jahr wie Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit, ist aber nicht annähernd so bekannt geworden. Den Hinweis auf Condillac verdanke ich Angelika Oppenheimer.
RATIONALISMUS UND EMPIRISMUS ÜBER DIE NATÜRLICHE GLEICHHEIT DER MENSCHEN Ursula Goldenbaum, Atlanta/Berlin Anders als Locke spielt Leibniz in der Geschichte der modernen politischen Philosophie kaum eine Rolle. Sogar seine Rechtsphilosophie ist eigentlich nur unter wenigen Leibniz-Experten bekannt. 1 Dagegen gilt Locke weithin als Begründer der modernen Demokratie, der subjektiven Freiheitsrechte und der Trennung von Staat und Kirche. Solche Hochschätzung verdankt Locke weniger seinen politischen Schriften als ihrer intensiven Rezeption durch die Gründungsväter der USA. In der Amerikanischen Declaration of Human Rights steht ganz wie bei Locke der Grundsatz der natürlichen Gleichheit. Zwar bleibt er, anders als in der französischen Revolutionslosung Liberté, égalité, fraternité, aber ganz wie bei Locke im Schatten der Forderung nach Freiheit, jedoch heißt es in der Declaration klar: „We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of happiness.“ 2 Mit dem wachsenden Einfluss der USA wurde Locke über die letzten zwei Jahrhunderte weltweit gelehrt. Aber nicht erst seit Black lives matter, nicht erst seit der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King, nicht erst seit dem Kämpfen für das Wahlrecht der Frauen, gegen Segregation und für ein Wahlrecht der Afroamerikaner wissen wir, dass sowohl die amerikanischen Gründungsväter als auch die führenden Männer der Französischen Revolution nur einen sehr eingeschränkten Begriff von „allen“ Menschen hatten. Eigentlich umfasste er nur die weißen, erwachsenen, landbesitzenden Männer. Und doch hat der Grundsatz einer natürlichen Gleichheit „aller“ Menschen in den genannten und vielen ungenannten politischen Kämpfen eine enorme mobilisierende Wirkung gehabt. Die Anerkennung dieses Gleichheitsgrundsatzes fand inzwischen Eingang in die UN-Deklaration der Menschenrechte. 3 Wenn er auch noch keineswegs überall, ja sicher noch nirgendwo vollständig umgesetzt worden ist, spielt er noch heute weltweit eine mobilisierende
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Siehe dazu Hubertus Busche: Einleitung, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht. Lateinisch – deutsch, üb. und hg. von Hubertus Busche, Hamburg 2003, S. XI– XIX. https://www.uscis.gov/sites/default/files/document/guides/M-654.pdf (aufgerufen am 25. März 2021), Präambel. https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (aufgerufen am 25. März 2021). Siehe insbesondere die Artikel 1 und 2.
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Rolle in den sozialen Kämpfen für gleiche Bezahlung und einen gleichen Zugang zu Bildung. Anders als die meisten philosophischen Grundbegriffe kann der Grundsatz einer natürlichen Gleichheit aller Menschen nicht bis in die Antike zurückverfolgt werden. Plato und Aristoteles gingen vielmehr von einer natürlichen Verschiedenheit sowohl von Männern und Frauen als auch von verschiedenen ethnischen Gruppen aus. Berühmt ist Platons Mythos von den drei Metallen, die der Seele verschiedener Menschengruppen beigemischt seien, die dadurch von Natur verschieden seien. 4 Auch Aristoteles verteidigt ganz selbstverständlich die natürliche Ungleichheit von Sklaven und von Frauen gegenüber griechischen Männern. 5 Auch im Mittelalter galt das Hineingeborensein in einen bestimmten Stand als natur- bzw. gottgegeben, auch wenn alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen waren und im Unterschied zu den Tieren Vernunft hatten. 6 Die göttliche Monarchie als Herrschaft über die Schöpfung mit ihrer Abstufung der Arten galt als Modell der menschlichen ständisch geordneten Gesellschaft, in der jeder seinen natürlichen Platz hatte. 7 Erst Descartes stellte im ersten Satz des ersten Teils seines Discours de la methode die herausfordernde Behauptung auf, dass kein Ding in dieser Welt gleicher verteilt sei als der gesunde Menschenverstand. Aus der empirisch festzustellenden Zufriedenheit aller mit ihrem Anteil daran, schließt er, „que la puissance de bien iuger, & distinguer le vray d’auec le faux […] est naturellement esgale en tous les hommes“. 8 Nicht nur haben alle Menschen Vernunft, ihr Vernunftvermögen ist gleich. Eben das sagt auch Thomas Hobbes, der daraus sogleich die Grundlage seiner politischen Philosophie macht und die Erzeugung eines Staates durch die Menschen aus der natürlichen Gleichheit der Menschen ableitet. 9 Das Hobbes’sche Modell eines Vertrags aller mit allen als Grundfigur des modernen Staates (nicht des Volkes mit dem König) 10 und damit der Gleichheitsgrundsatz wird die moderne
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Plato, Politeia, 415. Aristoteles, Politik, I.13.1260a12; Sklaverei wird auch ausführlich behandelt in ebd., I.4–8; zu Frauen siehe ebd. I.12.1259a39-b4. 6 Siehe Thomas: De regimine principium I, 1, wo der Autor „die Entstehung, Berechtigung, ja Notwendigkeit einer sozialen Autorität, die sich uns stufenweise im Familienvater, im Oberhaupt einer Gemeinde und im höchsten wahrsten Sinne im Beherrscher, im König eines Landes repräsentiert“, aus der Natur des Menschen ableitet. Siehe Martin Grabmann: Thomas von Aquin. Eine Einführung in seine Persönlichkeit und Gedankenwelt, Kempten/München 1917, S. 141–142. 7 Siehe Arthur Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge/London 1936 (21964), S. 67–98. 8 René Descartes: Discours de la methode, in: Ders.: Oeuvres de Descartes, hg. von Charles Adam et Paul Tannery, Bd. VI, Nachdruck Paris 1996, S. 2 (meine Hervorhebung – UG). 9 Thomas Hobbes: Leviathan, hg. von Edwin Curley, Indianapolis 1994, S. 74–75, sowie S. 109 (xiii, 1–4 sowie xvii, 12–14). 10 Diese ganz verschiedenen Vertragsmodelle werden oft miteinander vermengt; die Theorie eines Gesellschaftsvertrags zwischen König und Volk wurde bereits von Marsilius von Padua entwickelt. Neu bei Hobbes ist aber, dass einander gleiche Individuen zu Akteuren werden, die
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politische Philosophie der Neuzeit bestimmen, allerdings in unterschiedlichem Maße. Der amerikanische Philosoph Noam Chomsky hat nun die gewagte These aufgestellt, dass Argumente zugunsten einer natürlichen Ungleichheit bis hin zum Rassismus (und damit einer Verteidigung der Sklaverei) sich eher bei den Empiristen fänden, während die Rationalisten, insbesondere Descartes wegen seiner Betonung einer allen Menschen gleichen Vernunft gegen den im 17. Jahrhundert aufkommenden und im 18. Jahrhundert verbreiteten Rassismus gefeit gewesen wären. 11 Er ist damit auf viel Widerspruch gestoßen, was angesichts der Orientierung der angloamerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts am englischen Empirismus nicht überraschend ist. 12 Inzwischen ist vom Hume-Forscher Andrew Valls auch ein Band mit Beiträgen zu den wichtigsten frühneuzeitlichen Philosophen herausgegeben worden, die ausdrücklich deren Positionen zum Rassismus diskutieren, allerdings mit sehr unterschiedlichen Maßstäben messen. 13 Im Folgenden möchte ich Chomskys These systematisch nachgehen und zwar besonders in Hinblick auf den darin behaupteten Zusammenhang von erkenntnistheoretischen und politischen Positionen. In einem ersten Abschnitt werde ich die frühen Rationalisten Descartes und Spinoza, im zweiten Abschnitt die Empiristen Locke, Hume, und Burke in den Blick nehmen, bevor ich mich in einem dritten Abschnitt dem Rationalisten par excellence Leibniz zuwende. Ich werde, so weit möglich, jeweils Erkenntnistheorie und Rechts- bzw. politische Philosophie betrachten, und zwar in Hinblick auf die jeweiligen Positionen zur natürlichen Gleichheit aller Menschen, d.h. ihrer Zugehörigkeit zur selben Gattung.
den Staat durch gegenseitige Verträge untereinander erst schaffen. Siehe Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 109 (xvii, 13). 11 „Empiricism rose to ascendancy in association with a doctrine of ‘possessive individualism’ that was integral to early capitalism in an age of empire with the concomitant growth (one might almost say) of racist ideology.‟ (Noam Chomsky: Reflections on Language, New York 1966, S. 77–78) Im Gegensatz dazu: „Cartesian thought constitutes a vigorous effort to assert the dignity of the person […] the empiricist blank tablet account of learning is a manipulative model.” (ebd., S. 130). Chomsky wurde unterstützt durch Harry M. Bracken: Mind and Language. Essays on Descartes and Chomsky, Dordrecht/Cinnaminson 1984, S. 133–139. 12 Searle reagierte mit einem Gegenangriff, wonach Rationalisten mit ihrer Berufung auf eingeborene Ideen weitaus mehr rassistischen Denkmuster Vorschub leisten würden. Siehe John Searle: Comments on Chomsky’s ‚Rules and Representations‛, in: The Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 1–61. 13 Andrew Valls (Hg.): Race and Racism in modern Philosophy, Ithaca/London 2005. Der Band enthält auch Beiträge zu Descartes und Hobbes. Obwohl beide den Begriff „race“ gar nicht verwenden, wird ihnen latenter Rassismus bescheinigt; dagegen werden Humes ausdrücklich rassistische Formulierungen abgeschwächt und entschuldigt; auch hätten sie keine Bedeutung für seine Philosophie (Andrew Valls: ’A Lousy Empirical Scientist’. Reconsidering Hume’s Racism, in: Ders.: Race, S. 127–149, hier S. 127 und S. 131–132).
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I. Die frühen Rationalisten 1. Erkenntnistheorie Descartes hat keine politische Philosophie entworfen und nicht einmal die versprochene wissenschaftliche Moral geliefert. 14 Aber er hat – wie bereits erwähnt – zuerst ausdrücklich und an prominenter Stelle die These verkündet, dass alle Menschen gleichermaßen Vernunft und Sprache hätten und dieses Vermögen sie von allen anderen Lebewesen fundamental unterscheide. Nachdem er zunächst alle körperlichen Dinge dieser Welt, Sterne und Planeten, Gebirge, Meere und Flüsse, Pflanzen und Tiere auf der Erde und sogar auch den menschlichen Körper ganz und gar natürlich, d.h. nach mechanischen Prinzipien aus wenigen vorausgesetzten Prinzipien hergeleitet hatte, wobei er Tiere als mehr oder weniger komplexe Maschinen auffasste, 15 warf er die Frage auf, wie Menschen von Automaten unterschieden werden könnten. Er gibt zwei Kriterien an. Zum einen hätten nur Menschen Sprache, nämlich den Gebrauch von Worten oder anderen Zeichen in regelgeleiteter Zusammensetzung zur Mitteilung unserer Gedanken an andere. 16 Dieses Kriterium ist bemerkenswert, da es bis heute, in einer Zeit hochentwickelter AI und einer Explosion künstlich geschaffener Menschen in der Filmindustrie seine Geltung noch in jedem der regelmäßig veranstalteten Turing-Tests behauptet hat, auch wenn Schach-Computer längst in der Lage sind, menschliche Champions zu schlagen. 17
14 Descartes nannte seine moralischen Prinzipien, die er in seiner Abhandlung zur Methode vorstellte, ausdrücklich „une morale par provision“, die mit der Entwicklung seiner ganzen Philosophie auf eben solche wissenschaftlichen Gründe gestellt werden sollte wie alle anderen Wissenschaften. Siehe Discours (wie Anm. 8), S. 22 (3. Teil). Timothy Reiss wird auf seiner Suche nach einem verborgenen Rassismus bei Descartes dennoch fündig: Ders.: Descartesʼ Silence on Slavery and Race, in: Valls, Race (wie Anm. 13), S. 16–42. Obwohl er schon im Titel seines Beitrags die Abwesenheit der Begriffe „race“ und „slave“ in Descartesʼ Schriften feststellt, benutzt er das einmalige Vorkommen des Wortes „vn esclaue“ für das lateinische „captivus“ in der von Descartes autorisierten französischen Übersetzung der Meditationes (S. 21–22) sowie Descartesʼ Schweigen zur Diskussion der Sklaverei durch spanische Gelehrte sowie Bodin auf der Basis des Römischen Rechts, die alle Descartes ja durch seine Lehrer in La Flêche hätte kennen können (S. 29–30), sowie den seit der Antike bestehenden Gebrauch des Wortes „slave“ für Menschen, die sich nicht von der Vernunft, sondern von ihren Leidenschaften leiten lassen, dazu, mit aller Gewalt Descartes zum heimlichen Rassisten zu machen und so Zweifel an Chomskys These zu säen. Nach Reissʼ Kriterien wären aber fast alle Philosophen heimliche Rassisten, lange vor dem Aufkommen dieses politischen Phänomens im 18. Jahrhundert. Reiss ist übrigens kein Descartes-Experte, auch kein Philosoph, sondern vergleichender Literaturhistoriker, der besonders über postkoloniale Themen arbeitet. 15 Descartes: Discours (wie Anm. 8), S. 40–60 (5. Teil). 16 Ebd., S. 56. 17 Alan Turing formulierte 1950 eine Aufgabe, bei deren Erfüllung durch einen Computer diesem Denken bzw. Intelligenz zugeschrieben werden sollte. Seither finden verschiedene Wettbewerbe statt, in denen Computerprogramme getestet werden, ob sie in einer Konversation mit Menschen mithalten können. Siehe z.B.: https://de.wikipedia.org/wiki/Loebner-Preis (aufgerufen am 3.5.2021). Zur anhaltenden Diskussion in der gerade Fahrt aufnehmenden Forschung
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Es ist interessant, dass Descartes ausdrücklich den Einwand zurückweist, dass es doch auch unvernünftige, „stumpfsinnige“ Menschen gäbe: es gebe aber nicht „d’hommes si hebetez & si stupides“, dass sie nicht imstande wären – anders als die Tiere, sinnvoll auf alles antworten zu können, was man in ihrer Gegenwart sage. 18 Die Sprachfähigkeit des Menschen sei also ganz und gar verschieden von der Sprechfähigkeit mancher Tiere, die zwar geeignete Organe zum Sprechen hätten, aber keine Vernunft. Descartesʼ anderes Kriterium zur Unterscheidung von Menschen von Tieren oder anderen Automaten ist die Universalität der menschlichen Vernunft, Aufgaben zu lösen. 19 Er ist bekanntlich der Auffassung, dass die Tiere nicht nur weniger Vernunft als Menschen haben, sondern gar keine: „Car on voit qu’il n’en faut que fort peu, pour sçauoir parler.“ 20 Natürlich kann seine Auffassung auch die Unsterblichkeit der menschlichen Seele im Unterschied zu denen der Tiere begründen helfen. 21 Jedoch ist Descartes mit seiner Unterscheidung der menschlichen Seele von denen der Tiere kein bloßer Verächter der Tiere, wie ihm mitunter vorgeworfen wird, sondern hat mit dem Verweis auf die Sprachfähigkeit der Menschen ein tragfähiges Argument: Sprache sei keineswegs spontaner Ausdruck von Emotionen, sondern regelgeleitete Verbindung von Worten. In unserem Sprechen zueinander komme das Bewusstsein unserer selbst zum Ausdruck: Ce qui n’arrive pas de ce qu’ils ont faute d’organes, car on voit que les pies & les les perroquets peuuent proferer des paroles ainsi que nous, & toutefois ne peuuent parler ainsi que nous, c’est a dire, en tesmoignant qu’ils pensent ce qu’ils disent; au lieu que les hommes qui, estans nés sours & muets, sont priuez des organs qui seruent aux autres pour parler, autant ou plus que les bestes, ont coustume d’inuenter d’eux mesmes quelques signes, par lesquels ils se font entendre a ceux qui, estans ordinairement auec eux, ont loysir d’apprendre leur langue. 22
Aber selbst der bestabgerichtete Affe oder Papagei bleibe doch immer unter dem Niveau des stumpfsinnigsten Kindes. Es überrascht daher nicht, dass der Sprachphilosoph Noam Chomsky ein Verehrer von Descartes ist und den Gegensatz zwischen Descartes und Locke als die Vorgeschichte seiner eigenen Auseinandersetzung mit den Behavioristen ansieht: Man has a species-specific capacity, a unique type of intellectual organization which cannot be attributed to peripheral organs or related to general intelligence and which manifests itself in what we may refer to as the ‘creative aspect’ of ordinary language use – is property of being both unbounded in scope and stimulus-free. Thus Descartes maintains that language is available for the free expression of thought or for appropriate response in any new context and is undetermined by any fixed association of utterances to external stimuli or physiological states (identifiable in any noncircular fashion). 23
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zur Künstlichen Intelligenz siehe James H. Moore: The Turing-Test. The Elusive Standard of Artificial Intelligence (= Studies in Cognitive Systems 30), Dordrecht 2003. Descartes: Discours (wie Anm. 8), S. 57. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd. S. 59–60. Ebd., S. 57–58. Noam Chomsky: Cartesian Linguistics, New York 1966, S. 77–78.
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Sogar nahm er Descartesʼ ideae innatae wieder auf, indem er auf eine dem Menschen eingeborene universale Grammatik verwies: Kinder könnten Sätze sprechen, die sie nie zuvor gehört hätten, was eine behavioristische oder Locke’sche Erklärung von Sprache als allein durch äußere Faktoren induziert ausschließe. Das Thema ist nach wie vor, gerade in den Diskussionen zur künstlichen Intelligenz, hochaktuell. 24 Thomas Hobbes, als Materialist bekanntlich ein erklärter Gegner von Descartes, teilte doch dessen rationalistische strenge Unterscheidung von Vernunft und Erfahrungswissen, welch letzteres wir mit den Tieren gemeinsam hätten. 25 Vernunft sei direkt mit Sprache verbunden und nichts als ein Rechnen mit Worten (oder anderen Zeichen). 26 Wir gäben den Dingen Namen und definierten sie, aus welchen Definitionen wir allein durch apriorische Vernunftschlüsse nach dem Vorbild der geometrischen Methode die Konsequenzen ableiteten. Solche Erkenntnis sei notwendig wahr und grundsätzlich verschieden von dem Wissen, das wir wie Tiere durch Ansammeln von Erfahrungen und durch Abstraktion von Ähnlichkeiten in unseren Sinneswahrnehmungen vermittels induktiver Schlüsse gewönnen. 27 Zwar könnten Tiere menschliche Worte als Zeichen auffassen für unsere Wünsche, Erwartungen oder Intentionen, ebenso wie sie die Erscheinung eines bedrohlichen Tieres als Zeichen für eine Gefahr auffassen könnten. Aber Tiere wüssten nicht, dass Worte durch den Willen des Menschen zur Bezeichnung geschaffen worden sind. 28 Vernunft sei uns nicht wie die Sinne und das Gedächtnis angeboren, wohl aber das Vermögen, Vernunft und Sprache zu erwerben. 29 Daher hätten nicht Tiere, wohl aber Menschen Verstand. 30 24 In den letzten Jahren überschreitet die Diskussion um Chomskys Universal Grammar die Linguistik in die Neurowissenschaft. Siehe zuletzt Angela Friederici: Language in Our Brain. The Origins of a Uniquely Human Capacity, Cambridge 2017 (Mit einem Vorwort von N. Chomsky). 25 Hobbes ist in der Philosophiegeschichte mitunter als Empirist einsortiert worden, vermutlich, weil ein rationalistischer Materialist als Oxymoron galt. Tatsächlich ist aber sein Leviathan eine reine Abfolge von Schlüssen aus Definitionen, also geschrieben nach der geometrischen Methode der Rationalisten. Siehe auch Ursula Goldenbaum: The Necessitarian Threat of the Mathematizing of Nature, in: Geoffrey Gorham, Christopher Hill, u. a. (Hg.): The Language of Nature. Reassessing the Mathematization of Natural Philosophy in the Seventeenth Century (=Minnesota Studies of Science, Special Issue), 2017, S. 274–307. 26 „When a man reasoneth, he does nothing else but conceive a sum total from addition of parcels, or conceive a remainder from subtraction of one sum from another; which (if it be done by words) is conceiving of the consequence of the names of all of the parts to the name of the whole, or from the names of the whole and one part to the name of the other part.“ (Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 22 (V, [1])). 27 Siehe ebd., das ganze Kap. V. 28 Ebd., S. 11 (II, [10].) 29 Ebd., S. 25 (V, [17]). 30 „And it seems peculiar to man. For even if some brute animals, taught by practice, grasp what we wish and command in words, they do so not through words as words, but as signs; for animals do not know that words are constituted by the will of men for the purpose of signification.” (Thomas Hobbes: On Man, in: Ders.: Man and Citizen (De homine and De cive), hg. von Bernard Gert, Indianapolis 1991, S. 363 (X, 1)).
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Spinoza teilt die Auffassung von Descartes und Hobbes hinsichtlich der klaren Unterscheidung des Menschen vom Tier durch seine Vernunft. 31 Zwar strebten wir wie die Tiere nach Selbsterhaltung und hätten Affekte der Freude und der Lust, gemäß unserer je unterschiedlichen Natur, aber Menschen allein seien fähig zur Vernunft, wenn auch in unterschiedlichem Grad und nur bis zu einem gewissen Grad. Der Gebrauch der Vernunft entspräche ihrem Wesen am meisten, 32 da er ihnen erlaube, ihre Selbsterhaltung bestmöglich zu realisieren. Die Mittel, „res per primas suas causas intelligere; passiones domare, sive virtutis habitum acquirere“, sagt Spinoza, „in ipsa humana natura continentur“. 33 Die Vernunft lehre sie auch, miteinander übereinzustimmen und das Wohl aller über das eigene zu stellen bzw. das eigene Wohl im Zusammenhang mit dem aller zu verstehen. Es sei zu bedenken: „Nihil singulare in rerum Natura datur, quod homini sit utilius quam homo, qui ex ductu Rationis vivit. Nam id homini utilissimum est, quod cum sua natura maxime convenit […], hoc est (ut per se notum) homo.“ 34 Die Natur schaffe nur (gleiche) menschliche Individuen und keine verschiedenen Nationen, die sich erst durch Sprache, Gesetze und Sitten in verschiedene Völker entwickelten, 35 von denen keines von Gott hinsichtlich des Verstandes oder der Tugend auserwählt worden sei. Spinoza unterstreicht: „at ratione intellectus et verae virtutis nullam nationem ab alia distingui, adeoque his in rebus nec a Deo unam prae alia eligi“. 36 Daher sei anzunehmen, dass diese Gaben keinem einzelnen Volke eigen, sondern stets der ganzen Menschheit gemeinsam gewesen sind, „nisi somniare velimus, Naturam olim diversa hominum genera procreavisse.“ 37 2. Politische Philosophie Hobbes macht den Gleichheitsgrundsatz auch zum Ausgangspunkt seiner politischen Philosophie: Nature hath made men so equal in the faculties of body and mind as that, though there be found one man sometimes manifestly stronger in body or of quicker mind than another, yet when all is reckoned together the difference between man and man is not so considerable as that one man can thereupon claim to himself any benefit to which another may not pretend as well as he. 38
Diesem Satz folgt die bekannt-berüchtigte Bemerkung, dass selbst der schwächste Mensch einen anderen töten könne, was oft gegen Hobbes gehalten wird, als ob die 31 Spinoza: Ethica, III, P57, schol., in: Benedicti de Spinoza Opera, hg. von J. van Vloten, J.P.N. Land, Den Haag 1895, 3 Bde., Bd. 1, S. 161. 32 Spinoza: Ethica, IV, P37, schol 2, ebd. S. 204–205. 33 Spinoza: Tractatus theologico-politicus, in: Ders.: Opera (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 386–387 (cap. 3). 34 Spinoza: Ethica (wie Anm. 31), IV, P35, cor. 1, S. 202. 35 Spinoza: Tractatus theologico-politicus, in: Bd. 1, S. 387, und in: Bd. 2, S. 146. 36 Ebd., Bd. 1, S. 396. 37 Ebd., S. 387. 38 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 74 (XIII, [1]).
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Kompetenz zum Erschlagen Hobbes’ Kriterium für menschliche Gleichheit sei. 39 Tatsächlich verweist Hobbes damit nur auf die allen Menschen gleiche Verletzlichkeit. Dagegen wird meist übersehen, dass er hinsichtlich der Geister [minds] ganz wie Descartes fortfährt: „I find yet a greater equality amongst men than that of strength.“ 40 Gerade wegen ihrer natürlichen Gleichheit sei es unmöglich, ein dauerhaft stabiles Zusammenleben der Menschen im Naturzustand zu gewährleisten. Deshalb schlägt Hobbes eine künstliche Staatskonstruktion vor, bei der die einander grundsätzlich gleichen Menschen, Frauen übrigens eingeschlossen, untereinander Verträge schlössen, in denen sie sich gegenseitig zusicherten, ihr absolutes Naturrecht auf alles, was in ihrer Macht und ihrem Belieben liegt, aufzugeben unter der Bedingung, dass dies der jeweilige Vertragspartner ebenso tue. Die mit dem absoluten Naturrecht auf alles aufgegebene Macht der Individuen werde dann an einen Souverän übergeben, der diese zusammengeführte Macht ausübe, um Gesetze zu erlassen, die das Zusammenleben der Menschen regeln und ihre Sicherheit gewährleisteten, und zwar gleichermaßen für alle Bürger. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil gegen Hobbes, zuerst von Anhängern der Whig Partei in die Welt gesetzt, dass damit einem Menschen die Rechte aller anderen schutzlos ausgeliefert würden. Dieses Missverständnis hat Hobbes vielleicht mitverursacht durch das eindrucksvolle Frontispiz des Leviathan, mit dem gekrönten Königshaupt über dem Lande. Aber tatsächlich kann der Souverän durchaus auch eine demokratische oder aristokratische Versammlung von Bürgern sein, der dann ebenso absolut sei und Gesetze für alle erlasse, wobei die geltenden Gesetze ebenso so unterschiedslos für alle gälten, auch für die, die sie als Teil des Souveräns erlassen hätten. 41 Auch wird immer wieder gegen Hobbes eingewendet, dass der Souverän nicht an die von ihm erlassenen Gesetze gebunden sei. Aber Hobbes antwortet zu Recht, dass der Souverän jederzeit Gesetze erlassen, sie aber auch abschaffen könne, weshalb er nicht an sie gebunden sein könne. Jedoch stehe der Souverän unter dem von 39 Siehe z.B. Gregory S. Kavka: Hobbesʼs War of All against All, in: Ethics 93 (1983), H. 2, S. 293; David P. Gauthier: The Logic of Leviathan: The Moral and Political Theory of Thomas Hobbes, Oxford 1969, S. 15; Aloysius Martinich: Hobbes, New York 2005, S. 66. 40 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 74–75 (XIII, [2]). 41 Vallsʼ oben erwähnter Band enthält auch einen Beitrag zu Hobbes, allerdings von einer Autorin, die in der Hobbes-Forschung oder auch in der Geschichte der Philosophie unbekannt zu sein scheint: Barbara Hall: Race in Hobbes, in: Valls: Race (wie Anm. 13), S. 43–56. Sie räumt ein, dass die Hobbes von seinem Patron geschenkte Aktie an der Virginia Company keinen Sklavenhandel einschloss (S. 44), auch, dass er „virtually nothing concerning race“ (S. 45) geschrieben habe, will aber dennoch Hobbesʼ latenten Rassismus aufzeigen. Dazu verfolgt sie die Strategie, Hobbesʼ wenige Bemerkungen über das Leben der Eingeborenen, in denen er ihren Lebensstandard dem – einer Staatsgründung geschuldeten – Fortschritt westlicher Zivilisationen gegenüberstellte, als Herabwürdigung der ersteren zu bewerten. Angeblich sehe Hobbes „savages“ nur außerhalb Europas (S. 49 und S. 51). Sie kritisiert Hobbes auch, weil er die angebliche Souveränität der „independent nations“ der Eingebornen in Amerika (S. 51) ignoriert habe und beurteilt Hobbes’ politische Philosophie insgesamt als „imperialist“ (S. 49), was sicher gut zum behaupteten latenten Rassismus passen könnte. Dieser Beitrag ist extrem tendenziös.
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Gott erlassenen Naturrecht, dessen Regeln der menschlichen Vernunft einsichtig seien und von jedem erkannt werden könnten. Diese Gesetze seien aber alle enthalten in der Goldenen Regel, andern nichts zu tun, das man nicht selbst getan haben wolle bzw. im Gebot der Nächstenliebe. Das Gleichheitsprinzip setzt sich in Hobbes’ politischer Theorie auch im naturrechtlichen Prinzip der aequitas fort, wonach der Souverän bei der Gesetzgebung die Aufgabe habe, Ungleichheiten unter den Bürgern zugunsten eines stabilen und sicheren Staates durch gesetzliche Regelungen weitgehend auszugleichen. 42 Jedoch ist Hobbes’ Gleichheitsforderung auf die rechtliche Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz beschränkt, ohne die soziale Ungleichheit besonders zu thematisieren. Auch Frauen sind nach Hobbes von Natur aus gleich und zum Vertragsabschluss berechtigt, wenngleich Männer „meistens“ physisch stärker seien (ein bloß empirisches Argument). 43 Im Leviathan schreibt Hobbes sogar: And whereas some have attributed the dominion to the man only, as being of the more excellent sex, they misreckon in it. For there is not always that difference of strength or prudence between the man and the woman as that the right can be determined without war. 44
Daher hätten im Naturzustand die Frauen das Recht über die von ihnen geborenen Kinder bis zu deren Selbständigkeit, sofern sie diese am Leben erhielten. Das ändere sich, wenn sie die Kinder aussetzten oder aber Verträge mit den Vätern oder anderen schlössen, durch die sie ihr Recht an diese abträten. 45 Im Staat regelten dann die Gesetze das Recht an den Kindern. Aber auch dann liege die Quelle der positiven Gesetze in dem auch von den Frauen freiwillig eingegangenen Vertrag mit allen anderen gleichen Menschen zur Niederlegung ihres Naturrechts, durch den der Souverän und der Staat allererst erzeugt worden war. In beiden Fällen ist also auch die Frau als gleichermaßen vertragsschließende, freiwillig Handelnde vorausgesetzt und insofern von Natur gleich mit anderen Menschen. 46 Aber Hobbes kennt in seiner politischen Philosophie den Begriff des Sklaven. Steht seine Position zum rechtlichen Status von Sklaven mit der postulierten natürlichen Gleichheit aller im Widerspruch? Zunächst ist festzuhalten, dass der Sklave in Hobbes’ rationalistischer Fiktion einer idealen Erzeugung des Staates durch Vertrag aller mit allen gar nicht vorkommt, was bemerkenswert ist. Allein im durch Gewalt zustande kommenden Staat, dessen Darstellung Hobbes gemäß der in der 42 „[…] the intention of the legislator is always supposed to be equity“. (Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 183 (xxvi, [26])). Siehe auch ebd., S. 226–228 (xxx, [15–18]). Vgl. auch Ursula Goldenbaum: Hobbesʼ Begriff der equity als Prinzip rechtlicher Gleichheit, in: Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.): Recht und Billigkeit. Zur Geschichte ihres gegenseitigen Verhältnisses, Tübingen 2021, S. 389–418. 43 Thomas Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen (Elements of Law), üb. und hg. von Ferdinand Tönnies, Berlin 1926, S. 155 (II, iv, 2). 44 Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 128 (XX, [4]). Auch hier heißt es wieder, dass in Gemeinwesen, die „for the most part“ von Vätern errichtet wurden, auch das Recht über die Kinder „for the most part (but not always)“ den Vätern zugesprochen würde (ebd.). 45 Hobbes: Naturrecht (wie Anm. 43), S. 154–156 (II, iv, 1-8). 46 Siehe zum Beispiel Gabriella Slomp: Hobbes and the Equality of Women, in: Political Studies 42 (1994), H. 3, S. 441–452.
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Geschichte der Menschen vielfach beobachteten Entstehung von Staaten aufnimmt, was als empirisch belegtes Faktum auch im jus gentium anerkannt wird, begegnet uns die Diskussion von Sklaven, von der frühesten Schrift Elements of Law bis zum Leviathan, mit geringfügigen Abweichungen in der Ausführung. 47 Hobbes unterscheidet die Untergebenen eines Herrn von Sklaven im eigentlichen Sinne. 48 Jene erhielten durch (auch stillschweigenden) Vertrag ihre „körperliche Freiheit“, d.i. physische Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit in den vom Herrn festgelegten Grenzen. Dazu gehöre die Freiheit, sich das zum Leben Notwendige sichern zu können. Die Freiheit des Denkens sei ohnehin als unveräußerliches Recht garantiert. 49 Sklaven im eigentlichen Sinne aber seien solche gewaltsam unterworfenen Menschen, die ohne Vertrag in Fesseln oder sonst gewaltsam festgehalten würden und Dienste tun müssten. Sie befänden sich faktisch weiter im Natur- bzw. Kriegszustand und hätten daher auch das natürliche Recht, sich bei der ersten Gelegenheit aus dieser Situation zu befreien, durch Flucht oder Rebellion. Diese eigentlichen „Sklaven“ ohne Vertrag thematisiert Hobbes aber nur am Rande, in wenigen Sätzen. Sie sind für ihn gar kein Thema und spielen vielleicht nur in Hinblick auf die klassischen Texte von Aristoteles und des Römische Rechts eine Rolle. 50 In jedem Fall aber polemisiert Hobbes ausdrücklich gegen Aristoteles’ Auffassung einer natürlichen Ungleichheit der Menschen, die die Sklaverei rechtfertigen würde. 51 In seinem Kapitel über die natürliche Herrschaft von Menschen über Menschen diskutiert Hobbes die durch Gewalt oder durch zahlreiche Familie erworbene Herrschaft eines Menschen über andere hinsichtlich einer möglichen strukturellen Ähnlichkeit der historisch entstandenen Staaten mit seiner rational 47 Zur Entstehung von Herrschaft im Naturzustand siehe Hobbes: Naturrecht (wie Anm. 30), S. 149–159 (II, iii–iv); Ders., On citizen, in: Thomas Hobbes, Man and Citizen (De homine and De cive), ed. by Bernard Gert, Indianapolis, Cambridge 1998, S. 205-210 (VIII); Leviathan (wie Anm. 9), S. 127-135 (XX). 48 So verweist Hobbes in On citizen auf die besondere Bezeichnung „ergastuli“ für solche Kriegsgefangene, die in Arbeitshäusern oder in Fußfesseln gehalten werden (S. 206 (viii, 2)). Diese Bemerkung könnte auf die Gewohnheit der englischen Krone zielen, irische oder schottische Kriegsgefangene und später auch Diebe und Prostituierte als Arbeitskräfte in ihre Kolonien zu senden. 49 Hobbes hielt es für unmöglich, das Denken willentlich zu beeinflussen und lehnte bekanntlich den Begriff eines freien Willens ab, wie besonders aus seiner bekannten Kontroverse mit Bischof Bramhall hervorgeht. Siehe Hobbes and Bramhall on Liberty and Necessity, hg. von Vere Chappell, Cambridge/New York 1999. Siehe auch Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 136 (xxi, [2]). Zwar heißt es zunächst, dass der Vertrag mit anderen das Niederlegen aller natürlichen Rechte beträfe, aber nur solcher Rechte, die übertragen werden könnten, nicht aber unveräußerliche Rechte (ebd., S. 82 (xiv, [8]). Zudem erklärte er, dass Denken und Glauben nicht dem Gehorsam gegenüber dem Souverän unterlägen, sondern allein dem Gewissen, dem forum internum (ebd., S. 187 (xxvi, [41]). Allein die öffentliche Rede stehe unter der Zensur des Souveräns. Siehe auch S. 466 (xlvi, [37]), und S. 481–482 (xlvii, [19–20]). 50 Jedenfalls scheint er den Terminus „despotisches Königreich“, der sich im Naturrecht findet (Hobbes: Naturrecht (wie Anm. 43), S. 150–151 (II, iii, 2)), für die natürlich entstandene Herrschaft von Aristoteles übernommen zu haben. 51 Siehe Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 94–95 (xv, [14]), und S. 96–97 (xv, [21]); Hobbes: On citizen (wie Anm. 47), S. 139–40 (iii, 6), und S. 143 (iii, 13).
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erzeugten idealen Konzeption eines institutionellen Staates. Es geht ihm darum zu zeigen, dass in jedem Staat, unabhängig von seiner Entstehung, das Prinzip Sicherheit gegen Gehorsam gelte. Keineswegs aber konnte Hobbes damals schon die Sklaverei in den Kolonien im Blick haben, wie wir sie seit dem Ende des 17. und dann in großem Maßstab durch das gesamte 18. Jahrhundert kennen; im Zeitraum des Erscheinens seiner politischen Schriften 1642–1651 hatte der englische Sklavenhandel von Afrika in die englischen Kolonien noch kaum begonnen. 52 Spinoza stimmt in seiner politischen Theorie, nach seiner eigenen Aussage,53 weitgehend mit Hobbes überein, wonach alle Menschen von Natur gleich seien und erst durch einen Vertrag ihr natürliches Recht auf alles, dessen sie sich bemächtigen können, aufgäben zugunsten eines Souveräns, dessen Gesetzen zu gehorchen sie sich verpflichteten unter der Bedingung, dass alle anderen es auch täten. 54 Jedoch bringt er in seinem Theologisch-politischen Traktat eine klare Präferenz für die demokratische Staatsform zum Ausdruck, und zwar „quia maxime naturale videbatur, et maxime ad libertatem, quam Natura unicuique concedit, accedere“. 55 Auch weitet er Hobbes’ Auffassung eines unveräußerlichen Rechts zur Freiheit des Denkens noch aus, indem er es nicht nur für unmöglich erklärt, Meinungen zu kontrollieren, sondern auch, öffentliche Äußerungen von Meinungen. Überzeugungen und Meinungen sollten daher, solange sie keine direkte Aufforderung zum Handeln gegen 52 Siehe die aufschlussreiche Webseite zum internationalen Sklavenhandel der Neuzeit: https://www.slavevoyages.org/assessment/estimates?selected_tab=timeline. Danach setzte der Sklavenhandel zu den britischen Kolonien in Amerika in den 1670er Jahren ein, nahm Fahrt auf in den letzten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, erreichte aber erst im Verlauf des 18. Jahrhundert das Ausmaß, das wir damit assoziieren. Hobbes bekam zwar von Cavendish eine Aktie der Virginia Company geschenkt, was aber wohl dem „vote-packing“ seines Patrons diente, da jedes Mitglied nur eine Stimme hatte. Siehe Noel Malcolm: Hobbes, Sandys, and the Virginia Company, in: Ders.: Aspects of Hobbes, Oxford 2002, S. 53–79, hier S. 54–55. die jedoch noch nicht mit Sklavenhandel verbunden war und schon 1624 aufgelöst wurde. Auch hatte er später Aktien an der Somer Islands Company, die die Kolonisierung der heutigen Bermuda Inseln unternahm bzw. administrierte. Siehe Noel Malcolm: Reason of State, Propaganda, and the Thirty Yearsʼ War. An Unknown Translation by Thomas Hobbes, Oxford 2007, S. 8. Während des 17. Jahrhunderts war Sklaverei auf den Bermudas, wie sie dann in den Carolinas und Georgia bekannt und berüchtigt wurde, nicht bekannt. Die Arbeit wurde von Lohnknechten bzw. Schuldknechten verrichtet, die mitunter die Kosten ihrer Überfahrt durch Arbeit abzahlen mussten; darunter waren irische und schottische Kriegsgefangene, die aus England kamen, aber auch Einwanderer aus den Amerikas, von Eingeborenen bis hin zu entlaufenen Sklaven aus dem Süden. 53 „Quantum ad Politicam spectat, discrimen inter me et Hobbesium, de quo interrogas, in hoc consistit, quod ego naturale Jus semper sartum tectum conservo, quodque Supremo Magistratui in qualibet Urbe non plus in subditos superat, quam iuxta mensuram potestatis, qua subditum superat, competere statuo, quod in statu Naturali semper locum habet.” (Spinoza an Jarig Jelles am 2. 6. 1674, Epistola L, in: Ders.: Opera (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 360). Der Beitrag zu Spinozas Sicht auf den Begriff der „Rasse“ in Vallsʼ Band stammt von einer Spinozaexpertin, mit deren präziser Darstellung ich völlig übereinstimme: Debra Nails: Metaphysics at the Barricades, in: Valls, Race (wie Anm. 13), S. 57–72. 54 Spinoza, Tratatus theologico-politicus, S. 121-131 (cap. 16). 55 Spinoza, Tratatus theologico-politicus, S. 126 (cap. 16).
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den Staat seien, erlaubt werden, und zwar durchaus im Sinne einer größeren Stabilität des Staates. 56 Spinoza lebte im goldenen Zeitalter einer frühkapitalistischen Seefahrernation und entstammte einer Familie, die im transatlantischen Seehandel involviert war. Allerdings scheint der niederländische Sklavenhandel während seiner Lebenszeit nur in den Jahren 1632 bis 1645, also seiner Kindheit, eine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. 57 Jedoch berichtet er einem Freund von einem Albtraum, der ihn wegen der intensiven Vorstellung eines schwarzen Brasilianers nicht losgelassen hätte. 58 Ein so intensiver Traum kann wohl nur durch den persönlichen Anblick eines Schwarzen erklärt werden, auch wenn Spinoza sagt, dass er diesen Mann nie zuvor gesehen habe. Den lateinischen Terminus „servus“ aber gebraucht Spinoza in seiner Ethik allein im Sinne der philosophischen Tradition zur Bezeichnung eines Menschen, der nicht gemäß seiner Vernunft, sondern seinen passiven Affekten lebe, weshalb er sein Leben nicht selbst bestimme, sondern von äußeren Faktoren getrieben werde. 59 Auch im Theologisch-politischen Traktat bezeichnet Spinoza denjenigen als „servus“, „qui a sua voluptate ita trahitur, et nihil quod sibi utile est, videre neque agere potest“. Er wird dem freien Mann gegenübergestellt, „qui integro animo ex solo ductu Rationis vivit.“ 60 Weil ein Knecht nicht der Leitung der Vernunft folge, müsse er sein Leben durch bezahlte Dienste für einen anderen erhalten. Einem Knecht kommt deshalb in den im Politischen Traktat sorgfältig ausgearbeiteten Mitspracherechten von Bürgern gemäß den verschiedenen Staatsformen keinerlei Bürgerrecht und also auch keine Mitsprache zu, weil er nicht unter eigenem Recht stehe, d.h. nicht mündig sei. Sogar in Spinozas Demokratie haben daher nur all jene ein Bürgerrecht, die zum einen „solis legibus patriis tenentur“ (wodurch Ausländer ausgeschlossen werden), „et praeterea sui juris sunt, honesteque vivunt“. 61 Dieser Ausschluss der Knechte von Bürgerrechten ist aber keiner natürlichen Ungleichheit einer bestimmten Gruppe von Menschen geschuldet, sondern der individuellen Unfähigkeit, sich von der Vernunft steuern zu lassen. Auch im Politischen Traktat unterstreicht er: „At Natura una et communis omnium est.“ 62 Bemerkenswert ist, dass Spinoza auch gesellschaftliche Ursachen erkennt, warum das Volk, also die Knechte, der Vernunft ermangelten: gegen die allgemeine Verachtung des niederen Volkes gibt er zu bedenken: „quod plebi nulla veritas neque judicium sit, mirum
56 Dies kommt bereits im Untertitel des Werks zum Ausdruck: „Libertatem philosophandi non tantum salva pietate et reipublicae pace posse concedi; sed eandem, nisi cum pace reipublicae ipsaque pietate, tolli non posse.“ Siehe besonders Spinoza, Tratatus theologico-politicus, cap. 20. 57 https://slavevoyages.org/assessment/estimates (aufgesucht am 30.3.2021). 58 Spinoza an Peter Balling am 20. 7. 1664, Epistola xvii, in: Ders.: Opera (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 246–247. 59 Spinoza: Ethica (wie Anm. 31), S. 179 (IV, Praefatio). 60 Spinoza, Tratatus theologico-politicus, S. 126 (cap. 16). 61 Spinoza: Tractatus politicus, in: Ders.: Opera (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 344 (xi, § 3). 62 Ebd., S. 309 (vii, § 27).
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non est, quando praecipua imperii negotia clam ipsâ agitantur, et non nisi ex paucis, qui celari nequeunt, conjecturam fecit.“ 63 Allerdings schränkt Spinoza sein Plädoyer für einen Staat, der die natürliche Gleichheit des Naturzustandes am meisten bewahrt, hinsichtlich der Frauen ein. Frauen werden nicht nur, wie die Knechte, von einer politischen Mitsprache ausgeschlossen, weil sie nicht unter eigenem Recht stehen; 64 sie werden ausgeschlossen, weil sie von Natur aus ungleich seien. Dabei gebraucht Spinoza das Beispiel des Staates der Amazonen, das Hobbes anführte, um die natürliche Gleichheit der Frauen zu illustrieren, ausdrücklich in entgegengesetzter Intention. 65 Angesichts der seit den letzten Jahrzehnten wachsenden Begeisterung für den Demokraten Spinoza im Kontrast zum angeblichen Royalisten Hobbes, besonders in der jüngeren Forschung der USA, sei diese Einschränkung der natürlichen Gleichheit auf die Hälfte des Menschengeschlechts angemerkt, zumal Spinoza nur rein empirische Argumente anführt, was für den Rationalisten nichts als wahrscheinliche Erkenntnis sein konnte. In Hinblick auf die natürliche Gleichheit der verschiedenen Nationen und Ethnien allerdings ist Spinoza wieder ganz vorurteilsfrei. II. Die Empiristen Die englischen Empiristen John Locke und David Hume und mehr noch der in ihren erkenntnistheoretischen Fußstapfen folgende Edmund Burke scheinen schon in ihrem praktischen Handeln den von Chomsky erhobenen Verdacht gegen sie zu bestätigen: sie alle unterstützten auf die eine oder andere Weise den englischen Sklavenhandel bzw. die Sklaverei auf den Plantagen. Locke war von 1668 bis 1675 Sekretär der Vereinigung der Lord-Proprietors der britischen Kolonie Carolina und mindestens Mitautor der in deren Auftrag entworfenen Verfassung. Dieser Entwurf enthielt ausdrücklich das Recht eines jeden „freeman“ auf den Besitz von „Negro slaves of what opinion or religion whatsoever“. 66 1673 wurde er auch Secretary to the Council of Trade and Plantations, dem sein Mentor Lord Shaftesbury als Präsident vorstand. Nach der Glorious Revolution wurde Locke Commissioner of 63 Ebd., S. 310. 64 Ebd., S. 344-345 (xi, §§ 3-4). 65 „Sed contra Amazonae, quas olim regnasse fama proditum est, viros in patrio solo morari non patiebantur, sed foeminas tantummodo alebant, mares autem, quos pepererant, necabant. Quod si ex natura foeminae viris aequales essent, et animi fortitudine et ingenio, in quo maxime humana potentia, et consequenter jus consistit, aeque pollerent, sane inter tot tamque diversas nationes quaedam reperirentur, ubi uterque sexus pariter, et aliae ubi a foeminis viri regerentur, atque ita educarentur, ut ingenio minus possent: quod cum nullibi factum sit, affirmare omnino licet, foeminas ex natura non aequale cum viris habere jus, sed eas viris necessario cedere, atque adeo fieri non posse, ut uterque sexus pariter regat, et multo minus, ut viri a foeminis regantur.“ (Ebd., S. 345 (§ 4)). 66 The Fundamental Constitution of Carolina (1669), in John Locke: The Works, London 1823, Bd. 10, S. 196 (§ 110). Freemen waren definiert durch Landbesitz, der ihn von den Leetmen unterschied. Über diesen beiden Ständen standen ganz oben acht Lord Proprietors und darunter Landgraves and cassiques.
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Appeals und von 1696 bis 1701 war er „Mitglied (und führender Kopf)“ 67 des Board of Trade and Plantations, welches sowohl den britischen Sklavenhandel als auch die Sklaverei in den britischen Kolonien beaufsichtigte. Auch in den Jahren zwischen 1675 und 1682 blieb er den „Lord Proprietors of Carolina“ verbunden und war auch noch Mitautor der überarbeiteten Verfassung der Carolinas von 1682. 68 Locke gehörte damit in jenen letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, in denen der englische Sklavenhandel seinen Aufschwung nahm, zu den sechs einflussreichsten Männern des Königreichs. 69 David Hume diente von 1763 bis 1765 als Sekretär des britischen Botschafters, Lord Hertford in Frankreich und von 1765 bis 1767 als Undersecretary of State am Northern Department der britischen Regierung, welches auch für die Außenpolitik mit den britischen Kolonien zuständig war. Das ermöglichte es ihm 1766, in Zeiten des bereits entwickelten französischen Kolonialismus, Lord Hertford, zu empfehlen, Anteile an Sklavenplantagen zu erwerben; auch vermittelte er einen solchen Ankauf für einen Freund. 70 Edmund Burke aber setzte sich in den 1770er Jahren als Parlamentarier für die Interessen der britischen Plantagenbesitzer und Sklavenhändler ein. 71 Nur als in den 1780er Jahren der Sklavenhandel zunehmend in die Kritik der öffentlichen Meinung geriet und die Forderung nach dessen Abschaffung aufgrund von vielen Petitionen 1788 sogar im Parlament debattiert werden musste, argumentierte Burke kurzzeitig für die Abschaffung des Sklavenhandels, 72 aber nur, um schon 1792 dessen Fortsetzung auf unbestimmte Zeit zu fordern, unter dem Vorwand einer Regulierung und einer allmählichen Umstellung der Plantagenwirtschaft in den Kolonien 67 „Und wenn von 1680 bis 1700 etwa dreihunderttausend afrikanische Negersklaven in den englischen Kolonien Amerikas verkauft wurden, Locke war für einige Jahre dieses Zeitraums auch noch Mitglied und führender Kopf des Kommitees Seiner Majestät zur Förderung des Handels und zur Inspektion der Plantagen in Amerika und sonstwo, und das für ein Jahresgehalt von tausend Pfund.“ (Hermann Klenner: Mister Locke beginnt zu publizieren, oder das Ende der Revolution, in: John Locke: Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt. Sozialphilosophische Schriften, hg. von Hermann Klenner, Leipzig 1980, S. 295–340, hier S. 322). 68 Vgl. den aufschlussreichen und auf neue Quellen gestützten Artikel von David Armitage: John Locke, Carolina, and The Two Treatises of Government, in: Political Theory 32 (2004), H. 5, S. 602–627, besonders S. 610–615. 69 Martin Cohen: Philosophical Tales, Hoboken NJ 2008, S. 101. 70 Siehe Felix Waldmann: Further Letters of David Hume, Edinburgh 2014, S. 65–69. Waldmann sieht Hume klar als Rassisten an. 71 Benedict Der nennt Burke „one of the most eloquent members of parliament and avid supporters of the African merchants“. Siehe Ders.: Edmund Burke and Africa 1772-1792, in: Transactions of the Historical Society of Ghana 11 (1970), S. 9–26. In einer ersten Parlamentsdebatte, beginnend 1770, verteidigte er die Interessen und das Monopol der Proprietors der African Company of Merchants (Nachfolger der Royal African company) gegen den Vorwurf der freien Händler von London, Bristol und Liverpool gegen Korruption (ebd., S. 10–15). Er zeigte auf, dass Burke mit einigen Vertretern der Company befreundet war. Auch in einer Folgedebatte vertrat Burke wieder dieselben Interessen, obwohl er damit seine Wähler im Wahlkreis von Bristol düpierte (ebd., S. 16–18). 72 Burke sprach sich im Namen der Humanität gegen den Sklavenhandel aus (ebd., S. 19) und pries die Vertreter des Abolition movement.
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auf die existierenden Sklaven und ihren Nachwuchs. 73 Diesem Ziel diente auch sein Entwurf eines Negro Codes, der ganz zu Unrecht oftmals als ein Versuch zur Abschaffung des Sklavenhandels und zur Verbesserung der Situation der Sklaven gewertet wird. 74 1. Erkenntnistheorie Burke folgte in seiner nicht ausgearbeiteten Erkenntnistheorie ganz der von Locke und Hume, die er auch, neben Newton, als seine Autoritäten anführt. 75 In seiner Ästhetik begrenzt er die Kraft der menschlichen Erkenntnis auf die Sinne und auf empirisch Beobachtbares: The great chain of causes, which links one to another, even to the throne of God himself, can never be unravelled by any industry of ours. When we go but one step beyond the immediate sensible qualities of things, we go out of our depth. All we do after is but a faint struggle, that shows we are in an element which does not belong to us. 76
Ungeachtet dieser Selbstbeschränkung nimmt er es für gegeben an, dass „certain affections of the mind […] cause certain changes in the body“ und dass „certain powers and properties in bodies […] work a change in the mind.“ 77 Das seit dem 17. Jahrhundert vieldiskutierte Problem einer gegenseitigen Einwirkung von Körper und Geist erscheint ihm also nicht einmal als philosophisches Problem, vermutlich, weil er beide sehen oder fühlen kann. Er sieht seine Auffassung ausdrücklich in Nähe zu Newtons Position zur Schwerkraft, der zeigen wollte, wie diese wirkt,
73 Der schreibt, „by 1792, Burke abandoned completely his earlier support for abolition and took a stand which in fact ensured the continuance of the slave trade“ (ebd., S. 21). 74 Burke schrieb darin: „My plan […] supposes the continued existence of that commerce. […] It is not that my plan does not lead to the extinction of the slave trade; but it is through a very slow progress, the chief effect of which is to be operated in our own plantations, by rendering, in a length of time, all foreign supply unnecessary. […] I am fully convinced that the cause of humanity would be far more benefited by the continuance of the trade and servitude, regulated and reformed, than by the total destruction of both or either.“ (Edmund Burke: The Portable Edmund Burke, hg. von Isaac Kramnick, London 1999, S. 184–185) Nichtsdestotrotz ist der Herausgeber der Auffassung, „Burke opposed, on moral and religious grounds, the slave trade and slavery itself.“ (Ebd., S. 183). 75 Dem Lehrplan des Trinity College zufolge wurde Burke mit Lockes Philosophie bereits als Student bekannt. Siehe Ian Harris: Edmund Burke, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2020 Edition), URL = . Mit Hume war er sogar persönlich bekannt. Siehe Max Skjönsberg: The Hume-Burke connection examined, in: History of European Ideas, veröffentlicht online am 19.2.2021. 76 Edmund Burke: The Sublime and Beautiful, in: Ders.: On Taste. On the Sublime and Beautiful. Reflections on the French Revolution. A Letter from the Right Honorable Edmund Burke to a Noble Lord (= The Harvard Classics 24), New York 1965, S. 27–140, hier S. 103–104. 77 Ebd., S. 104.
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ohne ihre Ursache erklären zu wollen. 78 Burke war mit diesem erkenntnistheoretischen Ansatz von John Locke bereits als Student am Trinity College vertraut geworden. Locke hatte mit seiner empiristischen (keineswegs empirischen!) Erkenntnistheorie zuerst eine systematische Unterminierung der angeblich hoffärtigen Überschätzung der menschlichen Vernunft im Rationalismus unternommen. Er attackierte das Ziel der Rationalisten, eine Universalwissenschaft zu schaffen, die das gesamte Universum einer wissenschaftlichen Behandlung unterwerfen sollte, also der Anwendung der geometrischen Methode auch auf Bereiche der realen Welt nach dem Vorbild von Archimedes. Zwar könnten wir in der Mathematik und der Mechanik das Wesen der Gegenstände erkennen, da wir diese selbst konstruiert hätten; reale Gegenstände aber seien von Gott geschaffen und nur ihm sei deren Wesen bekannt. Wir könnten nur die Einwirkung der äußeren Dinge auf unsere Sinne beobachten, aus beobachtbaren Eigenschaften aber nicht auf deren Wesen schließen. 79 Locke begründet unseren Mangel an demonstrativer Erkenntnis damit, dass wir von realen Dingen aufgrund unserer Sinneswahrnehmungen zwar komplexe Ideen in unserer Seele bildeten, aber nicht wissen könnten, wie deren Teilideen zusammengehörten. Wir wüssten also nicht, ob sie tatsächlich eines wären und ob die beobachteten Eigenschaften ihnen notwendig zukämen. Wir hätten nur die Ideen der äußeren Erscheinungen, die er sekundäre Qualitäten der Dinge nennt. Unseren Mangel an Wesenserkenntnis hält Locke aber gar nicht für problematisch: Men have Reason to be well satisfied with what God hath thought fit for them, since he has given them […] Whatsoever is necessary for the Conveniences of Life, and Information of Vertue; and has put within the reach of their Discovery the comfortable Provision for this Life and the Way that leads to a better. How short soever their Knowledge may come of an universal, or perfect Comprehension of whatsoever is, it yet secures their great Concernements, that they have Light enough to lead them to the Knowledge of their Maker, and the sight of their own Duties. Men may find Matter sufficient to busy their Heads, and employ their Hands with Variety, Delight, and Satisfaction. 80
Locke beschränkt also unser Streben nach Erkenntnis jenseits von Mathematik auf Wahrscheinlichkeiten und verzichtet von vornherein darauf, „[to] not peremptorily , or intemperately require Demonstration, and demand Certainty, where Probability only is to be had“. 81 Anders als Galilei oder Descartes will er die Grenzen unserer Erkenntnis von vornherein nicht immer weiter rücken, sondern nur das Wissen erlangen, das praktische Bedeutung für unser Leben habe. 82 Lockes sogenannter Anti-Essentialismus gilt bis heute als Vorzug in den Wissenschaften gegenüber dem sich angeblich in metaphysischen Spekulationen verlierenden Rationalismus. Aber seine erklärte Selbstbeschränkung der Erkenntnis dient ihm dazu, alle die viel78 Ebd., S. 103. 79 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford/New York 1975, S. 464 (III, vi, § 40). 80 Ebd., S. 45 (I, i (= Introduction), § 5). 81 Ebd., S. 46 (§ 5). 82 Ebd., S. 46–47 (§ 6).
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diskutierten philosophischen und mechanischen Probleme der Kohäsion von Atomen zu Körpern, der Mitteilung der Bewegung durch Impuls oder die Möglichkeit eines Gedankens, Körper zu bewegen, schlicht für unerkennbar zu erklären. 83 Besonders das letzte, das Leib-Seele-Problem, war seit Descartes für Moral und Theologie brisant geworden, weil es direkt die Frage nach dem freien Willen des Menschen berührte. Die Auffassung, dass unsere Sinne uns nur einen Eindruck der Wechselwirkung unseres Körpers mit äußeren Körpern geben, ist durchaus auch die des Rationalismus. Schon Galilei schrieb in Il Saggiatore (1623), dass, wenn es keine Ohren, Zungen und Nasen gäbe, es auch keine Geräusche, Geschmäcke, und Gerüche geben könnte, die dann nichts als bloße Worte wären. 84 Was außer uns geschehe und worauf unsere Körper mit Sinneswahrnehmungen reagierten, seien bloße Bewegungen von Körpern, die sich durch Form und Größe und ihre Bewegungsmenge unterschieden. Allerdings erlaubten unsere Sinneswahrnehmungen dann eine Erkenntnis des Wesens der Dinge und ihres Zusammenwirkens, wenn sie mit der apriorischen Erkenntnis der Vernunft zusammengeführt würden. Wir könnten Definitionen aufstellen und aus ihnen Konsequenzen ziehen, die wir jeweils auf die empirisch erworbenen Kenntnisse unserer Sinne anwenden könnten. Auch der Locke eigentümliche Nominalismus, nach dem es die Arten der Dinge nicht objektiv gäbe, diese vielmehr von den Menschen geschaffen würden, wird von Rationalisten nicht vollständig abgelehnt. Auch Hobbes, Spinoza und Leibniz problematisieren Universalbegriffe, die wir Menschen aufgrund von wahrgenommenen Ähnlichkeiten von äußeren Dingen bildeten und daraus oft zu leichtfertig auf das Wesen dieser Dinge schlössen. Dennoch verteidigen sie alle eine Artenbestimmung auf der Grundlage objektiver Kriterien. Locke ist vor allem besessen von der Unmöglichkeit einer Bestimmung des Wesens des Menschen, da wir allein auf die Beobachtung von konstanten beobachtbaren Eigenschaften angewiesen seien: „[…] ingenuous observation puts it past doubt, that the Idea in our Minds, of which the Sound Man in our Mouths is the Sign, is nothing else but of an animal of such a certain Form“. 85 Der Körper in seiner Gestalt sei unseren Sinnen wahrnehmbar und könne daher als Kriterium dienen: „whoever should see a Creature of his own Shape and Make, though it had no more reason all its Life, than a Cat or a Parrot, would call him still a Man“. Umgekehrt führt Locke auf zwei vollen Seiten den Bericht William Temples an, den dieser wiederum von Johann Moritz, Fürst zu Nassau und von 1636 bis 1644 Gouverneur, Kapitän und Ober-Admiral Niederländisch-Brasiliens, 86 erhalten hatte 83 84 85 86
Ebd., S. 295–317 (II, xxiii). Galileo Galilei: Le opere. Edizione nazionale, Florenz 1890–1909, Bd. 6, S. 347–352. Locke: Essay (wie Anm. 79), S. 333 (II, xxvii, § 8). https://www.deutsche-biographie.de/sfz37524.html (eingesehen am 11.4.2021). Der für seine militärische Exzellenz, gute Administration der Kolonie und sein wissenschaftliches Interesse berühmte Fürst hat als eine seiner ersten Amtshandlungen als Governeur neun Schiffe mit 1200 Soldaten an die afrikanische Westküste entsandt und dort die erste portugiesische Festung S. Jorge de Mina erobert, die zunächst dem Handel mit Elfenbein, Gold, Pfeffer und Zucker, aber zunehmend auch mit Sklaven diente.
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– über einen vernünftig sprechenden Papageien. 87 Dieser Papagei, der also zur Gattung der vernunftbegabten Tiere gehöre, aber kein Mensch sei, dient Locke als Evidenz nicht nur dafür, dass die Vernunft keine spezifische Differenz des Menschen gegenüber anderen Tieren sei, sondern vor allem dafür, dass der Körper für die Bestimmung eines Menschen ausschlaggebend sei und kein „immaterial Spirit“: „For I presume ‘tis not the Idea of a thinking or rational Being alone, that makes the Idea of a Man in most Peoples sense; but of a Body so and so shaped joined to it.“ 88 Da Locke aber die Person definiert als „thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self“, 89 müsste er auch dem vernünftig sprechenden Papageien den Status einer Person zusprechen. Aber theoretische Kohärenz war nicht Lockes Sache. Das Problem der Artbestimmung eines Individuums ist bei Locke natürlich nicht auf Menschen beschränkt, denn wir seien immer auf die Zeugnisse unserer Sinne angewiesen und ordneten die Dinge nach unserem Dafürhalten in Arten ein. 90 Dabei hätten wir alle unterschiedliche Erfahrungen mit den Dingen und auch unterschiedliche Interessen, sie zu erkennen und zu nutzen, weshalb „the ranking of Things into Species“ nichts sei als „sorting them under several Titles“. 91 Jedoch im Fall des Menschen wirft die Artenbestimmung große moralische Fragen auf, die mit der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung eines anderen Individuums als Mensch zusammenhängen. So schreibt Locke: There are Creatures in the World, that have shapes like ours, but are hairy, and want Language, and Reason. There are Naturals, amongst us, that have perfectly our shape, but want Reason, and some of them Language too. There are Creatures, as ‘tis said […] that with Language, and Reason, and a shape in other Things agreeing with ours, have hairy Tails; others where the Males have no Beards, and others where the Females have. 92
Er wirft die Frage auf, ob diese denn alle Menschen seien, hält aber eine Antwort für unmöglich, wenn man sich nur an das innere Wesen dieser Individuen halten müsste. Zwar genüge die körperliche Gestalt nicht zur Bestimmung eines Menschen, aber wenn wir ein Fehlen von Vernunft und Sprache beobachteten, sollten wir einen Idioten und einen Menschen in unterschiedliche Arten einordnen: „T’would possibly be thought a bold Paradox, if not a very dangerous Falshood, if I should say, that some Changelings, who have lived forty years together, without any appearance of Reason, are something between a Man and a Beast.“ 93 Diese Wechselbälge sollten einfach „changelings“ genannt werden statt Menschen und als eine besondere Art betrachtet werden. Einwände hinsichtlich des Seelenheils solcher „changelings“ will Locke dem Schöpfer überlassen. Solange wir keinen Zu-
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Locke, Essay (wie Anm. 79), S. 333–334 (II, xxvii, § 8). Ebd., S. 335. Ebd., (§ 9). Ebd., S. 433–434 (III, v, § 9). Siehe auch S. 443–444 (III, vi, § 8). Ebd., S. 448 (III, vi, § 13). Ebd., S. 450 (IV, iv, § 22). Ebd., S. 569 (IV, iv, § 13).
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gang zum Wesen von Individuen haben, sondern auf unsere Wahrnehmung der äußeren Gestalt und der sichtbaren Anzeichen von Vernunft angewiesen sind, „we talk at random of Man“. 94 Niemand werde leugnen, dass „the Wheels, or Springs“ in einem vernünftigen Menschen und einem „Changeling“ so verschieden seien wie die „in the frame between the Drill and the Changeling“. 95 Solche Einteilung von „Changelings“ als eine von Menschen unterschiedene Species gelte auch dann, wenn beide hinsichtlich ihrer Fortpflanzung zur selben Familie gehörten. 96 Der Empirist (aber nicht der empirische Forscher) Locke bringt auch sogleich Beispiele von Frauen, die von „Drills“ geschwängert worden wären, von anderen artübergreifenden Kreuzungen, und natürlich auch von Missbildungen. Bei diesen bestand oftmals die theologische Frage, ob sie getauft werden dürften. 97 Nicht ohne Genugtuung beschließt Locke seine lange Beispielsammlung vom Hörensagen: „so far are we from certainly knowing what a Man is“. 98 Die Definition des Menschen als animal rationale sei also überschätzt, da wir es sind, die die Arten selber festlegten, gemäß unserer Einsicht und unseren Kriterien. So würden Kinder das Gold an der glänzenden gelben Farbe ausmachen, andere fügten Schwere und Schmelzbarkeit hinzu; alle diese Ideen trügen zur Beschreibung des Goldes als solches bei, ohne dass wir das Wesen des Golds und den notwendigen Zusammenhang all dieser Eigenschaften erkennen könnten. Auch die Tiere könnten wir nur gemäß unserer Sichtweise nach den uns relevanten Kriterien in Arten einteilen; wir könnten also einen Pudel und einen Jagdhund ebenso in eine Art einordnen wie einen Elefanten und einen Spaniel. 99 Sodann spekuliert Locke am Beispiel eines Kindes, wie es sich aufgrund seiner beschränkten Erfahrungen eine Idee des Menschen bilde: „it is probable, that his Idea is just like that Picture, which the Painter makes of the visible Appearances joyned together“. 100 Diese im Kopf des Kindes sich zu einer komplexen Idee des Menschen zusammensetzenden Ideen sichtbarer Eigenschaften würden ein Kind in England, wo die weiße Farbe zu diesen gehöre, zur komplexen Idee vom Menschen als einem Weißen führen. Aus dieser seiner komplexen Idee „the Child could demonstrate to you, that a Negro is not a Man”. 101 Ebenso könnte man diesem Kind nicht beweisen, dass ein Mensch eine Seele habe, da seine komplexe Idee vom Menschen diese Idee nicht einschließe. Diese Spekulation beweist natürlich noch keinen ausdrücklichen Rassismus Lockes. Jedoch bemerkt Harry M. Bracken völlig zu Recht: If Locke would reject the child’s view, he could not do it in any principled way. He gives us no guide lines for deciding whether a negro is a man or whether the progeny of [man] drills and
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Ebd., S. 572 (IV,iv, § 16). Ebd., S. 464 (III, vi, § 39). Ebd., S. 451 (III, vi, § 23). Ebd., S. 451–456 (III, vi, §§ 23–27). Ebd., S. 455 (§ 27). Ebd., S. 463 (§ 38). Ebd., S. 607 (IV, vii, § 16; meine Hervorhebung – UG). Ebd.
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Ursula Goldenbaum women (Essay III, vi, § 23) are men beyond the similar sorts of decisions we make about gold. 102
Lockes antiessentialistische Erkenntnistheorie bietet tatsächlich die Möglichkeit einer rassistischen Auffassung vom Menschen. Da uns das Wesen der Dinge unerkennbar bleibe, müssen wir uns auf die von unseren Sinnen wahrgenommenen äußeren, also vor allem körperlichen Merkmale stützen. Wir haben keine objektiven Kriterien für die Einteilung der Arten, sondern schaffen diese selbst, gemäß unserer Einsicht und unserem Interesse. Auch Lockes Berufung auf „the great chain of being“ dient der Verwischung des Unterschieds zwischen den Arten und insbesondere dem zwischen Mensch und Tier: That in all the visible corporeal World, we see no Chasms, nor Gaps. All quite down from us, the descent is by easy steps, and a continued series of Things, that in each remove, differ very little one from the other. There are Fishes that have Wings, and are not Strangers to the airy Region […] Amphibious Animals link the Terrestrial and Aquatique together […] There are some Brutes, that seem to have as much Knowledge and Reason, as some that are called Men […] and so on till we come to the lowest and the most inorganical parts of matter, we shall find every-where, that the several Species are linked together, and differ but in almost insensible degrees. 103
Diese „great chain of being“ 104 steht ganz in der Tradition der aristotelischen Schulphilosophie. Sie dient Locke nicht nur zur Abwehr objektiver Kriterien der Artbestimmung, sondern auch dem Aufzeigen der Wahrscheinlichkeit intelligenter Geister, die es auf dieser Stufenleiter zwischen dem menschlichen Geist und dem unendlichen Verstand Gottes geben muss. David Hume übernimmt grundsätzlich Lockes empiristische Erkenntnistheorie, wonach unsere Erkenntnis von realen Dingen in der Natur allein aus der Erfahrung entspringe und keine apriorische Erkenntnis möglich sei. Entsprechend ist ihm der Unterschied zwischen der „Vernunft der Tiere“ und der der Menschen nur graduell. Er prägt den noch heute in der anglo-amerikanischen Philosophie relevanten Begriff des „bundle“ von Perzeptionen, wonach wir nichts als eine Ansammlung von Perzeptionen seien, und zugleich äußere von uns wahrgenommene Gegenstände nichts als Bündel unserer verschiedenen Perzeptionen von ihnen seien. 105 Hume gibt damit den von Locke noch vorausgesetzten Begriff einer objektiv existierenden (uns allerdings unerkennbaren) Substanz der äußeren Dinge auf. Während Locke 102 Harry M. Bracken: Philosophy and Racism, in: Ders.: Mind and Language (wie Anm. 11), S. 51–66, hier S. 55. 103 Locke: Essay (wie Anm. 79), S. 446–447 (III, vi, § 12). 104 Lovejoy berichtet über die Verbreitung dieser Idee in England zu Lockes Zeit, scheint aber wenig Unterschiede zwischen dieser Auffassung und der davon radikal verschiedenen von Leibniz zu sehen. Siehe Lovejoy: Great Chain of Being (wie Anm. 7), S. 184. 105 „I am willing to affirm of the rest of mankind that each of us is nothing but a bundle or collection of different perceptions that follow each other enormously quickly and are in a perpetual flux and movement.“ (David Hume: Treatise of Human Nature (1739), I. iv. vi, zitiert nach: https://www.earlymoderntexts.com/assets/pdfs/hume1739book1_4.pdf; Copyright Jonathan Bennett 2017; aufgerufen am 29.4.2021).
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neben der Mathematik auch noch die Moral und Theologie für fähig hielt, Beweise für ihre Sätze zu erbringen, entwickelt Hume die aus dem Empirismus und seiner Leugnung notwendiger Wahrheiten jenseits der Mathematik folgenden skeptischen Konsequenzen. 106 Insbesondere bestreitet Hume eine uns erkennbare Kausalität und damit die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen aus ihren Ursachen. Alles, was wir hinsichtlich einer Ursache und ihrer Wirkungen erkennen könnten, sei die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen, vor allem wenn wir an zeitliche Aufeinanderfolge gewohnt sind. Hume gibt auch den von Locke festgehaltenen „Freien Willen“ als in sich logisch widersprüchlich auf. Er räumt einerseits ein: It is universally allowed, that matter, in all its operations, is actuated by a necessary force, and that every natural effect is so precisely determined by the energy of the cause, that no other effect, in such particular circumstances, could possibly have resulted from it. 107
Auch unsere Wollungen entstünden nicht ohne Beweggründe und man könne keine Geschichte schreiben, ohne solche Regelmäßigkeit zwischen gleichen Beweggründen und gleichen Wollungen. 108 Aber auch hier gelte, dass wir solche Regelmäßigkeiten nur als wahrscheinlich erkennen können und daher warnt er: „We must not, however, expect, that this uniformity of human actions should be carried to such a length, as that all men, in the same circumstances, will always act precisely in the same manner.“ 109 2. Politische Theorie Die politische Theorie John Lockes, des Vaters des englischen Empirismus, knüpft zunächst an die von Thomas Hobbes und Spinoza an, wenn er im ersten Paragraphen (nach der Einleitung) der Zweiten Abhandlung über die Regierung schreibt, „what State all Men are naturally in, and that is, a State of perfect Freedom to order their Actions, and dispose of their Possessions, and Persons as they think fit, within the bounds of the Law of Nature, without asking leave, or depending upon the Will of any other Man“. 110 Locke postuliert eine ursprüngliche natürliche Gleichheit aller Menschen, bestimmt diese Gleichheit aber sogleich näher als eine des gleichen Besitzes: A State also of Equality, wherein all the Power and Jurisdiction is reciprocal, no one having more than another: there being nothing more evident, than that Creatures of the same species and rank promiscuously born to all the same advantages of Nature, and the use of the same 106 David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding, in: Ders.: Essays, Moral, Political, and Literary, hg. von T. H. Green und T. H. Grose, 2 Bde., Reprint of the new ed. London 1882, Aalen 1992, Bd. 2, 122–135. 107 Ebd., S. 67. 108 Ebd., S. 106. 109 Ebd., S. 70. 110 John Locke: Two Treatises of Government, hg. von Peter Laslett, London/New York 1967, S. 287 (II, ii, § 4).
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Ursula Goldenbaum faculties, should also be equal one amongst another without Subordination or Subjection, unless the Lord and Master of them all, should by any manifest Declaration of his Will set one above another, and confer on him by an evident and clear appointment an undoubted Right on Dominion and Sovereignty. 111
Die Ungleichheit hält jedoch rasch Einzug schon in Lockes Naturzustand. Da jeder Eigentümer, der bestohlen werde, schon im Naturzustand das Recht auf Bestrafung und Entschädigung habe, könne ein Mensch Macht über einen anderen erwerben, wenn dieser seine Rechte verletzt habe; er darf ihn in einem gerechten Krieg zu seiner eigenen Verteidigung unterwerfen und ihn sogar töten oder aber – zum Sklaven machen. 112 Wie bei Hobbes bleibt der Unterworfene solange im Kriegszustand (und kann als Unterworfener jederzeit getötet werden), bis es zu einem Vertrag zwischen beiden komme, wodurch der Zustand der Sklaverei durch den der Knechtschaft ersetzt werde. Solche Ungleichheit vertrage sich jedoch mit der Gleichheit auf das „gleiche Recht, das jeder Mensch auf seine natürliche Freiheit hat, ohne dem Willen oder der Autorität irgendeines anderen Menschen unterworfen zu sein“. Dies wird zunächst am Status unselbständiger Kinder erläutert, die den Eltern Ehrerbietung schulden. Auch Frauen seien der Herrschaft des Mannes unterworfen wegen ihres von Natur aus geringerem Verstandes und Willens; ausgenommen davon seien vertraglich geregelte Besitzrechte, 113 die für Locke auch bereits im Naturzustand gelten. Die ursprüngliche Gleichheit des Naturzustandes wird schließlich in die prähistorische Zeit verlegt, wenn Locke feststellt, die Bezeichnungen „Master“ und „Servant“ seien „as old as History“. 114 Locke unterscheidet – ganz wie Hobbes – Knechtschaft als temporäres bezahltes Lohnverhältnis von eigentlicher Sklaverei. „Slaves“, die in einem gerechten Krieg Unterworfenen, hätten ihr Leben verwirkt und unterstünden der völligen Willkür ihrer Herren. Sie könnten kein Eigentum besitzen und, so Lockes messerscharfer Schluss, deshalb nicht als Teil der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden, denn „the chief end whereof is the preservation of Property“. 115 Zum Vergleich: der Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft bei Hobbes ist die Sicherheit des Lebens der Bürger, bei Spinoza ist es die Freiheit! Es ist diese Fokussierung auf das Eigentum als ein Naturrecht der Menschen, „to […] dispose of their Possessions, and Persons as they think fit, within the bounds of the Law of Nature, without asking leave, or depending upon the Will of any other Man“, 116 die sich durch die politischen Auffassungen der englischen Empiristen zieht und sich über Hume zu Burke noch verstärken wird. 117
111 Ebd. 112 Ebd., S. 289–291 (§§ 6 und 8) sowie S. 340–341 (vii, § 85); S. 400–401 (xv, § 172) und S. 407 (xvi, § 181). 113 Ebd., S. 339–340 (vii, § 82). 114 Ebd., S. 340–341 (vii, §85). 115 Ebd., S. 341. 116 Ebd., S. 287 (ii, § 4). 117 Valls’ Band enthält keinen Beitrag zu Burke, der zu Hume ist von Valls selbst, einem HumeSpezialisten, geschrieben, der zu Locke aber von zwei PhilosophInnen, die keine Lockefor-
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David Hume behandelt den Naturzustand der Menschen nur noch als Hypothese über eine graue Urzeit, erkennt aber noch eine ursprüngliche Gleichheit aller an: When we consider how nearly equal all men are in their bodily force, and even in their mental powers and faculties, till cultivated by education; we must necessarily allow, that nothing but their own consent could, at first, associate them together, and subject them to any authority. 118
In einem früheren Essay aber setzt er einfach, dass der Mensch in eine Familie geboren werde und erst „in his farther progress, is engaged to establish political society, in order to administer justice; without which there can be no peace among them, nor safety, nor mutual intercourse“. 119 Gerechtigkeit aber ist für Hume zuallererst, dass niemand das Eigentum anderer begehre, 120 und der Zweck der Regierung besteht ihm vor allem anderen in der Sicherung des Eigentums. 121 Er polemisiert gegen die metaphysischen Spekulationen seiner Zeitgenossen, wonach die Menschen nicht nur in irgendeinem prähistorischen Naturzustand, sondern in gegenwärtig existierenden Staaten stillschweigend einen Vertrag mit der Regierung geschlossen hätten, weshalb die Regierung ihrer Zustimmung auch fürderhin bedürfte. Das Volk solle vielmehr jede Herrschaft respektieren, da „the commerce and intercourse of mankind, which are of such mighty advantage, can have no security where men pay no regard to their engagements“. 122 Tatsächlich sei niemals ein Staat durch Vertrag und gegenseitige freiwillige Zustimmung errichtet worden; sie alle seien das Produkt von Usurpation und Gewalt. 123 Später verliert sich der Begriff des gesellschaftsstiftenden Vertrags im Naturzustand noch mehr und der Empirist Hume spekuliert recht frei, ohne Verweis auf bestimmte historische Quellen, dass erste Regierungen vermutlich von Anführern im Kriege gebildet wurden, die aufgrund der ihnen geschuldeten Achtung „allmählich“ auch im Frieden Herrschaft ausgeübt und Gehorsam verlangt hätten, „by the consent, tacit or express, of the people“. 124 Dadurch hätten Ordnung und Gerechtigkeit gegen die Streitigkeiten durchgesetzt werden können, die aus dem Eigennutz der Menschen, der notwendig in ihrer Natur liege, folgten. Bei guter Regierung wären dann „allmählich“ auch deren Söhne als Nachfolger anerkannt worden. Mit der
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scherInnen oder PhilosophiehistorikerInnen sind, sondern vor allem zu Rassismus, zur Genderproblematik und postkolonialen Philosophie arbeiten: Robert Bernasconi und Anika Maaza Mann [inzwischen: Simpson]: The Contradiction of Racism: Locke, Slavery, and the Two Treatises, in: Valls, Race (wie Anm. 13), S. 89–107. Ich teile ihre Darstellung Lockes als eines Rassisten, finde es jedoch bedauerlich, dass sie den Essay concerning Human Understanding nicht in den Blick nehmen, in dem Locke den Grund für seinen latenten Rassismus legt. David Hume: Of the Original Contract, in: Ders.: Essays (wie Anm. 106), Bd. 1, S. 444–445. David Hume: Of the Origin of Government, in: Ebd., S. 113. Siehe Hume: Original Contract (wie Anm. 118), S. 450. „As the obligation to justice is founded entirely on the interests of society, which require mutual abstinence from property, in order to preserve peace among mankind.“ (David Hume: Of Passive Obedience, in: Ders.: Essays (wie Anm. 106), Bd. 1, S. 461). Hume: Original Contract (wie Anm. 118), S. 455–456. Ebd., S. 447. Hume: Origin of Government (wie Anm. 119), S. 115.
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dann auch „allmählich“ erfolgenden Versorgung der Regierung mit einem Einkommen habe sie Organe schaffen können, mit deren Hilfe Widerspenstige bestraft werden konnten, so dass „submission was no longer a matter of choice in the bulk of the community, but was rigorously exacted by the authority of the supreme magistrate“. 125 Jede Regierung aber, selbst eine despotische sei besser als gar keine eigentumssichernde Ordnung, auch wenn die freiwillige Zustimmung, „where it has place“, sei „surely the best and most sacred of any“. 126 Nationale Unterschiede entstünden nicht aufgrund physischer Ursachen wie Klima, widerspricht Hume den französischen Materialisten, sondern seien allein moralischen Ursachen geschuldet wie z.B. den staatlichen Gesetzen, dem Charakter der Regierungen und der moralischen Integrität der Führer. Allerdings hat Hume in einer späteren Ausgabe im Jahr 1753 eine Fußnote hinzugefügt (noch einmal redigiert in einer weiteren Ausgabe), die dieser These zu widersprechen scheint, in dem er hier physische Ursachen für die Verschiedenheit der Nationen anerkennt, nämlich biologisch unterschiedliche Menschenrassen: I am apt to suspect the negroes, and in general all the other species of men (for there are four or five different kinds) to be naturally inferior to the whites. There never was a civilized nation of any other complexion than white, nor even any individual eminent either in action or speculation. No ingenious manufactures amongst them, no arts, no sciences. On the other hand, the most rude and barbarous of the whites, such as the ancient Germans, the present Tartars, have still something eminent about them, in their valour, form of government, or some other particular. 127
Dem Historiker Hume, der sich doch allein auf empirische Fakten verlassen will, sind jene Tatsachen offenbar nicht bekannt geworden, die zur Zeit der ägyptischen oder chinesischen Hochkultur, oder der arabischen Blüte der Wissenschaft von dem niedrigen Niveau der Engländer und Schotten Zeugnis gaben. Daher zieht er seinen induktiven Schluss: „Such a uniform and constant difference could not happen in so many countries and ages, if nature had not made an original distinction betwixt these breeds of men.“ 128 Hume, der zwischen der Intelligenz von Tieren und Menschen nur graduelle Unterschiede sehen will, weiß ganz genau, dass Schwarze den Weißen unterlegen sind. Ein besonders „schlagendes“ Argument entnimmt Hume seiner angeblichen empirischen „Beobachtung“ von „Negroe slaves“ in Europa, 129 „of which none ever discovered any symptoms of ingenuity; tho‘ low people, without education, will start up amongst us, and distinguish themselves in every profession“. Offensichtlich 125 Ebd., S. 116. 126 Hume: Original Contract (wie Anm. 118), S. 450. 127 David Hume: Of National Characters, in: Ders.: Essays (wie Anm. 106), Bd. 1, S. 252, Fußnote 1. 128 Ebd. 129 Valls wählt als Titel seines Hume-Beitrags die sarkastische Charakterisierung Humes durch Popkin, der diesen einen „lousy empirical scientist“ nannte (Richard Popkin: Hume’s Racism Reconsidered, in: Ders.: The Third Force in Seventeenth Century Thought, Leiden 1992, S. 72). Siehe Andrew Valls: A Lousy Empirical Scientist, in: Ders.: Race (wie Anm. 13), S. 127–149, hier S. 127.
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hat sich der Empirist Hume nicht für die in England und Schottland durchaus öffentlich bekannten exemplarischen Fälle von Afrikanern in Europa interessiert: z.B. für Ignatio Sancho und Phillis Wheatley Peters, die in England seit der Mitte des Jahrhunderts einige Berühmtheit erlangten, oder für Anton Wilhelm Amo, 130 dem von 1734 bis 1748 an den deutschen Universitäten in Wittenberg, Halle und Jena lehrenden Philosophen. 131 Sie alle und zunehmend mehr Afrikaner hatten sich trotz der unmenschlichen Bedingungen ihrer (oder ihrer Eltern) Verschleppung und Unterdrückung unter den neuen Bedingungen nicht nur zurechtgefunden, sondern durchaus Beachtliches geleistet, in Philosophie, Poesie, im Recht und in der Mathematik. Dass der Empirist Hume keineswegs empirisch vorging, also zu seiner Urteilsbildung nicht durch systematische Beobachtung festgestellte Fakten heranzog, sondern vielmehr auf die Ideologie seiner Standesgenossen setzte, zeigt die Fortsetzung seiner Fußnote, die den Fall eines berühmt gewordenen Schwarzen auf Jamaica anspricht. Er scheint nie etwas anderes von diesem auf Jamaica geborenen freien Schwarzen, Francis Williams, 132 gehört zu haben als das, was auch der britische Plantagenbesitzer Edward Long, Sklavenbesitzer, kolonialer Administrator und Verteidiger der Sklaverei, in seinem Buch über die Geschichte Jamaicas schreibt.133 Hume hatte ganz offenbar auch von diesem Williams gehört und urteilt: „In Jamaica indeed they talk of one negroe as a man of parts and learning; but ‘tis likely he is admired for very slender accomplishments, like a parrot, who speaks a few words plainly.“ 134 So viel zur wissenschaftlichen Überlegenheit des Empiristen aufgrund seiner Orientierung auf die Erfahrung statt auf Spekulation! In einer späteren, redigierten Version reduzierte Hume seinen Rassismus ausschließlich auf Afroamerikaner, was nicht nur zeigt, dass diese Fußnote keine beiläufige, sondern eine mehrfach bedachte Fußnote war, sondern auch, was ihm vor allem unverzichtbar war – die Unterlegenheit der Schwarzen gegenüber den Weißen. 135 Angesichts dessen kann ich nicht nachvollziehen, wie Valls – auch noch zögerlich – Humes Rassismus einräumen kann, aber doch glauben möchte, dass Humes Philosophie davon nicht infiziert worden sei. 136 130 Siehe Burchard Brentjes: Anton Wilhelm Amo. Der schwarze Philosoph in Halle, Leipzig 1976; vgl. neuerdings auch Justin Smith: Nature, Human Nature, and Human Difference. Race in Early Modern Philosophy, Princeton/Oxford 2015, S. 207–230 (8. Kap.). 131 https://en.wikipedia.org/wiki/Ignatius_Sancho; https://en.wikipedia.org/wiki/Phillis_Wheatley. 132 https://www.vam.ac.uk/articles/francis-williams-a-portrait-of-a-writer; Williams war in einer Familie aus freien Schwarzen geboren; die Ursachen für ihren Ausnahmestatus scheinen heute unbekannt. Er was nicht nur gebildet und schrieb Poesie. Er studierte sogar Rechtswissenschaft in Europa. 133 Edward Long: The History of Jamaica: Or, General Survey of the Ancient and Modern State of that Island; with Reflections on Its Situation, Settlements, Inhabitants, Climate, Products, Commerce, Laws, and Government, London 1774; über Longs Herabwürdigung von Williams siehe Gretchen Gerzina: Black England, London 1995, S. 40–41. 134 Hume: Of National Characters (wie Anm. 127), S. 252, Fußnote 1. 135 Siehe Valls: Lousy Empirical Scientist (wie Anm. 129), S. 132–135. 136 Ebd., S. 135–144.
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Edmund Burke bricht dann bereits vollständig mit der „political metaphysics“ des Naturrechts und einer angeblichen Gleichheit der Rechte aller Menschen. Zwar räumt er „real rights of men“ ein, diese aber hätten nichts mit „abstrakten“ metaphysischen Rechten gleicher Menschen zu tun: In denying their false claims of right, I do not mean to injure those which are real, and are such as their pretended rights would totally destroy. If civil society be made for the advantage of man, all the advantages for which it is made become his right. […] They have a right to the fruits of their industry; and to the means of making their industry fruitful. They have a right to the acquisitions of their parents; to the nourishment and improvement of their offspring; to instruction in life, and to consolations in death. 137
In der politischen Gesellschaft „all men have equal rights; but not to equal things. He that has but five shillings in the partnership, has as good a right to it, as he that has five hundred pounds has to the longer proportion“. Ein Anteil an politischer Mitbestimmung könne keineswegs aus „direct original rights of man“, d.h. aus dem Naturrecht abgeleitet werden, sondern entstehe allein „by convention“ und sei entsprechend weltweit und zu allen historischen Zeiten unterschiedlich, ohne dass das an einem objektiven Maßstab kritisiert werden könnte. 138 So sieht Burke auch die Sklaverei schlicht als historisch gegebenes, in gewisser Weise bedauerliches Faktum, verteidigt sie aber im Interesse der britischen sklavenhaltenden und -handelnden Plantagenbesitzer und Händler. 139 Es ist nicht so, dass er die Sklaverei an sich für etwas Gutes hält, denn er sieht das Bewusstsein der Sklavenbesitzer für ihre eigene Freiheit sogar dadurch gestärkt, dass sie die Bedingungen der Sklaverei aus eigener Anschauung kennen. Diese geradezu zynische Haltung zeigt sich erst recht in seinen Gründen für die im selben Text ausgesprochene Warnung davor, die Sklaverei abzuschaffen. 140 Zum einen behauptet er, die Sklaven seien ihren Besitzern oftmals in großer Zuneigung verbunden, zum anderen aber warnt er seine Landsleute, dass eine Befreiung der Sklaven auch zu einer Befreiung der Sklavenhalter in den Kolonien von – Großbritannien führen könne. D.h., er verteidigt die Interessen der Plantagenbesitzer an der Sklaverei gegen die Abolitionisten in Großbritannien, die die Sklaverei im Namen der Menschlichkeit angriffen. Zwar seien die Sklaven in der Tat unglücklich, aber auch „dull“, welches Wort alles von abgestumpft, unempfindlich für ihre Qualen, oder gar stumpfsinnig meinen kann; aber – so würden Menschen nun mal durch die Sklaverei. Ungeachtet solcher klaren Zeugnisse seiner Komplizenschaft mit den Sklavenhaltern und -händlern ist Burke noch heute, allerdings nicht mehr unumstritten, gepriesen als ein Vorreiter der Abschaffung der Sklaverei, 141 und zwar allein aufgrund 137 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France, hg. von James Harold Boardman, London 1912, S. 51. 138 Ebd., S. 52 139 Siehe Daniel I. O’Neill: Edmund Burke on Slavery and Slave Trade: a response to Gregory M. Collins, in: Slavery and Abolition 41, H. 4, S. 816–827, (online veröffentlicht am 26.11.2020). 140 Siehe The Works of the Right Honourable Edmund Burke, London 1857, Bd. 2, S. 99, 124, und 135. 141 Siehe u.a. die Einleitung von Isaac Kramnick zu The Portable Burke (wie Anm. 74), S. 183; Jesse Norman: Edmund Burke: Philosopher, Politician, Prophet, London 2013.
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eines von ihm nicht veröffentlichten Negro Codes zur „Abmilderung des Sklavenhandels“ und der Bedingungen der Sklaverei, den er allerdings auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte zur Abschaffung des Sklavenhandels durch Großbritannien verfasst hat. 142 Eine graduelle Abschaffung der Sklaverei, für die er sich einsetzte, kam in jenen Jahren aber ihrer tatsächlichen Fortsetzung gleich. Der pragmatische Politiker Burke hat im Parlament seine Ziele immer den machtpolitischen Gegebenheiten und dem öffentlichen Diskurs angepasst, um seine Ziele zu verfolgen; theoretische Konsistenz war nicht seine Sache. Diese Ziele waren in den 1770er Jahren die Verteidigung der Interessen monopolhaltender britischer Sklavenhändler gegen die freien Sklavenhändler und 1788-1791 die der sklavenhaltenden Plantagenbesitzer in den britischen Kolonien gegen die Abolitionisten. Burkes Überzeugung von einer Ungleichheit von Frauen kommt vor allem in seiner Ästhetik zum Ausdruck. Dort spricht er ihnen zwar die größere Schönheit zu, aber, gegen Francis Hutcheson oder Anthony Ashley Cooper Shaftesbury, Earl of Shaftesbury (des Enkels von Lockes Mentor), nicht aufgrund von objektiv schöneren Proportionen, größerem Nutzen oder größeren Vollkommenheiten. Diese fänden sich vielmehr bei Männern. 143 Frauen aber seien schön gerade aufgrund ihrer „weakness and imperfection“. 144 Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis seiner Frauenverachtung, aber wohl auch seiner erotischen Erwartungen gegenüber dem anderen Geschlecht findet sich in dem von ihm beobachteten, angeblich empirischen Faktum: Women are very sensible of this; for which reason, they learn to lisp, to trotter their walk, to counterfeit weakness, and even sickness. In all that they are guided by nature. Beauty in distress is much the most affecting beauty. Blushing has little less power; and modesty in general, which is a tacit allowance of imperfection, is itself considered as an amiable quality, and certainly heightens every other that is so. 145
Mehr noch, Schönheit für Burke ist vor allem „some quality in bodies acting mechanically upon the human [rather: the male] mind by the intervention of the senses“. 146 Solche schönen Körper seien klein, niedlich, glatt, zart, und ohne Ecken und Kanten. 147 Der solcherart den Frauen und weiterhin allem „weiblich“ Schwachen zugesprochenen Schönheit stellt Burke bekanntlich den Begriff des Erhabenen entgegen, der mit männlicher Macht und Vollkommenheit verbunden sei und mit der Bewunderung zugleich Schrecken errege, also nicht Liebe erzeuge, sondern männliche Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit. 148 Diese lächerliche Sicht Burkes gilt nicht nur in der angloamerikanischen Ästhetik noch immer als grundlegende Einsicht in das Verhältnis von Schönem und Erhabenem. Allerdings beruht sie keineswegs – wie von ihm behauptet – auf empirischen Fakten, selbst nicht in 142 143 144 145 146 147 148
Siehe Edmund Burke: The Negro Code, in: The Portable Burke (wie Anm. 74), S. 183–194. Burke: The Sublime and Beautiful (wie Anm. 76), S. 78–92. Ebd., S. 90 Ebd. Ebd., S. 92. Ebd., S. 92–96. Ebd., S. 90.
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seiner Zeit, wie man an seinen vielen berühmten und starken Zeitgenossinnen erkennen kann. Mary Wollstoncraft wurde 1790 sogar zu seiner direkten Gegnerin mit ihrer Schrift A Vindication of the Rights of Men, in a Letter to the Right Honourable Edmund Burke occasioned by his Reflections on the Revolution in France. III. Leibniz 1. Erkenntnistheorie Hinsichtlich der Unmittelbarkeit der inneren Erfahrung unseres Ich stimmt Leibniz weitgehend mit Locke und Descartes überein. 149 Jedoch hat er mit seinen Nouveaux essais eine systematische Widerlegung der Locke’schen empiristischen Erkenntnistheorie geliefert. Zwar teilte er Lockes Bedenken hinsichtlich der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, aber – wir hätten doch viel mehr Grund, uns zu ihr zu gratulieren als ihre Grenzen zu beklagen. 150 Wie alle Rationalisten hatte Leibniz einen ganz anderen Begriff von Vernunft als der Empirist Locke. Er traute ihr mehr zu, als beim Vergleichen von Dingen ähnliche Qualitäten bzw. Unterschiede zu abstrahieren und zu benennen. Der Weg von verworrener sinnlicher Erkenntnis oder „sensations“ zu deutlichen Ideen sei dem Menschen keineswegs völlig verbaut, wie Locke und seine Nachfolger das sahen, weil deutliche Perzeptionen bereits in den verworrenen Perzeptionen enthalten seien, nur eben vermischt mit denen anderer Dinge, insbesondere denen unseres eigenen Körpers. 151 Deutliche Perzeptionen aus den verworrenen zu entwirren, konnte durch die geometrische Methode geschehen. In der Geometrie war es längst gelungen, die Gewissheit unserer Erkenntnis zu erreichen. Das wurde auch von den Empiristen eingeräumt, die aber diese Methode nur in der Mathematik und Logik gelten ließen, deren Gegenstände von uns selbst geschaffen wurden. Allerdings waren weder Locke noch Hume und sicherlich nicht Burke Mathematiker oder auch nur mit der Mathematik vertraut; Leibniz scheint sich dessen wohl bewusst gewesen zu sein, wenn er Lockes irrige Meinung zurückwies, wonach die Geometrie deshalb einen leichteren Zugang zu Beweisen hätte, weil sie die Imagination gebrauchen könnte. 152 Die geometrische Methode ist aber von Pascal sehr präzise definiert worden: keine Begriffe zu verwenden, ohne sie zu definieren, und keine Sätze gelten zu lassen, ohne sie zu beweisen. 153 Leibniz, wie alle Rationalisten, sah diese geometrische Methode als einsetzbar an auch jenseits der Mathematik und Logik; er verwies besonders auf Archimedes, der bereits Beweise nach der geometrischen Methode in der Mechanik zu geben vermochte: 149 Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de métaphysique, § 34; A VI, 4 N. 306, S. 1583–1584; Siehe auch Ders.: Nouveaux essais, IV, vii, § 7; A VI, 6 N. 2, S. 411; siehe auch ebd., IV, ii, § 1; S. 367. 150 Ebd., IV, iii, § 23; S. 388. 151 Ebd., IV, xvii, § 13; S. 487–489. 152 Ebd., S. 451. 153 Blaise Pascal: Œuvres completes, hg. von Michel le Guern, Paris 2000, Bd. II, S. 155–156.
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Il y a des exemples assez considerables des demonstrations hors des Mathematiques, et on peut dire qu’Aristote en a donné déja dans ses Premiers Analytiques. En effêt la Logique est aussi susceptible de demonstrations, que la Geometrie, et l’on peut dire que la Logique des Geometres, ou les manieres d’argumenter, qu’Euclide a expliquées et établies en parlant des proportions, sont une extension ou promotion paraticuliere de la Logique Generale. Archimede est le premier, dont nous ayons des ouvrages, qui ait exercé l’art de demonstrer dans une occasion où il entre du physique, comme il a fait dans son livre de l’Equilibre. 154
Leibniz kritisierte aber nicht nur den armseligen empiristischen Vernunftbegriff, der den Unterschied zwischen Tieren und Menschen auf eine bloß quantitative Differenz reduzierte, sondern auch den empiristischen Begriff der Erfahrung als einer bloßen Summe unserer inneren und äußeren Sinneswahrnehmungen. Zwar war Leibniz wie alle Rationalisten ganz einverstanden mit Locke, dass die sinnlichen Wahrnehmungen der äußeren Dinge uns nicht ihr Wesen vermitteln könnten, sondern verworren oder undeutlich seien. Aber – sie seien keineswegs ohne jeden Zusammenhang mit der Realität. Ein Kriterium ihrer Objektivität, wodurch wir sie von bloßen Träumen unterscheiden könnten, sei schon der Zusammenhang unserer Phänomene untereinander. 155 Gegen Lockes völlige Reduktion unserer Erkenntnis äußerer Dinge auf bloße Sinneswahrnehmungen ohne Zugang zum Wesen der Dinge und damit der Leugnung jeder Möglichkeit von Naturwissenschaft wirft Leibniz die Frage auf, si toutes les vérités dependent de l’experience, c’est -a-dire de l’induction et des exemples, ou s’il y en a qui ont encore un autre fondement. Car si quelques evenemens se peuvent prevoir avant toute épreuve qu’on en ait faite, il est manifeste que nous y contribuons quelque chose de notre part. 156
Erfahrung sei weit mehr als bloß sinnliche Erkenntnis oder Induktion aus Beispielen; sie schließe bereits Vernunftüberlegungen ein. Im Experiment, der aktiv gesuchten Erfahrung, sei die Vernunft aktiv, indem sie theoretisch begründete Hypothesen aufstelle, die eine mögliche Erklärung bieten, und dann Wege finde, ganz bestimmte sinnliche Wahrnehmungen zu ermöglichen, die diese Hypothesen verifizieren könnten. 157 Die Hypothese ist für Leibniz keine – wie in Newtons abschätziger Bemerkung unterstellt – willkürliche Spekulation; sie fragt vielmehr nach der Möglichkeit einer Erklärung von beobachteten und noch zu beobachtenden Phänomenen. 158 Durch sein Vernunftvermögen unterscheide sich der Mensch von allen bekannten Tieren, da es ihm erlaube, apriorische Erkenntnis zu erlangen. 159 Apriorische Erkenntnis aber komme der göttlichen Erkenntnis gleich, auch wenn Menschen sie nur in einem geringen Umfang und fast nur diskursiv erlangen könnten. Zwar werde 154 Leibniz: Nouveaux essais, IV, ii, § 12; A VI, 6 N. 2, S. 370 (meine Hervorhebung – UG). Siehe auch ebd., IV, iii, §§ 26–27; S. 389. 155 Ebd. S. 374–375 (§ 14); Siehe auch Ders.: De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis, A VI, 4 N. 2992, S. 1499–1504. 156 Leibniz: Nouveaux essais, Préface; A VI, 6 N. 2, S. 49. 157 Ebd., IV, xii, §§ 10–13; S. 454–455. 158 Ebd., IV, xii, § 4; S. 450. 159 Ebd. Preface; S. 50–51.
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unsere Erkenntnis der Einzeldinge der Natur niemals eine vollständige Wissenschaft werden, aber wir könnten doch eine fortschreitende Naturwissenschaft besitzen und hätten mit der Mechanik und Optik schon jetzt Proben davon. 160 Hypothetische Erkenntnisse, aufgrund von Vernunftprinzipien und experimentell gesicherten Daten könnten uns so lange als wahr gelten, als sie nicht widerlegt würden. Damit entwickelt Leibniz bereits den modernen Begriff von Wahrheit als der am meisten mit den Phänomenen übereinstimmenden wissenschaftlich begründeten Hypothese. 161 Weiterhin müssten wir uns nicht mit bloßer Wahrscheinlichkeit abfinden, sondern könnten Grade der Wahrscheinlichkeit abschätzen, indem wir die Möglichkeit von Ereignissen näher bestimmten. 162 Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage kann Leibniz auch Lockes Auffassung der Bestimmung der Arten als willkürliche Klassifizierung von Dingen gemäß unserer beschränkten Einsicht oder unserem Interesse zurückweisen. Vor allem verteidigt Leibniz die besondere Art des Menschen als einem animal rationale, dem einzigen uns bekannten Tier, dem Vernunft gegeben ist. Wie oben dargestellt, äußert sich Locke in seinem Essay an sehr vielen Stellen zum Thema der Arten und führt immer neue Beispiele von vernünftigen Tieren oder aber von einem „most stupide man“ an, um die Grenzen zwischen Tier und Mensch, darüber hinaus auch zwischen allen Arten von Pflanzen und Tieren aufzuweichen. Leibniz wird im Verlauf seiner Kritik zunehmend ungeduldig: „Je m’étonne que vous retournés à cette Question, que nous avons assez examinée, et cela plus d’une fois.“ 163 Durchgehend widerspricht er Lockes Auffassung, dass die Identität des Menschen in einem auf bestimmte Weise organisierten Körper bestehe. Diese finde sich vielmehr in der Seele oder im Geist des Menschen, während der Körper in einem beständigen Fluss sei. 164 Gegen Lockes Argument, dass niemand es unterlassen würde, jemanden Mensch zu nennen, sobald er nur die Gestalt eines Menschen hätte, sei er auch so dumm wie eine Katze oder ein Papagei, und umgekehrt, dass niemand bereit wäre, einen vernünftigen Papageien anders als einen Papageien zu benennen, schreibt Leibniz: „Il est seur (je lʼavoue) que l’homme peut devenir aussi stupide qu’un Ourang-Outang, mais l’interieur de l’ame raisonnable y demeureroit malgré la suspension de l’exercise de la raison […] ainsi c’est là le point, dont on ne sauroit juger par les apparences.“ 165 Leibniz widerspricht der Locke’schen Leugnung jedweder objektiven Artbestimmung grundsätzlich und mit Entschiedenheit, da diese nicht nur in der Botanik und Biologie von großer Bedeutung sei, sondern für jedwede Ordnung der Dinge: „J’avoue, Monsieur, qu’il y a peu d’endroits où j’aye moins entendue la force de vos consequences qu’icy, et cela me fait de la paine. Si les hommes different dans 160 Ebd., IV, xii, § 10; S. 453. 161 Ebd., IV, xii, § 6; S. 450. Siehe auch Domenico Bertoloni Meli: Leibniz on the Censorship of the Copernican System, in: Studia Leibnitiana 20 (1988), S. 19–42. 162 Leibniz: Nouveaux essais, IV, ii; A VI, 6 N. 2, S. 372–373. 163 Ebd., IV, iv, § 14; S. 394. 164 Ebd., II, xxvii, § 6; S. 233. 165 Ebd., § [8], S. 234.
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le nom cela change-t-il les choses ou leur ressemblances?“ 166 Zwar führe uns unser Unvermögen, das innere Wesen von uns äußeren Dingen zu erkennen, zu einem gewissen Pragmatismus in unserem Ordnen der Dinge, aber „cela ne fait rien pour les essences, genres ou especes, puisqu’il ne s’y agit que des possibilités qui sont independantes de nostre pensèe“. 167 Gegen Lockes „great chain of being“, in der alle Zwischenräume zwischen den Arten mit Zwischenarten gefüllt sind und die Arten sich so überlappen, dass es schwerfalle, sie deutlich zu unterscheiden, wendet Leibniz ein, dass keineswegs alle Arten, die per se möglich seien, auch in diesem Universum existierten. Die Arten unseres Universums müssten nämlich auch untereinander kompatibel sein. 168 Dies stehe auch nicht im Gegensatz zu seinem Prinzip der Kontinuität, wonach „la Nature ne laisse point de vuide dans l’ordre qu’elle suit“; 169 das Universum enthalte aber alle die Dinge, die seine vollkommene Harmonie zulasse, „mais toute forme ou espece n’est pas de tout ordre“. 170 Um die Zweideutigkeit im Gebrauch des Begriffs der Art auszuräumen, die Lockes rein konventionalistische Sichtweise erst plausibel erscheinen lässt, legt Leibniz seine Auffassung zur Bestimmung der Arten systematisch dar: 171 On peut prendre l’Espece mathematiquement et aussi physiquement. Dans la rigeur Mathematique la moindre difference qui fait que deux choses ne sont point semblables en tout, fait
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Ebd., III, iii, § 14; S. 292. Ebd., S. 293 (Meine Hervorhebung – UG). Ebd., III, vi, § 12; S. 307. Siehe auch Smith: Nature (wie Anm. 130), S. 164–165. Leibniz: Nouveaux essais, III, vi, § 12; A VI, 6 N. 2, S. 307. Diesen Gegensatz zwischen Locke, als einem Anhänger der „great chain of being“ und Leibniz, der die Harmonie des Universums in einer logischen Verknüpfung des Wesens aller Dinge und nicht der körperlichen Dinge sieht, betont auch Catherine Wilson gegen Lovejoy. Warum sie dann im von Samuel König veröffentlichten, umstrittenen Leibnizbrief Lockes Auffassung erkennen will, verstehe ich allerdings nicht, da es auch in diesem Brief gerade um die funktionale Verknüpfung aller Dinge geht. Siehe Catherine Wilson: Leibniz and the Logic of Life, in: Revue Internationale de Philosophie 48 (1994), S. 237–253, hier S. 245–248. Herbert Breger greift diese Sichtweise auf, um sie gegen die Echtheit des besagten Leibnizbriefes zu verwenden. Herbert Breger: Über den von Samuel König veröffentlichten Leibniz-Brief, in: PierreLouis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren (= Schriftenreihe des Frankreichzentrums der TU Berlin), Berlin/Baden-Baden 1999, S. 363–381, hier S. 375. 171 Fenves missversteht Leibniz’ systematisches Argument gegen Locke völlig, wenn er die „Australiens imaginaires“ für eine von Leibniz beschworene reale Gefahr erkennt, die nur durch deren Christianisierung verhindert werden könnte. Siehe Peter Fenves: Imagining an Inundation of Australians; or, Leibniz on the Principles of Grace and Race, in: Valls, Race (wie Anm. 13), S. 73–88, hier S. 83–86). Tatsächlich bezieht sich Leibniz auf die Australier als rein fiktives Beispiel dafür, wie wir eine weitere, mit Vernunft begabte Species auf unserer Erde von der menschlichen unterscheiden könnten, wenn sie denn existierte. Australien war zwar schon im 17. Jahrhundert von einzelnen Seefahrern „besucht“ worden, aber als Kontinent Australien erst durch James Cooks Forschungsreise 1770 als Kontinent entdeckt und für das englische Königreich beansprucht worden. Dagegen kannte Leibniz die „terra australia incognita“ als einen seit der Antike existierende Annahme eines Kontinents auf der Südhalbkugel. Fenves ist kein Leibnizspezialist, sondern Literaturwissenschaftler, der die Leibnizstellen zum Begriff der Rasse nach dem Register findet und nicht in ihrem theoretischen oder historisch-politischen Kontext diskutiert.
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Ursula Goldenbaum qu’elles different d’Espece. D’est ainsi qu’en Geometrie tous les Cercles sont d’une même espece, car ils sont tous semblables parfaitement, et par la même raison toutes les Paraboles aussi sont d’une espece, mais il n’en est pas de même des Ellipses et des Hyperboles, car il y a en a une infinite de sortes ou d’especes, quoyque il y en ait aussi une infinite de chaque Espece. 172
Aber schon ein Oval mit drei Brennpunkten habe eine unendlich unendliche Zahl von Arten. Physische, reale Individuen jedoch seien sogar in sich selbst unendlich und könnten einander niemals derart vollkommen gleich sein, wie die geometrische Figur der Kreise, ja nicht einmal sich selbst länger als einen Moment. Daher könnten wir bei ihnen die Arten gar nicht mit derselben Strenge unterscheiden wie in der Mathematik. Hier hänge es in der Tat von uns ab, ob wir das Wasser und das Eis als eine Art bezeichnen wollten, da wir es von einem Zustand in den anderen zurückkehren lassen könnten, oder aber beide als besondere Arten anerkennten. Jedoch begnügten wir uns nur vorläufig, in Ermangelung einer apriorischen Erkenntnis des Wesens der Dinge, mit einer Einteilung der Dinge nach den uns wahrnehmbaren Eigenschaften, „qui nous paroissent les plus commodes à distinguer, et à comparer les choses, et en un mot à en reconnoistre les especes ou sortes“; aber nichtsdestotrotz gelte: „ces attributs ont toujours leur fondamens reels“. Bei organischen Körpern stützten wir uns auf die uns zugängliche Erzeugung (generation) der Dinge, um die Art zu bestimmen. Beim Menschen aber halte man sich nicht nur an seine Erzeugung, sondern zuallererst an seine Qualität als animal rationale, selbst dann, wenn manche Menschen ihr ganzes Leben den Tieren ähnlich bleiben: „on presume que ce n’est pas faute de la faculté ou du principe, mais que c’est par des empechemens qui lient cette faculté“. 173 Da alle unsere Unterscheidungen der Dinge immer auch in der Natur unterschieden sind, hätten unsere Definitionen der Arten immer auch ein fundamentum in re; unsere Erkenntnis nähere sich der Realität immer mehr an, insbesondere dadurch, dass wir lernten, die Dinge selbst zu erzeugen: 174 „Mais plus on approfondira la generation des especes, et plus on suivra dans les arrangements les conditions qui y sont requises, plus approchera de l’ordre naturel.“ 175 Wenn wir die Erzeugung aller Dinge erkennen könnten, wären wir in der Lage, feststehende Qualitäten aller Arten zu finden, die dann allen ihren Individuen notwendig zukommen.
172 Leibniz: Nouveaux essais, III, vi, § [13]; A VI, 6 N. 2, S. 308. Siehe auch ebd., III, vi, § [38]; S. 325. Angesichts der systematischen Diskussion der Arten und Gattungen in den Nouveaux essais, ist mir unverständlich, wie Peter Fenves schreiben kann, dass Leibnizʼ „vision that informs all of his major philosophical speculation runs counter to classificatory systems that depend on the idea of a generational series“. (Fenves: Imagining (wie Anm. 171), S. 73) Fenves scheint die Nouveaux essais nicht in ihrer Gänze zur Kenntnis genommen zu haben, denn er vermag nur eine Stelle bei Leibniz zu finden, wo dieser den Begriff „Rasse“ definiere, und zwar in den Anmerkungen zu Wilkins von 1668 (A VI, 4 N. 102, S. 34). Siehe ebd., S. 80. 173 Leibniz: Nouveaux essais, III, vi, § [13]; A, VI, 6 N. 2, S. 309 (meine Hervorhebung – UG). 174 In seiner Hervorhebung der Erzeugung (generation) unserer Erkenntnis folgt Leibniz der Auffassung von Hobbes, wonach wir das zu erkennen vermögen, das wir erzeugen können. Siehe Thomas Hobbes: The English Works, hg. von William Molesworth, London 1839, Bd. I, S. 6 (On body, I, 1, § 5). 175 Leibniz: Nouveaux essais III, vi, § [13]; A, VI, 6 N. 2, S. 310 (meine Hervorhebung – UG).
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Unsere Erkenntnis der Vernunft als des Wesens des Menschen nennt Leibniz als ein Beispiel für solchen hohen Grad der Erkenntnis. Auf die von Locke (und der Royal Society) immer wieder aufgeworfene Frage des Status von Monstern antwortet Leibniz im Sinn seiner systematischen Auffassung: falls wir eine unzureichende Erkenntnis der inneren Natur einer Missgeburt hätten oder Zweifel an der Vernunft eines Menschen, so müssten wir uns nach seiner menschlichen Erzeugung richten. Er bestreitet aber, dass die uns wahrnehmbaren Unterschiede nicht in der Realität begründet seien. Gerade im Fall des Menschen kennen wir seine innere Natur, sein Vernunftvermögen, auch dann, wenn die Vernunft sich erst spät zeige. Entsprechend lehnt er Lockes Betrachtungen darüber, ob vernunftbegabte Lebewesen mit menschlicher Gestalt, aber mit Behaarung oder Schwänzen, Menschen seien, als ganz irrelevant ab: Un homme sylvestre bien que velu se fera reconnoitre; et le poil d’un magot n’est pas ce qui le fait exclurre. Les imbecilles manquent de l’usage de la raison; mais comme nous savons par experience, qu’elle est souvent liée, et ne peut point paroitre, et que cela arrive à des hommes, qui en ont montré et en montreront; nous faisons vraisemblablement le meme jugement de ces imbecilles sur d’autres indices, c’est à dire sur la figure corporelle. 176
Unsere Definitionen, solange sie nur von der äußeren Gestalt der Körper stammten, seien unvollkommen und vorläufig. Auf Lockes Forderung nach sichtbaren Zeichen der Vernunft antwortet Leibniz, dass auch Kinder bei ihrer Geburt noch keine Vernunft zeigten. Solange wir aber keinerlei Hinweise auf Vernunft hätten, erlaube doch die Erzeugung eine starke Vermutung (presomtion), „c’est a dire une preuve provisonelle“. 177 In jedem Fall aber besteht Leibniz darauf, dass jedes Lebewesen, das Vernunft zeige, als Mensch zu behandeln sei, ganz unabhängig von seinem Äußeren. Lockes Äußerung, wonach der Unterschied zwischen zwei Hundearten sich nicht von dem zwischen einer Hundeart und einer Elefantenart unterscheide, pariert Leibniz mit einer fast evolutionstheoretischen Bemerkung, dass man nämlich beim Verfolgen der Erzeugung der Lebewesen in der Kette der Vorfahren einen gemeinsamen Vorläufer dieser Hundearten in ihrem „Stammbaum“ finden würde, was für eine gemeinsame Art spräche. Dies sei hinsichtlich der Elefanten und Hunde ganz unwahrscheinlich. 178 Schließlich kommt Leibniz auf den zuerst von Francois Bernier geäußerten Gedanken von mehreren menschlichen Rassen zu sprechen, ohne den (ihm bekannten) Autor zu nennen. Leibniz schreibt dazu: „Aussi se trouva-t-il un voyageur, qui crut que les Negres, les Chinois, et enfin les Americains n’etoient pas d’une meme race entr’eux ni avec les peuples qui nous ressemblent.“ 179 Er findet das wenig überzeugend. Zwar könne man, rein logisch, die Menschen auch nach äußeren Kennzei-
176 Ebd., III, vi, § 22; S. 313–314. 177 Ebd., § 23; S. 315. 178 Ebd., [§38]; S. 325. Auch auf S. 317 (§ 23) findet sich schon eine Passage, die eine Veränderung der Arten nahelegt. 179 Ebd., [§38]; S. 326. Gegen Fenves sei unterstrichen, dass Leibniz sich ausdrücklich gegen Berniers ausspricht. Vgl. Fenves, Imagining (wie Anm. 171), S. 74.
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chen in Arten unterteilen: „si on s’arretoit à l’exterieur on trouveroit encore en parlant physiquement des differences qui pourroient passer pour specifiques“. Aber das würde gerade das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der menschlichen Art ignorieren, das zumal bekannt sei: Mais comme on connoit l’interieur essentiel de l’homme, c’est à dire la raison, qui demeure dans le meme homme, et se trouve dans tous les hommes, et qu’on [ne] remarque rien de fixe et d’interne parmi nous, qui forme une sousdivision: Nous n’avons aucun sujet de juger qu’il y ait parmi les hommes selon la verité de l’interieur, une difference specifique essentielle, au lieu qu’il s’en trouve entre l’homme et la bête, suposé que les bêtes ne soient qu’Empiriques, suivant ce que j’ai expliqué cy dessus; comme en effet l’experience ne nous donne point de lieu d’en faire un autre jugement. 180
Gegen Lockes beständige Rede vom „most stupid man“, dümmer als die klügsten Tiere, womit er die Grenze zwischen Mensch und Tier verwischen will, schreibt Leibniz, ganz in Übereinstimmung mit Descartes und Hobbes, que le plus stupide des hommes (qui n’est pas dans un estat contraire à la nature par quelque maladie ou par un autre defaut permanent tenant lieu de maladie), est incomparablement plus raisonnable et plus docile que la plus spirituelle de toutes les bêtes; quoy qu’on dise quelque fois le contraire par un jeu d’esprit. 181
Dass eingeborene Amerikaner Menschen seien, ist ihm daher ganz unzweifelhaft, wie aus seiner Bezugnahme auf die spanische scholastische Diskussion hervorgeht. 182
180 Leibniz: Nouveaux essais III, vi, § [38]; A, VI, 6 N. 2, S. 326. 181 Ebd., IV, xvi, § 12; S. 473. 182 Gottfried Wilhelm Leibniz: Aus und zu den Schriften von Erhard Weigel [1. Hälfte 1683 (?)]; A VI, 4 N. 237, S. 1170. Ich gehe hier gar nicht auf den singulären Text des jungen Leibniz über den Aufbau einer unbesiegbaren Armee ein (A IV, 1 N. 18), von dem wir nicht einmal sicher urteilen können, wie weit er tatsächlich Leibnizʼ eigene Meinung zum Ausdruck bringt und nicht vielmehr die seines politischen Auftraggebers von Boineburg. In jedem Fall sollte dieser zwischen Dezember 1671 und Anfang März 1672 in Eile geschriebene, unveröffentlichte Text im Namen von Boineburg an den französischen König gerichtet werden. Peter Fenves widmet diesem kurzen, allerdings unsäglichen Manuskript vier Seiten, obwohl die Botschaft eindeutig ist: Leibnizʼ Entwurf behandelt die Einwohner Afrikas als Barbaren, von denen männliche Kinder gefangen auf eine Insel gebracht werden sollen, wo sie, ohne miteinander sprachlich kommunizieren zu können, militärisch gedrillt werden sollten, um ihren absoluten Gehorsam unter ihre Befehlshaber zu garantieren. Anders als bei anderen Jugendwerken von Leibniz gibt es jedoch keinen zweiten Text dieser Art im gesamten umfangreichen Werk von Leibniz. Aber selbst in diesem unsäglichen Text spielt nicht der Gedanke einer natürlichen Ungleichheit, sondern eher die Idee unchristlicher Barbaren eine Rolle, wie sie in der christlichen Literatur der Zeit gängig war. Leibniz‘ Entwurf beruht im übrigen auf der Reiseliteratur der Zeit, vgl. die Einleitung zu A IV, 1, S. XXVI. Bereits 1993 hat Marcelo Dascal kritisch auf diesen bis dahin unbeachteten Text von Leibniz verwiesen. Siehe Ders.: One Adam and many cultures: The role of political pluralism in the best of possible worlds, in: Ders., Elhanan Yakira (Hg.): Leibniz and Adam, Tel Aviv 1993, S. 387–409, hier S. 390–394.
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2. Rechtsphilosophie Diese erkenntnistheoretisch und metaphysisch begründete Sicht einer natürlichen Gleichheit aller Menschen zeigt sich auch in Leibniz’ Rechtsphilosophie. Wie Hobbes und Spinoza geht Leibniz von einem Naturzustand gleicher Menschen aus, die einen Staat erst durch einen freiwillig eingegangenen, gegenseitigen Vertrag aller mit allen hervorbringen. Sie bestimmen auch den Souverän, der die Sicherheit aller durch seine Garantie der von ihm oder ihnen erlassenen Gesetze garantieren soll. Alles positive Recht im Staat gehe, außer auf das unveräußerliche und gleiche Naturrecht aller auf die Sicherung und den Genuss ihres Lebens, auf diesen freiwillig geschlossenen gegenseitigen Vertrag zurück. Das Recht entwickelt Leibniz in drei Stufen. Die unterste, aber schon im Naturzustand durchsetzbare Stufe des Rechts ist das ius strictum, niemandem zu schaden. Die zweite Stufe ist die aequitas, die gebietet, anderen zu helfen, soweit es ohne eigenen Schaden möglich ist. Sie kann nicht durchgesetzt werden, aber die Befolgung dieses Gebots ist auf lange Sicht von eigenem Nutzen. Die dritte Stufe des Rechts ist die pietas, worunter Leibniz die innere Überzeugung versteht, immer nach der Vernunft und im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Im Staat ist das vom Souverän erlassene positive Recht für alle Untertanen bindend und so jus strictum. Wie Hobbes und Spinoza räumt Leibniz kein Widerstandsrecht ein, sieht aber die Grenze der Macht des Souveräns im unveräußerlichen individuellen Naturrecht auf Sicherheit und Genuss des Lebens. 183 Der Souverän bzw. der Staat soll seine Gesetzgebung am Maßstab der aequitas gestalten, um möglichst einen Ausgleich der Lasten unter allen Untertanen zu erzielen und ihnen allen Raum zur Erhaltung und zum Genuss ihres Lebens zu ermöglichen im Sinne des größten Nutzens für das Gemeinwesen. Der junge Leibniz zieht durchaus einen „Vernunftstaat“ in Betracht, in dem alle Untertanen gehalten sind, das ihnen und dem Gemeinwesen nach der Vernunft am meisten Nützliche zu tun. 184 Jedoch erkennt er die unüberwindlichen Schwierigkeiten an, eine Verteilung des Eigentums nach dem Kriterium des größten Gemeinwohls oder gar nach Verdienst und Würde der einzelnen durchzuführen. Daher akzeptiert er eine privatrechtliche Grundordnung, gesichert nach jus strictum, die aber durch den Staat im Sinne des Gemeinwohls und der aequitas reguliert werden soll. 185
183 Gottfried Wilhelm Leibniz: Elementa juris naturalis; A VI, 1 N. 122, S. 444–445. 184 „Sciendum est autem si res humanae optimam rempublicam facile paterentur omnium rerum dispensationem in publica potestate futuram esse, et fruituros homines bonis communibus proportione virtutis ac meritorum prout e re publica foret, cuique rem bene gerendi amplissima instrumenta praeberi: Nec dubito quin hoc consequi potuerint homines, si recte educati fuissent.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum; A VI, 4 N. 5054, S. 2859). Siehe auch Busches instruktive Einleitung (wie Anm. 1), S. LXXXLXXXIII. 185 „Fundamentum juris privati est aequalitas, cum enim difficillima sit dijudicatio praestantiae, hinc antequam certa eius norma reperiatur, aequales omnes censendi sunt.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: De systemate juris romani, in: Grua, S. 763–767, hier S. 764)
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Was staatlich nicht durchgesetzt werden kann, soll doch so weit als möglich durch eine Erziehung der Bürger zur Tugend und zum richtigen Gebrauch der Vernunft versucht werden, was Leibniz als pietas versteht. Wer den Nutzen eines blühenden Gemeinwesens für sich selbst versteht, und einsieht, dass das eigene Glück ohne Rücksicht auf andere nicht von Bestand sein kann, entwickelt aus dieser Einsicht den Habitus, tugendhaft und hilfreich für andere und dadurch glücklich zu leben. Die Grundlage dazu ist Leibniz’ Begründung des Begriffs der Gerechtigkeit auf dem Begriff der Liebe. 186 Der, der liebt, erlebe das Glück des anderen als eigenes Glück. Der, der mit Vernunft liebt, liebt alle gemäß ihrer Vollkommenheit und handelt dadurch immer gerecht. Dieses Ideal anzustreben ist für Leibniz pietas, die bereits durch die natürliche Religion verstanden werden kann. Sie werde auch in der offenbarten Religion gelehrt, in allen offenbarten Religionen, aber am reinsten von Jesus Christus. Da Leibniz keine Unterschiede zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer Vernunft sieht, versteht er Unterschiede zwischen den Völkern der Erde als bloße Grade der Entwicklung ihrer gleichen Fähigkeiten. So spricht er den Chinesen einen besonders hohen Rang zu in der Entwicklung ihres Gemeinwesens, ihrer Sorge für das Gemeinwohl und in der Moral. Die Europäer könnten von ihnen viel lernen. Den Juden zollt er Respekt wegen ihrer frühen Anerkennung eines einigen Gottes. Und die Europäer sieht er in der Wissenschaft weit fortgeschritten. Aber abgesehen von nationalen, den historischen Umständen geschuldeten Unterschieden, sieht Leibniz alle Menschen als von Natur gleich an, wegen ihrer Gabe zur Vernunft. Die rechtliche Stellung der Frauen wird von Leibniz nur am Rande behandelt. 187 Um die Probe aufs Exempel zum hier behandelten Thema natürlicher Gleichheit zu machen, ist auch zu fragen, was Leibniz zur Sklaverei zu sagen hat. 188 186 Siehe zuerst Robert Mulvaney: The Development of Leibniz’s Concept of Justice (= Doctoral Thesis under Leroy E. Loemker at Emory, Atlanta 1965); Ders.: The Early Development of Leibniz’ Concept of Justice, in: Journal of the History of Ideas 29 (1968), S. 53–72; Ders.: Divine Justice in Leibniz’s Discourse de métaphysique”, in: Studia Leibnitiana 14 (1974), S. 61–82 (Reprint in: Robert S. Woolhouse (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments, vol. iv, London/New York 1994, S. 413–432); siehe auch Hubertus Busche: Die innere Logik der Liebe in Leibnizens Elementa juris naturalis, in: Studia Leibnitiana 23 (1991), S. 170–184; Ursula Goldenbaum: All you need is love, love. Leibniz’ Vermittlung von Hobbes’ Naturrecht und christlicher Nächstenliebe als Grundlage seiner Definition der Gerechtigkeit. In: Günter Abel, Hans-Jürgen Engfer und Christoph Hubig (Hg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2002, S. 209–231. 187 Immerhin schlägt er vor, in Fällen, da es keine ausdrückliche Regel gebe, aufgrund der Ähnlichkeit die Regelung für Männer auch auf Frauen anzuwenden (Gottfried Wilhelm Leibniz: Nova Methodus II, § 70; A VI, 1 N. 10, S. 341). Vgl. auch ebd., II, § 10; S. 298. Siehe auch Ders.: Praefatio tabulae juris (1685–1695?), in: Grua, S. 783, und Ders.: Lib. I Tit. V Digest., De Statu hominum, in: Grua, S. 840. 188 Julia Jorati hat sich, wie es scheint, als erste dem Thema „Leibniz über die Sklaverei“ systematisch zugewandt in einem sehr instruktiven Aufsatz, der zurückgeht auf ihren Beitrag auf der Leibniz-Konferenz der LSNA in Atlanta 2019: Julia Jorati: Leibniz on Slavery and the Ownership of Human Beings, in: Journal of Modern Philosophy (published on 4th December, 2019). Mein Thema der natürlichen Gleichheit ist mit dem der Sklaverei nicht identisch, da nach dem Römischen Recht von Natur aus gleiche Menschen durch Unterwerfung zu Sklaven
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Natürlich war der Jurist Leibniz, mit seiner enormen Hochachtung für das Römische Recht, wohlvertraut mit dessen umfangreichen Bestimmungen zum Besitzrecht an Sklaven. 189 Mit dem Römischen Recht wurde auch das Recht an Sklaven ein fester Bestandteil der gelehrten Rechtstradition. Das gilt auch noch für die Juristen und Philosophen der frühen Neuzeit. 190 Auch Leibniz behandelt das Thema mehrfach, 191 und stellt schon in der Nova methodus in Übereinstimmung mit dem Römischem Recht klar, dass der Status des Sklaven nicht ins Personen-, sondern ins Sachenrecht gehöre, ohne dies irgendwie zu problematisieren. 192 Allerdings ist diese Sklaverei nicht durch eine natürliche Ungleichheit begründet, sondern durch die Unterwerfung bzw. Gefangennahme von Menschen im Krieg. Natürlich gebraucht Leibniz den Begriff des Sklaven auch gemäß der auf die Antike zurückgehende philosophische Tradition, um einen Menschen zu beschreiben, der nicht seiner Vernunft folgt. 193 Jedoch scheint Leibniz in späteren Jahren mit dieser überkommenen Tradition des Römischen Rechts zu hadern, um sie schließlich eindeutig abzulehnen. Eine
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gemacht werden konnten, aber nicht nach dem jus naturale, sondern dem jus gentium: „Was das ius civile anbelangt, gelten die Sklaven nicht für Personen, wohl aber nach dem Naturrecht, weil, was das ius naturale anbelangt, alle Menschen gleich sind.“ (Corpus juris civilis, Digesten, 50, 17, 32 (Ulpian); zitiert nach: Römisches Recht, ausgew. und hg. von Liselot Huchthausen und Gottfried Härtel, Berlin/Weimar 1975, S. 302) Da das Römische Recht insbesondere das Eigentumsrecht behandelt und Sklaven zum Sachenbw. Eigentumsrecht gehören, kann man das Römische Recht nicht studieren, ohne sich beständig zugleich mit der Behandlung der Rechte der Sklavenbesitzer in verschiedenartigen Fällen zu beschäftigen. Das erklärt m.E. die regelmäßigen Stellungnahmen von Grotius, Hobbes, Christian Thomasius, und Pufendorf zur Sklaverei, obwohl es diese Rechtsform zu ihren Lebzeiten in ihren Staaten (und deren Kolonien) nicht gab. Entsprechend adaptieren sie die Bestimmungen des Römischen Rechts zur Sklaverei an die im 17. Jahrhundert vorhandenen Rechtsformen der Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft. In diesen Stellungnahmen sehe ich gerade keine Debatte zur Sklaverei, wie Jorati: Leibniz on Slavery (wie Anm. 188), S. 1, schreibt. Siehe auch Bernd Franke: Sklaverei und Unfreiheit im Naturrecht des 17. Jahrhunderts (= Sklaverei, Knechtschaft, Zwangsarbeit 5), Hildesheim 2009. Anders war es in Spanien, wo es aus gegebenem Anlass der spanischen Kolonialisierung Amerikas eine solche Kontroverse gab. Sie wurde vor einer Jury des Königs geführt, zwischen Bartholomé de Las Casas, der die Rechte der amerikanischen Eingeborenen vertrat, und Juan Ginés de Sepúlveda, der die Interessen der Kolonisten vertrat, im Jahr 1550/51 in Valladolid. Der Jury gehörten auch bedeutende Gelehrte der Hochschule von Salamanca an, wo diese gelehrte Kontroverse über den gerechten Krieg und den Status der eingeborenen Amerikaner schon zuvor von Francisco de Vitoria und Domingo de Soto geführt wurde. So in Gottfried Wilhelm Leibniz: De conditionibus, in: A VI, 1 N. 5, und Ders.: De casibus perplexis, in: A VI, 1 N. 9. Leibniz: Nova methodus §§ 10, 15; A VI, 1 N. 10, S. 298, 301. Leibniz: Lib. I Tit. V Digest., De Statu hominum (wie Anm. 187), S. 839. Siehe dazu auch Leibnizʼ Diskussion zum freien Willen in: A VI, 4 N. 268, S. 1409.
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ausdrückliche Stellungnahme von Leibniz zum seinerzeit erst beginnenden atlantischen Sklavenhandel habe ich nicht gefunden. 194 Er scheint die Nachrichten zu den Anfängen der Kolonialisierung schon früh verfolgt zu haben und Amerika (und damit verbunden auch Afrika) war durchaus ein Thema, wie aus seiner Korrespondenz hervorgeht. 195 Bemerkungen zum spanischen Silberhandel mit Amerika, zu den Seekriegen zwischen den Kolonialmächten finden sich en passant ebenso wie zu den eingeborenen „Amerikanern“, ihrer Sprache und ihren Gebräuchen. 196 1682 wurde er sogar selbst angesprochen, sich an einem Projekt zum Sklavenhandel zu beteiligen. 197 Wenig später gründete der Kurfürst Friedrich Wilhelm 1683 eine „Brandenburg-Africanische Compagnie“, die außer dem Erwerb von Gold und Elfenbein auch Sklavenhandel betreiben sollte, auch mit den karibischen Inseln. 198 Wenngleich dieses Unternehmen scheiterte und 1711 endgültig abgebrochen wurde, gab es doch in der Folge am Berliner Hof einige Afrikaner und natürlich auch Zeitgenossen, die mit dieser Handelsgesellschaft Informationen über Afrika und den Sklavenhandel erhielten. Allerdings fällt auf, dass der Name des spiritus rector der ganzen Unternehmung, des holländischen Kaufmanns Benjamin Raule, weder von Leibniz noch seinen Briefpartnern erwähnt wird. Allerdings nahm Leibniz auch erst in den 1690er Jahren nähere Kontakte zum Berliner Hof auf und reiste im November 1698 das erste Mal nach Berlin. Bemerkungen von Leibniz zu den Kolonien häufen sich jedenfalls seit den 1690er Jahren. So bedauert Leibniz die irischen Kriegsgefangenen, die von England in die Kolonien geschickt werden sollen. 199 In der harten Behandlung der Kreolen in Amerika sieht er eine Möglichkeit, sich bei einer Etablierung kolonialer Unternehmungen mit ihnen verbünden zu können, da sie von den Spaniern und Franzosen so schlecht behandelt würden, und er
194 Der atlantische Sklavenhandel erreichte zu Leibniz’ Lebzeiten in England und den Niederlanden erste größere Zahlen, aber erst nach seinem Tod den Umfang von jährlich Zehntausenden. Siehe https://slavevoyages.org/assessment/estimates (eingesehen am 26.4.2021). 195 1693/4 verfasst Leibniz jedenfalls einen Auszug, wohl bestimmt für die Kurfürstin Sophie sowie Herzog Anton Ulrich, aus einem englischen Buch von R. Molesworth über Dänemark, und notiert auch die folgende Einschätzung des Autors: „Dans la Seelande les paysans ne sont pas moins Esclaves, que les Negres le sont dans les Barbades. On compte par le nombre des paysans et non par les mesures de terre[.] On les vend comme le bois en Angleterre.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Extrait de la relation de Dannemark (Ende 1693 bis erstes Viertel 1694); A IV, 5 N. 38, S. 418 – meine Hervorhebung – UG); siehe auch die sehr frühe Bemerkung in einem Brief an Jacob Thomasius im September 1669, in: A II, 12 N. 13, S. 41. 196 Vgl. das Kumulierte Sachverzeichnis der Leibniz-Akademieausgabe zum Stichwort „Americ“: http://telota.bbaw.de/leibniziv/Sachregister/sachreg_fragen.php?aktion=schlagwort&eins= Americ&band= (eingesehen am 26.4.2021). 197 Martin Elers an Leibniz am 28.1.1682; A III, 5 N. 319, S. 559-561. Siehe auch den Brief von Daniel Crafft an Leibniz vom 14./24.2.1682 (ebd., N. 328), in dem Crafft den Vorschlag von Elers als absurd und gefährlich verwirft, sowie ebd., N. 329 von Elers an Leibniz. 198 Ulrich van der Heyden: Das brandenburgische Kolonialabenteuer unter dem Großen Kurfürsten, in: Ders., Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 15–18; siehe auch Ders.: Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika, Berlin 22001. 199 Leibniz an Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels am 24.10./3.11.1690; A I, 6 N. 69, S. 127.
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fügt in Klammern hinzu: „sans parler des Indiens et Negres“. 200 Es scheint, dass sich Leibniz erst in diesen Jahren der Grausamkeit der Sklaverei bewusst wird, als diese mit dem atlantischen Sklavenhandel und den amerikanischen Kolonien eine ganz neue Realität gewinnt und nicht länger eine abstrakt-juristische Kategorie des Römischen Rechts bleibt. Aber neben solchen seit den 1690er Jahren öfter auftauchenden, eher beiläufigen Bemerkungen zu den amerikanischen Kolonien findet sich in einem kürzlich neu edierten, allerdings schon seit Gruas Veröffentlichung bekannten Leibniztext aus dem Jahr 1703 eine grundsätzliche rechtsphilosophische Betrachtung zur Sklaverei, die aufhorchen lässt, da sie einen neuen Blick von Leibniz auf das ihm juristisch längst vertraute Phänomen der Sklaverei zeigt. 201 Der Text behandelt eigentlich das Verhältnis zwischen dem jus strictum und der aequitas. Leibniz ist bemüht, eine argumentative Strategie zu entwickeln, andere davon zu überzeugen, dass es in ihrem eigenen Interesse sei, nicht auf dem jus strictum zu beharren, das sie verpflichte, niemanden zu schaden und ihnen das Recht gebe, erlittenen Schaden von anderen zu ahnden (bzw. ahnden zu lassen), sondern sich auch gemäß der Billigkeit um das Wohl anderer zu bemühen, sofern das eigene dadurch nicht beschädigt werde. 202 In diesem Zusammenhang kommt er auch auf das Eigentumsrecht der Eltern an ihren Kindern zu sprechen, das er ablehnt. Auf den Einwand, die Sklaven seien nach dem jus gentium das Eigentum ihrer Besitzer und es gebe keinen Grund, warum die von uns gezeugten und von uns ausgebildeten Kinder nicht mit größerem Recht unsere Sklaven seien als die, die wir gekauft hätten, antwortet Leibniz, dass – falls es ein solches Recht auf Sklaverei in Übereinstimmung mit der natürlichen Vernunft gäbe, die Körper der Sklaven und ihrer Kinder nach dem jus strictum in der Tat in der Macht ihrer Eigentümer stünden. 203 Das Eigentumsrecht gehört zum jus strictum. Einem Missbrauch dieses Rechtes stünde jedoch ein anderes, höheres Recht entgegen, und zwar das der vernunftbegabten Seelen, die von Natur unveräußerlich frei seien. Dieses höhere Recht sei das Recht Gottes, der der Souverän aller Menschen sei; vor Gott hätten die Sklavenbesitzer ebenso wie ihre Sklaven gleiches Bürgerrecht, „puisque ceuxcy ont dans le Royaume de dieu le droit de Bourgoisie aussi qu’eux“. 204 Das ist übrigens, trotz Leibniz’ in diesem Text geübter Kritik an Hobbes, ein ganz Hobbes’sches Argument, für den alle Untertanen vor 200 Leibniz für Charles Gerard of Macclesfield. Vorschläge zum überseeischen Kampf gegen Frankreich und Spanien im Spanischen Erbfolgekrieg Anfang September 1701, in: A I, 20 N. 259, S. 437. 201 Zur Geschichte des Texts und seiner Veröffentlichungen siehe Stefan Luckscheiter: Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwei Schriften über die Gerechtigkeit, in: Wenchao Li (Hg.), „Das Recht kann nicht ungerecht sein …“. Beiträge zu Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit (= Studia Leibnitiana. Sonderhefte 44), Stuttgart 2015, S. 167–174, hier S. 139–141. Luckscheiter edierte den von einigen Herausgebern als ein Stück verstandenen Text als zwei, wohl in derselben Zeit entstandene Stücke. Ich werde mich hier nur auf den zweiten Text beziehen, unter dem Titel: Sur la notion commune de la justice, in: Ebd., S. 164–179. 202 Ebd., S. 164–174. 203 Ebd., S. 174–176. 204 Ebd., S. 177.
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ihrem Souverän untereinander gleich seien, und vor Gott auch selbst die irdischen Souveräne mit ihren Untertanen gleich. 205 Aufgrund des göttlichen Rechts aber sei der Körper eines Menschen das Eigentum seiner Seele, das ihr zeitlebens nicht entrissen werden könne. Das aber heißt gemäß Leibniz’ Metaphysik, bis zum Ende der Welt. Da aber die Seele eines Menschen nicht erworben werden könne, so auch nicht ihr Körper. Sklaverei sei also ohne rechtliche Grundlage. Alles, was mit dem Ausdruck Sklaverei gemeint sein könne, sei daher das Recht auf den Dienst des Körpers zum Vorteil des Herrn, was Leibniz als Nießbrauch (usufructus) bezeichnet, eine Nutzung „salva re“, also ohne Veränderung oder Beschädigung des Körpers. Es ist wohl nicht zufällig, dass Leibniz an dieser Stelle auf die furchtbare Situation der Sklaven zu sprechen kommt, ganz anders als in den früheren abstraktjuristischen Erörterungen des Römischen Rechts: „de sorte que ce droit ne peut point aller jusqu’à rendre un esclave mechant ou malheureux“. 206 Für Leibniz steht also 1703 das Recht auf Sklaverei, „qu’un homme est une proprieté d’un autre homme“, ganz und gar im Widerspruch mit „la nature des choses“ und so mit dem Naturrecht. Er fügt hinzu, dass, selbst wenn man das Recht auf Sklaverei nach dem Naturrecht zugestünde, was er aber nicht einräumt, würde zum einen die Billigkeit (aequitas), also die zweite Stufe des Naturrechts ein solches Recht beschränken, die nämlich verlange, dass ein Mensch dem anderen helfe und das für den anderen erstrebe, was man selber in der Lage des anderen wünschte, und uns zur Liebe (charité) aufrufe, d.h. für das Glück des anderen zu arbeiten. Zum anderen verweise uns die Frömmigkeit (pieté) auf unsere Pflichten gegen Gott und unsere Nächsten. 207 Leibniz’ spät gewonnene Klarheit über die Sklaverei und ihre eindeutige Ablehnung bereitet sich schon seit den 1690er Jahren vor. In einem Text aus der Mitte der 1690er Jahre räumt Leibniz dem Sklavenbesitzer zwar das Recht auf den Körper eines Sklaven ein, auf seinen Geist aber nur insofern, als der Sklave sich Anweisungen nicht widersetzen dürfe. 208 Und in einer späteren Anmerkung (1696?) zu einem Text von 1670–1672 unterscheidet Leibniz christliche Kriegsgefangene von anderen, insofern diese bei Gefangennahme keine Sklaven werden dürften, mindestens nicht unter christlichen Nationen. 209 Auch zieht er eine Unterscheidung in Betracht, wonach es Sklaven nach dem ius strictum naturae, nicht aber dem ius aequitatis naturae gebe. 210 Auch zweifelt Leibniz, ob die Sklaverei überhaupt mit dem 205 „The inequality of subjects proceedeth from the acts of sovereign power, and therefore has no more place in the presence of the sovereign (that is to say, in a court of justice) than the inequality between kings and their subjects, in the presence of the king of kings.” (Hobbes: Leviathan (wie Anm. 9), S. 226 (xxx, [16])). Siehe auch ebd., [15] und [17-18]. 206 Luckscheiter: Zwei Schriften (wie Anm. 201), S. 177. 207 Ebd. 208 Leibniz schreibt: „In servi corpus habeo jus reale, animus ejus obligatus est ne intervertat; cogitur, ut animal, metu dolorum. Bellum omnia reducit ad privatam autoritatem.“ (Grua, S. 804 (1696?)) 209 Grua, S. 716–717. Das Manuskript ist bereits in der Akademieausgabe veröffentlicht, A VI, 2 N. 292, S. 82–85, allerdings ohne die spätere Hinzufügung. 210 Leibniz: Lib. I Tit. V Digest. De statu hominum (wie Anm. 187), S. 840 (nach 1678?).
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Naturrecht der Billigkeit übereinstimmen könnte und nicht ausschließlich aus dem jus gentium folge. 211 Damit wäre dieses Recht nur empirisch, nicht aber a priori zu begründen. Das zeigt, dass die selbstverständliche Akzeptanz des Römischen Rechts zur Sklaverei, wie sie sich in seinen frühen Schriften findet, wo der Sklave selbstredend keine Person, sondern eine Sache sei, ihm spätestens seit den 1690er Jahren problematisch wird. Aber erst im Text von 1703 lehnt Leibniz das Recht auf Sklaverei ausdrücklich und vollständig ab. Nicht nur widerspreche es dem naturrechtlichen Prinzip der Billigkeit und der Frömmigkeit, es stehe auch mit dem naturrechtlichen jus strictum im Widerspruch, da ausnahmslos alle Menschen eine vernunftbegabte Seele haben, die unveräußerlich und von Natur aus frei sei. Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Text aus der gleichen Zeit stammt, als Leibniz intensiv an seinen Nouveaux essais arbeitete, 212 in denen er Lockes empiristische Erkenntnistheorie widerlegte und das Wesen des Menschen allein in seiner Vernunftbegabung erkannte. IV. Zusammenfassung Allen genannten Rationalisten ist gemeinsam, dass sie das Wesen des Menschen in seinem Vermögen zur Vernunft sehen, während die Empiristen den Menschen nur mehr Verstand einräumen als den Tieren – und nicht einmal allen Menschen. Die Rationalisten begreifen die Vernunft als ein von der sinnlichen Erkenntnis unterschiedenes Vermögen, das den Menschen von Tieren grundsätzlich unterscheidet, auch wenn der Körper des Menschen und seine Sinne und sein Begehren dem der Tiere ähnlich sei. Alle Menschen haben das Vermögen zur Vernunft, wenngleich in unterschiedlichem Grad ausgebildet. Die politischen Philosophien der Rationalisten entsprechen dieser erkenntnistheoretischen Auffassung darin, dass sie von einer natürlichen Gleichheit des Menschen ausgehen, während Unterschiede hinsichtlich des Besitzes und des Rangs erst in der Gesellschaft und im Staat entstehen. Aber auch im Staat diene es dem gesellschaftlichen Frieden, Ungleichheiten zu begrenzen. Dagegen dient der erkenntnistheoretische Antiessentialismus der empiristischen Erkenntnistheorie der Bestreitung einer objektiven Grundlage der Bestimmung der Arten und damit insbesondere der menschlichen Art. Dadurch aber ist der Weg frei, mehr als eine menschliche Art zu bestimmen. Auch legt die Fokussierung der Artbestimmung auf äußerliche, körperliche Merkmale statt auf das innere Wesen der Vernunftfähigkeit des Menschen eine Unterscheidung der Menschen nach
211 Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Aufzeichnungen für eine zweite Ausgabe der Nova methodus, in: A VI, 2 N. 285, S. 34. 212 Leibniz kannte das Werk seit dem Sommer 1695 und hatte bereits im März 1696 erste Bemerkungen dazu an Thomas Burnet of Kemney geschickt (A VI, 6 N. 11). Die Ausarbeitung der Nouveaux essais erfolgte aber seit dem Sommer 1703 und war am Ende des Folgejahres zur Publikation bereit.
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körperlichen oder anderen äußerlichen Kriterien nahe. Solche willkürliche Bestimmung der Arten verwischt den Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren, wodurch weniger intelligente oder geistig behinderte Menschen eine eigene Art zwischen Tier und Mensch ausmachen sollen oder sogar unter die „intelligenten“ Tiere zu stehen kommen. Was bei Locke noch zwischen den Zeilen steht, wird von Hume klar ausgesprochen, dass nämlich die weiße „Rasse“ der Menschen allen anderen überlegen sei. Ich denke also, dass die von Chomsky und Bracken über Descartes aufgestellte These, wonach dessen rationalistische Erkenntnistheorie, anders als die der Empiristen, eine rassistische Auffassung ausschließe, auf Rationalisten und Empiristen schlechthin ausgeweitet werden kann. Auch Rationalisten sind natürlich nicht frei von Vorurteilen ihrer Zeit, aber ihr rationalistischer Ansatz, je kohärenter er vorgetragen wird, schließt Einschränkungen der natürlichen Gleichheit der Menschen wie im Rassismus aus. In der systematischen Auseinandersetzung von Leibniz mit Locke spricht sich nicht nur die Gegnerschaft von Rationalismus und Empirismus besonders klar und systematisch aus, sondern auch der hier behauptete Zusammenhang von Erkenntnistheorie und politischer bzw. Rechtsphilosophie.
LEIBNIZ’ POLITISCHE PHILOSOPHIE Die Implikationen und die Reichweite seiner Monadologie aus der Sicht einer Gerechtigkeitstheorie 1 Kiyoshi Sakai, Tokio Einleitung Ein heutzutage verbreitetes Urteil über Leibniz lautet: Im Unterschied zu Spinoza2 scheue sich Leibniz nicht, neben dem „Recht” auch vom „Guten” zu sprechen, und er bejahe den traditionellen Glauben in solchem Maße, dass er damit als ‚konservativ‘ erscheint. Dagegen schreibe Spinoza den Tractatus theologico-politicus und kritisiere die Bibel und deren Autorität. Ebenso ist Hobbes’ voluntaristische Politische Philosophie vom christlichen Glauben distanziert, und so wird sie auch in der Gegenwart von den Neo-Liberalen sowie Libertären zur Kenntnis genommen und zitiert. Auch Lockes liberalistische Politische Philosophie spielt in den heutigen Diskussionen unmittelbar eine wesentliche Rolle. Auch aus der Sicht der neuzeitlichen Geschichte der Politischen Philosophie sind nicht wenige der Ansicht, dass Pufendorfs Naturrechtslehre, in der das Naturrecht von den inneren seelischen Fragen abgetrennt worden ist, um dafür auf die Außenhandlung beschränkt zu werden, ‚moderner‘ sei als die von Leibniz. Wegen des an der Vernunft (ratio) orientierten Freiheitsbegriffs von Leibniz oder wegen seines Staatsmodells mit der aufgeteilten Herrschaft gibt es solche, die Leibniz kritisieren, dass seine Politische Philosophie im Gegensatz zu derjenigen von Hobbes oder von Locke mit der neuzeitlichen Geschichtsentwicklung (Absolutismus, Machtzentralisierung, Liberalismus etc.) nicht in Einklang stehe.
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Die vorliegende Abhandlung ist eine leicht geänderte, mit den Fußnoten versehene Fassung meines Vortrags (Leibniz’ Politische Philosophie), der im Rahmen der öffentlichen Vorträge der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft am 5. September 2019 in der Gottfried-WilhelmLeibniz-Bibliothek Hannover gehalten wurde. Herzlich danke ich der damaligen Schriftführerin der Gesellschaft, Frau Dr. Nora Gädeke, für die freundliche Einladung, und Herrn Dr. Hartmut Rudolph, der mir seit vielen Jahren zum Thema der Politischen Philosophie bei Leibniz ständig Rat gegeben und auch zu diesem Vortrag bei dessen Textgestaltung viel geholfen hat. In Spinozas Ethica hat das ‚Gut und Böse‘ an sich keine Realität. Vgl. Pars IV, Praefatio: „Bonum, et malum quod attinet, nihil etiam positivum in rebus, in se scilicet consideratis, indicant, nec aliud sunt, praeter cogitandi modos, seu notions, quas formamus ex eo, quod res ad invicem comparamus” (Benedictus de Spinoza: Opera, II, hg.v. Carl Gebhardt, Heidelberg 1925, S. 268, Z. 8f.).
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Aber jede dieser aufgeführten anti-Leibniz’schen Äußerungen bleibt eine bloße Außenbetrachtung und allzu oberflächlich. Ein Beispiel kann genügen: Leibniz’ Konzept von einem Staat mit gegliederten Funktionsbereichen und unterschiedlichen Herrschaftskompetenzen (mit Verweis auf das Heilige Römische Reich) ist nach seinem Tode vielfältig realisiert worden, wie etwa in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (USA) 1776, in der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland 1949, oder in der Entstehung der EU (in der heutigen, erweiterten Form) 1991. 3 Auch gegen eine solche Kritik, dass es bei Leibniz keine mit De cive oder Leviathan oder Tractatus theologico-politicus vergleichbaren und aufwendigen Hauptwerke gebe, können wir, wenn es nur darum geht, leicht sogleich argumentieren mit dem Verweis auf die Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae Frankfurt 1667(A VI,1 N. 10); die Elementa juris naturalis, 1669-70(?) (A VI,1 N. 12); und nicht zuletzt die Theodicée, Amsterdam 1710 4 (GP VI). In der Reihe IV (Politische Schriften) sowie Reihe VI (Philosophische Schriften) der Akademieausgabe werden laufend eine Fülle seiner Schriften, Notizen und Briefe gedruckt. Im Folgenden möchte ich klarstellen, dass der Grundcharakter der Leibniz’schen Gerechtigkeitstheorie nicht innerhalb einer bloßen Politischen Philosophie im engeren Sinne konzipiert worden ist, sondern auf seiner Metaphysik fußt. Dadurch möchte ich aufzeigen, wie sehr die Politische Philosophie von Leibniz auf seiner Metaphysik um den Substanzbegriff beruht; wie sehr seine Politische Philosophie sich von derjenigen seiner Zeitgenossen wie Hobbes, Locke oder Pufendorf abhebt. Und schließlich möchte ich einen Ausblick darauf geben, wie bestimmt er auf einen sozusagen unerschütterlichen Punkt seiner Politischen Philosophie hinweist, auch angesichts der chaotischen, also als hilflos erscheinenden Gegenwart. Kap. Ⅰ Die einfache Substanz in der Monadologie. Die Implikationen seines Monadenbegriffs hinsichtlich der Politischen Philosophie aus der Sicht des Liberalismus La Monade, dont nous parlerons icy, n’est autre chose qu’une substance simple, qui entre dans les composés; Simple, c’est à dire sans partie. (Mo.§1)
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Vgl. z. B. Hans-Peter Schneider: Denker oder Lenker? Leibniz zwischen Einfallsreichtum und Erfolgsdrang, in: Leibniz. Tradition und Aktualität. V. Internationaler Leibniz-Kongress. Vorträge, Hannover 1988, S. 866–874. Wegen ihres Nebentitels sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal und wegen ihres Versuches, die deterministische Weltanschauung einerseits und die traditionelle Gotteslehre sowie Ethik andererseits in Einklang zu bringen, könnte man bei der Akademieausgabe dieses Werk ebenso gut in die Reihe IV (Politische Schriften) einordnen wie in die Reihe VI (Philosophische Schriften).
Leibniz’ Politische Philosophie
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Patrick Riley verdeutlichte in seinem Vortrag 5 in Hannover im Oktober 2014, dass die Politische Philosophie auf die Substanztheorie gestützt ist, d. h. aus dieser deduziert werden kann. Er unterstrich, dass die Monadologie als eine Gerechtigkeitstheorie verstanden werden kann und soll. 6 Es ist nur die als Subjekt der Verantwortung für die Handlung ein „unabhängiges, freies Individuum” bedeutende „Geistmonade”, welches derjenige Begriff sein kann, der die Grundlage für eine liberalistische Gerechtigkeitstheorie leistet. Zwar ist die „einfache Substanz“ = „Monade“ nicht gleich unser empirisches Ich, wie Heinrich Schepers unterstrichen hat. 7 Aber gerade mit dem Monadenbegriff wird der philosophische Grund gegeben, um somit das Individuum, das wir selbst sind, gerade als solches zu ermöglichen. Aber nicht nur dieses, sondern auch der religiöse bzw. religionsphilosophische Grund wird angegeben dafür, dass ein solches Individuum zugleich der Gegenstand für Gottes Strafe und Belohnung ist. Riley beachtet Theodicée, Discours Preliminaire, §10, auf den Monadologie §1 verweist. 8 Das erstere kritisiert den Quietismus mit der Begründung, dass dieser die Eigenheit von jedem vernichte, und dass die Hypothese der vorherbestimmten Harmonie gerade diesen Fehler korrigiere. Aufgrund des Harmoniebegriffs wird, so nach dem Théod, Disc. Prélim. §10, verständlich, dass „die Welt aus den unausgedehnten, einfachen Substanzen besteht, und dass jede Substanz von keiner anderen Substanz außer allein von Gott abhängig ist”. Diesen Teil von Leibniz’ Lehrsätzen bezeichnet Riley als „Proto-Monadology”, und er ist davon überzeugt, dass die Aussage der gesamten Monadologie auf diesen Punkt sich verdichte. (Aber vorgreifend müssen wir sagen, dass diese Art des Zusammenfassens der ganzen Monadologie allzu sehr ‚atomistisch‘ orientiert ist, und zum Liberalismus John Rawls’ neigt. Denn der andere Kerngedanke der Monadologie wird gänzlich außer Acht gelassen, dass jede Monade in sich je nach ihrer Art die ganze Welt ausdrückt und damit die Repräsentation der Welt und der dauernde lebendige Spiegel ist“(Mo. §56).Wenn dem Monadenbegriff das aktive Subjekt für Recht und Pflicht aufgetragen ist, beinhaltet er konsequenterweise einen Angriff gegen die Gegenbeispiele wie eine Selbst-Annihilation oder -Verschmelzung und wie eine totale Passivität beim Quietismus 9, als dessen Vertreter Fénelon genannt wird. Die Unantastbarkeit 5 6
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Dieser Vortrag ist nach Rileys Tode am 10. März 2015 erschienen: Patrick Riley: Leibniz’ Monadologie als Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. Hartmut Rudolph u. hg. v. Wenchao Li (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur, 30), Hannover 2017. Im 2018 erschienenen Werk verweist Stephan Meder auf diesen Vortrag von Riley und bezeichnet die Monadologie als „eine Rechtsphilosophie revisited”, als „eine Fragment gebliebene Metaphysik der Jurisprudenz”. Stephan Meder: Der unbekannte Leibniz. Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 225. Vgl. Heinrich Schepers: Iter rationis. Reise der Vernunft in Leibniz’ Welt der Monaden, in: Studia Leibnitiana, 49,1 (2017), S. 2–27. Leibniz verweist nur auf „Théod. 10”, aber inhaltlich müsste es heißen: „Théod. Discours Préliminaire, 10”. Zu Leibniz’ Kritik am Quietismus können aber noch zwei weitere Motive bemerkt werden als dasjenige vom „freien, unabhängigen Individuum”, das Riley betont: (1) Leibniz zufolge vernachlässigen die Quietisten sowie die Enthusiasten wie Fénelon oder Theresia de Ávila (A II,3
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des Individuums hinsichtlich dessen Autonomie sowie Identität als solches ist nichts anderes als der Ausgangspunkt und zugleich der Inhalt der Gerechtigkeit für jeden. Als ein konkretes Beispiel für seine These, „Leibniz’ gesamte Monadologie kann als eine der Gerechtigkeit verstanden werden”, 10 hat uns aber Riley ausschließlich Mo. §1 angegeben. Ich denke den von ihm einmal gelegten Ansatz um noch mehr Stellen der Monadologie als Belege miteinbeziehend zu erweitern und noch weiter auszuführen. In der Tat, auch außer dem §1 in vielen Stellen der Monadologie finden sich die Implikationen der (liberalistischen) Gerechtigkeitstheorie wie Unabhängigkeit, Spontaneität und Selbstbestimmung des Individuums. Im Folgenden seien einige wichtige Beispiele genannt: Mo. §4:„Es ist auch keine Auflösung zu befürchten, und es gibt überhaupt keine vorstellbare Art, durch die eine einfache Substanz auf natürliche Weise vergehen kann”. 11 Hier kann man ablesen, dass die Monade nicht von außen eine physischen Schaden hinnimmt, obwohl es in §89 von Teil I der Theodicée, auf den dort direkt verwiesen wird, darauf ankommt, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele rechtfertigend zu verteidigen. Die Implikation, die Mo. §4 hat, kann also heißen: Jeder (als Monade) darf von keinem anderen verletzt werden. Mo. §7: Er fängt mit dem folgenden Satz an: „Es gibt auch keine Möglichkeit zu erklären, wie eine Monade durch irgendein anderes Geschöpf umgewandelt oder in ihrem Inneren verändert werden kann”. Es geht ja um die „Fensterlosigkeit der Monade”, mit der das physische Ein- und Ausgehen der scholastischen species sensibilis verneint ist. Allerdings ist eine solche physische Fensterlosigkeit nicht eine solche, die auch die Intentionalität auf die Welt negieren wollte. So ließe sich Leibniz’ These zum Fenster der Monade als „die reale Fensterlosigkeit zugleich die intentionale Fensterhaftigkeit” kennzeichnen. 12 Abgesehen von diesem phänomenologischen Gesichtspunkt lässt sich der Paragraph 7 im Kontext einer Politischen Philosophie als ein Verbot auslegen, dass man von außen mit Macht oder Gewalt keinen anderen beeinflussen, kontrollieren darf. 13
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N. 114, S. 297) zu sehr die Vernunft, um dann in einen Fatalismus oder in die „raison paresseuse” (z. B. Théodicée, Préface, GP VI, 30) , also in eine Verantwortungslosigkeit oder sogar in eine ‚Unmoral’ geraten zu sein (DM, §4; an Arnauld vom 4./14. Juli 1686, A II,2 N. 14). (2) Leibniz sieht im Quietismus die Gefahr, dass die Selbst-Annihilation zur Negation der Individualität der Seele nach dem Tode, d. h. zum Begriff des Averroes von der einen universalen Welt-Seele führen könne. In dieser Hinsicht war Leibniz auch diesem Begriff zustimmenden Freidenkern gegenüber sehr vorsichtig. Riley (wie Anm. 5), S. 24. Zitate aus Monadologie sind der Übersetzung von Hartmut Hecht entnommen: G. W. Leibniz Monadologie, übers. u. hg. v. Hartmut Hecht, Stuttgart 1998. Vgl. Kiyoshi Sakai: Die Fensterlosigkeit der Monade. Ein Aspekt der Frage nach dem Anderen, in : Heinrich Hüni, Peter Trawny (Hg.), Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin 2002, S. 291–310. Vg. z. B. das 1679 in England revidierte Gesetz Habeas Corpus Act verbot, dass niemand ungerechterweise einen Bürger festnehmen dürfe.
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Mo. §9: „Es muss sogar jede Monade von jeder anderen verschieden sein”. Die Verschiedenheit des Individuellen bestimmt sich nicht durch äußerliche Zufälligkeiten, sondern durch innere Eigenschaften. Mo. §11: „Die natürlichen Veränderungen der Monaden rühren her von einem inneren Prinzip, da eine äußere Ursache ihr Inneres nicht beeinflussen kann”. Diesen Satz finde ich auch aus der Sicht einer Politischen Philosophie sehr wichtig. Denn keine Einflüsse dürfen von außen physisch auf die Gedanken und Glaubensartikel von anderen geübt werden. Mo. §18: Die Monaden als „εντελέχεια“ sind die Quellen ihrer inneren Tätigkeiten und werden dadurch gewissermassen zu unkörperlichen Automaten. Diese Wendung „Automat” verweist als Theorie der Gerechtigkeit auf den Begriff von „Autonomie”. Jeder besitzt das Recht, seine Lebensweise ausschließlich selbst zu bestimmen, ohne dabei sich von einer anderen Macht oder von der Gesellschaft zu beeinflussen, diese sich einmischen zu lassen. Die Autonomie stammt aus dem altgriechischen „αυτό-νόμος”, und sie bedeutet ursprünglich „denjenigen, der sich von sich selbst sein eigenes Recht stiftet“. (Es sei angemerkt, dass in den Paragraphen 29, 46 sowie 47 ein deutlich intellektualistischer Charakter von Leibniz‘ Denken zum Ausdruck gebracht wird, 14 welcher besagt, dass auch die Theorie der Gerechtigkeit aufgrund einer Metaphysik beweisbar sein muss. Dieser Superintellektualismus führt zu den wichtigsten Thesen seiner Politischen Philosophie, wie zum Begriff des „Ich“ als der durch die Vernunft zu beweisenden Monade oder demjenigen von Gott, der kein willkürlicher Herrscher ist und ausschließlich aufgrund der „ratio“ und des „amor“ die Welt geschaffen hat.) Mo. §49–52:Durch diese Paragraphen wird darauf hingewiesen, dass die gegenseitigen Einflüsse unter den geschaffenen Monaden nicht in physischer, sondern nur in ideeller Art möglich sind. Dieser Hinweis kann auch in dem Sinne verstanden werden, dass das Recht der Selbstbestimmung bejaht wird oder dass das jus strictum radikalisiert wird. Niemand darf andere mit Zwang oder Gewalt ihre Meinung ändern lassen, es sei denn, es kann gut möglich sein, auf andere einen gewissen nachdrücklichen Einfluss auszuüben, ohne dass damit die Freiheit oder Individualität verletzt würde. Die Verbindung des „Proto-Monadologischen” Ansatzes und der Theorie der Gerechtigkeit erscheint nicht nur im §1, sondern darüber hinaus auch in vielen darauffolgenden Paragraphen. Diese Paragraphen, die die liberalistischen Implikationen zeigen, befinden sich überwiegend in den anfänglichen sowie mittleren Ab-
14 So gehört der Begriff der Gerechtigkeit, Leibniz zufolge, zu den notwendigen Wahrheiten („essence”, „possibilité”, „realité”(Mo. §40–46)), die im Verstande Gotte als dessen Objekt enthalten sind, um somit auch durch den göttlichen Willen weder geschaffen noch geändert zu werden. Dieser Sachverhalt ist eben das, was Schepers zu Leibniz’ Rationalismus betont. Vgl. Schepers: Iter rationis (wie Anm. 7), S. 9f. Auch der Verfasser (Sakai) hat sich im folgenden Aufsatz auf diese Frage bezogen. Vgl. Kiyoshi Sakai: Das thomistische Paradigma von ‚resRatio-nomen‘ bei Leibniz, in: Wenchao Li, Hartmut Rudolph (Hg.): Leibniz im Licht der Theologien (= Studia Leibnitiana, Supplementa 40), Stuttgart 2017, S. 19–33.
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schnitten der Monadologie. Dagegen befinden sich die die kommunitaristische Gerechtigkeitstheorie implizierenden Paragraphen in den mittleren und späteren Teilen der Schrift. Darauf soll im nächsten Kapitel eingegangen werden. Es gehört sicherlich zu Rileys großem Verdienst, klar gezeigt zu haben, dass der von Leibniz im §1 der Monadologie hinzugeschriebene „Théod. 10” sich nicht auf deren Corpus bezieht, sondern auf den Discours préliminaire de la conformité de la foy avec la raison. 15 Ebenso wird als sein Beitrag gezählt, dass er dadurch die These des Mo. §1 über die „unausgedehnten, voneinander unabhängigen Substanzen” mit der Kritik an Fénelons Quietismus im §10 des Disc. Prélim. der Théodicée verbindet. Aber der Kerngedanke von Leibniz, dass die Monade, obwohl sie von jeder anderen unabhängig ist, von vornherein in einem apriorischen Weltbezug 16 von Ausdruck, Repräsentation und Harmonie steht, ist in Riley’s Deutung gar nicht berücksichtigt. Sie basiert ausschließlich auf der „Theory of Justice” seines Lehrers, John Rawls, d. h. auf dem Begriff des Subjekts des Rechts und der Pflicht, das als ein abstrakter Punkt qua Atom dem Guten in der Gemeinschaft absolut vorgehen würde. Die Leibniz’sche Monadologie besitzt dagegen eine andere Seite der Gerechtigkeitstheorie, nämlich den Charakter des Kommunitarismus, den wir im nächsten Kapitel prüfen. Kap. II. Die kommunitaristischen Implikationen der Monadologie Die aus insgesamt 90 Paragraphen bestehende Monadologie gliedert sich, inhaltlich gesehen, in drei Hauptteile. Interessanterweise sind das hier drei Hauptthemen der traditionellen metaphysica specialis. Diese drei Themen (Seele, Welt, Gott) sind diejenigen, die als solche von Christian Wolff erneut bestätigt und angeordnet 17, dann auch von Kant in der „transzendentalen Dialektik” seiner Kritik der reinen
15 Weder Gerhardts Ausgabe (Die Philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, 7 Bde., hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–1890) noch Robinets gründlich revidierte Ausgabe(G. W.Leibniz. Principes de la nature et de la Grâce fondées en raison. Principes de la philosophie ou Monadologie, éd. par André Robinet, Paris 1954) noch Reschers ausführliche Edition (G. W. Leibniz’s Monadology: An Edition for Students, ed. by Nicolas Rescher, Pittsburgh 1991) haben dieses aufzeigen können. 16 Vgl. Hans Poser: Monadologien des 20. Jahrhunderts, in: Albert Heinekamp (Hg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz (= Studia Leibnitiana, Supplementa 26), Stuttgart 1986, S. 338–345, hier S. 342. 17 Vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, in: Gesammelte Werke, Abt. I, Bd. 1 Vernünftige Gedanken (1) (Deutsche Logik), Vorbericht von der Wahrheit,§ 11–14, Zweite Nachdruckauflage, Hildesheim 1978, S. 118f.; Ernst Vollrath: Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 16 (1962), S. 258–284.
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Vernunft behandelt werden, und zwar als zu der zu emendierenden Metaphysik gehörig. 18 – Der erste Hauptteil: Monade (Definition, Attribut, Charakteristik): §1–36 – Der zweite Hauptteil: Gott §37–48 – Der dritte Hauptteil: Welt §49–90. 19 Der erste Hauptteil kann noch unterteilt werden in die Paragraphen 1–13, in denen die Monade = die einfache Substanz im Allgemeinen formal definiert wird, und in die 14–36, in denen die Perzeption als die monadische Handlung von „petites perception” ausgehend bis zum metaphysischen Vernunftschluss entwickelt ist. Dabei entspricht die erste Unterabteilung wohl der „metaphysica generalis”, die zweite der „psychologia rationalis” innerhalb der „metaphysica specialis”. Der zweite Hauptteil führt aus, dass die Welt (als die Gesamtheit der einfachen Substanzen) von Gott geschaffen worden ist, so dass die bestimmte Zahl von Monaden von Anfang der Welt an existiert (§43, 47). Gegen jeden Solipsismus existieren die Monaden von Anfang an mit vielen anderen, auch füreinander und miteinander. Der dritte Hauptteil thematisiert, wie solche unabhängigen Monaden auf die Welt (die Gesamtheit der Monaden) bezogen sind, da dafür die Definition der Monade als solcher (und mit der vom Schöpfer-Gott) nicht ausreicht. So wird in den mittleren und späteren Paragraphen die Gerechtigkeit der in sich die Welt (als deren Inhalt) ausdrückenden Monade, d. h. die am Kommunitarismus orientierte Gerechtigkeitstheorie mehr in den Vordergrund gerückt. Zunächst wird in den §49–52 klargemacht, dass zwischen den Monaden ideelle Beziehungen zueinander bestehen, und zwar nicht in einem physischen Sinne. Die kausale Beziehung lässt sich darauf zurückführen, ob die Perzeption einer Monade deutlicher (oder verworrener) als die einer anderen ist. Mo. §56: Die zwischenmonadische Beziehung ist die der „convenance” oder „expression”. „Jede einfache Substanz hat Beziehungen, die alle anderen ausdrücken, und sie ist folglich ein „immerwährender lebendiger Spiegel des Universums”. Wenn wir ein Individuum nennen, ist darin irgendeine Gemeinschaft (Kommune, Staat) oder gemeinsame Vorstellung des Guten ausdruckhaft mitgemeint, zu der es gehört. Die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft steht im Grunde nicht in ‚Widerspruch‘ oder ‚Gegensatz‘, wie man mit dem Liberalismus denken möchte, sondern vielmehr in einer ‚(apriorischen) Harmonie‘. Die Gemeinschaft ist kein Gegenstand, welchen das Individuum einseitig ‚besitzen‘ will oder nicht. Die Annahme eines absoluten Individuums, bei dem von jeder Zugehörigkeit abgesehen werden könnte, ist absurd. 18 In Kants Kritik der reinen Vernunft behandelt die „transzendentale Dialektik” entsprechend den drei Hauptthemen der Metaphysik, „Seele”(„Geist”), „Welt” und „Gott” jeweils die „Paralogismen der reinen Vernunft, die „Antinomie der reinen Vernunft” und das „Ideal der reinen Vernunft”. 19 Es ist äußerst interessant, dass diese Dreiteilung der 90 Paragraphen der Monadologie auch von Heidegger in seinem Seminar im Wintersemester 1935/36 an der Universität Freiburg vorgelegt worden war. Vgl. Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd.GA 84.1, „Seminare Kant-LeibnizSchiller”, hg. v. Günther Neumann, Frankfurt a.M. 2013, S. 500f.
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Mo. §57: Es handelt sich um das bekannte Gleichnis „einer selben Stadt”. Jede Monade funktioniert wie ein Fernrohr, durch das die eine und selbe Stadt je nach anderem „point du vue” unterschiedlich dargestellt wird. Jede Monade ist von den anderen verschieden, gleichwohl entsprechen sie einander einstimmig, insofern sie eine und dieselbe Welt repräsentieren. So gelangt Leibniz dazu, die „varietas” (Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit) zu bejahen. Je mehr varietas besteht, desto mehr perfectio kann gewonnen werden. Hiermit wird der inhaltlichen Vielheit ausdrücklich ein Wert zuerkannt, anstatt einer bloß nominalistischen Unabhängigkeit. 20 „Perfectio” qua „Vervollkommnung”! Mo. §59: Die Harmonie muss, Leibniz zufolge, noch eine „harmonie universelle” sein, damit das aus vielen verschiedenen, voneinander unabhängigen Substanzen bestehende noch eine Ganzheit ausmacht, ohne in eine Auflösung zu geraten. Leibniz unterstreicht die universelle Harmonie, die bewirkt, dass jede Substanz alle anderen durch ihre Beziehungen genau ausdrückt, um dann sich gegen die Einwände von Bayle zu wenden. Die Weltbezogenheit der Monade ist darum in sich zwiefach: einmal als „expression” (Vom Einzelnen zum Ganzen), dann als „representation” (Vom Ganzen ins Einzelne). Die Monade perzipiert oder drückt in sich die Welt aus, und die Welt ihrerseits ist zugleich in jeder einzelnen Monade repräsentiert. Jede Monade existiert als die Repräsentanz der Welt. 21 Wenn wir in der Tat die in der ganzen Monadologie auftauchenden Schlüsseltermini beachten, merken wir, dass diese entsprechend deren Gang in den drei Hauptteilen: „Monade”→ „Gott”→ „Welt” sich wandeln: Der Terminus „monade” findet sich überwiegend in den Paragraphen §1–20, und dann auch in den §47–60; „Perception” in den §14–28 und noch im §63, also „monade” und (besonders) „perception” konzentrieren sich beide in der ersten Hälfte. Der Terminus „Repräsentation“ („représentation“) tritt in den mittleren Paragraphen §25, 26, 60-63 auf; Die „Harmonie” („perfecte”, „préétablie”, „universelle”) aber konzentriert sich in den späteren Paragraphen wie §78, 80, 81, 87, 88. Das besagt: Die Monade bedeutet nicht bloß eine Unabhängigkeit, Aktivität, Einheit, wie man gemäß der liberalistischen Theorie der Gerechtigkeit zu betrachten neigt, sondern die Monade ist gerade dadurch individuell (von allen anderen verschieden), dass sie je nach einer bestimmten Weise die Welt ausdrückt, und zwar
20 Der in den 1960–70er Jahren in Amerika entstandenen Begriff von diversity, Verschiedenheit, zielt auf das Wachstum der Unternehmen und zugleich das Glück der Individuen, dadurch, dass man von Geschlecht, Staat, Alter absieht und damit die mannigfaltigen Talente anwendet und die Produktivität erhöht, wobei auch die Unternehmer und die Regierenden dieses unterstützen. Aber Leibniz’ Begriff der „varietas“ ist nicht mit solchen pragmatischen, nützlichen Aspekten behaftet. Sein Gedanke ist, dass allein die Mannigfaltigkeit selbst schon einen Wert impliziert, er ist somit viel radikaler. 21 Diese zwiefache Aktivität der Monade, „Ausdruck (expressio) zugleich Repräsentation bzw. Spiegelung“ („repraesentatio = concentratio mundi“) ist auch von Heidegger unterstrichen worden. Vgl. Heidegger, GA84.1, S. 652f., 810f.; Heinrich Ropohl: Das Eine und die Welt. Versuch zur Interpretation der Leibnizschen Metaphysik, Leipzig 1936, §22 (S. 35–38)
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nicht derart, dass zunächst einzelne Monaden für sich existierten, um dann als deren Zusammenhang miteinander die Welt entstehen zu lassen, wie man es üblich nach Art der Empiristen sich vorstellt. Michael Sandel zufolge, der in den 70er–80er Jahren gegen John Rawls die Liberalism-Communitarism-Debatte geführt hat, ist das Modell eines Individuums, welches vor der Gemeinschaft nur absolut für sich das Subjekt von Recht sein könnte, einfach zu abstrakt. 22 Das Einzelne bedeutet keineswegs irgendeinen abstrakten Punkt, sondern es lässt sich vielmehr inhaltlich voneinander unterscheiden je nach der Art, wie es jeweils die Welt als das von Gott ausgewählte Beste qua das Vollkommenste repräsentiert. Die Monaden sind nicht gleich, jede Monade ist von jeder anderen verschieden, wobei die Differenz sich auf ein gewisses Ganzes bezieht. Die Individualität des Mitglieds der Welt qua Gemeinschaft setzt die in den gemeinsamen Tugenden, Religionen und Rechten beinhalteten Vorstellungen vom „Guten” voraus, auch wenn da unterschiedliche Gesichtspunkte oder Grade bestehen. Die Würde des Einzelnen kann nicht mit einer bloßen Unabhängigkeit oder Aktivität gleichgesetzt werden, sondern sie wird vielmehr durch die inhaltliche Individualität oder Verschiedenheit und durch seinen ausdrücklich repräsentativen Charakter getragen. Kap. III Die Politik in Leibniz’ Gesamtplan der Wissenschaften Für Leibniz bedeutet das Wort Politik etwas anderes als man es heute gebraucht, d. h. viel mehr und zugleich gründlicher, etwas, das auch mit anderen sittlichen Dimensionen wie Ethik oder Jurisprudenz zusammenhängen kann. 23 Die „Politik” ist, Leibniz zufolge, eine Disziplin der „philosophia practica”, deren Zweck darin besteht, „ut omnes sint contenti, sive ut nemo dolore afficiatur”(A VI,4 N. 503.1, S. 2842) . Jeder hat das Recht, glücklich und fröhlich leben zu wollen. Leibniz sagt klar, dass die wahre Politik die Erkenntnis dessen ist, was das nützlichste für jeden ist. „Vera politica est nosse quid sit sibi utilissimum” (A IV,1 N. 45, S. 552: Societas philadelphica, §1). Die Politik ist in seinem Sinn weder eine „ars negotiendi” noch eine Machtausübung (die manchmal sogar eine ‚schmutzige Sache‘ sein kann), sondern sie ist der Standpunkt, von dem aus man zu erkennen versucht, was am nützlichsten sein kann. In der Politik sind der Pragmatismus (das für unser praktisches Leben Nützliche) und der Rationalismus (wobei es um das Vernunfterkennen geht) miteinander verbunden. Von daher macht bei Leibniz die Politische Philosophie keinen in sich geschlossenen, isolierten Bereich aus. Sie ist vielmehr mit der Philosophie des Rechts, juristisch oder ethisch‚ ‚vermischt‘ (im positiven 22 Vgl. Michael J. Sandel: Liberalism and the Limits of Justice, 2. ed. Cambridge 1998; Stephen Mulhall, Adam Swift: Liberals and Communitarians, 2. ed.Oxford 1997. 23 Vgl. Heinrich Schepers: Leibniz. Weg zu seiner reifen Metaphysik, Berlin 2014, S. 83: „Leibniz war in seiner ganzen Einstellung und Ausrichtung seines Lebens ein ausgesprochen politischer Philosoph”.
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Sinne). Die Frage „Was gerecht ist“, oder „Was zum ,Recht’ des Einzelnen gehört“, gehört zur Politischen Philosophie, aber sie ist zugleich auch mit der ethischen Frage, „Was gut ist“, „Was das Beste ist“ und wohl noch mit der theologischen Frage verschmolzen. 24 Anders gesagt, wenn Leibniz seine metaphysischen Konzepte entwirft, denkt er stets eine mögliche Verbindung mit den entsprechenden Ansatz in der Politischen Philosophie. Wenn er ein Argument in der Politischen Philosophie aufstellt, blickt er stets auf dessen substanzialistische Grundlage. Z. B. der metaphysische (ontologische) Begriff der „Monade” ist bei Leibniz auf die Person, „personalité“ des Einzelnen bezogen, und umgekehrt, wenn er über Pflicht oder Recht des Einzelnen, oder über das Gerechte argumentiert, wird bei ihm immer die Substanz = Monade erblickt. Diese Verbindung oder Bezogenheit aufeinander der monadologischen Metaphysik und der Politischen Philosophie sind bereits in einem Gesamtplan der Wissenschaften des jüngeren Leibniz angegeben und unterstrichen. 25 In seinem Brief an seinen Herrn Johann Friedrich in Herbst 1679 (A II,12 N. 213) wird nämlich versucht, innerhalb seines Plans der Wissenschaften der Politik bzw. der Politischen Philosophie die wünschenswerte Position zu zuweisen. 26 Leibniz beginnt dort A II,12 S. 752, Z. 21, mit den „bewiesenen Elementen der wahren Philosophie“ („les Elemens démonstrés de la vraye philosophie“). Zuerst, um den Beweis des Inhalts von Tatsachen und Moral beurteilen zu können, ist „eine neue Logik, um den Grad der Wahrscheinlichkeit, probabilité, zu erkennen“ erforderlich. Gewöhnliche Logiken setzen die Gesetze für Vernunftschlüsse, sie werden somit „Wissenschaft des universalen Begriffs“ genannt. Dagegen bezieht sich die Metaphysik auf „la notion individuelle“. Dann wird der neue Bau einer Logik gewünscht. Um noch von Gott, Seele, Person, Substanz, Attribut jeweils einen wahren Begriff zu gewinnen, ist auch die Metaphysik erforderlich. Eine noch tiefergreifende Physik ist erforderlich. Noch um zu wissen, was „Gerechtigkeit”, „justification”, „Freiheit”, „Freude”, „Glückseligkeit”, „visio” etc. sind, muss die wahre Moral bewiesen werden. Schließlich stellt Leibniz fest, dass die wahre Politik und die Glückseligkeit der Menschheit (auch in dieser Welt) gerade mit der unantastbaren, unwidersprochenen Macht des Regierenden und des „empire interieur” am besten übereinstimmen. Die Macht des Regierenden („le souverain“) bezieht sich auf die „äußerlichen Güter”(„les biens exterieurs“), und die Macht des „empire interieur“ wirkt durch die Kirchen auf unsere Seelen (AII,12 N. 213, S. 753, Z. 10–12). 27 24 Insofern könnte man sagen, dass in Leibniz’ Politischer Philosophie, aus der Sicht der modernen Naturrechts-Theorie, das „Rechte“ (ob eine äußerliche Handlung eines Menschen rechtmäßig oder rechtswidrig ist) und das „Gute” (was man tun soll) nebeneinander vorhanden sind. 25 Zur Bedeutung dieses Briefes an Johann-Friedrich vgl. Schepers: Leibniz (wie Anm. 23), ebd. 26 Der in diesem Brief vorgelegte Gesamtplan könnte auch einen Plan für die Demonstrationes catholicae bedeuten. 27 Das in diesem Brief an Johann Friedrich gebrauchte Wort „mystere” kann nicht meinen, dass Leibniz eine Mystik verträte. Nach Leibniz muss auch die Offenbarungsreligion mit der Ver2 nunft übereinstimmen: A II,1 N. 213, S. 751, Z. 19.
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Die Welt, die Leibniz in seiner Monadologie als das Wichtigste im Auge hält, ist nicht die empirisch verstandene Welt, die aus den vorhanden Seienden bestehen, sondern in erster Stelle die Welt, die aus der Handlungen der existierenden geistigen Kräfte besteht. Deswegen werden in seiner Monadologie der Bau der wünschenswerten Jurisprudenz sowie eine Theorie der Gerechtigkeit umso wichtiger. 28 Dann stellt sich hier eine weitere, interessante Frage: Kann die Politik durch die Metaphysik erklärt werden? Kann man mit und durch den „Monarch Gott“ und die „Kooperation der Geister“ (Mo. §83–90) einen solchen Sachverhalt wie Vervollkommnung des Universums denken? Diese Frage kann schon positiv beantwortet werden, weil die Politik, die Leibniz im Brief an Johann Friedrich als „la vraye politique” 29 darlegt, offensichtlich diejenige ist, die nur apriorisch mittels der Vernunft gebraucht werden kann. Die Politik in diesem Sinne kann man nicht erfahren, aber sie muss als solche erkannt und realisiert werden können. Leibniz versucht dann, die Metaphysik oder die metaphysische Politik verständlich (der richtig geleiteten ratio gut zugänglich) zu machen. Hierbei kam er als ein junger Jurist am Mainzer Hof dazu, die exakte Logik einschließlich einer neuen Probabilitätslogik zu recherchieren. Leibniz kam es nicht darauf an, ein großer Metaphysiker als solcher zu sein, sondern die für ihn kardinalen, politischen Ziele zu erreichen. In den letzten Paragraphen der Monadologie spricht er expressis verbis über die wahre Politik hinsichtlich von was und wozu. Als Antwort dafür lässt sich zweierlei entnehmen: Einmal, die Zusammenarbeit zugunsten der göttlichen „gubernatio”, nichts anderes als das „bonum commune” für die ganze Menschheit, dann die „felicité“ aller Bürger 30 . Die Gesamtheit solcher Aktivitäten, die darauf zielen, ist nichts anderes als die Politik („la vrai politique”). 31 Auch in diesem Sinne ist Hobbes’ Voluntarismus gar nicht akzeptabel. Gott sucht und findet das Beste aller möglichen Welten. Was sich die Metaphysik zu erkennen bemüht, ist Gottes Vollkommenheit. Gott wird versuchen, die von Gott geschaffene Welt zu deren Vollkommenheit zu bringen. Es lässt sich sagen (metaphysisch gesehen): die eine vollkommene Monade, d. h. Gott, ist das Ziel der Politik. Mit Hartmut Rudolph gesagt ist die Metaphysik die Konditionierung der Politik. Die Monaden sind nicht zugleich einzelne Politiker. Vielmehr übt die caritas sapientis als die auf der Metaphysik gegründete
28 Hartmut Rudolphs Blockseminar an der Gakushuin-Universität vom 21. Februar 2019; Heinrich Rombach sieht Leibniz’ Monadologie nicht als eine „Über-Physik”, sondern als die „ÜberMetaphysik”. Rombach situiert diese also auf die Entwicklungslinie auf das „Ding an sich” = die intelligible Welt = Moraltheorie. Vgl. Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur, Bd. II. Freiburg/München 1966, S. 374-383. 2 29 A II,1 N. 213, S. 753, Z. 9. 30 Diese beiden Ziele könnte man auch in der Preamble of the United States Constitution vom 17. September 1787 finden. 31 Auch hierzu erhielt der Verfasser einen wichtigen Hinweis durch Hartmut Rudolphs Blockseminar an der Gakushuin-Universität vom 21. Februar 2019.
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benevolentia universalis ihre Auswirkungen in dieser Welt, im empirischen, menschlichen Umgang. Kap. Ⅳ. Die Politische Philosophie und ihr metaphysisches Fundament Leibniz’ monadologische Metaphysik unterstreicht, dass das unteilbare, unabhängige, aber gleichwohl die Welt ausdrückende, unaustauschbare Individuum gerade im Vollzug dessen das Individuum ist, die Welt qua das Ganze zu spiegeln. Diese These können wir als „liberalistische, zugleich kommunitaristische Theorie” kennzeichnen. Diese in sich zwei verschiedene Ansätze enthaltende und synthetisierende Politische Philosophie hat einmal in den früheren, dann in den späteren Paragraphen der Monadologie ihr philosophisches Fundament. 4.1 Definition der Freiheit In An Essay concerning Human Understanding geht es Locke dabei gar nicht um eine ‚Autonomie‘, wie es bei Leibniz die Frage ist. Sondern Locke definiert die Freiheit als einen ‚Zustand‘, wo man nicht gehindert wird, das zu machen, wenn die eigene Seele etwas tun will. Das heißt: bei Locke wird nicht gefragt, ob „der Wille frei ist oder nicht”, sondern ob man sich in einem Zustand befindet, dass er nicht gehindert wird, wenn man etwas tun will. 32 Fernerhin kann jeder, Locke zufolge, ohne Grenzen konkurrieren, um damit realisieren zu können, was er sich erwünscht, sofern man das Recht anderer nicht verletzt. Im Kontrast zu einem solchem Verständnis wie dem von Locke gibt Leibniz die folgende Definition: „Die Freiheit ist die Spontaneität des mit Vernunft Erkennenden” („Libertas est spontaneitas intelligentis“, GP VII, 108), oder „Die Freiheit ist, dass man der Vernunft folgen kann” („Liberté est le pouvoir de suivre la raison“, GP III, 279). Diese Freiheit steht nicht unter einer vermeintlichen, blinden Notwendigkeit (wie es bei Spinoza der Fall war). Der freie Wille richtet sich intentional auf das bonum commune als sein Ziel, ohne aber dazu gezwungen zu werden.
32 John Locke: An Essay concerning Human Understanding, ed. by Alexander Campbell Fraser, New York 1894 (Nachdruck ebd. 1959), II, chap. 21, sec. 8,12: „Liberty what”,14: „Liberty belongs to the Will”, 21: „to the inquiry about liberty, I think the question is not proper, whether the will be free, but whether a man be free”、22: „In respect of willing a Man is not free”,27: „Freedom”, 29: „What determines the Will”, 33: „The Uneasiness of Desire determines the Will”.
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Eigentumsrecht und Kolonie
Es sei auch der Begriff von property bemerkt. In seinen Two Treatises of Government, 1698 33 behauptet Locke entsprechend seinem Freiheitsbegriff folgendes: Jeder darf alles als sein privates Eigentum besitzen, was er sich durch seine Arbeit erworben hat, ebenso wie, dass sein Körper nur ihm gehört und keinem anderen. Gerade dieser Lockesche Begriff vom „Eigentumsrecht” ist bekanntlich zur Voraussetzung für die (ausdrückliche) Rechtfertigung von Privateigentum und seiner Unantastbarkeit geworden. Aber dieses Argument von Locke hat, wenigstens im Ergebnis, dazu geführt, dass das seit Urzeiten von den Indianern bewohnte, weite Land in Nordamerika allein von den weißen Einwanderern mehr und mehr in Besitz genommen wurde, so dass die systematische Kolonialisierung offiziell durch England anerkannt worden ist. 34 Was die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen anbelangt, äußert sich Locke optimistisch. In der betreffenden Stelle seiner Two Treatises heißt es: Wenn das gesamte Vermögen groß genug geworden ist, können auch die Armen den Rest des Wachstums bekommen, so dass die Kluft geschlossen oder verkleinert wird. Diesen Optimismus gibt es bei Leibniz nicht. Dies tritt in seinen folgenden Bemerkungen, die vielleicht etwas wie ein moderner Protektionismus gegen den freien Handel klingen könnten, deutlich in den Vordergrund: Die inländischen Manufakturen müssten vor den aus dem Ausland importierten Waren geschützt, oder die 33 Locke: Two Treatises of Government. Im V. Kapitel „On Property” argumentiert er über die Einwanderung der Engländer in Nordamerika: Gott habe der Menschheit die Welt als deren Gemeinbesitz gegeben, aber zugleich ihr befohlen, die Natur zu bearbeiten, um damit ihr Leben zu erhalten. Der Gewinn der so Arbeitenden und das gebrauchte Grundstück würden mit Recht zum Eigentum der Einwanderer. 34 Daniel Cook hat mit seinem Vortrag bei der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft Hannover am 12. Februar 2019 beim Publikum eine große Diskussion ausgelöst (gedruckt: Leibniz on “Advancing toward Greater Culture”, in: Studia Leibnitiana, 50 (2018), S. 162–179). Cook meinte, dass Leibniz, trotz seiner Hochschätzung der kultivierten Chinesen, im Grunde wie bei vielen anderen in seiner Zeit kolonialistisch, imperialistisch eingestellt gewesen sei, um somit die noch unkultivierten, d. i. noch nicht christianisierten Völker definitiv als „Barbaren”, „Wilde” zu bezeichnen, und dass Leibniz über die damals in Amerika von den Europäern geübten grausamen Gewalttaten gegen die Einheimischen gänzlich geschwiegen habe. Aber auch hierzu müssten wir eine Hermeneutik durchführen und fragen, wann, an wen und in welchem Kontext er sich so oder so geäußert hat oder nicht. Jedenfalls wäre es etwas allzu kurzsichtig, wenn man nur anhand von ein paar Stellen ein so pauschales Urteil fällen wollte, Leibniz hätte zugunsten der expansiven Weltpolitik der europäischen Großmächte gewirkt, usf. Aber im klaren Unterschied zu Leibniz’ Vorgehen hatte Locke für eine bestimmte Zeit an den folgenden Regierungs-Handelskommissionen offizielle Ämter als Leiter oder Finanzrat inne: 1673–74 Council for Trade and Plantation,1675–96 Lords of Trade, und nach 1696 Boards of Trade and Plantations. Sein Werk Two Treatises of Government kann als sein Rechtfertigungsversuch der Einfriedung des besiedelten Bodens und der Ausschließung der dort ursprünglich Lebenden betrachtet werden, zugunsten der englischen Besiedlungspolitik im Ganzen und dem frühen Imperialismus als solchem. Vgl. Nagamitsu Miura: Jon rokku to Amerika senjumin (John Locke und Colonialismus in Amerika. Liberalismus und Kolonialpolitik), Tokio 2009, bes. S. 48-78); Maurice Cranston: John Locke: A Biography, London 1957, p. 107.
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Unzulänglichkeiten der ausländischen Waren müssten eliminiert werden. Die Geldüberweisung ins Ausland und die Investition im Ausland müssten verboten werden. Jedes Land sollte bezüglich der ausländischen Produkte nur so viel importieren wie der Nachfrage entspricht. Das Land sollte, ohne vom Ausland zu importieren, nur so viel produzieren, wie es für sich produzieren kann. Die Armut in der Gesellschaft dürfe man nicht außer Acht lassen, denn unter einer solchen Situation würde sich eine ernste Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft ergeben, und wenn die Armut über eine Generation hinweg sich fortsetzen sollte, würde eine solche Gesellschaft ihre Aktivität, Kraft und Vielfalt verlieren. 35 Der Liberalismus, dessen Ansätze von Locke vorbereitet wurden, lehrt uns, dass man alles tun dürfe, was man will, ohne von anderen gehindert zu werden, sofern man keine anderen hinsichtlich deren Recht verletzt. Die seit den 1980er Jahren immer mehr verbreitete, schon einem Glauben oder einer Ideologie ähnlich gewordene Vorstellung, dass man zugunsten des Gewinns Wirtschaft, Finanzen, Handel über die nationalen Grenzen hinaus möglichst schnell und reibungslos hin und her gehen lassen soll, hat die Gesellschaftsstrukturen immer drastischer geändert. Aber schon im 17. Jh. hatte Leibniz erkannt, welche logischen Folgen und mögliche Gefahren dieser verfälschte ‚Freiheits’-begriff enthält, und er hatte einen anderen, alternativen ‚Freiheits’begriff vorgelegt, um damit einem solchen falschen (aber damals schon weitbekannten) Freiheitsbegriff zu widersprechen. 4.3 Über die Billigkeit (aequitas) 36 Wegen des „Eigentums“, Hans-Peter Schneider zufolge, betrachtet Leibniz das Privateigentumsrecht als unnötig und plädiert für das bindende „Gemeinschaftsrecht”. 37 Denn die durch den besten Staat (Vernunftstaat) angeordnete Inlandsverfassung stimmt, so Leibniz, vollkommen mit dem Naturrecht überein, wobei das Interessenverhältnis unter den Bürgern vollkommen auf dem „bonum publicum” gegründet wird. Leibniz bestimmt aber die Gerechtigkeit im Grunde als soziale. Es ist gerecht, die societas (socio = verbinden), also die höchste Gerechtigkeit, in der Gestalt der „societas civilis” zu erhalten (A VI,4 N. 512, S. 2907). Bei Leibniz wird die Gerechtigkeit in einer engen Verbindung mit der Gesellschaft, „societas“, konzipiert. 35 Leibniz’ Vorschläge, gegen die ausländischen Produkte die inländischen zu schützen, lassen sich sowohl in der Mainzer Zeit als auch in der späteren Zeit im Umkreis der Gründung der brandenburgischen Sozietät finden: Grundriß eines Bedenckens von Aufrichtung einer Societät in Teütschland zu auffnehmen der Künste und Wißenschaften, 1671(?) (A IV,1 N. 43); Gedancken von Aufrichtung einer Societatis Scientiarum et Artium, 1700 (A IV,8 N. 78). 36 Als die metaphysische Grundlage für den Begriff der Billigkeit möchte ich darauf hinweisen, dass die Monade mit keiner anderen verglichen werden kann, um damit jeweils nur deren eigenen Inhalt zu haben. 37 Vgl. Hans-Peter Schneider: Leibniz, in: Michael Stolleis (Hg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2. erweiterte Aufl., Frankfurt a.M. 1987.
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Diese Gerechtigkeit wird von Leibniz noch einmal in drei Unterbegriffe gegliedert: „justitia universalis”, „justitia particularis” und „justitia distributiva”. Die justitia universalis besagt, dass alle Menschen (Bürger) auf ein bonum commune hin zusammenwirken sollen. Die justitia particularis, die auf das Gesellschaftsvermögen bezogen ist, besagt, dass eine Art Gleichberechtigung unter den Bürgern erhalten werden soll. Für unser Thema ist jetzt die dritte, die justitia distributiva, besonders zu betrachten. Die distributive Gerechtigkeit ist die Tugend („virtus”), durch die das öffentliche Gut der Gesellschaft (bzw. das als solches Betrachtete) an ihre Mitglieder verteilt wird, derart, dass dabei kein Streit entsteht. Anders gesagt: erst wenn das öffentliche Gut neu verteilt worden ist, so dass dieses von den Bürgern ohne Streit gemeinsam besessen wird, dann kann man über die Gerechtigkeit reden. Dabei geht es Leibniz aber nicht um eine bloß quantitative Gleichheit, sondern gerade um die dem Naturrecht (aequitas, Billigkeit: „quicumque suum tribuere“) entspringende Gerechtigkeit, d. h. eine ‚qualitative Billigkeit‘. 38 „Die Gesellschaft/Gemeinschaft ist ein aggregatum (Zusammengesetztes) , welches aus vielen Menschen besteht, die auf das bonum commune (als Ziel) hin tendieren” („Societas est compositum ex pluribus ad commune bonum (velut finem) tendentibus“) (A VI,4 N. 512, S. 2906). Von daher nimmt er ausdrücklich gegen die Staatstheorie von Hobbes Stellung. Hobbes zufolge ist der Mensch keineswegs ein Lebewesen, welches instinktiv zur Gemeinschaft strebt, wie Aristoteles angenommen hatte. Hobbes unterstreicht, dass der Staat („civitas“) demnach durch einen „Vertrag” der den Tod befürchtenden Menschen („bellum omnium contra omnes”) ausschließlich als ein ‚Nachtwächterstaat‘ entstehen könne. Aber von Leibniz her gesehen ist Hobbes’ Begriff vom „Naturzustand” viel zu abstrakt und eng. Weil die Menschen auch vor einem solchem Zustand, wo noch kein Staat gebildet ist, in nicht wenigen Fällen versuchen, vielmehr Streit zu vermeiden und einen möglichen Kompromiss zu finden. Der Staat, den Leibniz entwirft, ist ein solcher Staat, in welchem das Verhältnis vom Regierenden/Herrscher und den Untertanen auf eine gegenseitig verpflichtende Gebundenheit erhöht wird. Der Leibniz’sche Staat als „die Gesellschaft der Gesellschaften” ist eine Welt, in der die Einzelnen sich nicht nur ihres juristischen Rechts und ihrer Gleichheit bewusst sind. In einem solchem Staat existiert jeder noch als das unersetzbare Individuum und macht ein zweckmäßiges (d. h. nicht zwangsmäßiges) Ganzes aus, ohne dennoch die Individualität und die Mannigfaltigkeit zu verlieren. Im Unterschied zu den oben gestreiften Gedanken von Leibniz können wir beobachten, dass es bei Locke oder Hobbes eine Unverbindlichkeit oder sogar eine gewisse Unstimmigkeit zwischen ihrer Metaphysik einerseits und ihrer Politischen 38 Die bekannte Episode von den „zwei Jungen im Streit um ihre Kleider” aus der Κύρου παιδεία (Erziehung des Kyros ) von Xenophon, die z. B. in der Praefatio codicis juris gentium diplomatici (§ 12) von Leibniz zitiert und kommentiert worden ist (A IV,5 N. 7, S. 62), kann nicht nur als eine erneute Bestätigung des jus strictum („neminem laedere“) interpretiert werden, sondern auch als eine Betonung dessen, dass die aequitas nicht nur eine bloß quantitative, sondern vielmehr im Grunde eine qualitative bedeutet. Der Spruch „quicumque suum tribuere” muss gerade in der letzteren Dimension erfasst werden.
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Philosophie (Liberalismus) andererseits gibt. Der „Substanz”-begriff von Locke ist ein „unbekanntes x“, welches hinter/unter den sinnlich empfundenen Eigenschaften angenommen werden könnte. Folglich ist das Ich als „Subjekt von Recht und Pflicht“ ein bloß nominalistisch gedeutetes und somit nur abstraktes Atom. Bei Locke ist der Inhalt des Ich gleichgesetzt mit dem (empirischen) Zustand, dass man sich jeweils bewusst ist. Das Ich im Sinne von Locke macht also keine reale, positive Identität aus. Das Ich kann in diesem Fall sich nicht weiter erstrecken als die Erinnerung bzw. das Gedächtnis reicht. Schluss Aufgrund seiner Orientierung an der Monadologischen Metaphysik (d. h. weder an dem Cogito (Descartes, Locke) noch an der Person (Kant, Peter Singer), sondern gerade an der „Monade”!) gelangt Leibniz bereits zu einer anderen, neueren Politischen Philosophie oder Ethik qua Theory of “Living-with”, wo das nicht auf „Bewusstsein-Apperzeption-Gedächtnis” beschränkte Subjekt-Modell in den Vordergrund gerückt worden ist. Die Frage, ob die Politische Philosophie, die Theorie der Gerechtigkeit oder die des Naturrechts letztlich auf den Vernunft und Bewusstsein habenden Menschen gerichtet sind, lässt sich bei Leibniz mit „Nein” beantworten. Aufgrund der Seinsart der einfachen Substanz-Monade wird das Ich ontologisch als Ich-Substanz sichergestellt, um somit die „reale physische Identität” auszumachen. Von den empirischen psychologischen Tatsachen, denen Locke sich immer zuwendet, dass „man sich dessen bewusst wird” oder dass „man sich an seine Vergangenheit dauernd erinnert, erinnern kann” hängt die wahre reale Identität des Ich nicht ab. Dem Säugling, Schwerbehinderten oder geistig Kranken kann man, so nach Locke, im Prinzip keine personale Identität zusprechen, insofern sie wenigstens von außen betrachtet weder Bewusstsein noch Gedächtnis zu besitzen scheinen. Dagegen kommt Leibniz nicht zu solch einer Feststellung, dass der betreffende Mensch doch ein anderer, oder eigentlich kein Mensch wäre, auch wenn er weder Gedächtnis noch Erinnerung hat. Diese Einsicht wird auch Husserl teilen: In seiner späteren Phase (1920 sowie 1930er Jahre) intensiviert Husserl seine Analyse der „Passiven Synthesis”. 39 Sein Ergebnis lautet: Auch im „Vor-Ich”, dem noch kein Bewusstsein des Ich zugekommen ist, wird schon vorgreifend eine „passive Synthesis” durch die „Instinktsintentionalität” vollzogen. 40 Ein solches Ich, das vor seiner bewusstseinsmäßigen aktiven Synthesis schon instinktsintentional im Vorhinein die Welt oder besser den Anderen begegnet ist, wird von Husserl als das 39 Vgl. Kiyoshi Sakai: Passive Synthesis und „vis passiva”.Versuch einer neuen Annäherung an die Husserl-Leibniz-Problematik, in: Wenchao Li (Hg.): 300 Jahre Monadologie: Interpretation, Rezeption und Transformation (= Studia Leibnitiana, Supplementa 39), Stuttgart 2017, S. 109–127. 40 Vgl Husserliana, XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, 604f., 608–610; XLII,137–153.
Leibniz’ Politische Philosophie
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„monadische Ich” bezeichnet. Gerade in diesem Kontext zieht er wiederholt die „petites perceptions” in der Monadologie und in den Nouveaux essais heran. Ob ein gewisses Bewusstsein, „apperception”, vorhanden ist oder nicht, oder egal in welchem Zustand, d. h. in leichtem Schlummer, in Ohnmacht oder in tiefem Schlaf, man sich befinden mag, ist das Ich schon da (oder es bleibt immer noch Ich), ist das nichts anders als das Ich, um die Würde des Einzelnen nicht zu verlieren. Jede Monade, jede höhere oder niedere, ist unersetzbar, aber nicht, weil sie mit Gedächtnis sowie Aufmerksamkeit versehen war, sondern gerade weil die Monade eine einfache Substanz bedeuten soll, als deren Attribute „perception”, „expression” und zugleich die „représentation” vorhanden sind. Um die „Person” im Sinne der Person-Theory sein zu können, ist die Bedingung: „Es soll das Selbstbewusstsein vorhanden sein” erforderlich. Nur mit einem solchen Argument: es fehle dem Embryo, dem Säugling ohne Gehirn oder dem Körper im Gehirntod am Selbstbewusstsein als solchem, lassen diese sich deshalb als „Ding” bezeichnen? 41 Ein Hindernis ist kein Mangel an etwas, was eigentlich da sein müsste. Sondern solche mit dem Handicap geborenen Kinder sind auch ebenso jeweils eine unersetzbare Monade, die in sich selbst in einer bestimmten Weise diese ganze Welt ausdrückt. 42 Leibniz’ Metaphysik könnte somit nicht zuletzt eine Begründung liefern für die unantastbare Würde des Menschen.
41 Vgl. Nouveaux essais, III, „Des mots“,chap. 3; A VI,6 292f.: Gegen die Locke-Descartes’sche Dogmatik, nach der man auch ein Kind, welches unglücklicherweise schwer behindert geboren ist, so dass es anders aussieht als andere Kinder, dem tierischen Wesen gleichstellen will, sagt Leibniz: Man könne und müsse auch dieses Kind ebenso in die Gesellschaft eingliedern, nur wenn man feststellen kann, dass das Kind in gewisser Weise an der Vernunft teilhat. Deswegen sei man verpflichtet, den behinderten Kindern noch bessere, intensivere Pflege und Erziehung angedeihen zu lassen. 42 Im Brief an Elisabeth Charlotte von Orléans für Philippe II. von Orléans vom 9. Februar 1706 berichtet Leibniz über ein Kind, das seit Geburt in der Hörfähigkeit behindert war, aber durch ein gutes Maß an Disziplin genügend Sprachfähigkeit erlangt hatte. A I,25 N. 356; Klopp IX,163–169.
EHER LEIBNIZ ALS KANT Ulpians praecepta iuris im Spiegel differenter Rechtsbegriffe Stephan Meder, Hannover I. Einleitung Weil große Denker viel zu denken geben, reichen Jahrhunderte oft nicht aus, um sich über ihre Größe zu verständigen. Bis heute existieren verschiedene Meinungen darüber, worin die größte Leistung von Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant zu sehen ist. Fest steht jedenfalls, dass sowohl Leibniz als auch Kant eine wirkungsmächtige Rechtsphilosophie formuliert haben, die unterschiedlicher kaum sein könnte. So muss es überraschen, dass beide Denker von Ulpians praecepta iuris ausgehen: „Leibniz nahm in einer gewissen historischen Unbefangenheit die drei Gebote zum Ausgangspunkt einer völlig eigenen Gerechtigkeitslehre, in der die Ulpianischen Begriffe eine neue Bedeutung erhielten“. 1 Dieser Aussage kann nur beigepflichtet werden. Sie trifft aber mehr auf Kant als auf Leibniz zu. Domitius Ulpianus (um 170 – 228) gehört zu den angesehensten Juristen der Spätantike. Von ihm stammt gut ein Drittel der Auszüge aus Schriften römischer Juristen, die der byzantinische Kaiser Justinian (um 482 – 565) in die Digesten, den wichtigsten Teil des Corpus iuris civilis, hat aufnehmen lassen. Ulpians drei Gebote des Rechts, die praecepta iuris: honeste vivere (ehrenhaft leben), alterum non laedere (niemandem schaden), suum cuique tribuere (jedem das Seine geben), finden sich an prominenter Stelle im ersten Titel der Digesten (D. 1.1.10.1). Obwohl sie einen festen Platz in der europäischen Geistesgeschichte besitzen, wird nach wie vor gefragt: Was bedeuten sie eigentlich? 2
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Ulrich Manthe: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs II: Stoische Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 114 (1997), S. 1–26, 23; Malte Diesselhorst: Die Gerechtigkeitsdefinition Ulpians nach D. 1.1.10 pr. und die Praecepta iuris nach D. 1.1.10.1 sowie ihre Rezeption bei Leibniz und Kant, in: Okko Behrends, Malte Diesselhorst, Wulf Eckhart Voss (Hg.): Römisches Recht in der europäischen Tradition, Ebelsbach 1985, S. 195–211, hier S. 201-208. Ein inhaltlicher Vergleich der beiden Interpretationen ist bislang in den Rechtswissenschaften nicht gezogen worden. Für die Philosophie siehe Robert Schnepf: Systematisierung von rechtlichen Intuitionen? Die drei Formeln Ulpians bei Leibniz und Kant, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 253–282 (wo das Thema freilich unter einem sehr speziellen Gesichtspunkt erörtert wird). Zum Sinn der praecepta iuris, wie Ulpian ihn sich ‚gedacht haben mag‘, siehe unten IV 1.
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Stephan Meder
II. Die drei Gebote Ulpians in Kants Rechtsphilosophie Warum räumt ausgerechnet Kant den praecepta Iuris einen so zentralen Platz ein? Er achtet juristische Traditionen, will die überkommenen Interpretationen aber nicht einfach wiederholen, sondern den „drei classischen Formeln“ einen Sinn unterstellen, den Ulpian sich „zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu entwickeln, oder hinein zu legen“. Diese Worte entstammen der Metaphysik der Sitten, die Kant 1797, also in einem Alter von 73 Jahren verfasst hat. 3 Dass die Rechtsphilosophie zu seinem Alterswerk gehört, ist oft bemerkt worden. 4 Ihre Fundamente hat Kant jedoch schon vor 1797 gelegt. 5 „Sei ein rechtlicher Mensch“ (honeste vive), „tue niemandem Unrecht“ (neminem laede) und „tritt […] in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher Jedem das Seine erhalten werden kann“ (suum cuique tribue). 6 Kant wandelt Ulpians praecepta also in drei Rechtspflichten um, wovon die erste (honeste vive) die meisten Fragen aufwirft. Die Forschung pflegt sie denn auch als „dunkel“ oder „kryptisch“ zu bezeichnen. 7 Mit Blick auf Leibniz muss vor allem interessieren, ob Kant dem honeste vive etwas ‚Ethisches beigemischt‘ hat.
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Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Ausgabe (AA) VI, 236 (Z 21–23) u. 237 (Z 9). Das Werk ist in zwei Hauptteile gegliedert, die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“ und die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“. Die Interpretation der praecepta findet sich in den auch „Rechtslehre“ genannten „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ (AA VI, 236–237). Berühmt geworden sind die despektierlichen Äußerungen von Arthur Schopenhauer: „Die Rechtslehre ist eines der spätesten Werke Kants und ein so schwaches […]. Nur aus Kants Altersschwäche ist mir seine ganze Rechtslehre, als eine sonderbare Verflechtung einander herbeiziehender Irrtümer […] erklärlich“, in: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Bd. I, Zürich 1988, S. 436 u. 667. Zu „Kants Senilität in der Mitte der neunziger Jahre“ Bernd Ludwig: Kants Rechtslehre, Hamburg 1988, S. 39–41 („er räumt der Obrigkeit zu viel ein“). Vgl. nur Philipp-Alexander Hirsch: Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784. Immanuel Kants Rechtsbegriff in der Moralvorlesung „Mrongovius II“ und der Naturrechtsvorlesung „Feyerabend“ von 1784 sowie in der „Metaphysik der Sitten“ von 1797, Göttingen 2012. Metaphysik der Sitten, AA VI, 236–237. Hans Friedrich Fulda: „Deduktion der Einteilung eines Systems“ – erörtert am Beispiel „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Ders., Jürgen Stolzenberg (Hg.): Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, S. 346–366, 349; Otfried Höffe: Kategorische Rechtsimperative nach Ulpian, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung, Berlin 2001, S. 275–285, 275; Rainer Friedrich: Eigentum und Staatsbegründung in Kants Metaphysik der Sitten, Berlin/New York 2004, S. 57–73, 58 („schwerwiegende systematische und begründungstheoretische Probleme, die sich kaum auflösen lassen“).
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1. Honeste vive zwischen Recht und Ethik? „Sei ein rechtlicher Mensch“ und „mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“. 8 Kant interpretiert Ulpians erstes Gebot (honeste vive) als Pflicht zur „rechtlichen Ehrbarkeit“ und definiert es „als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“ (lex iusti). In der Schlussbemerkung zu den „drei classischen Formeln“ unterscheidet er noch zwischen inneren und äußeren Rechtspflichten. 9 Zwar wird auch das honeste vive durch die „Willkür Anderer“ nach dem „Prinzip der Freiheit“ bestimmt. 10 Als Pflicht gegen sich selbst ist es jedoch eine „innere“ Rechtspflicht: Der ‚Andere‘ tritt nicht als Mensch ‚außer uns‘, sondern als Idee der Menschheit ‚in uns‘ auf. Dem honeste vive fehlt also, soweit es dem „Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“ entsprungen ist, der für Rechtspflichten charakteristische Alteritätsbezug. 11 a) Honeste vive als Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit und Selbsterhaltung Die Annahme einer inneren Rechtspflicht tritt in Konflikt mit Kants Aussage in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, wo es heißt: „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein“. 12 Es ist daher die Frage aufgeworfen worden, ob es sich beim honeste vive nicht eher um eine Tugendpflicht handelt, die als innere, unvollkommene Pflicht in das Gebiet der Ethik fällt. Dafür spricht, dass Kant die erste Formel in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten noch als Prinzip ethischer Pflichten bestimmt hat. 13 Einige Autoren wollen das honeste vive denn auch nicht für eine wirkliche Rechtspflicht halten, sondern für eine den äußeren Pflichten vorgeschaltete innere Verbindlichkeit. 14 Andere meinen, es handele sich um eine Pflicht, die jedenfalls nicht eindeutig in das Gebiet des Rechts falle, sondern eher in einem Zwischenbereich oder an der Grenze zur Ethik liege. 15 8 Metaphysik der Sitten, AA VI, 236 (Z 24–30). 9 Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 (Z 10). 10 Vorarbeiten zur Einleitung in die Rechtslehre zum Anhang und zur Einteilung der Rechtslehre, in: Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. X: Vorarbeiten und Nachträge, AA XXIII, 253–270, 269, Z 1f. (während die ethischen Pflichten durch eigene Willkür nach dem Prinzip der Zwecke bestimmt werden). 11 Metaphysik der Sitten, AA VI, 236 (Z 29f.). 12 Metaphysik der Sitten, AA VI, 219 (Z 17f.). 13 „Honeste vive. Dies ist das Prinzip der Ethik“, Metaphysik der Sitten Vigilantius (1793/94), in: Kants Vorlesungen, Bd. IV: Vorlesungen über Moralphilosophie, AA XXVII, 479–732, 527 (Z 12). Dazu näher Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1984), Frankfurt am Main 1993, S. 214f.; Ders.: Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 54-57; Hirsch (wie Anm. 5), S. 59f. 14 Vgl. Sharon B. Byrd, Joachim Hruschka: Lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae in Kants Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 91 (2005), S. 484–500, 496f.; Dies.: Kant’s Doctrine of Right. A Commentary, Cambridge 2010, S. 62–67, 65f. (bei Anm. 86). 15 Robert P. Pippin: Deviding and Deriving in Kant’s Rechtslehre, in: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, S. 63–85, 69f.;
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All diese Überlegungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kant das honeste vive eindeutig dem Gebiet des Rechts unterworfen hat. Schon sein Sprachgebrauch „Rechtspflicht“ lässt erkennen, dass er sich, gegen die früheren Entwürfe, spätestens seit 1797 gezwungen sah, das honeste vive von der Ethik zu separieren. Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Die rigorose Abspaltung der Jurisprudenz von der Ethik gehört zu den wichtigsten Merkmalen von Kants Rechtsphilosophie. Die Trennlinie wäre brüchig geworden, wenn der „Einteilung der Rechtslehre“ eine Verbindlichkeit vorgelagert wäre, deren Rechtscharakter fragwürdig erscheint. 16 Das „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ muss im Zusammenhang mit dem Satz „mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel“ gelesen werden. 17 Zu einem „bloßen Mittel“ würden Menschen sich herabwürdigen, die, wie Sklaven oder Leibeigene, „lauter Pflichten und keine Rechte haben“. 18 Das honeste vive handelt also von den Grenzen der Selbstentwürdigung. Wer sich freiwillig zum Sklaven macht, darf nicht einwenden: Ich bin doch frei, ich bin Eigentümer meiner selbst und kann über mich auch so verfügen, dass ich Sklave oder Leibeigener werde. Kant würde antworten: Ja, du bist zwar dein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer deiner selbst (sui dominus). Denn jeder ist „der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich.“ 19
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Adam Horn: Immanuel Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung, Düsseldorf 1936, S. 14 (wir müssen „auch die ‚innere Rechtspflicht‘ zur Ethik rechnen“), sowie Hariolf Oberer in seinem Nachwort zur Neuausgabe des Werks von Horn, Würzburg 1991, S. 67–73. Wie heikel diese Frage ist, zeigt sich auch darin, dass Oberer seine Auffassung später revidiert hat: Honeste vive. Zu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 236. 20–30, in: Sabine Doyé, Marion Heinz, Udo Rameil (Hg.): Metaphysik und Kritik, Berlin/New York 2004, S. 203–213, 204f. Siehe die Überschriften (in der Metaphysik der Sitten, AA VI, 236, Z 17, 19), unter denen die praecepta dann abgehandelt werden. AA VI, 236 (Z 27–29); Höffe (wie Anm. 7), S. 277-279; Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13), S. 215–217; Alessandro Pinzani: Der systematische Stellenwert der pseudoulpianischen Regeln in Kants Rechtslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 59 (2005), S. 71–94, 76; Georg Geismann: Recht und Moral in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 3–124, 112-119, 118; Manfred Baum: Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.): Kant in der Gegenwart, Berlin/New York 2008, S. 213–226, 217, 222f.; Friedrich Kaulbach: Die rechtsphilosophische Version der transzendentalen Deduktion, in: Ders. (Hg.): Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Würzburg 1982, S. 9–54, 33–35, 33. Metaphysik der Sitten, AA VI, 241 (Z 20f. mit 24f.). Metaphysik der Sitten, AA VI, 270 (Z 20f. mit 17–20). Die Selbstversklavung ist freilich nur eines von mehreren Beispielen. Kant wollte das Verbot auch auf Prostitution, Klostergelübde, Untrennbarkeit von Ehen oder Unveränderlichkeit von Glaubensbekenntnissen erstrecken (Nachweise bei Geismann (wie Anm. 17), S. 118). Das honeste vive hat also viele Facetten. Es wird sich nicht immer klar sagen lassen, wann eine ‚Verdinglichung‘ „unserer eigenen Person“ schon rechtliche oder ‚nur‘ ethische Relevanz erlangt.
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b) Die Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit bei anderen Autoren Unter den Lehrern des Naturrechts gibt es viele Autoren, die Selbstversklavung und ‚Verdinglichung‘ als etwas ansehen, das mit der Natur des Menschen in Widerspruch tritt. So meinte schon John Locke, der Mensch habe „keine Freiheit“, sich selbst zu vernichten: „Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden.“ 20 Auch Leibniz rekurriert auf die Gotteskindschaft, wenn er betont, es sei dem Menschen „nicht erlaubt“, mit „sich selbst Missbrauch zu betreiben, weil wir selbst eigentlich Gott gehören.“ 21 Und bei Jean-Jacques Rousseau heißt es: „Auf seine Freiheit verzichten“ bedeutet, „auf seine Menschenrechte zu verzichten“. Ein Verzicht „auf alles“ sei „unvereinbar mit der Natur des Menschen.“ 22 Das Thema ist auch von jüngeren Autoren noch häufiger behandelt worden.23 So erörtert John Stuart Mill in seinem berühmten Werk „Über die Freiheit“ den „besonderen Fall“, in dem wir unsere Freiheit dazu benutzen, um uns ihrer ganz zu entäußern. Als Beispiel nennt Mill ebenfalls die Selbstversklavung: In diesem und fast jedem gesitteten Lande gilt beispielsweise der Vertrag, wodurch sich jemand als Sklave verkaufen oder dazu seine Zustimmung geben würde, für null und nichtig; weder das Gesetz noch die öffentliche Meinung steht dafür ein. Der Grund einer derartigen Beschränkung in der freien Verfügung über das eigene Schicksal liegt nahe und erhellt ganz klar in diesem äußersten Falle. 24
20 „Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen […] gefällt“, Zweite Abhandlung über die Regierung, 1689, § 6. Siehe auch § 23: „Da ein Mensch keine Gewalt über sein eigenes Leben hat, kann er nicht durch Vertrag […] einem anderen die absolute, willkürliche Gewalt geben, sein Leben zu nehmen“ (dort auch zur Unmöglichkeit der Selbstversklavung). Mit der Natur des Menschen argumentierten in ähnlichen Zusammenhängen zuvor bereits Thomas Hobbes: Leviathan (1651), XIV (von den beiden ersten natürlichen Gesetzen) und Samuel Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (1673), 3. Kapitel: Über das Naturrecht, § 7, hg. u. übers. v. Klaus Luig, Frankfurt am Main 1994, S. 47f. 21 G. W. Leibniz: Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667), A VI 1 N. 10 (S. 259–364); hier zitiert nach Hubertus Busche (Hg.): G. W. Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg 2003, S. 25–87, § 75 (S. 83). „Nach diesem Prinzip“, so fügt Leibniz noch hinzu, „ist es bereits nicht einmal erlaubt, wilde Tiere und Geschöpfe zu mißbrauchen“ (a. a. O.). Dieser Zusatz verdient angesichts der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte Hervorhebung. Anders z. B. Kant: AA VI, 345, (Z 31f.), der die Geltung „dieses Prinzips“, also des honeste vivere, auf die Person des Menschen beschränkt und andere „Geschöpfe“ wie Natur oder Tiere davon ausnimmt; Höffe (wie Anm. 7), S. 278. 22 Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (1762), hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2010, S. 21. 23 Nachweise bei Stephan Meder: Interzession und Privatautonomie, in: Jens Dammann, Wolfgang Grunsky, Thomas Pfeiffer (Hg.): Gedächtnisschrift für Manfred Wolf, München 2011, S. 253–268, hier S. 265f. 24 John Stuart Mill: Über die Freiheit (1859), hg. v. Eduard Pickford, Frankfurt am Main 1860, S. 146. Dem hätte wohl auch der römische Historiker Tacitus kaum widersprochen, da er nicht das Leben in einem „gesitteten Lande“, sondern von ‚Barbaren‘ schildert: „Dem Würfelspiel
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c) Ist das honeste vive eine vollkommene Pflicht? Die „innere Rechtspflicht“ stellt also Kants Version jener Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit und Selbsterhaltung dar, denen die Autoren des Vernunftrechts besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Während aber Hobbes, Locke, Leibniz oder Rousseau eher die Unmöglichkeit oder Widersprüchlichkeit eines Verzichts auf personale Freiheit hervorheben, hat Kant diesen Verzicht zum Gegenstand eines strikten Verbots gemacht. 25 Es ist das Recht der Menschheit in uns, das es verbietet, sich der eigenen Rechtspersönlichkeit zu begeben, um den Stand des Freien und Gleichen zu verlassen. Durch ihre Verrechtlichung (lex iusti) werden die Pflichten zu Ehrbarkeit und Selbsterhaltung von der Ethik abgespalten und in den Rang „vollkommener Pflichten“ erhoben. 26 Die Gliederung des Rechts in vollkommene und unvollkommene Pflichten ist in der Epoche von aufgeklärtem Absolutismus und Vernunftrecht weit verbreitet. Die meisten Naturrechtslehrer suchen, wie Kant, eine strikte Grenzlinie zwischen Recht und Ethik zu ziehen, um die Jurisprudenz auf die vollkommenen Pflichten zu beschränken, während unvollkommene Pflichten in das Gebiet der Ethik fallen sollen. 27 Die Einteilung wurde auch in das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 aufgenommen: „Rechte, welche durch die Gesetze nicht unterstützt werden, heißen huldigen sie […] von einer so blinden Leidenschaft besessen, daß sie, wenn sie alles andere verspielt haben, mit dem letzten, entscheidenden Wurfe um […] ihre eigene Person kämpfen. Wer verliert, geht willig in die Knechtschaft“, Germania (um 98), 24. Kapitel. Nur am Rande sei bemerkt, dass die römischen Juristen nicht nur von der Gleichheit, sondern von der freien Geburt aller Menschen ausgingen (Inst. 1.2.2). Auch Ulpian hielt Sklaverei oder Selbstverkauf für eine Einrichtung, die gegen das ius naturale verstößt, nach ius civile aber geregelt werden kann (D. 1.1.4; D. 50.17.32). Dazu näher Elisabeth Herrmann-Otto: Grundfragen der antiken Sklaverei, Hildesheim/Zürich 2015, S. 50–59; Okko Behrends: Die geistige Mitte des römischen Rechts. Die Kulturanthropologie des skeptischen Akademie, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 125 (2008), S. 25–107, 34. Die Idee eines unveräußerlichen Menschenrechts, das den Verzicht auf rechtliche Selbsterhaltung jederzeit als Unrecht qualifizieren kann, war der Antike jedoch noch unbekannt. 25 Dies betont zu Recht Pinzani (wie Anm. 17), S. 76. Wiederholt ist auf Verbindungen mit dem kategorischen Charakter hingewiesen worden, den Kant dem Lügenverbot glaubte, beimessen zu müssen: Oberer (wie Anm. 15), S. 210–213; Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13): S. 218f.; Okko Behrends: Kants Taube und der luftleere Raum der reinen praktischen Vernunft, in: Friedrich Harrer, Friedrich Honsell, Peter Mader (Hg.): Gedächtnisschrift für Theo Mayer-Maly, Wien/New York 2011, S. 53–82, 63–66. 26 Metaphysik der Sitten, AA VI, 240. Siehe auch Baum: S.222; Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13), S. 215, 218 (sowie unten II 3). 27 Vgl. Wolfgang Kersting: Pflichten, unvollkommene, vollkommene, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter , Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 7, Darmstadt 1989, S. 433–439, 438. Es gibt aber auch Naturrechtslehrer, die, Leibniz einmal ausgenommen, Verbindungen zwischen Recht und Ethik anerkennen, sodass auch unvollkommene Pflichten rechtliche Relevanz erlangen können, siehe Stephan Meder: Gesellschaftsvertrag und Souveränität bei Moses Mendelssohn und im 19. Jahrhundert, in: Ursula Goldenbaum, Stephan Meder, Matthias Armgardt (Hg.): Moses Mendelssohns Rechtsphilosophie im Kontext, Hannover 2021 (im Erscheinen).
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unvollkommene, und begründen keine gerichtliche Klage oder Einrede“ (Einl. §86). Gehört nun der Verzicht auf personale Freiheit, soweit Kant ihn als Verbot qualifiziert, ebenfalls zu den vollkommenen Pflichten? Oder handelt es sich eher um eine unvollkommene Pflicht? Angenommen, ein Gläubiger würde Dienste von einem Schuldner fordern, der sich ihm als Sklave verkauft hat. Darf er sich dabei auf den Satz pacta sunt servanda oder die Privatautonomie berufen? Kant würde antworten: Nein, einer ‚gerichtlichen Klage‘ ist kein Erfolg beschieden, da der Verzicht auf personale Freiheit gegen das Gesetz (lex iusti) verstößt. Zu diesem Ergebnis könnten freilich auch Locke, Leibniz oder Rousseau gelangen. Sie würden aber offen lassen, ob durch den Verzicht eine vollkommene oder unvollkommene Pflicht verletzt wurde oder eher eine Pflicht annehmen, die zwischen Recht und Ethik liegt. Kant hat das honeste vivere dagegen 1797 von der Ethik abgespalten und gänzlich dem Begriff des Rechts unterworfen. Der Verzicht auf personale Freiheit kann nach Maßgabe seiner Lehre also nur als vollkommene Pflicht und damit als Verletzung strengen Rechts (lex iusti) gedeutet werden. 28 2. Die beiden anderen Rechtspflichten: neminem laede und suum cuique tribue Neminem laede und suum cuique tribue handeln ebenfalls vom strengen Recht, das mit mathematischer Genauigkeit bestimmt werden kann und keine Ausnahmen zulässt. 29 Sie enthalten aber den für Rechtspflichten charakteristischen Alteritätsbezug. Da Kant das Verhältnis von Recht und Ethik im Sinne eines ‚Entweder-Oder‘ bzw. eines ‚Alles-oder-Nichts‘ begreift und Zwischentöne für irrelevant erklärt, 28 Geismann (wie Anm. 17), S. 115 (das honeste vive gehöre „unbestreitbar zum ‚ius strictum‘“). Geismann möchte Kants „Schwanken“ und die ethische Qualifikation des honeste vive in den Vorarbeiten zur Rechtslehre mit einem „Wechsel der Perspektiven“ erklären. Wahrscheinlich gibt es aber einen ganz anderen Grund: Von allen drei Formeln Ulpians zeigt die erste nämlich am deutlichsten, dass ein Projekt, welches auf die vollständige Abspaltung des Rechts von der Ethik zielt, zwangsläufig in Aporien geraten muss. Davon zeugen auch die oft beanstandeten Unstimmigkeiten im Gebrauch fundamentaler Termini wie enge, weite, vollkommene, unvollkommene Pflichten, vgl Oberer (wie Anm. 15), S. 204; Ralf Ludwig: Kategorischer Imperativ und Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main u. a. 1992, S. 267 („äußerst verwirrend“). 29 Metaphysik der Sitten, AA VI, 232f. Die beiden Pflichten „beziehen sich auf dieselbe rechtsgesetzlich definierte Rechtspflichtklasse“, Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13), S. 221. Dass jüngere Autoren an Kants „rechtsgesetzlichen“ (!) Definitionen wenig auszusetzen haben, mag mit den Schwächen der (älteren) Formalismuskritik zusammenhängen, vgl. Kurt Lisser: Der Begriff des Rechts bei Kant, Berlin 1922, S. 14f., 23 („leere Tautologie“); Wilhelm Metzger: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, Heidelberg 1917, S. 83; Leonard Nelson: Die kritische Ethik bei Kant, Schiller und Fries (1914), in: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Hamburg 1971, S. 27–192, 90f. (unten II 3). Probleme bereitet aber weniger der Formalismus als die rigorose Ausschaltung aller Kontrollinstanzen. Zutreffend daher die Kritik „Der Apriorismus Kants“ hat „das Recht […] von den seit alters in es eingebauten, aus der Empirie kommenden ‚Widerständen‘ befreit und insofern durch Ausschaltung von Kontrollinstanzen beim Gehorchenden den ‚Flug‘ der Macht vom Befehls- zum Gehorsamsakt in grundsätzlicher Weise verschlankt“, Behrends: Kants Taube und der luftleere Raum (wie Anm. 25), S. 54.
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müssten die zweite und die dritte Formel eigentlich identisch sein. Die suum cuique tribue-Formel würde dann in der Tat nur eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemanden etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn haben soll, so müßte sie so lauten: ‚Tritt in einen Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann‘. 30
Kant will den Unterschied zwischen den beiden Formeln also in den äußeren Bedingungen oder ‚Zuständen‘ erblicken. 31 Damit berührt er Grundfragen der politischen Theorie, die in der Einleitung von 1797 nicht ausgeführt werden. Es gibt aber eine häufiger zitierte Stelle aus früheren Entwürfen, die alle Zweifel über Kants staatsphilosophische Projektionen auf Ulpians praecepta auszuräumen vermag: Indes läßt sich ein anderer Unterschied hierunter in der Rücksicht auffinden, ob der Mensch in statu naturali oder civili betrachtet wird. In statu naturali ist Jedermann im Zustand seines Privatrechts; er bestimmt sein und die Rechte anderer Menschen nach eigenem Urteil, und sucht sie sich nach eigener Gewalt zu verschaffen; es ermangelt hier eine öffentliche Gerechtigkeit, die es ihm verschafft. Hieher kann man das Prinzip: neminem laede, ziehen. Tritt dagegen Jemand in statum civilem, so ist er zugleich schuldig, sich der öffentlichen Gerechtigkeit zu unterwerfen, welche ihm, da er nicht sein eigener Richter sein kann, statt seiner seine Rechte bestimmt, und unter öffentlicher Gewalt verschafft; – hieher kann man das suum cuique tribue ziehen; und würde dies heißen: unterwirf dich der öffentlichen Gerechtigkeit oder einem solchen Zustande, wo Jedem von einem öffentlichen Gesetz seine Rechte geschützt werden. 32
Das neminem laede-Gebot ist ‚unbedingt‘ zu befolgen – „und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle Gesellschaft meiden müssen“. 33 Dieser Zusatz lässt ebenfalls aufhorchen: Ein Eremitendasein als ultima ratio für den Fall, dass jemand im Naturzustand das neminem laede-Gebot verletzen könnte? Kant scheint zu ahnen, dass eine solche Forderung an Lebensfremdheit kaum zu überbieten ist. So muss die dritte Formel als des Rätsels Lösung erscheinen: Trete in einen bürgerlichen Zustand, wenn du es im Naturzustand nicht vermeiden kannst, „aus aller Verbindung mit andern heraus“ zu gehen. 34 Diese ‚Erzählung‘ muss im Zusammenhang mit jener Art politischer Theorie gesehen werden, die in der Epoche des Vernunftrechts unter dem Stichwort des Gesellschaftsvertrags diskutiert wurde. Hobbes zufolge schließt am Anfang der Geschichte ein „Jeder mit Jedem“ einen Vertrag, um die ungeteilte Souveränität auf
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Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 (Z 4-8). Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13), S. 221;Friedrich (wie Anm. 7), S. 69. Metaphysik der Sitten Vigilantius (1793/94), AA XXVII, 528 (Z 1–15). Metaphysik der Sitten, AA VI, 236 (Z 32f.). Metaphysik der Sitten, AA VI, 236 (Z 33) und 237 (Z 1). Unter den Bedingungen eines status naturalis, wo es (Kant zufolge) an einer öffentlichen Gewalt mangelt, kann es m. a. W. leicht zu Rechtsverletzungen kommen. Am Ende ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis ein Austritt aus „aller Gesellschaft“ unvermeidbar erscheint und nur der Übergang in den bürgerlichen Zustand des suum cuique tribue bleibt.
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einen personalen Herrscher dauerhaft zu übertragen. 35 Der Gesellschaftsvertrag bedeutet eine Zäsur, weil er den Naturzustand beendet und eine Form der Staatlichkeit begründet, die bis heute als „Souveränität“ bezeichnet wird. Kants Staatsphilosophie kreist bekanntlich ebenfalls um die Vertragsdoktrin. 36 Auch er erblickt im Staat einen Gegenbereich zum Naturzustand: „Denn dem Naturzustande ist nicht der gesellschaftliche, sondern der bürgerliche entgegengesetzt; weil es in jenem zwar gar wohl Gesellschaft geben kann, aber nur keine bürgerliche.“ 37 Kant hat in Ulpians praecepta also seine Staatsphilosophie ‚hineingelegt‘. Das neminem laede-Gebot legitimiert die Ablösung des Naturzustands durch den bürgerlichen Zustand: Seine strikte Befolgung mündet geradezu ‚logisch‘ in das suum cuique tribue staatlicher Ordnung, die allein eine Sicherung der Freiheit zu gewährleisten vermag. 38 In diesem Sinne gebe ich „jedem das Seine“, wenn ich „mit Andern“ in eine Gesellschaft trete, die durch die Einrichtung einer staatlichen Gewalt dafür sorgt, dass jedem das zuteil wird, was ihm zusteht. 39 3. Zum Verhältnis der drei Pflichten untereinander Die Gemeinsamkeit der praecepta iuris besteht darin, dass sie vollkommene Pflichten (bzw. leges) sind. Sie alle unterfallen dem Rechtsbegriff, während sich die Ethik durch unvollkommene Pflichten auszeichnet. 40 Tugendpflichten sind als Liebespflichten weite Pflichten; ihrer „Befolgung (Observanz)“ ist ein „Spielraum (latitudo) für die freie Willkür“ überlassen. 41 Die Rechtspflichten sind dagegen enge Pflichten, bei deren Befolgung ein solcher Spielraum nicht besteht. Hier gilt daher der Grundsatz, dass ein Richter „nach unbestimmten Bedingungen nicht sprechen“ kann. 42 Rechtscharakter hat nämlich nur das „strikte Recht […], dem nichts Ethisches beigemischt ist“. 43 Im Gegensatz zur Tugendlehre gibt es in der Rechtslehre
35 Leviathan, II, XVII. Ähnlich bereits Jean Bodin, der Begründer des modernen Souveränitätsbegriffs: Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, München 1981, III 7, S. 523. 36 Zu den Verbindungen mit Hobbes siehe nur Friedrich (wie Anm. 7), S. 69; Lisser (wie Anm. 29), S. 30. 37 Metaphysik der Sitten, AA VI, 242 (Z 15–18). 38 Pippin (wie Anm. 15), S. 67. 39 Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 13), S. 222; Friedrich (wie Anm. 7), S. 69f. Der modernen Kant-Forschung ist es zwar gelungen, die äußerst knapp gehaltene und zum Teil nur schwer verständliche Interpretation von Ulpians praecepta weitgehend zu entschlüsseln. Es mangelt aber an einer kritischen Würdigung der Vertragsdoktrin und der auf dieser Grundlage errichteten Theorie von Recht und Politik. 40 Metaphysik der Sitten, AA VI, 390 (Z 15–18); Metaphysik der Sitten Vigilantius (1793/94), AA XXVII, 528 (Z 28–31). 41 Metaphysik der Sitten, AA VI, 390 (Z 6f.). 42 Metaphysik der Sitten, AA VI, 234 (Z 31f.). 43 Metaphysik der Sitten ,AA VI, 232 (Z 13); ähnlich in AA VI, 389 (Z 6).
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keinen Platz für Ausnahmen (latitudinem). 44 Die Billigkeit als juristischer Sammelbegriff für Ethik muss ausgeklammert bleiben, „damit ihre schwankenden Prinzipien nicht auf die festen Grundsätze“ des Rechts „Einfluß bekommen“. 45 Kant schließt den Abschnitt über die drei praecepta des Ulpian mit einer Bemerkung zu ihrem Verhältnis untereinander. 46 Dabei behauptet er, die äußeren Rechtspflichten, das neminem laedere und das suum cuique tribuere, würden eine Ableitung „vom Prinzip“ der inneren durch Subsumtion enthalten. 47 Die innere Rechtspflicht bildet danach also einen Obersatz, aus dem die äußeren Rechtspflichten abzuleiten sind: Aus dem ersten Satz, anderen eine Rechtsperson zu sein (honeste vive), folgt der zweite, niemandem Unrecht zu tun (neminem laede), und der dritte Satz, mit jeder Rechtsperson in einen bürgerlichen Zustand zu treten (suum cuique tribue), es sei denn, jemand wäre imstande, alle Gesellschaft zu meiden. 48 Die Verletzung des Rechts einer Person bedeutet also immer auch eine Verletzung des Rechts der Menschheit in dieser Person. 49 So erklärt sich, warum z. B. ein Angriff auf die körperliche Integrität einer einzelnen Person ein Angriff auf die politische Verfassung einer staatlichen (oder globalen) Gemeinschaft sein kann. Viel diskutierte Beispiele bilden die Berichte über die Vergewaltigung der Lucretia (508 v. Chr.) oder über die beabsichtigte Tötung der Verginia (449 v. Chr.), die jeweils Wendepunkte in der römischen Verfassungsgeschichte markieren. Auch die Unruhen nach dem Tod von George Floyd am 25. Mai 2020 wären in diesem Zusammenhang zu nennen.
44 Metaphysik der Sitten, AA VI, 233 (Z 22). 45 Metaphysik der Sitten, AA VI, 233 (Z 28). Genau genommen begreift Kant die Billigkeit als ein Gebiet, das weder zur Ethik noch zum Recht gehört. Sie erinnere an Epikurs Lehre von den Zwischenräumen der Welten (intermundia) und müsse „aus der eigentlichen Rechtslehre“ ausgesondert werden, AA VI, 233 (Z 23, 27f.) und 234 (Z 11–16). Daran ist richtig, dass die Billigkeit zwischen Recht und Ethik liegt. Dieses ‚Zwischen‘ kann freilich, anders als Kant annimmt, zur Frage führen, ob und inwieweit ethische (materiale) Elemente in das Recht einfließen dürfen (tribuere bedeutet also tatsächlich geben oder zuteilen, und nicht, wie Kant übersetzt: erhalten, sichern oder schützen). Da die Entscheidung letztlich dem Recht selbst obliegt, sollten diese ethischen Elemente (die häufig der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit dienen) als „Rechtsethik“ qualifiziert werden, vgl. Okko Behrends: „Die rechtsethischen Grundlagen des Privatrechts“, in: Franz Bydlinski, Theo Mayer-Maly (Hg.): Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, Wien 1994, S. 1–33 (siehe auch unten V bei Note 101). 46 Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 (Z 11f.). Näher Pinzani (wie Anm. 17), S. 79–81, 80; Höffe (wie Anm. 7), S. 282. 47 Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 (Z 11f.). 48 Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 (Z 11f.). 49 Näher Friedrich (wie Anm. 7), S. 71.
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4. Zwischenergebnis Kant nimmt Ulpians praecepta zum Anlass, bereits im Einleitungsteil der Rechtslehre seine Staatstheorie vorzuführen. Alle Gebote werden von der Ethik abgespalten und als ius strictum dem Rechtsbegriff unterworfen. Die Frage ist nur, ob es die antiken Formeln wirklich „verstatten“, eine solche Lehre „zu entwickeln“. III. Die drei Gebote Ulpians in Leibniz’ Rechtsphilosophie Kants Apriorismus hat den „‚Flug‘ der Macht vom Befehls- zum Gehorsamsakt in grundsätzlicher Weise verschlankt“. 50 Dafür gibt es viele Ursachen: die Beschränkung der Jurisprudenz auf das ius strictum, die Abspaltung des Rechts von der Ethik, die Verbannung der Billigkeit, die Behauptung, ein Richter könne „nach unbestimmten Bedingungen“ nicht sprechen. 51 Leibniz misst dem strengen Recht ebenfalls eine zentrale Bedeutung bei, sieht aber auch die Verbindungen mit der Ethik. So kommt die Billigkeit etwa dort ins Spiel, wo formale Rechtspositionen aus Gründen der Gerechtigkeit im Einzelfall nicht respektiert werden können. Andererseits erblickt Leibniz zwischen Recht und Billigkeit auch eine Antinomie – eine Kluft und einen ‚Bruch‘. Gibt es Wege, diese fundamentale Differenz, wenn schon nicht zu überwinden, so doch mindestens zu erklären und im Einzelfall zu überbrücken? 1. Die drei Gebote Ulpians in Leibniz’ Rechtslehre Leibniz hat in zahlreichen Schriften eine allgemeine Rechtslehre formuliert, die unter der Bezeichnung „Dreistufenlehre“ bekannt geworden ist. 52 Sie beruht ebenfalls auf einer Kombination der praecepta iuris, 53 wobei Leibniz das neminem laedere 50 Behrends: Kants Taube und der luftleere Raum (wie Anm. 25), S. 54 (ausführlicheres Zitat oben bei Anm. 29). 51 Metaphysik der Sitten, AA VI, 234, Z 31f. (siehe oben II 3). 52 Leibniz: Nova methodus (wie Anm. 21), §§ 73–75 (S. 79–83); Brief an Hermann Conring vom 13./23. Januar 1670 (A II,12 N. 15), hier zitiert nach: Hubertus Busche (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Frühe Schriften zum Naturrecht (wie Anm. 21), S. 323–337; Brief an Hermann Conring vom 9./19. April 1670 (A II,12 N. 20, zitiert nach Busche: a. a O, S. 339–347; Praefatio zum Codex Juris Gentium Diplomaticus (1693) (A IV,5 N. 7), zitiert nach: Malte-Ludolf Babin, Gerd van den Heuvel (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Schriften und Briefe zur Geschichte, Hannover 2004, S. 143–211, 169–171; Méditation sur la notion commune de la justice (1703), in: Georg Mollat (Hg.): Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Leipzig 1885, S. 56–81; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: G. W. Leibniz: Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit, hg. u. mit einer Einleitung versehen von Wenchao Li, Hannover 2014, S. 44–51. Weitere Nachweise (auch zur Sekundärliteratur) bei Stephan Meder: Der unbekannte Leibniz. Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie, Köln u. a. 2018, S. 56–86 (woran die folgenden Ausführungen anlehnen). 53 Ulpian in D. 1.1.10; Inst. 1.1.3.
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auf die erste Stufe stellt und das suum cuique tribuere und honeste vivere als zweite und dritte Stufe auf einer höheren Ebene ansiedelt. Dass diese Anordnung originell ist und weder Vorläufer noch Nachfolger hat, hängt mit der komplexen Wechselwirkung von strengem Recht (ius strictum) und Billigkeit (aequitas) zusammen. 54 Im strengen Recht erblickt Leibniz das Recht im eigentlichen Sinne. Es ist durch das Gebot bestimmt, niemanden zu schädigen (neminem laedere) und hat die Aufgabe, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Die nächsthöhere Stufe, die Billigkeit (aequitas), gewährt dagegen nur ein Recht „im weiten Sinne des Wortes“. Sie erstreckt sich auf Positionen, die für die Betroffenen nicht immer einklagbar, juristisch nicht in allen Fällen erzwingbar sind. 55 Hier herrscht das Gebot, „allen zu nutzen, freilich in dem Maße, wie es einem jedem angemessen ist oder wie er es verdient“ (suum cuique tribuere). Auf der dritten und höchsten Stufe thront die Frömmigkeit (pietas) mit dem Gebot, dass wir ein rechtschaffenes Leben führen sollen (honeste vivere). 56 Diese Stufen bringt Leibniz noch mit Aristoteles’ berühmter Lehre von den drei Arten der Gerechtigkeit in Verbindung. 57 Dabei stellt er die iustitia commutativa auf die Stufe strengen Rechts, um die iustitia distributiva und universalis auf der jeweils höheren Ebene anzusiedeln. 58 Im Zusammenhang mit den Quellen des positiven Rechts erscheinen die Abstufungen des Naturrechts zudem in einer zweigliedrigen Gestalt: Das ius strictum steht für die ‚formale‘ Seite des Rechts, während aequitas und pietas seine materialen Elemente umfassen. Sie liegen an der Grenze des Rechts zur Ethik und wer ihre Gebote verletzt, kann von den Gerichten nicht immer belangt werden. Mit seiner ‚dualen‘ Gliederung der Quellen opponiert Leibniz gegen jene Autoren, die ihre Rechtsquellenlehre auf das ius strictum beschränken und damit nur eine, nämlich die formale Struktur des Rechts anerkennen wollen. 59 54 Ob die Dreistufenlehre ausschließlich Leibnizsches Gedankengut enthält, ist schon häufiger gefragt worden, vgl. Busche: Frühe Schriften zum Naturrecht (wie Anm. 52), S. XI–CXII, LXVIII. Die Antwort könnte wie folgt lauten: Mit dem römischen Recht, gegen das römische Recht und über das römische Recht hinaus hat Leibniz eine Lehre formuliert, deren Originalität es noch zu entdecken gilt. 55 Nova methodus (wie Anm. 21), § 74 (S. 80, 81); Praefatio (wie Anm. 52), S. 168, 169 (mit Beispielen für nicht erzwingbare ‚Rechte‘). Leibniz postuliert also einen weiten Rechtsbegriff, der über den Zwang hinausweist und aus Sicht von Kant als contradictio in adjecto erscheinen muss (vgl. Metaphysik der Sitten, AA VI, 231 und 232, Z 25–35). 56 Wie Kant fasst auch Leibniz die Pflicht zur rechtlichen Selbsterhaltung unter das honeste vivere, Nova methodus (wie Anm. 21) § 75, S. 83 (oben II 1 b), ohne sie freilich als ius strictum zu qualifizieren. 57 Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 1–8 (näher unten IV 1 und V). 58 Siehe die Nachweise oben III 1 (bei Note 52). 59 Einen alternativen Weg zur ‚Dualität‘ eröffnet Leibniz’ Unterscheidung von iustitia particularis und iustitia universalis. Danach gliedert sich die erste in das formale (ius strictum) und das materiale Recht (ius aequum), während die letztere (pietas) als das Gebiet des Gewissens, der inneren Gerichtsbarkeit oder Moral aus dem Recht weitgehend ausgesondert wird, z. B. Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (1680?), A VI,4 N. 505.6, S. 2862–2871, 2864; Li (wie Anm. 52), S. 45.
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Das suum cuique tribuere soll einer Rechtsordnung also die Möglichkeit eröffnen, „allen zu nutzen, freilich in dem Maße, wie es einem jedem angemessen ist oder wie er es verdient“. 60 Kant erörtert das suum cuique tribuere dagegen unter den Prämissen der Vertragsdoktrin und erblickt darin die Pflicht zur Unterwerfung unter einen bürgerlichen Zustand, dessen Unerbittlichkeit er wie folgt schildert: Ein „Hausdiener, dem sein bis zu Ende des Jahres laufender Lohn in einer binnen der Zeit verschlechterten Münzsorte bezahlt wird“, fordert Ausgleich für den Wertverlust. Kant erkennt, dass der Hausdiener mit dem verminderten „Geldwert“ nicht das „ausrichten kann, was er bei Schließung des Kontrakts sich dafür anschaffen konnte“. Gleichwohl könne sich der Hausdiener „nicht auf sein Recht berufen, deshalb schadlos gehalten zu werden“. Die schreiende Ungerechtigkeit seiner Lösung sucht Kant mit den Worten zu verteidigen: „Weil nichts im Kontrakt hierüber bestimmt war, ein Richter nach unbestimmten Bedingungen aber nicht sprechen kann.“ 61 Auch von dieser Seite zeigt sich also: Kants Rechtsbegriff steht unter den Prämissen der Eingliedrigkeit, die nur das strikte Recht anerkennt und dabei das größte Unrecht in Kauf nimmt (summum ius summa iniuria). Dagegen würde Leibniz sagen: In solch einem Fall muss die aequitas (suum cuique tribuere) an die Stelle von Buchstabentreue treten. Es ist „angemessen“, den Hausdiener schadlos zu halten, weil er seine Dienste ja weiterhin erbracht hat und kein Grund dafür ersichtlich ist, warum ausgerechnet der Hausherr alle Vorteile der Geldentwertung für sich verbuchen darf. 2. Kritik des Rechtsquellenmonismus im Kontext politischer Philosophie Leibniz hat seine Rechtsphilosophie rund hundert Jahre vor Kant formuliert. Wir können daher nicht wissen, wie sein Urteil über dessen Apriorismus ausgefallen wäre. Angesichts seiner Auseinandersetzung mit Hobbes’ Staatsphilosophie lassen sich die Einwände gegenüber einem eingliedrigen Rechtsbegriff jedoch ziemlich genau rekonstruieren. Den Fehler sieht Leibniz darin, dass Hobbes lediglich das „strenge Recht“, also nur die Formalstruktur in Erwägung ziehe. Diese Art des Rechts charakterisiert Leibniz auch als „willkürliches Recht“ (ius voluntarium), wovon das durch die vernunftbestimmte Natur geschaffene Recht zu unterscheiden ist. 62 Als positives Recht erlangt das strenge Recht seine Wirksamkeit von demje-
60 Nova methodus (wie Anm. 21), § 74 (S. 80, 81); Praefatio (wie Anm. 52), S. 168, 169 (Leibniz versteht tribuere also ebenfalls im Sinne von geben oder zuteilen und nicht von sichern oder schützen). 61 Metaphysik der Sitten, AA VI, 234 (Z 24–32). Siehe auch Metaphysik der Sitten Vigilantius (1793/94), AA XXVII, 525 (Z 5–8). Solidarität in Form von Wohltätigkeit, Nächstenliebe oder Dankbarkeit hat Kant, wie schon angedeutet, aus dem Recht verbannt und allein der Ethik vorbehalten, vgl. z. B. Metaphysik der Sitten, AA VI, 448f. (Liebespflicht), 452–454 (Wohltätigkeit). 62 Praefatio (wie Anm. 52), S. 173.
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nigen, der „innerhalb eines Staatswesens“ die „höchste Gewalt“ (summam potestatem) innehat. 63 Im Hintergrund steht jene Idee personaler Herrschaft, die im 16. Jahrhundert durch den ‚modernen‘ Souveränitätsbegriff eine neue Legitimationsgrundlage gefunden hat. Schon Bodin sah das Hauptmerkmal des Souveräns darin, die Gesetze vorzuschreiben und nach seinem Belieben zu ändern: Sie hängen nämlich allein „vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat“ und damit „alle seine Untertanen binden kann“. 64 Ähnliche Überlegungen finden sich bei so unterschiedlichen Naturrechtslehrern wie Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant. 65 Leibniz fragt nun, inwieweit Recht und Gerechtigkeit vom Willen des Souveräns, d.h. von der Macht abhängig sind. Dabei nimmt er an, dass die Anhänger des ‚modernen‘ Staatsverständnisses das Recht als willkürlichen Befehl begreifen, mit welchem der Herrscher den Untertanen zum Gehorsam verpflichtet. Als positives Recht ist das strenge Recht auf Macht gegründet, die nach Leibniz einen ambivalenten Charakter hat. Sie kann ein hohes Gut bedeuten, wenn „sie mit Weisheit und gutem Willen verbunden ist“. 66 Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass die ihr entsprungenen Gesetze mit dem durch die Vernunft geschaffenen Naturrecht übereinstimmen. Nicht selten fehlt es der Macht aber an Weisheit und an Güte. Sie läuft dann Gefahr, den Willen über die Vernunft zu setzen. Die Folge ist, dass sehr „schlechte Gesetze erlassen und aufrecht erhalten“ werden. 67 Leibniz wendet sich gegen jene Autoren, die, wie Hobbes, den Begriff des Rechts aus dem Phänomen der Macht ableiten oder von ihr abhängig machen wollen. Wegen der Gefahren des Voluntarismus warnt Leibniz vor einer Beschränkung des Rechts auf das Gesetz: Wenn die Macht auftritt, verwandelt sie „das Recht in ein Faktum“, das von einer höheren Gerechtigkeit sehr verschieden sein kann. Gesetz und Recht dürfen also nicht verwechselt werden. 68 Leibniz hat mithin gute Argumente, um gegenüber Hobbes einzuwenden, er würde nur das „strenge Recht“ beachten. Im Hintergrund steht der Vorwurf, Hobbes löse die Grundbedingung allen Rechts, namentlich den Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen in der Weise auf, dass nur noch eine Rechtsstruktur übrig bleibt. Leibniz’ Kritik des Rechtsquellenmonismus führt über Hobbes weit hinaus und trifft die gesamte ‚moderne‘ Staatstheorie. So verschwindet bereits bei Bodin die Billigkeit hinter dem Befehl des Souveräns: „Ein gesetzliches Verbot ist stärker als selbst offenbare Forderungen der Billigkeit.“ 69 Auch Kant hat, wie ausgeführt, die Billigkeit als ein „Recht ohne Zwang“ ausgesondert. Leibniz kritisiert,
63 Ebd. 64 Bodin: Sechs Bücher über den Staat (wie Anm. 35), I 8 (S. 216) sowie I 10 (S. 292) und I 8 (S. 223). 65 Dazu näher Stephan Meder: Doppelte Körper im Recht, Tübingen 2015, S. 127f. 66 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), S. 30. 67 Ebd. S. 29. 68 Sätze wie „auctoritas, non veritas facit legem“ oder „stat pro ratione voluntas“ hält Leibniz für die Maximen „d’un tyran“, vgl. ebd, S. 29f. 69 Bodin: Sechs Bücher über den Staat (wie Anm. 35), I 8 (S. 231).
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dass solche Lehren auf eine lediglich negative Auffassung der Gerechtigkeit hinauslaufen, die in Kauf nehme, dass das höchste Recht zum größten Unrecht führe (summum ius summa iniuria). 70 3. Das Verhältnis des ius strictum zu aequitas und pietas Leibniz begreift das Schädigungsverbot als die Vorschrift des eigentlichen oder „reinen Rechts“ (iuris meri). 71 Das Verbot hat aber noch eine andere Bedeutung, welche die Einteilung des Rechts betrifft. Leibniz will damit zum Ausdruck bringen, dass das ius strictum im Wesentlichen Privatrecht ist, während aequitas und pietas eher in das Gebiet des öffentlichen Rechts fallen. 72 Daher charakterisiert er das Prinzip, welches das ius strictum beherrscht, auch als utilitas propria. 73 Diese Feststellung harmoniert mit der Sichtweise des entwickelten römischen Rechts, wonach das Privatrecht vornehmlich die eigennützigen Interessen schützt. 74 Nach Leibniz hat das formale Recht also fundamentale Bedeutung für die staatliche Ordnung. Im Gegensatz zu Hobbes und anderen Protagonisten eines staatsrechtlichen Positivismus meint er aber, das Formalrecht müsse durch materiale Prinzipien ergänzt werden. Aequitas und pietas qualifiziert er als die jeweils „höheren“ oder „vollkommeneren“ (perfectior) Stufen, die „im Streitfalle“ das ius strictum aufheben können. 75 Welche praktischen Folgerungen sind daraus zu ziehen? Die Frage muss gestellt werden, da Unterschiede zwischen den drei Stufen erst zu Tage treten, wenn eine rechtliche Entscheidung auf Basis des ius strictum mit der aequitas (oder pietas) Konflikt gerät. Wie ist er zu lösen? Wie kann eine höhere gegenüber einer niedereren Stufe zur Geltung kommen? Leibniz erläutert seine Vorstellungen am Beispiel der „Gleichheit“. Dabei betont er, dass es nicht nur das strenge Recht, sondern auch die Billigkeit gebietet, „von der Gleichheit aller Menschen auszugehen“, es sei denn (nisi), ein höheres Rechtsgut würde so stark ins
70 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), S. 46. 71 Praefatio (wie Anm. 52), S. 168f. Kant bezeichnet das strenge Recht ebenfalls als „rein“ (im Sinne von: „nichts Ethisches beigemischt“), Metaphysik der Sitten, AA VI, 232, Z 15 (Savigny oder Kelsen haben in solchen Zusammenhängen ebenfalls das Wort „rein“ gebraucht). 72 Leibniz: Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (wie Anm. 59), S. 2865 (dort bezeichnet er z. B. die iustitia particularis als „commutativa in privato, distributiva in publico“). Siehe auch Praefatio (wie Anm. 52), S. 168–171 („auf die Billigkeit beziehen sich im Staat die politischen Gesetze, die für die Glückseligkeit der Untertanen sorgen“); Ders.: Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), S. 45. 73 De legum rationibus inquirendis (1678/79?), A VI,4 N. 494.1–2, 2775–2780, 2778. 74 Okko Behrends: Struktur und Wert. Zum institutionellen und prinzipiellen Denken im geltenden Recht (1990), in: Ders.: Institut und Prinzip. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Martin Avenarius u. a., Bd. I, Göttingen 2004, S. 55–89, 56; Ders.: Überlegungen zum Vertrag zugunsten Dritter im römischen Privatrecht (1984), in: ebd., Bd. II, S. 839–878 (mit Abgrenzung zum bona fides-Prinzip). 75 Nova methodus (wie Anm. 21), § 73 (S. 78, 79); Praefatio (wie Anm. 52), S. 168–171.
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Gewicht fallen, dass eine Abweichung vom Gleichheitsgrundsatz gerechtfertigt erscheint. 76 Es ist also das noch heute anerkannte Schema von „Regel und Ausnahme“, auf dessen Grundlage Leibniz das Verhältnis der Stufen zu bestimmen sucht. Dieses Schema sagt zunächst, dass die Rechtsordnung auf einer dualen Struktur beruht, wobei die „Regel“ in das Gebiet des ius strictum und die Ausnahme in das von aequitas und pietas fällt. Ob formalen oder materialen Elementen der Vorrang gebührt, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es darf aber angenommen werden, dass für die ‚Anwendung‘ der „Regel“ (ius strictum) die Vermutung ihrer Richtigkeit spricht. Diese Vermutung entlastet denjenigen, der sich auf das strenge Recht berufen möchte, weil er die Werte, auf denen es fußt, nicht in jedem Fall neu herleiten oder begründen muss. Wer sich genötigt sieht, seine Härten zu mildern, muss einleuchtende Gründe dafür angeben, warum er ein Abschwenken ausnahmsweise für geboten hält. 77 Aus der Vermutung folgt also, dass derjenige, der sie widerlegen möchte, eine besondere Argumentationslast zu tragen hat. Damit erschwert sich die Möglichkeit einer Ausschaltung des ius strictum, sodass dieses selbst dort eine Bindungswirkung entfaltet, wo es durchbrochen wird. Die Vorteile des ius strictum liegen auf der Hand und sind oft betont worden: Es vermittelt dem Recht Klarheit, Sicherheit und Berechenbarkeit. Das unstrenge Recht zeichnet sich dagegen durch eine gesteigerte Dynamik und eine entsprechende Unschärfe aus. 78 Das heißt nicht, dass es durch Typisierung nicht auch eine gewisse Verfestigung erreichen und, oftmals über Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, als aequitas scripta Eingang in die Gesetzgebung finden kann. Die in ihm verkörperten Werte wirken aber in offener Weise, sie bedürfen der Konkretisierung und können meistens nicht schematisch, sondern nur situativ und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gewogen werden. 4. Durchsetzung und Erzwingbarkeit von ius strictum und aequitas Leibniz versucht nun, die Gewichte von ius strictum und aequitas noch genauer gegeneinander abzumessen, indem er die Frage nach den Wegen stellt, auf denen die unstrengen Elemente zur Verwirklichung gelangen können. 79 Als Beispiel dient ihm das Vertragsrecht, wo die Rechtsordnung mit dem Prinzip der Vertragstreue oder Sätzen wie „Vertrag ist Vertrag“ und „pacta sunt servanda“ zum Ausdruck bringt, dass ein jeder Partner an die Erklärung seines Willens streng gebunden ist. Das muss aber nicht heißen, dass nicht auch hier materiale Erwägungen zur Geltung 76 Praefatio (wie Anm. 52), S. 170, 171. Eine ähnliche Formulierung findet sich in den Entwürfen zur zweiten Auflage der Nova methodus, A VI,1 N. 10, Anm. zu § 74, 344, Z 26 („si nil obstet“). 77 Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit (wie Anm. 52), S. 46. 78 In seinen Elementa Juris Naturalis hat Leibniz versucht, Kriterien zu entwickeln, die Juristen helfen, Rechtsfälle zu entscheiden, in denen Billigkeitsgesichtspunkte eine besondere Rolle spielen. Doch könne das Billige als Norm nur „difficillime generaliter“ bestimmt werden. 79 Nova methodus (wie Anm. 21), § 74 (S. 80, 81, Z. 14–20).
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kommen können, die darauf zielen, im Rechtsverkehr ein gewisses Maß an Rücksicht walten zu lassen. Leibniz erörtert das Thema anhand von Fällen, die davon handeln, wie sich eine Partei durch „hinterlistige“ (subtiles) Verträge oder „Vertragsraffinessen“ Vorteile zu verschaffen hofft. Es stellt sich dann die Frage, wie der übervorteilte Gläubiger seine allein auf Billigkeit gegründeten Rechte durchsetzen kann. Dabei liegt es nahe, zunächst an das „Gesetz“ (lex) zu denken. 80 Weil die Billigkeit aber nur in begrenztem Maße positivierbar ist – weil das Gewicht ihrer Forderungen oft von der jeweiligen Situation und den Umständen des Einzelfalls abhängt, muss es über das Gesetz hinaus noch andere Wege geben, auf denen sie Eingang in die Rechtsordnung finden kann. In einer ebenso pointierten wie erratischen Diktion spricht Leibniz von einem „Höheren“ (superior), der imstande sei, vor allem über das Instrument der Einrede (exceptio), materialen Elementen zum Durchbruch zu verhelfen. Wer ist dieser „Höhere“? Es darf vermutet werden, dass Leibniz der römische Gerichtsherr, der Prätor vor Augen steht. 81 Denn in einer bestimmten Epoche des entwickelten römischen Rechts kam eben diesem ‚Gerichtsherrn‘ die Aufgabe zu, materiale Elemente, etwa in Form des bona fidesGebots, so durchzusetzen, dass das formale Recht zwar nicht angetastet, in seiner Anwendung jedoch gemildert wurde. 82 Da nach Leibniz der Mensch aber in einem dauernden Zeitfluss lebt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft also in einem Kontinuum stehen und eng miteinander verwoben sind, darf der „Höhere“ auch ein zeitgenössischer oder moderner Richter sein. Denn die Prämissen, auf denen Leibniz’ politische Philosophie beruht, gestatten es, dem Richter eine viel größere Macht einzuräumen als ihm etwa Bodin, Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant hätten zugestehen können. IV. Leibniz’ und Kants Rechtsdenken im Vergleich Eingangs ist gefragt worden: Was bedeuten Ulpians praecepta iuris eigentlich? „Leibniz nahm in einer gewissen historischen Unbefangenheit die drei Gebote zum Ausgangspunkt einer völlig eigenen Gerechtigkeitslehre.“ 83 Wie groß ist diese Unbefangenheit? Oder umgekehrt: Was mag Ulpian sich „gedacht haben“, als er die Formeln aufgriff? 84 Und: Wo kommen sie her? Die Romanistik hat diese Fragen schon häufiger zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht. 85 80 Ebd. 81 Z. B. D. 44.4.1. (der Prätor gewährt dem Beklagten über die Einrede eine Verteidigungsmöglichkeit, um zu verhindern, dass der Kläger die Härten des strengen Rechts zum eigenen Vorteil ausnutzt; siehe unten IV – mit weiteren Nachweisen zum römischen Recht). 82 Behrends: Struktur und Wert (1990) (wie Anm. 74), S. 57f.; Ders.: Das Werk Otto Lenels und die Kontinuität der romanistischen Fragestellungen (1991), in: Ders.: Institut und Prinzip (wie Anm. 74), Bd. I, S. 271–309, 272f. 83 Manthe (wie Anm. 1), S. 23 (vgl. oben I). 84 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 236 (vgl. oben II bei Anm. 3). 85 Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961, S. 160; Ernst Levy: Natural Law in Roman Thought (1949), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, Köln/Graz
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1. Der Sinn der praecepta iuris, wie ihn Ulpian sich „gedacht haben mag“ Einigkeit besteht darüber, dass die praecepta keine Regeln positiven Rechts sind. Sie hängen mit Ulpians Definition der Gerechtigkeit als dem „dauernden Willen“ zusammen, „jedem sein Recht“ zukommen zu lassen (suum cuique tribuere). 86 Unbestritten ist ferner, dass die Grundlagen der Formeln in der griechischen Philosophie zu suchen sind. Zu ihren wichtigsten Vorreitern gehört die distributive Gerechtigkeit (iustitia distributiva) des Aristoteles, die über die Stoa zum suum cuique tribuere des Ulpian geworden ist. 87 Schwieriger ist die Frage nach den Wegbereitern des neminem laedere zu beantworten. Es wird vermutet, dass hier sowohl die pythagoreische Lehre von der Wiedervergeltung als auch die kommutative Gerechtigkeit (iustitia commutativa) des Aristoteles Pate standen, die von unfreiwilligen Austauschbeziehungen handelt und dem Ausgleich von Schädigungen zu dienen bestimmt ist. Die Stoa hat auch diese zweite, „regelnde“ Art der Gerechtigkeit aufgegriffen und daraus das Gebot des neminem laedere entwickelt. 88 Ulpian ergänzte nun die beiden Gerechtigkeitsarten um das honeste vivere, welches ebenfalls bereits in der griechischen Philosophie bekannt war. 89 Die Provenienz der für die praecepta iuris charakteristischen Dreiheit ist hingegen ungeklärt. Hatte Ulpian auch sie griechischen Quellen entnommen? Einiges spricht dafür, dass er das honeste vivere selbständig hinzufügte. Nicht auszuschließen ist freilich, dass
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1963, S. 3–19, hier S. 16–18; Wolfgang Waldstein: Zu Ulpians Definition der Gerechtigkeit, in: Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, Bd. I, Köln 1978, S. 213–232, hier S. 216–221 (unter dem Gesichtspunkt des „suum cuique tribuere“); Ders.: Ist das „suum cuique“ eine Leerformel?, in: Internationale Festschrift für Alfred Verdross zum 80. Geburtstag, Berlin 1980, S. 285–320; Diesselhorst (wie Am. 1): S. 195–211; Ulrich Manthe: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs I: Die Mathematisierung durch Pythagoras und Aristoteles, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 113 (1996), S. 1–31; Ders.: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs II (wie Anm. 1); Duard Kleyn, Gardiol van Niekerk: Ulpian’s praecepta iuris and their role in South African law Part 1: Historical context, in: Fundamina 20 (2014), S. 1–6. D. 1.1.10 pr. Dazu näher Waldstein (wie Anm. 85), S. 216–221; Diesselhorst (wie Anm. 1), S. 195–211. Diese „Definition“ ist oft als „inhaltsleeres Prinzip“ oder als „Leerformel“ bezeichnet worden (vgl. die Nachweise bei Waldstein: S. 225). In einem Unrechtsstaat (mit der NS-Jurisprudenz als Beispiel) zeigt sich aber rasch, was geschehen kann, wenn es an einem solchen Willen mangelt. Jenseits aller Diskussionen über die Alternativen von Positivismus und Naturrecht, von gesetzestreuer Rechtsanwendung und unbegrenzter Auslegung ist es dann vor allem dieser Wille, auf den es ankommt. Außerdem verbirgt sich hinter dem suum cuique tribuere (mit der Billigkeit) die anspruchsvolle Frage nach dem Verhältnis von Recht und Ethik (siehe z. B. oben II 3 und unten V). Manthe: Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs I (wie Anm. 1), S. 30, 2; Schulz (wie Anm. 85): S. 160; Waldstein (wie Anm. 85), S. 214f., 216 (jeweils mit Nachweisen). Nachweise bei Manthe: Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs I (wie Anm. 85), S. 30f. Siehe nur die Nachweise bei Schulz (wie Anm. 85), S. 160.
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Ulpian angesichts seiner Herkunft und Bildung auch semitische Vorbilder für eine Trias der Gebote aufgegriffen hat. 90 2. Steht Leibniz Ulpian näher als Kant? Die vorstehende Skizze mag einen Eindruck davon vermittelt haben, wie eng Leibniz’ Rechtsphilosophie an Ulpian und die römische Jurisprudenz anschließt. Die Differenzlinie zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand, die Hobbes, Rousseau, Kant und viele andere Vernunftrechtslehrer gezogen haben, war dem römischen Recht ebenso fremd wie die Idee, dass der Staat durch Vertrag, also durch einvernehmliche Übertragung ungeteilter Macht auf einen Souverän entstanden sei. In der römischen Jurisprudenz herrschte vielmehr die Vorstellung, dass es das Recht immer schon gegeben hat und zu seiner Entstehung kein besonderer Willensakt erforderlich war. 91 Ähnlich lehnt Leibniz jede Form des politischen Voluntarismus ab, zieht eine scharfe Trennlinie zwischen Gesetz und Recht und betont, dass es bereits im Naturzustand eine Rechtsordnung gegeben habe. 92 Über die Lehren von der Rechtsentstehung hinaus sind es vor allem die Rechtsbegriffe, die Kant und das römische Recht voneinander trennen. Bekanntlich haben die römischen Juristen nicht nur geschriebene, sondern auch ungeschriebene, der Rechtsordnung unabhängig von jeder menschlichen Satzung vorgegebene Normen respektiert. In diesem Kontext darf an die berühmte Definition des Celsus vom Recht (ius) als ars boni et aequi (D. 1.1.1.pr) erinnert werden, die freilich die Korrekturfunktion der aequitas, wenn überhaupt, nur andeutet. In der Wissenschaft herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass die römischen Juristen das Verhältnis von ius und aequitas nicht nur als Verwandtschaft oder Ähnlichkeit, sondern auch als Gegensatz begriffen haben, der jederzeit aufbrechen kann, wenn positives Recht unter den Anforderungen des aequum et bonum zu beurteilen ist. 93 Die Gemeinsamkeit mit Leibniz besteht also darin, dass auch er meint, die aequitas könne „im Streitfalle“ das ius strictum derogieren: 94 In Übereinstimmung mit der entwi-
90 Manthe: Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffs II (wie Anm. 85), S. 12–21; Waldstein (wie Anm. 85): S. 17–221. Schon Aristoteles ging, als er die universale Gerechtigkeit neben die beiden anderen Gerechtigkeitsarten stellte, von einer Dreiheit aus. Die Frage wäre also, in welcher Beziehung das honeste vivere zur iustitia universalis steht und ob Ulpian durch Aristoteles’ dritte Gerechtigkeitsart vielleicht angeregt wurde. 91 Vgl. Meder: Doppelte Körper im Recht (wie Anm. 65), S. 89–91 (letztlich bildet der natürliche Körper des Menschen die Grundlage für eine Imagination des Politischen, wie die Fabel des Menenius Agrippa zeigt). 92 Nachweise bei Meder: Der unbekannte Leibniz (wie Anm. 52), S. 129, 178–196 (auch Leibniz knüpft, etwa bei seiner Begründung der Lehre vom Organismus, an den natürlichen Körper an und verwirft, jedenfalls in seiner Rechts- und Staatsphilosophie, jenes mechanistische Paradigma, worauf z. B. die Philosophie von Hobbes oder Descartes aufbaut). 93 Waldstein (wie Anm. 85), S. 228–230; Behrends: Struktur und Wert (wie Anm. 74), S. 55–89. Weitere Nachweise bei Meder: Der unbekannte Leibniz (wie Anm. 52), S. 58–72. 94 Nova methodus (wie Anm. 21), § 73 (S. 78f.); Praefatio (wie Anm. 52), S. 168–171.
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ckelten römischen Jurisprudenz hat Leibniz einen zweigliedrigen Rechtsbegriff formuliert, während Kants Rechtslehre nur das strenge Recht anerkennt und die ars boni et aequi mangels Bestimmtheit aus der Jurisprudenz verbannen muss. Die Folgen dieser Aussonderung können gar nicht überschätzt werden. Weil „Ausnahmen“ von der Regel nicht mehr zugelassen werden, muss das höchste Recht (summum ius) zum größten Unrecht (summa iniuria) werden. Ob sich Kant, der ja meinte, einen bestimmten Sinn in die Ulpianischen Formeln „hineinlegen“ zu dürfen, über die Inkompatibilität seines Rechtsbegriffs mit den Grundlagen der entwickelten römischen Jurisprudenz im Klaren war, gehört zu den offenen Fragen der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. 95 Jedenfalls sucht auch Leibniz das Verhältnis von Recht und Ethik auf Grundlage des Schemas von „Regel und Ausnahme“ auszutarieren, wobei er, wie ausgeführt, der Vermutung für die Richtigkeit strengen Rechts besonderes Gewicht beimisst. Die Anerkennung materialer Elemente führt zu der Frage, ob die Erzwingbarkeit wirklich ein unentbehrliches Merkmal des Rechtsbegriffs sein muss. Hinzu kommt, und hier liegt ein weiterer, fundamentaler Unterschied, die Ausdehnung judikativer Funktionen: Der Richter hat, anders als Kant und die meisten Protagonisten des Vernunftrechts annehmen, über gesetzestreue Rechtsanwendung hinaus auch für Einzelfallgerechtigkeit und Rechtsfortbildung zu sorgen. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, wird er nicht selten selbstständige Wertungen treffen müssen. Wer glaubt, das Recht lediglich ‚mechanisch‘ anwenden zu dürfen, vermag nicht zu beurteilen, ob ethische Argumente in besonderen Situationen den Vorzug verdienen. 96 Wenn Leibniz bei den Einreden gegen das strenge Recht nun an den Prätor denkt, wäre damit zugleich ein Amt genannt, das ermessen lässt, wie groß der Abstand zwischen Kants Rechtsphilosophie und römischem Recht tatsächlich ist. V. Resümee: Eher Leibniz als Kant Nach wie vor ist die Meinung verbreitet, das neuzeitliche Vernunftrecht und namentlich Kant hätten mit der Zentralität der Person und den subjektiven Rechten
95 Es gibt Stellen, die vermuten lassen, dass Kant ernstlich bemüht war zu verstehen, was Ulpian eigentlich gemeint hat. So stellt er z. B. die Frage, ob Ulpian die Unterscheidung von neminem laedere und suum cuique tribuere entlang der Abgrenzung von Handlungen und Unterlassungen ziehen wollte, was zutreffend verneint wird, Metaphysik der Sitten Vigilantius (1793/94), AA XXVII, 527 (Z 30–35). Derartige Überlegungen lassen darauf schließen, dass Kant tatsächlich glaubte, Ulpian wäre mit der in der vernunftrechtlichen Staatsphilosophie herrschenden Fiktion eines Gesellschaftsvertrags (oder mit der vollständigen Verrechtlichung des honeste vivere) einverstanden gewesen, wenn er die relevanten Theorieentwürfe nur gekannt oder länger darüber nachgedacht hätte. 96 Dazu näher Stephan Meder: Rechtsmaschinen. Von Subsumtionsautomaten, Künstlicher Intelligenz und der Suche nach dem „richtigen“ Urteil, Köln u. a. 2020 (insbesondere S. 59–76 u. S. 111–125 – zum Verhältnis von Recht und Ethik).
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die ‚Moderne‘ im Privatrecht begründet. 97 Daran ist richtig, dass Denker wie Locke, Hobbes, Pufendorf, Mendelssohn oder Kant Freiheit, Leben und Eigentum als unveräußerliche Rechte des Bürgers postulierten. Sie alle haben die Abgrenzung individueller Freiheitsrechte (Autonomie, subjektive Rechte) im sogenannten Gesellschaftsvertrag verankert. Leibniz stimmt, soweit es um die Gewährung von Freiheitsrechten geht, mit dem säkularen Naturrecht zwar überein, ist aber kein Anhänger der Vertragsdoktrin. Die im Vernunftrecht herrschende Idee einer lediglich formalen Freiheit lehnt er ebenfalls ab. 98 Insbesondere verwirft er die für das mechanistische Paradigma so wichtige Abspaltung der Jurisprudenz von der Ethik und die Verbannung der Billigkeit mit ihrer rigorosen Absage an die Einzelfallgerechtigkeit. 99 Die am römischen Recht orientierten Traditionen erscheinen aus mehreren Gründen ‚moderner‘ als die meisten vernunftrechtlichen Theorieentwürfe. Erstens, weil das römische Recht mit seiner dreiteiligen Gliederung des Stoffs in persona, res, actio eine Abgrenzung von Freiheitssphären vorgenommen hat, die nicht nur der „Person“ mit ihren absoluten und relativen subjektiven Rechtspositionen, sondern auch den materialen Elementen des Rechts hinreichend Rechnung zu tragen vermag. 100 Hinzu kommt, dass dieser Ansatz ‚Recht‘ behalten hat und heute kaum noch jemand bestreiten würde, dass neben dem ius strictum auch aequitas, bona
97 Selbst Savigny hätte seine Rechtslehre im Zeichen der Kantischen Philosophie formuliert, vgl. z. B. Höffe (wie Anm. 7), S. 17. Auch Rechtshistoriker teilten diesen Standpunkt, vgl. etwa Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967, S. 432; Clausdieter Schott: „Aequitas cerebrina“, in: Rechtshistorische Studien. Hans Thieme zum 70. Geburtstag zugeeignet von seinen Schülern Köln/Wien 1977, S. 132–160, 139 (nachdem Kant „Recht und Sittlichkeit als eigenständige Bereiche geschieden hat“, sei die „Billigkeit als Kategorie des Rechts“ im 19. Jahrhundert „ausgeschaltet“ gewesen). Vor allem im Gebiet der Rechtsphilosophie ist diese durch die neuere rechtshistorische Forschung überholte Auffassung noch heute anzutreffen. 98 Vgl. oben III 2 (Auseinandersetzung mit Hobbes). Mit dem mechanistischen Paradigma darf auch die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags heute als weitgehend überholt bezeichnet werden, vgl. Meder: Doppelte Körper im Recht (wie Anm. 65), S. 25–27, 89–91, 321–328. 99 Sie ist jüngst wieder als Entpersonalisierung des Rechts, Verschwinden des Subjekts, Erosion des anthropozentrischen Systems gedeutet worden, vgl. Frederik von Harbou: Abschied vom Einzelfall?, in: JuristenZeitung 75 (2020), S. 340–348, 348; Eugen Huber: Recht und Rechtsverwirklichung, Basel 1921, S. 60 („durch die Folgerung aus dem Recht“ darf „nichts Individuelles vernichtet werden“). In der Tat kann die Beseitigung von Einzelfallgerechtigkeit kaum als ‚Fortschritt‘ oder ‚Moderne‘ qualifiziert werden. 100 Jan Schapp: Methodenlehre des Zivilrechts, Tübingen 1998, S. 53–63. Die subjektiven Rechte haben ihren Anfang „in dem mächtigen individuellen Freiheitsbewußtsein“ genommen, das den Römern eigen war. „Die Naturrechtstheorie“ vermochte zwar zu ihrer „Festigung“ beizutragen. Doch falle diese Theorie hinter das römische Recht zurück, weil sie die dort „vorhandenen Korrekturen“ missachtet habe, Wilhelm Wundt: Logik, Bd. III: Logik der Geisteswissenschaften, 4. Auflage, Stuttgart 1921, S. 568–624, 597f. (dass diese Kritik vor allem auch auf Kants Rechtsphilosophie zutrifft, bedarf keiner Ausführung mehr).
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fides, Treu und Glauben, Rechtsmissbrauch, Verhältnismäßigkeit oder ähnliche unbestimmte Rechtsbegriffe eine maßgebliche Rolle in der Jurisprudenz spielen können. 101 Unter den Prämissen einer fortschreitenden Transnationalisierung des Rechts, einer zunehmenden Pluralisierung der Quellen und eines Vordringens des ius non scriptum ist schließlich die Behauptung von der Erzwingbarkeit allen Rechts in Zweifel geraten. 102 Einer eigenen Untersuchung bedürfte die Frage, warum die moderne Kant-Forschung über diese Befunde so geflissentlich hinwegzusehen pflegt. 103 Nach Leibniz und Kant hat sich noch Savigny mit Ulpians praecepta eingehender befasst, freilich erst gegen Ende seines „Systems“, weil diese „Klassification“ von „neueren Schriftstellern“ nicht mehr angewendet worden sei. 104 Heute spielen Ulpians praecepta kaum noch eine Rolle. 105 Ihr Grundgedanke, die paradoxale Idee 101 Siehe nur die aktuelle Monographie von Roman Guski: Rechtsmissbrauch als Paradoxie: Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, Tübingen 2019, und den Besprechungsaufsatz von Gunther Teubner: An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs, in: JuristenZeitung 75 (2020), S. 373–378. In seiner kritischen Würdigung des Buches hat Teubner zutreffend hervorgehoben, dass sich das Phänomen des Rechtsmissbrauchs aus der Innenwelt des Rechts nicht erklären lässt, sondern es eines „Ausgriffs auf rechtsexternen Sinn“ bedarf: „Erst der Durchgriff auf die Materialität ihres gesellschaftlichen Sinns erbringt die Legitimation für das Verbot des Rechtsmissbrauchs“ (S. 377). Als einen solchen Durchgriff versteht auch Leibniz (mit dem römischen Recht) die Korrekturfunktion der aequitas, wenn sie als Ausnahme striktem Recht entgegenwirkt. Die Autonomie der Jurisprudenz wird dadurch nicht in Frage gestellt, weil ja das Recht selbst entscheidet, ob es seine Grenzen modifiziert, um „gesellschaftlichem Problemdruck“ nachzugeben (S. 378). 102 Siehe die Nachweise bei Meder: Gesellschaftsvertrag und Souveränität bei Moses Mendelssohn und im 19. Jahrhundert (wie Anm. 27), VI. 103 Vgl. nur den Abschnitt über „Billigkeit und Notrecht“ bei Höffe (wie Anm. 7), S. 58–62. Es darf vermutet werden, dass hier die bei juristischen Laien noch heute verbreitete Auffassung eine Rolle spielt, die Rechtsordnung stünde im Zeichen des Formalismus und operiere wie eine Art Paragraphen- oder Subsumtionsautomat, vgl. die Nachweise bei Meder: Rechtsmaschinen (wie Anm. 96), S. 122f. 104 Friedrich Carl von Savigny: System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840 (§ 59). Savignys „System“ fußt ebenfalls auf einem zweigliedrigen Rechtsbegriff, der mit Kants formalem Rechtsbegriff genauso inkompatibel ist wie Leibniz’ Dreistufenlehre. 105 Über die „von Aristoteles für alle Zeiten“ bestimmte Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit (Gustav Radbruch: Gesamtausgabe Bd. III: Rechtsphilosophie, bearb. v. Winfried Hassemer, Heidelberg 1990, S. 40f.) wird indessen nach wie vor lebhaft diskutiert. Das Gerechtigkeitsprinzip soll danach in zwei Grundsituationen auftreten: Die kommutative Gerechtigkeit in einem Gleichordnungsverhältnis, wo sich mindestens zwei Personen gegenüberstehen, die distributive Gerechtigkeit in einem Subordinationsverhältnis, wo eine übergeordnete Stelle gegenüber mindestens zwei Untergeordneten hervortritt. Wegen ihres individualistischen Zuschnitts wird die kommutative Gerechtigkeit (neminem laedere) eher dem Privatrecht und die distributive Gerechtigkeit (suum cuique tribuere) mehr dem öffentlichen Recht zugeordnet, siehe nur Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, 8. Auflage, hg. v. Erik Wolf, Hans-Peter Schneider, Stuttgart 1973, S. 122. Die Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht ist freilich keine kategoriale, wie es Kant und die Kant-Forschung anzunehmen scheinen (siehe oben II 2). Denn dem Privatrecht unterfallen auch Rechtsbeziehungen, die durch Heteronomie und aequitas geprägt sind, während im öffentlichen Recht konsensuale
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einer simultanen Trennung und Verbindung von Recht und Ethik, ist in der Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität aber durchaus noch lebendig. Inwieweit das Recht durch Werte, Ethik oder Politik gesteuert wird, gehört aktuell zu den meist diskutierten Fragen der Jurisprudenz. Dabei fällt auch ein neues Licht auf die Tatsache, dass sich die meisten Lehrer des Vernunftrechts genötigt sahen, materiale Elemente aus dem Recht zu verbannen. Dafür gibt es nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch verfassungsrechtliche Gründe: Ein zweigliedriger Rechtsbegriff würde der Jurisprudenz ein Maß an Gestaltungsmacht verleihen, das mit dem Souveränitätskonzept des staatsrechtlichen Positivismus unvereinbar wäre. Die Aktualität von Leibniz’ Rechtsphilosophie liegt darin, dass er der Jurisprudenz eine solche Gestaltungsmacht zugestehen kann. Sie stimmt im Kern sowohl mit der ‚Zweigliedrigkeit‘ des römischen Rechts als auch mit der im 19. Jahrhundert vordringenden Rückbesinnung auf das Zusammenspiel ‚reiner‘ und ‚gemischter‘ Rechtsprinzipien überein. Mit Leibniz lässt sich also gut erklären, warum das Wechselspiel zwischen formalen und materialen Elementen zum Proprium des Rechts gehört, warum die Jurisprudenz auch im 21. Jahrhundert noch auf ihre Autonomie bedacht sein muss und warum sie keineswegs nur material werden, sondern auch formal bleiben möchte.
Strukturen und utilitas vordringen (vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte, 6. Auflage, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 456–460).
II. GRUNDLAGEN, ORDNUNGEN UND GRENZEN DES WISSENS
LEIBNIZ’ „NECROLOGIUM DU MONASTERE DELLA VANGADIZZA“ AUF DER SPUR Sven Erdner, Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz’ Arbeit an der sogenannten Welfengeschichte, einer Geschichte auch über die Ursprünge der Dynastie, zu der er vom hannoverschen Herzog Ernst August 1685 den Auftrag erhielt, wird immer wieder hervorgehoben, wenn es um seine Rolle als bereits an modernen wissenschaftlichen Methoden orientierter Historiker geht. 1 Sein Geschichtswerk sollte dabei nach Leibniz’ eigener Aussage den neuesten wissenschaftlichen Ansprüchen seiner Zeit genügen, d.h. auf Quellen aufbauen, die z.T. selbst Gegenstand von erst im Entstehen begriffenen Wissenschaftsdisziplinen wurden, so beispielsweise die in der Forschung hervorgehobene wegweisende Benutzung von Memorialquellen, wie etwa Necrologien.2
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Vgl. innerhalb der umfangreichen Forschung z.B.: Gerd van den Heuvel: Geschichte, in: Friedrich Beiderbeck, Wenchao Li und Stephan Waldhoff (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick, Stuttgart 2020, S. 343–362, S. 351, Maria Rosa Antognazza: Leibniz as Historian, in: Dies. (Hg.): The Oxford Handbook of Leibniz, Oxford 2018, S. 591–608, v.a. S. 593f., Stephan Waldhoff: Über den Tod hinaus: Leibniz und die Geschichte des Welfenhauses, in: Michael Kempe (Hg.): 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr: Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten, Hannover 2016, S. 355–399, Nora Gädeke: Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Christiane Berkvens-Stevelinck, Hans Bots und Jens Häseler (Hg.): Les grands intermédiaires culturels de la république des lettres. Études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles, Paris 2005, S. 258–305, S. 261, Gottfried Wilhelm Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte, bearb., kommentiert und hg. von Malte-Ludolf Babin und Gerd van den Heuvel, Hannover 2004, S. 26, 31–37, 86, Nora Gädeke: Hausgeschichte – Reichsgeschichte – Landesgeschichte in den Annales Imperii. Die Behandlung des ‚Sachsenherzogs‘ Widukind, in: Herbert Breger, Friedrich Niewöhner (Hg.): Leibniz und Niedersachsen (= Studia Leibnitiana, Sonderheft 28), Stuttgart 1999, S. 105–125, S. 105f., Günter Scheel: Braunschweig-Lüneburgische Hausgeschichtsschreibung im 18. und 19. Jahrhundert im Anschluß an das historiographische Erbe von G. W. Leibniz, in: Dieter Brosius, Martin Last (Hg.): Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte. Zum 65. Geburtstag von Hans Patze, Hildesheim 1984, S. 220–239, S. 222, 224, Armin Reese: Die Rolle der Historie beim Aufstieg des Welfenhauses 1680–1714, Hildesheim 1967, besonders S. 35–43, 171, Günter Scheel: Leibniz als Historiker des Welfenhauses, in: Wilhelm Totok, Carl Haase (Hg.): Leibniz. Sein Leben – sein Wirken – seine Welt, Hannover 1966, S. 227–276, S. 244, 272f. Vgl. A, I, 4 N. 149, S. 192–195: „[...] car on demande des auteurs anciens, particulierement des contemporains, qvi ont pû parler avec fondement, et c’est pour cela qv’on a fait une si exacte recherche d’anciennes fondations et diplomes, des vies des Saints, et d’autres monumens dont la plus grande partie a esté trouuée dans les monasteres“ (A I, 4 N. 149, S. 192f.). „Mais aujourdhuy on peut dire qv’on a reduit l’Histoire et particulierement la Genealogie en forme de science“ (ebd., S. 195). Vgl. die in Anm. 1 angegebene Literatur sowie Nora Gädeke: Die
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Als Beispiel für diesen Anspruch wird Leibniz’ Archivreise zur Quellensuche nach Süddeutschland und Italien zwischen 1687 und 1690 herangezogen. 3 Durch diese sollte der Beweis einer gemeinsamen Abstammung der Este und Welfen erbracht werden. 4 Dies hieß einerseits, vor allem die Identität des Markgrafen Azzo II. (d.i. Albert-Azzo II. von Este, gest. 1097) aufzuklären, der mit Cuniza, der Erbin der süddeutschen Welfen, verheiratet war und der über den gemeinsamen Sohn Welf IV. der Ahnherr der sogenannten jüngeren Welfen wurde. 5 Dieser Sohn führte nach Erlöschen der eigentlichen agnatischen Linie der Welfen als Erbe seiner Mutter die welfische Linie in Bayern fort, wie seine Nachkommen später in den durch Heiraten hinzugewonnenen niedersächsischen Fürstentümern. 6 Darüber hinaus galt es für Leibniz, auch die jüngeren, aus einer weiteren Verbindung entstammten Söhne Azzos II. aus den Quellen zu ermitteln, von denen die Dynastie der Este in Italien abzustammen schien. 7 Zwar war Azzo II. in der frühesten bekannten Ge-
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Werkstatt des Historikers Leibniz: Quellenbegriff – Quellensuche – Quelleneinsatz, in: Dies. (Hg.): Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen (= Wolfenbütteler Forschungen 129), Wiesbaden 2012, S. 7–32, Matthias Schnettger: Leibniz’ Italienbild und die Bedeutung Italiens für Geschichte und Politik des Welfenhauses, in: Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel und Wenchao Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit, Göttingen 2015, S. 527–550, S. 535, Werner Conze: Leibniz als Historiker, in: Erich Hochstetter (Hg.): Leibniz. Zu seinem 300. Geburtstage 1646–1946, 6. Lieferung, Berlin 1951, S. 56f. Zur fides historica als Instrument gegen den historischen Pyrrhonismus, vgl. z.B. Antognazza: Leibniz as Historian (wie Anm. 1), S. 603–606, Nora Gädeke: Praxis und Theorie: ,Ein Blick in die Werkstatt des Historikers Leibnizʻ, in: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Akademievorlesungen Februar – März 2016, hg. von der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, Hamburg 2017, S. 44–84, S. 54 (http://doi.org/10.15460/HUP.AV.1.171) oder insgesamt Markus Völkel: „Pyrrhonismus historicus“ und „fides historica“: die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt am Main 1987. Zu Leibniz’ Umgang mit Memorialquellen vgl. v.a. Volkhard Huth: Leibniz’ Umgang mit Memorialquellen aus der Sicht der heutigen Memorialforschung, in: Gädeke: Leibniz als Sammler (vgl. oben), S. 119–137. Vgl. A I, 5 S. XXXIX–XLVIII, Antognazza: Leibniz as Historian (wie Anm. 1), S. 594, Reese: Die Rolle der Historie (wie Anm. 1), S. 54–71, Louis Davillé: Leibniz historien. Essai sur l’activité et la méthode historiques de Leibniz, Paris 1909, S. 62–98, und insgesamt André Robinet: G. W. Leibniz. Iter Italicum: (mars 1689 – mars 1690), Florenz 1988, Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik, bearb. von Kurt Müller und Gisela Krönert, Frankfurt am Main 1969, S. 83–103. Vgl. Antognazza: Leibniz as Historian (wie Anm. 1), S. 594, Schnettger: Leibniz’ Italienbild (wie Anm. 2), S. 535, Alois Schmid: Die Herkunft der Welfen in der bayerischen Landeshistoriographie des 17. Jahrhunderts und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Breger, Niewöhner: Leibniz und Niedersachsen (wie Anm. 1), S. 126–147, S. 137. So Schnettger: Leibniz’ Italienbild (wie Anm. 2), S. 534. Vgl. zu Azzo II. Margherita Giuliana Bertolini: Art. Alberto Azzo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 1 (1960), S. 753–758 (https://www.treccani.it/enciclopedia/alberto-azzo_(Dizionario-Biografico)/). Vgl. Schnettger: Leibniz’ Italienbild (wie Anm. 2), S. 535. Vgl. ebd., S. 535f. Die richtige Anzahl der Söhne Azzos II. aus dessen Ehen mit Cuniza und der Garsendis von Maine hatte Leibniz erst nach der richtigen Entschlüsselung der Urkunde
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schichtsschreibung zu den Welfen als Cunizas Gemahl genannt, aber seine Zugehörigkeit zu den Este war allein durch spätere Hinzufügung überliefert und musste erst an zeitgenössischen Quellen nachgewiesen werden. 8 Daneben musste Leibniz die heute wegen ihres Leitnamens als Otbertiner (ital. Obertenghi) bezeichneten Vorfahren des doppelten Stammvaters Azzo II. aufklären, 9 um die gemeinsame Abstammungslinie so weit wie möglich in die Vergangenheit zurückzuverfolgen, woran Herzog Ernst August vor allem hinsichtlich einer Hausgeschichte interessiert schien. 10 Im Rahmen dieser Forschungen beschäftigte sich Leibniz mit der Abtei von Vangadizza, dem Hauskloster der Este und Begräbnisstätte einiger ihrer Mitglieder, wie der Azzos II. und Cunizas. So suchte Leibniz bei seiner Archivreise 1690 außer im Archiv von Modena auch vor Ort in Vangadizza Quellen zur Geschichte der Este und ihrer otbertinischen Vorfahren. Im Vordergrund der dort gemachten Funde stand vor allem das Epitaph für Cuniza, welches sie zusammen mit ihrem Gemahl Azzo II. und ihrem gemeinsamen Sohn Welf IV. von Bayern an diesem estischen Gedenkort nannte und damit die gemeinsame Abstammung der beiden Dynastien bewies. 11 Daneben fand Leibniz auf dieser Reise die vom angeblich über hundertjährigen Azzo II. kurz vor dessen Tod zusammen mit seinem jüngeren Sohn Hugo dem Kloster Vangadizza ausgestellte Urkunde aus dem Jahr 1097, die in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle bei der Entschlüsselung von Azzos II. Genealogie spielen sollte. 12 Zu den Quellen, an die Leibniz 1690 ebenfalls in Modena gelangte, gehört auch ein handschriftlicher Auszug aus einem Necrolog, genauer „[e]x Anniversario Ab-
von 1097 für Vangadizza und seiner Entdeckung von Azzos II. Vater benennen können, vgl. A I, 8 N. 253, S. 433. Vgl. dazu künftig Sven Erdner: Leibniz und die braunschweig-lüneburgische Hausgeschichte. Leibniz’ Suche nach den Vorfahren Azzos II. von Este zwischen 1685– 1716 und sein Prioritätsstreit mit Lodovico Antonio Muratori, Diss. Universität Hannover 2019 (Druck in Vorbereitung), Kap. II. 8 Vgl. zur Überlieferung Azzos II. in der Genealogia Welforum und der Historia Welforum Bernd Schneidmüller: Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252), 2. Aufl., Stuttgart 2014, S. 30, 128, Reese: Die Rolle der Historie (wie Anm. 1), S. 64. 9 Vgl. zu Leibniz’ Forschungen zu den Otbertinern, A I, 9 N. 216, S. 353f., N. 357f., S. 536–544, sowie künftig Erdner: Leibniz und die braunschweig-lüneburgische Hausgeschichte (wie Anm.7), Kap. III. 10 So folgte Leibniz’ Beauftragung mit der Welfengeschichte, nachdem dieser dem Herzog eine agnatische Ahnenreihe bis zum Jahr 600 in Aussicht gestellt hatte, vgl. A I, 4 N. 149, S. 194f., Reese: Die Rolle der Historie (wie Anm. 1), S. 40f. 11 Vgl. Babin, van den Heuvel: Schriften und Briefe (wie Anm. 1), S. 887 mit Anm. 100, Schnettger: Leibniz’ Italienbild (wie Anm. 2), S. 534–540, Robinet: Leibniz. Iter Italicum (wie Anm.3), S. 382–388. 12 Vgl. z.B. A I, 5 N. 298, S. 530, A I, 6 N. 180, S. 343 Erl., A I, 7 N. 201, S. 392, N. 339, S. 599, A I, 9 N. 357, S. 537, A I, 13 N. 402, S. 666, A I, 18 N. 18, S. 26.
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batiae de Vangaditia“, welcher u.a. den Eintrag „Azzo Marchio et Gualdrada conjux“ unter dem Datum des 2. Januar enthalten haben soll, 13 den Leibniz bis zu seinem Tod im November 1716 mehrmals gegenüber Korrespondenzpartnern, besonders im Briefwechsel mit Muratori, anführt. 14 Obwohl im Necrologauszug zu diesem „Azzo marchio“ und seiner Gemahlin Waldrada kein weiterer Hinweis zur chronologischen Einordnung gegeben ist, vermutet Leibniz von Beginn an in den genannten Personen direkte Vorfahren des Markgrafen Azzo II. Denn mit Hilfe ihrer Namen ließe sich genealogisch erklären, warum das Gebiet um Vangadizza unter den Einfluss Azzos II. und seiner estischen Nachkommen gelangte, 15 nachdem dort zuvor ein Markgraf Almerich mit seiner Gemahlin Franca (um 954) und danach der Markgraf Hugo von Tuszien (gest. 1001) nachweisbar waren, 16 wobei letzterer ohne männlichen Erben gestorben sein soll. 17 Weil der Name Waldrada in
13 Zu den Umständen, wie Leibniz an den Necrologauszug gelangte, vgl. die späte Schilderung gegenüber Muratori vom 30. Januar 1716, Corrispondenza tra L. A. Muratori e G. G. Leibniz, conservata nella R. Biblioteca di Hannover ed in altri istituti, pubbl. da Matteo Campori, Modena 1892, S. 244, Carteggi con Lazzari ... Luzán (= Edizione Nazionale del Carteggio di L. A. Muratori 25), a cura di Maria Lieber, Daniela Gianaroli, Florenz 2020, S. 152f. Der Auszug existiert in mindestens zwei Handschriften: Einmal von Leibniz’ Hand zusammen mit einer Abschrift des Epitaphs der Cuniza in Vangadizza unter der Signatur GWLB Ms XXIII, 181, 1, 1, Bl. 83–84, hier Bl. 83v. Eine weitere Handschrift, ebenfalls mit Necrologauszug und dem Epitaphientext, findet sich unter der Signatur GWLB Ms XXIII, 181, 2, 10a, Bl. 2–3, hier Bl. 3r, und wird im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition als Handschrift des 16. oder frühen 17. Jahrhunderts angegeben. 14 So in A I, 7 N. 277, S. 504, A I, 13 N. 402, S. 666, A I, 18 N. 18, S. 27, Leibniz für Pomponne de Reffuge, 29. Dezember 1707, A I, 27 (Vorausedition, 13.11.2020), Leibniz an Guido Grandi, 3. März 1714 (Transkription für die Leibniz-Akademieausgabe der Leibniz-Forschungsstelle Hannover, Transkriptionen des Briefwechsels 1714, 28.10.2020, https://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1714roh.pdf), Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 215, 218f., 222, 224, 229, 235f., 244, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 138–143, 145, 149f., 152, 161. 15 Vgl. Andrea Castagnetti: Guelfi ed Estensi nei secoli X e XII, in: Amleto Spicciani (Hg.): Formazione e strutture dei ceti dominanti nel medioevo. Marchesi conti e visconti nel regno Italico (secc. IX–XII). Atti del terzo convegno di Pisa, 18–20 marzo 1999, Rom 2003, S. 41–102, S. 56, 70, 75, Katrin Baaken: Elisina curtis nobilissima. Welfischer Besitz in der Markgrafschaft Verona und die Datierung der Historia Welforum, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 55 (1999), S. 63–94, S. 70, Lodovico Antonio Muratori: Delle antichità estensi ed italiane, Bd. 1, Modena 1717, S. 41, 204. 16 Vgl. Antonio Falce: Il Marchese Ugo di Tuscia, Florenz 1921, S. 106f., 132–134, 249, Silvana Collodo: Le chiese del marchese Almerico II e della moglie Franca (955), in: Claudia Bertazzo u.a. (Hg.): Gli estensi nell’Europa medievale, Verona 2014, S. 21–68, u.a. S. 34, Andrea Castagnetti: Un progetto di sviluppo signorile per una chiesa privata: il marchese Almerico II e S. Maria di Vangadizza (Badia Polesine), in: Società, istituzioni, spiritualità. Studi in onore di Cinzio Violante, Bd. 1, Spoleto 1994, S. 175–193, Andrea Calamai: Ugo di Toscana: realtà e leggenda di un diplomatico alla fine del primo millennio, Florenz 2001, S. 181–185. 17 Vgl. A I, 7 N. 202, S. 396, A I, 13 N. 402, S. 666, Falce: Il Marchese Ugo (wie Anm. 16), S.164f., Calamai: Ugo di Toscana (wie Anm. 16), S. 88f.
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der Familie Hugos von Tuszien gehäuft auftritt (beispielsweise bei Hugos Schwester und dessen Großmutter mütterlicherseits), 18 konjiziert Leibniz in einer These die „Waldrada conjux“ der Necrolognotiz als Schwester des Markgrafen (bzw. bei anderer Gelegenheit als deren Tochter), die durch ihre Heirat mit einem Mitglied der späteren Este-Dynastie und nach kinderlosem Tod ihres Bruders die Besitzansprüche über Vangadizza in Azzos II. Familie einbrachte. Zudem bot sich der Name des ebenfalls in der Notiz genannten Azzos geradezu als Leitname der Este 19 par excellence an, welcher mittels Nachbenennung 20 als agnatischer Vorfahre Azzos II. zu deuten wäre, der diesem den Besitz direkt vererbte. Für Leibniz ist diese Art der Identifizierung der eingetragenen Personen mit Hilfe der später so genannten genealogisch-besitzgeschichtlichen Methode 21 eine konsequente Folge der wissenschaftlichen Instrumentarien seiner Zeit. 22 Und vor dem Hintergrund seines zeitabhängigen Denkens in den Kategorien Dynastie und Vererbung ist deren spätere Deutung als Vater und Mutter Azzos II. umso verständlicher. 23 Bevor diese ins Spiel kommen konnte, musste Leibniz allerdings eine andere Hürde überwinden, die Falsifikation der komplexen und langanhaltenden, aber unbewiesenen Tradition 18 Vgl. Calamai: Ugo di Toscana (wie Anm. 16), im Index (S. 300) die Verwandten Hugos mit diesem Namen. Zu Waldrada, der Schwester Hugos von Tuszien, vgl. Chiara Provesi: Le due mogli di Pietro IV Candiano (959–976): le donne ei loro gruppi parentali nella Venezia del X secolo, in: Reti Medievali Rivista 16/2 (2015), S. 21–51 (DOI: https://doi.org/10.6092/15932214/470), Luigi Andrea Berto: In the Search of the First Venetians. Prosopography of Early Medieval Venice, Turnhout 2014, S. 72, 339–341, Calamai: Ugo di Toscana (wie Anm. 16), S.82–87, Falce: Il Marchese Ugo (wie Anm. 16), S. 6–8. 19 Vgl. Mario Nobili: Formarsi e definirsi dei nomi di famiglia nelle stirpi marchionali dell’Italia centro-settentrionale: il caso degli Obertenghi, in: Cinzio Violante (Hg.): Nobiltà e chiese nel medioevo e altre saggi. Scritti in onore di G. Tellenbach, Rom 1993, S. 77–96, S. 81. 20 Zur Praxis der Nachbenennung in adeligen Familien und zum methodischen Problem ihrer Anwendung für die genealogische Rekonstruktion vgl. Dieter Geuenich: Personennamen und die frühmittelalterliche Familie/Sippe/Dynastie, in: Ernst Eichler, Gerold Hilty, Heinrich Löffler, Hugo Steger, Ladislav Zgusta (Hg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, Bd. 2, Berlin/New York 1996, S. 1723–1725, vgl. auch Michael Mitterauer: Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien 2011, Kap. 3, S. 73–90, Wolfgang Haubrichs: Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ,germanischen‘ ,gentes‘: Tradition – Innovation – Differenzen, in: Karl Ubl, Steffen Patzold (Hg.): Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000), Berlin 2014, S. 29–71, S. 60–64. 21 Vgl. Gädeke: Praxis und Theorie (wie Anm. 2), S. 77. 22 Zur Entwicklung einer kritischen Methode in der Geschichtsforschung des 17. Jahrhunderts vgl. z.B. Andreas Kraus: Grundzüge barocker Geschichtsschreibung, in: Historisches Jahrbuch 88 (1968), S. 54–77, Völkel: „Pyrrhonismus historicus“ (wie Anm. 2), Jan Marco Sawilla: Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert. Zum Werk der Bollandisten, Tübingen 2009, Kap. 2.1., S. 44–68. Vgl. zu Leibniz speziell Babin, van den Heuvel: Schriften und Briefe (wie Anm. 1), S. 23–28, Erdner: Leibniz und die braunschweig-lüneburgische Hausgeschichte (wie Anm. 7), Kap. I.4.1. 23 So z.B. A I, 4 N. 454, S. 539, N. 486, S. 588, A I, 5 N. 377, S. 637, A IV, 2 N. 1, S. 209. Vgl. z.B. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 218f, 223f, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 140, 142f.
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der humanistischen Hofhistoriographie der Este, die Hugo von Tuszien selbst als Vater oder Großvater Azzos sah. 24 Als deren Nachwirkung lässt sich bei Leibniz nach der Archivreise u.a. eine öfters wiederkehrende Vertauschung der Namen Hugo und Azzo beobachten. Rund anderthalb Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien schreibt Leibniz Mitte Oktober 1691 an Huldreich von Eyben seine Vermutung, wie Vangadizza in die Hand der Este gekommen sei, jedoch noch ohne konkrete Namen oder die Necrolognotiz zu nennen: Was aber betrifft Hugonem Marchionem Thusciae so ist selbiger vermuthlich ohne mänliche erben gestorben; [...] Solches wird confirmirt aus einem diplomate des Closters della Vangadizza, deme gedachter Hugo etwas gibt, mit der bedingung daß es das Kloster haben soll, wenn von ihm keine Erben vorhanden. Und es hat sich gefunden daß das closter solches land gehabt[,] doch ist das argument nicht demonstratif. Seine Schwester hat geheißen Waldrada; so auch etwas beym kloster Vangadizza gehabt, Unterdeßen ist wunderlich daß gleichwohl solches land umb das Closter Vangadizza herum, des Azonis Marchionis (Gvelfi Ducis Patris) hernach gewesen. Waldrada war erst verheyrathet an Petrum Ducem Venetiarum, der aber samt seinen Kindern durch einen aufstand umbs Leben kommen; Da möchte vielleicht diese Waldrada patrem Azonis avum Gvelfi Ducis secundis nuptiis geheyrathet haben. 25
Der vollständige skizzierte genealogische Gedankengang zum vermuteten Besitzerwechsel von Vangadizza zeigt sich in einem weiteren Schreiben an von Eyben vom 29. Dezember 1691/8. Januar 1692, in dem Leibniz erstmals auf den besagten Necrologeintrag aus dem Kloster Vangadizza zu sprechen kommt, jedoch mit der bereits angedeuteten Vertauschung der Namen: Es ist freylich nachdencklich daß Vangadizza von dem Hugone Marchione Thusciae und seiner Schwester Waldrada auff unsern Marchionem Azonem kommen. In dem Necrologio Vangadizzae findet sich Hugo Marchio et Waldrada Conjux; ich bin daher fast auff die gedancken gerathen, ob nicht etwa Waldrada soror Hugonis Marchionis Thusciae nach dem todte ihres ersten Gemahls Petri Ducis Venetiarum (der ermordet worden[,] des wegen sie sich von Venedig weg begeben) Hugonem Marchionem patrem Azonis nostri [= Azzo II.] geheyrathet und ihm das land umb Vangadizza so bey dem Haus Este bis in das seculum 14tum blieben, zubracht.
24 Vgl. u.a. Pellegrino Prisciani (gest. ca. 1518): Orazione per le nozze di Alfonso d’Este e Lucrezia Borgia (Oratio Peregrini Prisciani Ferrariensis in nuptiis Alphonsi Estensis), hg. von Claudia Pandolfi, Ferrara 2004, S. 58-60, Giambattista Pigna: Historia de principi di Este, Venedig 1572, S. 76–82, 88f., 113 und Stammtafeln nach S. 798, Girolamo Falletti: De genealogia Marchionum Estensium et Ducum Ferrariae, in: Helmold von Bosau: Chronica Slavorum seu Annales, hg. von Reiner Reineccius, Frankfurt 1581, Appendix, S. 227f. Dabei kann der historische Azzo II. nicht unmittelbar mit den Darstellungen der Hofhistoriographie der Este des 16. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Es überlagern sich dort verschiedene, reale wie fiktive Personen. Vgl. Roberto Bizzocchi: Généalogies fabuleuses: inventer et faire croire dans l’Europe moderne, trad. de l’italien par Lucie De Los Santos, Postface trad. par Alain Tarrieu. Préf. de Christiane Klapisch-Zuber, Paris 2010, S. 192, Barbara Marx: L’ossessione della genealogia, in: Dies., Tina Matarrese und Paolo Trovato (Hg.): Corti rinascimentali a confronto. Letteratura, musica, istituzioni, Florenz 2003, S. 109–143, S. 112, 114, 116, Falce: Il Marchese Ugo (wie Anm. 16), S. 160f. 25 A I, 7 N. 202, S. 396.
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Sonsten ist Hugo Marchio Thusciae, gewesen gente Salicus, hingegen Azo Marchio ex natione sua vixit lege Longobardorum. 26
Geprägt von der genannten historiographischen Tradition ging Leibniz lange Zeit selbst (nachweisbar von 1677 bis März 1692) von einem Markgrafen Hugo als Azzos II. Vater aus. 27 Dabei war es Leibniz’ erster Durchbruch zur kritischen Widerlegung dieser Tradition, dass er bereits teilweise vor Antritt der Archivreise 1687 erkannte, dass mit diesem Hugo nicht Hugo von Tuszien selbst gemeint sein konnte, z.B. aufgrund ihrer unterschiedlichen professiones legum, wie im gegebenen Zitat. 28 Daneben schienen während seiner Archivstudien 1690 in Modena die dort vorhandenen Quellen die Hugo-These (vorerst) zu bestätigen, weshalb Leibniz nach einem zeitgleichen, aber von Hugo von Tuszien zu unterscheidenden anderen Hugo um das Jahr 1000 als Azzos II. Vater suchte. 29 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn er in der hier angeführten Briefstelle und abweichend von seiner tatsächlichen Quelle einen Markgrafen Hugo (anstelle des Markgrafen Azzo) als solchen in die Necrolognotiz hineinliest, der als mutmaßlicher Gemahl der
26 A I, 7 N. 277, S. 504f. 27 Vgl. A IV, 2 N. 1, S. 210, A IV, 3 N. 64, S. 499, A I, 4 N. 460, S. 547, N. 472, S. 562, N. 474, S. 567, 570, 572–573, A I, 7 N. 401, S. 705, vgl. Günter Scheel: Leibniz’ Pläne für das ‚Opus historicum‘ und ihre Ausführung, in: Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14.–19. 11. 1966 (= Studia Leibnitiana. Supplementa 4), Wiesbaden 1969, S. 134–155, S. 147f. 28 So war hinsichtlich der Rekonstruktion von Vorfahrenlinien einerseits für Leibniz die Weitergabe der Rechtszugehörigkeit über die Agnaten konstitutiv. In diesem Verständnis konnte Hugo von Tuszien, der sich zum fränkischen Recht bekannte, nicht Agnat von Azzo II. sein, der als Langobarde galt, vgl. z.B. A I, 7 N. 277, S. 504f. Andererseits konnte Leibniz durch die Chronologie wahrscheinlich machen, dass Hugo von Tuszien nicht der Vater Azzos II. gewesen sein konnte: „Obiit enim Hugo Marchio vix aut nondum anno ante Ottonem III. teste Petro Damiani. At Azo obiit anno 1097, pene integro post Hugonem seculo, et licet major centenario fuerit, tamen res suspecta est“ (A I, 4 N. 514, S. 619). 29 Vgl. A I, 5 N. 396, S. 666f.: „Ferner habe aus einer Chronica eines Episcopi Comensis gefunden wer Azonis vater gewesen, und auß documentis zu Modena und Vangadizza eruiret die nahmen der übrigen söhne Azonis und Brüder des Ducis Gvelfi [...]“. Leibniz hielt einen Teil seiner Quellenfunde der Archivreise in einem Stammtafelentwurf fest, vgl. GWLB Ms XXIII, 181, 1, 6, Bl. 25, anzusetzen nach Rückkehr von der Archivreise 1690 und vor März 1692, siehe dazu auch die spätere Fassung in GWLB Ms XXIII, 181, 1, 6, Bl. 24, wohl kurz nach März 1692, wie Anm. 31. Dort findet sich zu Azzos II. Vater folgende Notiz, die sich u.a. aus den genannten Quellen aus dem Archiv von Modena speist: „Azo Marchio, filius Hugonis March. ex Leone Epo Comensi et Prisciano et Sigonio“. Vgl. Muratori: Delle antichità estensi (wie Anm. 15), S. 115, 223, der mit der Chronik eines Leo neben Prisciani auch Galvano Fiamma verbindet. Damit könnte die Chronica Leonis gemeint sein, aus der Fiamma zitiert, vgl. Jörg W. Busch: Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma: die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, München 1997, S. 36 (mit Anm. 38), 121, möglicherweise auch die Cronica a mundi principio usque ad tempora Henrici des Benzo d’Alessandria, entstanden unter Bischof Leone Lambertenghi von Como, vgl. Irene Scaravelli: Il carteggio Muratori-Leibniz e gli antecedenti di un’edizione critica, in: Atti e memorie. Deputazione di storia patria per le antiche provincie Modenesi 19 (1997), S. 367–397, S. 381 Anm. 44.
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Waldrada, der Schwester Hugos von Tuszien, den Anspruch auf Vangadizza an die Este weitergegeben haben könnte. Einen Einschnitt bedeutete es, als Leibniz im März 1692 den tatsächlichen Vater Azzos II. aus der Urkunde des Jahres 1097 für das Kloster Vangadizza ermitteln konnte, der wie sein Sohn Azzo hieß. 30 Unmittelbar im Anschluss daran gibt er diesen Azzo I. als Gemahl der Waldrada an. 31 Jedoch lässt der infolge der beschriebenen Umstände jahrelang aufrechtgehaltene Suchfokus auf einen Markgrafen Hugo Leibniz auch danach bei Erwähnung der Necrolognotiz weiterhin den dort genannten „Azzo marchio“ mit einem „Hugo marchio“ vertauschen, allerdings angepasst an die inzwischen geschehene Entdeckung von Azzos II. Vater. 32 So greift Leibniz beispielsweise im März 1697 in seiner Korrespondenz bei der Nennung dieser Notiz wieder auf einen Hugo zurück, um ihm als Gemahl der Waldrada und unmittelbaren Vorfahren bzw. Verwandten Azzos II. den Erhalt der besagten Güter um Vangadizza zuzuschreiben: On dit communement que Waldrade soeur du Marquis de Toscane a épousé Pierre Candian Doge de Venise, [...] Mais il se peut aussi que cette veuve ait épousé depuis un prince de la famille d’Este, progeniteur ou parent du susdit Azon. Et ce qui me confirme dans cette conjecture, est, qu’on m’a communiqué un Extrait d’un ancien livre mortuaire della Badia, où sont marqués ceux pour les quels on prioit comme pour des bienfaiteurs. Il y a Hugo Marchio et Waldrada conjux. Cet Hugo n’est pas le Marquis de Toscane, qui n’a point eu de Waldrade pour femme. 33
Ob es in allen Fällen immer ein unbewusster gedanklicher Fauxpas war, der Leibniz veranlasste, gegenüber Korrespondenten diesen Hugo nicht nur als Gemahl der 30 Vgl. A I, 7 N. 339, S. 599, Leibniz an Huldreich von Eyben, 4./14. März 1692: „Ich habe inzwischen einen grosen nodum so in meinen Nachrichtungen vnd diplomatibus übrig gewesen aufgelöset und dieses ausgefunden, daß unser Marchio Azo Pater Guelfì Ducis sich genennet Azo qui et Albertus, und von andern auch bisweilen Azo bisweilen Albertus genennet worden welches mich anfangs turbirt gehabt. Und was noch mehr so habe nun völlig ausgefunden, daß sein Vatter auch geheisen Azo (Azo qui et Albertus Marchio filius bonae memoriae Azonis Marchionis, ita noster)“. Vgl. auch Margherita Giuliana Bertolini: Art. Alberto Azzo. Figlio di Oberto II, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 1 (1960), S. 751–753 (https://www.treccani.it/enciclopedia/alberto-azzo_res-f80d1700-87e5-11dc-8e9d-0016357 eee51_(Dizionario-Biografico)/). 31 Vgl. GWLB Ms XXIII, 181, 1, 6, Bl. 24: „Azo forte ab Henrico II. captus cum patre. conjunx puto Waldrada sororis Hugonis M[.] filia“. Da Leibniz in dieser Handschrift die Quellenfunde seiner italienischen Archivreise neu zusammenstellt (vgl. eine ältere Fassung in GWLB Ms XXIII, 181, 1, 6, Bl. 25) und der genannte Azo bereits als Vater Azzos II. eingetragen ist, wird deren Datierung kurz nach Leibniz’ Entschlüsselung der Urkunde von 1097 für Vangadizza im März 1692, bei der er den Namen von Azzos II. Vater ermitteln konnte, anzusetzen sein, vgl. A I, 7 N. 339, S. 599. 32 Eine Ausnahme bildet vor dem gezeigten Hintergrund, neben den Schreiben von Leibniz an Muratori ab Februar 1715, eine Mitteilung von Leibniz an seinen zeitweiligen Mitarbeiter Friedrich August Hackmann, der für Leibniz 1699/1700 in Italien zur Archivrecherche weilte: „J’ay des raisons pour croire que son pere s’appelloit encor Azon, et que sa mere s’appelloit Gualdrada“ (A I, 18 N. 18, S. 27, Leibniz an Friedrich August Hackmann, Mitte Februar 1700). 33 A I, 13 N. 402, S. 666f.
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Waldrada anzuführen, sondern ihn ebenfalls und scheinbar ohne bessere Alternative als Azzos II. Vater zu präsentieren, darf aber bezweifelt werden. Denn Leibniz gab die für seine Forschungen zur welfischen Hausgeschichte wichtige Entdeckung von Azzo I., dem Vater Azzos II., nach 1692 äußerst zurückhaltend weiter 34 und bediente sich, nicht nur wenn es in seinen Briefwechseln um genealogische Details zur Genealogie Azzos II. ging, einer „Camouflage“-Technik, 35 die die Ergebnisse bis zur Fertigstellung seiner „Historia Domus“ schützen sollte. So bezeichnet er noch in einem Schreiben von Ende Dezember 1707 für Pomponne de Reffuge, mit dem er sonst einen intensiven Austausch über die genannten genealogischen Details pflegte, den Markgrafen Hugo aus der Necrolognotiz als Azzos II. möglichen Vater. 36 Dagegen zeigt sich, dass Leibniz zwischen 1693 und 1711 davon ausging, Azzo II. habe das Gebiet um Vangadizza als Erbe des otbertinischen Markgrafen Hugo, 37 des kinderlosen Bruders seines Vaters Azzo I. erhalten, den er als Gemahl
34 Trotz des Erfolges, den die Entdeckung Azzos I. als Vater Azzos II. darstellte, macht Leibniz sein Wissen seit März 1692 kaum bekannt: So nennt er Azzo I., ungeachtet des urkundlichen Beweises, nicht in seiner Schrift Lettre sur la connexion (A IV, 6 N. 3). In folgenden Fällen gibt Leibniz Wissen über Azzo I. an Korrespondenten weiter: an Huldreich von Eyben, 4./14. März 1692 (A I, 7 N. 339, S. 599), an d’Hozier, 12./22.September 1692 (A I, 8 N. 253, S. 433), an Greiffencrantz, 7./17. September 1696 (A I, 13 N. 168, S. 260), an d’Hozier, Anfang Januar 1697 (A I, 13 N. 288, S. 457f.), an d’Hozier und Pomponne de Reffuge, 2. Hälfte Februar 1697 (A I, 13 N. 347, S. 581), an Hackmann, Mitte Februar 1700 (A I, 18 N. 18, S. 27). Die Empfänger konnten dieses Wissen aber nicht immer entschlüsselt. So hatte z.B. im Fall der Korrespondenz mit Pomponne de Reffuge (hergestellt über d’Hozier und zeitweilige Vermittlung über Greiffencrantz) dieser 1707 noch nicht den gleichen Stand zu Azzo I. wie Leibniz (vgl. GWLB Ms XXIII, 181, 2, 9, Bl. 9–10). Und gegenüber denselben streicht Leibniz noch 1712 seine Informationen über Azzo I. als Vater Azzos II. aus einem Briefkonzept wieder heraus (LBr 760, Bl. 44v, 22. April 1712, vgl. Ähnliches gegenüber d’Hozier, A I, 13 N. 288, S. 458). Gegenüber Muratori, mit dem Leibniz ab 1709 über die Azzo-Vorfahren korrespondierte, hatte Leibniz seine Informationen erst ab März 1711 offengelegt (vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 144f., 150–152, 167f., Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 106–108, 115), nachdem Muratori im Februar 1711 (vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 84–115, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 78–90, 103) einen Großteil der Genealogie der Azzo-Vorfahren selbst entwickelt hatte, also als eine Geheimhaltung keinen Sinn mehr machte. In anderen Fällen schreibt Leibniz z.B. nur von „des Azons d’Este“ (A I, 8 N. 302, S. 500), ohne zu erläutern, welche Azzos darunter zu verstehen seien. 35 Zum diesem Thema vgl. den Band Wenchao Li, Simona Noreik (Hg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus: Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln/Weimar/Wien 2016. 36 Leibniz für Pomponne de Reffuge, 29. Dezember 1707, A I, 27 (Vorausedition, 13.11.2020): „Or ce meme monastere avoit esté autresfois l’objet des bien faits de Hugues Marquis de Toscane (dont l’origine est connue aujourdhuy) et de sa soeur Waldrada. Et selon toutes les apparences un Marquis Hugo de la famille du Marquis Azo, soit son pere, ou oncle, ou frere, a epousé cette Dame veuve d’un Duc de Venise. Car dans le Necrologe du Monastere il s’est trouvé Hugo Marchio et Waldrada Conjux. Ainsi quelques biens du Marquis de Toscane ont passé dans la famille d’Est“. 37 Vgl. Franz Neiske: Das ältere Necrolog von S. Savino in Piacenza. Edition und Untersuchung der Anlage (= Münstersche Mittelalter-Schriften 36), München 1979, S. 255–256.
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der Waldrada betrachtete. So findet sich diese These sowohl in einer genealogischen Tafel, die im Jahr 1693 angelegt wurde, 38 als auch in einer genealogischen Skizze zu einem Brief an Muratori von Januar 1711. 39 Eine Bestätigung seiner These erhoffte sich Leibniz schließlich durch seine Zusammenarbeit mit Lodovico Antonio Muratori (seit Ende 1708/Anfang 1709), 40 mit dem er in umfangreicher Korrespondenz stand, um u.a. durch dessen Recherchen vor Ort in Italien noch nützliche Quellen für die bislang nicht abgeschlossene Welfengeschichte zu ermitteln. Muratoris bald sichtbar werdendes eigenes Hausgeschichtsprojekt der Este-Dynastie, für welches er ebenfalls die Genealogie der Otbertiner aufdeckte, verhinderte, dass Leibniz ihm gegenüber frühzeitig seine Necrolognotiz offenlegte. Dies umso mehr, da sich Muratoris eigene anfängliche Überlegungen, wie die Este zum Gebiet um Vangadizza kamen, mit denjenigen von Leibniz überschneiden, ohne dass Muratori selbst zuvor etwas von der Necrolognotiz gewusst hatte. 41 Erst ab Februar 1715 finden sich bei Leibniz Hinweise zu dieser gegenüber Muratori, und anfänglich wieder mit dem Lapsus memoriae der teilweisen Vertauschung der Namen Azzo und Hugo. 42 Nach dieser Inkenntnissetzung durch Leibniz versuchte Muratori, die Necrolognotiz durch seine Archivreisen 38 So identifiziert Leibniz den 1029 urkundenden Markgrafen Hugo, Sohn des Markgrafen Otbert II. und Bruder Azzos I. als den Gemahl der Waldrada, für den er keine eigenen Nachkommen nachweisen kann, vgl. GWLB Ms XXIII, 181, II, 2, Bl. 7r: „an hic Hugo Marchio cujus mentio cum Waldrada conjuge apud Vangadicenses, sed tunc Waldrada non fuerat soror Hugonis marchionis Thusciae, sed forte [...] filia prioris Waldradae [...] Nihil reperio de eius liberis“, vgl. zur Tafel A I, 9 S. LII, und N. 357f., Erl. 39 Vgl. LBr 676, Bl. 146v. 40 Vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm.13), sowie Scaravelli: Il carteggio Muratori-Leibniz (wie Anm. 29), Fabio Marri, Maria Lieber: Lodovico Antonio Muratori und Deutschland: Studien zur Kultur- und Geistesgeschichte der Frühaufklärung, Frankfurt a. M. 1997, S. 19–23, Sergio Bertelli: Erudizione e storia in Ludovico Antonio Muratori, Neapel 1960, v.a. S. 175–220. 41 Vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 160: „Le conietture mie per 1’acquisto della Vangadizza, di Rovigo etc. sono, che una figliuola, sorella o zia d’Ugo Marchese di Toscana, aprisse il luogo a gli Estensi di ereditar quegli stati, e forse il nome d’Ugo entrò in questa casa per la parentela con esso Ugo Marchese, [...]“, siehe auch Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 111. 42 Vgl. Leibniz an Muratori, 27. Februar 1715, Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 215: „Quand vous serés dans le Venitien, je vous recommanderay, Monsieur, le Necrologium du monastere della Vangadizza, dont je n’ai vù que des extraits. J’y ay trouvé: Azo Marchio et Waldrada conjux. Ne seroit-ce pas peutètre Waldrade soeur de Hugues le Salique Marquis de Toscane, veuve d’un Doge de Venise, qui en secondes noces auroit epousé un Marquis Hugo de la Maison de nos Princes et auroit porte ces lieux et le voisinage dans cette maison. Car la Vangadizza et les environs appartenoient à Waldrade et à son frere“, vgl. auch Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 138f. Es folgt ein weiterer Hinweis zum 7. August 1715, in dem, angepasst zur mutmaßlichen Chronologie von Azzo I. und seinem Sohn Azzo II. (vgl. dazu Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 235, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 140), die als Gemahlin Azzos I. und Mutter Azzos II. betrachtete Waldrada gemäß der Nachbenennungssitte der Zeit nun als Tochter der gleichnamigen Schwester Hugos von Tuszien postuliert wird, vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 218f:
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zu verifizieren, 43 konnte aber keinen Hinweis auf deren Vorlage entdecken. Zudem machte er anhand anderer Quellenfunde wahrscheinlich, dass die Mutter Azzos II. nicht Waldrada, sondern Adela hieß. 44 Auch wies ein Necrolog aus dem Bestand des Klosters Vangadizza, welches er einsehen konnte, keine von Leibniz’ Angaben auf. 45 Die auf Leibniz und Muratori folgende Forschung zu den otbertinischen Vorfahren der Este hat trotzdem vereinzelt den Hinweis auf Leibniz’ Necrolognotiz aufgegriffen. 46 Jedoch hat meines Wissens außer Muratori nur noch Antonio Falce nach eigener Aussage die Quelle zu identifizieren versucht, was ebenso erfolglos blieb. 47 Zudem konnte in der Akademie-Ausgabe von Leibniz’ Sämtlichen Schriften und Briefen die Vorlage der Necrolognotiz, das „Necrologium Vangaditiae“ mit
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„[Dans] le Necrologe du Monastere [...], j’y trouve, non pas, comme je vous ay marqué par un ἁμάρτημα μνημονικὸν, Hugo Marchio et Waldrada conjux, mais Azo Marchio et Waldrada conjux. [...] la Vangadizza et les environs, appartenans auparavant au Marquis Hugues de Toscane et à sa soeur Waldrade, sont parvenus à notre Azon, sçavoir que cela est arrivé par sa mere. Car je crois qu’on doit dire que ce Marquis Azon, mari de Waldrade, ne peut ètre autre que le pere de notre Albertus qui et Azo, et que selon toutes les apparences cette Waldrade aura, eté la fille de Waldrade soeur du Marquis Hugo de Toscane, qui avoit eu part alla Vangadizza, comme nous le savons par un diplome de son frere. Ainsi nous avons enfin la mere de nostre Albertus qui et Azo. J’espere que ce que vous decouvrirés, Monsieur, éclaircira la chose à fond, [...]“, siehe auch Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 140. Vgl. ähnlich Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 222, 224, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 142f. Vgl. Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 221, 240, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 141, 150. Vgl. Muratori an Leibniz, 31. Oktober 1715: „[...] anno 1012: Adela Comitissa conjus Azoni Marchio [...]“ (Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 228, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 145). „Mi giunse il Ms. della Vangadizza, che veramente contiene alquanto di Necrologio, ma non è di molte antichità, ed è guasto troppo dall’acqua. Perciò nulla vi ho trovato al proposito mio“ (Matteo Campori: Epistolario di Muratori, Bd. 5: 1715–1721, Modena 1903, S. 1803). Dabei hat Leibniz nicht alle Einträge seiner Vorlage an Muratori weitergeleitet, wie Anm. 60. Vgl. Origines Guelficae, opus praeeunte Dn. Godofredo Guilielmo Leibnitio stilo Dn. Ioh. Georgii Eccardi litteris consignatum, postea A Dn. Ioh. Daniele Grubero novis probationibus instructum, [...] in lucem emissum a Christiano Ludovico Scheidio, 5 Bde., Hannover 1750– 1780, Bd. 1, 1750, S. 186, Edward Gibbon: The Antiquities of the House of Brunswick, in: Miscellaneous Works Of Edward Gibbon, with occasional notes and narrative by John Lord Sheffield, Bd. 3, Basel 1796, S. 393–467, S. 427. Johann Gottfried Eichhorn: Urgeschichte des erlauchten Hauses der Welfen, Hannover 1816, S. 81, 123, B. Baudi di Vesme: Le origini della feudalità nel Pinerolese, in: F. Gabotto (Hg.): Studi Pinerolesi (= Biblioteca della Società Storica Subalpina 1), Pinerolo 1899, S. 1–86, S. 15 Anm. 4, C. W. Previté Orton: The Early History of the House Savoy (1000–1233), Cambridge 1912, S. 166 Anm. 3, Falce: Il Marchese Ugo (wie Anm. 16), S. 6, Anm. 2. Vgl. Falce: Il Marchese Ugo (wie Anm. 16), S. 6, Anm. 2.
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dem entsprechenden Eintrag, an den dort angeführten Stellen bisher nicht nachgewiesen werden. Diese blieb auch vor dem Hintergrund der neuesten Edition des Briefwechsels von Leibniz und Muratori aus dem Jahr 2020 weiterhin unbekannt. 48 Es existiert allerdings in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University eine Handschrift (Sign. Beinecke Ms 910) aus dem 12. Jahrhundert, die – zusammengebunden mit anderen Handschriften aus demselben Kloster – ein bisher unbeachtetes Kalendar-Necrolog des Klosters Vangadizza enthält. 49 In diesem steht unter dem 2. Januar (IIII. non. Ianuarii) als sehr verblasster, aber doch lesbarer Eintrag „Ob[iit] azo marchio.“ 50 (vgl. die Umrahmung in der Abb.). Hiermit könnte die tatsächliche Vorlage für Leibniz’ Necrologauszug aufgefunden sein.
Abb.: „Rule of St. Benedict; Obituary of the Abbey of Vangadizza“, Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910, Bl. 62r oben, Ausschnitt Umrahmung unten.
48 Vgl. die Angaben für die Leibniz-Akademieausgabe und für Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13) in Anm. 14. 49 Vgl. Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910, Das Kalendar-Necrolog („Obituary of the Abbey of Vangadizza“) findet sich auf Bl. 62r–82r, (https://brbl-dl.library.yale.edu/vufind/Record/3833822). Vgl. die Handschriftenbeschreibung durch Albert Derolez: Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Medieval and Renaissance Manuscripts, Ms 910 (2012) (https://pre1600ms.beinecke.library.yale.edu/docs/MS910.pdf). 50 Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910 (wie Anm. 49), Bl. 62r.
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Dies bestätigen auch weitere Angaben. So äußert sich Leibniz zum 30. Januar 1716 gegenüber Muratori genauer zu den Umständen, unter denen er an die Memorialnotiz aus Vangadizza gelangte. Er erhielt während der Archivreise in Modena einen Auszug dieses Necrologs von Hand eines Ippolito Lollio, den dieser im Jahr 1546 angefertigt hatte: Je n’ay pas vù moy mème le Necrologe della Vangadizza, mais j’ay trouvé un vieux morceau de papier en forme de billet, écrit du temps d’Alfonse Duc de Ferrare, que j’ay emporté avec moy. Il y est dit que de Ferrare on y avoit envoyé Hippolytum Lollium Ferrariensem utriusque juris Doctorem, et que ce Docteur avoit tiré du dit Necrologe le passage que je vous ay envoyé: In vigilia S. Martini de mense Novembri 1546. Ce papier m’a encor appris autres choses. Peutétre que dans vos Archives on trouvera quelque notice, de 1’envoy et du rapport de ce Docteur. Il se peut même, que s’il a laissé des descendans ou que si sa famille subsiste, on en pourroit tirer quelque chose. Car ce morceau de papier m’a eté donne à Modene par un particulier, dont je ne me souviens pas bien; [...] 51
Diese Abschrift Lollios findet sich unter den bereits genannten Handschriften der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover zusammen mit dem Text des Epitaphiums der Cuniza und weiteren Auszügen. 52 Sie gibt im Gegensatz zur Abschrift von Leibniz’ Hand, die nur den Epitaphientext und die Auszüge aus dem Necrolog bringt, zudem folgende Information: „Hec sumta sunt. Ex quodam libro manu scripto in membranis. qui dicit Regula dicti Monasterij Abbatiae Vangadicensi S.te Mariae“. Diese beiden Bezüge, Lollio und die als Regula bezeichnete Handschrift, finden sich nun hinsichtlich der Handschrift Ms 910 der Beinecke Library wieder. So weist diese nach Beschreibung durch Albert Derolez den ausrasierten Besitzeintrag eines „Io. Petr. Lellio“ auf, der vor diesem Hintergrund wohl als „Lollio“ zu lesen ist. 53 Zudem ist die Handschrift des Kalendar-Necrologs mit derjenigen einer Regula S. Benedicti desselben Klosters zusammengebunden, die diesem voransteht und auch in Katalogeintragungen mit für die Bezeichnung der Handschrift verwendet wurde und wird. 54 Auch wenn sich der Zusatz „et Gualdrada conjux“ aus Leibniz’ und Lollios Necrolognotiz unter dem 2. Januar nicht findet (vorbehaltlich anderer gänzlich un-
51 Campori: Corrispondenza (wie Anm. 13), S. 244, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 152f. 52 Vgl. GWLB Ms XXIII, 181, 2, 10, Bl. 3r. 53 Vgl. Derolez: Beinecke Rare Book and Manuscript Library Ms 910 (wie Anm. 49). 54 Die Handschrift Beinecke Ms 910 wird im Katalog der Beinecke Rare Book and Manuscript Library als „Rule of St. Benedict; Obituary of the Abbey of Vangadizza“ geführt. Die Regula S. Benedicti bildet den Abschnitt Bl. 1r–58v, vgl. Derolez: Beinecke Rare Book and Manuscript Library Ms 910 (wie Anm. 49). Nach Derolez ist zudem folgender Besitzvermerk im Vorsatz eingetragen: „Ex Bibliotheca Cassano“ (vgl. ebd.). In einem Katalog dieser Sammlungen findet sich die Handschrift ebenfalls zuerst als Benediktinerregel genannt, vgl. Catalogue of the Very Curious, Splendid, and Valuable Greek, Latin, French and Italian Manuscripts of the late Duke of Cassano Serra [...] Sold by Mr. Evans at His House, No. 93 Pall Mall, 1828, S. 14, Nr. 189: „Regulae S. Benedicti et Kalendarium Antiquissimum. A Manuscript, upon vellum“.
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leserlichen Stellen dort), kann eine Übereinstimmung nicht bestritten werden. Allerdings fehlt in diesem Kalendar-Necrolog ein Doppelblatt mit den Einträgen für den 4. August bis 8. September. 55 Möglicherweise hat Lollio in dieser Hinsicht noch die fehlenden Blätter und darin einen Eintrag für Waldrada vorfinden können. Zudem existieren auf Bl. 62r weitere verblasste Einträge, die jetzt nicht mehr zu lesen sind. Daneben scheint wahrscheinlich, dass Lollio aus mindestens einer weiteren Handschrift exzerpierte. Denn außer dem Eintrag des „Azzo Marchio et Gualdrada conjux“ gibt Lollio noch zwei weitere Einträge an, 56 einmal zum Markgrafen Obizzo III. von Este, der 1352 verstarb, 57 und zum Markgrafen Aldobrandino III. zum Jahr 1361. 58 Diese finden sich in einem anderen Necrolog des Klosters Vangadizza, welches von Giovanni Benedetto Mittarelli im Rahmen der Annales Camaldulenses bereits im Jahr 1762 ediert wurde. 59 In dem bisher unbeachteten Kalendar-Necrolog wird neben der Kongregation, mit der das Kloster Vangadizza verbunden war, d.h. der ihr angehörenden Mönche, Nonnen und Konversen, vor allem den Äbte gedacht, unter denen sich einige bisher noch nicht bekannte Namen finden. 60 Zudem zeigen sich Einträge für eine Reihe
55 Vgl. die vom 3. August auf den 9. September springenden Einträge Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910 (wie Anm. 49), Bl. 73v–74r. Derolez: Beinecke Rare Book and Manuscript Library Ms 910 (wie Anm. 49). 56 Vgl. GWLB Ms XXIII, 181, 2, 10, Bl. 3r. 57 Vgl. Paolo Bertolini: Art. Este, Obizzo (III.) d’, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 43 (1993), S. 411–429 (https://www.treccani.it/enciclopedia/obizzo-d-este_(Dizionario-Biografico)/). 58 Vgl. Paolo Bertolini: Art. Este, Aldobrandino (III.) d’, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 43 (1993), S. 303–310 (https://www.treccani.it/enciclopedia/aldobrandino-d-este_(Dizionario-Biografico)/). 59 Vgl. Annales Camaldulenses Ordinis sancti Benedicti, D. Joanne Benedicto Mittarelli et D. Anselmo Costadoni auctoribus, 9 Bde.,Venedig 1755–1773, Bd. 7, Venedig 1762, Appendix, Sp. 383–402. Die Einträge für Obizzo III. und Aldobrandino III. finden sich dort in Sp. 386 bzw. 398. 60 21.10./XII. kal. Nov. Martinus [belegt 961–1013] (vgl. Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910 (wie Anm. 49), Bl. 76r), 24.01./IX. kal. Feb. Andreas [belegt 1040] (ebd., Bl. 63r), 09.02./V. id. Feb. Petrus [belegt 1073] (ebd., Bl. 64r), 17.01./XVI. kal. Feb. Pulveramus [belegt 1097–1109] (ebd., Bl. 62v), 27.02./III. kal. Mart. Litaldus [belegt 1123–1162] (ebd., Bl. 65r), 10.04./IV. id. Apr. Benedictus [belegt 1202–1204] (ebd., Bl. 67v), 22.03./XI. kal. Apr. Guido [1307–1321, gest. 1333] (ebd., Bl. 66v), sowie zwei Äbte des 11. und frühen 12. Jahrhunderts mit Namen Johannes (eingetragen unter 08.10./VIII. id. Oct., ebd., Bl. 75v, und 23.12./X. kal. Ian., ebd., Bl. 79v); zudem die bisher unbekannten Äbte Ariprandus (10.06./IV. id. Iun., ebd., Bl. 70v) und Rolandus (21.02./IX. kal. Mart., ebd., Bl. 64v), wobei letzterer der Nachfolger des Abtes Litaldus gewesen sein dürfte, vgl. Le Carte del capitolo della Cattedrale di Verona, hg. von Emanuela Lanza, Bd. 2: 1152–1183, Rom 2006, S. 10, 51. Vgl. zur Reihenfolge der Äbte von Vangadizza Giulio Sancassani: Documenti della Vangadizza nel fondo archivistico di S. Salvar Corte Regia di Verona, in: Atti e memorie del Sodalizio Vangadiciense 1 (1972–1973), S. 297–305, sowie Marina Guerra, Guido Stocco: L’abbazia della Vangadizza: i suoi potenti protettori, i suoi implacabili avversari, Badia Polesine 1981, S. 207.
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von Markgrafen und Gräfinnen der Otbertiner-/Este-Dynastie des 11. und 12. Jahrhunderts wie auch einiger Welfen, mit z.T. bislang unbekannten Sterbedaten, die hier zusammen mit den bereits angesprochenen vorangegangenen Besitzern des Gebietes um das Kloster Vangadizza aus dem 10. Jahrhunderts, dem Markgrafen Almerich und dessen Gemahlin Franca sowie dem Markgrafen Hugo von Tuszien und seinem Vater Markgraf Hubert, kommemoriert wurden, was vor dem beschriebenen Hintergrund der genealogischen Tradition der estischen Hofhistoriographie des 16. Jahrhunderts besonders betont sei. 61 Es mag daher nicht undenkbar sein, dass diese Tradition, die die Este als Nachkommen Hugos von Tuszien begriff und unter deren Einfluss Leibniz wie gesehen lange stand, auch in einem noch zu klärenden Zusammenhang mit diesen Einträgen zu sehen ist. 62 Abschließend ist zu Leibniz’ langjährigen Forschungen zu den Vorfahren der Este und Welfen noch hinzuweisen, dass der zum 2. Januar eingetragene „Azo marchio“ tatsächlich einem otbertinischen Markgrafen Adalbert des frühen 11. Jahrhunderts entsprechen könnte, der in einer Urkunde von 1011 als Sohn eines Obizzos und Enkel eines weiteren Adalberts sowie 1033 als Gründer des Klosters Castiglione genannt wird und dessen Identifikation als Azzos II. Vater Leibniz in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren immer wieder für möglich hielt.
61 Diese Einträge sind wahrscheinlich wie folgt zu identifizieren: 02.01./IV. non. Ian. [1187] Obizzo I. Malaspina (vgl. Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke Ms 910 (wie Anm. 49), Bl. 62r), 30.01./III. kal. Feb. [1061] Otbert-Obizzo III. (ebd., Bl. 63v), 12.02./II. id. Feb. Cuniza, erste Gemahlin Azzos II. (ebd., Bl. 64r), 12.03./III. id. Mart. Ermengarda, Gemahlin Otbert-Obizzos III. (ebd., Bl. 65v), 24.03./IX. kal. Apr. 1183 Bonifazino, Sohn Fulcos II. (ebd., Bl. 66v), 31.03./II. kal. Apr. Garsendis, zweite Gemahlin Azzos II. (ebd., Bl. 67r), 03.04./III. non. Apr. [1163] Bonifazio, Sohn Fulcos I. (ebd., Bl. 67r), 11.04./III. id. Apr. 1184 Alberto, Sohn Fulcos I. (ebd., Bl. 67v), 14.04./XVIII. kal. Mai. [1097] Azzo II. (ebd., Bl. 67v), 07.06./VII. id. Iun. Franca und Almerich (ebd., Bl. 70v), 18.07./XV. kal. Aug. Maria, wohl erste Gemahlin Obizzo I. Malaspinas (ebd., Bl. 73r), 24.09./VIII. kal. Oct. [1120] Welf V. (ebd., Bl. 74v), 06.10./II. non. Oct. Agnes, wohl Gemahlin Fulcos I. (ebd., Bl. 75v), 07.11./VII. id. Nov. [1101] Welf IV., Sohn Azzos II. und Cunizas (ebd., Bl. 77r), 15.12./18. kal. Ian. [1128 ?] und 1174 Fulco I., Sohn Azzos II. und Garsendis’, mit seinem Sohn Fulco II. (ebd., Bl. 79r), 21.12/XII. kal Ian. [1001] Hugo mit seinem Vater Hubert (ebd., Bl. 79v). 62 Vgl. z.B. den Necrolog-Eintrag des Markgrafen Hugo unter dem Datum 21.12. (vgl. ebd., Bl. 79v) mit Prisciani: Orazione (wie Anm. 24), S. 60. Vgl. auch später Giangirolamo Bronziero (gest. 1630): Istoria delle origini e condizioni de’ luoghi principali del Polesine, Venedig 1747, S. 150f, der in seiner Geschichte der Polesine di Rovigo Urkundenmaterial des Klosters Vangadizza benutzt und vor dem Hintergrund der darin angeführten Güter einen verwandtschaftlichen Zusammenhang zwischen Hugo bzw. Almerich und den Este sieht.
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Allerdings geht die heutige Forschung davon aus, dass dieser Markgraf zwar mit Azzo II. eng verwandt, aber nicht dessen Vater war. 63
63 Vgl. z.B. GWLB Ms XXIII, 181, II, 2, Bl. 7r, LBr 676, Bl. 146v, A I, 13 N. 288, S. 458, Lieber: Carteggio di L. A. Muratori (wie Anm. 13), S. 155. Wahrscheinlich liegt eine Verschreibung der Daten des unter dem 02. Januar (IV. non Ian.) im Kalendar-Necrolog von Vangadizza eingetragenen „Azo marchio“ für den zum 4. (II. non. Ian.) bzw. 5. Januar im Necrolog von S. Savino in Piacenza eingetragenen Markgrafen Albert/Adalbert vor, der 1034 verstarb, vgl. Neiske: Das ältere Necrolog (wie Anm. 37), S. 254f., u. Abb. am Ende, Romeo Pavoni: Problemi di genealogia obertenga, in: Memorie della Accademia lunigianese di scienze „Giovanni Capellini“ 79 (2009), S. 271–320 (https://www.accademiacapellini.it/memorie-vollxxix.html), S. 277 Anm. 13, 278 Anm. 14. Eine genauere Untersuchung des Necrologs und der eingeschriebenen Personen wird vom Autor unter dem Titel „Leibniz und ein bisher unbeachtetes Necrolog des Klosters Vangadizza“ vorbereitet. Dort finden sich auch weitere Details zur Datierung der Einträge sowie deren Identifizierung, die hier unerwähnt bleiben.
LEIBNIZ’ ORDNUNGEN Malte-Ludolf Babin, Hannover Leibniz’ Ordnungen – das sind zum einen die Reorganisationen, denen Leibniz’ Nachlass in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover überhaupt und die Handschriften, um die es im Folgenden gehen soll, im Besonderen unterworfen worden sind, durch Generationen nicht nur von Bibliothekaren, sondern auch von Wissenschaftlern, die auf höhere Weisung, von Amts wegen ‒ wie im Fall der von Leibniz unvollendet hinterlassenen sogenannten Welfengeschichte ‒ oder aus persönlichem Interesse das Material ihren jeweiligen Zwecken dienstbar gemacht bzw. ‒ wie Hans Kangro für den von Leibniz 1678 erworbenen Teilnachlass des Hamburger Polyhistors Martin Fogel 1 ‒ Anläufe dazu unternommen haben. Diese jüngeren Ordnungsschichten haben wir in unserem eigenen Interesse nicht nur zur Kenntnis zu nehmen; es ist darüber hinaus Aufgabe der Forschung, im Rahmen unserer Möglichkeiten die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien zu entschlüsseln.2 Nur in Ausnahmefällen sind solche Neuordnungen ja durch entsprechende Verzeichnisse dokumentiert, im Fall der GWLB durch die gedruckten Kataloge von Eduard Bodemann ein einziges Mal. In der Regel müssen wir aus Überresten und durch ständigen Vergleich erschließen, was direkt nicht überliefert ist. Wer etwa hat Serien von Konvoluten beschriftet, von wem stammen und was bedeuten die kleinen Kreuze in schwarzer Tinte oben links auf zahlreichen Leibnizbriefen? Die Klärung solcher historischen Spuren besteht aus eigenem Recht; sie macht aber auch erst den Weg frei zur Ermittlung von Leibniz’ Ordnungen – denn das sind zum zweiten auch Strukturen, die Leibniz selbst geschaffen hat oder haben könnte, um sich in den Massen seiner Unterlagen, Korrespondenzen usw. zurechtzufinden. Nun könnte der Leser seiner Briefe leicht bezweifeln, dass Leibniz im Entwerfen und Befolgen irgendwelcher Ordnungsprinzipien besonders konsequent war. Der systematischen Ablage zieht er die Berücksichtigung inhaltlicher Bezüge vor, statt zu ordnen, assoziiert er. So findet sich ein Brief seines langjährigen Sekretärs und Hausverwalters Hodann im Faszikel O. C. Coch, weil in dem Brief 3 von Cochs eventueller Beförderung die Rede ist; ein anderer Hodannbrief ist unter den Briefen * 1
2 3
Den vorliegenden Text habe ich im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der GWLB Hannover am 4. Mai 2010 ein erstes Mal vorgetragen und für den Abdruck aktualisiert. Vgl. dazu das trotz massiver Schwächen bis auf weiteres grundlegende Buch von Maria Martens, Carola Piepenbring-Thomas: Fogels Ordnungen. Aus der Werkstatt des Hamburger Mediziners Martin Fogel (1634-1675), Frankfurt a. M. 2015; dazu meine Rezension im Niedersächsischen Jahrbuch für Landesgeschichte 88 (2016), S. 437–441. Beides hat die Leibniz-Akademieausgabe lange vernachlässigt und damit Erkenntnisgewinne zu Genese und Rezeptionsgeschichte der Leibniz-Texte vergeben. Brief Hodanns an Leibniz vom 2. September 1714 (LBr. 164 Bl. 33–34).
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J. G. Eckharts abgelegt, da es dort – im letzten Satz – um Eckharts Ernennung zum Historiographen des Welfenhauses geht. 4 Daneben existiert aber selbstverständlich ein umfangreiches Konvolut mit Hodannbriefen, abgelegt unter dessen Namen. Die Korrespondenz mit G. W. Molanus, dem Abt von Loccum, ist verteilt auf ein eigenes Korrespondenzfaszikel und, in den jeweiligen Briefen besprochenen Sachbetreffen folgend, auf verschiedene Themenmappen, so zur Reunionspolitik oder zum Reliquienkult. 5 Dort wird man dann tatsächlich viel zu einem Thema Gehöriges versammelt finden, was einem sonst leicht entgangen wäre. Geht die Fragestellung dagegen von einer Korrespondenz aus und ihren Beilagen, suchen nicht nur wir, suchte schon Leibniz oft zunächst vergeblich. Versucht er auf der Höhe seiner Aktivität als Briefschreiber 1698/ 99 noch wiederholt, über verlegte Materialien gegenüber Korrespondenten mit einem abgewandelten Zitat des römischen Komödiendichters Terentius hinwegzukommen: „ubi ubi sunt, diu latere non poterunt“, 6 muss er dem Jesuitenpater Des Bosses gegen Ende seines Lebens unumwunden zugeben: „Quae de vinculis substantialibus olim ad te scripsi, nunc non invenio.“ 7 Nun ist die Tendenz, die Korrespondenz eben nicht nach einem strikt durchgehaltenen Provenienzprinzip abzulegen, zwar unverkennbar, und wenig spricht dafür, die Generationen nach Leibniz dafür verantwortlich zu machen. Dennoch ist in diesem Bereich in der Regel eine stringente Beweisführung, dass es sich hier um Leibniz’ Ordnung handelt, nicht möglich. Dafür bedürfte es eigenhändiger Markierungen. Solche Markierungen existieren aber in einem anderen, über nach meinen bisherigen Erkenntnissen insgesamt mindestens neunzehn Signaturengruppen verstreuten Bestand, der bislang relativ wenig Beachtung gefunden hat, nicht katalogisiert und teilweise nicht einmal foliiert ist. Ich spreche von Leibniz’ historischen Exzerpten. Sie bieten die Chance, nicht nur einer Leibnizschen Ordnung, sondern auch deren Genese Schritt für Schritt auf die Spur zu kommen, und um sie soll es im Folgenden gehen. Die Kunst des Exzerpierens ist spätestens seit Jean Bodin, also seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Gegenstand theoretischer Traktate und bis in kleinste Details gehender praktischer Anleitungen, wobei Zielsetzung, Gegenstand und Methoden abhängig von Verfassern und Adressaten von Anfang an weit divergieren können. Im Vordergrund steht zunächst der Schutz und die Disziplinierung des unbeaufsichtigten und somit potentiell gefährdeten Lesers durch die Erziehung zum richtigen Lesen, Voraussetzung allen Exzerpierens, eine Hauptsorge der Jesuiten; dazu kommt die Frage der Organisation des zusammengetragenen Materials, wofür bis ins Kleinste gehende Schemata vorgegeben werden. Zum Problem der erstmaligen Durchdringung der Texte tritt drittens die Frage, wie die gewonnenen Erkenntnisse auf Dauer geistig präsent gehalten werden können. 4 5 6 7
Brief Hodanns an Leibniz vom 6. September 1714 (LBr. 228 Bl. 612). GWLB Ms XIII 720a, 2. Vgl. P. Terentius Afer: Eunuchus, 295, in verschiedenen Variationen zitiert A I, 16 N. 224, S. 341, und A I, 17 N. 145, S. 230. Brief von Leibniz an Barthélemy Des Bosses vom 23. August 1713, gedr.: GP II, S. 481–483, hier S. 481.
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Während aber der Schematismus der Wissenseinteilung nach loci communes, also vorgegebenen Stichwörtern, relativ früh zugunsten einer immer stärkeren Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des einzelnen Lesers zurücktritt, bleibt noch bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts eigentlicher Gegenstand der Exzerpte die gelehrte Lektüre, wobei zunehmend Adversarien bevorzugt werden, also Exzerptenhefte, in die ungeordnet und unklassifiziert die Lesefrüchte eingetragen werden, die dann durch Register möglichst effizient zu erschließen sind. Doch hat schon vor 1649 Thomas Harrison in der 1689 von Vinzenz Placcius edierten Bauanleitung eines Exzerptenschranks als Gegenstand seines Sammelns und Notierens genannt, „aut legendo, aut meditando, aut colloquendo quidpiam, occurrat, quod notatu dignum censeo“. 8 Der Begriff „Exzerpt“ wird also ausgeweitet auf alles irgendwie Bemerkenswerte, ungeachtet der Quelle, ja durch die Einbeziehung eigener Gedanken wird der ursprüngliche Sinn des Exzerpierens, die „Suche nach Mustern zur Nachahmung“, 9 geradezu auf den Kopf gestellt. 10 In Leibniz’ Nachlass finden sich reichlich Belege für beides: einerseits der zusammenhängende Foliobogen mit Exzerpten wie jenen aus Veit Ludwig von Seckendorffs Commentarius historicus de Lutheranismo 11 und andererseits Zettel mit einer anekdotischen Notiz und einem eigenen, durch eckige Klammern abgehobenen, für Leibniz höchst ungewöhnlichen sprachhistorisch-stilistischen Kommentar 12 oder mit einer eigenen Bemerkung zur französischen Prosodie, basierend auf der Lektüre einer französischen Übersetzung der Silvae (hier zu V 2, 88–90) des frühkaiserzeitlichen Dichters Statius 13 – beide mit Lingua beschlagwortet, in der für Leibniz’ historische Exzerpte charakteristischen, ja ausschließlich gültigen Form mit doppelter Unterstreichung. Der Befund scheint zu bestätigen, was in Des seel. Herrn von Leibniz Lebenslauf von 1717 Johann Georg Eckhart mitteilt, der über Jahre Gelegenheit hatte, Leibniz als dessen Sekretär und (nicht ganz freiwilliges) wissenschaftliches Mündel aus nächster Nähe zu beobachten: Er las zwar viel, und excerpirte alles, machte auch fast über jedes curiose Buch seine Reflexionen auf kleine Zetteln; so bald er sie aber geschrieben, legte er sie weg, und sahe sie nicht wieder, weil seine Memoire unvergleichlich war [...]. 14
Freilich stellt sich bei näherer Betrachtung schnell heraus, dass nicht nur die Exzerptbogen zum Zerschneiden und Beschlagworten vorgesehen waren, sondern 8 9 10 11 12 13 14
Vincentius Placcius: De arte excerpendi, Stockholm/Hamburg 1689, S. 133. Vgl. Helmut Zedelmaier: Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 77–89, hier S. 85. Chr. G. von Murr behält allerdings einen spezifischen Gebrauch des Wortes „Excerptenzettel“ bei, insofern er „Excerptenzettel“ im eigentlichen Sinn unterscheidet von Aufzeichnungen auch eigener Gedanken etc.; vgl. unten mit Anm. 17. GWLB Ms XXIII 173a Bl. 8. GWLB Ms IV 470 Bl. 60. Ebd. Bl. 77. Vgl. Christoph Gottlieb von Murr: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Literatur, Siebenter Theil, Nürnberg 1779, S. 123–203, hier S. 199.
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überdies, wie die Farbe der Tinte zeigt, die Beschlagwortung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte, Leibniz also durchaus mit seinen Notizen arbeitete. Das veranschaulicht der Vergleich mit zwei weiteren Bogen. 15 Leibniz setzte also in der Tradition der Hamburger Gelehrten Joachim Jungius, Martin Fogel und Vinzenz Placcius und sicher nicht unbeeinflusst durch Fogels Exzerptensammlung auf eine weitgehende Verzettelung seiner Funde. Es stellt sich damit die Frage nach dem inhaltlichen Spektrum dieser Exzerpte und deren Systematisierung. Sie führt auf eine inzwischen 280 Jahre alte Mystifikation. Bereits 1740 erscheint in einem anonymen Beitrag der Stats- und Gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten über den Character des Herrn von Leibnitz die Mitteilung: Er hatte eine Art von einem Kästchen, in welchem seine Auszüge nach der Ordnung lagen, die Placcius in seinem Buche de arte excerpendi anzeigt. Dieses Kästchen wird noch auf der Bibliotheck zu Hannover verwahrt. 16
Vierzig Jahre später geht der Nürnberger Polyhistor Gottlieb Christoph von Murr (1733–1811) wesentlich mehr ins Detail: Was ihm theils beym Durchlesen vieler Bücher, theils bey dem Meditiren, auf Reisen, beym Spazirengehen etc. einfiel, das schrieb er auf Zettel, die er aber (zumal die Excerptenzettel) nicht in Unordnung liegen ließ, sondern sie von Zeit zu Zeit in Ordnung zu legen pflegte. Vielmehr schaffte er sich nachher einen besondern Schrank an, seine Excerpta aufzuheben; womit es diese Bewandniß hat. Vincentius Placcius gab de arte excerpendi, vom gelehrten Buchhalten, 1689 zu Hamburg ein Buch in 8. heraus, worinn er allerhand Methoden des Excerpirens beybringet. Membr. III, p. 150 wird sein hierzu angegebener Schrank in Kupfer vorgestellt. Nach dieser Invention ließ sich der Hannöverische Secretair Clacius einen gleichförmigen Schrank verfertigen. Nach dessen Tode kaufte ihn Herr von Leibnitz. Und dieses ist der so genannte Leibnitzische Excerpir-Schrank, welcher nunmehr in der königl. Bibliothek aufbehalten wird. Leibnitz pflegte seine excerpta auf besondere Blätter zu schreiben, und es ist wahrscheinlich, daß er diese Methode von Martino Fogelio [...] angenommen [...]. 17
Murr bezieht sich auf Placcius’ Version eines Exzerptenschrankes, den dieser in einem anonymen Manuskript beschrieben gefunden hatte, das er ebenfalls in seiner Ars excerpendi vollständig mitteilt. Wie wir erst seit wenigen Jahren wissen, handelt es sich um das Werk eines 1649 verstorbenen englischen Geistlichen, Thomas Harrison. 18 Nach Placcius’ verbesserter Version sollte der Schrank anderthalb hamburgische Ellen, etwa 103 cm, breit sein und 42 viereckige, vertikal angebrachte und drehbare Leisten enthalten, wobei das Fassungsvermögen des Corpus durch die Flügeltüren verdoppelt wird. Jede Leiste sollte, mit starkem Papier oder Pergament verkleidet, an der Vorderseite bis zu 60 nach dem Alphabet geordnete tituli, also die Stichwörter enthaltende Aufschriften, aufnehmen. An der Rückseite sollten die 15 GWLB Ms XII 713q (1), ungez. Konv. 6 und Ms XXIII 181, II, 1b Bl. 12 r. 16 26. Stück, vom 13. Februar 1740, S. 3f., zitiert von Noel Malcolm: Thomas Harrison and his ‛Ark of Studies’: An Episode in the History of the Organization of Knowledge, in: The Seventeenth Century 19 (2004), S. 196–232, hier S. 221 und S. 232, Anm. 125. 17 Vgl. Murr: Journal (wie Anm. 14), S. 210f. „Von Leibnitzens Excerpirschranke“. 18 Vgl. Malcolm: Thomas Harrison (wie Anm. 16).
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jedem Stichwort entsprechenden Exzerpte von etwa 1 Zoll Breite an kleinen Drahtbügeln hängen, die ihrerseits von die Papierverkleidung der Leisten tragenden Nägeln gehalten würden. Bei maximaler Auslastung käme man also, wie Placcius selbst errechnet, auf über 2500 Stichwörter, ein Universalprogramm, mit auf der anderen Seite wenig Raum für das einzelne Exzerpt, getreu der Maxime: Exzerpte müssen kurz sein, excerpe breviter, 19 wie 1699 eine Leipziger Dissertation formuliert. Das gilt selbst dann, wenn man zum mehrfachen Falten eines Exzerptenzettels seine Zuflucht nimmt, wie bereits von Harrison vorgesehen. 20 Murr suggeriert also mit der Schilderung, wie Leibniz’ Notate zustandekamen, ebenso wie mit dem Rekurs auf Placcius’ Schrank, Leibniz hätte seine Sammlung angelegt als Vorbereitung eines allumfassenden Generalinventars des Wissens, wie es integrierender Bestandteil seines Projekts einer ars characteristica war. Andererseits irritiert, wie er Leibniz unter diesen Umständen in die Tradition Martin Fogels stellen kann, denn bei aller Buntheit seiner Sammlungen plante Fogel doch die Verarbeitung des akkumulierten Materials in mindestens dreißig Monographien21 aus den Bereichen Geographie, Logik, Pädagogik, Geschichte, Sprachwissenschaft. Allein die überlieferten Titel, darunter zahlreiche Sammlungen von Observationes, ferner Castigationes, ein Lexicon philosophicum generale sowie eine Reihe Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte, das damit verbundene Anekdotische, Punktuelle, auf den Einzelfall Bezogene lassen ahnen, dass hier aus dem Zettelkasten gearbeitet werden sollte, ja im Zettelkasten, wie es der überaus produktive Staatsrechtler Johann Jacob Moser praktizieren und in seiner ab 1777 erschienenen Lebens-Geschichte anschaulich beschreiben wird. 22 Da wir nach heutigem Kenntnisstand wenig über Georg Friedrich Clacius wissen, abgesehen von seinen 14 Briefen an Leibniz aus den Jahren 1679–1684, und nichts über Beschaffenheit und Verbleib seines Exzerptenschrankes, halten wir uns zum Vergleich mit dem von Murr entworfenen Bild an den einzigen heute greifbaren Sachverhalt, den einzigen zugleich, mit dem sich – mit einer Ausnahme, wie wir sehen werden – noch niemand ernsthaft beschäftigt hat: Leibniz’ Exzerpte selbst. Zunächst vom Schriftträger gesehen, lassen sich in aufsteigender Folge unterscheiden 19 Vgl. Erdmann Uhse [Praes.]: Sciagraphia de studio excerpendi [Resp.: Johann Balthasar Schubert], Leipzig 1699, membrum IV, Bl. 6 v, zit. nach Zedelmaier: Gelehrtes Wissensmanagement (wie Anm. 9), S. 85. 20 Vgl. Placcius: De arte excerpendi (wie Anm. 8), S. 135. 21 Vgl. Daniel Georg Morhof: Polyhistor, Lübeck 1714, T. 1, Lib. 1, Cap. 7, § 43, S. 61. 22 Vgl. Johann Jacob Moser: Lebens-Geschichte [...] von ihm selbst geschrieben, 3. vermehrte und fortgesetzte Auflage, Frankfurt a. M./Leipzig 1777–1783, Bd 3, S. 103f., zit. nach Zedelmaier (wie Anm. 9), S. 86f. Dass diese Methode keineswegs eine Erfindung erst des 18. Jahrhunderts ist, sondern bereits im 1. Viertel des 17. Jahrhunderts praktiziert wurde, legt folgende Passage eines Briefes von Gisbert Cuper an Leibniz vom 10. September 1704 nahe: „[...] praeterea [possideo] paralipomena Attica tribus libris comprehensa, sed indigesta, quae tamen eruditus juvenis facile in ordinem redigere posset, si eidem viam monstravero, qua Feithus [Everhard Feith, verschwunden um 1625] in excerpendo usus est, et quomodo inde libellos suos composuerit“ (A I, 23 N. 500, S. 705).
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aus Exzerptenbogen ausgeschnittene Streifen, teilweise extrem dünn, zerknittert und vielfach so ausgewaschen durch Einwirkung des Leine-Hochwassers 1946, dass sie kaum noch zu entziffern sein werden; – kleinere und größere, mehr oder minder unregelmäßig ausgeschnittene Zettel, von Briefmarken- bis Quartformat und darüber hinaus, – Adressseiten und Umschläge von wahrscheinlich noch vorhandenen, aber allenfalls ausnahmsweise zu identifizierenden Briefen, von denen Leibniz regelmäßig abgesehen von der Adresse unbeschriftete Blätter abgerissen hat, und gebrauchtes Verpackungsmaterial, – Reste von empfangenen, nicht archivierten Korrespondentenbriefen oder eigenen Konzepten, sie alle beschriftet mit eigenhändigen Auszügen fremder Texte, gelegentlich angereichert mit eigenen Kommentaren, aber auch persönlichen Überlegungen oder bloßen bibliographischen Angaben; darüber hinaus Abschriften eigener Briefe, – Konzepte eigener Briefe wie von Leibniz’ Schreiben an Johann Fabricius vom 14. (24.) September 1697, ein seltener Fall, wo durch Zuordnung zu dem einschlägigen Brieffaszikel Leibniz’ Ordnung später bewusst und für uns erkennbar durchbrochen worden ist, 23 – vollständige eigene Abhandlungen wie die Suspiciones de origine appellationis Germanorum, 24 – kleine Drucke (z. B. Chr. A. Balduin, Observatio circa urnas gentilium Germanorum, [1675]), – durch die Korrespondenz erhaltene Abbildungen. Bei den fünf letztgenannten Kategorien handelt es sich natürlich nicht einmal um Exzerpte im weiteren Sinn, sondern um nachträglich ergänzte Materialien, die Leibniz durch die charakteristische Auszeichnung dem Übrigen aber angeglichen hat. Eine Kategorie für sich bilden die nicht ganz seltenen Fälle, wo Leibniz – Exzerpte Martin Fogels seiner eigenen Sammlung einverleibt, teilweise nicht nur selbst beschlagwortet, sondern auch mit Zusätzen versehen hat. Weiteres Material aus fremden Sammlungen ist mir hingegen noch nicht begegnet. Blätter größeren Formats sind – häufig gut erkennbar – auf Oktavformat gefaltet worden, niemals darüber hinaus, was bei Foliobögen auch kaum praktikabel gewesen wäre. Dazu stimmt das auf Oktav gefaltete Format einer zufällig erhaltenen Umschlagseite mit Leibniz’ Aufschrift: „Antiquissimi habitatores“. 25 Die Übereinstimmung von Leibniz’ Exzerptensammlung mit der Fogels ist also in formaler Hinsicht weit ausgeprägter als deren Ausrichtung an den Konstruktionen von Harrison und Placcius. Wenn Leibniz überhaupt einen speziellen Schrank 23 LBr. 251 Bl. 5–6 statt des ursprünglichen „Geograph. 1151“ auf Bl. 5 r; gedr. in A I, 14 N. 294; vgl. auch die Edition in: G. W. Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte, bearbeitet, kommentiert und herausgegeben von Malte-Ludolf Babin und Gerd van den Heuvel, Hannover 2004, S. 785–797. 24 LH XII 1, 1 Bl. 1–2. 25 LH XII 1 Bl. 84 v.
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für die uns überlieferten Zettel verwendete, läge es viel näher, sich einen Fächerschrank vorzustellen, wie er früher zum Sortieren von Briefen verwendet wurde und wie ihn auch Fogel besaß. 26 Es muss unter diesen Umständen kaum noch erwähnt werden, dass auch von den bisher aufgefundenen schmalen Exzerptstreifen keiner die beim System Harrison / Placcius zwingend vorauszusetzenden Durchbohrungen aufweist. Stimmt in formaler Hinsicht Murrs Überlieferung nicht zum anhand der Manuskripte gewonnenen Befund, entsprechen dann wenigstens die von Leibniz vergebenen Schlagworte der von Harrison und Placcius vorausgesetzten Struktur flächendeckend alle Disziplinen erfassender loci communes? Tatsächlich ist das gerade Gegenteil der Fall. Aus der Liste der von mir bis Frühjahr 2010 erfassten Exzerpte, insgesamt 852 an der Zahl, ergeben sich gerade einmal, Formulierungsvarianten nicht gerechnet, 27 etwa 68 Schlagwörter, und sie alle stehen offensichtlich im Dienste der noch zu schreibenden Welfengeschichte. Ihre Zweckbestimmung ist also noch viel entschiedener als bei Fogel, und ihre Organisation hat sich deutlich entfernt von dem Begriff, den – bei aller Betonung der Notwendigkeit für jeden einzelnen, seine Exzerpte den persönlichen Bedürfnissen entsprechend zu organisieren 28 – noch fast gleichzeitig D. G. Morhof von der Exzerptensammlung prägt als nicht nur für einen bestimmten Zweck eingerichteter Waffenkammer des Wissenschaftlers, der sein Metier als Kampf auffasst, für den es jederzeit gerüstet zu sein gilt. 29 Nicht loci communes gliedern Leibniz’ Zettelmasse, sondern den praktischen Bedürfnissen des Geschichtsschreibers dienende Stichworte. 30 An erster Stelle zu nennen sind die Zettel, die heranzuziehende Quellen namhaft machen und von Leibniz mit „scriptores“, gelegentlich mit dem Zusatz „quibus utimur“ oder „Brunsvic“. bzw. „nostri“ (im Unterschied zu „scriptores alieni“), beschlagwortet werden. Diese Gruppe hat man noch in den achtziger Jahren versucht, durch Anfasern zu Foliobogen zu vereinigen, insgesamt 187 Zettel vergesellschaftet nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern, versteht sich, nach Format. 26 Vgl. Placcius: De arte excerpendi (wie Anm. 8), S. 122. 27 Das Faszikel GWLB Ms XXIII 181, II 10 k veranschaulicht auf engem Raum, wie wenig Leibniz auf formal einheitliche Schlagwörter Wert legte. Nebeneinander beschreiben denselben Sachverhalt Guelfi veteres Bl. 5, 12; Welphi veteres Bl. 3; Welfi vet. Bl. 8, 10; Welf. vet. Bl. 13; Welf. priores Bl. 7; Welfica vetera Bl. 4; Guelfica vetera Bl. 1, 11; Guelphica antiqua Bl. 9; Welfica antiqua Bl. 2. Ganz anders die Exzerpierbücher, die empfehlen, vorab eine verbindliche, nur erweiterbare Liste der Schlagwörter (nomenclator) anzulegen: So Harrison bei Placcius: De arte excerpendi (wie Anm. 8), S. 138f. 28 Vgl. Morhof: Polyhistor (wie Anm. 21), T. 1, Lib. 3, Cap. 1, § 16, S. 560: „Quemadmodum [...] non eadem vel vestis vel domus mensura omnibus convenit, sed secundum vitae conditionem, fortunarum amplitudinem vel tenuitatem, adornari solet; ita Excerptorum plane dispar ratio et forma est“. 29 Vgl. ebd., § 19, S. 560: „Parum refert quô locô, quô ordine arma quis posita habeat, modo in promptu sint, cum ad pugnam ventum est.“ Vgl. dazu Zedelmaier: Gelehrtes Wissensmanagement (wie Anm. 9), S. 84. 30 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der Notate noch bloß interessehalber und nicht in Hinblick auf die „Welfengeschichte“ zusammengetragen worden sein mag. In diese Richtung deuten etwa die beiden oben zitierten Exzerpte zur französischen Sprache.
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Ältere Versuche, ein entsprechendes Ergebnis mit Hilfe von Klebstoff zu erzielen, haben inzwischen begonnen, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Eine zweite für Exzerptensammlungen atypische Gruppe bilden die Eigennamen Einzelner oder von Gruppen. Hier fällt auf, dass es sich vielfach um Persönlichkeiten handelt, deren Wirken jenseits nicht nur der von Leibniz tatsächlich behandelten Zeit (die Annales reichen bis 1005), sondern auch jenseits des seit spätestens 1702 ins Auge gefassten Zielpunktes der Annales, der Gründung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg 1235, liegt. Nicht nur betreffen zahlreiche Zettel Kaiser Lothar III., sondern wir kennen auch solche zu Albrecht I. von Braunschweig-Lüneburg, zu den Herzögen von Ferrara des 15. Jahrhunderts und sogar zwei zu Herzog Ernst August und seinen Brüdern. Das einbezogene Material reicht damit teilweise bis in Leibniz’ erste Jahre in Hannover zurück. Ein Teil – bei weitem nicht alle –der mit nur einem knappen Dutzend Stichworten gekennzeichneten Zettel, darunter „naturales regiones“, „antiquissima historia“, „origines gentium“ bzw. „populorum“, „migrationes gentium“, „gentes“, „irruptiones barbarorum“, („Saxones“) „sub Romanis“, „geographia“ bzw. „geographicae observationes“, „lingua“, trägt zusätzlich Zahlen von 1 bis 1220. Sie bilden den interessantesten Bestand, gestattet die Numerierung doch zu erkennen, wie in Leibniz’ Geschichtswerk die Lücke zwischen der Urgeschichte der Protogaea und den mit dem Regierungsantritt Karls des Großen 768 einsetzenden Annales geschlossen werden sollte, mit einer Ur- und Frühgeschichte des Menschen des niedersächsischen Raumes bis zur Völkerwanderung einschließlich und unter Heranziehung von insbesondere Mythologie und historischer Sprachwissenschaft avant la lettre. Louis Davillé hat bereits in seiner 1909 erschienenen, überaus materialreichen Monographie Leibniz historien versucht, anhand dieser Zahlen und der seinerzeit noch besser lesbaren Exzerpte selbst dieses ungeschriebene Kapitel zu konstruieren. 31 Diese nachträgliche Numerierung bereits mit Schlagworten versehener Zettel machte das überraschend grobe Stichwortraster überflüssig – tatsächlich haben wir eine Reihe von Exzerptenzetteln ohne Schlagwort, aber mit Ordnungsnummer –, denn sie ging Hand in Hand mit der Erarbeitung einer Systematik, welche die vergebenen Zahlen in numerischer Reihenfolge verzeichnen sollte. 32 Deren Entdeckung durch Günter Scheel 1966 war eine kleine Sensation auch im Sinne unserer Fragestellung: Leibniz reduzierte durch das Aufstellen der Zahlenfolge in Listenform, bei der jeder einzelnen Zahl einige charakterisierende Stichworte, auch Halbsätze zugeordnet wurden, nicht nur den Aufwand des herkömmlichen Beschlagwortens der einzelnen Zettel mit Hunderten von Stichworten; er gewann auch die Möglichkeit, eine wesentlich feinere Gliederung des Materials zu erreichen, als durch die Vergabe je eines Stichworts möglich gewesen wäre. Er hätte diese Möglichkeit gewonnen, wenn er sich denn an das ursprüngliche Konzept gehalten hätte, aber wie so oft bei Leibniz war auch hier das Bessere der Feind des Guten. Der Stoff wuchs ihm unter den Händen, aus der Darstellung der
31 Vgl. a.a.O., S. 318–324. 32 GWLB Ms XXIII 181, II, 1 b Bl. 26–27. 1 Bog. 2o.
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niedersächsischen Frühgeschichte wird eine der Ursprünge des Menschen überhaupt, von den Goten kommt er auf den codex argenteus, der die Evangelien aus der gotischen Bibel des Wulfila überliefert, eine naheliegende, aber eben vom Thema wegführende Assoziation, zumal er daran Betrachtungen über das relative Alter der Handschrift, ihre Herkunft und ihren Verbleib knüpft; vom grundsätzlichen Problem der Sprache und der Etymologie kommt er auf die Erörterung der ägyptischen Hieroglyphen und die babylonische Sprachverwirrung. Obwohl er zunächst seine Ordnungszahlen in Zehnerprogression vergeben hat, wenn auch nicht so regelmäßig und konsequent, wie Günter Scheel angenommen hat, 33 ist die Reserve der dazwischenliegenden Einer vielfach bereits in der zweiten Bearbeitungsstufe aufgebraucht. Die großen freigelassenen Räume einerseits und die winzige Schrift der Zusätze, auch wo es nicht nötig scheint zu quetschen, andererseits zeigen, dass Leibniz bereits weit hinausgeschossen ist über das bis dahin gesammelte Material und ein weiterer Ausbau geplant war, während andererseits einige Exzerpte Nummern tragen, die von der Systematik nicht erfasst werden. An dieser Stelle begegnen wir wieder dem Phantom des Exzerptenschrankes, den G. Scheel sich wenn nicht nach loci communes, dann nach den Ziffern der Systematik organisiert gedacht hat. Fragt sich nur, wie dann die zahlreichen übrigen, nicht numerierten Exzerpte untergekommen wären. Ergiebiger, als über einen Schrank zu streiten, den Leibniz in der angegebenen Form wohl nie gebraucht hat, dürfte es sein, den gesamten Text der soeben charakterisierten Systematik erstmals über bloße Kostproben hinaus vollständig zu erschließen und zu versuchen, die möglichst umfassend zu verzeichnenden numerierten Exzerpte ins Verhältnis dazu zu setzen. Wir werden auf dieser Grundlage kaum einen Text gewinnen, von dem auch Leibniz noch im September 1715 dem ihm vorgesetzten Freiherrn von Bernstorff gegenüber lediglich erklärte, die Materialien dazu stünden bereit. 34 Aber Leibniz’ vielleicht elaboriertester Versuch einer Ordnung könnte durchaus noch für die eine oder andere Überraschung gut sein.
33 Günter Scheel: Leibniz’ Pläne für das „Opus historicum“ und ihre Ausführung, in: Studia Leibnitiana. Supplementa 4, Bd. 4, Wiesbaden 1969, S. 134–155, hier S. 151. 34 Vgl. Leibniz’ Brief an Bernstorff von Anfang September (?) 1715: „Le discours sur la migration des peuples reste encore à faire. Cependant j’en ay les materiaux tous prests.“ (gedr.: Richard Doebner: Leibnizens Briefwechsel mit dem Minister von Bernstorff und andere Leibniz betreffende Briefe und Aktenstücke aus den Jahren 1705–1716, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, 1881, S. 205–380, hier S. 334). Wenn Scheel: Leibniz’ Pläne (wie Anm. 33), S. 152, im Resumé dieser Briefstelle Leibniz sagen lässt, es wären „seine Sammlungen und Ausarbeitungen [...] in einem solchen Zustand, daß lediglich noch die Herstellung des laufenden Textes nötig“ sei, schießt das schon insofern weit übers Ziel hinaus, als wir irgendwelche „Ausarbeitungen“, die über das Stadium der Rohmaterialien hinausgediehen wären, für das Völkerwanderungskapitel bis heute nicht kennen.
TOD DES FEUERSALAMANDERS Sintflut, Erdgeschichte und Entwicklung des Lebens bei Gottfried Wilhelm Leibniz Michael Kempe, Hannover Ein Feuersalamander – was hat diese europäische Schwanzlurchenart mit dem barocken Universalgelehrten Leibniz zu tun? Antike Autoren schrieben dem Salamander die Fähigkeit zu, durch körpereigenes Gift Feuer löschen zu können. Man nahm an, das Tier könne im brennenden Feuer leben und hätte dort seinen eigentlichen Lebensraum. Der Mythos der Unzerstörbarkeit durch Feuer ist bereits in einer spätantiken Handschrift belegt. Feuer, Wasser, Amphibientiere. Kaum jemand dürfte vermuten, dass man sich mit diesen drei Stichworten bereits mitten in der naturund erdgeschichtlichen Vorstellungwelt von Leibniz befindet. Weniger noch, dass man auf diese Weise sogar bis in die innersten Bereiche der Substanzphilosophie und Metaphysik vordringt, für die der Ausnahmegelehrte bis heute berühmt ist. Und am meisten dürfte es wohl erstaunen, dass all dies möglich scheint, indem man sich mit Leibniz in den Sog und Strudel frühneuzeitlicher Sintflutdeutungen hineintreiben lässt. 1 Wie alt ist unsere Erde? Auf welche Weise hat sich das Leben auf diesem Planeten entfaltet und wie wird es sich in der Zukunft weiterentwickeln? Leibniz gibt auf diese Fragen erstaunlich moderne Antworten und weicht damit von der zu seiner Zeit in Europa vorherrschenden christlich-jüdischen Auffassung zu Schöpfung und Erdgeschichte grundlegend ab. Im Mittelpunkt von Leibniz’ Beschäftigung mit solchen Fragen steht der Versuch einer wissenschaftlichen Deutung der von Moses beschriebenen Sintflut, woraus ebenfalls eine kritische Haltung gegenüber wörtlichen Bibelauslegungen deutlich wird. Leibniz’ Beschäftigung mit der Sintflut zeigt den Wandel theologischer Denkmuster in den Erdwissenschaften um 1700 und markiert eine wichtige Etappe in der Ideengeschichte der Evolution vor Charles Darwin. Indem der Aufsatz diesen Gedankenzusammenhang ausbreitet, kommen
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Der Aufsatz basiert auf dem gleichnamigen Vortrag, gehalten am 27. September 2018 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Leibniz-Vorträge“ (Themenschwerpunkt „Die Sintflut im Denken um 1700“) der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek / Niedersächsischen Landesbibliothek und der Gottfried Wilhelm Leibniz Gesellschaft sowie am 2. Februar 2021 (als OnlineVortrag) im wissenschaftshistorischen Seminar, Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung. Den Teilnehmenden beider Vorträge danke ich für wertvolle Fragen und Anregungen. Die Vortragsform wurde beibehalten und nur um die notwendigsten Nachweise ergänzt. Für die freundliche Genehmigung, die Online-Transkriptionen der späten Leibniz-Korrespondenz verwenden und aus ihnen zitieren zu dürfen, danke ich Malte-Ludolf Babin und Renate Essi.
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neben bekannten Texten wie der Protogaea auch bislang wenig beachtete Schriften und Briefe von Leibniz zur Sprache. Ausgangspunkt ist die in der Wissenschaftsgeschichte bis heute dominierende Auffassung, dass die biblische Zeitrechnung, die das Alter der Erde auf ungefähr 6000 Jahre ansetzte, erst im ausgehenden 18. Jahrhundert hinterfragt wurde. Als Wegbereiter der sogenannten Entdeckung der Tiefenzeit werden immer wieder die Geologen Georges-Louis Leclerc de Buffon und James Hutton genannt. Ersterer berechnete 1778 das Alter der Erde auf 75.000 bis 80.000 Jahren, letzterer sprach 1788 sogar von vielen Millionen Jahren. Immer weiter wurde die Zahl nach oben korrigiert, nach heutigen Datierungsmethoden ist unser Planet zwischen 4,5 und 4,6 Milliarden Jahre alt. Damit zusammenhängend wird ebenfalls bis heute zumeist davon ausgegangen, dass vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Wandel von Tier- und Pflanzen-Arten für undenkbar gehalten wurde. Wenn im Folgenden diese Sichtweise kritisch hinterfragt wird, dann geht es auch darum, diese Überlegungen daraufhin zu prüfen, inwieweit sie anschlussfähig sind für aktuelle Diskussionen zu einer allgemeinen Evolutionstheorie. Linearer Zeitablauf oder ewige Wiederkehr? Zeit, so schrieb der englische Schriftsteller Thomas Browne, ist nur fünf Tage älter als wir selbst. Immer wieder neue Anläufe unternahm die biblische Chronologie im 17. Jahrhundert, um das Sechstagewerk der Schöpfung, wie es die hebräische Bibel oder das Alte Testament beschreibt, möglichst genau zu datieren. 2 Nicht alle folgten der bekannten Datierung des irischen Erzbischofs von Armagh, James Ussher, der 1650 die Erschaffung der Welt auf das Jahr 4004 vor Christus berechnete. Aber die meisten Gelehrten, die sich mit der biblischen Zeitrechnung beschäftigten – unter ihnen z.B. auch Isaac Newton –, gingen von einem ähnlichen Zeithorizont aus. Entsprechend der Angaben der Genesis zur Lebensspanne von Adam und seinen Nachkommen bis zu Noah setzten viele die Sintflut auf das Jahr 1656 nach der Schöpfung an. Als der Schweizer Naturforscher und Leibniz-Korrespondent Johann Jakob Scheuchzer fossile Reste menschlicher Knochen entdeckt zu haben glaubte und 1726 seinen Fund unter dem Titel „Homo Diluvii Testis. Bein=Gerüst / Eines in der Sündflut ertrunkenen Menschen“ publizierte, schrieb Scheuchzer am Ende seines Flugblattes die Worte „Im Jahr nach der Sündflut 4032“. 3 Wer sich in Europa im 17. und frühen 18. Jahrhundert mit Weltentstehung und Universalzeit beschäftigte, konnte noch auf ein weiteres Kosmologie-Modell zurückgreifen. Mit Bezug auf Heraklit von Ephesus und Aristoteles ließ sich die Welt denken als in ständiger Veränderung begriffen – ohne Anfang und ohne Ende. Un2 3
Siehe mit weiteren Verweisen Michael Kempe: Die Anwesenheit der Abwesenheit. Katakomben, Mumien, Urnen – die Erforschung des Unterirdischen als Archiv der Geschichte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 41/3, 2014, S. 423–447, hier S. 434–437. Johann Jakob Scheuchzer: Homo diluvii testis. Bein=Gerüst / Eines in der Sündflut ertrunkenen Menschen, Zürich 1716 (Holzschnitt), unpaginiert.
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endlichkeit wurde als statische Unveränderlichkeit gedeutet oder als zyklische Wiederkehr des immer Gleichen wie zum Beispiel nach der kosmologischen Lehre von Origenes. Es gab also durchaus eine Alternative – eine radikale sogar – zum Bild der Welt mit einem Alpha und einem Omega, als Leibniz und viele Gelehrte seiner Epoche versuchten, die Zeitlichkeit der Erde und des Universums zu ergründen. Vor diesem Hintergrund gewann im späten 17. Jahrhundert eine dritte Alternative an Plausibilität, welche die Welt weder als endlich und jung interpretierte noch als ewig und unvergänglich, sondern als endlich, aber sehr alt. Gestalt nahm dieses Erklärungsmodell an vor allem im Zusammenhang mit den sich entwickelten Erdwissenschaften, insbesondere im Kontext der Bemühungen der Gelehrten, das Geheimnis der Fossilien zu ergründen. Das Arkanum der Versteinerungen Was Fossilien sind, ist heute eine vertraute Tatsache: es sind versteinerte Reste oder Spuren einstiger Lebewesen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein gehörte die Herkunft der Fossilien jedoch zu den großen Rätseln, welche die Naturforscher in Atem hielten. Bislang war es nicht gelungen, restlos zu klären, ob es sich hierbei ursprünglich um Lebewesen oder um bloße Steine handelte. Die meisten Gelehrten hielten die so genannten Figurensteine für eine Spielerei der Natur (lusus naturae). Danach habe die Natur die aus einer versponnenen Laune heraus anorganische Materie so geformt, dass bestimmte Steine pflanzliche oder tierische Organismen ähneln würden. Auch der junge Leibniz war dieser Ansicht. In einem undatierten Manuskript aus etwa Mitte der 1670er Jahre ging er auf Figurensteine ein, die wie versteinerte Meerestiere aussahen und weit entfernt vom Meer gefunden wurden. Dass es sich hierbei tatsächlich um Reste maritimer Lebewesen handeln könnte, schloss Leibniz aus. Denn dann müsste die Erde, so Leibniz, viel älter sein, als es die Bibel nahezulegen schien. 4 Etwas später jedoch begann Leibniz seine Ansicht zu modifizieren, wohl maßgeblich durch den Einfluss des dänischen Arztes Niels Stensen, zumeist bekannt als Steno. Nach der Sektion eines Haifischkopfes war Steno zu der Einsicht gekommen, dass es sich bei den sogenannten Zungensteinen um versteinerte Haifischzähne handeln musste. 1669 publizierte er eine kleine Schrift unter dem Titel De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus. Darin befindet sich die bekannte Abbildung eines Haifischkopfes mit den als Glossopetrae bezeichneten Haifischzahnfossilien. Leibniz ließ diese Abbildung später von Nicolaus Seeländer für seine geplante Arbeit zur Erdgeschichte, der Protogaea, nachstechen. Wie war der Haifischzahn in das harte Gestein gelangt? Der eingeschlossene Gegenstand, so Steno, musste bereits ein fester Gegenstand gewesen sein, bevor 4
Siehe Claudine Cohen: Un manuscrit inédit de Leibniz (1646-1716) sur la la nature des „objects fossiles“, in: Earth Sciences Bulletin / SGF, Société Géologique de France 169, 1998, S. 137– 142.
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das ihn einschließende Gestein hart wurde. Mit diesen Überlegungen lieferte er das Schlüsselargument zur Deutung von Fossilien als Überreste einstiger Lebewesen. Stenos Ansichten, die entscheidend zum Durchbruch der modernen Fossilienerklärung führten, hatten einen großen Einfluss auch auf Leibniz’ Verständnis der Natur der Petrefakten. Leibniz lernte Steno persönlich kennen, als dieser sich zwischen 1677 und 1680 als apostolischer Vikar am Hof von Hannover aufhielt. Später kam Leibniz immer wieder auf die Gespräche mit Steno in Hannover zurück, wenn er seine Auffassungen zur Geschichte der Erde darlegte. So vor allem, als er Anfang der 1690er Jahre seine Hauptschrift dazu verfasste, die er Protogaea nannte. Ein kleiner Auszug aus dieser Schrift über den Ursprung und die Frühgeschichte der Erde als Protoplaneten wurde 1693 publiziert, doch als Ganzes erschien sie erst 1749, also lange Zeit nach Leibniz’ Tod. 5 Auf der Grundlage zeitgenössischer Theorien und seiner naturkundlichen Forschungen im Harz entwickelte Leibniz in der Protogaea eine eigene Deutung der Erdhistorie als allmählichen Abkühlungsprozess einer einst glühend heißen Kugelmasse. Die Fossilienfrage hing eng mit der Frage nach der Entstehung der Erdschichten zusammen. Steno zufolge sei die einst plane und mit Wasser bedeckte Oberfläche der Erde eingestürzt, dabei seien Berge, Hügel und Täler entstanden. Meerestiere wie Muscheln und Schnecken seien nach dem Absinken des Meeresspiegels und dem Abfließen des Wassers im Schlamm zurückgeblieben, dort im hart werdenden Stein sedimentiert und so bis heute als Versteinerungen erhalten geblieben. Steno machte dafür eine Epoche großer Katastrophen verantwortlich und assoziierte eine davon mit der biblischen Sintflut. Was hielt Leibniz nun von diesem Erklärungsansatz? Aufschluss hierüber gibt ein bislang kaum bekannter Text, von Leibniz datiert auf Januar 1678, den der Leibniz-Forscher Daniel Garber jüngst in den Zusammenhang der Hannoveraner Gespräche zwischen Steno und Leibniz gebracht hat. 6 Was aber, so fragte Leibniz in diesem Text, wenn es nicht eine solche Epoche kataklysmischer Veränderungen gegeben hätte. Dann, so antwortete Steno, müsste man wesentlich mehr Zeit für die Prozesse der Schichtenbildung und Fossilieneinlagerung veranschlagen. Steno sprach hier von tausenden von Jahrhunderten. Leibniz bezeichnete dies als elegante Antwort; mehr erfahren wir aus diesem Text nicht. Die Pluralisierung der Sintflut Was Steno noch eher vage mit der Sintflut in Verbindung brachte, daraus entwickelten andere dann eine eigenständige Theorie. So wurden Sintflut-Theoretiker wie John Woodward oder Johann Jakob Scheuchzer nicht müde zu betonen, wie 5 6
Gottfried Wilhelm Leibniz: Protogaea autore G. G. L., in: Acta eruditorum, Januar 1693, S. 40– 42; ders.: Protogaea sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigiis in ipsis naturae monumentis dissertatio, Göttingen 1749. Daniel Garber: Steno, Leibniz, and the history of the world, in: Raphaële Andrault, Mogens Lærke (Hg.): Steno and the philosophers, Leiden 2018, S. 201–229.
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gewaltig die von Moses beschriebene weltweite Flutkatastrophe gewesen sei, welche Wucht und Kraft dahinter gesteckt habe, als sich für vierzig Tage lang Himmel und Erde öffneten, um die ganze Welt in tosenden Wellen und stürzenden Regenfluten zu ertränken. Viele Gelehrte schlossen sich dieser Ansicht an. Versteinerte Muscheln und Schnecken, die man in hohen Gebirgsregionen fand, schienen zu belegen, dass dafür nur die Sintflut als Erklärung in Frage kommen könne, denn schließlich heißt es im Ersten Buch Mose, Kapitel 7, Vers 19–20, dass das Wasser zu dieser Zeit fünfzehn Ellen hoch über die höchsten Berge der Erde gestanden habe. Manche Gelehrte blieben jedoch skeptisch. Zu den Skeptikern der Diluvialtheorie zählte ebenfalls Leibniz, für ihn kamen auch andere – zwar nicht universale, aber große lokale – Überschwemmungen als mögliche Ursachen der Fossilienablagerung und Schichtenbildung in Frage. Wenn Leibniz in der Protogaea die meisten Figurensteine nicht mehr als Naturspiele deutete, sondern als versteinerte Überbleibsel oder Spuren organischen Materials, so hätte er gemäß seiner früheren Aussage daraus eigentlich den Schluss ziehen müssen, dass die Erde wesentlich älter sei, als es die gängige Bibelinterpretation vorgibt. Doch Leibniz blieb vorsichtig und hielt sich mit Zeitaussagen, die dieser Interpretation widersprechen könnten, zurück – noch jedenfalls. Ein Brief über den Wandel des Erdglobus 1691 diskutierte Leibniz mit Gustav Daniel Schmidt die Veränderungen des Meeresspiegels der Nordsee. Das heutige norddeutsche Flachland und der Harz seien vor langer Zeit vom Meer bedeckt gewesen, so Leibniz, der hier jedoch abermals auf eigene Zeiteinschätzungen verzichtete. 7 Was Leibniz wirklich über das Ausmaß der erdgeschichtlichen Zeit dachte, geht aus einem Brief hervor, der bislang kaum beachtet ist. Gemeint ist ein auf Mai 1714 zu datierender Brief an den Sprachgelehrten und Naturforscher Louis Bourguet. Dass dieses Schreiben bislang wenig bekannt ist, dazu hat Leibniz selbst mit beigetragen. Überliefert ist der maßgebliche Textzeuge in einer Sammelhandschrift, die Leibniz im Frühjahr 1714 in Wien im Auftrag des Prinzen von Eugen anfertigen ließ. Die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrte Sammelhandschrift enthält insgesamt sechs Texte von Leibniz, u.a. eine Abschrift der später berühmten Schrift Principes de la nature et de la gráce fondés en raison (Prinzipien der Natur und der Gnade begründet in der Vernunft). In dem von Leibniz selbst verfassten Inhaltverzeichnis sind jedoch nur fünf Schriften genannt, es fehlt nämlich die Abschrift des Briefes an Bourguet, der als vorletzter Text im Band auftaucht unter dem von Leibniz’ Hand notierten Titel „Lettre sur les changements
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Leibniz an Gustav Daniel Schmidt, Consideration d’une Hypothese qui porte que la mer Septentrionale estoit autres fois plus haute qu’à present, [Hannover, 22. November 1697], in: A I, 14 N. 417, S. 715–723, hier S. 723.
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du globe de la terre“. 8 Schaut man also nur in das Inhaltsverzeichnis, dann findet man diesen Brief nicht. Die Brieffassung aus der Wiener Anthologie liegt zwar gedruckt vor, nicht aber eine kritische Edition aller dazugehörigen Textzeugen des Briefes. 9 Leibniz verfasste diesen Brief als Antwort auf Bourguets Schreiben vom 7. April 1714. Darin hatte Bourguet sich intensiv mit der Kurzfassung der Protogaea von 1693 auseinandergesetzt. Ähnlich wie Steno schien Bourguet der Meinung zu sein, dass es zwischen der Schöpfung und der Sintflut eine Phase heftiger und plötzlicher Veränderungen in der Natur gegeben habe. Dem widersprach Leibniz vehement. Solch enorme Umwälzungen ließen sich nicht auf eine Flut von wenigen Tagen wie diejenige Noahs zurückführen. Dann wäre sie so gewaltig gewesen, dass Noah auch die Fische an Bord der Arche hätte nehmen müssen, argumentierte Leibniz, weil sie sonst ebenfalls in dem großen Durcheinander zu Tode gekommen wären. Verschiebungen zwischen Land und Meer, Gebirgsauffaltungen, Täler-Bildungen und Gesteinseinschließungen führte Leibniz ausdrücklich weder auf die Sintflut noch auf die vielen kleinen oder kurzen Sintfluten davor oder danach zurück. Nicht plötzlich und abrupt seien diese tiefgreifenden geologischen Veränderungen erfolgt, sondern in langsamen, gleichmäßigen Entwicklungen, die eine lange Zeitspanne erforderten. Leibniz sprach von viel weiter zurückliegenden Ereignissen – Ereignissen jenseits der geschichtlichen Zeit, die nur wenige tausend Jahre zurückreiche; denn diese bedeute wenig im Vergleich zu den uns unbekannten Zeitläufen. Genauere Angaben machte Leibniz jedoch nicht, wir können aber annehmen, dass er dabei an die „tausende von Jahrhunderte“ dachte, von denen Steno ihm gegenüber bereits 1678 gesprochen hatte. Hypothetisch war Steno ja von solchen Zeiträumen ausgegangen, wenn man annehme, dass die geologischen Vorgänge der Gegenwart sich nicht von denen der erdgeschichtlichen Vergangenheit unterschieden. Und genau diese Ansicht vertrat Leibniz, als er im Mai 1714 Bourguet gegenüber konstatierte, die Wandlungsvorgänge in der Natur seien so universal wie vor allem immer wieder vorkommend. Damit aber formulierte Leibniz von der Sache her nichts anderes als das Prinzip der Gleichförmigkeit der Prozesse, das so genannte Uniformitäts- oder Aktualitätsprinzip, das man bislang – von einigen Vorläufern abgesehen – auf James Huttons Erdgeschichtstheorie von 1788 zurückgeführt hatte. Das ist vielleicht nicht nur für Spezialisten eine kleine Sensation, denn immerhin 8 9
Die gebundene Sammelhandschrift befindet sich in Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. Pal. Vindob. 10.588. Leibniz an Louis Bourguet, [Wien, Mai 1714], Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. Pal. Vindob. 10.588, Bl. 108-127, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Transkriptionen der Briefwechsels 1714, hg. vom Leibniz-Archiv Hannover, bearbeitet von Malte-Ludolf Babin und Renate Essi, 3.11.2020 (URL: https://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1714bea.pdf; eingesehen am 28.7.2021); sowie zusammen mit einem anderen Leibniz-Brief an Bourguet in: Federico Silvestri: Due inediti dal carteggio Leibniz-Bourguet, in: Rivista di storia della filosofia, nuova serie 3, 2018, S. 481–505. Weitere Textzeugen des Mai-Briefes von Leibniz an Bourguet sind: GWLB, LBr. 817 Bl. 64-65 (Konzept von Leibniz), MS XXIII, 23a Bl. 96–103 (Reinschrift von Schreiberhand mit eigenhändigen Änderungen von Leibniz), LBr. 817 Bl. 66–71 (Reinschrift von Schreiberhand mit eigenhändigen Änderungen von Leibniz).
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gilt Huttons Aktualismus bislang als ein entscheidender Anfangspunkt der modernen Geologie. Multiplizierung des Universums Wo Bourguet katastrophale Einbrüche am Werk sieht, erblickt Leibniz das Walten uniformer Kräfte. Die Natur macht keine Sprünge; Leibniz wendet das von ihm vertretene Prinzip der Kontinuität, das einen lückenlosen Zusammenhang und fließende Übergänge konstatiert, auf gegenwärtige wie vergangene Prozesse in der Natur an. Die Erschaffung aller Erdkugeln des Universums in einem einzigen Moment hält Leibniz der Weisheit der Natur und der Ordnung der Dinge nicht für würdig. Im Anschluss daran konkretisiert Leibniz seine Denkfigur der creatio continua als sukzessive Entstehung von Planeten aus Sonneneruptionen. Dann hält er Bourguet vor, dass dessen ex abrupto außerdem dem Prinzip des zureichenden Grundes widerspreche. 10 Den Gedanken, dass niemals etwas ins Nichts verschwinde oder aus dem Nichts entstehe, überträgt Leibniz an anderer Stelle auch auf das gesamte Weltall. So hält er es für möglich, dass es vor unserem Universum bereits weitere Universen gegeben haben könnte und auf unser Universum wiederum noch weitere folgen mögen. Solche Gedankenexperimente zeigen, dass Leibniz’ kosmologisches Denken weder vor der Annahme extrem langer Zeiträume Halt machte, noch die Möglichkeit einer diachronen Abfolge von Universen grundsätzlich ausschloss. Doppelte Säkularisierung der Sintflut In den geologischen Sintflut-Diskussionen um 1700 lässt sich also – so könnte man es mit Bezug auf Thomas S. Kuhn formulieren – ein Paradigmenwechsel beobachten vom relativ statischen Weltbild biblischer Chronologie zum dynamischen Modell einer nach hinten verlängerbaren Erdgeschichte. Diesbezüglich war Leibniz kein genialer Ausnahmewissenschaftler, vielmehr gehörte er zu einer ganzen Gruppe von Gelehrten, die mit ihren Stimmen ebenfalls vom Zeitschema der üblichen Genesisauslegung abwichen wie etwa Robert Hooke, Edmond Halley, John Ray, Luigi Ferdinando Conti di Marsigli, Antonio Vallisneri oder Benoît de Maillet. Zusammen formten deren Äußerungen, in denen sich biblische und geologische Zeitrechnung voneinander abkoppelten, ein epistemisches Feld, das auf entscheidende Weise den Weg bereitete zur Etablierung eines neuen Paradigmas erdgeschichtlicher Tiefenzeit. 11 Nicht nur in den Naturwissenschaften begann sich das Bild der Sintflut zu wandeln, auch in der theologischen oder theologienahen Diskussion veränderten sich die Sichtweisen. Mit der historischen Bibelkritik vollzog sich ab der zweiten Hälfte 10 Leibniz an Bourguet, [Wien, Mai 1714] (wie Anm. 9). 11 Siehe auch Martin J. S. Rudwick: Bursting the limits of time. The reconstruction of geohistory in the age of revolution, Chicago / London 2006, S. 115–131.
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des 17. Jahrhunderts eine zunehmende Skepsis gegenüber buchstäblichen Deutungsversuchen der Schöpfungsgeschichte. Hermann von der Hardt beispielsweise, Professor für orientalische Sprachen an der Universität Helmstedt und langjähriger Korrespondenzpartner von Leibniz, betrachtete 1728 die Erzählung der Genesisflut als Mythos und glaubte sie als Tag-für-Tag-Bericht des bei Herodot beschriebenen zweiten Feldzugs gegen die Skythen entschlüsseln zu können. Einerseits stand Leibniz solchen radikalen Interpretationen distanziert gegenüber, andererseits hatte er selbst einmal von der Hardt, verteidigt, als dieser wegen einer heterodoxen Auslegung einiger Genesisstellen von kirchlicher Seite in Kritik geraten war. 12 Auch nahm Leibniz sich selbst die Freiheit, Passagen aus der mosaischen Schöpfungsgeschichte neu zu interpretieren. Wenn Moses sagt „Spiritus Domini ferebatur super aquas“ (Gen 1,2), schrieb Leibniz an Bourguet, dann bedeute dies, dass die Wasserfluten mit Luft gemischt gewesen seien und vielleicht aus Dampf bestanden hätten. 13 Dabei ging es Leibniz keineswegs um ein neues Verständnis der Bibelüberlieferung. Nicht die Details des Genesisberichtes erläutern oder herausfinden, ob im Hexaemeron, dem Sechstagewerk der Schöpfung, jeder Tag mehrere Jahre oder eine längere Periode entspricht, war sein Anliegen. Was er vielmehr anstrebte, war die Formulierung einer rationalen Geogonie, die einer freien Auslegung der Heiligen Schrift nicht widersprach. Als Erkenntnisquelle für die Wissensbereiche der Geohistorie und der Mineralogie hielt Leibniz Beobachtung und Experiment für entscheidend. Wenn Leibniz dabei betonte, dass man bisher leider nur über wenige empirische Daten zur Entstehung des Erdplaneten und des Universums verfüge, dann relativierte Leibniz damit zugleich seinen eigenen Erkenntnisstandpunkt. Mehrmals hob der Autor der Protogaea hervor, dass er in seinen Ausführungen aufgrund des Datenmangels nur vorläufige Behauptungen aufstellen könne, die sicher überholt sein würden, sobald genauere Informationen über die Naturgeschichte unserer Welt vorlägen. In einer Zeit, als konkurrierende Theorien über die richtige Interpretation der Erdhistorie stritten, stellte dies eine wohltuende erkenntnistheoretische Selbstbeschränkung dar. Ein- und Auswicklungen des Lebens Erdgeschichte war für Leibniz nicht nur eine Frage nach geologischen Veränderungsprozessen und den dafür erforderlichen Zeiträumen, sondern – damit eng zusammenhängend – zugleich eine Frage der Entwicklung organischen Lebens. Das naturwissenschaftliche Denken zur Leibniz-Zeit war bestimmt von dem Grundsatz der Konstanz der Arten, wonach alle Arten von Pflanzen und Tieren seit der Schöpfung unverändert geblieben seien. Andere Ansichten wurden als ketzerisch abgelehnt. Dem schien sich auch Leibniz zunächst anzuschließen. „Manche gehen in der 12 Leibniz zu Jacques Bernards Kritik an Hermann von der Hardt [Mai 1705], in: A II, 4, im Druck. 13 Leibniz an Bourguet, [Wien, Mai 1714] (wie Anm. 9).
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Willkür des Mutmaßen so weit“, führte er in der Protogaea aus, „dass sie glauben, es seien einstmals, als der Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen, Wassertiere gewesen, dann seien sie mit dem Fortgange dieses Elementes allmählich Amphibien geworden und hätten sich schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen Heimat entwöhnt.“ „Doch solches“, fährt Leibniz weiter fort, „widerspricht den heiligen Schriftstellern, von denen abzuweichen sündhaft ist“. 14 Lange Zeit wurde in der Forschung gerätselt, wen Leibniz damit gemeint haben könnte. Neueren Forschungserkenntnissen zufolge muss er dabei an Steno gedacht haben. 15 Im Prodromus hatte Steno davon gesprochen, dass die Erde ursprünglich ganz mit Wasser bedeckt gewesen sei. Im Gespräch mit Leibniz hatte er darüber hinaus geäußert, dass deshalb alle Tiere anfänglich maritimen Ursprungs gewesen sein müssten, die sich nach dem Rückzug der Meere allmählich zu amphibischen Wesen weiterentwickelt hätten. Bezieht man sich wie die meisten Interpreten bis heute hauptsächlich auf die Aussagen der Protogaea, so scheint Leibniz solche Ansichten nicht vertreten zu haben. Doch anders sieht es aus, wenn man sich dazu noch einmal den erwähnten Brief an Bourguet von Mai 1714 anschaut. Daraus geht hervor, dass Leibniz nicht nur Stenos Gedankengang übernommen, sondern zugleich noch weiterentwickelt hat. Zunächst rekapituliert er die Grundgedanken seiner „Protogaea“ zur Erdentstehung: aus der Sonne herausgeschleuderte gasförmige Substanzen hatten sich zu einem rotierenden Wirbel verfestigt, der allmählich eine kugelartige Gestalt annahm. Auf der glühend heißen amorphen Masse bildete sich dann durch die schmelzende Kraft des Feuers eine Erdkruste heraus. Darauf folgte eine zweite Phase, in der die Kruste durch die ablöschende Kraft des Wassers erkaltete und fest wurde. Ganz bewusst zog Leibniz hier eine Analogie zwischen den geologischen Prozessen der Erdgeschichte und den Brennvorgängen in den hohen Öfen der Erzverhüttung, wie er sie aus eigener Anschauung im Harz kannte. Die Abkühlung, so fährt Leibniz weiter fort, könnte den Wasserniederschlägen, die das Meer bilden würden, vorangegangen sein. Und nun kommt Leibniz auch auf die Entwicklung des Lebens zu sprechen: Die kleinen beseelten Organismen, aus denen später Pflanzen und Tiere hervorzugehen haben, könnten ein anderes Aussehen erhalten und sich in empfindsamere organische Körper gewandelt haben. „Und aus Salamandern (um es so zu sagen) würden Fische entstehen, dann Amphibien und endlich Landtiere und Vögel.“ 16 Wie Steno ordnet Leibniz den verschiedenen Stufen der Erdentwicklung entsprechend angepasste Lebensformen zu und ergänzt dieses Entwicklungsmodell gemäß seiner Auffassung, dass Feuer vor dem Wasser das beherrschende Element der Erdausgestaltung gewesen sei, indem er den Fischen die Salamander voranstellt, 14 Gottfried Wilhelm Leibniz: Protogaea. Sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigiis in ipsis naturae monumentis dissertatio. Herausgegeben von Christian Ludwig Scheid. Mit der Übersetzung von Wolf von Engelhardt (1949), hg. von Friedrich-Wilhelm Wellmer, Hildesheim u.a. 2014, S. 130. 15 Siehe auch Garber: Steno (wie Anm. 6). 16 Leibniz an Bourguet, [Wien, Mai 1714] (wie Anm. 9).
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also den Tieren, von denen nachgesagt wird, dass sie im Feuer leben könnten. Leibniz ist sich bewusst, dass er hier nur spekuliert, und vielleicht ist diese kuriose Idee mit dem Salamander nur aus einer Laune heraus entstanden und nicht ganz ernst gemeint. Immerhin liegt diesem Einfall eine gewisse erdgeschichtliche Logik zugrunde: der Salamander entspricht der Epoche des Feuers bzw. des Übergangs von Feuer zu Wasser, der Fisch der Epoche des Wassers, die Amphibien stehen für den Übergang zwischen Meer und Land, dann folgen die Landtiere und schließlich die Tiere der Lüfte. Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, dass Leibniz hier unmissverständlich mit dem Gedanken eines Artenwandels oder einer Evolution der Lebensformen spielt. Und damit den Rahmen des damals Sagbaren und Erlaubten weit überschreitet. Während seiner Harzreisen war Leibniz im Herbst 1685 auch in die Scharzfelder Höhle und in die Rübeländer Baumannshöhle hinabgestiegen und wusste, dass sich dort Salamander und andere Amphibien aufhalten konnten. In der Höhle bei Schatzfeld sah Leibniz auch Knochen von Tieren, die er keiner Art zuordnen konnte. Möglicherweise existierten solche Arten in bislang unbekannten Gegenden oder Meeren der Erde. Reste von Hörnern des sagenhaften Einhorns könnten von Fischen des südlichen Ozeans stammen, vermutete Leibniz. Einer Art Landtier ähnlich seien hingegen die Knochenreste, die 1663 auf dem Zeunickenberg bei Quedlinburg gefundenen und ebenfalls dem Einhorn zugordnet wurden. Trotz seiner deutlichen Skepsis gegenüber dieser Interpretation hielt Leibniz es für angebracht, eine Abbildung zum Quedlinburger Einhorn seiner Protogaea beizufügen. Auch wenn sich später einmal manche Fossilien oder Knochenfunde bislang noch nicht identifizierten Tierarten zuordnen lassen, hält Leibniz es für sehr wahrscheinlich, dass sich im Laufe der Veränderungen der natürlichen Umwelt die Arten der Lebewesen sehr gewandelt hätten, und erwähnt in diesem Zusammenhang die Ammonshörner oder Ammoniten, von denen man heute weiß, dass sie Fossilien einer inzwischen ausgestorbenen Teilgruppe der Kopffüßer sind. Zu entwicklungsbiologischen Fragen hat sich Leibniz ebenfalls in anderen Kontexten geäußert. So spricht er beispielsweise davon, dass heutige Elefanten aus einst im Wasser lebenden walrossähnlichen Großsäugern hervorgegangen sein könnten. 17 Manche heutigen Leibniz-Forscher sind daher der Meinung, dass Leibniz nur die Auffassung eines bloß arteninternen Wandels vertreten habe: d.h. nur Ausbildung von Unterarten oder Änderung rein äußerlicher Merkmale, z.B. maritimer Elefant wird terrestrischer Elefant. Das im Brief an Bourguet Geäußerte geht jedoch deutlich darüber hinaus. Der Wandel der Arten scheint für Leibniz kein Tabu gewesen zu sein, auch wenn es letztlich unmöglich ist, die moderne Unterscheidung zwischen arteninternen und im heutigen Sinne „echten“ Artenwandel auf Leibniz zurück zu projizieren. Auch aus einem anderen Grund lässt sich Leibniz nur bedingt als Vorläufer der Idee der Artenevolution von Charles Darwin verstehen. Nicht Kontingenz und Selektion sind bei Leibniz die Agenten der Artenentwicklung, sondern ein göttlicher 17 Leibniz an Wilhelm Ernst Tentzel, 8. (18.) Juni 1696, in: A I, 12 N. 413, S. 638–640; Leibniz an Wilhelm Ernst Tentzel, 17. (27.) Juni 1696, ebd., N. 424, S. 661–662, und Leibniz an Wilhelm Ernst Tentzel, 10. (20.) Juli 1696, ebd., N. 455, S. 707–708.
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Entwicklungsplan, der die Entfaltung der Lebensformen gemäß sich verändernder Umweltbedingungen vorherbestimmt habe. Leibniz’ Evolution steuert nicht ein blinder Zufall, sondern ein göttliches Telos. Und ein solches naturteleologisches Verständnis findet sich im Übrigen auch noch beim jungen Darwin. Allgemeine Evolutionstheorie Obgleich Leibniz keine Evolutionstheorie im modernen Sinne vertreten hatte, lassen sich bei ihm Gedanken finden, die auch für heutige biologische Diskussionen interessant sein dürften. Wenn unterschiedliche Lebensformen und Arten auseinander hervorgegangen sind, so stellt sich die Frage, wie man sich eine solche Entwicklung vorzustellen hat. „Der Tod kann den Salamander wieder hervorbringen“, lesen wir im Mai-1714-Brief an Bourguet; dann heißt es weiter, „und vielleicht in einer darüber hinausgehenden Feinheit“. 18 Diese kryptischen Worte werden klarer, wenn wir uns Leibniz’ eigentümliche Theorie des Lebens und der Fortpflanzung vor Augen führen: Leibniz war davon überzeugt, dass es keine völlige Neuerzeugung und keinen in der Trennung der Seele vom Körper bestehenden Tod gebe. Was Zeugung genannt wird, ist in Wahrheit Auswicklung und Wachstum, was wir Tod nennen, Einfaltung und Verminderung. Organischer Körper und Seelen seien also schon vor der Empfängnis vorhanden gewesen. Ob diese Präformation eher im männlichen Samen zu finden ist, wie es Antoni van Leeuwenhoek behauptete, oder im weiblichen Ei, wovon Antonio Vallisneri ausging, war für Leibniz, der mit beiden Gelehrten zu diesem Problem korrespondierte, eine noch offene Frage. Wenn auf solche Weise Lebewesen geformt werden, so hält Leibniz es für möglich, dass einige Individuen durch eine Umformung auf eine höhere Stufe gehoben werden könnten. Bourguet, der daraus folgert, jeder Organismus werde eine solche Transformation vom Samen über das Tier bis hin zu einem vernunftbegabten Wesen durchlaufen, hält Leibniz entgegen, dass dies keineswegs notwendig sei. Wie aber genau solche Umbildungen erfolgten, die zur Entstehung neuer Lebensformen und Arten führten, das war für Leibniz ein noch ungeklärtes Problem. Leibniz blieb bei solchen Überlegungen jedoch nicht stehen. Auf der Suche nach einem allgemeinen Substanzbegriff, der anorganische wie organische Materie gleichermaßen umfasste, ging er davon aus, dass es selbst-organisierte und sich selbst stabilisierende systemische Einheiten geben muss, die durch Aufnahme von Energie aus der Umwelt in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren. Damit aber kommt Leibniz modernen Ansätzen heutiger Biologen nahe, die autopoietische und selbst-replikative Systeme als Voraussetzung nennen, damit Prozesse wie die der natürlichen Variation und Selektion überhaupt erst in Gang gesetzt werden könnten. Freilich muss dabei in Rechnung gestellt werden, dass Leibniz die Produkte solcher
18 „La mort peut ramener aux salamandres et peut être à une subtilité au delà.“ Leibniz an Bourguet, [Wien, Mai 1714] (wie Anm. 9).
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Prozesse nicht auf eine blinde Evolution, sondern auf einen weisen Schöpfer zurückführte. Wenn moderne Biologen Ausschau halten nach einem Modell, das in der Lage ist, nach den Gemeinsamkeiten abiotischer bzw. chemischer und biologischer Vorgänge zu suchen, um eine Allgemeine Evolutionstheorie zu formulieren, die unbelebte und belebte Substanzen einschließt, dann lassen sich hierfür bereits in der Philosophie von Leibniz anregende Anhaltspunkte dazu finden. 19 Die Evolution der menschlichen Vernunft Wie aber lässt sich der Mensch in dieser Entwicklungsgeschichte verorten? Ist er die Krone einer – sukzessiv sich entfaltenden – Schöpfung, oder nur das Durchgangsstadium einer nachmenschlichen Vernunft? Zumindest indirekt gibt Leibniz hierauf eine Antwort in einem kurzen Textfragment, das unter dem Titel Apokatastasis panton (allgemeine Wiederherstellung) bekannt wurde und von Leibniz 1715, also ein Jahr vor seinem Tod, verfasst worden ist. 20 Darin setzt sich Leibniz mit den Vorstellungen einer kreislaufförmigen Wiederholung der Geschichte auseinander, die ja – wir erinnern uns – eine Alternative zum Modell einer endlich und linear verlaufenden Zeit darstellte. Unter den Zeitgenossen von Leibniz hielt beispielsweise Johann Wilhelm Petersen eine Wiederkehr des Gleichen für notwendig, um die Höllenstrafen überwinden und den Sturz Satans als gefallener Engel wieder aufheben zu können. Leibniz stand mit dem ehemaligen Superintendenten in Lüneburg, der wegen seiner millenaristischen Ansichten 1692 seines Amtes enthoben worden war, in intensiver Verbindung und bemühte sich um die Veröffentlichung von Petersens Gedicht Uranias, wobei er selbst in dieses über 1.400 Verse umfassende Gedicht redaktionell eingriff. 21 Im Unterschied zu Petersen glaubte Leibniz nicht an eine Wiederkunft der Geschichte und versuchte diese Behauptung in seinem Apokatastasis-Text zu widerlegen. In seinem Argumentationsgang lässt er sich aber zunächst hypothetisch darauf ein. Unter der Annahme, dass alles zur Wirklichkeit Bestimmte irgendwann einmal geschehen sein werde und zugleich alles darüber geschrieben worden sei, 19 Siehe Richard T. W. Arthur: Leibniz, organic matter and astrobiology, in: Lloyd Strickland u.a. (Hg.): Tercentenary essays on the philosophy and science of Leibniz, Cham 2017, S. 81–107. Zur allgemeinen Evolutionstheorie siehe auch Addy Pross: Toward a general theory of evolution: extending Darwinian theory to inanimate matter, in: Journal of systems chemistry 2/1, 2011, S. 1–14. 20 Gottfried Wilhelm Leibniz: Geschichte als Wiederkehr des Gleichen? Das Apokatastasis-Fragment (1715), in: Babin / van den Heuvel, Leibniz, 2004, S. 550–561, mit weiteren Hinweisen zu Überlieferung und Druckgeschichte. 21 Leibniz’ Korrekturen der Uranias sind größtenteils verloren: GWLB, LH XXXIX, 18, Bl. 39– 53, davon Bl. 41–53 Verlust (laut Arbeitskatalog der Leibniz-Edition (Ritterkatalog) vermisst seit 1945). Vier Jahre später erschien das opulente Gedichtwerk: Johann Wilhelm Petersen: Uranias qua opera Dei magna, Frankfurt/M. / Leipzig 1720. Stichproben zeigen, dass Leibniz’ Korrekturen aufgenommen wurden, ohne dass dies angegeben ist, Leibniz also zumindest für gewisse Abschnitte als apokrypher Co-Autor bezeichnet werden könnte.
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wäre die Wirklichkeit ausgeschöpft und müsste die Geschichte tatsächlich wieder von vorne beginnen. Leibniz pointiert diese Anschauung, indem er sich vorstellt, wie er selbst wiederkehrt als Gelehrter, in Hannover in der Nähe der Leine lebend, mit der Abfassung der Welfengeschichte beschäftigt und Briefe an seine Freunde in aller Welt schreibend. 22 Um die Wiederholbarkeit von Geschichte bis in die Handlungen einzelner Personen hinein zu veranschaulichen, entwickelt Leibniz ein kombinatorisches Gedankenexperiment, woraus sich ergibt, dass aus einer endlichen Anzahl von Buchstaben, die beliebig miteinander kombiniert jedes Jahr einer Menschheitsgeschichte aufzeichneten, eine ebenfalls endliche Zahl möglicher Bücher mit Geschichten resultieren würde, die sich im Rahmen eines entsprechend großen Zeithorizontes irgendwann wiederholen müssten. Auch die Bibliothek, die solche Bücher beherbergte, wäre gigantischen Ausmaßes, letztlich jedoch aber endlicher Ausdehnung.23 Leibniz aber verwirft nun diese Vorstellung und verweist auf die petites perceptions, also letztlich auf die singulären Zustände aller einfachen Substanzen, in denen sich alles im Universum wechselseitig spiegelt. Die kleinen Perzeptionen würden dazu führen, dass sich Geschichte unmerklich weiterentwickeln könne; zumeist geschieht dies spiralförmig, wir treten manchmal einen Schritt zurück, um dann umso größer einen Sprung nach vorne zu machen. Und in diese Fortschrittstheorie ist auch das Erkenntnisvermögen des Menschen mit eingebunden. Extrem lange Zeiträume zu Grunde gelegt, könnte sich diese Vermögen eines Tages so weiterentwickelt haben, dass alles, was in der – vorher von Leibniz vorgestellten – Universalbibliothek versammelt ist, nunmehr als knapper Formelsatz auf einem einzigen Blatt Papier Platz finden kann. Eine kondensierte Weltformel, aus der zugleich alles zukünftige Wissen ableitbar wäre. Vorausgesetzt wird bei dieser Annahme ein kognitiver Apparat, der sich über die Beschaffenheit der gegenwärtigen menschlichen Vernunft hinaus innerhalb einer sehr langen Zeitspanne weiterentwickelt hat. Wie genau dann diese weiterentwickelte Vernunft aussehen wird, muss der heutigen Verstandeskraft jedoch verborgen bleiben – Leibniz dämpft so alle Hoffnungen auf allzu schnelle Antizipationen des heute Unvorstellbaren. Mit dieser Hypothese einer nachhumanen Ratio – die in der leibnizschen Metaphysik natürlich immer noch nicht mit der göttlichen konvergiert – wird der Mensch konsequent in das teleologische Evolutionsnarrativ mit hineingenommen. Der Mensch wird eingerückt in die lange Kette der Transformationen und Umwandlungen: Salamander, Amphibien, Landtiere und Vögel. – Menschliche Vernunft sowie posthumaner Intellekt. Leibniz’ Evolution ist eine präformistische und Präformation Ausdruck prästabilierter Harmonie. Sie ist hierarchisch und göttlich fundiert. Leibniz’ Vorstellung ist vage und spekulativ, aber von der Grundidee her kaum weniger dynamisch als die darwinsche Evolution. 22 Leibniz: Apokatastasis-Fragment (wie Anm. 20), S. 556. 23 Siehe auch die Interpretationen von Hans Blumenberg: Eine imaginäre Universalbibliothek, in: Akzente 28, 1981, S. 27–40, und Michel Fichant: Ewige Wiederkehr oder unendlicher Fortschritt: Die Apokatastasisfrage bei Leibniz, in: Studia Leibnitiana 23/2, 1991, S. 133–150.
LEIBNIZ ON EASTERN RELIGIONS Daniel J. Cook, Migdal G.W. Leibniz’s 1 treatment of the religions of the East 2 is a puzzling one, given his strong interest and positive attitude towards China and Confucianism in later life. 3 Unlike his romance with China and Confucianism, Leibniz’s attitudes towards other East and South Asian religions and civilizations ranged from total ignorance to barely disguised contempt. In the first part of the paper, I will examine the key factors that conditioned his treatment of religions in general, including Christianity. The second section will briefly examine his attitude towards Islam and its believers, grounded in his lack of any genuine knowledge of their religion and theology. The third part will look at his few specific comments on Hinduism, Buddhism and (indirectly) Daoism, followed by a short conclusion. I. A Brief Key to Leibniz’s Treatment of Religion(s) To understand Leibniz’s attitude towards the religions of the East, one has to first examine his treatment of the various Christian denominations and other belief-systems of the West. 4 The key to his approach was an examination of their sacred or classical texts: to understand any religion or belief-systems for Leibniz, one must first and foremost understand its written sources. His reliance on written texts as the means for analyzing and critiquing theological texts meant that he could never appreciate societies that lacked such sources or were unknown to him because they had not been translated into a European language. He consequently neglected and often criticized rituals and ceremonies as superstitions. He concludes the opening paragraph to the Preface of the Theodicy with the lament that “[…] it happens only
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The author wishes to thank Lloyd Strickland for his helpful comments. While etymologically, the terms “Eastern” and “Oriental” are identical, the latter has become associated primarily with the Near East, especially since Edward Said’s use of “Orientalism.” Indeed, in German, the word “Orient” is assumed to be referring to the Levant. For the most recent assessment of Leibniz’s admiration for the thought and polity of China, see Daniel J. Cook: Discourse on the Natural Theology of the Chinese, in: Paul Lodge, Lloyd Strickland (Eds.): Leibniz’s Key Philosophical Writings: A Guide, Oxford 2020, pp. 250–269. I use the term “belief-system” to include those who argue that Buddhism in particular (and various forms of European “Atheism” as Leibniz saw them) should not be termed religions since they did not believe in the traditional forms of theism, had no distinctive rituals and practices and/or did not believe in any supernatural revelation.
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too often that religion is choked in ceremonial, and that the divine light is obscured by the opinions of men.” 5 The gold standard for any belief-system for Leibniz was whether it could be interpreted as having, or being compatible with, a natural/rational theology, discoverable by any rational being using the “light” of reason. Its key tenets were the existence of a monotheistic god and an incorporeal human soul that enjoyed an individual post-mortem existence, allowing for divine reward or punishment. Working for the conversion of all non-Christians, he needed to assume that they were rational enough to accept the doctrines of a natural theology, given his program for their eventual conversion. To rationally persuade them of the supreme truth of Christianity, he invoked the doctrine of propagatio fidei per scientias. Obviously those societies which lacked written texts available in major European languages available to Leibniz, from which such doctrines could be elicited were beyond the pale for Leibniz. He virtually treated them as “barbarians” even if they had an articulated theology. Having elicited these doctrines from the thinkers of ancient Greece 6 and China 7 led to his admiration for these two pagan civilizations. In the case of these pagans, Leibniz focused on the classical texts of several seminal thinkers, dismissing the popular beliefs and customs of the masses as superstitious. Because of the above criteria, Leibniz made a clear distinction between pagans – who are “civilized” and thus capable of rational persuasion (like the Chinese) – and pagans who are not. The latter he termed “barbarians” or “savages”: his favorite example being the “Indians” of the Americas 8 who, having no written texts to express their beliefs, were beyond the pale. Leibniz was obviously influenced by the biases of written accounts by Europeans of such societies, since – while well travelled within Europe – he never ventured beyond it.
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Theodicée; GP VI, p. 25. Theodicy: Essays on the Goodness of God, the Freedom of Man and the Origin of Evil, ed. Austin Farrer, E. M. Huggard, La Salle, IL p. 50. Passages from this translation (including the Preliminary Dissertation [PD]) will be cited by paragraph alone, except for the Preface. See An Unpublished Lecture by Leibniz on the Greeks as Founders of Rational Theology: Its Relation to His ‘Universal Jurisprudence’ (1714), in: The Political Writings of Leibniz, ed. Patrick Riley, 2nd ed., Cambridge 1988, pp. 235–240. The Latin original can be found in idem: Leibniz, Platonism and Judaism: The 1714 Vienna Lecture on ʻThe Greeks as Founders of a Sacred Philosophy,ʼ in: Daniel. J. Cook, Hartmut Rudolph, Christoph Schulte (Eds.): Leibniz und das Judentum, Stuttgart 2008, pp. 109–113. See Leibniz’s Discourse on the Natural Theology of the Chinese, written in the last year of his life. Discours sur la Theologie Naturelle des Chinois, ed. Wenchao Li, Hans Poser, Frankfurt a. M. 2002, pp. 16–112. G. W. Leibniz: Writings on China, ed. Daniel J. Cook, Henry Rosemont, Jr., Chicago, La Salle, IL, pp. 75–138. See Daniel J. Cook: Leibniz on “Advancing toward Greater Culture,” in: Studia Leibnitiana 50 (2020), pp. 1–17. Until the “discovery” and colonization of the Americas, Christians were little concerned with such savages. Even two centuries later, Leibniz was convinced that “the largest and soundest part of the human race” was civilized. See A VI, 6 N. 2, p. 93. G. W. Leibniz: New Essays in Human Understanding, ed. Peter Remnant, Jonathan Bennett, 2nd ed.; Cambridge 1996, p. 93.
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Finally, one has to note his Christian and European hubris with regard to any other religions or cultures. Leibniz viewed non-Christian religions with a viewpoint to their eventual conversion or accommodation to Christianity. He even had a low opinion of Oriental Christianity, attributing their conquest by the Muslims to their decadent state. 9 II. Leibniz on Islam Several remarks are in order concerning the inclusion of Islam among the “Eastern Religions.” One could argue that the other Abrahamic religions – Christianity and Judaism – are also “Eastern” since all three were founded in Asia. While geographically correct, Europeans (and their descendants in the other continents) dissociated Islam from Europe and understood the “Orient”, in Edward Said’s words, as “most rigorously … applying to the Islamic Orient.” 10 Unlike the other “Eastern Religions”, Islam had a “shared history” 11 with Europe. Even in Leibniz’s day, there were numerous Muslims in continental Europe, most of them indigenous and not recent immigrants: nevertheless, Islam has been treated as foreign to Europe and dangerous to its Christian culture. 12 Leibniz equated Christianity with Europe: for him the term “Christian Europe” was a pleonasm. Because of the traditional Christocentric attitude towards Islam as being non-European, it has been included among the “Eastern Religions.” Given Leibniz’s predilection for written sources, it is understandable that he had a distorted view of Islam, especially since there is no evidence he ever read the Koran. 13 He nevertheless dismissed it as full of nonsense (nugae)! 14 His disdain for Islam (personified by the Turks) was also conditioned by the ongoing Ottoman threat to Europe. His claim at this time (1677) that Islam is “[…] a farrago of Jewish, half-Christian and Arabic sources […]”15 is indicative of his ignorance. Even towards the end of his life, he exhibited no knowledge of Islamic theology, accusing some Christian Europeans of being “Averroists” when indeed it has been argued that he misunderstood Averroes’ thought. 16 Given his belittling of ceremonial and ritual elements in a religion, it is not surprising that late in life he made comments
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Daniel J. Cook: Leibniz and Orientalism, in: Studia Leibnitiana 40 (2008), pp. 168–190, pp. 184–185. Edward W. Said: Orientalism, New York 1979, pp. 74–75. Justin H. E. Smith: Nature, Human Nature, & Human Difference: Race in Early Modern Philosophy, Princeton 2015, p. 151. Cf. Pope Benedict’s citing remarks about Islam being “only evil and inhuman.” Regensburg 12 September 2006. On Leibniz’s efforts to obtain a translation of the Koran, see Cook: Leibniz and Orientalism (cf. n. 9), pp. 178–180. A IV, 1 N. 15, p. 335. A IV, 6 N. 111, p. 679. Cook: Leibniz and Orientalism (cf. n. 9), pp. 175.
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such as the idea that Islam “[…] is a kind of deism joined to the belief in some facts […]”17 and that Islam is “fairly similar” to Judaism. 18 Nevertheless Leibniz’s general view of Islam is more complex. As the Turkish threat to Central Europe diminished, his comments became more positive. In 1697, for example, he admits that the Arabs “have had philosophers whose beliefs on the Divine have been as elevated as those of the most sublime Christian philosophers.” 19 Concentrating now primarily on the theology of Islam (rather than earlier the beastly nature of the Turks), 20 he notes in the Preface to the Theodicy, that Mahomet showed no divergence from the great dogmas of natural theology: his followers spread them abroad even among the most remote races of Asia and Africa, whither Christianity had not been carried; and they abolished in many countries heathen superstitions which were contrary to the true doctrine of the unity of God and the immortality of the soul. 21
His occasional compliments of Islam were often made as a general foil to the backsliding (of superstition and idolatry) among Christian believers. Thus this remarkable passage, betraying once again his ignorance of the other two Abrahamic faiths, [W]hile we see Jewish and Muslim religions continue, for so many ages, to maintain in a sufficient degree the original constitution of their founders, yet, out of the sixteen centuries of Christianity, there are scarcely one or two during which the true faith was in any degree preserved among Christians. 22
III. Leibniz on the Other Asian Religions In examining his views of Hinduism, Buddhism (and Daoism), it is important to distinguish two issues: first, what did Leibniz know or could have known about their respective belief-system and second, what was his specific agenda – whether theological or political – when mentioning them. While he had at least some indirect knowledge of Islam and occasionally writes about it and a few of its well-known practitioners, there are no discussions of any of these other religions in his writings and he cites no sources for his almost non-existent knowledge of them, biased or otherwise. One has to rely on his passing remarks and anecdotal comments in order to speculate as to how and why he consistently viewed them so disdainfully. Given his total ignorance of any of their classical or holy texts, he was completely reliant on secondary sources, written by Christian Europeans. It is important to note that Leibniz’s distinction between pagans and barbarians noted above is apparently ignored with respect to these religions, choosing to virtually lump them together with
17 Dutens V, p. 479. Leibniz on God and Religion: A Reader, ed. Lloyd Strickland, London 2016, p. 338. 18 Dutens V, p. 480. Leibniz on God and Religion (cf. n. 17), p. 339. 19 A II, 3 N. 100, p. 274. 20 A IV, 1 N. 15, p. 310. 21 Theodicée; GP VI, p. 27. Theodicy (cf. n. 5), p. 51. 22 A VI, 4 N. 420, p. 2406. A System of Theology, ed. Charles W. Russell, London 1850, p. 78.
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the “barbarians,” since they were apparently not amenable to the rational thinking necessary to engage them. A. Hinduism 23: with respect to this ancient religious tradition, there is solid reason to believe that Leibniz’s main (only?) contemporary source for information came from François Bernier, a physician who served the ruling Moghul emperor in northern India, who conveyed a negative view of the non-Muslims (i.e., mostly Hindus). 24 As Justin Smith notes From an early modern European perspective, India was a place populated by strange heathens, yet ruled by close cousins. The Muslim elite was part of the same world as were the Christian Europeans; even if there was a long history of conflict between Christians and Muslims, it was still a shared history. The Hindus by contrast fell altogether outside of that history, and Bernier treated them, accordingly, as entirely foreign. 25
Leibniz had a grossly distorted picture of Hinduism also from classical sources that spoke of the ancient Gymnosophists (Bragmanni). Leibniz occasionally mentions “the Gymnosophists of the ancient Indians” 26 but sees them as “ancient philosophers” who displayed the same “wonderful vigour of body and mind” as the “Indians” of the New World. He then segues back to East India, seeing the practice of suttee as a further example of the willingness of such “savages” to endure physical pain. He even suggestively equates these Gymnosophists with the “ancient Assassins”. 27 Apparently, Leibniz had no use for the treatment of the Gymnosophists or Brahmans as knowledgeable pagans as earlier Christian sources were wont to do.28 In 1689, Leibniz claims that Christian Europe’s contact with India was for trade in “herbs and various spices, but not in the sciences.” 29 Such a dismissal meant that his strategy of propagatio fides per scientias was not applicable to the Hindus. When asked by a correspondent in the last year of his life why he still concentrates his missionary zeal on China, given all the attendant difficulties, and not on south Asia, he answered that “it was easier to reason with those having the capacity for 23 There were quite a few Jesuit missionaries who had written on Hinduism before 1700. See Joan-Pau Rubiès: From Antiquarianism to Philosophical History: India, China, and the World History of Religion in European Thought, in: Peter N. Miller, François Louis (Eds.): Antiquarianism and Intellectual Life in Europe and China, 1500-1800, Ann Arbor 2012, pp. 313–367, p. 339 and notes. 24 For a detailed discussion on Bernier, see Smith: Nature, Human Nature, & Human Difference (cf. n. 11), pp. 143–159. Leibniz most likely read Bernier in 1684 and absorbed his negative views of Hinduism in large part from him (ibid., pp. 156–157). 25 Ibid., p. 151. 26 Theodicée § 257; GP VI, p. 269. Theodicy (cf. n. 5), § 257. 27 Theodicée §§ 256–257; GP VI, p. 268–269. Theodicy (cf. n. 5), §§ 256–257. 28 On the positive views of these Indian wise men in earlier times, see John Marenbon: Pagans and Philosophers: The Problem of Paganism from Augustine to Leibniz, Princeton 2015, pp. 123–124. 29 “Commercia hactenus cum Indis habuimus aromatum, et variarum Specierum, nondum scientiarum.” (A III, 4 N. 212, p. 409) The English East India Company was founded in 1600 explicitly for trade in spices. Their name demonstrates the fact that during Leibniz’s time, much of the New World was called West India. The conflation of the two “Indias” can be seen in the distinction between the West Indies and the East Indies.
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rational thought and philosophy than those from Malabar where crude ignorance reigns.” 30 Thus, even though there were extensive written sources, Leibniz sees the Hindus as virtual barbarians, not worthy of any serious intellectual consideration. In many ways, his attitude towards South Asia and Hinduism is surprising, given that geographically it was closer to Europe and had a history of Jesuit accommodation with Roberto de Nobili (1577–1656) not unlike Matteo Ricci's in China.31 Yet Leibniz makes no mention of de Nobili. The main Catholic mission in Goa or the other missions in India are usually mentioned by him only as stopping-off points on the way to the Far East. India was not only closer geographically to Europe; it was also much more open than China to the Europeans since they did not have to deal with vagaries of a strong central government like China and Japan. Was it ignorance, or lack or loss of interest that explained Leibniz's dismissive view of Hinduism? While there were assorted publications reporting on and analyzing Hinduism (mostly by Jesuits) available to Leibniz, 32 his ignorance of India was in large part due to the fact that, for various reasons, “[…] the Jesuits published so little about India compared with other areas." 33 B. Buddhism and Daoism: 34 Leibniz consistently attacked Buddhism (which originated in South Asia); though his ignorance was total, his remarks about this religion were contemptuous if not vitriolic, unlike his dismissive remarks about Hinduism. In his dislike for both Buddhism and Daoism, Leibniz simply followed the prejudices of the Jesuits in China, since the time of Matteo Ricci. For them Confucianism was seen primarily as a body of purely ethical and social doctrines that could be harmonized with Christian theology. On the other hand, both Buddhism and Daoism grounded their practices in theological and spiritual terms that were antithetical to Christian doctrine: Buddhism with its belief in the denial of
30 “[…] et apud homines philosophos et meditationum capaces facilius aliquid rationibus efficias quam apud Malabares ubi crassa ignorantia regnat.” http://w.w.w.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/1715 Reihe I. pdf. Cited from Markus Friedrich: Gottfried Wilhelm Leibniz und die protestantische Diskussion über Heidenmission, in: Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li, (Eds.): Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit, Göttingen 2015, pp. 641–677, p. 669. 31 “At the heart of Roberto de Nobili’s search for a monotheistic element within Hinduism was a policy of accommodation similar to Ricci’s […] The parallels with the Chinese case are striking.” Rubiés: From Antiquarianism to Philosophical History (cf. n. 23), p. 329. 32 For example, Fr. Jean Bouchet’s edition of Lettres édifiantes et curieuses, the first of which were available in Europe about 1711. On Bouchet, see Francis X. Clooney: Fr. Bouchet’s India: An 18th Century Jesuit’s Encounter with Hinduism, Chennai 2005. 33 Rubiés: From Antiquarianism to Philosophical History (cf. n. 23), p. 360, n. 55. How the Jesuit experiences in China and India were respectively publicized (or muted) in Europe accounts substantially for the constrasting attitudes towards these two civilizations by Leibniz and others. See ibid., p. 333, 339–340. 34 In his attacks on Buddhism, Leibniz often simply appended Daoism without demonstrating any genuine knowledge of either of them, let alone distinguishing between them. Unlike Buddhism, Daoism originated in China.
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individual immortality and Daoism with its “theology” of nature were poor candidates for accommodation to Christian doctrine. 35 In his Preface to the Novissima Sinica (“The Latest News from China”) from 1697, his contempt for Buddhism is striking. He mentions the “accursed idol Foe from the foremost island in the Indies.” “Fo” is the transliterated word for Buddha in Chinese. 36 In his final work, the Discourse on the Natural Theology of the Chinese (1715–1716), he alludes to Buddhism being responsible for distorting the ancient Confucian tradition (which he saw as compatible with his notion of a natural theology), though he often mistakenly confused or conflated the two belief-systems. 37 When a learned Chinese associated Buddhist and Daoist interpretations of the accepted Chinese terms for God, Leibniz said such pronouncements were confused and he relegated them to “superficial utterances”. 38 To justify his efforts at accommodating Confucianism, he needed a scapegoat responsible for the distortions of this ancient tradition and found it in Buddhism and Daoism. These religions became the bêtes noires 39 for his arguments as to how the original Chinese sources were perverted. Those literati in China who were supposedly responsible for corrupting the original Confucianism were often termed “Hypocrites” and “freethinkers” because they held “heterodox” and “atheistic” views. The irony in all this is that it was the “modern period of Neo-Confucianism” that was critical of Buddhism, which had been introduced to China over a millennium earlier. 40 In the Preface to his later Theodicy (and elsewhere as well), 41 Leibniz lumps the Buddhists together with the Italian Averroists (and Spinoza as well) who denied the individual immortality of the human soul. The Averroists, according to him, at least believed in the existence of a soul (though it loses individual identity when it dies, becoming part of a universal soul or God), while the Buddhists were nihilists
35 G. W. Leibniz: Briefe über China (1694-1716), ed. Rita Widmaier, Malte-Ludolf Babin, Hamburg 2017, p. cxii. 36 A IV, 6 N. 61, p. 403. Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 54. 37 “Ironically, the view which Leibniz applauds here […] comes from Buddhism, not Confucianism.” Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 130, n. 166. Leibniz, like the sources for his second-hand knowledge, often did the same. See ibid., pp. 26–30. For a recent eye-opening discussion on the failure of Leibniz (and his sources) to disentangle “Confucianism” and “NeoConfucianism,” see Thierry Meynard SJ: Leibniz as proponent of Neo-Confucianism in Europe, in: Wenchao Li (Hg.): Leibniz and the European Encounter with China: 300 Years of Discours sur la théologie naturelle des Chinois, Stuttgart 2017, pp. 179–195. 38 Discours sur la Theologie Naturelle des Chinois (cf. n. 7), p. 67. Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 108. 39 Buddhism played the same negative role for de Nobili as it did for Ricci and Leibniz. Rubiés: From Antiquarianism to Philosophical History (cf. n. 23), p. 330. “Like Nobili, Ricci sought to present Christianity as a restoration of the genuine native ʻrational’ tradition.” Ibid., p. 358, n. 45. Buddhism was considered atheistic and idolatrous by virtually all Church authorities at the time. 40 Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 19. 41 Dutens II, 1, p. 225. Discours sur la Theologie Naturelle des Chinois (cf. n. 7), p. 93. Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 127.
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in this regard, since they believed in the total annihilation of one’s individual identity and denied the existence of a soul in the Christian sense. Talking of the “Quietism of Foë” Buddha, Leibniz says: After having preached his religion for forty years, when he felt death approaching, he declared to his disciples that he had hidden the truth from them under the veil of metaphors, and that all reduced itself of Nothingness, which he said was the first source of all things. That was still worse, so it would seem, than the opinions of the Averroists. 42
David Mungello has argued that “[…] the highly developed spiritual cultivation of classical Confucianism and Neo-Confucianism largely eluded [Leibniz].” 43 Selfcultivation was a central thread for both earlier and later Confucianism and assumed a greater importance in the latter due to Buddhist influence. 44 However, it was not so much a matter of Leibniz being unaware of such behavior, but of his positive disdain for it, given his rationalistic predilections for treating any religion. Such a “quietism” would totally undermine not only a natural (i.e., rational) theology, but Leibniz’s whole philosophical system as well. Spiritual cultivation with a view to ultimately extinguishing one’s individual identity, rather than eluding Leibniz, contributed to his negative view of Buddhism, since he was a fierce critic of what he saw as “Quietism” in Europe throughout his life. 45 Here is just one of his diatribes against it: Hence you may reject the quietists, the false mystics, … Blessedness of the soul does indeed consist in union with God, but we must not think that the soul is absorbed in God, having lost its individuality and activity, which alone constitute its distinct substance, for this would be an evil enthusiasm …, an undesirable deification. 46
In any of its forms, quietism was a “red flag” for Leibniz and a further reason for him to disdain Buddhism. Conclusion In effect, Leibniz ignored, or ruled out as uncultivated, any peoples that in his mind were not open to the possibility of conversion to Christianity through an appeal to reason and science. He viewed the indigenous inhabitants of the Americas as well as most of Asia as being “barbarians” incapable of being dealt with rationally. Indeed, […] “most of them are condemned most of the time […] by a great majority of mankind,” referring to “the Orientals, the Greeks and the Romans, the Bible and the Koran” as “[t]he largest and soundest part of the human race […]” 47 Except for 42 43 44 45
Theodicée (PD) § 10; GP VI, p. 55–56. Theodicy (cf. n. 5), (PD) § 10. David Mungello: Leibniz and Confucianism: The Search for Accord. Honolulu 1977, p. 113. Leibniz: Writings on China (cf. n. 7), p. 27. For an extended defense of “the doctrine of individual souls,” see his Reflection on the Doctrine of a Single Universal Spirit. G VI 529-538; G.W. Leibniz: Philosophical Papers and Letters, ed. Leroy Loemker, Dordrecht, Boston 1969, pp. 554–560. 46 Dutens II, 1, p. 225. Leibniz: Philosophical Papers and Letters (cf. n. 45), p. 594. 47 Leibniz: New Essays in Human Understanding (cf. n. 8), p. 93.
Leibniz on Eastern Religions
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the Jews, Muslims and Chinese, the remainder should look forward to being “cultivated” by Christian Europe. They would be serving God’s mission in propagating reason and hopefully the true religion to the rest of the world. As the crown of the universal beauty and perfection of the works of God, we must also recognize that the entire universe is involved in a perpetual and most free progress, so that it is always advancing toward greater culture. Thus a great part of our earth has now received cultivation and will receive it more and more. 48 Leibniz’s mind-set saw the coming centuries as involving the necessary contact and probable conquest of those not open to rational discourse, with a view to educating and “civilizing” them. Leibniz condoned European expansionism as a transient stage in God’s plan for the “perfection” of mankind, but unfortunately it became a lengthy, violent one that survives in many ways to this day. All things considered, I believe that the world continuously increases in perfection […] And although in God there is no pleasure, there is still in him something in him something analogous to pleasure, so that he rejoices in the continuous advance of his plans. 49
48 GP VII, p. 308. Leibniz: Philosophical Papers and Letters (cf. n. 45), pp. 490-491. 49 A VI, 4 N. 322, p. 1642. The Shorter Leibniz Texts, ed. Lloyd Strickland, London 2006, pp. 195–196.
DAS LÄNGENGRADPROBLEM UND ANDERE FRAGEN Leibniz und der aus China zurückkehrende Augustiner Nicola Agostino Cima* Rita Widmaier, Essen „Le bon père“ – Nahezu zwei Jahre waren vergangen, seit Leibniz zuletzt von den Jesuitenpatres Nachricht aus China erhalten hatte. 1 So lagen phantastische Pläne und zahlreiche unbeantwortete Fragen noch in der Luft. Da traf aus Dänemark die Nachricht ein, dass „le Pere 2 Nicolò Augustino Cima“ von Trankebar kommend auf einem dänischen Schiff aus China zurückgekehrt sei, „où il a été onze ans et où il a
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Für die Bereitstellung aller im Folgenden zitierten Briefe aus dem Jahr 1707, die zur Zeit für A I, 27 bearbeitet werden, insbesondere des Großteils der Leibniz-Cima-Korrespondenz, danke ich sehr herzlich Katja Reetz und Malte-Ludolf Babin vom Leibniz-Archiv Hannover. ‒ Im Folgenden zitiere ich abgekürzt: DBI = Dizionario Biografico degli Italiani. Roma 1960ff. − Dehergne: Répertoire = Joseph Dehergne: Répertoire des jésuites de Chine de 1552 à 1800. Roma 1973. ‒ Froger: Relation = Franҫois Froger: Relation du premier voyage des Franҫois à la Chine fait en 1698, 1699 et 1700 sur le vaisseau lʼAmphitrite, hg. von Ernst Arthur Voretzsch, Leipzig 1926. ‒ ODNB = Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004ff. ‒ SF V = Sinica Franciscana Vol. V: Relationes et Epistolas Illmi D. Fr. Bernardini Della Chiesa O.F.M. collegerunt et ad fidem codicum redegerunt et adnotaverunt PP. Anastasius van den Wyngaert et Georgius Mensaert O.F.M. Romae 1954. ‒ SF VI = Sinica Franciscana Vol. VI. P. 1.2.: Relationes et Epistolas primorum fratrum minorum Italorum in Sinis (saeculis XVII et XVIII) collegit et ad fidem codicum redegit et adnotavit P. Georgius Mensaert O.F.M. […]. Romae 1961. ‒ Smith: Relatione = Nicola Agostin Cima: Relatione distinta delli Regni di Siam, China, Tunchino, e Cocincina, edited and translated by Stefan Halikowski Smith, in: Stefan Smith [Hg.]: Two Missionary Accounts of Southeast Asia in the Late Seventeenth Century. A Translation and Critical Edition of Guy Tachard’s Relation de Voyage aux Indes (1690–99) and Nicola Cima’s Relatione Distinta delli Regni di Siam, China, Tunchino, e Cocincina, Amsterdam 2019, S. 181–224. ‒ Surdich: Fonti = Francesco Surdich: Fonti sulla penetrazione europea in Asia. Genova 1979. ‒ Widmaier: Briefwechsel = G. W. Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714). Hg. von Rita Widmaier, übersetzt von Malte-Ludolf Babin. Hamburg 2006. ‒ Widmaier/Babin: Briefe über China = G. W. Leibniz: Briefe über China (1694–1716). Die Korrespondenz mit Barthelemy des Bosses S.J. und anderen Mitgliedern des Ordens. Hg. und kommentiert von Rita Widmaier und Malte-Ludolf Babin. Hamburg 2017. Jean de Fontaney S.J. war 1704 aus China nach Europa zurückgekehrt. Vgl. seinen letzten Brief an Leibniz vom 10. September 1705 aus Paris, in: Widmaier: Briefwechsel, Nr. 60, S. 506– 515. Infolge des chinesischen Ritenstreits kam es zum Abbruch der Korrespondenz zwischen Leibniz und den Jesuitenpatres, s. dazu ebd., S. XIII–XL. Cima selbst hat seine Briefe und Schriften stets mit „Frater“ (Fr.), nicht mit „Pater“ (P.) unterzeichnet, wie er höflicherweise bei seiner Reise durch Deutschland genannt und vorgestellt wurde.
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tatté le poux pendant troi[s] ans à l’Empereur de la Chine“. 3 Der Korrespondent Friedrich von Walter, Rat Friedrichs IV. von Dänemark, wusste weiter zu berichten, dass der aus Rimini stammende Pater sich seit drei Wochen im Lande aufhalte, ein Augustiner, der in Asien die Funktion eines apostolischen Missionars innehatte. Da Cima vom dänischen König und am ganzen Hof wegen seiner Verdienste („pour son merite“) sehr geschätzt würde, sei es nun an Leibniz, alle Anstalten zu treffen, damit dieser Religiose von den kurfürstlichen Hoheiten in Hannover auf gleiche Weise gnädig empfangen werde. Wären diese doch vielleicht sehr froh, „de s’entretenir avec un homme aussy rare comme luy“, glaubt von Walter aus sicherer Einschätzung des Hoflebens zu wissen; und Leibniz als Freund der Jesuiten und deren Parteigänger im chinesischen Ritenstreit 4 würde wohl nichts dagegen haben, in dieser Angelegenheit einmal die andere Seite zu hören, denn der „gute Pater“ „n’est pas un bon Jesuite“. Tatsächlich wäre von Walter „trop heureux“, wie es am Schluss seines Briefes heißt, wenn er bei dieser Unterhaltung anwesend sein könnte. War von Walter einfach nur neugierig, wie Leibniz diesen sonderbaren Augustiner aufnehmen würde, der behauptete, das jahrhundertealte Meridianproblem gelöst zu haben, nämlich eine genaue Methode zur Orientierung der Seefahrer auf offenem Meer vorlegen zu können, mit deren Hilfe Ziel- und Heimathafen sicher erreicht würden? Oder hoffte er in erster Linie, in diesem Gespräch neben dem Neuesten aus China auch Genaueres über diese rätselhafte Erfindung zu erfahren? Nur einmal, für wenige Stunden, traf sich Leibniz am 8. Oktober 1707 mit Cima in Hildesheim. 5 Der Niederschlag dieses Gesprächs – von dem sich Leibniz keine 3 4
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Friedrich von Walter an Leibniz, Frederiksborg, 5. Juli 1707 (LBr. 976 Bl. 72–73). Der später sogenannte chinesische Ritenstreit begann gleich nach dem Tod Matteo Riccis S.J. (1552–1610), des Begründers der alten Chinamission (1580–1800). Schon dessen Nachfolger Nicolò Longobardi S.J. (1565–1655) und die aus Japan vertriebenen Ordensbrüder fragten sich, ob die sogenannte Akkommodationsmethode Riccis mit der christlichen Religion und der chinesischen Tradition vereinbar sei. Über das Für und Wider wurden einige Abhandlungen geschrieben, die rund 80 Jahre später auch Leibniz las und die ihn von der Auffassung Riccis überzeugten. Dieser hatte die Riten der Konfuzius- und Ahnenverehrung als zivile und staatstragende Zeremonien betrachtet und in der Metaphysik und Moral der chinesischen Klassiker schon monotheistische und moral-christliche Anklänge erblickt. Als in den 1630er Jahren neben den Jesuiten auch Missionare anderer Orden nach China kamen, hielten die meisten von ihnen die chinesischen Riten und Klassiker für puren Götzendienst, ja Atheismus und forderten die Propagation eines „wahren Christentums“. Im Jahre 1622 wurde in Rom die Sacra Congregatio de Propaganda Fide – das Instrument des Papstes in allen Glaubens- und Missionsfragen ‒ gegründet, und rund vierzig Jahre später entstand in Paris die Société des Missions Étrangères de Paris (MEP), eine Kongregation, die sich explizit dafür einsetzte, dass der Papst im Fernen Osten unabhängig vom Patronat Portugals Bischöfe ernennen und neue Bistümer errichten könne (s. unten Anm. 140–142). Damit war für die überaus erfolgreiche Missionsmethode Riccis in China das Aus programmiert: Im Jahre 1700 verurteilte die Theologische Fakultät der Sorbonne in Paris die Riten; 1707 wurde das (1704 erlassene) Ritenverbot Clemens’ XI. in China veröffentlicht, woraufhin der Kangxi Kaiser (reg. 1661–1722) alle Gegner der Akkommodationsmethode Riccs des Landes verwies. Schon Kangxis Nachfolger Yongzheng (reg. 1723–1735) verbot nach seiner Thronbesteigung das Christentum in ganz China. Vgl. Leibnizʼ Brief an Maturin Veyssière La Croze, 14. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 485), der unmittelbar nach dem Gespräch mit Cima geschrieben wurde.
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Aufzeichnungen gemacht hat – findet sich in seinen Korrespondenzen mit anderen Briefpartnern. Wir werden uns im Folgenden zunächst dem Briefwechsel mit Cima und über Cima zuwenden. Wie verhielt sich Leibniz gegenüber Cima, welche Fragen an den Pater lagen ihm wirklich am Herzen, und welche Antworten bot dieser seinem Publikum? An zweiter Stelle wenden wir uns dem damals weltweit drängenden Längengrad-Problem zu, für das Cima im Besitz einer Lösung zu sein behauptete. Cimas pauschale und oft verblüffende Erklärungen für alle Fragen, insbesondere hinsichtlich seiner spektakulären Erfindung, werfen drittens aber die Frage auf: Was für Spuren hat Cima in Leibniz’ Denken hinterlassen, und schließlich viertens: wer war dieser Augustiner, und wie ist zu bewerten, dass er elf Jahre im Reich der Mitte und davon drei Jahre am Hof zu Peking in allernächster Nähe des Kaisers von China zugebracht haben wollte? Die Frage, wie Cima als Person und wie seine Kenntnisse zu beurteilen sind, werden von Leibniz und seinen Korrespondenten unterschiedlich, aber doch ganz eindeutig beantwortet. I. Cima auf seinem Weg durch Deutschland Nach Hannover – Leibnizʼ Cima-Korrespondenz beginnt im Juli 1707 und endet bereits im März 1708. Über diese Zeit hin verstreut, sind sieben Briefe Cimas an Leibniz und zwei Beischlüsse an Kurfürstin Sophie und Kurfürst Georg Ludwig von Hannover gerichtet, während nur ein Brief von Leibniz, die Antwort auf Cimas erstes Schreiben, erhalten geblieben ist. 6 In diesem Zeitraum ist Cima, von Dänemark über Hamburg kommend, Anfang Oktober 7 in Hannover eingetroffen; von hier aus führte ihn sein Weg über Hildesheim und Wolfenbüttel nach Berlin und weiter über Leipzig, Nürnberg und Augsburg nach München. Von dort reiste Cima nach Regensburg, wo er wegen glücklich eingetretener Umstände seine geplante Weiterreise über Dresden nach Wien aufgab, um auf direktem Weg nach Venedig zu eilen. Dann verliert sich für Leibniz seine Spur bis ins Jahr 1709, aus dem in Venedig zwei Schriften Cimas bezeugt sind: eine zunächst Manuskript gebliebene
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Auf zwei weitere, nicht gefundene Briefe von Leibniz an Cima weist der letzte Brief des Paters (1. Hälfte März 1708) aus Regensburg hin: Der Pater bedankt sich darin für einen Brief von Leibniz, während dieser Brief selbst, links oben, Leibnizʼ Vermerk „resp[ondi]“ trägt. Wann genau Cima in Hannover eintraf, ist unklar. Möglicherweise hielt er sich dort bereits seit Ende September auf und machte am Hof mehrmals seine Aufwartung. Dass er dabei, außer der Kurfürstin Sophie und dem Kurfürsten Georg Ludwig sowie einigen führenden Persönlichkeiten wie dem Premierminister Franz Ernst Freiherr von Platen, dem Abt von Loccum Gerhard Wolter Molanus und dem Kammerherrn Sophies, Giuseppe Carlo de Galli, begegnete, bezeugen seine von Leibniz an diesen Personenkreis auszurichtenden Grüße. Vgl. Cima an Leibniz, 24. Januar 1708 (LBr. 157 Bl. 23–24).
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Denkschrift für die Serenissima 8 und die (gedruckte) Lösung des Meridian-Problems in Form eines Rätsels unter dem Titel Aedipus Sphingi 9, von der Leibniz noch erfahren sollte. In Hildesheim und Wolfenbüttel ‒ Für Leibniz beginnt die Angelegenheit „Cima“ mit einer ungewöhnlichen Nachricht Friedrich von Walters vom 5. Juli 1707. Ungewöhnlich deshalb, weil es im Briefwechsel zwischen diesem, Leibniz und dem „gemeinsamen Freund“ Ole Römer 10 – auf dessen Beitrag Walter nicht warten kann – dieses Mal gilt, schnell zu reagieren. Der Angekündigte ist mittellos und zur Durchführung seiner Reise quer durch Europa dringend auf Empfehlungsschreiben von Leibniz an fürstliche Gönner angewiesen. Aber Leibniz scheint zunächst nichts dergleichen in Angriff genommen zu haben, wenn auch so viel sicher ist, dass er mit einem (nicht gefundenen) Brief auf die Nachricht von Walters geantwortet hat. 11 Doch warum reagierte er erst am 8. Oktober 1707, am Tag der Begegnung in Hildesheim? Wenn nicht alles täuscht, fand das Treffen der beiden Männer in Hildesheim auf Wunsch der Kurfürstin statt 12, die bei dieser Gelegenheit auch ihr eigenes Empfehlungsschreiben für Cima 13 an ihre Enkelin in Berlin durch Leibniz übergeben ließ. 14 Dabei hatte sich Leibniz zu beeilen: Da seine Rückkehr nach Hannover noch am selben Tag erfolgen sollte, 15 blieb für die Unterredung und diplomatische Einschätzung seines Gegenübers wenig Zeit, zumal Leibniz auf der Basis seines ersten
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Surdich: Fonti, S. 137–186, engl. Übersetzung bei Smith: Relatione, S. 181–224. Aedipus Sphingi scilicet Solutio Aenigmatis illius jam propositi. Ostendet tibi mobile, quantum immobile distet […], Venetiis 1709. Vgl. Friedrich von Walter an Leibniz (wie Anm. 3). Vgl. Friedrich Hans von Walter an Leibniz, 13. Dezember 1707 (LBr. 977 Bl. 21–22), wo es heißt, Walter habe einen Brief an seinen Bruder mit Leibniz’ letztem Brief erhalten, und „il y a quelque tems que j’en reҫus une autre pour luy au sujet du P. Cima“. Leibniz war am 14. September 1707, zunächst zusammen mit der Kurfürstin, nach Salzdahlum, dann allein weiter nach Kassel und zurück über Göttingen und Gandersheim gereist und erst am 5. Oktober wieder nach Hannover zurückgekehrt. Dort ließ ihm die Kurfürstin mitteilen, dass sie ihn am nächsten Tag zu sehen wünsche. Vgl. Charles Nicolas Gargan an Leibniz, 5. Oktober 1707 (LBr. 298 Bl. 32). Kurfürstin Sophie an Kronprinzessin Sophie Dorothea, 3. Oktober 1707 (Berlin Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz BPH Rep. 46 T Nr. 18, Vol. I, l, Bl. 156–157). Ersichtlich hatte Cima der Kurfürstin bereits seine Aufwartung gemacht, bevor Leibniz am 5. Oktober nach Hannover zurückkehrte. Cima „m’a dit beaucoup de chose[s] curieuses“, berichtet sie in ihrem Brief. „Je me suis diverti[e] à le question[n]er“, heißt es weiter, habe doch dieser „mission[n]aire Apostolique du Pape en Asie quʼil a casi [quasi] toutte parcourue […] veu aussi de ces hommes qui ont une queue come un singe“. Vgl. dazu Leibnizʼ eigene Empfehlungsschreiben an Johann Casimir Kolbe von Wartenberg, 8. Oktober 1707 (LBr. 157 (Cima) Bl. 3–4) und an Catherine de Sacetot, die Oberhofmeisterin der Kronprinzessin, 15. Oktober 1707 (LBr. 794 Bl. 3). Leibniz an La Croze, 14. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 485–486).
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Eindrucks an jenem Tag selbst noch drei Briefe 16 abfassen wird. Alle vier Empfehlungsschreiben wurden Cima auf seinem Weg nach Berlin an wichtige Persönlichkeiten dort – am Hof und bei der Sozietät – gleich mitgegeben. In diesen Briefen ist Leibnizʼ empathische Seite besonders spürbar, insofern er die Darstellung der prekären Situation Cimas diplomatisch dem jeweiligen Adressaten anpasst. Nicht ohne an die auch sonst geübte „bonté“ des Hofes gegenüber Fremden zu erinnern, zeigt sich Leibniz bemüht, dessen „curiosité“ zu wecken: Er hebt das Wissen Cimas als Arzt des chinesischen Kaisers hervor, das dieser von den – auch an europäischen Höfen hochgeschätzten und begehrten – Heilkräutern Chinas 17 mitbringe, und lenkt das Interesse auf die von Cima erwähnte Möglichkeit, chinesische Bücher und Lehrer nach Europa zu holen. „Voicy un des Mages de l’Orient que son Etoile conduit à vos pieds“, heißt es humorvoll-pathetisch in Leibnizʼ Brief an die Kronprinzessin Sophie Dorothea. „Il a un peu la mine d’un Hebreu: mais il est bon italien, missionnaire Apostolique pour planter la foy dans la Chine: je ne say ce qu’il y a planté. Mais il en apporte au moins des plantes et simples, ayant fait quelque fonction de Medecin auprès du Monarque Chinois“. Sein großes Lob gelte dem Ginseng, der den P. Vota und auch ihn selbst verjüngen könne, den aber der Kronprinz und sie überhaupt nicht nötig hätten. Nun komme Cima, um dem König und auch ihr, „qui a tant de bonté encor pour les estrangers“, seine Aufwartung zu machen. 18 Ebenso ,launigʼ schreibt Leibniz auch eine Woche später an die Oberhofmeisterin der Kronprinzessin, 19 indem er auf das Wesentliche für Cima hinweist: dass dieser einem Bettelorden angehöre und man in Hannover „ce bon Pere“ beschenkt habe; dass der wissbegierige, an China interessierte König nichts dagegen haben werde, Cima anzuhören, denn dieser meine, „quʼà peu de frais on pourroit faire venir quelque habile Chinois en Europe, qui nous feroit entendre leur livres“. Diese Möglichkeit war für Leibniz von großer Tragweite. Denn in Europa wäre die chinesische Literatur praktisch unzugänglich, während es doch in China „un nouveau monde de connoissances curieuses“ zu entdecken gebe. Natürlich wird auch der bibliophile Herzog Anton Ulrich in Wolfenbüttel in dieser Sache angesprochen. 16 Nämlich an die Kronprinzessin Sophie Dorothea, an Johann Casimir Kolbe von Wartenberg, der als Günstling und Oberkammerherr Friedrichs I. derzeit die Politik des Hauses Brandenburg leitete, und an La Croze, den Orientalisten und Königlichen Bibliothekar, der auf Leibnizʼ Vorschlag hin seit 1701 Mitglied der Sozietät der Wissenschaften zu Berlin war. 17 Vgl. Beatriz Puente-Ballesteros: Jesuit Medicine in the Kangxi Court (1662–1722): Imperial Networks and Patronage, in: East Asian Science, Technology and Medicine, 34, 2011, S. 56– 162. In der Kangxi-Ära ist die Kenntnis, Beschaffung und Wirkungsweise von Medikamenten am Hof zu Peking Sache des Kaisers. Dabei war der Kaiser Hüter eines medizinischen Wissens, das selbst chinesischen Ärzten nicht zugänglich war (ebd., S. 142). Puente-Ballesteros spricht von einem „Netzwerk der Macht“ in Bezug auf den Kreis hoher Regierungsbeamter und naher Verwandter und von einem „Netzwerk der Nähe“ im Hinblick auf weibliche Verwandte und Dienerinnen, Palasteunuchen und ehemalige Beamte, zu dem auch die Jesuitenpatres und andere Abendländer gehörten (ebd., S. 147). 18 Leibniz an Kronprinzessin Sophie Dorothea, 8. Oktober 1707 (LBr. 157 Bl. 3–4). 19 Leibniz an Catherine de Sacetot, 15. Oktober 1707 (wie Anm. 14).
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Leibniz schreibt: Cima „vermeynet man sollte mit geringen kosten nicht nur Bücher aus China, sondern auch Chinesen selbst bekommen konnen, dienlich deren wißenschafften in Europa zu pflanzen.“ Dabei richtet sich auch hier sein Appell an die Großzügigkeit des Katholikenfreundes: Cima gehe „nächsten Weges nach Rom, nehmlich uber Berlin[,] denn weil er nicht viel ubrig hat, so ziehet der guthe Mann auff der wurst herumb“. 20 Unter den ersten, von höfischer Diplomatie geprägten Briefen vom 8. Oktober 1707 ist auf der anderen Seite auch Leibnizʼ Schreiben an La Croze, königlicher Bibliothekar und Mitglied der Berliner Sozietät der Wissenschaften. 21 Hier überwiegt Leibnizʼ eigentliches, wissenschaftliches Interesse an Cima. Es sollte nicht nur der Hof dem Pater günstig gestimmt werden, sondern es galt auch, diesen mit Fachleuten, etwa dem königlichen Leibarzt von Gundelsheim, 22 mit Theologen und Mitgliedern der Berliner Sozietät 23 bekanntzumachen, damit diese den Besuch aus China sachkundig ausfragen, ja examinieren konnten. Leibniz selbst war vermutlich am meisten an den Auskünften über die chinesischen Schriftzeichen gelegen, sah er in diesen doch ein empirisches Modell für sein lebenslanges Projekt, die Erfindung einer allgemeinen Zeichenkunst. 24 In dieser Auffassung hatte ihn Cima 20 Leibniz an Herzog Anton Ulrich, 11. Oktober 1707 (LK-MOW Anton Ulrich10 [früher: LBr. 1] Bl. 84). Auf der Wurst herumziehen „herumschmarotzen“, in Kombination der doppelten Verwendung von Wurst im Sinn von „Wurstwagen“ und dem des Nahrungsmittels. Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd 14, 2, Sp. 2307. 21 Leibniz an La Croze, 8. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 484–485). Leibniz verbanden mit La Croze dessen Sprachforschungen (vgl. dazu Malte-Ludolf Babin: Armenisch, Albanisch, Hokkien … Zum sprachwissenschaftlichen Teil von Leibniz’ Korrespondenz mit Mathurin Veyssière de La Croze (1704–1716), in: Wenchao Li (Hg.): Einheit der Vernunft und Vielfalt der Sprachen. Beiträge zu Leibniz’ Sprachforschung und Zeichentheorie, Stuttgart 2014, S. 207–218) und besonders das von ihm selbst bei La Croze angeregte Interesse an der chinesischen Sprache. Schließlich glaubte La Croze „vor kurzem“ sogar, endlich den „Schlüssel zur chinesischen Sprache“ (Clavis Sinica) gefunden zu haben – „plus certainement que Monsieur Mentzel; je ne parle point de Monsieur Muller […] qui ne savoit pas même lire le Chinois“ (La Croze an Leibniz, 30. Juni 1707; LBr. 517 Bl. 5–6). Dabei hatte Leibniz vor vielen Monaten gegen die eigene Überzeugung eingestanden, dass „Le Pére Grimaldi ne croyoit pas que les caractéres Chinois eussent une clef. Mais il faut bien quʼil y ait eu quelque raison de leur fabrique“ (Leibniz an La Croze, 24. Juni 1705; gedr.: D V, S. 478–479). 22 Andreas von Gundelsheimer (1668–1715) hielt sich nach seinem Studium der Medizin in Altdorf in Venedig, später in Paris auf. Hier lernte er den französischen Botaniker Joseph Pitton de Tournefort (1656–1708) kennen und schätzen. Im Auftrag der französischen Regierung reisten die beiden in die Levante zur Erforschung der Heilpflanzen. Danach ging Gundelsheimer nach Berlin, wo er 1703 zum Königlich preußischen Hof- und Leibarzt König Friedrichs I. ernannt und geadelt wurde. Vgl. ADB 10 (1879), S. 125. 23 Leibnizʼ nicht gefundene Briefe an den Sekretär der Berliner Sozietät der Wissenschaften, Johann Theodor Jablonski, und an Johann Jacob Julius Chuno, kurbrandenburgischer Geheimer Sekretär und Mitglied des Konzils der Berliner Sozietät der Wissenschaften, lassen sich aus deren Antworten erschließen; vgl. Jablonski an Leibniz, 22. Oktober 1707 (LBr. 440 Bl. 68– 69), und Chuno an Leibniz, 8. Januar 1708 (LBr. 185 Bl. 75–76). 24 Als Grundlage für dieses Projekt musste eine möglichst kleine Anzahl grundlegender Begriffe des menschlichen Denkens gefunden werden (ein alphabetum cogitationum humanarum) und
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soeben in Hildesheim mit seiner Aussage bestärkt, „quʼon croit que les caractères fondamentaux sont à peu près du nombre de 400, et que les autres n’en sont que les compositions“. 25 Davon nicht wenig beeindruckt, erinnert Leibniz jetzt La Croze an dessen eigene Forschungen, indem er schreibt: 26 „Cette recherche me paroit dʼautant plus importante que je mʼimagine, que si nous pouvions decouvrir des caracteres Chinois, nous trouverions quelque chose qui serviroit à l’analyse des pensées“. Obwohl es wahr sei, „quʼil nʼa pas été assez longtems dans la Chine pour acquerir la connoissance de leurs caractères“, müsse man Cima weiterhin über „bien des choses“ befragen und ihm (Leibniz) alles darüber mitteilen. Im folgenden Brief an La Croze interessiert sich Leibniz neben Cimas Kentnissen von den Heilkräutern in Indien und China besonders für zwei Medikamente: die Kräuter gegen den Nieren- und Blasenstein sowie gegen die Schwindsucht, 27 welche der Pater zwar genannt, jedoch nicht genügend erklärt habe. 28 Außerdem sollte man Cima ermahnen, seine Ansicht über die unproblematische Beschaffung von Büchern und Lehrern aus China schriftlich niederzulegen, um in dieser Form den König davon wissen zu lassen. Vielleicht könnte dieser – und nicht zuletzt La Croze selbst – „y prendre gout“. Da La Croze eine „dissertation sur les Missions“29 geschrieben habe, rät ihm Leibniz allerdings zur Vorsicht; er dürfe Cima nicht erkennen lassen, dass er Schriftsteller sei: „autrement il se défiera davantage de vous“. 30 Noch bevor sämtliche Adressaten auf Leibnizʼ Briefe geantwortet hatten, meldete sich Cima bei Leibniz aus Wolfenbüttel. In diesem ersten Brief kündigt er seinen Weg nach Berlin an und kommt unmittelbar auf sein Hauptthema zu sprechen, nämlich dass es eine ganz natürliche Methode gebe, mit dem Wind ohne Kompass auf jedem beliebigen Meer zu segeln. Er sei fest davon überzeugt, dass die Alten
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für deren Zusammensetzung zu komplexeren Begriffen ein rationaler Kalkül (calculus rationator). Dabei setzte die Entdeckung des einen die Kenntnis des anderen jeweils voraus. Leibniz an La Croze, 8. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 484–485). Vgl. ebd., S. 484 f. „Il mʼa parlé de deux, lʼun contre la pierre, lʼautre contre la phthisie.“ Leibniz an La Croze, 14. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 485–486). Cima hat Leibniz diese Fragen in Bezug auf den Namen, die Herkunft und die Beschaffung der Heilkräuter in seinem dritten Brief vom 11. November 1707 aus Berlin beantwortet. Das Kraut gegen den Blasenstein heiße Perera brava nach einem Portugiesen namens Perera, der dadurch geheilt wurde. Es sei häufig in Pegu (Birma) zu finden und könne leicht von den Engländern, die in Madras, auf Sumatra und in Bengalen Handel treiben, und den Holländern und Franzosen beschafft werden. [Zu Geschichte und Wirkung der von portugiesischen Missionaren in Brasilien entdeckten Pareira-/Pereirawurzel (Chondrodendron tomentosum „Grießwurz“) vgl. Gerhar Madaus: Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Abt. 1: Heilpflanzen, Bd 3, Leipzig 1938, S. 2057–2061.] Den Namen des anderen Krauts hatte Cima vergessen. Es finde sich in Ligor (Siam), wo die Holländer siedelten, von denen man es bekommen könne (vgl. Cima an Leibniz, 11. November 1707; LBr. 157 Bl. 12–13). La Croze [anon.]: Reflexions historiques et critiques sur le Mahometisme, et sur le Socinianisme, in: Ders.: Dissertations historiques sur divers sujets, Rotterdam 1707, S. 1–163. Leibniz an La Croze, 14. Oktober 1707 (gedr.: D V, S. 485–486).
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vor der Entdeckung des Magneten so navigiert hätten. 31 Ihm selbst sei die Methode derartig klar, dass er nicht verstehe, warum andere „sie für unmöglich und einen leeren Wahn halten“ – wie am Hof in Wolfenbüttel, wo man sich geradezu lustig darüber mache. 32 Wenn nun Leibniz davon nach Berlin oder anderswohin berichte, möge er diese Methode für eine ganz sichere und einfache Sache ansehen und entsprechend „auf das Wort jenes Freundes [Cimas] hin“, berichten, der ihm „in allen Stücken Treue und Wahrheit geschworen“ habe. 33 Leibnizʼ Antwort vom 19. Oktober 1707, auf die im folgenden Kapitel zurückzukommen sein wird, war an Friedrich Hans von Walter in Wolfenbüttel, den Bruder Friedrich von Walters, adressiert, verpasste Cima um ein Haar und wurde auf Leibnizʼ Anweisung hin an Chuno nach Berlin weitergeschickt. 34 Inzwischen meldete Anton Ulrich enttäuscht, dass Cima Chinesisch nicht lesen könne, „so mir leid ist, weiln ich etliche beschriebene Chinesische decken habe, deren explication ich gerne wißen mögen“. 35 Durch von Walter wird Leibniz genauer über diesen Besuch in Wolfenbüttel ins Bild gesetzt: Er habe Cima von morgens bis abends bei sich gehabt und ihn bewirtet. Dabei habe er ihn, selbst in Anwesenheit anderer Ärzte, tausend Dinge zur Medizin gefragt, aber Cima habe in dieser Sache immer „en Medecin tres ordinaire“ geantwortet. 36 Tatsächlich befürchtet von Walter, dass es hier viel Lärm um nichts („molto grido e poca lana“) gebe. 37 Was aber Cimas Reise nach Berlin betreffe, so habe ihm dieser gesagt, falls der preußische König willens sei, ihm ein ansehnliches Geschenk zu geben, „il luy montreroit la machine dʼaller
31 „[…] il ritrovarsi modo naturalissimo per navigar con venti senza la bussola in qualsivoglia mare e parte, et io credo fermame che i antichi prima di ritrovarsi la calamita navigassero in questo modo.“ Cima an Leibniz, 15. Oktober [1707] (LBr. 157 Bl. 5). 32 „[…] et io, che lo tengo tanto facile, non posso comprendere, che altri non l’habbino penetrato, e molto più, che lo giudicano impossibile e vano. […] il Sigr Valter lo tien scritto a questa Corte che quasi si burlano.“ 33 „[…] ma se V. S. Illma lo scrive in Berlino o altrove, lo tenghi e scrivi pur per cosa certissima e facilissima, sopra la parola di quel amico, che li hà professato e giurato in tutte le cose fedeltà e verità.“ 34 F. H. von Walter, 22. Oktober 1707 (LBr. 157 (Cima) Bl. 9–10). 35 Herzog Anton Ulrich an Leibniz, 17. Okt. 1707; A I, 27 (LK-MOW Anton Ulrich10 [früher: LBr. F 1] Bl. 85). 36 Wie Anm. 34. Es handelte sich dabei um zwei Krankheitsfälle: das Asthma und den Leistenbruch in die Hoden. Im ersten Fall heilte Cima den Kranken „en luy faisant monter tous les jours une haute montagne“, im zweiten Fall „il fit coucher le mallade sur le dos, luy fit lier les pieds en haut, et puis il luy fit mettre une grosse ventouse sur le nombril qui à lʼinstant fit retirer les boyeaux dans le ventre“. 37 Außerdem habe ihm Cima gesagt, dass er den Stein von Goa („la pietra di Goa“) fabrizieren könne, „cʼest une composition de la Corne de Renocero et dʼAmbre gris etc.“. Der Goastein wurde im 17. bis zum frühen 18. Jh. von Jesuitenpatres in der Provinz Goa (Malabarküste) hergestellt. Diese von Menschenhand gemachte Mischung „aus Gallensteinen und Haaren aus den Mägen von Rehen, Schafen und Antilopen“ sollte medizinische Eigenschaften besitzen und wurde in kostbaren Gefäßen nach Europa exportiert. Vgl. https://www.metmuseum.org/fr/art/collection/search/454738. (abgerufen am 20.3.2021).
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par mer sans bousole“, falls aber nicht, würde er davon nur die Republik Venedig wissen lassen. In Berlin ‒ Inzwischen war Cima in Berlin eingetroffen und hatte am Hof bereits seine Aufwartung gemacht. Augenscheinlich reserviert heißt es dazu in dem kurzen Brief Sophie Dorotheas an Leibniz: Es genüge ihr, dass Leibniz Cimas Interessen empfohlen habe. Sie werde diese so fördern, „quʼil pourra continuer son chemin“. 38 Dass die gewährte Unterstützung weit unter Cimas Erwartungen lag, deutet dieser Leibniz in seinem zweiten Brief (aus Berlin) 39, an: Er glaubt, für die erhoffte Hilfe „vergeblich in diese Stadt gekommen“ zu sein. 40 Trotzdem sei er voller Zuversicht, habe doch Gott ihn in seiner Voraussicht die Reise tun lassen, damit der „ganze Betrug des Pasquale de Lubomirski“ 41 von ihm aufgedeckt würde. In dieser Stimmung und noch immer in Berlin schreibt Cima seinen dritten Brief an Leibniz, 42 in dem er über die Kräuter zur Behandlung von Blasensteinen und der Schwindsucht berichtet, außerdem sechs Verse über das „Instrument zum Navigieren ohne Magneten“ ankündigt, die dieses Mal „nicht in Rätselform, sondern in klaren Worten die Wahrheit der Sache zeigen werden“, und zuletzt Leibniz um die Besorgung von Empfehlungsbriefen aus Braunschweig oder Hannover für seine Reise nach Dresden bittet. Über Leipzig und Nürnberg nach Augsburg ‒ Erst in seinem vierten Brief an Leibniz (schon aus Augsburg) 43 scheint Cima dem Freund sein Herz ausschütten zu wollen: „Ich hatte eine sehr unglückliche Reise, und wenn ich gehofft hatte, in Berlin etwas Unterstützung zu finden mit Hilfe Ihres Briefes und des Briefes der Kurfürstin, war doch der Schaden dreimal größer als der Nutzen“. Cima bedauert sehr, nicht ‒ anstelle von Berlin ‒ seine Aufwartung beim pfälzischen Kurfürsten
38 Kronprinzessin Sophie Dorothea an Leibniz, 28. Oktober 1707 (LBr. F 28 Bl. 1). Cima wird frühestens am 23. Oktober in Berlin eingetroffen sein. Von Walter hatte ihn am 21. Oktober nach Braunschweig begleitet und ihn dort in die Postkutsche nach Berlin gesetzt (vgl. Anm. 34). Am 22. Oktober hatte J. Th. Jablonski gemeldet, „von dem Pater Cima ist noch nichts zu vernehmen gewesen. Wenn er sich angeben sollte, wird man ihn nach Verdienst auf zunehmen nicht unterlaßen.“ Es sei aber ein anderer [Lubomirski] da, „so als Missionarius viel Jahre in Orient zugebracht, nun aber zu der Protestantischen Religion sich bekennet“. (LBr. 440 Bl. 68– 69). 39 La Croze teilt Leibniz am 2. November 1707 (LBr. 517 Bl. 9–10) mit, dass Cima am Vorabend seiner (geplanten?, vgl. zum dritten Brief) Abreise aus Berlin einen Brief für Leibniz bei ihm abgegeben habe. 40 „credo inutilem cira adiuvamina, que hic recipienda sperabam, fuisse hunc meum additum ad istam Civitatem.“ Cima an Leibniz, Anfang November 1707 (LBr. 157 Bl. 14–15). 41 Über diesen Missionar, der wie Cima angeblich Jahre in China war (s. auch Jablonski an Leibniz, wie Anm. 38), berichtet La Croze, es handele sich um einen Polen, der Franziskanermönch gewesen und nun „une espece de Psalmanasar“ sei, den er selbst des Betrugs überführt, ja ihn sogar dazu gebracht habe, sich als Lügner zu bekennen. Zwar sei er wohl in Indien gewesen, wie La Croze glaubt, „mais on ne peut tirer aucune lumière dʼun homme qui ment avec une affronterie surprenante“. La Croze an Leibniz, 1. November 1707 (LBr. 517 Bl. 7–8). 42 Cima an Leibniz, 11. November 1707 (LBr. 157 Bl. 12–13). 43 Cima an Leibniz, 12. Dezember 1707 (LBr. 157 Bl. 18–19).
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in Düsseldorf 44 gemacht zu haben. So wäre ihm nicht zugestoßen, was tatsächlich passiert sei: Auf der Reise von Berlin über Leipzig nach Nürnberg wären beide Diener, sein Dolmetscher und sein Mohr, mit all seinem Geld und noch anderen Dingen durchgebrannt und hätten ihn so „gänzlich außerstande“ gesetzt, seine Reise fortzusetzen. 45 Doch Augsburg müsse er nun auf Befehl des katholischen Bischofs binnen acht Tagen verlassen, weil „schon andere italienische Priester hier den größten Anstoß erregt hätten“; zu allem Unglück wären auch seine drei Briefe an die Propaganda fide nach Rom ohne Antwort geblieben, so „als hätte ich gar nicht geschrieben und wäre nicht der Sohn der Propaganda“. Zur Begleichung seiner Schulden bleibe ihm nichts anderes übrig, als Leibniz erneut „rogare et supplicare“, sich für ihn bei der Kurfürstin und dem Kurfürsten für ein Almosen oder eine Liebesgabe („elemosina et caritas“) einzusetzen. Zuletzt vergisst Cima nicht, Leibniz zwei Verse zur Weiterleitung an den Kurfürsten zu schicken, „die das Rätsel oder Mysterium über die Schifffahrt der Alten ohne Magneten“ enthielten. Sollte aber niemand in Hannover das Geheimnis lösen, werde er sechs weitere Verse schicken, „mit deren Hilfe die besagte Kunst in die Praxis umgesetzt werden könnte“. 46 Was hatte sich am Hof zu Berlin wirklich zugetragen? In der Annahme, dass Leibniz durch Chuno darüber schon unterrichtet sei, deutet La Croze nur an, dass Cima mehr für sein „angebliches Geheimnis“ erhalten hätte, wenn er es denn gelüftet hätte. Mit der eigenen Meinung hält La Croze aber nicht hinter dem Berg: Er glaube, „que ce bon homme ne sʼentend pas trop bien lui même sur cet article“. 47 Cima habe ihm gesagt, es handele sich um eine sehr bekannte Sache, die sich natürlicherweise nach Süden richte. La Croze fürchtet, dass Cima darin einer Illusion erliege, „dont il soit lui même la duppe“. Wie hoch Cima sein Geheimnis tatsächlich einschätzte, erfuhr Leibniz durch F. H. von Walter: Cima habe ihm aus Augsburg geschrieben, er hätte große Lust, sein Geheimnis für 600 fl. an Herzog Anton Ulrich zu verkaufen; aber „comme nous nʼavons point de Mer, ny vaisseau“, werde seine Rechnung hier nicht aufgehen, mutmaßt von Walter 48. Über Cimas Misserfolg, sein Geheimnis in Berlin zu verkaufen, wurde Leibniz dann endlich durch Chuno 49 informiert: Der König habe da-
44 Johann Wilhelm Kurfürst von der Pfalz, genannt Jan Wellem (reg. 1690–1716), war katholisch und residierte in Düsseldorf. 45 Da ihn aber schon in Hamburg einer der beiden Diener bestohlen hätte, habe er auch dort Schulden, wie jetzt wieder in Augsburg, von insgesamt 520 Gulden. 46 „si caret alia sex carmina mittam dicta duo clarissime explicantia quorum ope potuit ad praxim deduci ars dicta.“ (Hervorhebung R.W.). Beischluss zu diesem Brief waren ein Dankschreiben an Kurfürstin Sophie (LBr. 157 Bl. 20) und ein Brief an Kurfürst Georg Ludwig (LBr. 157 Bl. 21–22) mit den zwei angekündigten Versen: „Ostendit tibi mobile quantum im[m]obile distat/ Arcano invent[o], perge quocumque cupis.“ In seiner problematischen Lage hatte sich Cima auch an F. H. von Walter und an Chuno gewandt, s. u. 47 Wie Anm. 41. 48 F. H. von Walter an Leibniz, 29. Dezember 1707 (LBr. 977 Bl. 17–18). 49 Chuno an Leibniz, 28. Januar 1708 (LBr. 185 Bl. 75–76).
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für ohne Preisgabe der Lösung nur 30 écus, andernfalls aber 100 écus zahlen wollen; Cima wollte sich darauf jedoch nicht einlassen, obwohl für den letzteren Fall schon alles angeordnet worden wäre. Dabei hatte Cima auf Chuno einen ausgesprochen positiven Eindruck gemacht, wünschte er sich doch, der Pater wäre bei seiner Abreise zufriedener gewesen; denn „cʼest un homme qui me plaist, qui me paroit sincere“, auch wenn ihm klar wäre, dass Cima sich täusche „à lʼegard de son invention de trouver plagas mundi quovis loco et tempore“. 50 Chuno steht mit diesem Urteil über den Menschen Cima nicht allein. Auch Kurfürstin Sophie hielt Cima, wie aus ihrem Empfehlungsschreiben an die Kronprinzessin hervorgeht, für einen „fort bon homme“, der sich trotz seines langen Aufenthalts in der Ferne nicht bereichert habe. 51 In München und Regensburg ‒ Aus München schrieb Cima im Januar 1708 seinen fünften Brief an Leibniz. 52 Beilage war ein Einblattdruck seines Rätsels mit dem sprechenden Titel Sphinx ad Oedipum, über das im folgenden Kapitel zu sprechen sein wird. Cima befand sich „in magna […] confusione“, da ihm sein Diener nicht nur Geld, sondern auch wichtige Schriften gestohlen hätte, die ihm nun für den vom Heiligen Stuhl verlangten Bericht fehlten. Er brauche dringend Geld, um die Druckkosten dafür aufzubringen. „Sed erunt qui ex meis copiis faciant in lucem puplicam prodire“, heißt es unverzagt. In ähnlich verzweifelter Stimmung folgte rund vier Wochen später aus München noch ein sechster Brief 53, in dem Cima seine Abreise nach Regensburg für den nächsten Tag, den 23. Februar 1708, ankündigt. Dort gedenkt er zwei Wochen zu bleiben und hofft, die erbetenen Empfehlungsbriefe dort zu erhalten.
50 Aus Augsburg hatte sich Cima wie an Leibniz so auch an Chuno und an Kolbe von Wartenberg gewandt, indem er auch diesen das Rätsel seiner Erfindung zusandte. Doch Chuno musste ihm antworten, dass man „la gratification quʼil demande“ nicht zu geben gewillt sei. Vgl. ebd. 51 Wie Anm. 13. Man darf wohl unterstellen, dass diese Ansicht über Cima bei ihr auch den Erfinder seines großen Rätsels mit einschließt. 52 Cima an Leibniz, 24. Januar 1708 (LBr. 157 Bl. 23–24). Der Brief endet mit erneuten Klagen über seinen indischen Diener, mit tausend Grüßen an die Kurfürstin und die wichtigsten Persönlichkeiten in Herrenhausen sowie mit der Bitte, Mitleid mit ihm zu haben bei so vielen Unglücksfällen. Es folgt eine Liste mit Adressen aus China, Siam und Bengalen. 53 Cima an Leibniz, 22. Februar 1708 (LBr. 157 Bl. 1–2; irrtümlich bereits gedr. A I, 25 N. 381). Cima, der für seine Reise nach Wien „irgendeine Empfehlung irgendeines Fürsten“ braucht, bittet hier Leibniz, seinen Einfluss am hannoverschen Hof für ihn geltend zu machen, um jemanden zu veranlassen, einen wirksamen Empfehlungsbrief an einen „der Fürsten und Großen“ dort für ihn zu schreiben.
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Durch ein Geldgeschenk des Kardinals Lamberg 54 wandelte sich aber in Regensburg Cimas prekäre Situation schlagartig zum Guten. Wie der Pater in seinem siebten Brief 55 an Leibniz berichtet, wurde dadurch sein Gläubiger in Augsburg zufrieden gestellt, aber er selbst musste „lasciar il tutto, e pigliar il camino non per Vienna“. Cima bedankt sich deshalb für den ihm sehr teuren Brief von Leibniz („la sua carissima“) und den Empfehlungsbrief der Kurfürstin an die regierende Kaiserin 56 in Wien. Um ihn anzuspornen, das Rätsel zu lösen („solecitarmi a scioglier lʼenigma“), solle ihm Leibniz nach Venedig schreiben, während Cima seinerseits verspricht, ihm aus Venedig eine Kopie des ersten Teils seiner Relation zu schicken, die vom Kaiser von China handele. 57 Soviel wir wissen, herrschte ungefähr ein Jahr lang Funkstille in der Causa Cima, bis Leibniz von Johann Andreas Schmidt 58 erfährt, dass Cima in diesem Jahr [1709] in Venedig etwas veröffentlicht hat, nämlich eine Abhandlung „über eine ungemein leichte Art, den Längengrad zu ermitteln. 59 Er empfiehlt, außer der Magnetnadel und einer sehr genau gehenden Uhr auch die Winde 60 nach einer ganz bestimmten Regel zu beobachten, die er aber noch nicht mitgeteilt hat. In diesen sucht er das stärkste Hilfsmittel [zur Ermittlung des Längengrades]“. „Wie viele Zweifel aber bei diesem unbeständigen und oft von Stunde zu Stunde wechselnden Prinzip uns bleiben“, gibt Schmidt zu bedenken, „wissen alle, die sich in diesen Dingen auskennen. Vielleicht werden die Beschreibung des Instruments und dessen Anwendung, auf die wir noch warten, diese Zweifel beheben“. In seinem ersten Brief an Cima hatte Leibniz auf dessen rätselhafte Erfindung mit schlichtem Wohlwollen reagiert. Jetzt aber lässt eine einzige Randbemerkung zu dem von Schmidt empfangenen Brief erkennen, was er von Cima und dessen unwahrscheinlicher Erfindung hält: „Dieser gute Mann scheint sich nicht recht im
54 Johann Philipp von Lamberg (1652–1712), seit 1689 Bischof von Passau, wurde nach einer langen diplomatischen Karriere in kaiserlichen Diensten im Jahr 1700 zum Kardinalpriester erhoben. 55 Cima an Leibniz, 1. Hälfte März 1708 (LBr. 157 Bl. 16–17). Links oben hat Leibniz „resp[ondi]“ vermerkt. 56 Wilhelmine Amalie von Braunschweig Lüneburg, Gemahlin Kaiser Josephs I. (reg. 1705– 1711). 57 Die versprochene Abschrift wurde in Leibnizʼ Nachlass nicht gefunden. 58 Johann Andreas Schmidt an Leibniz, 5. März 1707 [richtig wohl: 1709] (LBr. 818 Bl. 247– 248). 59 Cima: Aedipus Sphingi scilicet solutio ænigmatis illius jam propositi. Venetiis1709. 60 Auf welche Beobachtungen der Winde sich Cima vielleicht mit Bezug auf die Windrose bezieht, bleibt völlig unklar. Wann sich die ursprüngliche Assoziation von Windrichtungen als meteorologischem Phänomen mit geographischen Richtungen (Orts-, Fluss- oder Gebirgsnamen sowie Himmelsrichtungen) überhaupt in der Geschichte der Windrose manifestiert, ist nicht gesichert. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Windrose#Entstehung (abgerufen 20.01.2021).
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Klaren zu sein, was wir suchen oder was wir wissen“ 61. Welches war dieser Stand der Dinge? II. Das Meridian-Problem Was wir suchen ‒ In der Frühen Neuzeit wurde mit der Entdeckung immer neuer Länder und Kontinente die Lösung des Längengradproblems für die Seefahrt zu einer der dringlichsten Fragen überhaupt. Um den Heimathafen wiederzufinden und nicht zuletzt auch, um das Neuentdeckte zu sichern, wurde ein zuverlässiges Instrument oder Verfahren gesucht, das die genaue Positionsbestimmung eines Schiffes auf offenem Meer bzw. eines bestimmten Ortes an jedem Punkt auf der Erde angab, genauer: den Schnittpunkt seines Längen- und Breitengrades. Während jedoch der Breitengrad einer Position tagsüber und des Nachts bei guter Sicht relativ leicht zu finden war 62 und seit dem 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert mit dem Jakobsstab, dem Seequadranten und anderen Winkelmessinstrumenten 63 ermittelt wurde, war die Bestimmung des Längengrads weitaus schwieriger. Denn anders als der Äquator, der sich infolge der Erdumdrehung als physikalisch-natürlicher Null-Breitengrad ausweist, beruht die Wahl des Null-Längengrads bzw. eines auf ihm liegenden 61 Vgl. Johann Andreas Schmidt an Leibniz, 5. März 1707 [richtig: 1709] (LBr. 818 Bl. 247– 248): „Bonus ille vir non satis videtur nosse quid quaeratur aut quid habeatur.“ 62 Schon Ptolemaios betrachtete den Äquator als natürlichen Null-Breitengrad, über dem die Gestirne, d. h. die mit bloßem Auge sichtbaren Himmelskörper nahezu senkrecht über dem Betrachter stehen. (Vgl. Dava Sobel: Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, Berlin 1996 (engl. Longitude, New York 1995), S. 13). Die Entfernung eines Punktes auf der Erdoberfläche nördlich oder südlich vom Äquator wird im Winkelmaß angegeben und als dessen Breitengrad oder geographische Breite bezeichnet. Bei Tag lässt sich der Breitengrad mit Hilfe von Winkelmessinstrumenten (s. unten Anm. 63) aus dem Horizont (des Beobachters) und dem höchsten Stand der Sonne bestimmen, bei Nacht aus der Höhe des Polarsterns, der annähernd durch die Polhöhe (=Höhenwinkel des Himmelsnordpols nahe dem Polarstern) angezeigt wird. Vgl. Franz Adrian Dreier: Winkelmessinstrumente. Vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung des Kunstgewerbemuseums Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz vom 9.11.1979 bis 23.2.1980, Berlin 1979, S. 13–14a. 63 Zu den verschiedenen Messinstrumenten vgl. Dreier, wie Anmerkung 62, S. 60–68. Der sog. Jakobs- oder Kreuzstab wurde 1342 erstmals von dem jüdischen Gelehrten Levi ben Gerson beschrieben. Dabei handelt es sich um einen mit einer Gradskala versehenen Längsstab, der mit einem – auf dieser Gradskala verschiebbaren – Querstab verbunden ist. So gesehen, ist der Kreuzstab einem liegenden lateinischen Kreuz ähnlich. Beim Gebrauch wird der Kreuzstab aus dem liegenden Zustand um 90° gedreht; dabei wird das untere Ende des Längsstabes „unter dem Auge auf das Jochbein gelegt“, während dessen oberes Ende in Richtung auf die Sonne zeigt. Der Querstab muss nun so verschoben werden, dass er mit seinem unteren Ende auf der Kimm steht und mit dem oberen Ende auf den unteren Rand der Sonne weist. Der volle Winkel ist dann durch den Stand des Querstabs auf der Gradskala des Längsstabes ablesbar. Vgl. ebd., S. 64. Erst mit der Entwicklung des nach John Hadley (1682–1744) benannten Hadleyoktanten im Jahre 1731 wurden die Höhenmessinstrumente wesentlich verbessert. S. dazu Sobel: Längengrad, S. 121–122, und David Barrie: Sextant. Die Vermessung der Meere, München 2017 (engl. Sextant. A Voyage Guided by the Stars, London 2014), S. 52–54.
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Ortes auf allgemeiner Konvention und einer entsprechenden Zeitmessung 64: Soll nämlich an einem beliebigen Ort zu einer beliebigen Tageszeit der unbekannte Längengrad bestimmt werden, muss zugleich der Längengrad eines anderen Orts und dessen aktueller Sonnenstand bekannt sein, da sich erst aus der Differenz der Ortszeiten 65 auch die Differenz der Längen ergibt. 66 Was wir wissen ‒ Das Problem bestand damals jedoch nicht in der Ermittlung der Ortszeit, sondern in der Ermittlung der Differenzzeit zwischen zwei Orten, und zwar solange, wie es hinreichend genau gehende Uhren noch nicht gab. 67 Neben der Entwicklung präzise gehender Uhren wurde mit Hilfe konkurrierender astronomischer Methoden auch nach anderen Lösungen des Längengradproblems gesucht. Als nachhaltigste erwies sich hier die Methode, die Monddistanzen zu bestimmten Sternen am Fixsternhimmel zu berechnen. Doch die Ermittlung der relativen Bewegung des Mondes durch den Fixsternhimmel, die ihn während seines Erdumlaufs genau einmal in eine messbare Distanz zu gewissen Fixsternen und
64 Erst im Jahre 1884 wurde die geographische Länge und der Sonnenhöchststand von Greenwich bzw. der dortigen Sternwarte (damals mit der Kulmination der Sonne zur Mittagszeit) durch internationale Vereinbarung als internationaler Nullmeridian und mittlere Zeit von Greenwich festgelegt. Damit hatte man endlich für unterschiedliche Orte einheitliche Zeitangaben. Vgl. dazu Sobel, wie Anm. 62, S. 220 f. 65 Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal (um 360°) um ihre Achse. Dabei legt sie in einer Stunde 15° (und in vier Minuten 1°) zurück. Offensichtlich ist die Geschwindigkeit am Äquator am größten (ca. 1000 Meilen/15° oder 66,67 Meilen/1°), während sie an den Polen auf nahezu Null zurückgeht. Die Zeit und die Winkelgröße nehmen deshalb zu den Polen kontinuierlich ab. 66 Die Länge ist ein Winkelmaß der Meridianebene, für das astronomisch die Zeitbestimmung eines Ortes äquivalent mit dessen Standortbestimmung ist. Deshalb ist die Differenz aus der Ortszeit eines Schiffes und einer bekannten anderen Ortszeit äquivalent mit der Differenz aus dem gesuchten und dem bekannten Längenwinkel. Seitdem in Greenwich der Nullmeridian und die Weltzeit international festgelegt wurden, ist die Rechnung ganz einfach: wenn z. B. die Uhrzeit eines Schiffes östlich von Greenwich mit 15.00 Uhr gegeben ist, dann ist es in Greenwich 12.00 Uhr (0° Länge) und der gesuchte Längengrad des Schiffes somit 45° östlicher Länge (wegen der Erdumdrehung um 15°/h). 67 Man brauchte eine tragbare Uhr, welche die Ortszeit des Referenzortes während der ganzen Reise anzeigte und dabei allen Unbilden der Seefahrt widerstand (vgl. Dreier, wie Anm. 62, S. 68b). Erst John Harrison (1693–1776) sollte 1735 eine solche funktionsfähige Uhr herstellen. Obwohl die Kommission der Royal Society in London seiner Arbeit aus wissenschaftspolitischen Gründen und menschlicher Unzulänglichkeit nur geringe Anerkennung zollte, lieferte Harrison nach 25 Jahren fortgesetzter Arbeit im Jahr 1760 eine vierte Uhr ab, die (ohne die Gangart zu beschleunigen, zu verlangsamen oder stehen zu bleiben) so präzise lief, dass sie die Lösung des Längengradproblems brachte und dem Erfinder die verdiente Anerkennung verschaffte. (Vgl. dazu Andrew King: Art. John Harrison (Version vom 3.1.2008), in: ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/12438; Sobel: Längengrad, Kap. 10–13).
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Planeten bringt, erwies sich für die Positionsbestimmung eines Schiffes als theoretisch und praktisch extrem schwierig und aufwendig 68. Auch war die Genauigkeit dieser Berechnungen so gering, dass Samuel Pepys in seinen Aufzeichnungen über seine Reise nach Tanger besorgt feststellt: „[…] it is by God Almighty’s providence and great chance and the wideness of the sea, that there are not a great many [more] misfortunes and ill chances in Navigation than there are.“ 69 Zur Standortbestimmung mittels der Gestirne gehört damals wie heute ebenfalls die Kurskontrolle eines Schiffes mit Hilfe eines Kompasses. 70 Dank der Erfindung des Magnetkompasses 71 wurde das Risiko, vom Kurs abzukommen – etwa bei Fahrten weitab der Küste oder bei schlechter Sicht – erheblich verringert. Seit dem frühen 15. Jahrhundert war jedoch die örtliche Abweichung der Magnetnadel vom geographischen Nordpol als sogenannte Missweisung oder Deklination bekannt. Nachdem man festgestellt hatte, dass es sich dabei um keine konstante Größe handelt, wurden Tabellen für die veränderlichen Werte angelegt. 72 Als beim Schiffsbau zunehmend mehr Eisen und Stahl verwendet wurden, entdeckte man außerdem, wie empfindlich die Magnetnadel auf den Eigenmagnetismus eines Schiffes oder auf in der Nähe befindliche metallene Werkzeuge reagierte. 73 So gehörten die Fragen, was Magnetismus sei und welche Beziehungen zwischen Längengrad und Erdmagne-
68 Vgl. dazu Dreier, wie Anm. 62, S. 72a. Erst Tobias Mayer (1723–1762) sollte 1755 bei der britischen Regierung so genaue Mondtabellen einreichen, dass mit ihnen das Längengradproblem auf der Grundlage der Monddistanzen (fast zeitgleich mit der Zeitmessung durch die von John Harrison entwickelte Uhr) als gelöst betrachtet werden konnte. Vgl. ebd., S. 70a–72a. 69 The Tangier Papers of Samuel Pepys. Transcribed, edited and collated […] by Edwin Chappell, London 1935, S. 129. 70 Doch um sich zurechtzufinden, waren auch gute Handbücher, Land- und Seekarten notwendig, wollte man nicht nur bei guter Sicht oder in Sichtweite der Küste fahren und bei Nacht in einer Bucht Zuflucht suchen. Doch das eine – verlässliche Karten – setzte das andere – nautische Erfahrung – schon voraus. Vgl. die Entdeckung der Salomoninseln und deren erneutes Verschwinden bei Barrie, wie Anm. 63, S. 9–14. 71 Zur historischen Entwicklung des Magneteisensteins für die Seefahrt vgl. Dreier, wie Anm. 62, S. 57a–60a. Die Einheit von Kompassrose, Magnetnadel und Kompassgehäuse ist hier wie folgt dargestellt: Bei der im frühen 14. Jh. eingeführten Kompass-Rose handelte es sich um ein kreisrundes Stück Papier, auf dem sternförmig die Himmels- (ursprünglich: Wind) Richtungen aufgezeichnet waren. An der Unterseite diente ein in der Mitte angeklebtes Stück Weicheisendraht als Magnetnadel, an der zentral ein nach unten geöffnetes Messinghütchen angebracht war, das seinerseits auf einem Stift ruhte und in der Konstruktion waagerecht leicht drehbar war. Vgl. ebd., S. 58a. 72 Die Forschungsergebnisse Edmond Halleys (1656–1742), der auf seiner Seereise 1699–1700 die magnetische Deklination über dem Atlantik vermessen hatte, bedeuteten hier einen großen Fortschritt in der Kartographie und Schifffahrt. Als Resultat lieferte er eine Karte, auf der die magnetischen Schwankungen über dem Atlantik als Linien gleicher Werte der erdmagnetischen Deklination (die sogenannten „Halleyschen Linien“) dargestellt sind (s. unten, Anm. 103). Vgl. Alan Cook: Art. Edmond Halley (Version vom 24.5.2012), in: ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/12011. 73 Vgl. Dreier, wie Anm. 62, S. 58b–59a.
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tismus bestehen könnten, gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu den am meisten diskutierten Forschungsproblemen. 74 Was wusste Cima davon, und wie reagierte Leibniz? Ungefähr drei Wochen nachdem Cima in Hannover mit dem Geheimnis einer angeblich natürlichen, sehr alten Methode zur Lösung des Längengradproblems aufgetrumpft hatte, kam es am 22. Oktober 1707 aufgrund des allgemein herrschenden Unvermögens, den Längengrad genau zu berechnen, vor den Scilly-Inseln zur bis dahin größten maritimen Katastrophe der englischen Geschichte. 75 Die intensive Suche nach einer Lösung erfasste ganz Europa. Doch schon zuvor hatte es „Verrückte und Opportunisten“, „Betrüger oder ehrlich von ihrer Lösung überzeugte Menschen“ gegeben, die das Problem mit den abstrusesten Ideen ‚knacken‘ wollten. 76 Die Frage stellt sich: In welche Gruppe ist Cima einzuordnen? Ganz abgesehen davon, dass die Lösung des Längengradproblems ja Cimas Geheimnis war, stellte er diese Lösung in sehr unterschiedlichen Konzepten vor: zum einen als eine natürliche Methode, ohne Kompass zu segeln, welche die Alten vor der Entdeckung des Magneten gekannt hätten; 77 zum anderen als Instrument, das es erlaubte, ohne Magneten zu navigieren, das wegen seiner allgemeinen Bekanntheit aber nicht überliefert worden wäre; 78 drittens als Rätsel, welches das Mysterium einer Schifffahrt der Alten ohne Magneten und dessen Lösung in Form eines Distichons präsentiert. 79 Doch Cima lieferte sogar noch eine vierte, zwar widersprüchliche, aber doch bemerkenswerte Lösung. 74 Leibniz korrespondierte mit den großen Astronomen seiner Zeit, nicht nur, wie erwähnt, mit Ole Römer, mit Edmond Halley (1656–1742), den er am 12. Juli 1703 (vgl. A I, 22 N. 293, S. 496) in Hannover traf, sondern auch mit Isaac Newton, der bei der Berechnung der MondUmlaufbahn einen epochal neuen Weg auf der Grundlage der Zentripetal- oder Gravitationskraft – „der Art nach verschieden von der magnetischen Kraft“ – einschlug. (Vgl. Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica, 1687, 3. Buch, Prop. 5, Cor. 5. Ins Deutsche übersetzt und hg. von Ed Dellian, Sankt Augustin 2016, S. 199). Hierauf scheint Leibniz an Grimaldi, Mitte Januar – Anfang Februar 1697, hinzuweisen; vgl. Widmaier: Briefwechsel, S. 94/95. 75 Dabei verloren mehr als zweitausend Marinesoldaten ihr Leben. Die im Rahmen des Spanischen Erbfolgekriegs von der Belagerung Toulons heimkehrende Flotte kenterte an den Felsenriffen vor den Scilly Inseln, dicht vor der Küste Cornwalls. Das Unglück hob blitzartig ins allgemeine Bewusstsein, dass keine praktikable Methode existierte, den Längengrad für die Position von Schiffen auf dem offenen Meer zu bestimmen. Die Katastrophe gab den Ausschlag für den sieben Jahre später vom britischen Parlament im Juli 1714 verabschiedeten Longitude Act, in dem für die Lösung des Problems ein hohes Preisgeld ausgelobt wurde. Erst im Jahre 1773 wurde es schließlich John Harrison (s. oben Anm. 67) zuerkannt. Vgl. Sobel, wie Anm. 62, S. 18–20; 21–23. 76 S. dazu Sobel, wie Anm. 62, S. 57–59; 76–77. 77 Vgl. Cima an Leibniz, 15. Oktober 1707 (wie Anm. 31). 78 Vgl. Cima an Leibniz, 11. November 1707 (LBr. 157 Bl. 12–13): „Circa illud instrumentum ad navigandum sine magnete […] ob notitiam comunem quam ex exercitio et via illius habebant non fuisse scriptis traditum.“ 79 Vgl. Cima an Leibniz, 12. Dezember 1707 (LBr. 157 Bl. 18–19): „Mitto hic D. V. Illmae duo carmina quae continent enigma seu Misterium […] de navigatione antiquorum sine magnete.
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Denn bevor sich die prekäre Situation des Paters noch zum Guten gewandt hatte, schickte er Leibniz als Beilage zu seinem Brief vom 24. Januar 1708 den bereits erwähnten Einblattdruck Sphinx ad Oedipum 80, damit dieser ihn dem Hof und den Gelehrten in Hannover vorlege und, wie es am Ende des Briefes heißt, deren Mitleid erwecke bei so vielen Unglücksfällen. 81 Nun ist Cima hier leicht als Sphinx und Leibniz neben den Gelehrten als Oedipus zu erkennen, aber damit hört die Parallele schon auf 82, schließt doch diese Sphinx mit der merkwürdigen Aufforderung: Denkt nach, lebt wohl und betet für mich! 83 Anders als im antiken Mythos lag dieser Sphinx nichts ferner, als zu verschlingen, wer ihr Rätsel nicht lösen konnte, oder sich gar in den Abgrund zu stürzen, sollte sich ein Oedipus finden. Das Rätsel lautet: Dir wird das Bewegliche zeigen, wie weit das Unbewegliche entfernt ist. Hast du das Geheimnis gelöst, brich auf, wohin du willst. 84 Auch hier soll sich „im Rätsel jene Kunst (finden), deren sich die alten Argonauten bedient haben, um ihre Seefahrt ohne Hilfe eines Magneten zu bewerkstelligen“. Dabei verwirft Cima zwei übliche Ansichten: als „sinnlos und lächerlich“, dass die Argonauten immer entlang der Küste gefahren wären; „als von der Wahrheit weit entfernt“, dass sie mit Hilfe der Sterne gesegelt wären. Er selbst sieht einen dritten Weg: mathematische Instrumente herzustellen, mittels derer man sicherer als mit dem heute gebräuchlichen Kompass, den er im Übrigen „hochschätze“, alle Meere durchschiffen könnte. Ein solches Instrument wäre sicherer, wie Cima erklärt, weil es anders als der Magnet „ohne Abweichung seinen festen Pol und die anderen Weltgegenden“ anzeige. Wohingegen ein Magnet – „dieser mehr, jener weniger“ – doch stets seine Abweichung vom Pol habe, so dass die Seeleute in der nördlichen Hemisphäre „viele Fehler machen“. Was aber, fragt Cima, wird in der südlichen Hemisphäre geschehen, „wo der Magnet viel von seiner Kraft verliert?“ Cima ist nämlich überzeugt, dass die „Kraft unseres Magneten umso mehr abnimmt, je weiter wir nach Süden kommen“. Sein Rat, das rätselhafte Distichon zu lösen, ist daher: Gebrauche deinen Verstand („ingenium applica“) und suche „nicht in den Büchern“ („ne oculos ad libros vertas“), denn von dem erwähnten Instrument, das „die zur Seefahrt notwendigen Sterne auch am Tage anzeigt“, stehe aus besagtem Grund nichts in ihnen geschrieben. Was hat man jedoch unter einem mathematischen Instrument zu verstehen, das ohne Deklination seinen festen Pol und am Tage die zur Seefahrt notwendigen
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[…] quod si caret alia sex carmina mittam dicta duo clarissime explicantia quorum ope potuit ad praxim deduci ars dicta.“ LBr. 157 Bl. 25. Cima an Leibniz, 24. Januar 1708 (LBr. 157 Bl. 23–24): „[…] suplico gratum habere meum animum et compati de tot molestiis.“ Vgl. zu den antiken Quellen der Sage um Oidipus und die Sphinx Wilhelm Heinrich Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd 3, 1, Leipzig 1897– 1902, Art. Oidipus, Sp. 717–719. „[…] interim cogitate, valete, et pro me orate.“ (LBr. 157 Bl. 25). „Sphinx ad Oedipum. Ostendet tibi Mobile, quantùm immobile distet,/ Arcano invento, perge, quocumque cupis.“
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Sterne anzeigen soll? Cima ist ein aufnahmefähiger, wendiger Geist, der überall auf seiner Reise blitzschnell aufschnappt, was ihm zur Klärung dieser Frage verwertbar erscheint. So ist erklärlich, dass seine Schrift Aedipus Sphingi von 1709 als Lösung des Rätsels plötzlich zwei Methoden bieten will: die eine, „ein längst versprochenes Instrument zu bauen“; die andere, eine sehr leichte und praktische Art, den Längengrad von Osten nach Westen oder umgekehrt zu ermitteln und zu prüfen. 85 Hier bringt Cima mit der erwähnten zweiten Methode das Längengradproblem als eigentliches Problem erstmals zur Sprache. Auch wenn Leibniz von dieser Abhandlung nur durch Johann Andreas Schmidt erfahren hat, ist zu fragen: Wusste Cima, wovon er sprach? War ihm klar, dass es sich bei dem von ihm versprochenen Instrument um ein (später sogenanntes) Schiffschronometer handelte, dessen Funktion ebendie war, die unbekannte Länge eines beliebigen Ortes mit Hilfe der genauen Sonnenzeit an einem Ort mit bekannter Länge zu berechnen? Obgleich ein solches Instrument schon „in der Luft“ lag, hielten die meisten dessen Konstruktion für unmöglich. 86 Cima stellt sich sein Instrument, wie es scheint, nur als „horologium portatile[!]“87 vor. Doch sei auch klar, „dass die Längengrade, [selbst] mit Hilfe der besten und genauesten, auch die Minuten vollkommen anzeigenden tragbaren Sonnenuhren, die eine wahre und genaue Zeitmessung ermöglichen, nicht zu ermitteln sind“. 88 Für die Seefahrt liege vielmehr der größte Nutzen einer genauen Zeitmessung darin, „das Maß von vielem, nämlich der Winde und Wasserströmungen zu ermitteln“. 89 Aber „die Methode darzulegen, wie man die Wasserströmungen und deren Gewalt wie auch die Gewalt der Winde ermittelt“, so Cima, sei „hier nicht der Ort […], dafür brauchte man einen [ganzen] Band, und es wäre eine zu große Abschweifung“. 90 Zu Leibniz’ oben zitierter Randbemerkung auf dem Brief von Johann Andreas Schmidt ist hier nichts hinzuzufügen, sie führt aber zu Leibniz’ Antwort auf Cimas ersten Brief zurück. Leibniz geht zu Recht davon aus, dass die Alten für die Seefahrt
85 Vgl. Cima: Aedipus Sphingi, hier bereits im Titel: Solutio Aenigmatis jam propositi […] In qua traditur modus construendi instrumentum jam promissum, una cum modo facilimè, et practicè gradus longitudinis de oriente in occidentem, seù è contra, habendi et per[s]crutandi. 86 Auch Newton hielt die Lösung des Längengradproblems mit Hilfe einer fehlerlos laufenden Uhr für illusorisch, indem er feststellte: „Es ist freilich noch keine Uhr hervorgebracht worden, die in der Lage wäre, unbehelligt von den Schiffsbewegungen, den Temperaturschwankungen, der unterschiedlichen Luftfeuchtigkeit und der unterschiedlichen Gravitation an verschiedenen Breitengraden genaue Ergebnisse anzuzeigen.“ (Zit. nach Sobel, wie Anm. 62, S. 72f.) 87 Vgl. Cima: Aedipus Sphingi, S. 7. 88 Ebd., S. 4: „Negari tamen non potest quod ex horologiis portatilibus optimis, ac justissimis minuta etiam perfectè indicantibus, per quae vera, et justa temporis mensura habetur, indagari, et haberi non possint gradus longitudinis.“ 89 Ebd., S. 4–5: „[…] quae mensuram motus multorum, scilicet ventorum, et currentium aquarum indagare debet.“ 90 Ebd., S. 7: „Non est hic locus narrandi modum cognoscendi perfectè currentes aquarum, et vim illarum, sicut etiam vim ventorum, esset enim opus volumine, et digressio nimis magna foret.“
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noch keinen Kompass besessen haben, 91 und verweist auf den Vorteil der Magnetnadel für uns, da wir mit ihrer Hilfe auf dem Land auch ohne sichtbare Sterne die Himmelsrichtungen feststellen könnten. Es sei aber noch kein Mechanismus verfügbar, um diesen Vorteil „in mare instabili“ zu nutzen. 92 Als denkbare Alternative zum Kompass ist nach Leibniz mittels eines Kunstgriffs („aliquo artificio“) auch die Konstruktion einer Art Sonnenuhr denkbar, die wie jene bei Kircher erwähnte Pflanze 93 funktionierte, ganz „ohne Sonne, Mond oder Sterne“. Dann wäre „auch ohne Sonne der Meridian leicht zu ermitteln“ und „man könnte die geringfügige Abweichung der Magnetnadel vom Pol beobachten“. Ob aber etwas Derartiges aus Cimas Methode herzuleiten sei, lasse sich nicht entscheiden, gibt Leibniz zu bedenken, solange nicht feststehe, ob diese Erfindung auf einem mechanischen oder physikalischen Prinzip („ex mechanico an physico fonte) beruhe. Leibniz’ schwache Andeutung des Längengradproblems konnte Cima nicht inspirieren. Sie scheint aber zum einen zu zeigen, dass Leibniz, anders als Cima, ein Instrument auf der Grundlage eines mechanischen Prinzips als nautische Alternative zum Kompass praktisch nicht für herstellbar hielt; zum anderen scheint ebenso deutlich, dass eine für ihn denkbare, auf der Grundlage eines physikalisch-natürlichen Prinzips konstruierte Sonnenuhr von der Zeitmessung durch ein technisches Instrument wie ein Chronometer weit entfernt ist. Leibniz’ Schriften und Korrespondenzen zeigen indessen von frühester Zeit an, dass ihm verschiedene Hypothesen zum Meridianproblem aus der Literatur 94 und
91 Der Gebrauch des Magnetkompasses auf See ist zuerst in China im Jahr 1090 bezeugt, etwa ein Jahrhundert früher als im Westen. Vgl. Joseph Needham: Science and Civilisation in China, Cambridge University Press, Vol. 4. 3, Cambridge 1971, S. 562–564, hier S. 562; Dreier, wie Anm. 62, S. 57–60, hier S. 58a. 92 Vgl. LBr. 157 Bl. 8. Die „Kardanische Aufhängung“, benannt nach Gerolamo Cardano (1501– 1576), scheint zu dieser Zeit wenig bekannt. 93 Diese Pflanze richtet sich angeblich auch dann zur Sonne aus, wenn diese hinter Wolken verborgen liegt. Vgl. Athanasius Kircher: Magnes sive De arte magnetica opus tripartitum, Romae 1641, S. 737–739. 94 Zunächst William Gilbert (De magnete magneticisque corporibus, et de magno magnete tellure physiologia nova, Londini 1600 und Kircher (wie oben Anm. 93), vgl. etwa Leibniz an Hevelius, 3. Mai 1671, A II, 1 N. 53, S. 159. Kircher sammelte die an vielen Punkten der Erde gemessenen magnetischen Abweichungen vom geographischen Nordpol und versprach sich davon eine mögliche Bestimmung der Längengrade. S. dazu Agustin Udías: Athanasius Kircher and Terrestrial Magnetism: The Magnetic Map, in: Journal of Jesuit Studies, 7 (2), S. 166–184. Dabei ging Leibniz im Rahmen seiner Lichtäther-Theorie davon aus, dass die bewegte Materie in der Umgebung der Erdkugel durch die Meridiane gegen die Pole getrieben wird. Vgl. Positiones quaedam Physicae [Frühjahr-Sommer 1672 ?] (A VI, 3 N. 21, S. 6, §§ 10–12); Nova hypothesis physica [Winter 1670/71(?)] (A VI, 2 N. 40, §§ 33–34, hier S. 238– 239). Wie Kircher interessierte sich Leibniz in Bezug auf China auch für die Beobachtungen der magnetischen Abweichungen, allerdings mehr noch für alte astronomische Aufzeichnungen aus der Zeit der Geburt Christi. Vgl. Widmaier: Briefwechsel, S. 291; Sachregister s. vv. Astronomie/ Astronom. Amt in Peking/ Beobachtungen; Magnetfeld der Erde.
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den neuesten Forschungen wohlbekannt waren. 95 So wusste er, dass schon vor 1648 ein Preis auf die Entdeckung der Längengrade ausgesetzt worden war 96 und dass das Meridianproblem seit Huygens’ Erfindung der Pendeluhr 1665 durch eine genaue Zeitmessung gelöst werden konnte. 97 Doch seine Ansicht über die verschiedenen Forschungsansätze wechselte im Laufe der Zeit: Nachdem ihm Huygens geschrieben hatte, er glaube nicht, dass es eine Regel für die Abweichung der Magnetnadel geben könne, um damit dem Geheimnis der Längengrade näher zu kommen, 98 scheint es ihm, dass man nun ausreizen müsste, was sich mit Hilfe von Huygens’ Uhr in dieser Sache erreichen ließe. 99 Nichtsdestoweniger befürwortet Leibniz die Beobachtung der Eklipsen von Mond und Jupitermonden zur Feststellung der Längengrade einzelner Orte, 100 auch wenn dabei schwere Irrtümer vorgekommen seien. 101 Inzwischen berichtet ihm Huygens, eine Uhr entwickelt zu haben, die binnen 5–6 Tagen keine Sekunde abweiche und die Bewegungen des Schiffes mühelos ertrage. 102 Als Leibniz aber fünf Jahre später von Sloane dessen eigenes Exemplar der Halley‘schen Seekarte 103 zum Geschenk erhält, mahnt er erneut, die Sammlung von Beobachtungen zur magnetischen Abweichung zu veröffentlichen, 104 da diese, wie es etwas später an anderer Stelle 105 heißt, stellvertretend für die Längengrade fungieren könnten. Bis in sein letztes Lebensjahr faszinierte ihn indessen der Magnetismus als geheimnisvolle Kraft eines Magneten, 106 doch gerade diesen wollte Cima in allen seinen Briefen bis hin zur Sphinx ad Oedipum107 durch ein ominös-rätselhaftes Instrument ausschließen.
95 Leibniz glaubte, „si apte in Tabulas redigantur declinationes Magneticae vix dubito, quin mox inventuri simus vel causam, vel certe usum ejus rei maximum ad locorum longitudines inveniendas“. De Historia naturali [1679] (A IV, 3 N. 132, S. 854). 96 Vgl. Leibniz an Christiaan Huygens, 26. September 1692 (A III, 5 N. 122, S. 453f.). 97 „[…] de lo n g it ud i nib u s i n ve n ie nd is diu multumque laboratum est,tandemque anno 1665. Hugenii inventum per globulos pendulos celebrari coepit. Ejus tota vis in eo consistit. Esto Horologium, quod exacte monstret quanto tempore domo absimus. Ut ita sciamus exacte quae nunc hora sit domi. Deinde observetur quae nunc hora sit hic, ubi nunc sumus. Et ita sciemus praecise quantum quoad longitudinem domo absit.“ De longitudinibus inveniendis [Ende 1668–Anfang 1669] (A VIII, 1 N. 21, S. 24). 98 Vgl. Huygens an Leibniz, 5. Mai 1691 (A III,5 N. 21, S. 112f.). 99 Vgl. Leibniz an Huygens, 8. Januar 1692 (A III, 3 N. 53, S. 242). 100 Vgl. Leibniz an Bernoulli, 17. Juni 1698 (A III, 7 N. 201, S. 794). 101 Vgl. Leibniz an Bernoulli, 22. Juli 1698 (A III, 7 N. 208, S. 828). 102 Vgl. Huygens an Leibniz, 29. Mai 1694 (A III, 6 N. 38, S. 101). 103 Vgl. Hans Sloane an Leibniz, 28. Juni 1701 (A III, 8 N. 276, S. 717). 104 Vgl. Leibniz an Hans Sloane, 27. Dezember 1701 (A III, 8 N. 320, S. 817). 105 Vgl. Leibniz an Reinhold von Patkul, 30. Januar 1704 (A I, 23 N. 49, S. 71). 106 Vgl. Leibniz an Leeuvenhoek, [Hannover 1716], gedr.: D II, 2, S. 92–94 „Sur lʼAimant“. Leibniz möchte experimentell die Kraft eines Magneten sicht- und messbar machen, indem er die Richtungskraft des magnetischen Pols auf eine Magnetnadel von deren Anziehungskraft auf Eisenspäne unterscheidet. 107 Wie Anm. 80.
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Von Huygens hatte Leibniz erfahren, dass in Erwartung von Belohnungen „Leute ohne Kenntnisse in diesen Dingen sich vorgestellt haben, dass aus der Erfindung eines perpetuum mobile sich die Längengrade ergeben würden“. 108 Dies mag einer der Gründe sein, weshalb Leibniz in allen seinen Briefen über Cima mit keinem Wort auf dessen geheimnisvolle Erfindung reagierte. Hielt er deshalb auch Informationen, die Cima ihm über China mitgeteilt hatte, für wenig glaubhaft? III. Cimas Mitteilungen über China in Leibniz’ Denken Cimas Nachrichten über China ‒ Zwei Informationen Cimas haben Leibniz’ Denken beeinflusst und auch in seinen Korrespondenzen deutliche Spuren hinterlassen. Die eine betrifft das für Leibniz unklare Verhältnis zwischen chinesischer Schrift und Sprache; die andere das große Problem der Europäer, Chinesisch in Wort und Schrift zu erlernen, um den darin, wie Leibniz überzeugt war, enthaltenen immensen Wissensschatz zu heben. Im ersten Fall unterrichtete Leibniz noch am selben Tag La Croze über das bereits erwähnte, für ihn wichtigste Ergebnis seines Gesprächs mit Cima: Die chinesische Begriffsschrift enthalte ungefähr vierhundert fundamentale Charaktere, aus denen alle anderen Schriftzeichen nur zusammengesetzt seien. Für Leibniz war die Nachricht eine Sensation. Mit diesen Elementarzeichen als einer Art Alphabet des menschlichen Denkens wäre vielleicht nicht nur eine Analyse des Denkens möglich, sondern auch die Erschließung einer rationalen Grammatik. Doch La Croze belehrte ihn eines anderen 109: Er schmeichelte sich, einen Schlüssel der chinesischen Sprache gefunden zu haben, ein Hilfsmittel „de quoi on peut apprendre sans trop de peine à lire, prononcer, et entendre tous les livres Chinois“; im Hinblick auf Leibnizʼ Erwartungen heißt es jedoch: „Je ne me souviens point dʼavoir rien remarqué dans la langue chinoise qui puisse servir à lʼanalyse des pensées.“ Die geistige Umsetzung dieses enttäuschenden Resultats 110 findet sich drei Jahre später in Leibnizʼ Briefwechsel mit John Toland. Dieser wendet sich an Leibniz „as an
108 Vgl. A III, 5 N. 123, S. 455: „[…] assurement il nʼy a point de prix proposé par Mrs les Estats à lʼinvention du Mouvement perpetuel, quoyque je sҫache que plusieurs lʼont creu, parce que des gens peu sҫavans en ces matieres se sont imaginé que de cette Invention sʼensuivoit celle des Longitudes, qui est une consequence sans fondement.“ 109 La Croze an Leibniz, 1. November 1707 (wie Anm. 41). 110 Am 13. Dezember 1707 schrieb Leibniz in dieser Sache den letzten Brief an Joachim Bouvet S.J.: „Mir liegt nicht viel am metaphysischen Gebrauch der Zeichen des Fuxi und anderer dergleichen, denn ich habe eine ganz andere Vorstellung von der wahren Charakteristik, die gleichermaßen dazu dienen würde, die Gedanken auszudrücken und sie zu leiten, und so etwas wie eine lebendige Logik wäre.“ Vgl. Widmaier: Briefwechsel, Nr. 68, S. 602/03. Dass Leibniz allerdings weiterhin in der chinesischen Zeichenschrift eine Art empirisches Modell für sein Projekt sah, beweist sein Brief an La Croze vom 5. November 1707 (gedr.: D V, S. 488).
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oracle in History“, 111 um Aufklärung über eine seit langem bestehende Unklarheit bezüglich der chinesischen Sprache zu erhalten. Auf der einen Seite sei die Rede von einer extremen „and almost insuperable difficulty of a foreigner’s ever learning, to any tolerable degree, that Language“, auf der anderen Seite werde das Gegenteil von eben jenem italienischen Augustinerfrater behauptet, der ihm gegenüber in Berlin wiederholt habe, was er zuvor Leibniz in dieser Sache berichtet hatte. 112 Leibniz’ Antwort ist sehr klar: Man müsse zwischen den Charakteren und der Sprache unterscheiden. Die Jesuiten hätten recht damit, „quʼil faut beaucoup de temps pour quʼon soit en état de bien entendre les livres de cette nation“. Die Sprache dagegen sei nicht „fort difficile, quand on en a attrappé la prononciation“. Sie sei aber so unvollkommen, dass die Gelehrten sie nicht pflegten, „parce quʼils sʼattachent aux caracteres“. Aus diesem Grund schrieben sie ihre Charaktere oft in die Luft, um sich besser zu erklären. 113 Im zweiten Fall handelt es sich um mehrere Informationen Cimas, deren Handlungsperspektive sich für Leibniz in der Aussage konzentrierte: Bücher und andere Dinge, ja selbst fähige Chinesen, um sie zu interpretieren, könnten für wenig Geld nach Europa geholt werden. Brisanz erhielt die Nachricht durch folgende weitere Informationen Cimas: Dass es mit der Religion des Kaisers nicht weit her sei 114 und der Kaiser an die Unsterblichkeit der Seele nicht glaube. 115 Dass es sich beim Konfuzius-Kult ohne Zweifel um eine wirkliche Idolatrie 116 handele und dass die [Jesuiten-]Missionare in China in großer Ungezwungenheit („liberté“), ja Ausschweifung („libertinage“) lebten. 117 Da Leibniz mit den Problemen und jüngsten Ereignissen im chinesischen Ritenstreit bestens vertraut war, 118 hatte er die vielfach von ihm vorgebrachte Sorge,
111 Toland an Leibniz, 22. Februar 1710 (gedr. in: A Collection of Several Pieces of Mr. John Toland, Now first publishʼd from his original Manuscripts: With some Memoirs of his Life and Writings, London 1726, Vol. 2, S. 395–400, hier S. 396f.). 112 Ebd., S. 397: „The contrary of all this, you may remenber, was affirmʼd to you, and by an Italian Augustin Friar about three years ago at Wolfembuttle, who afterwards repeated the same thing to me at Berlin.“ Toland bezweifelt nicht Cimas Glaubwürdigkeit in diesem Punkt, „tho’ I vehemently suspected what he said of the Compass“. 113 Leibniz an Toland, 1. März 1710 (gedr. ebd., S. 402). 114 Leibniz an La Croze, 5. November 1707 (gedr.: D V, S. 487): Leibniz ist durchaus geneigt zu glauben, „que sa Religion ne va guére loin“. 115 La Croze an Leibniz, 1. November 1707 (wie Anm. 41). 116 Vgl. dagegen Leibniz an La Croze, 5. November 1707 (gedr.: D V, S. 487): „[…] pour les honneurs qu’on fait à Confucius, je doute si on les peut appeller idolatriques“. 117 Leibniz an La Croze, 5. November 1707 (gedr.: D V, S. 487): „Je croirois volontiers que quelques Missionnaires Chinois abusent de la liberté où ils se trouvent“. S. auch La Croze an Leibniz, 1. November 1707 (wie Anm. 41). 118 S. oben, Anm. 4, und Widmaier: Briefwechsel, S. XXIV–LI. Zu den jüngsten Ereignissen gehörte 1707 die Veröffentlichung des päpstlichen Ritenverbots in Nanking (heute Nanjing), worauf der Kaiser den Europäern, die es wagten, die einheimischen Riten zu verbieten, mit dem Tod drohte. Vgl. Widmaier/Babin: Briefe über China, Nr. 17 u. Nr. 27, S. 88/89 bzw. S. 128– 131.
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dass selbst die Jesuiten das Land würden verlassen müssen. 119 Dabei galt sein Hauptinteresse einem Wissensaustausch mit China, wie ihn die Welt bisher nicht kannte, und er sah voraus, dass man die dort wissenschaftlich tätigen Patres 120 verjagen würde, sobald sie ihre Schuldigkeit getan hätten. 121 Es galt also, dieser Gefahr entgegenzuwirken, indem man gelehrte Chinesen und deren Bücher nach Europa holte und mit der notwendigen Begründung das Geld dafür beschaffte. In diesem Sinne wandte sich Leibniz an Ferdinand Orban S.J., Beichtvater Johann Wilhelms von der Pfalz, eines großzügigen Förderers von Kunst und Wissenschaft. 122 Ohne Umschweife schreibt er: 123 Der vom chinesischen Kaiserhof zurückkehrende Augustiner Cima habe in Hannover praktisch keine Hoffnung auf die Bekehrung des Kaisers zum Christentum gelassen; auch sehe dieser nicht, wie die Patres der Gesellschaft Jesu bei den Chinesen große Fortschritte darin erzielen könnten, solange sie in Sprache und Schrift nicht bessere Kenntnisse erwürben. Von jungen Leuten, die sich ganz auf diese Aufgabe konzentrierten, könne man dies in Europa allerdings erwarten, doch in China wäre es in diesem zarten Alter („fragili Aetate“) und wegen der Verlockungen des Landes („regionis illecebras“) 124 höchst unsicher. Leibniz schlägt deshalb vor, mit einigen gelehrten Chinesen auch deren Bücher und Wissenschaften nach Europa zu holen und für diese zukünftige schola Chinensis in Europa ein für die Chinamission ausgesetztes Legat der Herzogin von Leuchtenberg Mauricienne Fébronie zu nutzen. 125 Pater Orban fand den Plan großartig, doch aus diesem der Zeit weit vorauseilenden Vorhaben wurde tatsächlich nichts. 126 Doch wie glaubwürdig war Cima? Eine vertrauenswürdige Antwort wäre zu erwarten gewesen von den Jesuitenpatres Charles Le Gobien, Missionsprokurator der Chinamission in Paris, und Joachim Bouvet, dem zeitweiligen Lehrer des Kangxi Kaisers und Leibnizʼ langjährigem Briefpartner in Peking, an die sich Leibniz
119 Leibniz an La Croze, o. D. (gedr.: D V, S. 486); Leibniz an La Croze, 5. November 1707 (gedr.: D V, S. 487). 120 Vgl. Isabelle Landry-Deron: Les mathématiciens envoyés en Chine par Louis XIV en 1685, in: Archive for History of Exact Sciences, 55, 2001, S. 423–463. 121 Vgl. Widmaier: Briefwechsel, Personenverzeichnis, S. 854 s.v. Leibniz – warnt; Leibniz an Le Gobien, 13. Dezember 1707 (ebd., Nr. 68, S. 596/97); Leibniz an Bouvet, 13. Dezember 1707 (ebd., Nr. 69, S. 600/01). 122 S. oben, Anm. 44, und Widmaier/Babin: Briefe über China, S. LXII–LXXII, hier S. LXV f. 123 Vgl. Leibniz an Orban, 28. Oktober 1707 (Widmaier/Babin: Briefe über China, Nr. 7, S. 64/65). 124 Wie Leibniz im folgenden Brief vom 18. Dezember 1707 verdeutlichend hinzufügt, s. ebd., Nr. 9, S. 68/69. 125 Vgl. ebd., Anm. 3, S. 448. 126 Orban erkannte die größten Schwierigkeiten darin, an das Geld zu kommen (vgl. ebd., Nr. 8, S. 66/67) und teilt Leibniz am 9. August 1708 mit: „[…] das Testament ist von der kaiserlichen Regierung kassiert worden, so dass keinerlei Auszahlung zu erlangen ist, ganz nach der heute bewährten Manier“ (ebd., Nr. 11, S. 74/75). Leibniz unterbreitete diese von Cima angeregte Idee auch Nicolaas Witsen, dem langjährigen Bürgermeister von Amsterdam und Direktor der Ostindischen Kompanie, der die Möglichkeit ihrer Verwirklichung vollauf bestätigte. Vgl. Leibniz an Orban, 4. September 1708 (ebd., Nr.12, S. 76/77, mit Anm. 2, S. 454).
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auch wirklich wandte: „J’ay vû icy le RP. Cima Augustin Italien […]. Il dit que l’Empereur de la Chine est fort éclairé, mais il n’espere point sa conversion. Il dit aussi de luy avoir souvent tâté le pouls en qualité de Medecin“. 127 Doch Leibniz erhielt keine Antwort: Le Gobien war bereits 1708 verstorben, aber Bouvet, der Leibniz vermutlich vieles über Cima hätte berichten können, wie noch zu zeigen sein wird, war von seinem Orden vor dem Hintergrund des Ritenstreits mit einem Schreibverbot belegt worden. 128 IV. Nicolo Agostino Cima und die Fakten Cimas Biograph Francesco Surdich hat die Vita des Augustiners folgendermaßen rekonstruiert 129. Wenig ist über Cimas familiären Hintergrund und die frühen Einflüsse seiner Bildungswelt bekannt. Er kam 1650 in Rimini zur Welt und wurde dort auf die Namen Carlo, Nicola, Alberto getauft. Das Datum seines Eintritts in den Augustinerorden (OESA) ist nicht bekannt, wohl aber seine Anwesenheit in den Kollegien Rimini (1671-1672) und Perugia (1673-1674). Er wirkte als Missionar in verschiedenen italienischen Städten und wurde als Visitator der Augustinermission nach Morea entsandt. Weitere Nachrichten über Cima liegen erst ab 1696 vor, dem Jahr, in dem er von der Propaganda Fide 130 als apostolischer Missionar nach China entsandt wurde. Von Rom brach Cima am 10. Februar 1697 nach China auf, während eines ersten Teils der Reise in Gesellschaft P. Appianis. Nach einem Schiffbruch bei Formosa (heute Taiwan), bei dem er alles verlor, was er bei sich hatte, ging er am 16. Oktober zusammen mit dem Augustiner Giovanni Mancini und den beiden Franziskanern Placido de Valcio und Giuseppe Francesco di Langasco in Amoy (heute Xiamen, Provinz Fujian) an Land. Dank der Fürsprache französischer Jesuiten und des Engagements von Charles Maigrot MEP 131 konnte er nach China einreisen. Nachdem Cima die allernotwendigsten Kenntnisse („elementi essenziali“) des Chinesischen erworben und der Franziskaner Bernardino 127 Vgl. Leibniz an Bouvet, 13. Dezember 1707 (Widmaier: Briefwechsel, Nr. 69, S. 600/01), und ganz ähnlich am selben Tag Leibniz an Le Gobien (ebd., Nr. 68, S. 594/95). 128 Zu Bouvets im Orden umstrittener Missionsmethode, dem sogenannten Figurismus, vgl. Claudia von Collani: Die Figuristen in der Chinamission, Frankfurt am Main 1981; Widmaier: Briefwechsel, S. LXXXIV–CV. 129 Vgl. zum Folgenden Francesco Surdich: Fonti, S. 131–136; ders.: Art. Nicola Agostino Cima, in: DBI, Vol. 25, 1981, S. 527–529. 130 Die Propaganda Fide (s. oben Anm. 4) ist bis heute zuständig für alle Glaubensfragen und das für die Missionen ausgearbeitete Programm: Ausschluss von weltlichen Gewalten in den Missionen; Vertretung Roms durch apostolische Nuntien; Vermehrung und Aufbau kirchlicher Diözesen. Vgl. Nikolaus Kowalski, Art. Propaganda-Kongregation (SC Prop.), in: Lexikon für Theologie und Kirche2, Bd 8 (1963), Sp. 793–794. 131 Charles Maigrot MEP, Apostolischer Vikar von Fukien, hatte 1693 die Ausübung der chinesischen Riten in seiner Provinz verboten und dadurch den seit langem bestehenden Streit über die Natur der chinesischen Riten neu entfacht und eine Wende zu Ungunsten der Jesuitenmission eingeleitet (s. unten Anm. 141).
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della Chiesa, damals Apostolischer Vikar in Nanking, 132 ihn autorisiert hatte, auf chinesischem Territorium zu missionieren, waren die Voraussetzungen geschaffen, ihn als Arzt dem Kangxi Kaiser vorzuschlagen. Dieser wies ihn dann zusammen mit den Jesuitenpatres Antoine Thomas 133 und Giuseppe Baudino 134 der Dongtang [Ostkirche] 135 zu. Auf diese Weise hatte Cima Zutritt zum Pekinger Hof, wo er „solo un anno e mezzo“ blieb, um sich dann auf die Reise nach Fukien (heute: Fujian) und – wie sich Anfang Mai 1700 herausstellte − nach Canton und von dort auf die Philippinen zu begeben. Von der Zeit an, zu der Cima auf den Philippinen eingetroffen war, bis zu seiner Rückkehr nach Europa, wahrscheinlich 1704-1705, wie Surdich annimmt, lasse sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann Cima wo gewesen ist. Sicher ist, dass Cima nach seiner Ankunft in Venedig 1708 zur Ordenskongregation der Unbeschuhten Augustiner (OAD) wechselte, im Jahre 1711 sein Ordensgelübde in Rom ablegte und hier im Kloster S. Nicola da Tolentino lebte bis zu seinem Tod am 8. April 1722. Diese Darstellung wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Zunächst: Wie lange war Cima tatsächlich jeweils wo? Dass er volle elf Jahre in Asien war („dans lʼAsie“ 136), ist nur nachvollziehbar, wenn man großzügig die Jahre vom Moment seiner Entsendung nach China an (1696) bis zu seiner Ankunft in Kopenhagen
132 Zu Bernardino della Chiesa OFM (vgl. Anm. 141). 133 Antoine Thomas S.J. (1644–1709) war seit 1686 in Peking und hatte C. F. Grimaldi S.J. während dessen Europaaufenthalts (1686–1694) als Präsident des Mathematischen Amtes vertreten. Im Jahre 1699 leitete er in Nanking im Auftrag des Kaisers die Arbeiten bei der Überschwemmung des Gelben Flusses. Vgl. Dehergne: Répertoire, Nr. 843. 134 Der Mediziner und Pharmazeut Fr. Giuseppe Baudino S.J. (1656–1718) war 1694 in Peking eingetroffen und begleitete den Kaiser 1699 auf dessen Reise in die südlichen Provinzen. Vgl. Dehergne: Répertoire, Nr. 88. 135 Die Jesuitenpatres Ludovico Buglio (1606–1682) und Gabriel de Magalhãens (1610–1677) gründeten 1655 in Peking eine Residenz mit einer Kirche. Diese (Dongtang oder St. Josephs Kirche) wurde 1662 erbaut. Vgl. Dehergne: Répertoire, Nr. 121. 136 So F. von Walter (wie Anm. 3).
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(1707) in diesen Zeitraum einbezieht. 137 Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert jedoch nicht diese gesamte Zeitspanne, 138 sondern allein jene drei Jahre, 139 die Cima am Hof zu Peking als Arzt des Kaisers tätig gewesen sein soll. Darüber hat Cima schriftlich nichts berichtet, auch nicht in seiner Relatione für Venedig. Die drängendsten Fragen betreffen die Ankunft Cimas in Amoy: Wer half ihm, als er nach seinem Schiffbruch vollkommen mittellos und des Chinesischen nicht mächtig dort eingetroffen war, wer brachte ihn bis nach Peking in die unmittelbare Nähe des Kangxi Kaisers, und wodurch zeichnete er sich dafür aus? Zum Verständnis des Geschehens und der Rolle Cimas darin muss vor dem Hintergrund des chinesischen Ritenstreits als treibende Kraft die Rivalität zwischen der Patronatsmacht Portugal 140 und dem Papst 141 beachtet werden. Sie führte von Seiten des Papstes zur Einsetzung von Apostolischen Vikaren, die ihm rechts- und glaubensmäßig direkt unterstanden, und die ihrerseits den Gehorsamseid der Missionare in ihren Vikariaten verlangen konnten. Dies führte zur Konfrontation zwischen den von der
137 Nach Surdich: Art. Cima, in: DBI (wie Anm. 129), dauerte die Reise ab Rom (12. Februar 1697) bis nach Amoy (16. Oktober 1698) gut zwanzig Monate. Den Nachforschungen von Smith: Relatione , S. 165–167, zufolge begann die Rückreise Cimas auf dem „Norwegischen Löwen“ unter dem Kommando von Kapitän Steffen Meyer in Trankebar am 24. Oktober 1706 und endete in Kopenhagen etwa Mitte Juni 1707. Mit den Angaben F. von Walters (wie Anm. 3) stimmt dies gut überein. Damit verkürzt sich Cimas direkter Aufenthalt in Asien um rund 28 Monate. 138 Cima hat in seiner Relatione für Venedig angegeben, dass er 1701 in Canton war, sich zwanzig Monate in Pondicherry, drei Jahre in Siam aufgehalten und eine Quadragesima (eine Reihe von Predigten innerhalb der 40tägigen Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Karfreitag) auf Sumatra gehalten habe. Vgl. Smith: Relatione, S. 183 bzw. 196 bzw. 216 bzw. 221. Dass Cima auch auf Formosa war, berichtet La Croze in seinem Brief an Leibniz vom 1. November 1707 (wie Anm. 41). Dabei habe Cima die Insel wahrheitsgemäß beschrieben – im Unterschied zu dem berüchtigten George Psalmanasaar. Vgl. Widmaier: Briefwechsel, S. 789–791, Anm. 27. 139 Drei Jahre nach Cima (laut Walter, wie Anm. 3), eineinhalb nach Surdich und nur ein Jahr nach Van den Wyngaert/ Mensaert in SF V, S. 385, Anm. 6. 140 Im Vertrag von Tordesillas (1594) hatte der Papst anhand eines (damals höchst unsicheren) Meridians – 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln – die Erde in zwei Hemisphären eingeteilt. Für Portugal bedeutete dies freien Handelsverkehr östlich jener Linie mit der möglichen Eroberung nichtchristlicher Territorien. Dafür musste es für die unentgeltliche Beförderung der Missionare auf seinen Handelsschiffen sorgen und überdies die kirchlichen Diözesen mit ihren Einrichtungen finanziell unterhalten. Als Ausgleich erhielt es die Jurisdiktion in den Diözesen und das Recht, die Bischöfe darin vorzuschlagen und einzusetzen. (Vgl. Adelhelm Jann: Die katholischen Missionen in Indien, China und Japan. Ihre Organisation und das portugiesische Patronat vom 15. bis ins 18. Jahrhundert, Paderborn 1915, S. 58 ff.). Die Schwächung Portugals als Seemacht und damit seiner Finanzkraft als Patronatsmacht führte im 17. Jh. zu einer Neuorganisation der kirchlichen Provinzen von Seiten der Päpste. 141 An Stelle der alten Ordnung wurden Apostolische Vikariate gegründet, die, anders als vordem, dem Papst kraft seines Primats der Rechtsprechung über die Gesamtkirche direkt unterstanden; an die Stelle des Bischofs trat der Apostolische Vikar, der nun als Titular- und Weihbischof seine Jurisdiktion nur delegationsweise erhielt (wie Anm. 140, S. 214). Darüber hinaus billigte 1677 Innozenz XI. den Gehorsamseid, den die Missionare vor den Apostolischen Vikaren abzulegen hatten.
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Propaganda Fide ausgesandten Missionaren und den Jesuiten, 142 aber insbesondere zum Gehorsamskonflikt mit den Jesuitenmissionaren und deren Anhängern im Ritenstreit. Cima in seiner bedrängten Lage halfen also zunächst Maigrot, der in Fukien zwei Residenzen besaß, 143 und dann Della Chiesa. Tatsächlich war das aus Surat kommende englische Schiff schon am 18. August 1698 auf der Höhe von Formosa gesunken. Die vier schiffbrüchigen Missionare, darunter Cima, konnten allerdings erst nach zwei Tagen auf der Insel an Land gehen, wo sie zwei Monate verbringen sollten, bis sie endlich am 16. Oktober in Amoy chinesisches Festland betraten. 144 Dort wurden sie von Philibert Le Blanc MEP „peroptime“ empfangen und weiter nach Fuzhou in die Residenz Maigrots gebracht, unter dessen Leitung sich zunächst alle dem Studium der chinesischen Sprache widmeten. 145 Die „wesentlichen Elemente der chinesischen Sprache“ lernte Cima aber höchstwahrscheinlich bei Della Chiesa in Nanking, der ihm kraft seiner Vollmacht auch erlaubte, in China die Funktionen eines Missionars wahrzunehmen. 146 Die Frage jedoch, welche französischen Jesuitenpatres die Fürsprecher
142 Unter den von der Propaganda Fide ausgesandten Klerikern und Missionaren waren viele Mitglieder der MEP (s. oben, Anm. 4), die sich dem neuen Ordnungsprogramm Roms verschrieben hatten. Eines der beiden Gründungshäupter der MEP, Generaladministrator von ganz China und Apostolischer Vikar von Fukien, war Franҫois Pallu (1626–1684). Kurz vor seinem Tod hatte er Charles Maigrot (1652–1730) und Bernardino Della Chiesa (1644–1721) zu seinen Nachfolgern bestimmt. Es kam zu Unstimmigkeiten zwischen beiden, denn Maigrot gehörte zu den Verfechtern des Gehorsamsdekrets gegenüber den Apostolischen Vikaren, während Della Chiesa es ablehnte und sich (angeblich) für die Beibehaltung der chinesischen Riten aussprach, nachdem Maigrot diese für seine Provinz Fukien verboten hatte. Als der Papst 1690 in Übereinstimmung mit der portugiesischen Krone die neuen Diözesen Peking und Nanking kreierte und beide als Suffraganbistümer dem portugiesischen Erzbistum von Goa unterstellte, hatte dies Konsequenzen zugunsten der Jurisdiktion Portugals. Della Chiesa wurde nun zum Bischof von Peking erhoben. Er erhielt davon infolge von Intrigen jedoch keine Kenntnis und blieb noch acht Jahre als Apostolischer Vikar in Nanking, ehe er jene Bulle in Händen hielt, die ihn zum Bischof von Peking ernannte. Infolge der Probleme, dort zu residieren (s. unten), wählte er seine Residenz schließlich in Linqing (Provinz Shandong). Vgl. Giuliano Bertuccioli, Art. Della Chiesa, in: DBI, Vol. 36 (1988), S. 742–745; SF VI, 1, S. 421–428. 143 Die eine war Zhangzhou, relativ nahe bei Amoy, die andere Fuzhou; vgl. Adrien Launay: Mémorial de la Société des Missions étrangères. Deuxième partie: 1658–1913, Paris 1916, S. 418a. 144 Bei den anderen handelte es sich um den Augustiner Giovanni Mancini sowie die Franziskaner Placyd Walczak († n. 1721) und Giuseppe Francesco Broccardo de Langasco (1665–1712). Vgl. Basilio Brollo an Kardinal Fabroni, 22. Oktober 1698, SF VI, 2, S. 1052 mit Anm. 28, 29. 145 Vgl. Brollo an Maigrot, 12. Januar 1699, SF VI, 2, S. 1059 mit Anm. 9. Richtiger: Della Chiesa an Fabroni, 15. Dezember 1698, SF V, S. 385–386. 146 Della Chiesa teilt Kardinal Fabroni im August 1699 mit, dass er einen der beiden eingeladenen Franziskaner bei sich habe, die im vergangenen Jahr bei Formosa Schiffbruch erlitten hatten, und dass dieser (Broccardo de Langasco) sich mit großem Erfolg dem Studium der Sprache widme. Er wäre schon fähig, dem Bischof bei der Zelebrierung des Gottesdienstes zu helfen, wenn ihm dieser oder ein anderer kraft seiner Vollmacht die Genehmigung dazu gebe. Vgl. SF V, S. 398.
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Cimas auf dem Weg nach Peking waren, führt zu einem anderen, fast parallel verlaufenden Handlungsstrang. Im Oktober 1698 war Joachim Bouvet S.J. mit sieben für China neu geworbenen Ordensbrüdern 147 – darunter die Patres Jean-Baptiste Regis (1663-1738) und Dominique Parrenin (1665-1741), die sich in der Geometrie und Astronomie bzw. Mechanik und Kriegskunst, sowie J.-Ch.-E. de Broissia, der sich in den Naturwissenschaften auszeichnete – und kostbaren Geschenken für den Kangxi Kaiser vor den Toren Cantons angekommen. 148 Obwohl Bouvet als sprach- und ortskundiger Führer per Boot vorausgefahren war, um vor Ort bei den eigenen Leuten den Stand der Dinge zu sichten, konnten sie wegen großer Probleme mit dem chinesischen Zoll erst Ende November/Anfang Dezember 1698 in Canton anlegen. 149 Am 25. Januar trafen dort drei Gesandte des Kaisers ein: Incama, ein tatarischer Offizier, und die beiden Jesuitenpatres José Soares und Claude de Visdelou, die den Auftrag hatten, sowohl die Zollprobleme zu regeln als auch auf schnellstem Weg die Geschenke für den Kaiser nach Peking zu bringen. 150 Am 25. Februar 1699 brach die kleine Flotte auf: An der Spitze vier Barken mit den Geschenken, dann hintereinander die Barken mit Inkama, Visdelou mit Regis und dem besonders sprachbegabten Parrenin 151 sowie Bouvet und die meisten Neuankömmlinge, während Broissia als Superior einer kürzlich gekauften Kirche in Canton blieb. 152 Inzwischen war der Kangxi Kaiser auf seiner dritten südlichen Reise bis in die Provinz Nanking gekommen, und das Gerücht ging um, dass er bis nach Canton wolle. 153 Am 26. Mai 1699 schrieben Parrenin und Regis, die der Gesandte Visdelou auf der Weiterfahrt in Nanking zurückgelassen hatte, dass die drei Gesandten den Kaiser siebzehn Meilen von Nanking entfernt getroffen hätten. Sehr
147 Von diesen Patres wurden Charles Dolzé (1663–1701), Spezialist für chinesischen Kult und Theologie, Louis Pernon (1664–1702), ein Musiker, der zahlreiche Instrumente beherrschte, Philibert Geneix (1667–1699), Musiker, sowie die Künstler Charles de Belleville (1657–1730), Bildhauer und Architekt, und Giovanni Gherardini (1655–1726), Maler, direkt an den Hof gerufen, während Joseph-Henri de Prémare (1666–1736) nach Nanchang (Provinz Jiangxi) geschickt wurde. Vgl. hierzu und zum Folgenden Froger: Relation, S. 100. 148 Vgl. ebd., S. 76. Froger war mit der objektiven Berichterstattung über diese erste Handelsgesellschaft für China vom französischen Marineminister L. Phélypeaux de Pontchartrain betraut und bezahlt worden, vgl. ebd., S. VI–VII. 149 Ebd., S. 71–84. 150 Ebd., S. 92–99. 151 Schon während der Fahrt sprach Parrenin „quelque fois Chinois avec un Valet“; vgl. ebd., S. 112. 152 Ebd., S. 99–100. 153 Die Reise dauerte vom 3. Februar bis zum 17. Mai; auf dieser Tour wurden nur die Städte Suzhou, Hangzhou, Nanking und Yangzhou besucht. Vgl. Martin Gimm: Ein Monat im Privatleben des chinesischen Kaisers Kangxi. Gao Shiqis Tagebuch Pengshan miji aus dem Jahre 1703, Wiesbaden 2015, S. 28.
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zufrieden mit den Geschenken, habe er angeordnet, diese nach Peking zu bringen. 154 Als Bouvet in Chaozhou (im Osten der Provinz Guangdong) davon hörte, trennte er sich von den anderen und wartete auf die Ankunft des Kaisers in Yangzhou, wo er ihm einige der mitgebrachten Geschenke darbot und feststellte: „il parut en faire toute lʼEstime quʼils meritoient“. Zusammen mit Jean-Franҫois Gerbillon S.J. aus dem Gefolge des Kaisers konnten nun auch die zurückgebliebenen Patres dem Kaiser und seiner Familie vorgestellt werden, woraufhin der Monarch anordnete, dass ihm alle in neuen Barken auf seiner Reise folgen sollten. 155 Von der glanzvollen Begegnung mit dem Kaiser berichtet im Folgenden anonym einer der anwesenden Patres − es wird sich herausstellen, dass es sich um D. Parrenin handelt − an Broissia, und zwar im Rückblick aus dem Gartenpalast „Changchun yuan“, wohin sie der Kaiser zur Erholung von der anstrengenden Reise eingeladen hatte 156: Am 1. April 1699 wären sie in Nanking bei dem Apostolischen Vikar Della Chiesa eingetroffen, wo sie vier Tage geblieben wären, um für die Weiterreise eine neue Dienerschaft anzuheuern. Hier wären sie für die Begegnung mit dem Kaiser von Gerbillon abgeholt worden, doch er, der Schreiber, „partis de Nankin avec la Colique, un petit flux de sang et une fievre lente“. 157 Nachdem sich der Kaiser zunächst nur unter absolutem Schweigen in großer Entfernung hätte sehen lassen, hätten sie ihm schließlich alle ihre Reverenz erweisen und die Geschenke übergeben dürfen. Dabei hätte der Kaiser den Namen, das Alter und die Talente eines jeden wissen wollen. Als der Kaiser ihn selbst nach dem Breitengrad Nankings und Beobachtungen auf der Reise gefragt hätte, hätte er ihm geantwortet „le mieux que je pûs en Chinois“, und der Kaiser hätte gefragt, „où jʼaurois apris ce que je sҫavois de la Langue“. 158 Während der Rückreise nach Nanking hätte der Kaiser in die beiden dort existierenden katholischen Kirchen einen Offizier geschickt, der ihm gemeldet hätte, dass sich dort P. Bouvet mit zwei neu angekommenen Patres befinde. Nachdem der Kaiser erfahren hätte, was die beiden konnten, hätte er sogleich angeordnet, dass sie ihm nach Peking folgen sollten, davon überzeugt, wie Gerbillon hörte: „encore deux bons que j’ay attrapez“. 159 Unterdessen hätte sich die Krankheit des Briefschreibers verschlimmert, bis er endlich doch mit Hilfe von Chinin geheilt worden sei. Dazu bemerkt er: Wenn man ihm beizeiten statt erst am Ende die Pillen und das Chinin gegeben hätte, wäre er nicht so lange krank gewesen; aber als man sie ihm zu Anfang geben wollte und der Kaiser davon hörte, hätte dieser abgeraten, das würde ihn zu sehr schwächen,
154 Vgl. Froger: Relation, S. 103–104. Im Folgenden berichtet Froger über die Begegnung der Neuankömmlinge mit dem Kaiser nicht aus eigener Anschauung, sondern anhand der Briefe an Broissia von Bouvet, Gerbillon und einem ungenannten Pater. 155 So Bouvet an Broissia, 18. Juni 1699, vgl. ebd., S. 104 bzw. S. 105. 156 Vgl. ebd., S. 112–121: „A Tchang-tchun-yuēn à 2. lieues de Pékin le 23e Aoust 1699“. 157 Ebd., S. 115 f. 158 Ebd., S. 116. 159 Ebd., S. 118.
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es wäre besser zu warten „et que le pere Cima Augustin medecin me vit et me donnât quelquʼautre chose“. 160 Als die kaiserliche Flotte am 13. Juni 1699 in Peking angekommen war, habe es der Kaiser nach acht Tagen für gut befunden, dass einer der Neuankömmlinge bei den Patres der anderen Kirchen wohnen solle. Damit von den Neuen „ceux qui sҫavoient la Musique“ beisammen blieben, wie P. Fontaney meinte, fiel die Wahl auf Regis: „Il demeure donc au Tong-tang avec le Pere Thomas, Le Pere de Cima Augustin, et Notre Frere Baudin Italien“. 161 Auf diese Weise war Cima also ins Zentrum der kaiserlichen Macht gelangt! Aber sind die Umstände wirklich so klar? De facto sind sie es: Die beiden Patres Regis und Parrenin wurden während der Reise in Nanking abgesetzt, aber nur der Letztere, der bereits gut Chinesisch sprach, wurde, obwohl krank, dem Kaiser vorgestellt, so dass am Ende mit gutem Grund Regis der Dongtang zugeteilt werden konnte. Man fragt sich jedoch, warum Cima, gleichsam aus dem Nebel des Geschehens auftauchend, nur indirekt genannt wird. Aber das Erstaunlichste daran ist, dass dies offensichtlich mit Hilfe der beiden altgedienten Jesuitenpatres Bouvet und Gerbillon 162 geschah, und zwar in geheimer Zusammenarbeit mit den Apostolischen Vikaren Maigrot und Della Chiesa. Was hätte die Gelehrtenwelt Europas, was Leibniz von diesem Komplott gehalten, wo man doch fest überzeugt war, dass die Jesuiten am Hof alles dafür taten, um Ordensleute, welche die Akkommodationsstrategie Riccis im Namen des Papstes strikt ablehnten, vom Kaiser fernzuhalten? Die bedenkliche Rolle Della Chiesas in dieser Sache ist so bisher nicht bekannt; sie kann auch hier nur angedeutet werden. 163 Dass er als Sachwalter des Papstes die problematische Situation der Jesuiten im Ritenstreit – diese waren ja dem Papst durch das vierte Gelübde zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet – auch im Sinne seines eigenen Machtstrebens 164 ausnutzen konnte, lag an dem fatalen Abhängig-
160 Ebd., S. 118–119. 161 Ebd., S. 119. 162 Sowohl Joachim Bouvet (1656–1730) als auch Jean-Franҫois Gerbillon (1654–1707) waren 1688 als Mathematiker Ludwigs XIV. an den Hof zu Peking gekommen und Lehrer des Kaisers in den westlichen Wissenschaften geworden. Nachdem sich Gerbillon auch bei den Verhandlungen des chinesisch-russischen Friedensvertrags (1689) verdient gemacht hatte, erließ der Kangxi Kaiser u.a. in Anerkennung dieser Leistungen 1692 sein Toleranzedikt, das die freie Propagation des Christentums in China erlaubte. S. dazu Antoine Verjus an Leibniz, 30. März 1695 (Widmaier: Briefwechsel, Nr. 9, S. 52–59). 163 Nachdem Della Chiesa von den Schwierigkeiten Artus de Lionnes MEP mit den chinesischen Behörden beim Kauf eines Hauses gehört hatte, befürchtete er, dass „le Tribunal des rites veut nous ôter la liberté de faire de nouvelles églises“. Nun wünschte er Fontaneys Lösung für diese Frage zu erfahren, „afin quʼen avertissant le S. Siège du danger où se trouve la mission, je puisse lʼasseurer en même temps des ressources que nous avons en Vous“. Vgl. Della Chiesa an Fontaney, 9. Dezember 1698, SF, VI, 1, S. 562–563. 164 Im Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Bischof von Peking klärt Della Chiesa klipp und klar Papst Innozenz XII. darüber auf, dass die „200 scudi assegnati in niuna maniera gli puonno bastare“. Was dieser aber tun könne, um das Bistum und den Bischof zu stärken, wäre „pro una
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keitsverhältnis, das zwischen beiden Parteien herrschte: Im fernen Rom, so glaubten die Patres in Peking, könnte ein Lob auf ihre Hilfsbereitschaft von Seiten ihrer Gegner den Papst und ihren General 165 vielleicht günstig für sie stimmen. Auf der anderen Seite war Della Chiesa in China bei allen Aktivitäten im Namen der Propaganda auf die direkte Hilfe der Patres in Peking angewiesen, ohne deren Einsatz nichts möglich war. So war nun Cima der erste Augustiner überhaupt am Hof! Vor dem Kaiser qualifizierte ihn dafür in erster Linie sein Beruf als Arzt. Doch die Patres wären keine Jesuiten gewesen, hätten sie nicht schnell bemerkt, dass es mit der Medizin bei Cima nicht weit her war. Dafür lieferte er einen ersten und, wie anzunehmen ist, auch wohl letzten Beweis bei der Behandlung des oben zu Wort gekommenen Kranken. Fragt man jetzt nämlich, wie gut Cima auf seine Tätigkeit als Arzt vorbereitet war, gibt dieser selbst den einzigen bekannten Hinweis in der Widmung seines Aedipus Sphingi an Papst Clemens XI. Cima war demnach schon vor Clemensʼ Erhebung zum Papst von diesem gefördert worden, und der Papst hatte, bevor Cima 1697 nach China und Indien aufbrach, seinem Schützling „zusammen mit heilsamen und klugen Ratschlägen“ ein „Breve tam benignum, et amplum de medicina exercenda“, also eine Art medizinischen Ratgeber mit auf den Weg gegeben. 166 Dass Cima dem gottgleich herrschenden Kangxi Kaiser 167 auch nur ein einziges Mal den Puls gefühlt hat – zumal es sich dabei um eine alte, genuin chinesische Methode der Diagnostik handelt 168 –, ist vor diesem Hintergrund ganz unwahrscheinlich. Die Frage, wie lange Cima sich wirklich am Hof zu Peking aufgehalten hat, wird virulent, wenn die beiden bisher betrachteten Handlungsstränge miteinander
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vice tantum mandar in Cina 5.000 scudi“. P. Gerbillon habe ihm versichert, wenn ihm die portugiesischen Oberen nicht die Hände bänden, könne er „fondare nella corte istessa una rendita sufficiente, per mantenir con decoro il vescovo che V.S. deputarà“. (SF, VI, 1, S. 574–575, § 5). Weiterhin empfiehlt Della Chiesa dem Papst, durch ein Breve P. Gerbillon zu veranlassen, sich für alle Apostolischen Vikare und Missionare einzusetzen; vgl. ebd., S. 575, § 7. In einem Brief an den Jesuitengeneral Tirso Gonzalez vom 14. August 1699 lobt Della Chiesa die positive Rolle der französischen Jesuiten in der Mission. Dabei gilt sein Dank und besonderes Lob P. Gerbillon, der mit dem Kaiser in die südlichen Provinzen gekommen sei und allen Missionaren den Weg öffnete „non solum verbo sed et opere“ (SF, VI, 1, S. 564–565). Vgl. Cima: Aedipus Sphingi, Bl. A3v–A4. Vgl. Joachim Bouvet: Portrait historique de lʼEmpereur de la Chine, présenté au Roy. Paris 1697, das Leibniz der 2. Auflage seiner Novissima Sinica, 1699, in lateinischer Übersetzung beidrucken ließ. Zur chinesischen Pulslehre war 1682 anonym in Frankfurt das Specimen medicinae Sinicae, sive Opuscula medica ad mentem Sinensium, Continens I. De Pulsibus Libros quattuor è Sinico Translatos, hg. von Andreas Cleyer, erschienen. Dabei handelte es sich um eine Übersetzung nach Wang Shuhe aus dem 3. Jh. und zugleich um den ersten westlichen Bericht über chinesische Medizin, speziell zur Akupunktur und Pulslehre. Unter dem Namen von Michał Boym erschien 1686 in Nürnberg eine vervollständigte und korrigierte Fassung des Werkes u. d. T. Clavis Medica ad Chinarum doctrinam de pulsibus. Vgl. dazu Widmaier: Briefwechsel, Nr. 20, Anm. 6, S. 661; Claudia von Collani: Michał Boym, in: Bautz: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 14, Herzberg 1998, Sp. 818–820.
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verknüpft werden. Im August 1699 berichtet Della Chiesa an Kardinal Fabroni in Rom, er habe vom Hof gehört, dass Cima in der Dongtang Kirche untergekommen sei, frage sich aber, „che cosa si possa promettere di detto padre nel suo impiego di Medico“. Er liege auch im Streit mit den Engländern, denen er vorwerfe, ihn nach dem Schiffbruch seiner Sachen beraubt zu haben. Man werde die Angelegenheit wirksam „per il bene della missione“ regeln. Der arme Pater, der sein Geld haben möchte, täte ihm zwar leid, „ma il ben publico deve prevalere al privato“. 169 Cima ließ jedoch in dieser Sache nicht locker und hatte sich an die chinesischen Behörden gewandt, wie Maigrot verärgert Della Chiesa mitgeteilte hatte, denn dieser antwortet am 1. Oktober 1699: Ihm sei der Ärger bewusst, den Maigrot mit Cima habe, zumal dieser anzunehmen scheine, dass er, Della Chiesa, irgend Einfluss darauf hätte. Übrigens habe ihm der Pater, seitdem er am Hof sei, kein Wort geschrieben; auch er selbst habe es nicht und werde es nicht tun, wenn Cima ihm dazu keinen Anlass gebe. 170 Der Anlass ließ nicht auf sich warten. Am 30. September 1699 erhielt Della Chiesa endlich das langerwartete päpstliche Breve mit seiner Ernennung zum Bischof von Peking, und zwar ohne Registrierung durch die Kanzlei des portugiesischen Königs oder der Erzdiözese Goa. Er stand nun vor der Aufgabe, in der Metropole, also in unmittelbarer Nähe zum Kaiser und den Jesuiten am Hof, seine Residenz einzurichten sowie eine Kirche zu besetzen und diese in seine Kathedrale umzuwandeln. Da Della Chiesa die daraus entstehenden Unruhen voraussah, war er zunächst unentschlossen, den Auftrag überhaupt anzunehmen, und bat deshalb Maigrot um Stillschweigen in dieser Sache und um seinen Rat. 171 Rund sechs Wochen später hatte sich Della Chiesa zurAnnahme seines Amtes entschlossen, damit klar würde, wie er an Maigrot schreibt, „dass kein Padroadorecht dem Heiligen Vater die Hände bindet“. Er habe eine Abschrift der Bullen an Cima geschickt und ihn bevollmächtigt, von seiner Kathedrale Besitz zu ergreifen, denn „por este sol effecto sirvirà mui bien“. 172 Cima findet allerdings kurz vor der Ausführung seines Auftrags am 3. Dezember 1699 173 „plurimas difficultates“, da hier alles „ut pacifice et quiete, sine ullo
169 Vgl. Della Chiesa an Kardinal Fabroni, im August 1699 (SF V, S. 396–399, hier S. 399, § 7). Die Nachricht vom Hof kam sicherlich von Gerbillon. Über ihn heißt es in demselben Brief, dass, hätte Della Chiesa es gewollt, Gerbillon auch die anderen Missionare (die sich bei Della Chiesa aufhielten) dem Kaiser vorgestellt hätte. S. dazu auch Della Chiesa an die Kardinäle in Rom, 16. Oktober 1699 (SF V, S. 404). 170 Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 1. Oktober 1699 (SF V, S. 401). Über dieses Ärgernis unterrichtet Della Chiesa die Kardinäle in Rom ebd. 171 Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 1. Oktober 1699 (SF V, S. 400, § 1). Er habe gestern (30. September) den Brief Maigrots vom 31. August mit dem Beischluss der an ihn weiterzureichenden Bulle erhalten. 172 Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 13. November 1699 (SF V, S. 405, § 3). 173 Cima schreibt in seinem undatierten Brief an den Sekretär der Propaganda C. A. Fabroni, den wir nach dem 29. November und vor dem 3. Dezember 1699 datieren (gedr.: Surdich: Fonti, Appendice, S. 199–201) „in ista hebdomada“. S. dazu Della Chiesa an Maigrot, 26. Dezember
Längengradproblem
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tumultu ac scandalo“ unter den Augen des Kaisers geregelt werden solle, wo doch „ab uno filo tota nostra religio dependet“. Die Patres des Kollegs behaupteten nämlich, dass die Bullen keinen Wert hätten, weil sie weder in der Kanzlei des portugiesischen Königs noch in der Kanzlei von Goa registriert wären, und beriefen sich dafür auf das Patronatsrecht sowie ein dem Erzbischof von Goa durch Gregor XIII. (1572-1585) verliehenes Privileg. Dabei erklärten sie, nichts ohne einen Brief von ihrem Provinzial oder Visitator entscheiden zu können. „Res, enim, debent fieri cum suo ordine et iste est ordo quod sine litteris ac consilio patris provincialis, sive visitatoris, nihil possunt facere.“ Außerdem führten sie an, dass die Kathedralkirche eigentlich keine Kathedrale sei („non sit propria catedralis“), sondern die Kirche des Kollegs. 174 Obwohl Cima diese Einwände für dummes Zeug („nugae“) hält, ist er doch in Sorge und sieht die Mission in großer Gefahr, sollte Rom den Portugiesen nicht alle Hoffnung auf ihr Patronatsrecht nehmen und einen Generalsuperior einsetzen, dem alle gehorchen müssten. Doch in China hänge alles vom Kaiser ab: „Verböte er uns auch nur für ein paar Tage, in den Palast zu kommen, gäbe es große Schwierigkeiten mit den Mandarinen; verböte er es ganz, wäre es um uns und die Mission geschehen.“ Aus diesem Grunde wären die französischen Patres sehr nützlich „et multum ac maxime adjuvando missionarios“, wobei die Patres Gerbiglion [=Gerbillon], Boce [=Joachim Bouvet], Antonius Tomas, Perera und Bruder Baudinus in der Gnade des Kaisers ständen. Della Chiesa teilte Maigrot noch im Dezember den missglückten Verlauf des Unternehmens mit und erklärte, er hätte Cima damit beauftragt, weil er sonst niemand passenden habe („por no tener otros a proposito“ 175). Cima selbst aber musste inzwischen klar geworden sein, dass seines Bleibens im Kollegium der Dongtang nicht länger war. Bereits am 8. Februar 1700 heißt es, er glaube nicht, dass er lange in Peking bleiben würde. Tatsächlich verließ er Peking um den 20. April 1700. Davon setzt Gerbillon am 1. Mai Maigrot durch einen Brief in Kenntnis: Cima sei „parti dʼicy depuis 10 jours pour aller à Canton“, es bestände keine Aussicht, dass er zurückkommen würde. 176 Cima hielt sich also rund zehn Monate in Peking auf, genauer vom 23. Juni 1699 bis zum 20. April 1700. Da Cima aber das kaiserliche Privileg erhalten hatte, in eine Kirche seiner Wahl nach Fukien oder Canton zu gehen, 177 führte ihn sein Weg zunächst nach Fukien, wo er in der Residenz von Maigrot unterkommen sollte. Diesem drückt nämlich Della Chiesa im Mai 1701 sein Bedauern aus, dass er aufs Neue die Unannehmlichkeit hatte, Cima bei sich zu Hause zu sehen, der nun in Richtung Philippinen aufbrechen wird. 178
174 175 176 177 178
1699 (SF V, S. 407): Cima habe kraft der Bullen von der Dongtang Besitz ergriffen, und zwar „a la Festa del glorioso S. Francisco Xavier“ [d.h. am Donnerstag, dem 3. Dezember 1699]. Surdich: Fonti, S. 199–200. Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 26. Dezember 1699 (SF V, S. 406–407, hier S. 407). Vgl. Joseph Dehergne: La Mission de Pékin vers 1700. Étude de géographie missionnaire, in: Archivum historicum Societatis Jesu, 22, 1953, S. 314–337, hier S. 316, Anm. 6. Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 27. September 1700 (SF V, S. 416, § 6). Vgl. Della Chiesa an Maigrot, 25. Mai 1701 (SF V, S. 423, § 3).
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Damit ist der hier betrachtete Zeitraum ausgemessen, und es stellt sich abschließend die Frage, wie Cima eigentlich zu beurteilen ist. „Un homme aussi rare come luy“? Betrachtet man Cimas Reise durch Deutschland, könnte man ihn für einen gewöhnlichen kleinen Schwindler und Schnorrer halten, trat er doch an den Fürstenhöfen nicht ohne Dreistigkeit und mit an Größenwahn grenzenden Ansprüchen auf. Doch hat er nur gelogen? Was die Lösung des Längengradproblems betrifft, so war er zweifellos nicht einmal in der Lage, dieses Problem angemessen zu verstehen. Auch darf man überzeugt sein, dass Cima niemals den Kangxi Kaiser als Arzt behandelt, geschweige denn ihm den Puls gefühlt hat. Wenig überrascht dabei, dass er nach allem, was man weiß, nicht länger als zehn Monate in dessen Nähe blieb. Doch auch in diesem Fall könnten die von ihm behaupteten drei Jahre am Hof zu Peking im Kern etwas Richtiges enthalten, zählte man diese von seiner Ankunft in China (16. Oktober 1698 in Amoy) bis zu dem Tag, an dem er das chinesische Festland in Richtung Philippinen wieder verließ. Schockierend ist dagegen, dass Cima ohne jede medizinische Ausbildung von der Propaganda nach China geschickt wurde, weil man wusste, dass der Kangxi Kaiser Ärzte und Mathematiker, Naturwissenschaftler und Künstler in seinem Reich willkommen hieß. Dass sich der dann sechsundvierzigjährige Cima auf diesen Ruf nach China einließ, lag zum einen an seinem Naturell: eine gewisse Abenteuerlust und Unruhe des Geistes, verbunden mit jener naiven Unbedenklichkeit, die ihn zur Selbstüberschätzung, ja zum Größenwahn verleitete. Cima entsprach damit genau jenem Charaktertypus des Religiosen, den Smith als „floating clergy“ 179 bezeichnet, von denen es in den asiatischen Missionen nicht wenige gab. Für einen Augustiner, welcher der strengeren Observanz seines Ordens zuneigte, war Cima schon auf der Reise durch Deutschland recht unbescheiden: Er reiste mit der Kutsche, einem Diener und Dolmetscher nebst fürstlichen und Leibnizʼ Empfehlungen von Hof zu Hof – warum also nicht an den Hof von Peking? Cima „dachte groß“. Als Schützling Giovanni Francesco Albanis, der sich um das orientalische Christentum sorgte und als Papst Clemens XI. gegen die chinesischen Riten entschied, gehörte Cima zu den Gegnern der Jesuiten („n’est pas un bon Jesuite“ 180) und bezeichnete sich selbst als „Sohn der Propaganda fide“. 181 Doch die Propaganda ließ es an Verantwortung gegenüber ihren Söhnen offenbar mehr als fehlen. Als man Cima, ohne Medizinstudium, bis an den Hof des Kaisers manövrierte, kam dies nicht nur einer Beleidigung des Kaisers gleich, es war so etwas wie Russisches Roulette für Cima. Doch damit nicht genug: Der in den Jurisdiktionsfragen zwi-
179 Smith: Relatione, S. 155. Vgl. einen ganz ähnlichen Fall in Widmaier/Babin: Briefe über China, Nr. 75, S. 310–317. 180 Friedrich von Walter an Leibniz (wie Anm. 3). 181 Vgl. Cima an Leibniz, 12. Dezember 1707 (LBr. 157 Bl. 18–19).
Längengradproblem
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schen Papst und portugiesischer Krone zweifellos unerfahrene Pater wurde beauftragt, im Namen der Propaganda fide eine Kirche in Besitz zu nehmen, die sich im Palastbezirk befand und den vom Kaiser hochgeschätzten Jesuiten gehörte. Dafür schien Cima, weil man keinen anderen hatte, gerade gut genug zu sein. Man hatte den Pater, salopp gesagt, „verheizt“, und Cima war sich dessen bewusst. Auf seiner Rückreise nach Venedig beklagt er sich bitter bei Leibniz, dass ihm unterwegs keinerlei Hilfe von katholischer Seite zuteilgeworden wäre, und er schreibt: „Unter allen Freundschaften, die ich geschlossen habe, sehe ich keinen treueren Freund als Sie“. 182
182 Vgl. ebd. Bl. 18r: „Inter omnes amicitias quas contraxi nullam fideliorem quam D.V. Illmae existimo“.
III. INNOVATIONEN UND IHRE KOMMUNIKATION
WARUM UND WIE SCHUF LEIBNIZ DIE DETERMINANTENTHEORIE? Eberhard Knobloch, Berlin Einleitung In der Wissenschaftsgeschichte ist das Phänomen bekannt, dass ein Autor beim Versuch, ein Problem zu lösen, zwar nicht das Problem löst, wohl aber bedeutende andere Ergebnisse erzielt. Ernst Eduard Kummer schuf so die Idealtheorie, ohne die beweisbare und inzwischen bewiesene Fermat’sche Vermutung beweisen zu können. Ähnliches gilt von Leibniz auf der Suche nach der algorithmischen Lösung der algebraischen Gleichung fünften und höheren Grades, mit dem Unterschied, dass es diese Lösung nicht gibt. Wie seine Zeitgenossen war er jedoch von der Möglichkeit einer solchen Lösung überzeugt und schuf auf der Suche danach die Determinantentheorie. Sein Ansatz beruhte auf einer Verallgemeinerung der Methode Girolamo Cardanos, die kubische Gleichung zu lösen. Er nannte ihn sectio radicis, Zerlegung der Wurzel: Statt wie im kubischen Fall x=a1+a2 zu nehmen, versuchte er es für die Gleichung n-ten Grades mit dem Ansatz x=a1+a2+...+an−1. Das Einsetzen dieses Wertes führte auf Polynompotenzen und symmetrische Funktionen. Drei Studien zur Gleichungsauflösung vom Anfang Juni 1678 Drei zusammengehörige Studien zur Gleichungsauflösung führten ihn zur Überzeugung, dass jene von der Lösung linearer Gleichungssysteme abhängt. Sie sind auf den 25.5. (4.6.) 1678, auf den 26.5. (5.6.) 1678 und auf den 28.5. (7.6.) 1678 datiert. 1 Die mittlere Studie trägt den Titel, der zu allen dreien passt: Aequationum resolutio generalis tentata (Versuch einer allgemeinen Lösung von Gleichungen). Die dritte und längste Studie liegt in einem Konzept und in einer von Leibniz korrigierten Abschrift vor, und zwar mit einem wichtigen Unterschied. Während das Konzept auf einen namentlich nicht genannten amicus (Freund) verweist, an den sich freilich Leibniz später direkt mit etsi parum tunc attenderes (auch wenn Du
1
Gottfried Wilhelm Leibniz: Die mathematischen Studien zur Kombinatorik. Textband im Anschluß an den gleichnamigen Abhandlungsband zum ersten Mal nach den Originalhandschriften hg. von Eberhard Knobloch (Studia Leibnitiana Supplementa XVI), Wiesbaden 1976, Nr. 16, 17, 19.
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Eberhard Knobloch
damals zu wenig Acht gabst) wendet, 2 spricht die Reinschrift zweimal einen Partner unmittelbar an: tibi (Dir). 3 Gemeint ist in allen Fällen Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, mit dem Leibniz in Paris über algebraische Probleme sprach. Mehr noch: die Reinschrift war nicht nur für den Freund bestimmt, ohne an diesen geschickt zu werden. Sie steht im unmittelbaren Zusammenhang mit Leibnizens überaus wichtigem, sorgfältigst überlegtem Brief an Tschirnhaus vom Ende Mai (Anfang Juni) 1678, in dem es um Leibnizens Lösungsansatz und das Verhältnis von Algebra und ars combinatoria geht. 4 In der zweiten Studie rechnet Leibniz die Zahl der zu eliminierenden symmetrischen Funktionen (formae) aus: 276. 5 Das Ergebnis beruht auf mehreren Rechenfehlern und müsste 284 heißen. Er hat es gleichwohl in die dritte Studie übernommen. 6 Der dortige lange, entscheidende Absatz verdient, um unserer Thematik willen, ungekürzt zitiert zu werden: Außerdem selbst wenn keine Abkürzungen (compendia) weiter in dieser Methode zwischen multiplizieren und eliminieren gefunden werden könnten und keine Terme ausgelassen werden könnten, werde ich nichtsdestoweniger zeigen, dass die Rechenarbeit nicht groß ist. Denn jenes ist herausragend, dass die zu suchenden Größen nicht miteinander noch mit sich selbst multipliziert werden. Deshalb geschieht jede aus den Eliminationsgleichungen entstehende Rechnung nur durch Addition und Subtraktion beliebiger, nur mit Vorzeichen und bekannten (hinreichend einfachen) Zahlen versehenen Gleichungen, was weder mühsam noch schwierig noch weitläufig ist. In der Tat können jene kleinen Eliminationsgleichungen, wenn sie zu keinen Zweierprodukten (rectangula) und zu keinen Potenzen aufsteigen, auch wenn sie groß an Zahl sind, nicht verwirren. Zum Beispiel mögen beim fünften Grad höchstens 284 Eliminationsgleichungen auftreten oder, wenn man eine Abkürzung verwendet, 160, mehr oder weniger. Weil sie indessen ohne irgendeine Rechnung nur aufgeschrieben werden und danach die aus ihnen abgeleitete Rechnung allein durch Addition und Subtraktion erfolgt, ist es nicht schwieriger, die Eliminationsrechnung durchzuführen als 160 kleine Linien sorgfältig hinzuschreiben, die Werte nämlich der Buchstabengrößen (literarum), weil der Wert jeder beliebigen Buchstabengröße durch die Abschätzung (aestimatione) eines Anblickes allein sofort ohne Rechnung hingeschrieben werden kann. Um die Eliminationsgleichungen hinzuschreiben, ist nicht einmal große Aufmerksamkeit nötig, sondern eine bloße Beschreibung, wenn jemand der von mir vorgeschriebenen Methode folgt. Um aber die aus diesen abgeleiteten Werte hinzuschreiben, ist keine Rechnung erforderlich. Indessen ist Aufmerksamkeit beim Substituieren erforderlich: Deshalb könnte ein aufmerksamer und arbeitsamer und nicht abgelenkter Mann, wenn alles gehörig vorbereitet wurde, die gesamte Rechnung des fünften Grades im Zeitraum eines einzigen Tages, glaube ich, durchführen.
2 3 4 5 6
Ebd., S. 101, 103. Ebd., S. 103, 105. A III, 2 N. 171. Leibniz: Kombinatorik (wie Anm. 1), S. 96. Ebd., S. 113.
Determinantentheorie
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Compendia und Zeichentheorie Angesichts des Rechenaufwandes war Leibniz hier wie sonst im höchsten Maße an Abkürzungen, compendia, interessiert, einem Schlüsselbegriff seines Denkens. Dieser tritt nicht nur zweimal im oben übersetzten Abschnitt aus der dritten Studie auf, sondern auch mehrfach in den beiden vorangehenden Studien, 7 ebenso in der inhaltlich mit der ersten Studie zusammenhängenden Aufzeichnung De formis omnibus ad solas formas simplices reducendis deque aequationum radicibus novissima methodus (Über die Reduktion aller symmetrischer Funktionen allein auf die elementarsymmetrischen Funktionen und neueste Methode zu Gleichungswurzeln). 8 In beiden Fällen betont Leibniz das magnum compendium, die egregia, elegantia compendia, die diese Reduktion für die Rechnung mit symmetrischen Funktionen mit sich bringe. 9 Herbert Breger hat Leibnizens Verwendung von compendia im Zusammenhang mit dessen Infinitesimalmathematik untersucht und eine entscheidende Bemerkung aus der 1676 verfassten Schrift De quadratura arithmetica circuli ellipseos et hyperbolae zitiert. 10 Zu den unendlich kleinen und unendlichen Größen heißt es da: 11 Nec refert an tales quantitates sint in rerum natura, sufficit enim fictione introduci, cum loquendi cogitandique, ac proinde inveniendi pariter ac demonstrandi compendia praebeant. (Und es kommt nicht darauf an, ob es solche Größen in der Welt der Dinge gibt. Es genügt nämlich, dass sie durch eine Fiktion eingeführt werden, da sie Abkürzungen des Sprechens und Denkens und daher in gleicher Weise des Findens und Beweisens gewähren.)
Diesen vierfachen Vorteil gewähren auch die compendia, die Leibniz für die Lösung linearer Gleichungssysteme erfindet und verwendet. Die Leistungsfähigkeit der compendia hängt von dem gewählten Zeichensystem und damit von der ars characteristica oder characteristica generalis ab, die für Leibniz, wie er im oben erwähnten Brief an Tschirnhaus vom Anfang Juni 1678 schreibt, mit der ars combinatoria identisch ist.12 Semiotik und Kombinatorik fallen bei ihm zusammen. Daher ist es kein Zufall, dass er genau in dieser Zeit die ersten Studien mit fiktiven Zahlen als Koeffizienten linearer Größen verfasst, die selbst durch fiktive Zahlen dargestellt werden. 13 In dem auf Juni 1678 datierten Specimen analyseos novae qua errores vitantur, animus quasi manu ducitur, et facile progressiones inveniuntur heißt es dazu programmatisch: 14 7 8 9 10 11 12 13 14
Leibniz: Kombinatorik (wie Anm. 1), S. 87; 94; 96. Ebd., Nr. 12. Ebd., S. 54; 87. Herbert Breger: Leibniz’s Calculation with Compendia, in: Ursula Goldenbaum, Douglas Jesseph (Hg.): Infinitesimal Differences – Controversies between Leibniz and his Contemporaries, Berlin/New York 2008, S. 185–198, hier S. 195. A VII, 6 N. 51, S. 585. A III, 2 N. 171, S. 449f. Eberhard Knobloch: Der Beginn der Determinantentheorie. Leibnizens nachgelassene Studien zum Determinantenkalkül, Hildesheim 1980, Nr. 1–6. Ebd., S. 5.
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Eberhard Knobloch Artis ergo characteristicae haec summa regula est, ut characteres omnia exprimant, quae in re designata latent, quod numeris, ob eorum copiam et calculandi facilitatem optime fiet. (Dies also ist die höchste Regel der ars characteristica, dass die Charactere alles ausdrücken, was in der bezeichneten Sache verborgen ist, was durch Zahlen wegen deren Menge und Leichtigkeit des Rechnens am besten geschieht.)
Danach lautet die Gleichung mit den linearen Größen 2, 3, 4, 5: 12.2 + 13.3 +14.4 + 15.5 − A aequ. 0 Die linke Ziffer bezeichnet die Zugehörigkeit zu einer Gleichung – im vorliegenden Fall zur ersten Gleichung –, die rechte Ziffer die Zugehörigkeit zu einer linearen Größe. Sein Versuch, das kombinatorische Bildungsgesetz der Lösungen des zugehörigen inhomogenen Systems von vier linearen Gleichungen allgemein zu formulieren, gelingt angesichts der Schwierigkeiten mit den Vorzeichen nur teilweise. Leibniz spricht im Titel der Abhandlung von der neuen Analysis, später von „jener erhabenen Analysis, die der Rechnung sogar ohne Rechnung die Gesetze vorschreibt“ (analysin illam sublimem, quae calculo etiam sine calculo leges praescribit). 15 Der Durchbruch gelingt Es dauerte noch fünfeinhalb Jahre, bevor Leibniz der Durchbruch im Januar 1684 gelang. Die Idee, auch die linearen Größen durch fiktive Zahlen zu bezeichnen, ließ er zugunsten der Buchstaben a, b, c usf. fallen. In zwei Entwürfen, die kurz vor der entscheidenden Abhandlung entstanden sein müssen, verweist er auf die von ihm gefundene allgemeine Methode, lineare Gleichungssysteme zu lösen, zurück und auf diese Abhandlung mit gleich lautender Bemerkung vor: „Haec in Scheda ista coepta atque affecta demum in Scheda 12 januar. 1684 absolvi“ (Das in jener Aufzeichnung Begonnene und Behandelte habe ich endlich in der Aufzeichnung vom 12. Januar 1684 vollendet). 16 Die betreffende, auf diesen Tag datierte Abhandlung hat den Titel De sublatione literarum ex aequationibus seu de reductione plurium aequationum ad unam et quidem in hac scheda Theoremata generalia exhibentur pro Aequationibus simplicibus. Sie wird in diesem Aufsatz zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. 17 Die Abhandlung lässt sich in drei Abschnitte einteilen. Die Einleitung betont das Ziel, mittels allgemeiner Sätze algebraische Rechnungen weitgehend überflüssig zu machen und erklärt die Verwendung zweistelliger, fiktiver Zahlenkoef15 Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 41, 50. 17 Der deutschen Übersetzung liegt die Ausgabe Eberhard Knobloch: Die entscheidende Abhandlung von Leibniz zur Theorie linearer Gleichungssysteme, in: Studia Leibnitiana 4 (1972), S. 163–180, hier S. 167–180, zugrunde. Eine spanische Übersetzung erschien 2014: Gottfried Wilhelm Leibniz: Obras filosóficas y científicas, Bd. 7A und 7B: Escritos matemáticos, hg. von Mary Sol de Mora Charles, Granada. 2014–2015, Bd. 7A, S. 59–70.
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fizienten im Falle linearer Gleichungen, die er – wie ausgeführt – seit 1678 benutzte. Der zweite Abschnitt berechnet die Lösungen inhomogener linearer Gleichungssysteme von 1, 2, 3, 4 Gleichungen mit jeweils ebenso vielen Unbekannten und die zugehörigen Resultanten von 2, 3, 4, 5 Gleichungen mit 1, 2, 3, 4 Unbekannten. Zu diesem Zweck führt er ein compendium, eine Abkürzung für das Aggregat (aggregatum) bestimmter Kombinationen von Gleichungskoeffizienten ein. Das Leibniz’sche Symbol 0.1.2 im Falle z. B. von drei Gleichungen mit zwei Unbekannten bezeichnet gerade die zugehörige dreireihige Determinante: 0.1.2 10 11 0.1.2 = 20 21 30 31
12 22 32
Leibniz stellt also die Determinante durch das Produkt der Elemente der Hauptdiagonalen dar. Die linken Ziffern sind fortgelassen, können aber jederzeit wieder ergänzt werden, da die Reihenfolge der Faktoren stets die natürliche Reihenfolge der linken Ziffern wahrt. Nach Schaffung des Symbols muss Leibniz herausfinden, welche Gesetze es befolgt. Dies erinnert an die Situation vom 11. November 1675: Leibniz hatte d als Differentialsymbol eingeführt und stellte sich die Aufgabe: 𝑑𝑑𝑑𝑑 𝑑𝑑 „Videndum an dxdy idem sit quod 𝑑𝑑𝑥𝑥𝑥𝑥 ��� et an 𝑑𝑑𝑑𝑑 idem quod 𝑑𝑑 𝑑𝑑.“ (Man muss se𝑑𝑑𝑑𝑑
𝑑𝑑
hen, ob dxdy dasselbe ist wie 𝑑𝑑𝑥𝑥𝑥𝑥 ��� und ob 𝑑𝑑𝑑𝑑 dasselbe wie 𝑑𝑑 𝑑𝑑.). 18 Beides trifft nicht zu, wie Leibniz ermittelte. Im vorliegenden Fall erkennt Leibniz Bildungs- und Vorzeichengesetze einer Determinante: 1. Ein einziger Term erzeugt durch Permutation der rechten Ziffern alle n! Terme des Symbols: In der Sprache der Determinanten heißt das, dass eine nreihige Determinante aus n! Summanden besteht. 2. Eine einzige Permutation (modern: Transposition) zweier Ziffern führt auf verschiedene Vorzeichen, allgemeiner: eine ungerade Anzahl von Permutationen führt auf verschiedene Vorzeichen, eine gerade Anzahl auf dasselbe Vorzeichen (Gleichung 28 und 30): In der Sprache der Determinanten heißt das u.a., dass die Vertauschung zweier Spalten nur das Vorzeichen der Determinante ändert.
18 A VII, 5 N. 46, S. 328.
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3. Dieselben Anordnungs- und Vorzeichengesetze gelten für rechte wie linke Ziffern. Modern gesprochen: Für die Bildung der Determinante einer quadratischen Matrix A sind deren Zeilen und Spalten gleichberechtigt. A und die transponierte Matrix AT haben dieselbe Determinante. Leibniz hebt den Übergang von den Kombinationen der Koeffizienten, von den variationes materiae, zu den Transpositionen der rechten (oder linken) Ziffern, zu den varietates formae sive ordinis, hervor, eine Bemerkung, die nur zu deutlich an den Hylemorphismus des Aristoteles erinnert, eines Autors also, der Leibnizens Wissenschaftsphilosophie wesentlich geprägt hat. Der dritte Abschnitt formuliert drei allgemeinste Sätze in der Sprache der Kombinatorik. Der erste Satz beschreibt die kombinatorische Struktur der Resultante von n+1 Gleichungen mit n Unbekannten, in der sämtliche Unbekannten eliminiert sind. Der zweite Satz erklärt die Lösung eines inhomogenen Systems von n linearen Gleichungen mit n Unbekannten, dessen Lösungsmöglichkeit Leibniz voraussetzt: Die quadratische Koeffizienten-Matrix ist regulär, das heißt ihre Determinante ist ungleich Null. Die beschriebene Lösung ist inhaltlich äquivalent mit Gabriel Cramers Regel: 19 Der Wert jeder Buchstabengröße ist ein Bruch, dessen Nenner stets dieselbe Determinante aller n2 Koeffizienten ist. Der Zähler ist eine Determinante, in der die Spalte der Koeffizienten der gesuchten Buchstabengröße durch die Spalte der Konstanten ersetzt ist, in Leibnizens Schreibweise also durch die Null bzw. 10, 20, 30 usf. Das Vorzeichen der Zählerdeterminante ist (−1)t, wobei t die Anzahl der Transpositionen der Spalten ist, um die Null in der Determinanten-Darstellung an die vorderste Stelle zu bringen. Ist n=3 und der Wert von b gesucht, so ergibt sich für Leibniz: 11 21 31
12 22 32
13 10 23 b − 20 33 30
11 21 31
13 23 = 0 33
Denn es bedarf einer Transposition von erster und zweiter Spalte der Zählerdeterminante, um die Spalte 10, 20, 30 aus der Mitte, wo sie die Koeffizienten 12, 22, 32 der zweiten Buchstabengröße b ersetzt hat, an die erste Stelle zu bringen. Der dritte Satz ist für beliebige n-reihige Resultanten formuliert. Er ist mit dem Entwicklungssatz von Laplace äquivalent: Der Wert einer Resultante wird ermittelt, indem diese nach einer beliebigen Spalte entwickelt wird. Elemente dieser Spalte werden bei alternierenden Vorzeichen schrittweise je mit der (n−1)19 Eberhard Knobloch: Determinant theory, symmetric functions, and dyadic, in: Maria Rosa Antognazza (Hg.): The Oxford Handbook of Leibniz, Oxford 2018, S. 225–246.
Determinantentheorie
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reihigen Unterdeterminante – Leibniz spricht von aggregatum – multipliziert, in der die Spalte und Zeile fortgelassen sind, in denen das betreffende Element steht. Er verwendet also keine Adjunkten. Aber seine Vorschrift, den Produkten alternierende Vorzeichen zu geben, hat freilich dieselbe Wirkung. Sein Verfahren kann sinngemäß auf beliebige Determinanten übertragen werden. Für n=5 und die Entwicklung nach der fünften Spalte erhält er in seiner Symbolik die Resultante: 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙5 4 − 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 4 ∙5 3 + 0 ∙ 1 ∙ 3 ∙ 4 ∙5 2 − 0 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4 ∙5 1 + 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4 ∙5 0 = 0 ÜBERSETZUNG DER ABHANDLUNG 12. (22.) Januar 1684 Über die Elimination von Buchstabengrößen aus Gleichungen oder über die Reduktion mehrerer Gleichungen auf eine einzige, und zwar werden in dieser Abhandlung allgemeine Sätze für lineare Gleichungen dargelegt 20 Jede Rechnung der Buchstabenalgebra zielt darauf ab, dass die Werte unbekannter Buchstabengrößen gefunden werden. Wenn nun mehrere unbekannte Buchstabengrößen so miteinander verbunden sind, dass sie in dieselben Gleichungen eingehen (damit deshalb eine unabhängig von einer anderen und durch einen einfach bekannten Wert gefunden wird), ist es nötig, dass einige unbekannte Buchstabengrößen eliminiert werden, so dass dadurch allein der größte Teil zumal der schwierigeren algebraischen Rechnung eingenommen wird. Ferner kann die Methode, unbekannte Buchstabengrößen zu eliminieren, durch einige allgemeine, gemäß der kombinatorischen Kunst formulierte Sätze zusammengefasst werden. Deshalb werden wir, wenn jene genau aufgestellt, leichter und auf klare Weise ausgedrückt wurden, den größten Teil der algebraischen Rechnung abschneiden, so dass die gewünschten Werte ohne Rechnung durch eine bestimmte, einfache Anwendung der allgemeinen Sätze auf die speziellen Beispiele sofort hingeschrieben werden können. Diese Erfindung scheint mir in der Algebra so hoch geschätzt werden zu müssen wie das gewöhnliche trigonometrische Regelwerk in der Rechnung: ja, sogar noch höher. Aus diesen Sätzen können ferner unendlich viele andere Sätze in jeder Rechnung ermittelt werden, zu denen sonst kein Zugang offen gestanden hätte. Wir wollen aber mit linearen Gleichungen beginnen, in denen die unbekannten Buchstabengrößen zu keinen Potenzen ansteigen. Damit wir aber leichter die 20 Leibniz hat neben der Überschrift hinzugefügt: In diesem Anlauf habe ich das Problem gelöst, während ich vorher stets bei irgendwelchen Schwierigkeiten hängenblieb, ein glänzendes Beispiel der kombinatorischen Kunst.
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verborgenen Bildungsgesetze aufdecken und damit das Gesuchte eine Ordnung wahrt, wird es nötig sein, dass auch das Gegebene oder Angenommene eine bestimmte Ordnung wahrt, die durch Zahlen besser als durch Buchstaben ausgedrückt werden kann. Deshalb werden uns an diesem Ort Zahlen nicht jene sogenannten Zahlen selbst bezeichnen, sondern beliebige Größen oder unbestimmte Zahlen. Die Buchstabengrößen seien a, b, c, d usf. Der Koeffizient der Buchstabengröße a in der ersten Gleichung wird 11 sein, in der zweiten 21, in der dritten 31 usf. Der Koeffizient der Buchstabengröße b in der ersten Gleichung wird 12 sein, in der zweiten 22, in der dritten 32 usf., so dass jene Zahlen aus zwei Ziffern bestehen, einer rechten und einer linken, von denen die rechte die Buchstabengröße bezeichnet, deren Koeffizient eben die Zahl ist, die linke aber die Gleichung bezeichnet, in der sich der Koeffizient befindet. Der absolute (Koeffizient) aber der ersten Gleichung wird 10 sein, der zweiten 20, der dritten 30, nämlich der Koeffizient keiner Buchstabengröße. Daher ist seine rechte Ziffer 0. Sei die Gleichung (1)
0 = 10 + 11a
Und wenn nichts außerdem vorhanden ist, kann auch nichts geschehen, was sich auf unser Thema bezieht. Sei ferner
(1) 0 = 10 + 11a
und (2) 0 = 20 + 21a
Mit Hilfe dieser beiden Gleichungen ist die Buchstabengröße a zu eliminieren. Man multipliziere sie über Kreuz, die eine Gleichung mit dem Koeffizienten der anderen, und das eine der zwei Produkte werde vom anderen subtrahiert. In der zusammengesetzten Gleichung wird der Term, der die Buchstabengröße enthält, eliminiert sein. Die Operation wird so von statten gehen: 21 (3) +10·21 + 11·21a = 0 oder (3) +10·21 = 0 oder +10·21 = 0 oder +0·1 = 0 −11·20 − 11·21a −11·20 −11·20 −1·0 nämlich nach Weglassung der linken 22 (Ziffern), weil sie stets dieselben sind, oder schließlich durch Formulierung in abgekürzester Weise (4) 0 ∙ 1 = 0. Wenn es aber zwei Buchstabengrößen und zwei Gleichungen gibt, (5) 10 + 11a + 12b = 0 und (6) 20 + 21a + 22b = 0, und der einfach bekannte Wert der Buchstabengrößen a oder b gesucht wird oder die Gleichung, in der allein die unbekannte Buchstabengröße a oder allein b auf21 In der Übersetzung werden Multiplikationspunkte in Zeilenmitte geschrieben. Leibniz schreibt sie auf Zeilenhöhe. 22 Leibniz schreibt versehentlich: dextris (rechten).
Determinantentheorie
259
tritt, wird dies mit Hilfe der Gleichung 3 nicht schwierig sein. Denn man kann sich vorstellen, dass aus der Gleichung 1 die Gleichung 5 hergestellt wurde, indem man 10 + 12b statt 10 setzt, und dass aus der Gleichung 2 die Gleichung 6 hergestellt wurde, indem man 20 + 22b statt 20 setzt. Deshalb wird man, wenn man dies auch in Gleichung 3 anstelle von 10 und 20 einsetzt, erhalten: 0∙1 2∙1 (7) +10·21 + 12·21b = 0 −11·20 − 11·22 Aus dieser Gleichung für b werden wir sofort eine andere für a herstellen, wenn wir die rechten Ziffern 1 und 2 miteinander vertauschen, und es ergibt sich: 0∙2 1∙2 (8) +10·22 + 11·22a = 0 −12·20 − 12·21a Und anstelle von Gleichung 7 könnten wir mittels Abkürzung schreiben (9) 0 ∙ 1 + 2 ∙ 1b = 0 Auf ähnliche Weise werden wir statt Gleichung 8 mittels Abkürzung schreiben (10) 0 ∙ 2 + 1 ∙ 2a = 0 Dabei tritt eine bemerkenswerte und für das Zusammenziehen der Rechnung im Folgenden von großem Nutzen seiende Tatsache auf, weil 1 ∙ 2 und 2 ∙ 1 untereinander zusammenfallen bzw. sich allein durch die Vorzeichen unterscheiden bzw. weil (11) 2 ∙ 1 = −1 ∙ 2 Ändert man nämlich die Vorzeichen eben der Größe (12) 1 ∙ 2 oder +11·22 − 12·21, so erhält man (13) 2 ∙ 1 oder 12·21 − 11·22. Wenn wir deshalb wollen, dass in den für a und b gefundenen Gleichungen a und b denselben Koeffizienten bzw. dass deren Werte denselben Koeffizienten haben oder dass deren Werte denselben Nenner haben, werden wir daher nach Beibehaltung der Gleichung 10 nur anstelle von Gleichung 9 schreiben (14) +0 ∙ 1 − 1 ∙ 2b oder −0 ∙ 1 + 1 ∙ 2b = 0
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Eberhard Knobloch
Es bezeichnet aber −0 ∙ 1 dasselbe wie +0 ∙ 1, nur die Vorzeichen wurden vertauscht. Nun komme zu den gegebenen Gleichungen 5 und 6 eine dritte hinzu: (15) 30 + 31a + 32b = 0 aus der wir nunmehr die Buchstabengrößen a und b mit Hilfe der gefundenen Werte werden eliminieren können bzw. mit Hilfe der Gleichungen 10 und 14 ebenfalls durch Multiplikation über Kreuz. Die neue Gleichung 15 nämlich werde mit dem gemeinsamen Koeffizienten der Buchstabengrößen a und b in den früheren Gleichungen 10 und 14 multipliziert. Aber jene zwei früheren Gleichungen mögen mit den Koeffizienten der neuen multipliziert werden, nämlich die Gleichung für a, welche Gleichung 10 ist, mit dem Koeffizienten von a in Gleichung 15, nämlich mit 31, aber die Gleichung für b, welche 14 ist, mit dem Koeffizienten von b in Gleichung 15, nämlich mit 32. Und die multiplizierten Gleichungen, die 10. mit 31, die 14. mit 32, mögen von der 15., mit 1 ∙ 2 multiplizierten subtrahiert werden. Nach Elimination der Buchstabengrößen a und b wird übrig bleiben: (16) 1 ∙ 2 ∙3 0 − 0 ∙ 2 ∙3 1 + 0 ∙ 1 ∙3 2 = 0 Diese ist gereinigt von den Buchstabengrößen a und b. Diese wird, klar aufgeschrieben, so aussehen: 1 2 3 + 1· 2· 0 1 2 3 − 2· 1· 0 1 2 3 − 0· 2· 1 = 0 1 2 3 + 2· 0· 1 1 2 3 + 0· 1· 2 1 2 3 − 1· 0· 2
(17)
(17) +0·1·2 − 0·2·1 + 1·2·0 −1·0·2 + 2·0·1 − 2·1·0 = 0 Die Sache aber läuft auf dasselbe hinaus, falls alle Vorzeichen dieser Gleichung 17 verändert werden. Offensichtlich wird die Sache auch auf dasselbe hinauslaufen, wenn wir statt der Gleichung 16 die Gleichung (18) 0 ∙ 1 ∙2 2 − 0 ∙ 2 ∙2 1 + 1 ∙ 2 ∙2 0 = 0
Determinantentheorie
261
hingeschrieben hätten, nämlich wenn nicht Gleichung 15, sondern 6 als letzte wäre herangezogen worden. Und bei der Ausführung der Rechnung wäre dennoch Gleichung 17 hervorgegangen, sofern beachtet worden wäre, dass in 0 ∙ 1 und 0 ∙ 2 und 1 ∙ 2 nicht die Koeffizienten der zuletzt herangezogenen Gleichung, nämlich 6, verwendet worden wären bzw. wenn wahrgenommen würde, dass in deren Explikation keine rechte Ziffer 2 in 0 ∙ 1 und 0 ∙ 2 und 1 ∙ 2 enthalten ist, da diese erst Gleichung 18 jenen hinzufügen würde. Es ist außerdem offensichtlich, welche abgesonderte Spalte man auch immer in Gleichung 17 im Sinn hat, sei es die dritte, in der die Koeffizienten der Gleichung 15 sind oder die rechte Ziffer 3, sei es die zweite, in der die Koeffizienten der Gleichung 6 sind. Dann wären in jenem Fall wegen Gleichung 16, in diesem Fall wegen Gleichung 18 das Übrige gemäß den Vorzeichen zu ordnen, die, wie man aus den früheren bereits erfahren hat, in 0 ∙ 1 und 0 ∙ 2 und 23 1 ∙ 2 sind. Und diese Reduktion der Gleichung 17 auf die Gleichungen 16 und 18 oder noch eine andere 19 (nämlich (19) ·0 ∙ 1 ∙1 2 − 0 ∙ 2 ∙1 1 + 1 ∙ 2 ∙10 = 0) ist in speziellen Fällen nützlich,24 je nachdem nämlich ob Gleichung 15 oder 6 oder 5 zur Verkürzung der Rechnung geeigneter ist und einfacher. Aber damit wir Gleichung 17 unabhängig von jenen ordnen, wird zu bedenken sein, dass freilich die rechten Ziffern 1 und 2 dieselbe Bedingung erfüllen, sie bezeichnen nämlich, von welcher Buchstabengröße, a oder b, die Koeffizienten gemeint sind. Aber 0 ist eine von diesen verschiedene und getrennte Ziffer, sie bezeichnet nämlich den Koeffizienten keiner Buchstabengröße bzw. den absoluten Term: Deshalb muss die Ziffer 0 für uns der Schlüssel dieser Anordnung sein, während wir diese mit 1 und 2 selbst, die gleiches Recht genießen, kombinieren. Zuerst also lasst uns 0 vor beide setzen, darauf an mittlere Stelle, schließlich an letzter, und anstelle von Gleichung 17 werden wir eine solche haben: 1 2 3 + 0· 1· 2 1 2 3 − 0· 2· 1 1 2 3 (20) − 1· 0· 2 = 0 1 2 3 + 2· 0· 1 1 2 3 + 1· 2· 0 1 2 3 − 2· 1· 0
+0·1·2 −0·2·1 oder (20) −1·0·2 = 0 oder schließlich (21) 0 ∙ 1 ∙ 2 = 0 +2·0·1 +1·0·2 −2·1·0
23 Leibniz schreibt versehentlich: 2 ∙ 3. 24 Leibniz schreibt versehentlich: utiles sunt (sind nützlich).
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Eberhard Knobloch
Dort wird das Gesetz der Anordnung und Vorzeichen sichtbar. Denn wenn 0 an die erste Stelle gesetzt wird, bleiben die Vorzeichen von 1 ∙ 2 erhalten, ist 0 an die mittlere Stelle gesetzt, werden sie verändert. Ist 0 schließlich an die äußerste Stelle gesetzt, bleiben sie wieder erhalten. Denn 1 ∙ 2 ist +1·2 − 2·1 nach Gleichung 12. Wenn daher 0 an den Anfang gesetzt wird, ergibt sich +1·2 − 2·1 mal 0. Wird 0 an die mittlere Stelle gesetzt, erhält man −1·2 + 2·1 mal 0. Wird schließlich 0 an die dritte Stelle gesetzt, erhält man wiederum +1·2 − 2·1 mal 0. Der Grund dafür ist, dass 30 mit 1 ∙ 2 multipliziert wird, wie aus Gleichung 16 erhellt. Nun ist 30 dasselbe wie 0 an dritter Stelle. Also bleiben in diesem Fall die Vorzeichen von 1 ∙ 2 erhalten. Gleichung 16 fällt aber mit Gleichung 20 zusammen. Wenn statt Gleichung 16 eher Gleichung 18 geschrieben wird, wird offensichtlich 20 mit 1 ∙ 2 multipliziert. Aber Gleichung 18 hat entgegengesetzte Vorzeichen zu denen, die Gleichung 20 hat. Zum Beispiel ist in Gleichung 18 die Größe 10·21·32 mit dem Vorzeichen − versehen, im Gegensatz zu dem, was in Gleichung 20 geschieht, auf die wir alles beziehen. Deshalb werden die Vorzeichen der Gleichung 18 zu ändern sein, damit die Gleichungen 18 und 20 übereinstimmen. Deshalb wird man in Gleichung 18, wenn sie mit der 20. Gleichung übereinstimmt (und daher auch in der 20. Gleichung), −1 ∙ 2 ∙2 0 erhalten. Wenn also 0 in der 20. Gleichung an die zweite Stelle gesetzt wird, werden die Vorzeichen von 1 ∙ 2 geändert. Wird schließlich Gleichung 19 verwendet, wenn dort die Größe, die in der 20. Gleichung das Vorzeichen + hat, wie 10·21·32 oder 0·1·2, auch mit dem Vorzeichen + versehen ist, so werden die Vorzeichen der Gleichung 19 bleiben bzw. wird Gleichung 19 mit der 20. Gleichung zusammenfallen. Nun hat man in Gleichung 19 +1 ∙ 2 ∙10 bzw. 0 an erster Stelle wird mit 1 ∙ 2 multipliziert unter Beibehaltung der Vorzeichen von 1 ∙ 2. Also werden in diesem Fall auch in Gleichung 20 die Vorzeichen von 1 ∙ 2 beibehalten. Es gebe ferner drei Gleichungen und drei Buchstabengrößen: (22) 10 + 11a + 12b + 13c = 0 und (23) 20 + 21a + 22b + 23c = 0 und (24) 30 + 31a + 32b + 33c = 0. Gesucht sind der Wert der Buchstabengrößen a, b, c bzw. die Gleichungen, in denen nur eine einzige von diesen allein vorhanden ist. Diese werden sein: (25) 3 ∙ 1 ∙ 2c + 0 ∙ 1 ∙ 2 = 0 0∙2∙3=0
(26) 2 ∙ 1 ∙ 3b + 0 ∙ 1 ∙ 3 = 0
(27) 1 ∙ 2 ∙ 3a +
Determinantentheorie
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Gleichung 25 entsteht nämlich aus Gleichung 21, indem man allein statt 10 10+13c setzt, statt 20 20+23c, statt 30 30+33c auf dieselbe Weise wie nach unseren Worten Gleichung 7 aus Gleichung 3. Ferner wird aus Gleichung 25 die Gleichung 26, indem man eben die rechten Ziffern 3 und 2 permutiert, und aus Gleichung 25 wird die Gleichung 27, indem man eben die Ziffern 3 und 1 permutiert. Aber wenn wir wollen, dass b und c denselben Koeffizienten wie a haben, ist eine Veränderung vorzunehmen, und zwar gilt (28) 2 ∙ 1 ∙ 3 = −1 ∙ 2 ∙ 3 Durch eine einfache Permutation von 1 und 2 entsteht jenes aus diesem. Deshalb entsteht aus Gleichung 26 −1 ∙ 2 ∙ 3b + 0 ∙ 1 ∙ 3 bzw. (29) −1 ∙ 2 ∙ 3b − 0 ∙ 1 ∙ 3 = 0 Aber (30) 3 ∙ 1 ∙ 2 = 1 ∙ 2 ∙ 3, weil eine doppelte Permutation nötig ist, damit das Eine aus dem Anderen entsteht. 3 muss nämlich statt 1 gesetzt werden und 1 statt 2 und 2 statt 3. Also ergibt sich: (27) 1 ∙ 2 ∙ 3a + 0 ∙ 2 ∙ 3 = 0, (31) 1 ∙ 2 ∙ 3b − 0 ∙ 1 ∙ 3 = 0, (32) 1 ∙ 2 ∙ 3c + 0 ∙ 1 ∙ 2 =0 Dabei ist festzuhalten, dass 1 ∙ 2 ∙ 3 auf dieselbe Weise gebildet ist wie 0 ∙ 1 ∙ 2, indem man statt 0, 1, 2 nur 1, 2, 3 setzt, wie nach dem Gesagten offenbar ist. Aber es ist von selbst offenbar, dass 0 ∙ 1 ∙ 3 und 0 ∙ 2 ∙ 3 wie 0 ∙ 1 ∙ 2 gebildet werden, indem man 3 statt 2 setzt oder indem man 2 statt 1 setzt. Wenn daher nunmehr mit den Gleichungen 22, 23, 24 die neue (33) 40 + 41a + 42b + 43c = 0 verbunden wird, so wird man, wenn man in ihr a, b, c mittels der Gleichungen 27, 31, 32 nach der oben gezeigten Methode eliminiert, eine solche Gleichung erhalten: 4 4 4 4 (34) 0 ∙ 1 ∙ 2· 3 − 0 ∙ 1 ∙ 3· 2 + 0 ∙ 2 ∙ 3· 1 − 1 ∙ 2 ∙ 3· 0 = 0 wenn freilich die mit 1 ∙ 2 ∙ 3 multiplizierte Gleichung 33 von der Ansammlung der zuvor zum Finden der Gleichung 16 getan wurde. Und so wie wir statt Gleichung 16 die Gleichungen 18 und 19 hinschrieben, so können statt der Gleichung 34 drei andere hingeschrieben werden, nämlich: 3 3 3 3 (35) 0 ∙ 1 ∙ 2· 3 − 0 ∙ 1 ∙ 3· 2 + 0 ∙ 2 ∙ 3· 1 − 1 ∙ 2 ∙ 3· 0 = 0 oder 2 2 2 2 (36) 0 ∙ 1 ∙ 2· 3 − 0 ∙ 1 ∙ 3· 2 + 0 ∙ 2 ∙ 3· 1 − 1 ∙ 2 ∙ 3· 0 = 0 und schließlich 1 1 1 1 (37) 0 ∙ 1 ∙ 2· 3 − 0 ∙ 1 ∙ 3· 2 + 0 ∙ 2 ∙ 3· 1 − 1 ∙ 2 ∙ 3· 0 = 0
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Eberhard Knobloch
Vergleicht man diese Gleichungen, so wird dort offenbar werden, dass sich Gleichung 34 durch die Vorzeichen von Gleichung 35 unterscheidet, mit Gleichung 36 übereinstimmt, sich von Gleichung 37 wiederum unterscheidet und dass sie daher, wenn 0 oder 10 an erste Stelle gesetzt ist, die Vorzeichen von 1 ∙ 2 ∙ 3 ändert (weil 1 in Gleichung 37 −1 ∙ 2 ∙ 3· 0 steht), dass darauf die an zweite Stelle gesetzte 0 2 oder 20 diese beibehalten wird (weil in Gleichung 36 zwar −1 ∙ 2 ∙ 3· 0 steht, aber alle ihre Vorzeichen zu ändern sind, damit sie mit Gleichung 37 übereinstimmt). Und die an dritte Stelle gesetzte 0 wird diese wiederum ändern (weil man in Glei3 chung 35 −1 ∙ 2 ∙ 3· 0 hat und diese Gleichung auch in den Vorzeichen mit Gleichung 37 übereinstimmt). Schließlich wird die an vierte Stelle gesetzte 0 diese 4 wiederum ändern (weil man in Gleichung 34 zwar −1 ∙ 2 ∙ 3· 0 hat, aber die Vorzeichen ihrer Gleichung zu ändern sind, damit sie mit Gleichung 37 übereinstimmt). Und wenn wir lieber wollen, dass eher die 0 an erster Stelle die Vorzeichen beibehält, an zweiter ändert, an dritter beibehält, an vierter wiederum ändert, wie wir oben stets bei den beibehaltenen Vorzeichen begonnen haben, werden nur alle Vorzeichen in den Gleichungen 37 und 35 geändert, in den Gleichungen 36 und 34 beibehalten. Deshalb kann die mit ihnen auf diese Weise übereinstimmende Gleichung klar in zweifacher Weise geschrieben werden, auf die eine, wenn es gefällt, gemäß Gleichung 34, (sie könnte aber auf dieselbe Weise gemäß Gleichung 35 und 36 und 37 geschrieben werden) weil so zu den Größen, die allein aus den drei anfangs gegebenen Gleichungen 22, 23, 24 hervorgegangen sind, auf diese Weise eine vierte gegebene hinzutritt, Gleichung 33 freilich. Diese Art des Betrachtens ist manchmal bei der Anwendung auf Beispiele nützlich, wie wir oben gesagt haben. Und so wird gelten (indem man 0 ∙ 1 ∙ 2 aus Gleichung 17 nimmt und ihr 3 beischreibt und in Nachahmung davon auch 0 ∙ 1 ∙ 3 behandelt und die übrigen. Ich nehme aber eher Gleichung 17 als 20, weil auch Gleichung 17 aus Gleichung 16 gebildet ist, so wie diese jetzt aus Gleichung 34 gebildet wird): +0·1·2·3 − 0·1·3·2 + 0·2·3·1 − 1·2·3·0 −1·0·2·3 + 1·0·3·2 − 2·0·3·1 + 2·1·3·0 −0·2·1·3 + 0·3·1·2 − 0·3·2·1 + 1·3·2·0 (38) +2·0·1·3 − 3·0·1·2 + 3·0·2·1 − 3·1·2·0 = 0 +1·2·0·3 − 1·3·0·2 + 2·3·0·1 − 2·3·1·0 −2·1·0·3 + 3·1·0·2 − 3·2·0·1 + 3·2·1·0
Determinantentheorie
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Dabei ist zu bemerken, dass aus 0·1·2 mal 3 −0·1·3 mal 2 wird bzw. aus der ersten Spalte die mit entgegengesetzten Vorzeichen versehene zweite Spalte, wenn 3 und 2 untereinander permutiert werden; und dass auf dieselbe Weise aus −0·1·3 mal 2 +0·2·3 mal 1 wird bzw. aus der zweiten Spalte die dritte mit entgegengesetzten Vorzeichen versehene, wenn 2 und 1 untereinander permutiert werden; und dass aus +0·2·3 mal 1 1·2·3 mal 0 wird bzw. aus der dritten Spalte die vierte mit entgegengesetzten Vorzeichen versehene durch Permutation von 1 und 0 untereinander. Daher verändert eine einfache Permutation das Vorzeichen, eine doppelte stellt es wieder her, was wir auch schon oben verkündigt haben. Eine andere Methode, Gleichung 34 oder 38 klar hinzuschreiben, ist diejenige, dass wir keine gegebene Gleichung vor den übrigen betrachten, das heißt weder die vierte (bzw. 33), wie wir es bei der Gleichung 34 oder 38 getan hatten, noch die dritte (bzw. 24), wie bei Gleichung 35, noch die zweite bzw. 23, wie bei Gleichung 36, noch die erste bzw. 22, wie bei Gleichung 37, sondern alle in gleicher Weise berücksichtigen (außer dass wegen der Ordnung eine notwendigerweise einer anderen vorausgeht). Und dann ist zu derjenigen Methode zurückzukehren, nach der wir Gleichung 20 angeordnet haben. Und auf ähnliche Weise werden wir jetzt alles anordnen, wobei wir die Ziffer 0 gleichsam wie einen Schlüssel betrachten. Und es wird sich folgendes ergeben: +0·1·2·3 −0·1·3·2 −0·2·1·3 +0·3·1·2 +0·2·3·1 −0·3·2·1
−1·0·2·3 +1·0·3·2 +2·0·1·3 −3·0·1·2 −2·0·3·1 +3·0·2·1
+1·2·0·3 −1·3·0·2 −2·1·0·3 +3·1·0·2 +2·3·0·1 −3·2·0·1
−1·2·3·0 +1·3·2·0 +2·1·3·0 = 0 (39) −3·1·2·0 −2·3·1·0 +3·2·1·0
oder in größter Abkürzung (40) 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3 = 0 Und so haben wir hieraus die einfachste und allgemeinste Methode, eine beliebige derartige Formel hinzuschreiben, wenn man nur einen einzigen, sogar nach Belieben angenommenen Term von ihr hat. Daher genügt es, dass sogar die gesamte Formel durch einen einzigen Term hingeschrieben wird. Alle Terme nämlich der Formel können aus einem einzigen hergestellt werden, wenn zwei bestimmte Ziffern untereinander permutiert werden. Welche nunmehr aus irgendeinem vorgelegten durch einfache, dreifache, fünffache usf. Permutation entstehen, haben entgegengesetzte Vorzeichen, welche aber aus ihm durch zweifache, vierfache, sechsfache usf. Permutation entstehen, haben dieselben Vorzeichen.
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Eberhard Knobloch
Sei also die vorgelegte Formel oder Gleichung 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3 = 0. Wir wollen einen Term davon annehmen, nämlich eben jenen, durch den sie durch Abkürzung hingeschrieben wird, nämlich 0·1·2·3, und wir wollen setzen, dass dieser mit dem Vorzeichen + versehen ist und +0·1·2·3 geschrieben wird. Hält man 0·1 fest und permutiert 2 und 3, so entsteht −0·1·3·2, hält man 0·2 fest und permutiert 1 und 3, so entsteht −0·3·2·1, permutiert man 1 und 2, so entsteht −0·2·1·3, permutiert man 0 und 3, so entsteht −3·1·2·0, permutiert man 0 und 2, so entsteht −2·1·0·3, permutiert man schließlich 0 und 1, so entsteht −1·0·2·3. Nunmehr wollen wir zu den zweifachen Permutationen kommen, wenn man nämlich in 0·1·2·3 2 und 3 permutiert, so dass daraus −0·1·3·2 entsteht. Und darin wollen wir 1 und 3 permutieren, so dass daraus +0·3·1·2 entsteht, und wiederum 1 und 2, so das daraus +0·2·3·1 entsteht, und wiederum 0 und 3, so dass daraus +3·1·0·2 entsteht, und wiederum 0 und 2, so dass daraus +2·1·3·0 entsteht, und wiederum 0 und 1, so dass daraus +1·0·3·2 entsteht. Auf ähnliche Weise werden wir aus −0·3·2·1 durch neue Permutationen neue, mit den Vorzeichen + versehene Terme hervorlocken. Wir wollen nämlich allerdings nicht darin weiterhin 2 und 3 noch 1·3 noch 1 und 2 permutieren, andernfalls werden bereits angenommene Terme wieder auftreten, sondern 0 und 3, so dass +3·0·2·1, ebenso 0 und 2, so dass +2·3·0·1 entsteht, ebenso 0 und 1, so dass +1·3·2·0 entsteht, und so werden wir durch fortgesetzte Permutationen alle Terme erzeugen, was in einem bestimmten Schema in einer unterteilenden Tafel dargestellt werden könnte. Wenn es vier Gleichungen und Buchstabengrößen wären: 10 + 11a + 12b + 13c + 14d = 0 und 20 + 21a + 22b + 23c + 24d = 0 und 30 + 31a + 32b + 33c + 34d = 0 und 40 + 41a + 42b + 43c + 44d = 0, ergibt sich 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4a + 0 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4 = 0 und 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4b − 0 ∙ 1 ∙ 3 ∙ 4 = 0 und 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4c + 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 4 = 0 und 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4d − 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3 = 0 Kommt endlich eine fünfte Gleichung hinzu, während die vier Buchstabengrößen bleiben, nämlich 50 + 51a + 52b + 53c + 54d = 0, wird man eine Gleichung erhalten, in der alle Buchstabengrößen eliminiert sein werden: 5 5 5 5 5 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3· 4 − 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 4· 3 + 0 ∙ 1 ∙ 3 ∙ 4· 2 − 0 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4· 1 + 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4· 0 = 0
bzw. durch Abkürzung 0 ∙ 1 ∙ 2 ∙ 3 ∙ 4 = 0.
Determinantentheorie
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Viele sehr schöne Beobachtungen könnten hier gemacht werden, aber es mag genügen, jetzt das Eine anzumerken, dass sich nämlich dieselben Gesetze der Ordnung und der Vorzeichen ergeben, wenn wir statt der rechten Ziffern die linken verwenden sollten bzw. 1·2·3·4 anstatt 0·1·2·3 verwenden sollten. Auch wird es sehr nützlich sein, den auffallenden Kunstgriff der kombinatorischen Kunst zu betrachten, der jetzt offenbar wird, nämlich dass Variationen der Materie bzw. Zusammenlegungen allein auf Verschiedenheiten der Form bzw. Ordnung bzw. auf Transpositionen übertragen werden. Während wir nämlich die linken Ziffern vernachlässigen, weil sie stets dieselben sind, wird allein die Ordnung in den rechten beachtet. Wir wollen nun versuchen, allgemeinste, von uns gefundene Sätze mit Worten aus der kombinatorischen Kunst auszusprechen, damit es nicht nötig ist, ständig auf die Rechnung zu blicken. Wenn wir nämlich aus irgendeiner gegebenen Gleichung die Buchstabengrößen eliminieren wollen, die in ihr enthalten sind, mit Hilfe ebenso vieler anderer gegebenen Gleichungen wie es Buchstabengrößen gibt, werden wir eine neue Gleichung ohne jene Buchstabengrößen erhalten, die das Aggregat aller größten Kombinationen mit so vielen Bestandteilen sein wird, wie es Gleichungen aus allen bekannten Größen aller nach dem Gesetz miteinander verbundenen Gleichungen gibt, dass niemals mehrere Größen derselben Gleichung noch mehrere Koeffizienten derselben Buchstabengröße und daher auch nicht mehrere absolute Terme (diese nämlich sind für die Koeffizienten keiner Buchstabengröße zu halten) miteinander verbunden werden. Die größten Kombinationen, ich betone es, sind anzuwenden, nämlich für drei Gleichungen dreielementige, für vier Gleichungen vierelementige Kombinationen usf. Das Gesetz der Vorzeichen aber, durch die sich jene Kombinationen unterscheiden werden, wird das sein, dass diejenigen Kombinationen mit entgegengesetzten Vorzeichen versehen werden, von denen die eine aus der anderen entsteht, indem die Koeffizienten zweier Buchstabengrößen, die vorher aus zwei bestimmten ursprünglichen Gleichungen genommen wurden, jetzt zwar aus denselben, aber permutierten genommen werden, das heißt wenn in der früheren Kombination der aus der ersten Gleichung genommene Koeffizient keiner Buchstabengröße auftritt (das heißt der absolute Term) und der aus der zweiten genommene der Buchstabengröße a, dann tritt in der späteren in der Tat der Koeffizient der Buchstabengröße a aus der ersten, und der keiner Buchstabengröße aus der zweiten bzw. der absolute Term der zweiten auf. Dann werden sich diese Kombinationen durch die Vorzeichen unterscheiden, wenn es keinen anderen als den von uns genannten Unterschied gibt. Wenn es ebenso viele Buchstabengrößen wie Gleichungen geben sollte, wird der reine Wert irgendeiner Buchstabengröße ein Bruch sein, dessen Zähler die Ansammlung aller möglichen größten Kombinationen aus allen bekannten Größen nach Wegnahme der Koeffizienten eben der Buchstabengröße ist. Der Nenner aber wird die Ansammlung aller größten Kombinationen aus allen bekannten Größen nach Wegnahme der absoluten Terme sein.
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Eberhard Knobloch
Dasselbe Vorzeichengesetz wird im Zähler ebenso wie im Nenner einzeln befolgt, wie wir es oben beschrieben haben. Aber damit die Vorzeichen von Nenner und Zähler miteinander verglichen werden, wird es nur nötig sein, irgendeiner Kombination des Zählers dasselbe Vorzeichen zu geben, das die ihr entsprechende Kombination des Nenners hat, das heißt es gibt allein den Unterschied zwischen diesen, dass die Kombination des Zählers den absoluten Term aus derjenigen Gleichung hat, aus der die Kombination des Nenners den Koeffizienten der vorgegebenen Buchstabengröße hat. Und in der Tat unterscheiden sich Zähler und Nenner allein durch die Permutation der Koeffizienten der vorgegebenen Buchstabengröße, dessen Wert gesucht wird, und der absoluten, aus denselben ursprünglichen Gleichungen kommenden Terme. Die Gleichung, in der alle Buchstabengrößen eliminiert sind, können wir auch anders durch eine besondere Beziehung zu irgendeiner von den gegebenen Gleichungen ausdrücken. Es ist nämlich nur nötig, dass wir jedes einzelne Aggregat aller aus den bekannten Größen gebildeten Kombinationen nehmen, die kleiner als die größten sind, nämlich unter Weglassung der bekannten Größen einer von den gegebenen Gleichungen, wobei jenes allgemeine, zu Beginn erklärte Gesetz der Vorzeichen in jedem einzelnen Aggregat bewahrt wird. Und die in ihrer natürlichen Ordnung aufgeschriebenen Größen der weggelassenen Gleichung, die abwechselnd die Vorzeichen + und − tragen, wollen wir mit den genannten Aggregaten multiplizieren, nämlich jede einzelne mit jenem Aggregat, dem eben jene Größe zum vollen Umfang der größten Kombination fehlt, so dass wir nämlich erreichen, dass dasselbe allgemeine Vorzeichengesetz in der so geschaffenen ganzen, vollständigen größten Kombination beachtet wird (dass nämlich einfache Permutationen das entgegengesetzte Vorzeichen bewirken). Bei der Anwendung auf Beispiele werden wir oft diesen auf eine bestimmte gegebene Gleichung bezogenen Ausdruck vorteilhaft benutzen, wenn jene Gleichung im Vergleich zu den anderen einfach ist. Und jene Aggregate, die eben diese Gleichung nicht enthalten, werden wir wiederum auf dieselbe Weise auflösen, indem eine Beziehung auf die nächsteinfache Gleichung hergestellt wird usf.
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Determinantentheorie
Deutsch-lateinisches Glossar Abkürzung
compendium
Ansammlung (algebraische Summe, Aggregat)
aggregatum
Absondern
sequestrare
Bildungsgesetz
progressio
Buchstabengröße
litera
dreielementige Kombination
ternio
einfach bekannt
pure cognitus
Explikation (Ausführung einer Rechnung)
explicatio
klar (bestimmt)
distinctus
linear
simplex
multiplizieren mit
ducere in
Regelwerk
canon
Transposition
transpositio
Variation
variatio
Verschiedenheit
varietas
Vertauschen
permutare
vierelementige Kombination
quaternio
Ziffer
nota
Zusammmenlegung
complicatio
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Eberhard Knobloch
Lateinisch-deutsches Glossar aggregatum
Ansammlung (algebraische Summe, Aggregat)
canon
Regelwerk
compendium
Abkürzung
complicatio
Zusammenlegung
distinctus
klar, bestimmt
ducere in
multiplizieren mit
explicatio
Explikation, Ausführung einer Rechnung
litera
Buchstabengröße
nota
Ziffer
permutare
vertauschen
progressio
Bildungsgesetz
pure cognitus
einfach bekannt
quaternio
vierelementige Kombination
sequestrare
absondern
simplex
linear
ternio
dreielementige Kombination
transpositio
Transposition
variatio
Variation
varietas
Verschiedenheit
GRUNDSTEINLEGER UND ERBAUER Aushandlungsprozesse um Ruhm und Status im Mathematikerkreis um Leibniz Charlotte Wahl, Hannover Prioritätsstreitigkeiten 1 und Plagiatsvorwürfe zeigen, wie wichtig Ruhm als Währung in der Mathematik der Frühen Neuzeit war. 2 Im besten Fall lassen sich die Streitpunkte eindeutig klären und verlieren dann ihr Interesse. Oft jedoch liegen ihnen jedoch Meinungsverschiedenheiten darüber zugrunde, was die fragliche Erfindung ausmacht: Was ist neu gegenüber Vorläufern? Welche Elemente sind wesentlich für die Erfindung? Was gehört zu einer Erfindung dazu; was ist als darauf aufbauende eigenständige Entwicklung zu werten? Welche Elemente sind charakteristisch für sie und unterscheiden sie von ähnlichen Erfindungen? Auseinandersetzungen um Ruhm zwingen die Zeitgenossen oft, in diesen Fragen Position zu beziehen. Für den Differentialkalkül war aus Sicht vieler Zeitgenossen der Algorithmus (insbesondere die Quotienten- und Potenzregel) wesentlich; für Leibniz kam jedoch die Transformierbarkeit von Differentialen, die der heutigen Kettenregel entspricht, hinzu. Die Behandlung von Exponentialgleichungen erhielt einen eigenen Namen, den Exponentialkalkül, den Johann Bernoulli mitbeanspruchte. Genauso verhielt es sich mit der Integralrechnung, die Leibniz jedoch nicht als eigenständigen Kalkül ansah. 3 Im Prioritätsstreit mit Newton führte
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Im Folgenden werden abgekürzt: Bernoulli, Briefw. = Johann Bernoulli: Der Briefwechsel, hrsg. v. der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, Basel 1955ff.; BEBB = Basler Edition der Bernoulli-Briefwechsel, https://ub-mediawiki.ub.unibas.ch/bernoulli, Hrsg. Fritz Nagel/ Sulamith Gehr. Die Identifikation der Briefe erfolgt hier über eine Systemnummer, nach der in swisscollections gesucht werden kann (https://swisscollections.ch). A-Transkriptionen = Transkriptionen für die Leibniz-Akademieausgabe der Leibniz-Forschungsstelle Hannover, verlinkt unter https://leibnizedition.de/reihen/reihe-i. (Links eingesehen am 27.6.2021.) Vgl. dazu (nicht auf die Frühe Neuzeit spezialisiert) den klassischen Artikel Robert K. Merton: Priorities in scientific discovery: A chapter in the sociology of science, in: American Sociological Review 22 (6), 1957, S. 635–659. „Non est cur duplicem Calculum fingamus, alterum differentialium, alterum integralium, neque enim aliter differunt, quam multiplicatio a divisione quae sibi reciprocae sunt.“ (Brief an Leonhard Christoph Sturm vom 8. September 1703, LBr. 910 Bl. 17, erscheint in A III,9); „Et quant au Calcul des sommes, qui sert à oster les differences infinitesimales, il ne le faut point considerer comme un calcul distinct de celuy des differences, mais comme l’art d’en faire un bon usage[.]“ (Brief an Jacques Lelong für Charles-René Reyneau vom 24. September 1706, A I,26 N. 246, hier S. 512). Ähnlich in Leibniz’ Brief an Jacob Hermann vom 16. Juni 1707 (GM 4, S. 314f.).
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Leibniz die Symbolik als Charakteristikum seines Differentialkalküls an, die ihn vom Fluxionskalkül unterschied. 4 Ansprüche auf den Ruhm an einer Erfindung zu erheben, ist eine Sache, sie durchzusetzen eine andere. Welche Mittel standen zur Verfügung, um Ansprüche geltend zu machen; welcher Erfolg war ihnen beschieden? Wie ging die Gelehrtenrepublik mit den daraus entstehenden Konflikten um? Berühmtheit erlangen vor allem diejenigen Konflikte, die besonders heftig waren und zu unversöhnlichen Spannungen führten. In den hier geschilderten Auseinandersetzungen um Ruhm und Status unter den frühen Anhängern des Differentialkalküls ging es hingegen darum, Ansprüche durchzusetzen, ohne den friedlichen Austausch zu gefährden. Leibniz selbst trat immer wieder dafür ein, „ut cuique suum tribuatur“. 5 Dieses Ziel wurde (und wird) jedoch häufig durch mangelndes Wissen derjenigen, die Ruhm zuteilen, gefährdet. Der Einsatz für die Anerkennung eigener oder fremder Verdienste kann daher auch als ein normaler Vorgang der Fehlerkorrektur und Feinjustierung begriffen werden, der zur Stabilisierung der Gelehrtenrepublik beitrug und nicht in einen Ausnahmezustand führen musste wie im Fall des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton. Der Integralkalkül zwischen Leibniz und Johann Bernoulli Ruhm und Einfluss in der Mathematik lassen sich oft an Terminologie und Symbolik erkennen. Wer hat bestimmte Begriffe eingeführt, geprägt oder durchgesetzt? Bevor es unter den Leibnitianern um Fragen der Priorität und Urheberschaft ging, entwickelte sich zwischen Leibniz und Johann Bernoulli eine Diskussion um den Integralbegriff. Ein knappes Jahrzehnt nach seiner Entwicklung stellte Leibniz im Oktober 1684 in seiner Nova methodus de minimis et maximis die Grundregeln des Differentialund Integralkalküls der Öffentlichkeit vor. 6 Die Summe – das heutige Integral – und ihr Symbol, das lange s als Abkürzung für „summa“, führte er in einem weiteren Beitrag De geometria recondita im Juni 1686 ein, in dem er Differential und
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Zu der Rolle, die die unterschiedlichen Auffassungen ihrer Kalküle im Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton spielten, vgl. Charlotte Wahl: „Ich schätze Freunde mehr als mathematische Entdeckungen”. Zum Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton, in: Michael Kempe [Hrsg.], 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten (= Forschung Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek 2), Hannover 2016, S. 111–143. Brief an Johann Bernoulli vom 20. August 1706 (GM 3, S. 795). Leibniz wendet damit einen aus der Antike stammenden Rechtsgrundsatz, der auch in seiner Rechtsphilosophie eine zentrale Rolle spielt, auf geistiges Eigentum an. Gottfried Wilhelm Leibniz: Nova methodus pro maximis et minimis, itemque tangentibus, quae nec fractas nec irrationales quantitates moratur, et singulare pro illis calculi genus, in: Acta eruditorum, Oktober 1684, S. 467–473.
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Summe als reziprok zueinander in Analogie zu Potenz und Wurzel vorstellte. 7 Mit diesem Beitrag reagierte Leibniz auf John Craigs Methodus figurarum lineis rectis et curvis comprehensarum quadraturas determinandi. 8 Craig hatte dort mithilfe von Leibniz’ Differentialkalkül nicht ganz korrekt ein inverses Tangentenproblem gelöst, das zuerst geometrisch von Isaac Barrow hergeleitet worden war. Leibniz freute sich über die Anerkennung aus England und nutzte die Gelegenheit, die ihm die Korrektur der Craig’schen Anwendung gab, um die generelle Nützlichkeit des Differentialkalküls für Quadratur- und inverse Tangentenprobleme hervorzuheben. Diese Ausführungen blieben allerdings vage. Leibniz wies darauf hin, dass die klassischen Resultate von Barrow, James Gregory und anderen mit seinem Kalkül ein Kinderspiel seien, lieferte aber keine Rezepte zum Beispiel zur Übersetzung von Quadraturaufgaben in Differentialgleichungen – es scheint, als ob er diesen Schritt als mehr oder weniger trivial ansah, – oder zur Berechnung der Summen. In den nächsten vier Jahren bis 1690 kamen kaum neue Veröffentlichungen hinzu, die geeignet waren, den Umgang mit Summen einer größeren Allgemeinheit näher zu bringen. Die Tatsache, dass Leibniz seinen Begriff der Summe als Inverses (Reziprokes in seiner Terminologie) des Differentials nur en passant einführte und nicht detaillierter behandelte, hatte Folgen: Der Begriff erfuhr in der Konzeption der Brüder Jacob und Johann Bernoulli, die sich den Differentialkalkül um 1690 aus Leibniz’ Zeitschriftenartikeln aneigneten, Modifikationen. Sie betrachteten das Differential als Teil eines Ganzen, das sie als ,Integral‘ („integrale“) bezeichneten. 9 Dementsprechend machte für sie nur das Integral eines Differentials Sinn, aber nicht wie für Leibniz das Integral einer gewöhnlichen Größe. Das Integral war in heutiger Terminologie das Linksinverse des Differentials. Den Begriff ,Integral‘ verwendeten die Brüder auch in ihren Veröffentlichungen, in denen sie ab 1691 im Austausch mit Leibniz den Kalkül auf immer neue Probleme anwandten. 10 Während seines Parisaufenthalts 1691/1692 hielt Johann Bernoulli für Guillaume François Antoine de L’Hospital außerdem Privatvorlesungen zum Differential- und Integralkalkül, die dessen Bild in Frankreich prägten und die
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Ders.: De geometria recondita et analysi indivisibilium atque infinitorum, in: Acta eruditorum, Juni 1686, S. 292–300. 8 London 1685. 9 So erklärte es Johann Bernoulli im Brief an Leibniz vom 30. April 1695 (A III,6 N. 111, hier S. 348). Der Beitrag der Brüder Bernoulli zum Integralbegriff und die Diskussion darum mit Leibniz ist schon in Fritz Nagel: Dalla somma all’integrale. I contributi dei Bernoulli alla terminologia matematica, in: Associazione Subalpina Mathesis. Seminario de Storia delle matematiche „Tullio Viola“. Conferenze e Seminari 2002–2003, Hrsg. Elisa Gallo, Livia Giacardi, Omella Robutti, Turin 2003, S. 221–232, aufgearbeitet worden. Dem werden hier nur einige Aspekte hinzugefügt. 10 Vgl. zur Entwicklung des Differential- und Integralkalküls ab 1690 im Austausch u. a. mit den Brüdern Bernoulli und zu den im Folgenden erwähnten Problemen die Überblicksdarstellung Heinz-Jürgen Heß: Leibniz auf dem Höhepunkt seines mathematischen Ruhms, in: Studia Leibnitiana 37 (1), 2005, S. 48–67.
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Bernoulli’sche Terminologie dort verbreiteten. 11 In einem Brief an Leibniz vom 12. Februar 1695 verwendete Johann nicht nur den neuen Begriff, sondern auch den Buchstaben I als sein Symbol. 12 Um sich von seinem Bruder und Rivalen abzusetzen, bezeichnete Johann sich – vermutlich zu Recht 13 – als Urheber dieser Konzeption: „[P]rimus enim cogitavi de inverso Tui calculi differentialium (quem etiam integralium nomine quamvis minus congrue insignivi, quia de Tuis summatricibus nihil adhucdum nobis constabat) super quo ipsi fideliter aperui cogitata mea[.]“ 14 Leibniz bat daraufhin, „uniformitatis et harmoniae gratia“ seine Terminologie und Notation zu übernehmen und erläuterte ihren Ursprung in der Analogie mit der Arithmetik. 15 Bernoulli stimmte zu, dass Leibniz’ Terminologie durchdachter war und gelobte, ihr zu folgen. Aus Angst, die Leser zu verwirren, habe er dies bislang unterlassen. 16 Leibniz konnte der Bernoulli’schen Terminologie durchaus etwas abgewinnen, er habe sie auch gelegentlich verwendet, bevorzuge aber seine eigene, die er für aussagekräftiger hielt. 17 Er erwähnte die Bernoulli’sche Terminologie in seinen Notatiuncula ad constructiones lineae in qua sacoma ... incedere debet vom April 1695, 18 verwendete sie in seinen Publikationen sonst jedoch nicht. Leibniz brachte das Thema der Symbolik erneut im Frühjahr 1696 in Reaktion auf einen Artikel Johann Bernoullis auf, in dem dieser den Integralbegriff, die Notation für das Differential dx und das Cavalieri’schen omn. für „omnia“ kombinierte: „sumtis integralibus, omnia xdy“. 19 Bernoulli bekräftigte sein Versprechen und rechtfertigte sich für den erneuten Gebrauch des Integralbegriffs. Er sei darin Bernard Nieuwentijt gefolgt, auf dessen Kritik er antworte. Tatsächlich zitierte er aus Nieuwentijts Considerationes circa analyseos ad quantitates infinite parvas applicatae principia. An anderer Stelle dieser kurzen Schrift wird jedoch auch die Leibniz’sche Terminologie und Notation ver-
11 Vgl. zur Rezeption des Differential- und Integralkalküls in Frankreich jetzt die Dissertation von Sandra Bella: De la géométrie et du calcul des infiniment petits: les réceptions de l’algorithme leibnizien en France (1690–1706), Université de Nantes 2018; online: https://hal.archives-ouvertes.fr/tel-01942296 (eingesehen am 19.3.2021). 12 A III,6 N. 95. 13 Vgl. Nagel, Dalla somma all’integrale (wie Anm. 9), S. 229. 14 A III,6, S. 292 (Hervorhebungen im Folgenden – außer bei der Erwähnung von Titeln – im Original). 15 Brief vom 10. März 1695 (A III,6 N. 101, hier S. 313f.). 16 Brief vom 30. April 1695 (A III,6 N. 111, hier S. 348). 17 „Integralium appellatio mihi non displicet, et a me quoque interdum Tui imitatione adhibita est, plerumque tamen summationis vocabulo uti malo, quia magis luciferum est, et originem ipsam meditationis ostendit.“ (Brief vom 16. Mai 1695, A III,6 N. 113, hier S. 356). 18 Gottfried Wilhelm Leibniz: Notatiuncula ad constructiones lineae in qua sacoma … incedere debet, in: Acta eruditorum, April 1695, S. 184f. 19 Brief vom 18. März 1696 (A III,6 N. 214, hier S. 711); Johann Bernoulli: Demonstratio analytica et synthetica suae constructionis curvae Beaunianae, in: Acta eruditorum, Februar 1696, S. 78 [82] –85.
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wendet. 20 Das Durcheinander in Nieuwentijts Abhandlung ist eine direkte Folge der Uneinheitlichkeit im Kreis um Leibniz, auf dessen Arbeiten sich die Schrift unter Übernahme der jeweiligen Konvention bezieht. Bernoulli hielt es für ratsam, öffentlich die Übereinstimmung der beiden Bezeichnungsweisen zu erklären. 21 Wie Fritz Nagel feststellte, verwendete Bernoulli die Leibniz’sche Notation – und Terminologie – zum ersten Mal in einer Publikation im März 1697. 22 Auch in diesem Fall bezog er sich auf Nieuwentijt und folgte dessen Notation. Bernoulli benutzte auch in seiner schon im Juli 1696 Leibniz übersandten und im Mai 1697 veröffentlichten Lösung des Brachistochronenproblems 23 Leibniz’ Terminologie, kehrte aber 1698 gegenüber Leibniz zu seiner eigenen zurück. 24 Leibniz hatte sich selbst in der Diskussion von Joseph Sauveurs Lösung des Brachistochronenproblems des Begriffs ,Integral‘ bedient, der von Sauveur benutzt worden war. 25 Damit anerkannte er die Tatsachen: Das Integralzeichen war bislang in Publikationen kaum nötig gewesen. Der Begriff aber wurde nicht nur von Johann, sondern auch von seinem Bruder verwendet und war bei Pariser Mathematikern eingebürgert. 26 Da Leibniz keine Bemühungen unternahm, auch sie zu konvertieren, konnte er sich zwar in der Symbolik durchsetzen, jedoch nicht in der Terminologie, die uneinheitlich blieb. 1696 veröffentlichte L’Hospital das erste Lehrbuch zum Differentialkalkül, die Analyse des infiniment petits. Das Nebeneinander der Terminologien wird in seinem Vorwort ebenso deutlich wie die Dominanz der Bernoulli’schen Konzeption: „Pour l’autre partie, qu’on appelle Calcul intégral, & qui consiste à remonter de ces infiniment petits aux grandeurs ou aux touts dont ils sont les différences, c’est-à-dire à en trouver les sommes, j’avois aussi dessein de le donner.“27 L’Hospital verwies für die Behandlung des Integralkalküls auf Leibniz’ geplanten Traktat De scientia infiniti. In diesem Traktat wollte Leibniz „les fondemens et les usages du Calcul des sommes et des differences; et quelques matieres connexes“ behandeln und dabei nicht nur seine eigenen, sondern auch Ergebnisse anderer Mathematiker berücksichtigen. 28 Leibniz hatte sich schon 1694 an einige seiner Korrespondenten gewandt, um Material einzuwerben. 29 In seinem Nachlass be20 Bernard Nieuwentijt: Considerationes circa analyseos ad quantitates infinite parvas applicatae principia, Amsterdam 1694, S. 2, 17. Bernoulli entnahm den eben zitierten Ausdruck ebd., S. 42. 21 Brief vom 17. April 1696 (A III,6 N. 224, hier S. 741). 22 Nagel, Dalla somma all’integrale (wie Anm. 9), S. 231 Anm. 35. 23 A III,7 N. 15. 24 In seiner Leibniz am 15. Juli 1698 übersandten Lösung des isoperimetrischen Problems (A III,7 N. 206). 25 Brief vom 8. Februar 1697 (A III,7 N. 72). Sauveurs (fehlerhafte) Lösung ist A III,7 N. 69. 26 Vgl. zu Jacob Bernoulli z. B. A III,6 N. 212; zur frühen Verbreitung in Paris außerdem Nagel, Dalla somma all’integrale (wie Anm. 9), S. 228f. 27 Guillaume François Antoine de L’Hospital: Analyse des infiniment petits, Paris 1696, Bl. ẽ ij. 28 Brief an Christiaan Huygens vom 22. Juni 1694 (A III,6 N. 45, hier S. 125). 29 Vgl. die Ausführungen von Heinz-Jürgen Heß und James G. O’Hara in der Einleitung zu A III,6, S. XXXI.
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findet sich eine Kurzfassung von seiner Hand eines Teils der Vorlesungen zur Integralrechnung, die Johann Bernoulli in Frankreich gehalten hatte. 30 Bernoulli hatte die Vorlesungen mit seinem Brief vom 7. März 1693 an den Herausgeber der Acta eruditorum Otto Mencke als Beitrag zu einer geplanten Leibniz’schen Veröffentlichung angeboten. 31 Mencke leitete das Schreiben an Leibniz weiter.32 Dieser reagierte mit einem Hinweis auf seine eigene Terminologie: „Quam ille vocat methodum integralem differentialis inversam, ego summatoriam dico, summasque differentiis, prorsus ut radices potentiis conjungi oppono tanquam correlata.“ 33 Wie der Titel De summis seu methodo differentiarum inversa der Leibniz’schen Kurzfassung schon nahelegt, ist dort die Bernoulli’sche Terminologie konsequent durch die eigene ersetzt. 34 Die Fassung war vielleicht tatsächlich für den geplanten Traktat vorgesehen. Leibniz hätte damit seiner Terminologie öffentlich Gewicht verliehen. Der Traktat kam jedoch nicht zustande; stattdessen erschien als erste Einführung in den Integralkalkül 1700 in Paris Louis Carrés Lehrbuch Methode pour la mesure des surfaces, la dimension des solides, leurs centres de pesanteur, de percussion et d'oscillation par l'application du calcul intégral, das auf Bernoullis Vorlesungen beruhte 35 und dessen Terminologie weiterverbreitete. Nur gelegentlich versuchte Leibniz, auch bei anderen Korrespondenten für seine Sicht zu werben, so 1706 bei Michel Angelo Fardella. Wahrscheinlich hatte die Diskussion um die Elogen von Jacob Bernoulli seine Aufmerksamkeit wieder auf dieses Thema gelenkt. Auf Fardellas kurze Bemerkung hin, dass Jacob Hermanns bevorstehende Berufung in Padua auf großes Interesse stieß, denn „tutti sospirano il Sigre Herman per imparare il calcolo differentiale, e sperano anche apprendere l’integrale“, 36 diskutierte Leibniz zunächst die Beziehung zwischen Differential- und Integralkalkül, erläuterte in einem weiteren Brief ausführlich die Idee hinter seinem Summenbegriff und distanzierte sich von der eingebürgerten Terminologie: „Le nom de Calcul integral ne convient pas icy où quelques uns 30 LH 35, 7, 18 Bl. 1–18. 31 Bernoulli, Briefw. 1, S. 390f. Das dort nicht genannte Datum des Briefes, 25. Februar 1693 a. St., erschließt sich aus der Abschrift der Abfertigung in Leibniz’ Nachlass (LK-MOW Bernoulli20 [früher LBr. 57,1] Bl. 319). Ob die Vorlesungen (ganz oder auszugsweise) diesem Brief schon beilagen, oder erst später an Leibniz übersandt wurden, muss hier offenbleiben. Leibniz bat 1694 Johann Bernoulli persönlich um Material zum geplanten Traktat (A III,6, S. 37). Bernoulli verwies darauf, dass er schon über Mencke davon erfahren hatte und „pridie ante acceptam Epistolam Tuam Dno Menckenio rescripsi simulque unum et alterum Tibi significandum commisi“ (ebd., S. 89). 32 Brief von Mitte März 1693 (A I,9 N. 196). 33 Brief an Mencke wohl von Ende März 1693 (A I,9 N. 221). 34 Es ist weniger wahrscheinlich, kann aber im Moment nicht ausgeschlossen werden, dass schon Bernoulli in der Vorlage für die Kurzfassung die Änderungen vornahm. Ein systematischer Vergleich mit den in Basel vorhandenen Textzeugen (vgl. Bernoulli, Briefw. 1, S. 67) ist noch vorzunehmen und könnte in dieser Frage weiterhelfen. 35 Vgl. Nagel, Dalla somma all’integrale (wie Anm. 9), S. 229. 36 Brief vom 13. August 1706 (A II,4 N. 137).
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l’appliquent, pour l’opposer à celuy des differences. Pour moy j’appelle plustost Calcul integral celuy qui resout les problemes Numeriques (comme ceux de Diophante) en nombres entiers.“ 37 Mehrere weitere Korrespondenten wies er darauf hin, dass der Integralkalkül die Umkehrung des Differentialkalküls und daher nicht als selbstständiger Kalkül aufzufassen sei. 38 Die Elogen von Jacob Bernoulli Der Tod von Jacob Bernoulli am 16. August 1705 bot Anlass zu Rückblicken auf den Siegeszug des Differential- und Integralkalküls und Jacobs Anteil daran. Sein Schüler Jacob Hermann schrieb in der Eloge, die Leibniz von ihm für die Acta eruditorum erbeten hatte: „Imprimis autem commemorari hic meretur Calculus differentialis, quem propria meditatione cum Cl. Fratre ita sibi familiarem reddidit ac etiam perfecit, ut Excell. ejus Inventor Ampl. Leibnitius ultro fassus sit, novum hunc Calculum Clarissimorum Bernoulliorum aeque ac suum dici mereri[.]“39 Tatsächlich hatte Leibniz in den Acta eruditorum vom Mai 1697 im Rückblick auf das Kettenlinienproblem den Brüdern Bernoulli den gleichen Anteil am Differentialkalkül zugesprochen wie sich selbst: „Hic autem successus tam insignis Dominos Bernoullios fratres mirifice animavit, ad praeclara porro ope hujus calculi praestanda, efficiendumque, ut jam non ipsorum minus quam meus esse videretur[.]“ 40 Er hatte sich schon im März 1694 gegenüber Johann Bernoulli ähnlich geäußert, als er Material für seinen geplanten Traktat einwarb: „Vestra enim non minus haec Methodus, quam mea est.“ 41 Da Mencke schon im Vorfeld den Druck eines „Elogium“ zugesagt hatte, „wen es nur nicht zu weitläufig wird“, 42 kürzte Leibniz Hermanns Eloge um einen längeren Abschnitt, der auch den zitierten Satz enthielt, und ersetzte ihn durch einen knappen Absatz, in dem Bernoullis Anwendungen des „magnum seculi nostri inventum Analysis infinitesimalis Leibnitiana“ gewürdigt werden und er „inter ma-
37 Im Brief vom 1. Oktober 1706 (A II,4 N. 150). Dass Leibniz schon im nicht gefundenen Brief vom 2. September in unmittelbarer Reaktion auf Fardellas Äußerung das Thema diskutierte, geht aus dessen Antwort von Mitte September (A II,4 N. 143) hervor. 38 Vgl. Anm. 3. 39 Jacob Hermann: Vita et obitus Viri celeberrimi Jacobi Bernoulli; LK-MOW Hermann10 [früher LBr. 396] Bl. 25–26, hier Bl. 26v; gedr. GM 4, S. 288–292, hier S. 291f. Gerhardt kennzeichnet die Kürzung und zitiert den neuen, von Leibniz hinzugefügten Schluss, protokolliert aber nicht die weiteren kleineren Änderungen, die Leibniz im Druck der Eloge in Acta eruditorum, Januar 1706, S. 41–45, vornahm. 40 Gottfried Wilhelm Leibniz: Communicatio suae pariter, duarumque alienarum ad edendum sibi primum a Dn. Jo. Bernoullio, deinde a Dn. Marchione Hospitalio communicatarum solutionum problematis curvae celerrimi descensus, in: Acta eruditorum, Mai 1697, S. 201–205, hier S. 204 [202]. 41 Brief vom 31. März 1694 (A III,6 N. 12, hier S. 37). 42 Brief vom 23. September 1705 (A I,25 N. 96).
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ximos tanti inventi propagatores“ gezählt wird. 43 Leibniz setzte anstelle der Hermann’schen Erzählung von der selbständigen Erarbeitung des Kalküls durch die Brüder Bernoulli die Feststellung, dass seine „leichte“ Lösung des Isochronenproblems Jacob Bernoulli das Verständnis des Kalküls eröffnet habe. 44 Während in Hermanns Eloge die Differenz zwischen dem Erfinder und denjenigen, die die Methode ausbauen und weiterverbreiten, minimiert worden war, wurde sie von Leibniz wiederhergestellt. Dass diese ihm wichtig war, geht aus seiner Reaktion auf eine weitere, noch zu besprechende Eloge in den Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts hervor: „Ces Messieurs n’ont pas eu autant de part que moy à l’invention de la Methode, mais ils ont eu autant de part que moy à son usage[.]“ 45 Auch gegenüber Johann Bernoulli drückte er sich aus Anlass einer auf seine Kosten verfälschten Darstellung in den Nouvelles de la républiques des lettres zurückhaltender aus als 1694 und 1697: „Illud verissimum est, vos, vestro marte (sed te ante fratrem), applicationem ad difficilius Problema, nempe Catenarium, me tamen praemonente de successu, reperisse, et inde aditu aperto ad laudem famamque inventi non minus contulisse quam me ipsum, me certe applaudente atque gaudente.“ 46 Diese Äußerungen zeigen, wie wichtig Leibniz eine differenzierte Anerkennung wissenschaftlicher Verdienste war, wenn es darauf ankam. In weiteren Elogen wurden die Verdienste der Bernoullis stärker zu Lasten von Leibniz hervorgehoben. Auch sie beruhten auf zugeliefertem Material Hermanns. In der Leichenpredigt des Basler Rhetorikprofessors Johann Jacob Battier heißt es: Inprimis autem ut magni operis ita magnae & eximiae laudis fuit illa nostri industria, quam cum ingeniosissimo Fratre posuit in indagando Calculo, quem vocant, differentialium & integralium: in quem a Celeberrimo Leibnitio primum inventum, & in Actis Eruditorum Lipsiensibus non nisi tecte & quasi per aenigma in Mathematici cujusdam problematis resolutione allegatum, non prius inquirere destitit, quam optato fine potiretur: cujus ille primum specimen exhibuit in iisdem Actis mense Majo cIↄcxc. solutione problematis, quod a Cel. Leibnitio de invenienda linea descensus aequabilis olim fuerat propositum. Hancque ejus dexteritatem mirifice sibi probari testatus est Leibnitius: hoc addito corollario, analysin illam sui problematis eruere utique non fuisse cujusvis, nec quenquam sibi esse notum, qui melius quam Bernoullius mentem suam penetravit. Quibus gemina sunt ea praeconia, quae ille idem ingeniosissimis Fratribus etiam postea impertiit: cujusmodi illud est, quod non dubitare se ait, ipsos aliqua detecturos, ad quae pervenire sibi ipsi difficile esset futurum, & ad ea jam illos pervenisse in calculo differentiali, quae Hugenius per jocum hypertranscendentia appellabat: denique effecisse illos, ut jam non ipsorum minus quam suus ille calculus esse videatur. 47
43 Acta eruditorum, Januar 1706, S. 44f. 44 „[...] ex facili exemplo ab Autore exhibito (demonstratione scilicet Curvae Isochronae) novam subito lucem hausisse, [...]“ (ebd.). 45 Brief von Mitte Januar 1706 an René Joseph Tournemine (A II,4 N. 116). 46 Brief vom 15. April 1706 (GM 3, S. 788–790, hier 789f.). 47 Johann Jacob Battier: Vita celeberr. mathematici Jacobi Bernoullii, Basel 1705, S. 22f. Hermanns Zuarbeit wird durch seinen Brief an Leibniz vom 28. Oktober 1705 (GM 4, S. 285– 288) belegt, mit dem er seine Eloge übersandte: „Ecce hic, Vir Amplissime, adjunctam bre-
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Die Bezüge werden durch Fußnoten verdeutlicht. So wird gleich am Beginn des Zitats auf Leibniz’ erste Veröffentlichung zum Differentialkalkül vom Oktober 1684 verwiesen, die durch ihre Knappheit und Flüchtigkeitsfehler tatsächlich schwer verständlich war. Hier wird jedoch der Eindruck erweckt, der Differentialkalkül werde dort nur en passant bei der Lösung eines Problems eingeführt; hingegen ist ein Großteil des Artikels der Darstellung des Algorithmus gewidmet. Dass betont wird, wie rätselhaft diese erste Einführung in den Differentialkalkül war und welche Leistung daher schon dessen Aneignung bedeutete, unterscheidet diese und die weiteren noch zu besprechenden Elogen von der für die Acta eruditorum bestimmten. 48 Dieses Narrativ könnte auf den Einfluss Johann Bernoullis zurückgehen, der in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Basel vom November 1705 die Wirkung von Leibniz’ Nova methodus de maximis et minimis auf die Brüder beschrieb: „At vero placuit Illustri Viro inventi pulchritudinem non nisi per nebulam Orbi mathematico monstrare; Anno quippe octogesimo quarto superioris saeculi, in actis Eruditorum quae Lipsiae menstruatim eduntur prima elementa paucis tantum pagellis comprehensa et non tam explicata quam aenigmate involuta extare voluit.“ 49 Bernoulli fuhr fort, in bildreicher Sprache zu schildern, wie sich die Brüder den über Jahre nicht beachteten Kalkül erarbeitet hätten und seine Eleganz und Nützlichkeit erkannt hätten. Das Narrativ findet sich auch in seiner in den letzten Lebensjahren verfassten Autobiographie, auch wenn es dort durch die außergewöhnlich kurze Zeitspanne, die zur Bewältigung des Kalküls angesetzt wird, etwas konterkariert wird: [N]ous tombâmes conjointement mon frère et moi sur un petit écrit de Mr. Leibnitz inséré dans les actes de Leipzic de 1684, où en 5 ou 6 pages seulement il donne une idée fort légère du Calcul différentiel, ce qui était une énigme plutôt qu’une explication; mais c’en était assez pour nous, pour en approfondir en peu de jours tout le secret[.] 50
Das Narrativ wird in weiteren Elogen mehr und mehr zugespitzt. Auch sie gehen zumindest indirekt auf Hermann zurück: Pierre Varignon hatte Hermann schon kurz nach Jacob Bernoullis Tod gebeten, ihm Material für die Eloge des Sekretärs der Académie des sciences, Bernard Le Bovier de Fontenelle, zuzusenden. Der Briefwechsel zwischen Hermann und Varignon ist nicht überliefert, aber Varivem Vitae ejus delineationem qualem petiisti Actis Eruditorum Lipsiens. inserendam, quam ut cum Clarissimo Dn. Menckenio communicare digneris enixe rogo, huicque similem Cl. quoque nostro Battierio ICto tradidi, qui beati nostri Professoris manibus parentabit.“ (S. 286). 48 Vgl. auch Roero, Introduzione, in Pascal Dupont/Clara Silvia Roero: Leibniz 84. Il decollo enigmatico del calcolo differenziale, Rende 1991, wo viele der hier diskutierten Textstellen schon angeführt werden (S. 6–8). Ihre Abhängigkeit voneinander wird dort jedoch nicht untersucht. 49 Johann Bernoulli: Oratio inauguralis de fato novae analyseos et profundioris geometriae (Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 750 Bl. 102–119, hier Bl. 113v–114r). 50 Johann Bernoullis französische Autobiographie (es gibt noch eine frühere deutsche) ist veröffentlicht in Rudolf Wolf: Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz, Zweiter Cyclus, Zürich 1859, S. 71–94, Zitat S. 72.
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gnons Austausch mit Johann Bernoulli belegt Hermanns Anteil. So erkundigte sich Varignon im September bei Johann nach den von Hermann erbetenen Informationen und betonte: „Il les faut les plus amples & les plus détaillés que faire se poura, depuis sa Jeunesse jusqu’à sa mort.“ 51 Im Oktober bedankte er sich bei Johann für den Lebensabriss, den Hermann übersandt habe und den er an Fontenelle weitergereicht habe. 52 Er erinnerte Johann außerdem daran, dass Hermann ihm Battiers Leichenpredigt versprochen habe. 53 Den Empfang mehrerer Exemplare konnte Varignon erst im März bestätigen. Er verteilte sie in seinem Umfeld. Hermann sandte Varignon außerdem eine Kopie von Johann Bernoullis Antrittsvorlesung. 54 Fontenelle verlas seine Eloge in der öffentlichen Sitzung vom 14. November 1705. Seinem Stil gemäß schmückte er die von Hermann zugelieferten Informationen weiter aus, wie die 1706 veröffentlichte Fassung nahelegt: [Jacob Bernoulli] penetroit déja dans la Geometrie la plus abstruse, & la perfectionnoit par ses découvertes, à mesure qu’il l’étudioit, lorsqu’en 1684 la face de la Geometrie changea presque tout à coup. L’Illustre M. Leibnits donna dans les Actes de Leipsic quelques essais de son nouveau Calcul differentiel, ou des Infiniment petits, dont il cachoit l’art & la methode. Aussitôt Mrs. Bernoulli, car M. Bernoulli l’un de ses freres, & son cadet, fameux Geometre, a la même part à cette gloire, sentirent par le peu qu’ils voyoient de ce calcul quelle en devoit être l’étenduë & la beauté, ils s’appliquerent opiniatrément à en chercher le secret, et à l’enlever à l’inventeur, ils y reüssirent, & perfectionnerent cette Methode au point que M. Leibnits par une sincerité digne d’un grand homme a déclaré qu’elle leur appartenoit autant qu’à lui. C’est ainsi que le moindre rayon de verité qui s’échape au travers de la nuë éclaire suffisamment les grands Esprits, tandis que la verité entierement dévoilée ne frape pas les autres. 55
Inwieweit diese Version der 1705 verlesenen entsprach, kann nicht mehr festgestellt werden. Die Idee, die Brüder hätten Leibniz die Erfindung entwendet, fehlt im in den Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts (kurz: Memoires de Trévoux) vom Februar 1706 erschienenen ausführlichen Bericht über die Sitzung, der auf einer überarbeiteten Mitschrift seines Autors J. Blondel beruht, wie noch zu sehen sein wird: En 1684 la Geometrie changea tout d’un coup de face. Le celébre Mr. Leibnitz donna dans les Journaux de Lipsik des Problémes resolus par une méthode toute nouvelle dont il cachoit le secret. Cela frappa tellement les deux Messieurs Bernoulli, qu’ils travaillerent de concert à découvrir le secret de cette nouvelle Geometrie, qui leur paroissoit fort au-dessus de l’ordinaire. Ils y réüssirent si bien, que Mr. Leibnitz a declaré depuis, que ce nouvel Art ne leur appartenoit pas moins qu’à lui. Ce qui fait voir que le moindre rayon de lumiere suffit à
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Brief vom 6. September 1705 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 175f.). Brief vom 27. Oktober 1705 (ebd., S. 176–182, hier S. 182). Ebd., S. 178. Vgl. Varignons Brief vom 25. März 1706 (ebd., S. 189–191, hier S. 189). Bernard Le Bovier de Fontenelle: Eloge de M. Bernoulli, in: Histoire de l’Academie royale des sciences, Année 1705, 1706, S. 139–150, hier S. 141f.
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des genies superieurs, au lieu que la Verité mise à découvert, n’est pas même capable d’éclairer des Esprits mediocres. 56
Ebenfalls im Februar erschien in den von Jacques Bernard herausgegebenen Nouvelles de la république des lettres ein weiterer, noch stärker verfremdeter Bericht über die Sitzung, in dem es heißt: Peu de tems après [l’an 1680], Mr. Leibnitz, dans un petit Traité de Physique, laissa entrevoir quelque chose de son admirable Systême des Infiniment Petits. Mr. Bernoulli & un autre de ses fréres, encore plus jeune, qui avoit suivi ses traces, méditérent si profondément sur ces foibles rayons échapez à Mr. Leibnitz; qu’ayant résolu de lui enlever la gloire de l’invention, ils y réussirent, et publiérent même avant Mr. Leibnitz le Systême, qu’il avoit trouvé il y avoit long-tems, & le firent si juste, que Mr. Leibnitz lui-même, par cette franchise, qui fut le caractére des grans hommes, avoüa publiquement, que l’honneur en étoit autant dû à Mess. Bernoulli qu’à lui. 57
Zuerst erfuhr Leibniz offenbar von René Joseph Tournemine von dem bevorstehenden Bericht in den Memoires de Trévoux. In einem Antwortentwurf kritisierte er zunächst grundsätzlich Fontenelles Umgang mit Fakten: „Il imite quelquesfois les excellens Historiens de l’antiquité, qui mêlent souvent les tours de leur esprit avec les faits.“ 58 Er selbst habe nicht seine Methode verborgen, sondern später nur seinen Lösungsweg des Kettenlinienproblems, um die Brüder anzustacheln. Leibniz ging also von einem Missverständnis aus. Hier findet sich auch der schon zitierte Satz, der das Verhältnis zwischen den respektiven Verdiensten auf den Punkt bringt und mit dem Leibniz seine früheren Äußerungen relativierte: „Ces Messieurs n’ont pas eu autant de part que moy à l’invention de la Methode, mais ils ont eu autant de part que moy à son usage[.]“ 59 Der Brief wurde wohl nicht abgesandt. Die Memoires de Trévoux erhielt Leibniz üblicherweise mit großer Verspätung, daher war es wohl der Bericht in den Nouvelles de la république des lettres, der ihn handeln ließ: Er arbeitete eine Richtigstellung aus. Im April 1706 beklagte sich Leibniz über den Bericht gegenüber Johann Bernoulli und argumentierte, dass dieser dort als Dieb geistigen Eigentums dargestellt und somit ebenso diffamiert werde. 60 Auch hier reagierte Leibniz jedoch zögerlich: Ein geradezu harscher Brief an Jean-Paul Bignon, dem Leibniz die Richtigstellung beifügen wollte und mit dem er eine Abänderung von Fontenelles Eloge noch vor ihrer Veröffentlichung in der Histoire de l’Academie royale des sciences erreichen 56 J. Blondel: Relation de ce qui s’est passé à l’Assemblée publique de l’Academie royale des sciences, le 14e. Novembre 1705, in: Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts, Februar 1706, S. 288–320, hier S. 291. In einem Brief an Leibniz vom 20. April 1708 (LBr. 77 Bl. 1) unterschreibt Blondel mit „P. J. Blondel“, wobei P. wohl für Père steht. Weitere Informationen zu Blondel wurden nicht ermittelt. 57 Rélation abrégée de ce qui s’est passé dans la derniére Assemblée publique de l’Académie des sciences, du Samedi 14. Novembre, 1705, in: Nouvelles de la république des lettres, Februar 1706, S. 209–219, hier S. 212. 58 Brief von Mitte Januar 1706 (A II,4 N. 116). 59 Ebd. 60 Brief vom 15. April 1706 (GM 3, S. 788–790).
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wollte, wurde aufgeschoben, 61 vielleicht um Bernoullis Reaktion auf den Bericht abwarten. Bernoulli führte Belege dafür an, dass er immer Leibniz’ Erfinderstatus anerkannt habe, und verlangte eine Korrektur. 62 Darauf berief sich Leibniz in einer am Schluss der Richtigstellung angefügten Passage. 63 In der Zwischenzeit erfuhr er jedoch von Varignon, dass der Druck der Histoire von 1705 bald abgeschlossen sei, und verwarf den Brief an Bignon. 64 Im Sommer 1706 setzte Leibniz einen Brief an Bernard auf, der nicht weniger deutlich ist als die Briefentwürfe an Tournemine und an Bignon, auch wenn nun Fontenelle nicht mehr direkt angegriffen wird: „Je ne say d’où est venu la narration que je refute, et je ne serois point faché de le savoir. Si c’est de quelque livre que vous l’avés tiré, il sera bon de le marquer. Il y a des gens qui n’estant pas bien informés des faits se mêlent de les ajuster à leur fantasie.“ 65 Auch dieses Schreiben, dem die Richtigstellung ebenfalls beigefügt werden sollte, wurde nicht abgefertigt. Leibniz entschloss sich, die Richtigstellung zunächst Bernoulli zuzusenden und seine Zustimmung einzuholen. Dessen Verdienste seien im Verhältnis zu denen seines Bruders auch falsch dargestellt worden und es sei wichtig, „ut cuique suum tribuatur“. 66 Johann schlug einige Änderungen vor, auf die im nächsten Abschnitt noch eingegangen werden wird. Nicht alle wurden von Leibniz berücksichtigt. Er sandte die überarbeitete Richtigstellung erst im Herbst an Bernard mit einem diplomatischen Begleitbrief, 67 der nun den Schwerpunkt nicht mehr auf die eigenen Interessen, sondern auf die Ehrverletzung der Bernoullis legte. Auch an einigen, an den überlieferten Textzeugen nachvollziehbaren Änderungen der Richtigstellung lässt sich eine Abmilderung im Ton feststellen. So legte der letzte Absatz zunächst eine böse Absicht nahe: Bernoulli „desapprouve hautement, et rejette avec indignation des rapports si faux, et peut-estre malins du costé de celuy, qui en est le premier auteur“. 68 In der letzten, publizierten Version heißt es:
61 L1 von A I,26 N. 196; den Aufschub belegt Leibniz’ (in der Überlieferung wiedergegebene) Bemerkung „ist noch nicht abgangen“. 62 Brief vom 22. Mai 1706 (GM 3, S. 790–793, hier S. 792). 63 Gottfried Wilhelm Leibniz: Remarque ... sur l’article V. des Nouvelles de la republique des lettres du mois de Février, 1706, in: Nouvelles de la république des lettres, November 1706, S. 521–527. Die Richtigstellung existiert neben dem Druck als Konzept von Leibniz’ Hand (LH 35, 7, 8 Bl. 2–3) und in drei Abschriften von Johann Friedrich Hodanns Hand mit Änderungen von Leibniz’ Hand. Bei der zuerst angefertigten Abschrift wurde der letzte Absatz von Leibniz’ Hand hinzugefügt (LH 35, 7, 8 Bl. 1). Die zweite Abschrift (LH 43 Basnage de Beauval [früher LBr. 35] Bl. 55–56) wurde nach Leibniz’ Durchsicht von Hodann erneut abgeschrieben (Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 702 Bl. 103–104). In diesen beiden Abschriften wurde der letzte Absatz durch Leibniz neu formuliert. Die letzte Abschrift wurde dann an Bernoulli gesandt. In der zweiten zurückbehaltenen Abschrift wurden später, nach Rücksprache mit Bernoulli, weitere Änderungen vorgenommen. 64 Vgl. die Erläuterungen zu A I,26 N. 196. 65 A II,4 N. 133, hier S. 440. 66 Brief an Bernoulli vom 20. August 1706 (GM 3, S. 795). 67 Brief von Ende September/Mitte Oktober 1706 (A II,4 N. 147). 68 LH 43 Basnage de Beauval [früher LBr. 35] Bl. 55–56, hier Bl. 56v, gestrichene Passage.
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„il les rejette & les desaprouve hautement, comme éloignez de la vérité“. 69 Die Richtigstellung erschien im November. Dort beschrieb Leibniz aus seiner Sicht die Entwicklung im Austausch mit den Brüdern Bernoulli nach der Veröffentlichung des Kalküls und gab implizit eine neue Erklärung für das Missverständnis, er habe ihn verborgen: Weil er nicht die Zeit für eine ausführliche Darstellung gehabt habe und befürchtet habe, der Kalkül würde sonst verloren gehen, habe er entschieden, „d’en publier des Elémens en abrégé, c’est-à-dire, l’Algorithme de ce Calcul, qui en contient l’aplication à l’addition & soustraction, à la multiplication & division, & aux puissances & racines.“ 70 Jacob Bernoulli habe zunächst Schwierigkeiten mit den Anwendungen auf physikalische Probleme gehabt. Sein Durchbruch sei mit Leibniz’ Lösung des Isochronenproblems gekommen, die Bernoulli anhand der veröffentlichten „traces de mon Analyse“ zu rekonstruieren vermochte: „C’est ce qui acheva d’ouvrier les yeux à Mr. Bernoulli.“ 71 In dieser Interpretation war es also nicht die Lösung des Kettenlinienproblems, wie Leibniz im Briefentwurf an Tournemine vermutete, sondern seine Veröffentlichung zum Isochronenproblem, die in den Elogen mit der Nova methodus pro maximis et minimis verwechselt wird. Leibniz hatte Fontenelles Eloge als Quelle der Berichte nicht vergessen. Er erkundigte sich im März 1707 bei Jacques Lelong nach den Zusammenhängen, wie aus dessen Antwort vom 10. April hervorgeht: Pour commencer à vous repondre par ce qui vous regarde je vous diray que je me suis informé de l’affaire au sujet de laquelle vous me faites l’honneur de m’ecrire. Voicy le fait. Monsieur de Fontenelle ayant lu à l’academie dans une assemblée publique l’eloge de feu Mr Bernoulli, un inconnu qui se mesle de fournir des memoires pour les journaux de Trevoux s’avisa de donner des extraits du discours de Mr de Fontenelle, lesquels il avoit retenu de memoire. Ces extraits ont passé de ces journaux dans ceux des nouvelles de la republique des lettres de Mr Bernard où vous les avez lu. Mr Fontenelle fut choqué de ces extraits lorsqu’on luy montra dans les journaux de Trevoux et dit à un de mes amis alors qu’on les avoit fait tout de travers. Cette Eloge se trouve dans le volume de l’hist. et memoire de l’academie qui est emballé avec vos autres livres; ainsi vous le pourrez le lire lorsque vos livres vous seront rendus, Enfin Mr Fontenelle assure qu’il y a prez de 15. ans qu’il n’a rien envoié en Hollande[.] 72
Dass der Bericht in den Nouvelles de la république des lettres auf jenem in den Memoires de Trévoux beruht, wie Lelong behauptet, erscheint aufgrund der starken Abweichungen unwahrscheinlich. Die Hauptsache für Leibniz war jedoch, dass Fontenelle exkulpiert schien, dessen Eloge Leibniz noch nicht lesen konnte. Mit dieser neuen Information trat Leibniz nun doch noch an die Memoires de Trévoux heran. Seit Februar 1706 korrespondierte er mit dem Jesuiten Barthélemy Des Bosses, der in der Folgezeit als sein Verbindungsmann zu der Zeitschrift fungierte. Im Juli 1707 sandte Leibniz Des Bosses eine Abhandlung zum Druck, mit der er auf eine Kritik Tournemines an seiner Philosophie reagierte. Er fügte einen 69 70 71 72
Leibniz, Remarque (wie Anm. 63), S. 527. Ebd., S. 523. Ebd., S. 524. LBr. 549 Bl. 35 (erscheint in A I,27).
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Absatz an, in dem er auf seine Richtigstellung in den Nouvelles de la république des lettres verwies und auch Fontenelles Distanzierung von den publizierten Berichten erwähnte. 73 Zu diesem Zeitpunkt hatte Leibniz den Bericht in den Memoires de Trévoux noch nicht einsehen können, denn er bat Des Bosses darum, den Absatz wegzulassen, sollte der Bericht gar nicht existieren. 74 So wusste er auch nicht, dass seine Richtigstellung inzwischen in den Memoires nachgedruckt worden war. 75 In einer an Leibniz’ Abhandlung angefügten Antwort wies Tournemine darauf hin. 76 Für Leibniz hätte die Angelegenheit damit erledigt sein können. Blondel sah jedoch seinen Bericht in den Memoires de Trévoux durch die Richtigstellung zu Unrecht kritisiert. Er wandte sich im April 1708 an Leibniz und wies darauf hin, dass die beanstandeten Formulierungen im Bericht gar nicht zu finden seien. Anhand der entscheidenden Textstelle belegte er, dass er die von Fontenelle verlesene Eloge nicht einfach übernommen habe: Il vous est presentement aisé de voir, Monsieur, de combien je puis m’être écarté de Mr de Fontenelle, sur tout ne faisant pas profession de retenir mot pour mot, mais d’agir, autant que je puis, par jugement plûtôt que par memoire. Je scay bien que, quand on rapporte ce qui a été dit de vive voix dans uns discours un peu étendu, on est sujet à se méprendre[.] 77
Außerdem stellte er klar, dass er den Artikel in den Nouvelles de la république des lettres nicht verfasst hatte. Leibniz erhielt den Brief erst im August. In seiner Antwort rechtfertigte er erneut seine Kritikpunkte und empfahl den Abdruck der Richtigstellung. Dies zeigt, dass er immer noch nicht im Bilde war. Er präzisierte erneut seine Sicht auf den Anteil der Brüder Bernoulli am Infinitesimalkalkül. An seine früheren großzügigen Äußerungen erinnerte er sich offenbar nicht mehr: Ma relation qui expose les choses comme elles se sont passées, fait voir [...] que je n’ay point declaré, ny qu’ils n’ont point pretendu qu’ils leur appartenoit autant qu’à moy. Ce qu’il y a de vray est qu’ils ont autant de part que moy à l’utilité qu’on en a retirée parce qu’ils ont contribué autant que moy à en etendre et faire valoir l’usage. 78
Wie gesehen, griff Leibniz auf seine einflussreichen Kontakte zurück, um eine Korrektur der Eloge in ihren verschiedenen Fassungen zu bewirken. Eine Leerstelle fällt jedoch auf: Er wandte sich nicht an Fontenelle selbst. Der Briefwechsel
73 Gottfried Wilhelm Leibniz: Remarque ... sur un endroit des Memoires de Trevoux du mois de Mars 1704, in: Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts, März 1708, S. 488– 491, hier S. 491. 74 P. S. des Briefs an Des Bosses vom 21. Juli 1707 (A II,4 N. 203, hier S. 635). 75 Gottfried Wilhelm Leibniz: Lettre ... Sur quelques faits qui le regardent, mal expliquez dans l’Eloge de Mr. Bernoulli prononcé à l’Academie des sciences, in: Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts, März 1707, S. 540–548. 76 René Joseph Tournemine: Réponse, in: Memoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts, März 1708, S. 492f. 77 Brief vom 8. April 1708 (LBr. 77 Bl. 1). 78 Ohne Tagesdatum (LBr. 77 Bl. 2). Die Fehler im Satzbau lassen sich auf inkonsequent durchgeführte Änderungen von Leibniz zurückführen.
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mit Fontenelle war zwar seit Ende 1704 unterbrochen, aber im August 1706 schrieb Leibniz in einer anderen Angelegenheit erneut an ihn. 79 Die Eloge erwähnte er dabei nicht. Wann Leibniz schließlich den Band der Histoire de l’Academie royale des sciences mit Fontenelles Eloge erhielt, muss offenbleiben, ebenso seine Reaktion auf eine Eloge, die Joseph Saurin gleichfalls im Februar 1706 im Journal des sçavans veröffentlicht hatte. Saurins Eloge ist interessant, weil sie nicht von Fontenelles Darstellung abhängt, aber vermutlich auf denselben Informationen Hermanns beruhte. Ein Vergleich mit Battiers Eloge legt nahe, dass die Behauptung, Leibniz habe seine Methode bewusst verborgen, wohl auf Hermann zurückgeht. Der Schluss, die Brüder hätten sie ihm entwendet, stammt aber in seiner Drastik wohl von Fontenelle. Denn dieses Detail fehlt in Saurins Schilderung der Verdienste der Brüder Bernoulli um den Infinitesimalkalkül: En 1684, M. Leibnitz fit mettre dans les Journaux de Leipsic (pag. 467.) un morceau, dans lequel en donnant avis au Public du nouveau Calcul qu’il avoit trouvé, il en faisoit voir en même temps l’excellence dans quelques échantillons choisis, sans neanmoins découvrir la methode; mais quelque soin qu’il eût pris de la cacher, les deux illustres freres creuserent tant, qu’ils percerent le secret. Ainsi sans avoir droit de pretendre à la gloire de l’invention dûe toute entiere à M. Leibnitz, il semble qu’ils en ayent en quelque sorte le merite. Dans la suite, frappez de la beauté & de la fecondité d’une methode qui ouvre une route aisée aux plus sublimes connoissances, ils l’ont cultivée avec soin, comme à l’envi l’un de l’autre, & en ajoûtant leurs découvertes à celles de M. Leibnitz, ils l’ont tellement aidé à la perfectionner, que ce grand homme leur a cedé une partie de sa gloire, & a eu la generosité de reconnoitre que desormais le nouveau calcul n’étoit pas plus à lui qu’à eux, & ne devoit pas moins porter leur nom que le sien. 80
Vermutlich erfuhr Leibniz auch von dieser Eloge – wenn überhaupt – nur mit großer Verspätung. Der spanische Erbfolgekrieg behinderte den Versand von Büchern aus Frankreich. Johann Bernoulli erhielt Saurins und Fontenelles Eloge Ende 1706 über Varignon. 81 Er beklagte sich bitter bei diesem über Fehler und Ungenauigkeiten, unter anderem die respektiven Verdienste der Brüder betreffend. 82 Varignon rechtfertigte die Autoren damit, dass sie die Acta eruditorum vermutlich nicht so intensiv studiert hätten wie er selbst und sich nur auf die für die Elogen relevanten Arbeiten gestützt hätten. 83 Tatsächlich kannten Hermann, Saurin und Fontenelle, die alle drei (wenn auch in unterschiedlichem Maße) zwar mit dem Differentialkalkül vertraut waren, aber in Bezug auf seine Verwendung einer späteren Generation als 79 Brief vom 19. August 1706 (A II,4 N. 138). 80 Joseph Saurin [anon.]: Eloge de M. Bernoulli, cy-devant Professeur de mathematique à Bâle, in: Journal des sçavans, 8. Februar 1706, S. 81–89, hier S. 85. Saurins Autorschaft geht aus Varignons Brief an Bernoulli vom 20. Dezember 1705 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 183–188, hier S. 185) hervor. 81 Varignons schrieb im Brief vom 10. November 1706 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 198–201, hier S. 200), das Paket sei abgeschickt worden. Hermann erwähnt Bernoullis Reaktion im Brief an Leibniz vom 1. Januar 1707 (GM 4, S. 306f.). 82 Im Brief vom 26. Februar 1707 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 209–222, hier S. 212–214). 83 Im Brief vom 12. März 1707 (ebd., S. 222–229, hier S. 223–226).
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die Pioniere um Leibniz angehörten, die frühen Arbeiten offenbar nur unzureichend, insbesondere eben Leibniz’ grundlegende Nova methodus de maximis et minimis. Durch L’Hospitals Lehrbuch war das Studium dieser Arbeiten für eine Einarbeitung in den Kalkül obsolet geworden. Die Vermutung liegt nahe, dass Hermann für seine Darstellung vor allem die Arbeiten Jacob Bernoullis heranzog, möglicherweise auch den Briefwechsel zwischen diesem und Leibniz. 84 Aus diesem lässt sich rekonstruieren, dass zwei Arbeiten für Jacob Bernoullis anfängliche Beschäftigung mit dem Differentialkalkül wichtig waren, die Hermann mit der Nova methodus pro maximis et minimis verwechselt haben könnte: In seinem ersten Brief vom Dezember 1687 diskutierte Jacob zunächst Leibniz’ Demonstrationes novae de resistentia solidorum vom Juli 1684 und fragte dann nach Details zu dessen Quadraturmethoden. 85 Als Leibniz das Schreiben 1690 nach seiner Rückkehr aus Italien erhielt, war diese Frage überholt: Wie Leibniz anerkennend feststellte, hatte Bernoulli sich mit Hilfe des Differentialkalküls einen Lösungweg des Isochronenproblems erarbeitet und diesen veröffentlicht. 86 Dabei knüpfte er an Leibniz’ Artikel De linea isochrona in den Acta eruditorum vom April 1689 an, in dem die Lösungskurve des von Leibniz gestellten Problems ohne Herleitung angeführt wird. 87 Leibniz stützte sich in seiner in den Nouvelles de la république des lettres veröffentlichten Richtigstellung zur Rekonstruktion der Aneignung des Differentialkalküls durch die Brüder Bernoulli auf diesen Briefwechsel und kommt im Großen und Ganzen zu einer plausiblen Schilderung. Jacobs anfängliche Schwierigkeiten werden dort ganz anders gewertet als in den Elogen: nicht als Folge der Knappheit der Nova methodus de maximis et minimis, sondern als ein persönliches Problem Bernoullis. Insofern sah Leibniz keinen Anlass, die Erfindung mit den Brüdern zu teilen. Wie er die Rollenverteilung sah, stellte er nun auch öffentlich klar: Cependant, ils m’ont toujours fait la justice de mʼatribuer lʼinvention de cette Analyse, [...] & moi, je leur ai rendu la pareille, en avoüant, quʼils avoient beaucoup de part à lʼutilité, que le 84 Dass Hermann nach Jacob Bernoullis Tod freien Zugang zu dessen Nachlass hatte, geht aus Johann Bernoullis Brief an Pierre de Montmort vom 29. September 1718 hervor (BEBB 9972433081505504); vgl. auch Jeanne Peiffer: Jacob Bernoulli, maître et rival de son frère Johann, in: Electronic Journal for History of Probability and Statistics 2 (1), 2006 (http://www.jehps.net/Juin2006/Peiffer.pdf, eingesehen am 20.11.2020), § 4. Hermann könnte über Jacob auch die frühen Acta eruditorum gekannt haben. Er besaß sie jedoch nicht selbst, denn er bat Johann Bernoulli im Brief vom 26. Dezember 1705 (BEBB 9972432925705504), bei Mencke die Jahrgänge 1682–1692 zu besorgen. 85 Jacob Bernoullis Brief an Leibniz vom 25. Dezember 1687 (A III,4 N. 200); Gottfried Wilhelm Leibniz: Demonstrationes novae de resistentia solidorum, in: Acta eruditorum, Juli 1684, S. 319–325. 86 Leibniz’ Brief an Jacob Bernoulli vom 4. Oktober 1690 (A III,4 N. 279, hier S. 580); Jacob Bernoulli: Analysis problematis antehac propositi, de inventione lineae descensus a corpore gravi percurrendae uniformiter, in: Acta eruditorum, Mai 1690, S. 217–219. 87 Gottfried Wilhelm Leibniz: De linea isochrona, in qua grave sine acceleratione descendit, in: Acta eruditorum, April 1689, S. 195–198.
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Public en a tiré, & que personne nʼavoit plus fait valoir cette invention quʼeux avec Mr. le Marquis de lʼHospital, à qui cette Science est aussi fort redevable. 88
Johann Bernoullis Anliegen Inwieweit Johann Bernoulli schon im Vorfeld über die Beiträge Hermanns zu den Elogen informiert war, muss offenbleiben. Johann war im Umzug nach Basel begriffen, um eine Professur für Griechisch anzutreten, als sein Bruder dort starb. Er traf am 20. September 1705, mehr als einen Monat nach Jacobs Tod, ein. Vermutlich deshalb wandten sich Leibniz und Varignon zunächst an Hermann, um Material für Elogen zu erhalten. Ein weiterer Grund war sicher die gegenseitige Feindschaft der Brüder, 89 die sich jedoch nicht auf Hermann ausdehnte. So enthalten Briefe Varignons an Johann Bernoulli immer wieder auch Mitteilungen an Hermann in Bezug auf die Elogen. Johann war also im Bilde. Varignon nahm sogar explizit auf seine Interessen Rücksicht. So übersandte er ihm im Oktober 1705 Blondels später in den Memoires de Trévoux veröffentlichte Version 90 von Fontenelles Eloge, damit Johann über eine Veröffentlichung in der Leichenpredigt Battiers entscheiden könne: Je vous envoye cet Abregé de son discours plustost qu’à M.r Herman, affin que vous en fassiez ce qu’il vous plaira: c’est pour cela que je ne lui en parleray point du tout; vous le lui direz si vous jugez à propos de le faire imprimer avec les autres pieces; sinon, vous serez libre de le supprimer sans que lui ny personne scache que je le vous aye envoyé. 91
Varignon gab ihm dabei auch die Möglichkeit zur Korrektur. Johann brachte einige historische Fehler vor, die Varignon Fontenelle mitteilte. Dieser ließ auf Bernoullis Kritik hin ausrichten – wie später über Lelong an die Adresse von Leibniz –, dass für die meisten Fehler nicht er, sondern der Protokollant verantwortlich sei. Nur einen von Bernoullis Kritikpunkten, das isoperimetrische Problem betreffend, ließ Fontenelle gelten. 92 Die Kritikpunkte lassen sich anhand von Bernoullis Eingriffen in das Manuskript der Mitschrift nachvollziehen. Eine das Kettenlinienproblem betreffende Passage änderte Johann dahingehend ab, dass Jacob es noch nicht gelöst hatte, als er es stellte. Damit war Johanns eigene Lösung die erste. Außerdem fügte er hinzu, dass beim isoperimetrischen Problem Differentiale dritter Ordnung nicht nötig seien. Dass er selbst nur Differentiale 88 Leibniz, Remarque (wie Anm. 63), S. 525f. 89 Zur Beziehung der Brüder zueinander vgl. Peiffer, Jacob Bernoulli (wie Anm. 84). 90 Die übersandte Version ist heute Jacob Bernoullis Notizbuch Meditationes vorgebunden. Sie trägt den Titel Recit abrégé de l’Eloge funebre que Monsieur de Fontenelle ... a fait de Monsieur Bernoulli Professeur de Mathematiques à Bâle ... recueilli de memoire par Monsieur Blondel und hat die Signatur Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 3 S. I–IV. Sie enthält Korrekturen von Varignons Hand und Änderungen von Johann Bernoullis Hand. 91 Brief vom 20. Dezember 1705 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 183–188, hier S. 186). 92 Dies geht aus Varignons Brief an Bernoulli vom 25. März 1706 hervor (Bernoulli, Briefw. 3, S. 189–191).
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zweiter Ordnung benutzt hatte, zeichnete in Johanns Augen seine eigene Lösung gegenüber derjenigen seines Bruders aus. Bernoullis Änderungen flossen nicht in die Veröffentlichung in den Memoires de Trévoux ein. Gegen Fontenelles Eloge, in der diese Punkte umschifft werden, hatte Johann nichts einzuwenden, als er sie Ende 1706 lesen konnte. 93 Bei Saurins Eloge aus dem Journal des sçavans nahm er Anstoß daran, dass seinem Bruder die Erstentdeckung der Eigenschaften der logarithmischen Spirale und der Kettenlinie zugeschrieben wurde. Den letzten Punkt führte Johann auch gegenüber Leibniz an, als dieser ihm seine für die Nouvelles de la république des lettres bestimmte Richtigstellung zur Durchsicht übersandte. Dass er schon von Varignon über den Inhalt von Fontenelles Eloge informiert worden war, verschwieg er gegenüber Leibniz. Mehr als über die Elogen für seinen Bruder erregte sich Johann jedoch über Fontenelles Eloge für L’Hospital, bei der er seinen Anteil an den Ergebnissen der Analyse des infiniment petits nicht gewürdigt fand. 94 Seit L’Hospitals Tod am 2. Februar 1704 reklamierte Bernoulli bei mehreren Gelegenheiten Resultate aus der Analyse des infiniment petits öffentlich und brieflich für sich. 95 Tatsächlich beruhte das Lehrbuch zum großen Teil auf den Vorlesungen, die Bernoulli L’Hospital während seines Parisaufenthalts gehalten hatte, und auf späteren brieflichen Unterweisungen. Ohne seine Erfinderrechte abzutreten, hatte Bernoulli das Material L’Hospital in einem geheimen Vertrag zur Verwendung übereignet, den dieser formal einhielt, indem er die Analyse anonym veröffentlichte. 96 L’Hospitals Autorschaft war jedoch allgemein bekannt. Im Streit um die Grundlagen und die Korrektheit des Differentialkalküls, der 1700–1706 vor der Académie des sciences geführt wurde, spielte das Lehrbuch eine herausragende Rolle; auf seine Methoden und Resultate beriefen sich Varignon und Saurin bei der Verteidigung des Kalküls. Selbstverständlich wurden dabei auch die Verdienste seines Autors hervorgehoben. Umgekehrt diente Fontenelles Eloge für L’Hospital auch der Werbung für den Differentialkalkül. 97 Mit seiner Kritik konterkarierte Bernoulli daher die Verteidigungsstrategie der Pariser Anhänger des Kalküls und rief bei ihnen Unverständnis und Ärger hervor. Zudem waren sie sich keiner Schuld bewusst. Varignon, der zu der Eloge beigetragen hatte, fühlte sich angegriffen und verteidigte sich und die weiteren Beiträger: Die Rolle, die Bernoullis Unterrichtung für L’Hospitals Lehrbuch gespielt hatte, sei ihnen nicht bekannt gewesen. 98 Bernoulli sah sich gezwungen, seine Anschuldigungen zu 93 Vgl. Hermanns Brief an Leibniz vom 1. Januar 1707 (GM 4, S. 306f.) sowie Bernoullis Brief an Varignon vom 26. Februar 1707 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 209–222, hier S. 212). 94 Vgl. ebd., S. 212–221, zu Bernard Le Bovier de Fontenelle: Eloge de M. Le Marquis de L’Hopital, in: Histoire de l’Academie royale des sciences, Année 1704, 1706, S. 125–136. 95 Vgl. die Einleitung von Pierre Costabel zu Bernoulli, Briefw. 3. 96 Vgl. die Einleitung von Otto Spiess zum Briefwechsel zwischen Johann Bernoulli und L’Hospital (Bernoulli, Briefw. 1, S. 123–157); auf S. 151 findet sich eine Gegenüberstellung zwischen L’Hospitals Lehrbuch und dem von Bernoulli zugelieferten Material. 97 Vgl. Varignons Brief vom 12. März 1707 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 222–229, hier S. 225). 98 Ebd., S. 224.
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relativieren. 99 Der Bernoulli-Editor Pierre Costabel macht plausibel, dass in Paris wohl nur wenige Leute aus dem Umfeld von Nicolas Malebranche Einsicht in Johann Bernoullis Vorlesungen erhalten hatten. 100 Obwohl die Bekanntschaft Bernoullis mit Varignon auf seinen Parisaufenthalt zurückgeht, 101 gehörte dieser wohl nicht dazu: Er begann sich erst später für den Differentialkalkül zu interessieren; zunächst hatte er sich in der Auseinandersetzung zwischen L’Hospital und dem Abbé de Catelan um die Infinitesimalrechnung auf die Seite des letzteren geschlagen. 102 Bernoulli wunderte sich jedoch zu Recht darüber, dass sein Parisaufenthalt, der so entscheidend für die Einführung des Differentialund Integralkalküls in Frankreich gewesen war, in der Eloge übergangen und nur Malebranche als Mentor L’Hospitals erwähnt wird. Dieser Punkt ging allerdings neben seinem explosiven geistigen Besitzanspruch auf die Analyse unter. Zwar kam Bernoullis Einspruch viel zu spät und hatte daher nur eine Abkühlung der Beziehungen Varignons zu den Baslern zur Folge. 103 Es war ihm aber vorher schon gelungen, wenigstens eine Eloge L’Hospitals klammheimlich in seinem Interesse zu ändern: Im Februar 1704, als er noch in Groningen lebte, hatte Varignon ihm eine solche zur Weitersendung an die Nouvelles de la république des lettres, die in Amsterdam verlegt wurden, übersandt. 104 Gleichzeitig kündigte Varignon an, eine Eloge an Hermann für die Acta eruditorum zu adressieren. Im Druck der Nouvelles de la république des lettres heißt es über L’Hospitals Lehrbuch, dass toutes ces Méthodes, ou la plûpart, lui ayent été fournies en écrit par Monsieur Bernoulli Professeur à Groningue, dont il a apris les premieres ouvertures de cette Analyse, laquelle Mr Bernoulli porta le premier en France dans le tems qu’elle y étoit encore tout à-fait inconnuë; on en voit un aveu assez reconnoissant dans la préface dudit Livre. 105
Eine entsprechende Passage findet sich weder in den Acta eruditorum noch in einer weiteren, ähnlichen Eloge in den Memoires de Trévoux. 106 Varignons spätere überraschte Reaktion auf Bernoullis Vorwürfe spricht ebenso dafür, dass nicht er, sondern letzterer der Urheber dieser Passage war.
99 In seinem Brief vom 22. März 1707 (ebd., S. 229–234). 100 Ebd., S. 12 sowie S. 224f. Anm. 8 u. S. 232 Anm. 6 u. 7. 101 Der erste Brief Bernoullis an Varignon (Bernoulli, Briefw. 2, S. 23–26) wurde in Oucques, dem Landsitz L’Hospitals, verfasst. 102 Vgl. Costabels Darstellung ebd., S. 12–14. 103 So schrieb Hermann an Johannes Scheuchzer am 8. Juni 1707: „[...] cum Cl. Varignon nonnihil frigidiorem solito jam ab aliquo tempore deprehenderim id quod Dn. Bernoullii nostri causa fieri existim[o.]“ (BEBB 9972406953705504). 104 Mit seinem Brief vom 16. Februar 1704 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 108–114). 105 Mort de Mr. le Marquis de L’Hopital, in: Nouvelles de la république des lettres, Juni 1704, S. 620–628, hier S. 628. 106 Vgl. Elogia illustrium quorundam mathematicorum nuper defunctorum, in: Acta eruditorum, Mai 1704, S. 233–238, hier S. 234–236; Mort de Monsieur le Marquis de l’Hôpital, in: Memoires pour l'histoire des sciences et des beaux arts, Februar 1704, Addition, S. 24–27.
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Auch gegenüber Leibniz reklamierte Bernoulli die Ergebnisse aus L’Hospitals Analyse des infiniment petits für sich, als Leibniz ihn um Rückmeldung zu seiner Richtigstellung bat. Leibniz griff dies auf: In der Bernoulli übersandten Fassung hatte er erwähnt, dass Bernoulli L’Hospital zu seinem Werk in Paris „les fondemens“ vermittelt habe. In einem ersten Anlauf ergänzte er „et une bonne partie de la matiere“. Schließlich schrieb er, Bernoullis Vorschlag folgend, „les fondemens et la matiere“. 107 Er kam Bernoullis Wunsch auch darin nach, dass er dessen führende Rolle beim Kettenlinienproblem hervorhob. In einem Punkt folgte Leibniz ihm hingegen nicht: Bernoullis wollte die Anerkennung dafür, dass er – später als, aber unabhängig von Leibniz und Newton – den Integralkalkül entwickelt habe: Mihi enim tum temporis persuadebam, nemini ante me in mentem venisse cogitationem de inversione methodi differentialium ejusque inversionis modo et usu, ut itaque ego, quanquam et Te et Newtono sim posterior, nihilominus tamen quantum ad calculum integralium spectat, aliquo modo in inventionis gloriae partem jure merito vobiscum venire possem. 108
Dabei führte er auch an, dass der Begriff ‚Integralkalkül‘ allgemein etabliert sei und auf ihn zurückgehe. Leibniz reagierte zunächst zögerlich und erläuterte noch einmal ausführlich seine abweichende Terminologie und ihre Bedeutung. Er fügte hinzu, unter ,Integralkalkül‘ habe er Methoden aus der Arithmetik verstanden, die zu ganzzahligen Lösungen führen. Dann forderte er Bernoulli auf, die angeführten Verdienste konkreter zu benennen: „Si qua in summando vel integrando artificia detexisti, quae me fugerint, gratus agnoscam pro eo candore, quem semper ostendi.“ 109 Bernoulli war – nicht nur deswegen – verstimmt, beharrte aber nicht weiter auf diesem Punkt, sondern erwiderte nur knapp, er habe einst „quaedem mea in summando vel integrando artificia“ übersandt. Leibniz möge doch in alten Briefen suchen. 110 Damit bezog sich Bernoulli auf die erwähnte Übersendung mindestens eines Teils seiner Vorlesungen zur Integralrechnung, an die sich Leibniz offenbar nicht mehr erinnerte. 1713 suchte Bernoulli im Rahmen des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton erneut Anerkennung für die Entwicklung des Integralkalküls. Varignon hatte ihn darüber informiert, dass man Leibniz in England die Priorität bei der Erfindung des Differentialkalküls streitig mache. Bernoulli erwiderte: „[P]our ce qui est de l’integral, je croy que j’ay eté le premier à le mettre en regle de calcul, pour remonter des differentielles aux integrales, dont j’ay meme inventé le nom d’integrales, n’en ayant pas vu de plus commode alors[.]“111 Als Beweis verwies er wieder auf seine Vorlesungen. Gegenüber John Arnold drückte er sich präziser aus, was seinen Anspruch anging: Er sei neben Leibniz und Newton Miterfinder, 107 Diese Änderungen lassen sich anhand der zweiten korrigierten Abschrift von Leibniz’ Richtigstellung nachvollziehen: LH 43 Basnage de Beauval [früher LBr. 35] Bl. 55-56, hier Bl. 56r. 108 Brief an Leibniz vom 11. September 1706 (GM 3, S. 796–801, hier S. 800f.). 109 Brief vom 3. Oktober 1706 (GM 3, S. 801f.). 110 Brief vom 15. Januar 1707 (GM 3, S. 803–810, hier S. 809). 111 Brief vom 29. April 1713 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 542–545, hier S. 544f.).
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aber der erste, „qui ai communiqué des regles d'algorithme reduites en forme d'analyse universelle pour remonter des differentielles aux integrales“. Er schweige aber: „[J]e ne suis pas si glorieux, jusqu’à troubler mon repos en me battant de tout coté et avec chaleur pour un vain fantôme de gloire[.]“ 112 Das Vorgehen der Engländer gegen Leibniz wirkte abschreckend. Bernoulli beließ es daher zunächst dabei, einige Briefpartner auf seinen Anspruch aufmerksam zu machen. Dabei verwies er stets darauf, dass die Bezeichnung ,Integral‘ auf ihn zurückgehe. Es ging ihm jedoch nicht nur um den Integralkalkül. Allgemeiner drückte er sein Missfallen darüber aus, dass die englischen Vorwürfe auf den Differentialkalkül fixiert seien und alle weiteren Entwicklungen ignoriert und damit entwertet würden, wie er zum Beispiel gegenüber William Burnet äußerte: [O]n diroit que tout ce qu’on a inventé dans les mathematiques depuis prés d’un demi siecle etoit dû uniquement à la Methode des Fluxions ou au Calcul differentiel qu’on pretend être tiré de cette methode, comme si nous autres petits compagnons n’avions rien fait que commenter sur elle et tout au plus en former quelques legers corollaires[.] 113
Eher zufällig fand Bernoullis Anspruch auf den Integralkalkül 1716 mit Leibniz’ Billigung doch noch den Weg in die Öffentlichkeit: Über Arnold hatte Christian Wolff davon erfahren, glaubte aber an eine Verwechslung mit dem Exponentialkalkül. Da er an seinem Mathematischen Lexicon arbeitete, war er an einer Aufklärung des vermeintlichen Missverständnisses interessiert. 114 Bernoulli nutzte die Gelegenheit, um seine Verdienste um den Differential- und Integralkalkül ins rechte Licht zu rücken und von Leibniz und seinem Bruder abzugrenzen. In erster Linie betraf sein langer Brief vom 8. April 1716 jedoch seine Auseinandersetzung mit John Keill im Rahmen des Prioritätsstreits. Er schlug daher eine anonymisierte Veröffentlichung des Briefes in den Acta eruditorum vor, „mutatis mutandis et omissis omittendis“, bat Wolff aber, mit Leibniz Rücksprache zu halten. 115 Wolff übermittelte den Brief an Leibniz, 116 der Bernoulli eine unabhängige Entwicklung des Integralkalküls nun zwar zugestand. Er nahm jedoch einige Ergänzungen vor, um zu belegen, dass er Integral- und Exponentialkalkül schon früher als Bernoulli entwickelt, wenn auch nicht veröffentlicht hatte. Darüber informierte er Bernoulli: Dominus Wolfius mihi misit Epistolam Tuam, non possum non probare quemadmodum dudum publice agnovi, quod Tibi attribuis, Te sine alterius ope ad artem summandi vel integrandi pervenisse; agnoscendum etiam est Tua potissimum opera Calculum infinitesimalem celebrem redditum fuisse. Caeterum paucula addenda putavi, ut intelligatur, mihi quoque ali-
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Brief vom 9. Mai 1714 (BEBB 9972432842005504). Brief vom 15. Mai 1714 (BEBB 9972432944505504). Brief an Bernoulli vom 10. Oktober 1715 (BEBB 9972433440805504). BEBB 9972433441905504. Eine von Wolff als Brief eines dritten über Bernoulli anonymisierte und von Leibniz überarbeitete Fassung erschien unter dem Titel Epistola pro eminente mathematico, Dn. Johanne Bernoullio, contra quendam ex Anglia antogonistam scripta, in: Acta eruditorum, Juli 1716, S. 296-315. 116 Vgl. seinen Brief vom 13. Mai 1716 (Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, cod. ms. philos. 138 Bl. 113–114; A-Transkriptionen 1716).
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Charlotte Wahl quam summandi integrandive, atque etiam Exponentiales adhibendi artem jam antea non defuisse. 117
Bernoullis Enkel Johann III Bernoulli verglich später den Brief mit der publizierten Fassung und schloss, dass Leibniz’ Änderungen den Charakter der entsprechenden Passagen zum Nachteil von Bernoulli wendeten. Sie hätten „pour but principalement de revendiquer à Leibnitz des découvertes que Bernoulli s’attribuoit“. 118 Der Enkel vermutete zwar, dass Leibniz sie zu verantworten hatte, wusste aber nicht, dass dieser Bernoulli über sein Vorgehen ins Bild gesetzt hatte. Der von ihm geäußerte Vorwurf der Täuschung ist somit nicht gerechtfertigt. 119 Wie schon erwähnt, ging es Bernoulli nicht nur um Urheberschaft, sondern er plädierte in seinem Brief mit verschiedenen weiteren Argumenten für einen größeren Anteil am Ruhm selbst in Bezug auf den Differentialkalkül. So wies er darauf hin, dass es die Beschäftigung der Brüder Bernoulli mit Leibniz’ erster Veröffentlichung, „paucis istis pagellis, in quibus calculum differentialem tanquam per aenigmatis nebulam conspiciendum proposuit Leibnitius,“ ihre zahlreichen Aufsätze mit detaillierten Lösungswegen in den Acta eruditorum und ihre briefliche und mündliche Unterweisung anderer Gelehrter waren, die dem Kalkül zum Durchbruch verhalfen. Sich auf den Kontext des Prioritätsstreits beziehend, verglich er den Differential- und Integralkalkül mit einem Gebäude, für dessen Entstehung nur die Grundsteinleger (Leibniz und Newton), nicht aber die Erbauer angemessen gewürdigt würden. In diesem Zusammenhang führte er den Exponentialkalkül an, den er als erster gelehrt habe. 120 Leibniz fügte in der gedruckten Version hinzu, dass er den Kalkül als erster gekannt, die Bezeichnung geprägt und sich mit Christiaan Huygens darüber ausgetauscht habe, Bernoulli ihn aber als erster veröffentlicht habe. 121 Er verwies außerdem darauf, dass er Bernoullis unabhängige Entwicklung dieses Kalküls öffentlich anerkannt habe. Wohl ohne die117 Brief vom 7. Juni 1716 (A-Transkriptionen 1716; diese in GM 3, S. 963, fehlende Passage ist auch abgedruckt in Peter Merian: Die Mathematiker Bernoulli. Jubelschrift zur vierten Säcularfeier der Universität Basel, Basel 1860, S. 61). 118 Johann III Bernoulli: Anecdotes pour servir à l’histoire des mathématiques, in: Mémoires de l'Académie royale des sciences et belles-lettres, 1799/1800, Berlin 1803, S. 32–50, hier S. 47; Fortsetzung ebd. 1802, Berlin 1804, S. 51–65. Die Kollation findet sich in der Fortsetzung, S. 60–65. 119 Johann III Bernoulli spricht von „une espèce de supercherie“ (ebd., S. 47). Er kannte den Briefwechsel seines Großvaters mit Leibniz nur aus der Briefedition Virorum celeberr. Got. Gul. Leibnitii et Johan. Bernoullii commercium philosophicum et mathematicum, Lausanne/Genf 1745. Dort (Bd. 2, S. 381) wurde die Passage mit Leibniz’ Ankündigung weggelassen. 120 BEBB 9972433441905504. 121 Vgl. die Kollation in Joh. III Bernoulli, Anecdotes (wie Anm. 118), S. 62. Johann III Bernoulli (S. 57–60) verteidigt den Anspruch seines Großvaters, jedoch ohne Leibniz’ Briefwechsel mit Huygens zu kennen. Eine kurze Diskussion der respektiven Verdienste mit einer Chronologie findet sich in Henk J. M. Bos: Johann Bernoulli on exponential curves, ca. 1695. Innovation and habituation in the transition from explicit constructions to implicit functions, in: Nieuw archief voor wiskunde, serie 4, 14 (1), 1996, S. 1–19.
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se Ergänzungen zur Kenntnis genommen zu haben, bekräftigte Bernoulli seinen Anspruch auf den Exponentialkalkül noch einmal gegenüber Wolff in Reaktion auf dessen Darstellung im Mathematischen Lexicon. 122 Auch seine Ansprüche gegenüber L’Hospital machte Bernoulli in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Brief deutlich: Quid mihi et quousque debeatur calculus integralis inventus et nunc passim usitatus, nec non et ipsius calculi differentialis promotio et propagatio loquuntur porro ea quae durante mea peregrinatione cum Eruditis in scripto communicavi; praesertim in Gallia, ubi prae caeteris Hospitalio liberalissime omnia nostra mysteria praesens ore et calamo, postea vero absens per litteras aperui et explicavi. Ex lectionibus meis in usum ipsius conscriptis cum Parisiis commorarer ipsique traditis librum postea suum contexuit Gallicum de Analysi infinite parvorum complectentem quidem tantum primam partem seu calculum differentialem: alteram vero seu calculum integralem postea traditurus erat nisi morte occupatus fuisset; habebat enim ex manuscriptis meis materiam ejus paratissimam. Quod quidem non ignorant plures Mathematici, qui eorandem manuscriptorum meorum apographa sibi compararunt[.] 123
So stellten die Entwicklungen um Bernoullis öffentlichen Brief einen erneuten Versuch dar, den Ruhm für die Erfindung des Differential- und Integralkalküls und seine Anwendung und Verbreitung angemessen zu verteilen. Im Gegensatz zur Reaktion auf die Elogen stand diesmal Bernoullis Sicht im Mittelpunkt; Leibniz behielt jedoch wieder das letzte Wort. Nachwirkungen Fritz Nagel wies darauf hin, dass Wolff im Lateinischen zwar „Calculus integralis seu summatorius“, als deutsche Übersetzung jedoch „Integralrechnung“ verwendete. 124 Oft benutzte Wolff beide Terminologien parallel, priorisierte jedoch die Bernoulli’sche. Die Information über Bernoullis Anspruch auf den Integralkalkül kam für das Mathematische Lexicon zu spät. Dieser wird dort dem Differentialkalkül zugerechnet. 125 Immerhin wird im Lemma zum „Calculus differentialis“ der herausragende Beitrag der Brüder erwähnt, beruhend auf Leibniz’ Gegendarstellung zu den Elogen Jacob Bernoullis. Spätere Lexikonartikel sind zugleich unpräziser und noch sparsamer in ihrer Erwähnung der Brüder Bernoulli. Weder 122 Im Brief vom März 1717 (BEBB 9972433440305504). 123 BEBB 9972433441905504. 124 So Christian Wolff: Mathematisches Lexicon, Halle 1716, Sp. 290f.; analog schon ders., Der Anfangs-Gründe aller mathematischen Wiessenschaften letzter Theil, welcher so wol die gemeine Algebra, als die Differential- und Integral-Rechnung ... in sich begreifet, Halle 1710, S. 280, bzw. ders., Elementa matheseos universae, Bd. 1, Halle 1713, S. 474. Vgl. Nagel, Dalla somma all’integrale (wie Anm. 9), S. 231. 125 Wolff bezeichnet ihn als „der andere Haupt-Theil von der Differential-Rechnung“ (Wolff, Mathematisches Lexicon, wie Anm. 124, Sp. 290). Im Brief an Bernoulli vom 10. Oktober 1715 (BEBB 9972433440805504) drückte er sich deutlicher aus: „Extra controversiam enim positum mihi videtur, differentialem totum, cujus sane pars est integralis, Leibnitio deberi. Unde et in Lexico meo eidem ipsum tribui.“
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im Lemma „Integral-Rechnung“ im Vollständigen Mathematischen Lexicon, einer Erweiterung von Wolffs Lexikon, die in zwei Bänden 1734 und 1742 gegen seinen Willen veröffentlicht wurde, 126 noch im Eintrag zum „Calculus Integralis seu Summatorius“ in Zedlers Universallexikon 127 wird Johann Bernoullis Beitrag gewürdigt. Hingegen wird in allen drei Lexika im Lemma zum Exponentialkalkül Bernoulli als Erfinder angeführt. Das Zedler’sche Lexikon lässt gegenüber den beiden anderen die Information weg, dass Leibniz Bernoulli darüber informiert hatte, den Kalkül auch zu besitzen. Alle drei Lexika erwähnen, dass Johann Bernoulli L’Hospital unterrichtet hatte. Interessanterweise fügt aber das Vollständige mathematische Lexicon, das in den hier besprochenen Lemmata Wolffs Darstellung sonst meist wörtlich übernimmt, im Artikel zur „Integral-Rechnung“ hinzu, L’Hospital habe „zuerst in seiner Analyse des infiniment petits die Differential-Rechnung aus einem MSct. des Joh. Bernoulli, welches in verschiedener Mathematicorum Händen ist, deutlich beschrieben“ 128 und greift damit offenbar eine Information aus Bernoullis öffentlichem Brief vom 1716 auf. In Zedlers Universallexikon wird ausführlich über die Geschichte des Differentialkalküls referiert. Im Mittelpunkt stehen jedoch die durch den Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton aufgeworfenen Aspekte. Genauso verhält es sich mit dem Unterartikel „calcul différentiel“ zum Lemma „différentiel“ in der Encyclopédie. 129 Bernoulli hatte somit recht mit seiner Diagnose, dass der Prioritätsstreit die Aufmerksamkeit auf die Frühgeschichte des Differentialkalküls vor den ersten Veröffentlichungen lenkte. Grundsätzlich bleiben die Lexikonartikel sehr selektiv in ihren historischen Bemerkungen. Literaturhinweise beschränken sich meist auf Lehrbücher. Der Prioritätsstreit wird natürlich auch ausführlich in Fontenelles Eloge für Leibniz thematisiert, die trotzdem auch den Beitrag der Bernoullis kurz würdigt und angemessener als seine Eloge für Jacob Bernoulli den Durchbruch des Kalküls charakterisiert: En 1684 M. Leibnitz donna dans les Actes de Leipsic les Regles du Calcul differentiel, mais il en cacha les démonstrations. Les illustres Freres Bernoulli les trouverent quoi-que fort dif-
126 Die hier besprochenen Lemmata „Differential-Rechnung“, „Exponential-Rechnung“ und „Integral-Rechnung“, finden sich in Vollständiges Mathematisches Lexicon, Bd. [1], Leipzig 1734. Vgl. zu diesem Lexikon Sergio Nobre: Christian Wolffs Beitrag zur Popularisierung der Mathematik in Deutschland, europäischen und außereuropäischen Ländern, Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte Preprint 258, Berlin 2004, S. 12. 127 Die hier besprochenen Lemmata „Calculus Differentialis“, „Calculus Exponentialis“ und „Calculus Integralis“ finden sich in Johann Heinrich Zedler [Hrsg.]: Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 5, Halle/Leipzig 1733. Sie sind nicht wie viele weitere Artikel aus Wolffs Mathematischem Lexicon übernommen; vgl. Nobre, Christian Wolffs Beitrag (wie Anm. 126), S. 17. 128 Vollständiges mathematisches Lexicon (wie Anm. 126), Sp. 668f. 129 In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des metiers, Bd. 4, Paris 1754.
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ficiles à découvrir & s’exercerent dans ce Calcul avec un succés surprenant. Les solutions les plus élevées, les plus hardies & les plus inesperées naissoient sous leurs pas. 130
Lange nach Leibniz’ Tod gelangte Johann Bernoullis Perspektive zu größerer Wirkung. Entscheidend dafür war seine schon erwähnte französische Autobiographie, die er gegen Ende seines Lebens verfasste und die erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde. Dort stellte er sich als Schöpfer des Integralkalküls dar: [J]e fus le premier, qui songeait à inventer quelque méthode pour remonter des quantités infiniment petites aux finies dont celles-là sont les élémens ou les différences. Je donnai à cette méthode le nom de Calcul intégral, n’en ayant point trouvé alors de plus convenable. 131
Den Exponentialkalkül habe er L’Hospital auf seinem Landsitz gelehrt und 1697 veröffentlicht: „Ce fut là où je lui enseignai une troisième espèce de calcul exponentiel ou parcourant [...] J’ai publié les principes de ce dernier calcul dans les actes de Leipzic de 1697.“ 132 Auf dieser Autobiographie beruht die Eloge in der Histoire de l’Académie royale des sciences zu Bernoullis Tod 1748. Dort heißt es – weniger differenziert – zum Exponentialkalkül: „M. Bernoulli inventa un troisième calcul qu’il nomma exponentiel ou parcourant; production digne de marcher à la suite des calculs différentiel & intégral.“ 133 Leibniz’ Anteil an Exponential- und Integralkalkül wird an beiden Orten nicht erwähnt. Autobiographie und Eloge beschreiben außerdem ausführlich Bernoullis Lehrtätigkeit für L’Hospital. Nur beim Kettenlinienproblem folgt die Eloge der Autobiographie nicht, in der Johann Bernoulli betont, dass er das Problem seinem Bruder vorgeschlagen habe, der es dann veröffentlicht habe. Die Autobiographie war somit nicht die einzige Quelle für die Eloge von Johann Bernoulli. Auch die Eloge seines Bruders klingt noch nach in der Begründung, warum Johann ein Anteil am Ruhm des Differential- und Integralkalküls zustehe: L’illustre M. de Leibnitz donna en 1684 quelques essais du calcul différentiel, mais dans lesquels il avoit soigneusement caché la méthode & l’analyse: les deux frères entreprirent de deviner cette espèce d’énigme, & en vinrent à bout; ils avoient même si bien deviné, que M. de Leibnitz se fit honneur d’avouer publiquement que la gloire leur en appartenoit autant qu’à lui: mais ce ne fut pas assez pour M. Bernoulli d’avoir pénetré le secret de ce grand homme, il osa entreprendre d’enchérir sur une aussi admirable invention, & donna les premiers principes du calcul intégral, qui remonte, pour ainsi dire, de l’infiniment petit au fini, comme le différentiel descend du fini à l’infiniment petit, ayant ainsi une grande part à la gloire des deux plus belles découvertes qui aient été faites en Géométrie. 134
130 Bernard Le Bovier de Fontenelle: Eloge de M. Leibnitz, in: Histoire de l’Academie royale des sciences, Année 1716, Paris 1718, S. 94–128, hier S. 109. 131 Wolf, Biographien (wie Anm. 50), S. 72f. 132 Ebd., S. 76. 133 Jean-Paul Grandjean de Fouchy: Éloge de M. Bernoulli, in: Histoire de l’Académie royale des sciences, Année 1748, Paris 1752, S. 124–132, hier S. 127. 134 Ebd., S. 125f.
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Auf Johann Bernoullis französischer Autobiographie beruhen direkt oder indirekt viele weitere Biographien. 135 Aber auch die Herausgabe der Opera von Johann und Jacob Bernoulli in den Jahren 1742 bzw. 1744 – noch vor den 1768 durch Louis Dutens herausgegebenen Leibniz’schen Opera omnia – sowie des Briefwechsels zwischen ersterem und Leibniz 1745 vertieften das Bewusstsein für die Leistungen der Bernoullis. 136 Darauf konnte sich Jean Étienne Montucla in seiner 1758 erschienenen Histoire des mathematiques stützen, in der er unter anderem Bernoullis Lehrtätigkeit für L’Hospital und ihre Bedeutung für dessen Analyse des infiniment petits sowie die Verbreitung des Kalküls in Frankreich würdigt. 137 Dass Leibnizʼ Nova methodus pro maximis et minimis obskur ist, ist in wissenschaftshistorischen Darstellungen seit dem 19. Jahrhundert ein Allgemeinplatz, wie Clara Silvia Roero festgestellt hat. 138 Das spricht natürlich nicht gegen das Urteil – viele, die ihm zustimmen, haben sich intensiv mit Leibnizʼ Artikel befasst, auch Roero selbst. Als indirekter Beleg wird oft angeführt, dass Leibnizʼ Beitrag jahrelang kaum beachtet wurde. 139 Eine alternative, erstaunlich differenzierte Begründung für die anfänglich geringe Beachtung des Differentialkalküls lieferte Montucla in seiner Histoire: M. Leibnitz donna le premier essai public de son nouveau calcul dans les Actes de Leipsick de l’année 1684; il en montra l’usage pour trouver les tangentes, les maxima & minima, & les points d’infléxion. Un des problêmes qu’il se proposoit en exemple, étoit bien propre à faire éclater les avantages de son calcul. [...] Ce problême qui éluderoit, dans certains cas, toutes les ressources des méthodes de Fermat, de Barrow, &c. reçoit une solution facile du calcul différentiel, quel que soit le nombre des points ou des foyers donnés. Cependant les germes de ce nouveau calcul jettés par M. Leibnitz, ne fructifierent pas d’abord, & il s’écoula quelques années avant qu’on sentît le mérite de cette excellente méthode. La plûpart des Géometres, les plus habiles même, ne la regarderent d’abord que comme celle de Barrow perfectionnée. Ils n’avoient pas entiérement tort en cela, mais ils l’avoient en ce qu’ils n’appercevoient pas que c’étoit précisément ce degré de perfection que 135 In Merian, Die Mathematiker Bernoulli (wie Anm. 117), S. 33, wird sogar festgestellt, sie sei „die Grundlage [...] aller später über ihn verfassten Biographien“. 136 Johann Bernoulli: Opera omnia, Lausanne/Genf 1742; Jacob Bernoulli: Opera, Genf 1744; Virorum celeberr. Got. Gul. Leibnitii et Johan. Bernoullii commercium; Gottfried Wilhelm Leibniz: Opera omnia, Hrsg. Louis Dutens, Genf 1768. 137 Jean Étienne Montucla: Histoire des mathematiques, 2 Bde., Paris 1758, Bd. 2, S. 358f. Zu weiteren (oft skeptischen) Reaktionen auf Bernoullis Anspruch auf die Ergebnisse in L’Hospitals Analyse vgl. die von Otto Spiess in Bernoulli, Briefw. 1, S. 131f., angeführten Stellen. 138 Vgl. Roero, Introduzione, insbes. S. 10–14, in Dupont/Roero, Leibniz 84 (wie Anm. 48). 139 Es gibt jedoch auch prominente andere Einschätzungen. Moritz Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 2. Aufl. Leipzig 1894–1908, bespricht Leibniz’ Artikel ausführlich in Bd. 3, S. 193–195, und betont, wie „rasch der Aufsatz bekannt wurde“ (S. 195). Cantor äußert sich dort nicht zur Verständlichkeit. Erst später schreibt er, die Brüder Bernoulli hätte Jahre gebraucht, um „das mit orakelhafter Kürze verfasste Schriftstück“ zu verstehen (ebd., S. 217f.). Der scheinbare Widerspruch zwischen schneller Verbreitung und Unverständlichkeit lässt sich durch die verschiedenen Komplexitätsebenen des Differentialkalküls erklären, s. u.
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Leibnitz avoit donné à ce calcul, qui l’étendoit à des questions sur lesquelles il n’auroit autrement point eu de prise. Le premier des Géometres qui commença à revenir de son erreur, & à seconder M. Leibnitz, fut M. Jacques Bernoulli. Ce fut, ce semble, le problême de la courbe isochrone, proposé en 1687 par Leibnitz, qui lui ouvrit les yeux. Car son premier essai de la méthode nouvelle, regarde ce problême, dont il publia l’analyse en 1690. 140
Im letzten Absatz folgt Montucla offensichtlich Leibnizʼ Richtigstellung, aber die vorangehenden Ausführungen gehen in ihrer Analyse über die bislang besprochenen Darstellungen hinaus. Montucla verweist auf die verschiedenen Komplexitätsschichten des Differentialkalküls: Als Algorithmus, der die bekannten Tangentenregeln verallgemeinerte, indem er die Differentiation von Wurzelausdrücken, Quotienten und Potenzen erlaubte, war der Kalkül relativ leicht zugänglich. Es war jedoch die Möglichkeit, geometrische und physikalische Probleme als Differentialgleichungen mathematisch zu formulieren und zu lösen, die seine Schlagkraft ausmachte. Die Tragweite des Kalküls voll zu erfassen, gelang den Bernoullis. Aber trotz ihrer Vermittlungsbemühungen und L’Hospitals Lehrbuch gab es auch in den folgenden Jahrzehnten nur wenige Mathematiker, die das ganze Potential des Kalküls ausschöpfen konnten. Montucla übergeht die Schwierigkeit von Leibniz’ Nova methodus de maximis et minimis aufgrund ihrer Knappheit und Fehlerhaftigkeit. Er hat aber recht damit, dass die Ursache für die anfänglich geringe Resonanz auch in der Komplexität des Gegenstands selbst begründet liegt. Fazit Ein Forschungsprozess unterliegt einer Eigendynamik, verläuft oft chaotisch und ist Zufällen unterworfen. Die Ziele verändern sich im Laufe des Prozesses. So kann das Hauptziel zunächst sein, eine mathematische Methode zur Perfektion zu bringen. Es kann im Geheimen verfolgt werden oder im Austausch und Wettbewerb mit anderen. Soll einer Methode zum Durchbruch verholfen werden, geht es auch darum, Anhänger zu motivieren. Ist die Methode schließlich anerkannt, stellt sich oft das Problem ein, den Ruhm zu verteilen. Die Ziele dieser Phasen können in Konflikt miteinander geraten: Während Leibniz in der Anfangsphase den Ruhm seines Kalküls noch großzügig mit den Brüdern Bernoulli geteilt hatte, differenzierte er später, indem er die Erfindung für sich reklamierte und den Brüdern einen Anteil des Ruhms für die Verbreitung und die Anwendung zusprach. Diese Differenzierung impliziert die Frage, wieviel Ruhm den Erfindern und Weiterentwicklern jeweils zusteht. So wünschte Bernoulli einen größeren Anteil am Ruhm für die Erbauer gegenüber den Grundsteinlegern. Fontenelle verwendete ein anderes Bild, um Leibnizʼ überragenden Ruhm in der Mathematik trotz weniger Veröffentlichungen zu rechtfertigen: „[Leibnitz] disoit qu’il aimoit à voir croître dans les Jardins d’autrui des Plantes dont il avoit fourni les Graines. Ces 140 Montucla, Histoire des mathematiques 2 (wie Anm. 137), S. 354f.
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Graines sont souvent plus à estimer que les Plantes même, l’Art de découvrir en Mathematique est plus prétieux que la pluspart des choses qu’on découvre.“141 Das Bild lässt sich fortspinnen: Nicht nur die in fremden Gärten gepflegten Pflanzen, sondern auch die im eigenen Garten wildernden entwickeln sich ja weiter. Immer wieder machte Leibniz darauf aufmerksam machen, dass Bernoullis neueste Ergebnisse ihm schon seit längerem bekannt seien, so auch beim Integral- und Exponentialkalkül. Es war jedoch Bernoulli, der Regeln für diese Kalküle niederschrieb und verbreitete. Aus Leibnizʼ Sicht reichten die Regeln des Differentialkalküls hingegen vermutlich aus, um sich diejenigen des Integralkalküls zu erschließen. Hier erschwerten somit auch unterschiedliche Einschätzungen über die Originalität der Ergebnisse eine alle Beteiligten zufriedenstellende Verteilung von Ruhm. Die bei der Zuteilung von Ruhm notwendige Rückschau auf die Geschichte einer Erfindung ist oft interessengeleitet und kann frühere Verbündete gegeneinanderstellen. Bei Elogen ist es selbstverständlich, dass die Verdienste des Verstorbenen besonders hervorgehoben werden und alle anderen Akteure Randfiguren sind. 142 Dies betonte Varignon, als er die von Saurin und Fontenelle verfassten Elogen gegen Johann Bernoullis Vorwürfe verteidigte: Comme ces deux Messieurs n’avoient que des éloges des Morts à faire, ils n’ont cherché que ce qui pouvoit y être utile: desorte que s’ils ont fait de tems en tems le votre ce n’a été que parce qu’ils vous ont rencontré à leur chemin, ne cherchant point précisément ce qui vous regardoit, mais seulement ce qui concernoit les morts[.] 143
Elogen können aber auch andere Ziele verfolgen: Der Tod von Jacob Bernoulli und L’Hospital fiel in eine Zeit, in der der Leibniz’sche Infinitesimalkalkül vor der Académie des sciences unter Beschuss genommen wurde; die Feier ihrer Verdienste diente somit auch seiner Verteidigung. Trotz ihrer Unzuverlässigkeit waren und sind Elogen und andere Rückblicke, wie Leibniz’ Richtigstellung und Bernoullis anonym veröffentlichter Brief, wichtige Quellen für Historiographen. Dies gilt vor allem, wenn keine weiteren Quellen vorhanden sind, wie im Fall des frühen persönlichen Austauschs der Brüder Bernoulli, oder diese nicht verfügbar sind, weil sie vielleicht schon verloren sind oder sich noch in Privatbesitz befinden. Auf diese Weise können sich die in Rückblicken entfalteten Narrative etablieren.
141 Fontenelle, Eloge de M. Leibnitz (wie Anm.. 130), S. 109. 142 Zur Kontextualisierung sei hier auf zwei einschlägige Arbeiten zu Wissenschaftlerelogen der Frühen Neuzeit hingewiesen, die jedoch auf andere Fragestellungen fokussieren: Charles B. Paul: Science and immortality. The éloges of the Paris Academy of sciences (1699–1791), Berkeley u.a. 1980; Anna Echterhölter: Schattengefechte. Genealogische Praktiken in Nachrufen auf Naturwissenschaftler, Göttingen 2012. 143 Brief an Bernoulli vom 12. März 1707 (Bernoulli, Briefw. 3, S. 222–229, hier S. 223).
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Dass Ruhm in den Naturwissenschaften selten gerecht verteilt wird, ist ein notorisches Phänomen, das in Stiglers Gesetz überspitzt formuliert wird. 144 Die Auseinandersetzungen um die Elogen von Jacob Bernoulli und L’Hospital zeigen, wie im Mathematikerkreis um Leibniz mit daraus entstehenden Konflikten umgegangen wurde und auf welche Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zurückgegriffen werden konnte. Seine Berühmtheit erleichterte es Leibniz, direkt auf Zeitschriftenherausgeber Einfluss zu nehmen und öffentlich seine Interessen zu vertreten. Johann Bernoulli wurde über Leibniz und Varignon, der als sein Verbindungsmann zur Académie des sciences fungierte, über die Elogen informiert und erhielt dadurch die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Andererseits war er durch Rücksichtnahme auf Varignon und Leibniz eingeschränkt, auch wenn er sich gelegentlich darüber hinwegsetzte. Da er weder gegenüber Leibniz noch gegenüber Varignon auf seinen Interessen beharrte, eskalierten die Konflikte nicht, blieben jedoch ungelöst, wie die späteren Bemühungen Bernoullis, zu seinem Recht zu kommen, zeigen.
144 Stephen M. Stigler: Stigler’s law of eponymy, in: Thomas F. Gieryn: Science and social structure. A Festschrift for Robert K. Merton (= Transactions of the New York Academy of Sciences, Series II, 39), New York 1980, S. 147–157.
AD GEOMETRICAS PLANE FACTUS MEDITATIONES Das Unglück Lorenzinis und seine außergewöhnliche Rezeption von Leibniz’ Calculus Margherita Palumbo, Rom In der italienischen Rezeption von Leibniz’ Calculus stellt der Florentiner Mathematiker Lorenzo Lorenzini ein besonderes Kapitel dar. 1 Schon in seinen Studienjahren am Jesuiten-Kollegium San Giovannino war bei Lorenzini eine besondere Begabung für die mathematischen Wissenschaften hervorgetreten, und er wurde alsbald der Lieblingsschüler des berühmten Geometers Vincenzo Viviani. Der „spectatae probitatis, acerrimi ingenij Vir Laurentius Lorenzini, ad geometricas plane factus meditationes“ ist im Vorwort der Enodatio problematum universis geometris propositorum a Claudium Comiers (1677) genannt, in dem Viviani an gemeinsame Unterredungen zum Thema erinnert. 2 Die Rolle seines brillanten Schülers in der Publikation war sogar noch entscheidender: Lorenzini hatte nämlich am 22. Februar 1677 aus dem „giornale de Francia“ den Text der „Trisection de l´angle par le[s] compas geometriques de M: Comiers Prevost de l´Eglise Collegiale de Ternant“ für Viviani transkribiert, 3 und danach war er beauftragt worden, das Manuskript der Enodatio für den Druck vorzubereiten. 4
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Die deutsche Übersetzung der im Text zitierten italienischen Briefe und Dokumente stammt von der Autorin. Zur Biographie Lorenzinis (1650/1651–1721) vgl. vor allem Angelo Fabroni: Vitae Italorum doctrinae excellentium qui saeculo XVII e XVIII floruerunt, Bd. 3, Romae 1770, S. 246–264; Margherita Palumbo: „Lorenzini, Lorenzo“, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 66, Roma 2006, https://www.treccani.it/enciclopedia/lorenzo-lorenzini_%28Dizionario-Biografico%29/. Das Geburtsdatum ist unklar. Während viele gedruckte Quellen das Jahr 1652 angeben, ist sein Name in der Liste Oktober–November 1650 der Taufregister des Florentinischen Dom eingetragen (vgl. Florenz, Archivio dell´Opera di S. Maria del Fiore, Registri battesimali, Nr. 48 (Maschi Ottobre–Novembre 1650), Bl. 59v°, Nr. 741, 27. Oktober 1650). Vincenzo Viviani: Enodatio problematum universis geometris propositorum a Clarissimo, ac Reverendissimo Cl. Comiers, Florentiae 1677, Bl. †3r°. Vgl. Lorenzini an Viviani, Pisa, 22. Februar 1677, Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Ms. Gal. 256, Bl. 86r°–87v°; vgl. Comiers´ Original im Journal des Sçavans vom 21. Dezember 1676. Lorenzini an Viviani, o. D. [1677], ebd., Ms. Gal. 257, Bl. 259r, „Sono arrivato alla proposizione 59 che si ritrova nel foglio datomi da V:S: questa mattina: ma perche à bisogno della figura decima per quanto dice in margine; ed io non ritrovandomi altro che le fig:e dal 53 in giu, la prego a voler favorirmene“. Zu den verschiedenen Abschriften der Enodatio vgl. ebd., Ms. Gal. 190.
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Lorenzini schien demnach eine große Karriere vorgezeichnet, ebenso seinem jüngeren Bruder Stefano, einem genauso brillanten Wissenschaftlers und Schülers von Francesco Redi. 5 Die Brüder waren Mitglied des auserlesenen gelehrten Kreises, der sich im Hause von Orazio Rucellai zusammenfand, darunter Benedetto Averani, Lorenzo Bellini und Luigi Del Riccio. 6 Darüber hinaus standen sie seit 1675 im Dienst des Medici-Hofes, als Kammerdiener und Lehrer des Erbprinzen Ferdinando de´ Medici. Plötzlich und ganz unerwartet brach 1681 das Unglück über die Brüder Lorenzini herein. In der Nacht vom 17. April wurden sie außerhalb des Palazzo Pitti festgenommen, und, gemäß Auftrags von Großherzog Cosimo III., zum Bargello (dem Sitz der Medici-Polizei) getrieben, wo sie ohne Prozess zum Tode verurteilt wurden. Das Urteil wurde jedoch gnädig in Inhaftierung umgewandelt, und am 19. April kamen sie in die Fortezza von Volterra, unweit von Pisa. 7 Obwohl der Vorfall ein gewisses Aufsehen in Florenz erregt hatte, herrschte absolute Verschwiegenheit über die Gründe ihrer Verurteilung; in seinen Memorie beschränkte sich Giovanni Battista Fagiuoli darauf, sehr vorsichtig anzumerken, dass „eine solch strenge Strafe für eine sehr schwere Schuld angemessen sein sollte“. 8 Es ist heute bekannt, dass die Anklage ihre Beteiligung an der von Ferdinando unterhaltenen geheimen Korrespondenz mit der Mutter Marguerite Louise d´Orléans betraf, die 1675 – nach dem Scheitern ihrer Ehe mit Cosimo III. – nach Frankreich zurückgekehrt war. Die Anklage war daher gleichwertig mit Spionage. Die unmenschlichen Bedingungen der Fortezza von Volterra haben eine traurige Berühmtheit erlangt. Die Brüder Lorenzini wurden in zwei entfernten Zellen untergebracht, damit „ihnen gemeinsame Unterredungen erschwert werden könnten“, und ihnen wurde auch jede schriftliche Kommunikation mit der Familie oder mit „gente di casa“ vorenthalten, weil „S.A. will, dass niemand etwas von ihnen
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Zu Stefano Lorenzini vgl. Luigi Guerrini: „Contributo critico alla biografia rediana. Con uno studio su Stefano Lorenzini e le sue ´Osservazioni intorno alle torpedini´“, in: Walter Bernardi, Luigi Guerrini (Hg.): Francesco Redi. Un protagonista della scienza moderna. Documenti, esperimenti, immagini, Firenze 1999, S. 47–69. Vgl. Salvino Salvini: Fasti consolari dell’Accademia fiorentina, Firenze 1717, S. 570. Vgl. Antonio Magliabechi an Geminiano Montanari, Florenz, 3. Mai 1681, in: Bartolomeo Gamba: Serie di testi di lingua italiana, Venezia 1828, Nr. 1658, S. 378, „Il detto Lorenzini pertanto, ed un suo fratello, erano Ajutanti di Camera del Serenissimo Principe di Toscana. La sera de’ 17 del passato mese, a due ore e mezza di notte, tornandosene tutti e due insieme da servire il Serenissimo Principe, furono presi da’ birri, ammanettati, condotti dal sig. Auditor Fiscale, il quale disse loro: che ringraziassero l’infinita pietà del Granduca Serenissimo che loro perdonava la vita, giacchè dovevano essere impiccati subito. E senza porvi tempo in mezzo, li mandò in fondo di torre, dove si trovano. Benchè non se ne sappia cagione, convien dire che da un ottimo principe, qual è il Ser. Granduca, non sia venuta risoluzione se non giustificatissima, e molto minore de’ demeriti“. Giovanni Battista Fagiuoli: Memorie e ricordi 1672–1695, Florenz, Biblioteca Riccardiana, Ms. 2695, Bl. 20v°, „a così grave castigo non può esser se non grave la colpa“.
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erfährt“. 9 Das Staatsarchiv Florenz bewahrt eine Bittschrift von Lorenzo vom 19. Juli 1683 auf, in der er um Schreibmittel und Lektüre bittet, um seine Studien in jener „grausigen feuchten Zelle, in der ich verfaule“ fortzusetzen. 10 Bücher konnte er aber nicht bekommen: der Castellano, d.h. der Leiter des Gefängnisses konfiszierte sie, weil er die mathematischen Zeichen für magische Symbole gehalten hatte. 11 In der Düsternis seiner Zelle und versehen nur mit Papier, Tintenfass und Feder, beschäftigte Lorenzini sich jahrelang mit ´seiner´ Mathematik, ahnungslos über neue Publikationen, Entdeckungen und Diskussionen. Wegen seines bedenklichen Gesundheitszustandes bewilligte Cosimo III. ihm am 22. November 1695, in seine Villa in Montecarlo, in der Nähe von San Giovanni Valdarno, umzuziehen, wo Lorenzini aber in totaler Kontaktsperre verbleiben sollte. Er lehnte den Gnadenakt ab und zog vor, in Volterra zu bleiben, jedoch frei, „die frische Luft zu genießen“. 12 Nach und nach wurde es ihm auch erlaubt, wieder Kontakt zur Familie sowie zu Mathematikern und anderen Gelehrten zu haben. Ab Januar 1703 trat er in Korrespondenz mit dem Abt Guido Grandi, einer der wichtigsten Figuren in der Rezeption von Leibniz´ Calculus in Italien. 13 Die Bibliothek der Universität Pisa bewahrt ca. 4.000 von verschiedenen Korrespondenten an Grandi gesendete Briefe, darunter 77 Briefe, die Lorenzini zwischen 10. Januar 1703 und 20. Dezember 1717 schrieb, und die seinen Dialog mit der neuen Mathematik darstellen. 14 Vermittler der Korrespondenz war höchstwahrscheinlich der Kamaldulenser Gualberto Cioppi, Grandis Ordensbruder im Florentischen Kloster Santa Maria 9 10 11
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Florenz, Archivio di Stato, Mediceo del Principato, Bd. 2313, Bl. 4r°, „perché più difficilmente possano confabulare insieme […] già che non vuole S. A. che habbino comunicazione con la gente di casa, né che sappiano quel che sia di loro“. Florenz, Archivio di Stato, Fortezza di Volterra, 1681–1695, Bericht vom 19. Juli 1683 (ungez.). Vgl. Gaspero Amidei: Delle fortificazioni volterrane libri due, Volterra 1864, S. 289–290, „Lorenzo […] chiese dei libri di matematiche e li ottenne, ma venuti sottocchio del Castellano, uomo zotico ed ignorante, dalla gran quantità di linee per lui misteriose, giudicò che fossero libri di magia e tutto spaventato glie fece levare“. Florenz, Archivio di Stato, Fortezza di Volterra, 1681–1695, Bittschrift vom 27. November 1695 (ungez.). Zur Rolle von Guido Grandi (1671–1742) in dieser Rezeption vgl. vor allem Clara Silvia Roero: La matematica tra gli affari di Stato nel Granducato di Toscana alla fine del XVII secolo, in: Bollettino di storia delle scienze matematiche, 11 (1991), S. 85–142; Silvia Mazzone, Clara Silvia Roero: Jacob Hermann and the Diffusion of the Leibnizian Calculus in Italy, Firenze 1997, bes. S. 241–293. Pisa, Biblioteca Universitaria, Carteggi del padre camaldolese e matematico Guido Grandi, Mss. 83–99 (= BUP, Carteggi Grandi), auch online verfügbar, http://www.internetculturale.it/it/41/collezioni-digitali/26259/. Lorenzinis Briefe sind in Ms. 92 eingebunden, Bl. 327– 481. Bis 6. Dezember 1706 schrieb Lorenzini aus Volterra (34 Briefe), danach aus Florenz (34 Briefe) und seiner Villa in Montecarlo (9 Briefe). Vgl. Luigi Tenca: Lettere di Lorenzo Lorenzini, in: Rendiconti dell’Istituto lombardo di scienze e lettere, Classe di Scienze A, 91 (1957), S. 893–909; Ders.: „Attività matematica di Lorenzo Lorenzini“, ebd., 92 (1958), S. 292–306. Das Ms. 92 enthält auch 15 Briefe von Stefano Lorenzini, geschrieben zwischen 19. Dezember 1706 und 16. Juli 1718 (ebd., Bl. 482–511).
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degli Angeli, und vormals Abt des Klosters Santi Giusto e Clemente in Volterra. 15 Er konnte daher über Lorenzinis mathematische Studien wohl informiert sein. Am 6. Januar 1703 schickte Grandi seinen ersten Brief nach Volterra. 16 Wie Lorenzini in seiner Antwort vom 10. Januar erklärte, hatte Cioppi ihm schon einige Werke von Grandi gesendet, „von denen ich andernfalls keine Nachricht haben konnte“, 17 und die er wegen Tiefgründigkeit der enthaltenen Spekulationen sehr geschätzt habe. Schwierig ist es hingegen, von seinen eigenen Schriften zu berichten, als Grandi ihm fragte. „Ich habe versucht, dem Otium“ – ein Euphemismus für seine Gefangenschaft in Volterra – „durch mathematische Spekulationen zu entkommen. Es ist wahr, ich habe viel geschrieben, aber das Ergebnis ist nur eine unförmige Ausgeburt“. Außerdem bekennt er seine Unfähigkeit zu verstehen, ob seine Ergebnisse inhaltlich 'neu' seien oder nicht, weil „ich mit den Elementen der Geometrie als einzigem Kapital und ohne Bücher spekuliert habe. Damit bewege ich mich wie ein Seefahrer ohne Kompass“. 18 Grandi wollte offenbar den hochtalentierten Lorenzini zur neuen Analysis bekehren, und im Juni 1703 sandte er ihm ein Exemplar seiner neulich erschienenen Quadratura circuli et hyperbolae, ein Werk, das – wie er stolz im Vorwort schrieb – die „speculationes a secretioribus Analyticae thesauris“ endlich verständlich und zugänglich mache. 19 Lorenzini las das Buch und las es wieder und konnte seine tiefe Bewunderung für „so schöne und der Achtung werte Spekulationen“, und „so fruchtbare Inventiones“ nicht verhehlen. Die „metodi algebratici“ empfand er aber als sehr fremd, und im Brief vom 8. Juni 1704 gibt Lorenzini zu, dass er den „metodo Algebratico“ nicht verstehen kann. Grandi solle sich darüber nicht wundern, weil „als ich in Volterra ankam (und es war im Jahre 1681), kannte ich nur die Geometrie der Elemente der Kegelschnitte, und etwas von den Werken von Archimedes, Torricelli, Cavalieri, Angioli, und meinem Lehrer Viviani“. Und „ich kenne nicht einmal ein Buch, woraus ich das Abc [des Calculus] erlernen kann“. 20 15 Notizen über den Abt Cioppi (verst. August 1703) in Gregorio Farulli: Istoria cronologica del nobile, et antico Monastero degli Angioli di Firenze, Lucca 1710, S. 143. 16 Lorenzini an Grandi, Volterra, 10. Januar 1703, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 329r°, „L‘onore, Che S:P:M:R: hà voluto farmi colla sua stimatissima delli 6 corrente, mi hà per una parte ripieno di confusione; per che ben conosco di non meritarlo; ma dall’altra banda mi hà anco ricolmo di consolazione“. Grandis Briefe an Lorenzini sind verloren gegangen; nur ein Fragment einer undatierten Abschrift ist aufbewahrt, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 99, Bl. 201r°. 17 Lorenzini an Grandi, Volterra, 10. Januar 1703, ebd., Ms. 92, Bl. 329r°, in Bezug auf „le sue opere, favoritemi dal Reverend.mo P. Abate Cioppi, e delle quali, per altro, io non averei notizia veruna“. 18 Ebd., Bl. 329r°–v°, „io hò procurato tenermi lontano dall’otio colla speculazione, e hò scritto assai: il tutto è però un parto informe […] se poi tra esse speculationi sianevi cose nuove, non potrei dirlo; conciossacche aver io speculato senz’altro Capitale, che degli Elementi della Geometria, e senza veruna comodità di libri, è stato cagione che io faccia come chi naviga senza Bussola“. 19 Guido Grandi: Quadratura circuli et hyperbolae per infinitas hyperbolas et parabolas geometrice exhibita, Pisis 1703, S. 11. 20 Lorenzini an Grandi, Volterra, 8. Juni 1704, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 355r°, „ella si prepari a usarmi compatimento adeguato, se io le dirò di non intendere quel metodo Algebratico
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Dennoch, auch wenn eher blindlings, versuchte Lorenzini, anhand von Grandi mitgeteilter Probleme sich zu üben, und „Sie müssen mir verzeihen, wenn ich in meinen Demonstrationen nicht in jenen knappen Formulierungen fortfahre, auf die Sie mich hingewiesen haben. Ein solcher Verlauf ist mir noch fremd, und ich tappe etwas im Dunkeln“. 21 Anderseits hatte er eine besondere Freude, „etwas von meinen geometrischen Spekulationen kommunizieren zu können, Spekulationen, die in Italien jetzt so wenig beachtet sind, und besonders hier, wo sie nur als Zeitverlust gering geschätzt sind oder ihre Nützlichkeit auf die Landvermessung beschränkt ist“. 22 Endlich hatte Lorenzini wieder einen Gesprächspartner gefunden. Im Brief vom 10. November 1705 sollte auch der Name von Leibniz erscheinen. Im Sommer 1703 hatte Grandi Antonio Magliabechi gebeten, ein Exemplar seiner Quadratura circuli et hyperbolae an Leibniz zu senden, und das Buch war von einem Brief begleitet, in dem er erklärt, dass das Werk „Tui calculi principiorum applicationem nonnullam continet (quae in Italia prorsus nova est)“. 23 Magliabechi konnte seine Kommission nicht sofort erledigen, und Brief und Buch konnten erst im Juli 1704 nach Hannover gesandt werden. 24 Leibniz bedankte sich bei Grandi am 11. Juli 1705 und kommunizierte ihm das Problem über die Transformation der algebraischen Kurven, das Johann Bernoulli 1703 im Journal des Sçavans vorgeschlagen hatte. 25 Grandi übermittelte das Problem an Lorenzini, der sich besonders geehrt fühlte. Obwohl er „die Armseligkeit meiner geometrischen Ausrüstung“ als für die „modernen geometrischen Spekulationen“ nicht adäquat hielt, ging er mit Enthusiasmus
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di cui ella si vale nella sua gratissima, ed in altre lettere, e nelle sue opere pubblicate […] E quel che è peggio io non so nemeno da qual libro apprendere se ne possa l’Abbiccì. E non si stupisca di questo, perche quando io venni a Volterra (che fù nell’81) io non avea altre notizie geometriche, che degli Elementi Conici, e qualche poco, ma poco bene dell’opera d’Archimede, Torricelli, Cavalieri, Angioli, e del Viviani mio maestro“. Lorenzini an Grandi, Volterra, 11. Januar 1705, ebd., Bl. 363r°, „mi do a credere, che ella mi compatisca se nel modo di spiegarmi io non cammino con quella brevità, che ella s’è compiaciuta additarmi; perche come altre volte le hò significato, io sono totalmente al buio di sì fatto modo di discorrere“. Ebd., „dall’altra godo estremamente di poter comunicare con guadagno a S:P: qualche cosa delle mie geometriche speculationi tanto poco, nel secolo presente, apprezzate in Italia, e spezialmente in questo luogo, ove non ne hà punto di notizia, e sono credute cose affatto disutili, o al più buone per l’Agrimensura“. Grandi an Leibniz, Pisa, 28. Juni 1703, GM IV, S. 209. Vgl. Magliabechi an Grandi, Florenz, 31. Juli 1703, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 93, Bl. 110r°, „Perché in questi tempi, i Forestieri non viaggiano, non hò avuto campo di mandare il libro […] al Sig: Liebnitz“; über die verspätete Sendung vgl. Magliabechi an Leibniz, [Florenz, Anfang – Mitte Juli 1704], A I, 23, Nr. 376, S. 527. Vgl. Leibniz an Grandi, Hannover, 11. Juli 1705, GM IV, bes. S. 212. Vgl. Clara Silvia Roero: Johann Bernoulli's and Leibniz’s Solutions to the 1703 Problem on the Transformation of Algebraic Curves, in: Herbert Breger (Hg.), Einheit in der Vielheit. Akten des VIII. Internationalen Leibniz-Kongresses, Teil 2, Hannover 2006, S. 848–855 (mit einem Hinweis auf Lorenzini, S. 850).
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an dieses mathematische Unternehmen heran. 26 In der Zwischenzeit hatte Grandi an Leibniz geschrieben, den Inhalt des Briefes werde er „amicis hujus scientiae studiosis communicabo“, und nennt – außer den Brüdern Manfredi, Vittorio Francesco Stancari, Giuseppe Verzaglia und Iacopo Panzanini – auch Lorenzini, „spero etiam accessurum, qui nunc lineari tantum geometria profundissima et subtilissima quaeque molitur“. 27 In Volterra verfasste Lorenzini verschiedene Lösungen des Problems, und verglich sie mit den von Grandi ausgearbeiteten Konstruktionen. Er freute sich daran, trotz der unterschiedlichen Methoden eine gewisse ´Kohärenz´ in Ergebnissen erkennen zu können, 28 auch wenn seine Lösungen viel länger seien, und die verwendeten Notationen irgendwie merkwürdig aussähen, „weil ich an die Praktik der Algebristen nicht gewöhnt bin“. 29 Am 17. Januar 1706 schrieb Lorenzini: Jetzt scheint es mir, dass ich etwas zu lernen beginne. Mit der höchsten Spannung warte ich auf die Konstruktionen, die Sie Herrn Leibniz, dem Förderer des Problems, gesendet haben. Und falls S:P: mir andere Sachen als Übung vorschlagen wollen, wäre es ein einzigartiger Liebesdienst. 30
26 Lorenzini an Grandi, Volterra, 10. November 1705, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 371r°, „troppo grande onore mi compatisce la P:S: invitandomi alla soluzione del Problema propostile dal Sig.re Leibnizio; sapendo ella la povertà della mia supellettile Geometrica“. 27 Grandi an Leibniz, Pisa, 1. November 1705, GM IV, S. 213. Die Universitätsbibliothek Pisa besitzt eine Kopie der Abschrift dieses Briefes, in der Grandi sich ausführlicher über Lorenzini äußert, „qui hactenus absque ulla analysis, solis rectis lineis, ipsoque loquendi circuitu priscis Geometris usitando, subtilissima quaeque molitur, nec tamen ab hujus Artis mysteriis cupescendi abhorret, cujus inventa subtilissima meritò suscipit, ac in pretio habet, contra quam alii veterum prolixas at limitatas methodos unicè demirantes, ab Analysis verò tam aversis ut illam palam irridere, ac Juvenes absterrere, ne ad nos deflectant ejus principiis initiandi, nostrisque studiis detrahere non vereantur, quae aequum est (in sui contemptus poenam) nobilissimae hujus scientiae fructibus perpetuo carere“ (BUP, Carteggi Grandi, Ms. 99, Bl. 193r°). Vgl. Amedeo Agostini: „Quattro lettere inedite di Leibniz e una lettera di Guido Grandi“, in: Archives internationales d’histoire des sciences, n.s., 6 (1953), S. 442; Clara Silvia Roero: Guido Grandi – Jacopo Hermann. Carteggio (1708–1714), Firenze 1992, S. 11f. 28 Lorenzini an Grandi, Volterra 12. Dezember 1705, ebd., Ms. 92, Bl. 376r°, „Con somma consolazione hò ricevuto, e letto questa mattina la gentilissima sua dei 5 del corrente, e specialmente nel fine, dove ella mi favorisce di una costruzione in proposito del Problema del Sig:re Leibnizio, alla quale è coerente una, che mi è venuto fatto ravvisare in questi giorni, quantunque più lunga“. 29 Ebd., Bl. 376v°, „Quei segni sopra le lettere […] non mi servono ad altro che per semplice distinzione di esse lettere da quelle che entrano in discorso: e se questo è mal fatto, la prego di dirmelo liberamente; perche io non hò questa pratica del costume degli Algebristi“. 30 Lorenzini an Grandi, Volterra, 17. Januar 1706, Bl. 380r°, „ adesso mi pare d’imparare qualche cosa. E starò attendendo con somma ansietà di vedere la sua costru.e inviata al Sig: Leibnizio promotore del sud.to Problema. E se avesse S:P: qualche altra cosa da propormi per mio esercizio, mi farebbe favore singolarissimo”.
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Bereits am 19. Januar konnte er eine Kopie jener heiß ersehnten Konstruktionen in der Hand halten. 31 Er ergriff die Gelegenheit, um über eine andere mögliche Lösung des Problems zu spekulieren, und „Sie werden erkennen, dass sie durch und durch von den Lehren abhängen, die ich aus Ihren Werken erlernt habe“. 32 In April 1706 bedankte er sich noch bei Grandi, dass er ihn in die Diskussion einbezogen habe. „Ich glaube, dass Sie eine Fundgrube für scharfsinnige Inventionen sind“. 33 Das „Problema del Sig.re Leibnizio“ sollte sicherlich die letzten Monate, die Lorenzini in Volterra verbrachte, in signifikanter Weise anfüllen. Denn nach dem Tode ihres ältesten Bruders Giulio Benedetto im Herbst 1706 konnten Lorenzo und Stefano Lorenzini am 14. Dezember endlich nach Florenz zurükkehren, um ihre Mutter zu versorgen. 34 Nachhause brachte Lorenzo auch die unzähligen Hefte und Blätter, die er im Gefängnis mit Theoremen und Demonstrationen angefüllt hatte, und ab 1709 bemühte er sich, sie zu ordnen. Einige Schriften wurden – wie er 1713 schrieb – „zum Feuer verurteilt“, 35 aber viele andere fing er an zu korrigieren und ins Reine zu schreiben, einschließlich die De Conicis, & Cylindricis sectionibus, & earum Solidis Libri XII., die er zwischen 1683 und 1695 im Gefängnis mit dem einzigen Kapital der reinen Elemente der Geometrie verfasst hatte, „weil dort Werke von jenen Fächern als Zauberei eingeschätzt geworden waren“. 36 Lorenzini bat Grandi, das Werk geduldig zu überlesen, was mindestens für die ersten Bücher tatsächlich geschah. 37 Der briefliche Austausch wurde besonders intensiv in den Jahren 1710–1713. Grandi sandte Exemplare einiger Werke, in denen er auf die geometrischen Spekulationen seines Briefpartners hinweist. Im Dezember 1710 bedankte Lorenzini sich für das Geschenk der zweiten Ausgabe der Quadratura circuli et hyperbolae, in der von Grandi gemeinsame Diskussionen über Leibnizens Problem angedeutet sind,38 31 Vgl. Lorenzini an Grandi, Volterra, 1. Februar 1706, ebd., Bl. 382r°, „Ricevo nella sua favoritissima dei 19 Gennaio le sue due costruzioni del Problema del Sig.re Leibnizio, delle quali mi favorisce S:P:“. 32 Ebd., „riconoscerà che ella dipende in tutto e per tutto dagli insegnamenti che hò appreso dalle sue opere“. 33 Lorenzini an Grandi, Volterra, 17. April 1706, ebd., Bl. 386r°. 34 Vgl. Lorenzini an Grandi, Florenz, 19. Februar 1707, ebd., Bl. 406r°, „il Seren.o Granduca s’è degnato graziarmi insieme con mio fratello della permanenza in Firenze per assistere ai bisogni di nostra Madre, e degli interessi domestici”. 35 Vgl. Lorenzini an Grandi, Florenz, 25. August 1713, ebd., Bl. 467r°. 36 Lorenzini an Grandi, Florenz, 18. Juni 1709, Bl. 413r°. 37 Vgl. z. B Lorenzini an Grandi, Florenz, 29. Juli 1709, Bl. 415r, „da ciò piglio motivo di andar più volentieri mettendo in ordine (per quanto il capo me lo permette) il secondo mio Libro delle sezzioni Coniche, dependente dal primo, ed elementare per i susseguenti, quali pure penso di andar poi ordinando, quando per altro io abbia la fortuna, che S:P: scorra con suo comodo il sud: secondo, e vi trovi motivo di approvarlo”. 38 Guido Grandi: Quadratura circuli et hyperbolae […] Editio altera auctior, et emendatior, Pisis 1710, Appendix II., S. 93, „Multiplicem hujus Problematis solutionem, tum D. Lorenzino communicavi (qui & ipse idem multo generalius solvere aggressus est, nam quaesitam curvam in data ad propositam curvam ratione construxit) tum eidem D. Leibnitzio statim transmisi“. Lorenzini kommentiert die im Appendix vorgestellten Lösungen in mehreren Briefen; vgl. z.B .
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während er im April in De infinitis infinitorum, et infinite parvorum ordinibus disquisitio geometrica mit größter Überraschung in Bezug auf die Propositio X. die Erwähnung seines Namens und seiner Schriften – „typis aliquando committeret!“39 – vorgefunden hatte. Nach 1713 wurde die Korrespondenz sehr unregelmäßig. Nur sechs Briefe aus den Jahren 1714–1717 sind erhalten, aus denen wir erfahren, dass Lorenzini sich endlich entschlossen hatte, etwas zu veröffentlichen, und zwar die erste von seinen sechs exercitationes geometricae. Text und Figuren sollten schon in November 1715 fertig sein, „aber ich denke, dass ich sie nicht aus meinen Händen geben könnte, ohne zuvor die Gelegenheit zu haben, Sie über einige Sachen zu befragen“, und er bat selbst zum Titel der Publikation um Grandis Stellungnahme. 40 Der letzte Brief ist vom 20. Dezember 1717. Lorenzini berichtet, dass Iacopo Panzanini – der Neffe und Erbe von Viviani – ihn besucht hat. Es war aber kein reiner Höflichkeitsbesuch: Panzanini hatte nämlich erfahren, dass er einen Traktat über die Dimension der Kegelschnitte geschrieben hatte, und wollte das Manuskript ansehen, höchstwahrscheinlich um zu kontrollieren, welche Materialen der bevorzugte Schüler seines berühmten Onkels benutzt hatte. „Ich wusste, dass mein Traktat von Vivianis Werk grundverschieden war, und reichte ihn ihm, damit er sehen konnte, woher ich gefischt hatte. Er war damit zufrieden“. 41 Nichts in diesem Brief kann erklären, warum danach die Korrespondenz plötzlich abbrach. Lorenzini hatte sich mit seiner üblichen Vertrautheit an den „Padre Guido“ gewandt, und darauffolgende Konflikte zwischen den Briefpartnern sind bis jetzt nicht bekannt. Vielleicht sind lediglich einige Briefe verloren gegangen, oder es hatte sich Lorenzinis Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Ehrbezeugungen sollten noch bis zum 16. Juli 1718 durch seinen Bruder Stefano weitergeleitet werden. 42
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die Briefe vom 27. Dezember 1710, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 429r°, und vom 7. April 1711, ebd., Bl. 433. Guido Grandi: De infinitis infinitorum, et infinite parvorum ordinibus Disquisitio geometrica, Pisis 1710, S. 67. Lorenzini bedankte sich am 19. April 1710, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 420r°–v°, „E però vero, che ella piglia un grosso sbaglio nello scolio a c: 67 trovando io verificarsi tutto l’opposto di quel, che ella asserisce di un tal Lorenzo Lorenzini“. Vgl. Lorenzini an Grandi, Montecarlo, 17. November 1715, ebd., Bl. 476r°, „Ricevo in villa la gratissima sua lettera de 12 del Corrente, alla quale rispondo, che io messi in ordine e feci le figure del mio opuscolo al quale andavo pensando dare il seguente titolo Exercitatio Geometrica circa Conicarum sectionum, conoidum ac sphaeroidium, curvaeque superficiei parabolici conoidis dimensionem, et circa inventionem centrorum gravitatis eorumdem solidorum. Auctore N.N. […] Ma io non penso di lasciarmela uscir dalle mani se prima non hò la fortuna di consultare con lei alcune cose. Intanto favorisca considerare il titolo, e dirmi liberamente suo parere“. Lorenzini an Grandi, Montecarlo, 20. Dezember 1717, ebd., Bl. 480r°, „il Sig.r Abate Panzanini venne da me, e comincio a dire d’aver sentito, che io avea fatto un trattato circa la dimensione delle sezzioni coniche; e che però bisognava vederlo per onde ch[´]io che sapeva, che esso trattato era molto diverso da quello del Sig:re Viviani glielo porsi d’avanti, affinche potesse vedere dove io avevo pescato; e in somma restò soddisfatto“. Vgl. Stefano Lorenzini an Grandi, Florenz, 16. Juli 1718, ebd., Bl. 510r°.
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Lorenzini starb am 6. April 1721 in Florenz. 43 Er konnte daher die Publikation seiner Exercitatio geometrica in qua agitur de dimensione omnium conicarum sectionum nicht mehr erleben, die erst im Herbst erschien. 44 Der Titel des Werkes weicht ab von dem vorläufigen, den Lorenzini 1715 Grandis Urteil vorgelegt hatte. 45 Wir wissen nicht, ob die endgültige Formulierung von Grandi empfohlen geworden war oder nicht: bisher schweigen die Quellen über dessen effektive Beteiligung an der Publikation der Exercitatio. Am 23. September beschränkt sich Giovanni Gaetano Bottari, Direktor der Stamperia Granducale, darauf, Grandi mitzuteilen, dass „das Buch von Lorenzini beendet ist, und jetzt haben wir das erste Blatt des Briefes von unserem Padre Rollo gedruckt“, 46 in Bezug auf die Dissertation des Mathematikers Celestino Rollo – einem Schuler von Celestino Galiani –, die in Briefform an Lorenzini die Exercitatio einleitet, 47 und in der seine Methode „sine ullo analyticae recentiorum artis adiumento“ besonders geschätzt wird. 48 Die Veröffentlichung der Exercitatio fand eine gewisse Resonanz. Im Giornale de´ Letterati d´Italia des Jahres 1723 erschien ein Nachruf auf Lorenzini, der auf die „langen und miserablen Widrigkeiten“ seines Lebens hinweist, in denen er jedoch seine geometrischen Studien nicht liegen gelassen habe. Er habe leider nur ein
43 Er wurde in der Kirche S. Michele degli Antinori (heute SS. Michele e Gaetano) begraben, und die von Anton Maria Salvini verfasste Epigraphe lobt seine mathematische Meisterschaft. Vgl. Pietro Antonio Burgassi: Sepoltuario delle chiese fiorentine, Florenz, Biblioteca Marucelliana, Ms. C.XLIV, Bd. 1, Bl. 212r°; Giuseppe Richa: Notizie istoriche delle chiese fiorentine divise ne’ suoi quartieri, Bd. 3, Firenze 1755, S. 228; Ezio Chini: La chiesa e il convento dei SS. Michele e Gaetano a Firenze, Firenze 1984, S. 247f.; Sara Ragni: I sepolcri monumentali nella Firenze del Principato (1600–1743), Firenze 2020, S. 53f.. 44 Lorenzo Lorenzini: Exercitatio Geometrica in qua agitur de dimensione omnium Conicarum sectionum, Curvae Parabolicae, curvaeque superficiei Conoides Parabolici […], Florentiae 1721. Die Ausgabe enthält als Frontispiz sein Kupferstich-Portrait. 45 Vgl. oben, Anm. 40. 46 Bottari an Grandi, Florenz, 23. September 1721, ebd., BUP, Carteggi Grandi, Ms. 85, Bl. 181v°, „Le do poi nuova come il libro del Lorenzini è terminato, e ora si stampa la lettera del nostro Padre Rollo, di cui n’è tirato il primo foglio“. Über Celestino Rollo oder Rolli (1697–1755), vgl. Angelo Fabroni: Historiae Academiae Pisanae, Bd. III, Pisis 1795, S. 418f. 47 Celestino Rollo, „Clarissimo Viro atque Egregio Geometra Laurentio Lorenzinio“, in: Lorenzini: Exercitatio geometrica (vgl. Anm. 44), S. XIII–XXXXIV. 48 Ebd., S. XIII. Vgl. auch Bottaris Vorwort zu „Geometriae Studiosis“, ebd., S. X, „quanto magis gloriam dum erit Lorenzinio nostro, qui non recentiorum adhibita Analysis, non infinite parvorum artificio, sed eadem qua Archimedis investigandi ratione usus [est]“. Es wäre interessant zu fragen, ob solche Belobigungen (und besonders die von Rollo) einen Seitenhieb auf Grandi verbergen, fast eine Vorwegnahme der Auseinandersetzung, die 1724–1725 zwischen Rollo und Grandi entstehen sollte, und genau auf einigen in Rollos Episteln entdeckten Fehlern gründet, wie Grandis Briefwechsel mit Celestino Galiani beweist. Vgl. Franco Palladino, Luisa Simonutti (Hg.): Celestino Galiani – Guido Grandi. Carteggio (1714–1729). Firenze 1989, bes. S. 222–242.
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Werk veröffentlichen können, in dem er „die Lehre von den Kegelschnitten überarbeitete, und eine neue Linie fand […] und alles nach der Methode der Antike: was in unserer Zeit noch mehr zu bewundern ist“. 49 Außerdem wurde das Werk von Christian Wolff in den Acta Eruditorum vom Februar rezensiert. 50 Die Besprechung beginnt mit dem Namen von Viviani, der „methodum demonstrandi veterum linearem excoluit in eaque excelluit“, und Lorenzini – „dignus tanto Praeceptore discipulus“ – tritt in dessen Fußstapfen. In der Tat, löst er doch „per lineares demonstrationes problemata, qualia hodie per artem analyticam eruuntur“. 51 Schließlich deutet Wolff die fünf anderen noch unveröffentlichten exercitationes an, die laut Celestino Rollo noch mehr Inventiones enthalten sollten, „earum tamen argumenta minime recenset“, 52 eine Kritik, die ein gewisses Interesse des Rezensenten erweist. Weitere Verlagsinitiativen sollten jedenfalls nicht folgen. Am 28. August 1732 vermachten Lorenzinis Erben der Biblioteca Magliabechiana – der heutigen Nationalbibliothek Florenz – vier Bände, die seine De sectionibus conicis, atque cylindricis Libri XII. enthalten, sowie die sechs exercitationes, von denen nur die erste 1721 zum Druck gebracht worden war. 53 Die Handschrift der De sectionibus conicis beginnt mit einem berührenden Brief, mit dem Lorenzini sein Werk den Brüdern Stefano und Giovanni Battista anvertraut: Ich habe dieses Werk […] verfasst, während ich in der Fortezza von Volterra war, und es mir gelang, es ohne Bücher zur Verfügung zu verfertigen, wie Ihr wohl wisst. Deshalb halte ich es in besonderer Affektion, und mit besonderer Sorge empfehle ich es Euch. Gebt Euch alle Mühe, damit es nicht verloren geht, oder dass es einen Adoptivvater findet, unter der Bedingung, dass es in treue Hände übergeht […] Ich weiß, dass heute die geometrischen Spekulationen andere Wege beschreiten, und daher können die Wege, denen ich gefolgt bin, nicht willkommen sein; dennoch könnte [mein Werk] eine gewisse Nützlichkeit haben. 54 49 Giornale de´ Letterati d’Italia. Tomo Trentesimoquarto, Venezia 1723, S. 289f., „Fu, quasi finchè visse, agitato da lunghe e penose avversità […] in mezzo a quelle non mai si scordò de’ suoi studj geometrici, intorno a’ quali ha lasciato molte cose inedite. Una sol’opera è uscita dopo la sua morte, in cui ha rifatta tutta la materia conica, e v’ha trovato nuove linee […] e tutti ciò col metodo degli antichi: cosa che a nostri tempi è più mirabile“. 50 Acta Eruditorum Anno MDCCXXIII publicata. Calendis Februarii, Lipsiae 1723, S. 73f.. Zur Identität des Rezensenten vgl. Hubert A. Laeven, Lucy J. M. Laeven Aretz, The Authors and Reviewers of the Acta Eruditorum 1682–1735, Göttingen 2014, S. 88. http://webdoc.sub.gwdg.de/pub/mon/2014/laeven.pdf. 51 Acta Eruditorum (wie Anm. 50), S. 73. 52 Ebd., S. 74. 53 Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Mss. II.IV.219–222. 54 Ebd., Ms. II.IV, 219, Bl. 1r°–v°, „Questo Trattato Geometrico […] fu da me composto nel tempo che io dimorava nella Fortezza di Volterra, e mi riuscì condurlo a quel segno che egli è, senza comodità di libri, come voi ben sapete. Il che mi da motivo di riguardarlo con qualche affetto, e di raccomandarlo con qualche premura, acciò procuriate che non vada a male, o non trovi qualcheduno che se lo adotti per proprio figlio; ma che rimanga in mano di persona di tutta integrità. […] Io so che in oggi si battono altre strade nelle Speculazioni Geometriche, e conseguentemente possano riuscire non molto gradite le vie da me prese; ma non è per questo che non se ne ricavi molta utilità“.
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* Der Fall von Lorenzo Lorenzini stellt sich als ganz außergewöhnlich in der Italienischen Rezeption von Leibnizens Calculus dar. Kein Wunder, waren doch die Bedingungen seines Lebens selbst ganz außergewöhnlich: ein brillanter, vielsprechender junge Mathematiker, der 1681 plötzlich in eine dunkle und feuchte Gefängniszelle geworfen wurde, in der er ohne jeden Kontakt bis 1695 blieb, als ihm erlaubt wurde, nach und nach in die Welt zurückzukommen. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte er – hauptsächlich durch Guido Grandi – erfahren, wie und inwiefern die Mathematik mittlerweile verändert war. Die ersten Jahre der Korrespondenz mit Grandi zeigen, wie wissbegierig er war, und wie er versuchte, mindestens die Grundprinzipien der Analysis zu lernen. Jedoch hielten ihn seine Kränklichkeit und die wachsende Augenschwäche, als Auswirkung der Dunkelheit seiner Gefängniszelle, vom intensiven Lesen und Studieren ab. 1704 teilt Grandi ihm mit, dass die Werke von Pierre de Fermat auch in Florenz zu erwerben sind. Die Antwort ist vielsagend: „bisher wurde ich gezwungen, ohne Bücher zu studieren. Jetzt entschließe ich mich freiwillig, das genauso fortzusetzen“. 55 1710 schrieb er, dass er meistens mit geschlossenen Augen bleiben müsse, wegen einer schmerzhaften Fluxion: dennoch könne er innerlich seine Spekulationen fortsetzen, und „genau in diesen Tagen ist eine Kurve durch meinen Kopf gegangen, deren Raum – ich vermute, oder eigentlich bin ich dessen sicher – zur Quadratur der Hyperbel nützlich sein könnte“. 56 Lorenzini zog es vor, Probleme zu lösen, indem er auf die Instrumente vertraute, die sein Überleben in Volterra irgendwie ermöglicht hatten: Papier, Tintenfass, Feder und die geometrischen Kenntnisse aus seiner Jugendzeit. Demgegenüber, „erlaubt mein schlechter Gesundheitszustand“ – schreibt er 1704 an Grandi – „mir nicht, zu machen, was mein Wille begehrt“. 57 Noch ausdrücklicher äußerte er sich im Februar 1705: „Wenn ich nicht so alt wäre, würde ich hoffen, dass ich im Stande wäre, mich mit der Analysis zu beschäftigen, die ich nach den wenigen von Ihnen gezeigten Aufklärungen hoch schätze.“ 58 Diese Behauptungen sind vielleicht der beste Beweis für die Faszination dieses Geometers more veterum von den „cose analitiche“. 59 55 Lorenzini an Grandi, Volterra, 26. Oktober 1704, BUP, Carteggi Grandi, Ms. 92, Bl. 357r.° 56 Lorenzini an Grandi, Florenz, 2. August 1710, ebd., Bl. 422r°, „fino a ora sono stato la maggior parte del tempo cogli occhi chiusi a cagione d’una flussione […] e come che è cosa impossibile lo starsene senza pensare a nulla; benche si tengano gli occhi serrati; in questo tempo mi è passata per la mente una linea curva, il cui spatio sembrami, anzi tengo per certo, che serva alla quadratura dell’Iperbola“. 57 Lorenzini an Grandi, Volterra, 8. Juni 1704, ebd., Bl. 355r°, „la poca sanità non permettermi far quel che la volontà bramerebbe“. 58 Lorenzini an Grandi, Volterra, 15. Februar 1705, ebd., Bl. 365r°, „Se io non fossi tanto avanzato cogli anni, spererei che mi riuscisse applicarmi all’Analitica, della quale ho formato alto concetto per quei pochi lumi che S:P: […] s’è compiaciuta additarmi“. 59 Zur Benutzung des Ausdrucks vgl. Lorenzini an Grandi, Florenz, 27. Dezember 1710, ebd., Bl. 429r°.
LEIBNIZ’ SCHEITERN IM OBERHARZER SILBERBERGBAU Neu betrachtet unter dem Gesichtspunkt eines modernen Projekt- und Innovationsmanagements Friedrich-Wilhelm Wellmer, Hannover Jürgen Gottschalk, Hamburg Ariane Walsdorf, Hannover 1. Vorbemerkung Im Juni 1686 wurde die Idee der „Neuen Treibkunst“ von Gottfried Wilhelm Leibniz, um energieeffizienter zu werden, in Anwesenheit des Berghauptmanns von Ditfurth aber in Abwesenheit von Leibniz dem Praxistest unterworfen. Das Konzept der „Neuen Treibkunst“ war, in einem Wasserrad die beiden im Bergbau notwendigen Fördervorgänge – Pumpen von Wasser und Fördern von Erz – zu kombinieren, für die normalerweise zwei Wasserräder notwendig waren. Als dieses Experiment scheiterte und Leibniz einen neuen Versuch in seiner Anwesenheit forderte, antwortete der Berghauptmann von Ditfurdt, dass „undt waß gestern geschehen auch am Montag würde geschehen seyn“. 1 Dieser Ausspruch zeigt klar, dass es, jedenfalls auf der Bergbau-Management-Ebene, noch keine Vorstellung von Lerneffekten gab. Welche Auswirkungen dieses ‚Unwissen’ zum Scheitern von Leibniz im Oberharzer Silberbergbau leistete, soll nach der Beschreibung der Rahmenbedingungen, im Folgenden untersucht werden. 2. Einführungen 2.1 Lerneffekte Die Erkenntnis von Lerneffekten und deren Quantifizierung ist relativ jung. 1922 stellte man bei der Produktion von Flugzeugen in den USA fest, dass die Montagezeit mit der Zeit sank. Man führte das darauf zurück, dass mit der Wiederholung von Fertigungsvorgängen Lerneffekte wirksam wurden. Wright formulierte diese
1
Leibniz A I,4 N. 231, N. 232, S. 274–276; Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra: Des Hofraths von Leibniz mißlungene Versuche an Bergwerksmaschinen des Harzes, in: Bergbaukunde Bd. 2, Leipzig 1790, S. 299–315, hier S. 303f.
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Erfahrung 1936 als statistisch verifizierbares Gesetz („Wright’sches Gesetz“), 2 wonach die Anzahl der zur Produktion von Flugzeugen benötigten Fertigungsstunden bei jeder Verdopplung des kumulierten Produktionsvolumens um einen konstanten Prozentsatz abnimmt. Ähnliche Effekte werden auch in anderen Wirtschaftszweigen beobachtet. Wagner rekonstruierte derartige unterschiedliche Lernkurven für zwei verschiedene Abbauperioden der 1992 stillgelegten Blei-Zink-Grube Grund im Harz (Abb.1). 3
Abb. 1: Zeitaufwand pro Tonne Roherzförderung im Erzbergwerk Grund, Harz (Wagner 1999, wie Anm. 3, S. 82 auf Basis der Daten in Christoph Bartels: Das Erzbergwerk Grund, Goslar 1992; mit Genehmigung des Autors).
Derartige Lernkurven, die sich aus dem Lernen während eines laufenden Betriebes entwickeln, verlaufen sigmoidal, wie in Abb. 2a gezeigt. Sie verlaufen erst flach („aller Anfang ist schwer“), versteilen sich dann und verflachen sich am Ende. In der englischen Sprache gibt es dafür Begriffe: “to be low on the learning curve, to be high on the learning curve“.
2 3
Theodore Wright: Factors affecting the cost of airplanes, in: Journal of the aironautical science (U.S.), Vol. 3. Nr. 4. Februar 1936, S. 122–128. Markus K. F. Wagner: Ökonomische Bewertung von Explorationserfolgen über Erfahrungskurven, in: Geologisches Jahrbuch, Reihe H, Heft SH 12 (1999).
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Abb. 2: Lernkurven a: normale Lernkurve, b: J-Kurve (Wellmer 2020, wie Anm. 80).
Gibt es Anlaufschwierigkeiten und wird es erst schlechter, bevor es besser wird, fängt die Kurve mit einer Delle an. Die Lernkurve folgt einer J-Kurve, wie sie in Abb. 2b gezeigt wird. Oft „sterben“ die Projekte auch in diesem Tal, das daher im Projekt- und Innovationsmanagement auch als „Tal des Todes“ bezeichnet wird. 4 Dies ist ein Problem, auf das Leibniz mit seinen neuen Ideen stieß (siehe Vorbemerkung) und bei denen er auf wenig Verständnis bei den Bergleuten im Harz traf. Leibniz’ Ideen und Initiativen für die technische Verbesserung des Wasser- und Erzförderung bis 300 m Tiefe waren grundlegend und neuartig; sie brachten Entwicklungen in Gang, die auch heute noch bedeutend sind. Das Konzept der Unterkette zum Gewichtsausgleich und der konischen Trommel zum Momentenausgleich wurden später Stand der Technik. Mit der Idee des Rezyklierens der Aufschlagwässer mit Hilfe der Horizontalwindmühle und von Sparteichen nahm Leibniz die Idee der Pumpspeicherkraftwerke vorweg. „Die Verknüpfung neuer mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit sehr nützlichen handwerklich-technischen Erfindungen für verbesserte oder neue Maschinen und Verfahren war ganz im Sinne seines Postulats Theoria cum praxi seiner Zeit weit voraus“. 5
4 5
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Von der Idee zum Markterfolg. 14. ZIM Netzwerktagung Berlin 9.12.2015. Erwin Stein, Friedrich-Wilhelm Wellmer, Jürgen Gottschalk: Leibniz und der Oberharzer Silberbergbau – Technische Erfindungen und Verbesserungen, in: Unimagazin – Forschungsmagazin der Universität Hannover, Ausgabe 01/02 2016, S. 34–37.
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Seiner Zeit voraus im Gegensatz zu den Bergbeamten war er auch mit der Erkenntnis, dass neue Ideen eine Lernzeit für die praktische Umsetzung brauchen, worauf am Schluss eingegangen wird. 2.2 Leibniz’ Postulat „Theoria cum praxi“ Breger beschreibt, 6 wie Leibniz sich sein ganzes Leben bemühte, das Wissen von Handwerkern und Praktikern einzubinden, um praktisch anwendbare Fortschritte in Wissenschaft und Technik zu erreichen. Heute bezeichnet man diese Kooperation von Wissenschaft und Praxis als transdisziplinär, wieder als ein modernes Konzept betrachtet, das z.B. in den Umweltwissenschaften eingesetzt wird 7 oder 2002 zur Gründung von acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften führte. Auch in der augenblicklichen Diskussion der Exzellenzausrichtung deutscher Universitäten spielt es eine Rolle. 8 Schon als Fünfundzwanzigjähriger empfiehlt Leibniz 1671 in dem Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societät in Teütschland zu auffnehmen der Künste und Wißenschaften 9 das Vertrauen der einfachen Leute zu erwerben, um „ […] ihre wißenschafft der simplicien, die bisweilen bey Bauern und alten weibern beßer als bey gelehrten, und andere ihre erfahrung in Künsten […] vorhanden sei“. Als Leibniz in seinem Pariser Aufenthalt 1672–1676 gleich mit seinen Arbeiten an der Vier-Spezies-Rechenmaschine begann, erkannte er sofort das Potential der Pariser Uhrmacher, das er nutzen wollte. So schrieb er im April 1673 an Christian Habbeus: 10 Wie nun Paris die Metropole der Galanterie ist, so wäre es wichtig, von den Arbeitern hier das Feine und Delikate ihrer Geheimnisse zu fischen, was man zuweilen durch Geschicklichkeit, mit Anwendung einer kleinen Aufmerksamkeit, tun kann. [...] Was mich betrifft, so habe ich Gelegenheit gehabt nicht nur mit einer Menge guter Handwerker umzugehen, sondern auch etwas aus ihnen herauszuziehen.
6
Herbert Breger: „…es weis bisweilen ein solcher Mensch mehr als mancher Gelehrter“, in: Unimagazin – Forschungsmagazin der Universität Hannover, Ausgabe 01/02 2016, S. 30–33. 7 Roland W. Scholz: Environmental Literacy in Science and Society – From Knowledge to Decisions. Cambridge 2011, S. 373–404; Ders.: The normative dimension in transdisciplinarity, transition management, and transformation sciences: New roles of science and universities in sustainable transitioning, in: Sustainability, 9, 991 (2017). doi:10.3390/su9060991. 8 Bruno Frey, Margit Osterloh: Deutschland braucht kein Harvard, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.12.2020, S. 18. 9 A IV,1 N. 43, S. 530 u.541, auch Charlotte Wahl: Naturwissenschaft und Akademiegedanke in Leibniz‘ Mainzer Zeit, in: Irene Dingel, Michael Kempe, Wenchao Li (Hg.): Leibniz in Mainz (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 126), Göttingen 2019, S. 209–236. 10 A I,1 N. 277, S. 416f.; hier übersetzt aus dem Französischen.
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Diesen transdisziplinären Ansatz wollte Leibniz auch im Harzer Bergbau anwenden. So schrieb er vor seinen praktischen Arbeiten im Harz im Februar 1679 in einer Denkschrift (in französischer Sprache) an Herzog Johann Friedrich: 11 Denn der Harz ist eine wahre Quelle der Erfahrungen und Entdeckungen in der Mechanik und der Physik. Ich mache mich stark, Monsieur, mit 5 oder 6 Praktikern aus dem Harz mehr entdecken zu können als mit 20 der größten Gelehrten Europas.
Man muss wohl davon ausgehen, dass Leibniz hoffte, nicht nur auf hohe fachliche Kompetenz im Harz, sondern auch auf ein offenes und ähnliches geistig anregendes und produktives Klima zu treffen, wie es z.B. 170 Jahre später im 18. Jahrhundert in England, Frankreich, Deutschland und den USA herrschte, als sich die industrielle Entwicklung stark beschleunigte, ein fruchtbares Zeitalter, das auch als „Metallurgical Age“ 12 bezeichnet wird. Wie unten dargestellt, wurde Leibniz in dieser Hinsicht enttäuscht. In dem „Metallurgical Age“ passierten in kürzester Zeit durch das Zusammenspiel von Theorie und Praxis nicht selten zur gleichen Zeit unabhängig an unterschiedlichen Orten wichtige Entdeckungen und Entwicklungen. Ein gutes Beispiel ist die Erfindung der Schmelzfluss-Aluminiumelektrolyse 1886 in den USA durch Charles Martin Hall und unabhängig in Frankreich durch Paul Héroult. Durch diese Erfindung und die Entwicklung des ersten elektrischen Generators zur billigen Stromerzeugung schon 1866 durch Werner von Siemens auf der Basis des von ihm wissenschaftlich begründeten dynamoelektrischen Prinzips wurde Aluminium, das vorher teurer als Gold war, zu einem Massenmetall, heute billiger als Kupfer und mengenmäßig das zweitwichtigste Metall nach Eisen. 13 Ein gutes Beispiel für die gegenseitige Befruchtung, des gegenseitigen Lernens, während der Arbeiten von Leibniz im Harz ist die Konzeptentwicklung einer selbsttätig und regeltechnisch automatischen Drehung der Windmühlenhaube, damit die Flügel immer im Wind stehen. Im Laufe der Arbeiten an der vertikalen Windmühle, über die unten berichtet wird, gaben die Harzer Bergleute als Praktiker 1682 zu Protokoll: 14 Die Geschworne bezeugen, daß zu umdrehung der windmühle [Windmühlenhaube] iedesmahl mehr alß 2 personen gebraucht worden, solte ein leichterer weg gefunden seyn, were eß guth, man hette aber selbigen noch nicht gesehen Die menge der personen aber, so zu Zieh- undt stoßung der teiche nötig bleibt dennoch, indem die verenderung des windes sich täglich ja stündlich zuträget undt ist unmuglich selbige durch ordinarie-gruben Steygere undt Bediente bey teichen undt gräben verrichten zulaßen, wie proponente [Leibniz] vermeinet. 11 A I,2 N. 111, S. 130: „Car le Harz est uns vraye source d’experiences et découuertes en mecanique et en physique; et je me fais fort, Monseigneur, de decouurir plus avec cinq ou six hommes de practique, qvi pourrant avoir de l’employ dans ses pays la, qu’avec une vingtaine de plus scavans de l’Europe”. 12 Quentin R. Skrabec Jr.: The Metallurgic Age – The Victorian Flowering of Invention and Industrial Science, Jefferson, NC 2006. 13 Friedrich-Wilhelm Wellmer, Roland W. Scholz: Peak Minerals: What we can learn from the history of mineral economics and the cases of gold and phosphorus, in: Mineral Economics 30, 2 (2017), S. 73–93. 14 „Actum Claußthal in Christian Ludwiger Zechenhaus den 28.ten 7bris 1682“, Ad 9. Acta 27, Fach 761, Blatt 644 r°, Landesbergamtarchiv Clausthal, Claußthal 1682.
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Leibniz greift diese Anregung („es sollte ein leichterer Weg gefunden werden“) auf und entwickelt das Konzept für die automatische Drehung der Windmühlenhaube (Abb. 3).
Abb. 3: Umzeichnung der von Leibniz zwischen 1682 und 1684 angefertigten Skizze für eine Konstruktion einer selbsttätigen Windmühlenhaube in die stets von vorn auf das Flügelkreuz gerichtete Windrichtung (Quelle LH 38, Bl. 314 v°, Umzeichnung J. Gottschalk).
Die Zitate oben zeigen, dass Leibniz von den Praktikern lernen wollte. Transdisziplinär im heutigen Verständnis ist mehr. Es ist ein gemeinsam beschrittener, partizipatorischer Lernprozess, der Zeit erfordert. 15 Wie unten gezeigt wird, war Leibniz sich dessen bewusst. Zumindest im Bergbau gibt es jedoch keinen Hinweis, dass er einen Praktiker auf seinem Lernprozess mitnehmen konnte. 2.3. Das technische Umfeld, auf das Leibniz im Harz traf Das Bergbaurevier mit seinem Silberbergbau im Harz war das einzige Industriegebiet in den Welfenterritorien. Günther Fettweis, der früher Bergbauprofessor in Leoben/Österreich und der Doyen der deutschsprachigen Bergbauwissenschaften war und sich intensiv mit Leibniz’ Tätigkeit im Bergbau beschäftigte, hält den Harz im 17. Jahrhundert für eines der vier wichtigsten Bergbaugebiete Europas neben Tirol (mit Schwaz), dem slowakischen Erzgebirge (mit Schemnitz, heute Banska 15 Scholz: Environmental Literacy (wie Anm. 7), Fig. 15.1, S. 375.
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Stavnica) und dem böhmischem und sächsischem Erzgebirge (mit Joachimsthal und Freiberg), wenn nicht das bedeutendste überhaupt. 16 Wie hoch der Stand der Harzer Ingenieurskunst war, zeigte sich z.B. 1720, also vier Jahre nach Leibniz’ Tod, bei der Herrenhäuser Fontäne im Garten des Herrenhäuser Schlosses in Hannover der Kurfürsten von Hannover und gleichzeitig Könige von England. König Georg I. von England wünschte sich eine möglichst hohe Fontäne. Englische Ingenieure schafften nur 5 m Höhe. Erst Harzer Technikern gelang es, etwa einen Druck von etwa 4 atü abzufangen, so dass eine Fontäne von 35 m und damit die höchste in Europa erzeugt werden konnte. 17 Ein weiteres Beispiel für das hohe technische Können der Harzer Bergleute wäre die Einschaltung von Clausthaler Markscheidern, 18 um die Leine im Zusammenhang mit der Gestaltung der Herrenhäuser Gärten (besonders für Wasserspiele und die Große Fontäne) sehr exakt zu nivellieren.19 Für den Antrieb der Wasserräder im Harzer Bergbau zum Betreiben der Pumpen und zur Erzförderung musste immer genügend Aufschlagwasser zur Verfügung stehen. Dazu wurden im Harz zur Sammlung von Wasser Hanggräben angelegt. Um keine Höhe (potentielle Energie) zu verschenken, mussten sie über Kilometer fast parallel zu den Höhenlinien mit der geringen konstanten Neigung von 3‰ (im Extremfall 1‰, d.h. 1 cm Neigung auf 10 m!) aufgefahren werden. 20 Leibniz meinte, seine Idee „Theoria cum praxi“ im Clausthaler Silberbergbau umsetzen zu können. Bergbau und Hüttenwesen waren die damaligen HightechIndustrien. Er, der junge Leibniz mit bis dahin nicht einem einzigen Tag Erfahrung im Bergbau, hatte sogar die Stirn vorzuschlagen, ihn sozusagen zum Oberingenieur aller Clausthaler Gruben (Maschinendirektor direkt unterhalb des Berghauptmanns) zu bestellen, worauf der Hof in Hannover aber nicht einging. 21 Dieser Vorschlag von Leibniz an den Hannoveraner Hof, der vermutlich im Harz bekannt wurde, belastete die Zusammenarbeit mit den Harzer Bergbaupraktikern wahrscheinlich von Anfang an, nur eine von vielen Schwierigkeiten, auf die Leibniz im Harz stieß. 16 Günther B. L. Fettweis: Zur Geschichte und Bedeutung von Bergbau und Bergbauwissenschaften. 21 Texte eines Professors für Bergbaukunde zur Entwicklung des Montanwesens in Europa und speziell in Österreich, Wien 2004. 17 Johann Friedrich von Uffenbach: Reisetagebuch, Nieders. Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Codex Uffenbach, 1728, S. 44; Irmgard Lange-Kothe: Die Wasserkunst in Herrenhausen, in: Hannoversche Geschichtsblätter, N.F. 13 (1960), S. 119–150; Bernd Adam: Die Große Fontäne in Herrenhausen. Barocke Herrschaftslegitimation durch Beherrschung von Natur und Technik, in: Joachim Ganzert; Inge Nielsen (Hg): Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftslegitimation, Berlin 2015, S. 219–230; Simon Benne: Wasser mit Strahlkraft, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.5.2020. 18 Die Vermesser im Bergbau heißen Markscheider. 19 E. Schuster: Kunst und Künstler in Hannover zur Zeit des Kurfürsten Ernst August, in: Hannoversche Geschichtsblätter 7 (1904), S. 1–11, 49–86, 97–114, 145–214, hier S. 209. 20 Friedrich-Wilhelm Wellmer, Wolfgang Lampe (†), Jürgen Gottschalk, Ariane Walsdorf: Auf den Spuren des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz im Harz, Kurzführer, ClausthalZellerfeld/Stuttgart 2020, S. 46. 21 A I,2 N. 111, S. 129: „Et que pour cela V.A.S. créeroit des lors une nouvelle charge au Harz de Directeur des machines et autres artifices, qvi suiura immediatement celle du Berghauptmann“.
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3. Bisherige Betrachtungen über Leibniz’ Scheitern Leibniz’ Scheitern im Oberharzer Silberbergbau ist vielfach beschrieben worden. 22 Fettweis fasste das für Leibniz schwierige Versuchsumfeld für seine Versuche in acht Punkten zusammen und erläutert an ihnen die Schwierigkeiten: 23 (1) Zwei Herzöge aus Auftraggeber, (2) Leibniz als Auftragnehmer, (3) Bergbau als Arbeitsplatz, (4) Bergbehörde als Auftragspartner, (5) Mitarbeiter, darunter einfache Bergleute, (6) Bergwerk Catharina als Versuchsbetrieb, (7) Harzklima als Arbeitsbedingung, (8) Stand der Technik als Arbeitsbedingung. Es lassen sich weitere, oft ganz spezifische Schwierigkeiten herausarbeiten, die zu Fehlschlägen beitrugen, z.B. die Tatsache, dass die oberen Bergbeamten nicht nur Aufsichtsbeamte waren, sondern auch gleichzeitig oft Gewerke, d.h. Bergbaueigentümer, und es dadurch zu Interessenkonflikten kam. 24 Oder die Tatsache, dass es im Oberharz keine senkrechten Schächte gab, sondern die Schächte den zwar steilstehenden, aber doch geneigten Gängen folgten, sie also tonnlägig waren, und die nicht unter Spannung stehende Unterkette sich somit immer wieder verdrillte und verhakte. 25 Sicherlich spielten auch klimatische Schwierigkeiten eine Rolle, obwohl man an kalte Winter gewöhnt war. Es war die Zeit der „Kleinen Eiszeit“. 26 Die kältesten Winter im 17. Jahrhundert waren 1684 und 1695, als Leibniz im Harz tätig war. 27 Viele Schwierigkeiten lassen sich jedoch auf zwei Grundprobleme zurückführen: – Leibniz’ Schwierigkeiten im Umgang mit den Oberharzer Bergleuten, – Materialprobleme, wobei diese Probleme sich wohl auch häufig auf zwischenmenschliche Probleme zurückführen lassen. 3.1 Verhältnis zu den Clausthaler Bergbeamten und Handwerkern Das mit den Arbeiten ab 1680 an der Vertikalwindmühle auf der Grube Catharina sich schnell verschlechternde Verhältnis zwischen Leibniz und den Clausthaler
22 Ulrich Horst: Leibniz und der Bergbau: zur 250. Wiederkehr seines Todestages am 14. November 1966, in: Der Anschnitt 18 (1966), S. 36–51; Jürgen Gottschalk: Technische Verbesserungsvorschläge im Oberharzer Silberbergbau, in: Karl Popp, Erwin Stein (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Bilder und Texte zur LeibnizAusstellung 2000, Hannover 2000, S. 109–128; Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz, München 2000; Fettweis (wie Anm. 14); Herbert Dennert: Gottfried Wilhelm Leibniz und der Bergbau im Oberharz, in: Der Anschnitt 60 (2008), S. 94–100; Friedrich-Wilhelm Wellmer, Jürgen Gottschalk: Leibniz‘ Scheitern im Oberharzer Silberbergbau – neu betrachtet, insbesondere unter klimatischen Gesichtspunkten, in: Studia Leibnitiana 42 (2010), S. 186– 207. 23 Fettweis (wie Anm. 16), S. 222. 24 Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 22), S. 190. 25 Ebd., S. 201. 26 Ebd., S. 192. 27 Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas, München 2007, S. 126.
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Bergbeamten 28 spiegelt sich gut in oft zitierten Kommentaren der beiden Kontrahenten wider. Leibniz warf den Bergbeamten Rückständigkeit, Pflichtvergessenheit und Vetternwirtschaft vor: „Nun ist der Harz ein rechtes Theatrum der Natur und Kunst, welche alda gleichsam mit einander streiten; die Leute aber sind gar nicht curios, sondern vielmehr allen untersuchungen zu wieder“; 29 die Bergleute bezeichneten ihn als einen „gefehrlich Mann mit welchen ubel zu tractieren“ sei. 30 Es muss für Leibniz eine große Enttäuschung gewesen sein, dass sein transdisziplinärer, partizipatorischer Ansatz, der in dem oben zitierten Memorandum an Herzog Johann Friedrich seinen Ausdruck findet, auf so wenig Gegenliebe stieß. Wellmer und Gottschalk 31 arbeiteten heraus, dass Leibniz kein Teamarbeiter war und den wahrscheinlich aus dem mittelalterlichen alpinen Bergbau stammenden Sinnspruch „Bergbau ist nicht eines Mannes Sach“, d.h. nur mit Teamarbeit kann Bergbau erfolgreich sein, nie verinnerlichte. So sehr Leibniz seiner Zeit voraus war, so sehr war er menschlich doch ein Kind seiner Zeit, des Absolutismus. Er hatte einen Vertrag mit seinen Landesherren, also mussten ihm alle zuarbeiten. Er hatte nie verstanden, die Techniker unterhalb der obersten Hierarchie in der Bergbehörde in Clausthal, die wirklich für die technische Detailumsetzung entscheidend sind, für sich zu gewinnen. Das ist eine Haltung, die dem oben erwähnten Teamgedanken im Bergbau widersprach. Dass eine transdisziplinäre Zusammenarbeit natürlich nur auf freiwilliger Basis geschehen kann, ist selbstverständlich. Bei den Arbeiten an den Windmühlen meinte Leibniz aber Druck von oben einsetzen zu müssen. So schrieb er am 23. Januar (2. Februar) 1685 an das Bergamt in Clausthal: 32 (5°) daß ihnen ernstlich anbefohlen und eingebunden werde, bey ihren eydes pflichten ohne einige passion und neben=absehen zu berichten, und aufrichtig zu eröfnen, nicht nur was sie wiedriges, sondern auch was sie guthes finden; wie dem wiedrigen ihrer meinung nach zu helffen, das guthe bestens zu nuz zu bringen, und summa was sie dabey würden thun und sagen können, wenn die sach sie selbst angienge, oder von der gnädigsten Herrschafft deren vollstreckung ihrem selbst eignen fleiß und sorgfalt anvertrauet wäre.
Als ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Teamarbeit in Oberharzer Bergbau mag das Beispiel von Oberbergrat Albert (1787–1846) dienen, dem Erfinder des Drahtseils 1834. 140 Jahre nach Leibniz ab 1827 gelang es ihm, auch auf einem tonnlägigen Schacht, dem Schacht St. Elisabeth, unweit von der eben erwähnten Grube St. Catharina gelegen, doch die Unterkette zum Gewichtsausgleich erfolgreich einzuführen. Für die Arbeiten sieben Jahre später zur Entwicklung des Drahtseils gibt es eine gute Dokumentation, 33 wie Oberbergrat Albert, der de facto Berghauptmann war (er konnte nicht Berghauptmann werden, da er nicht adelig war) und somit ganz 28 29 30 31 32 33
Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 22), S. 205. A I,3 N. 119, S. 143–146, Zitat S. 144, und A I,4 S. 262. Bergarchiv Clausthal, Fach N. 761, Acta N. 27. Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 22), S. 202–207. A I,4 N. 115, S. 153. Wolfgang Lampe: Oberbergrat Alberts Aufzeichnung aus der heißen Phase seiner Erfindung, in: Wolfgang Lampe, Oliver Langefeld: „Es kiht su racht hisch“. 175 Jahre Drahtseil, Clausthal Zellerfeld 2009, S. 58–78.
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andere Durchgriffsmöglichkeiten als Leibniz hatte, mit großem Einfühlungsvermögen vorgegangen ist, um seine Mitarbeiter bei der Einführung neuer Techniken mitzunehmen. Im Detail berichtet er, wer alles mitarbeitete (bis hin zum jüngsten Bergmann), wer was bearbeitete, wann Ruhezeiten eingelegt werden mussten. Sicherlich ist Oberbergrat Albert bei der erfolgreichen Einführung der Unterkette zum Gewichtsausgleich ähnlich einfühlsam vorgegangen. Schwierigkeiten hatte Leibniz nicht nur auf der Bergbeamten-Ebene, sondern auch mit den Handwerkern, was im Übrigen nicht nur für die Arbeiten an den Windmühlen und Fördereinrichtungen im Harz, sondern auch für die Arbeiten an seiner Rechenmaschine gilt, wie Walsdorf beschreibt. 34 Wiederum mögen zwei Zitate das Verhältnis verdeutlichen: An Henry Oldenbourg, den Sekretär der Royal Society in London, deren Mitglied Leibniz 1673 geworden war, schrieb Leibniz 1674: „Lässig fand ich die Sorgfalt einiger Handwerker, und kaum endlich einen Menschen, der die Ehre dem Gewinn vorgezogen hätte“. 35 Und der sehr erfahrene Mühlenbauer Hans Linsen aus Wandsbek bei Hamburg, den man Leibniz für den Bau der Vertikal- und Horizontalwindmühlen in der ersten Phase von Leibniz’ Arbeiten im Harz1680–1685 beigeordnet hatte, schrieb im März 1685 an Leibniz: unt können nuhn an der untern kunst (Windkunst) balt wieder anfangen, wen ich nuhr wüste wie es sol gemacht werden mit rehdern oder mit seihl, welches mihr der Her Hofraht schreiben möchte. 36
Hier muss zum Verständnis angeführt werden, dass es technische Zeichnungen, mit denen man heute arbeitet, nicht gab. Man benutzte Modelle. Für die horizontale Windmühle gibt es von Leibniz nur eine, heute würde man sagen „Ideenskizze“. 37 3.2 Materialprobleme Aus den beiden Phasen, die Leibniz im Harz aktiv war, die Phase 1 von 1680– 1685/86 (im Wesentlichen Versuch der Einführung der Windmühlen zum Herauspumpen des Wassers aus den Gruben) und Phase 2 von 1692–1696 (Versuche zur Verbesserung der Schachtförderung) 38 sind zahlreiche Klagen von Leibniz über schlechtes Holz und verspätete Lieferungen von Eisen dokumentiert. Beispielhaft sei aus einem Brief von Leibniz an das Bergamt in Clausthal von Ende Mai 1694 zitiert: 39 34 Ariane Walsdorf: Leibniz‘ Verhältnis zu den Handwerkern, in: Friedrich-Wilhelm Wellmer, Wolfgang Lampe (†), Jürgen Gottschalk, Ariane Walsdorf: Auf den Spuren des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz im Harz, Erläuterungen. Clausthal-Zellerfeld/Stuttgart 2020, S. 30f. 35 Leibniz an Oldenbourg (15. Juli 1674), A III,1 N. 30, S. 119: „lassavi aliquot opificum patientam, atque aegre tandem hominem inveni,qui honorem lucro praeferret”. 36 A I,4 N. 144, S. 188. 37 Wellmer, Lampe, Gottschalk, Walsdorf: Auf den Spuren, Erläuterungen (wie Anm. 34), S. 51, Abb. 19. 38 Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 22). 39 A I, Supplementband Harzbergbau N. 174, S. 281.
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Über dieß ist man mit keinem guthen Holz versehen gewesen, hat es grün verarbeiten laßen müßen; hat offt kein tuchtig eisen bekommen; die Schmiede auch haben die arbeit offt also gemacht, daß man etlich mahl wieder kommen müßen.
Bei der Beurteilung von Leibniz’ Klagen über Materialprobleme muss folgendes Prinzipielle beachtet werden. Verglichen mit früheren Zeiten leben wir heute in einer unglaublich rohstoffintensiven Zeit. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat die Menschheit mehr Rohstoffe verbraucht als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. 40 Metalle wurden nicht wie heute in Tonnen gemessen, sondern in Zentnern, also ein Zwanzigstel einer Tonne. In der gesamten siebzigjährigen Lebenszeit von Leibniz (1646–1716) ist in der Welt abgeschätzt so viel Kupfer gefördert worden wie in einem Jahr, im Jahre 2018, in der Welt in knapp elf Tagen! 41 Zurzeit von Leibniz war der Harz der bedeutendste Silberförderdistrikt Deutschlands. 42 Das Silber ist feinstverteilt an das Bleimineral Bleiglanz gebunden. Es musste also Bleierz gefördert werden, um Silber zu gewinnen. In der ganzen siebzigjährigen Lebenszeit von Leibniz wurde im Oberharz etwas mehr Blei gefördert als in einem Jahr, dem Jahr der deutschen Spitzenförderung Jahr 1957, als es in Deutschland noch etliche Metallerzgruben gab und die Welt nach dem Koreakrieg einen Bleiboom erlebte. 43 Auch der Wert der Rohstoffe, insbesondere der Metalle, war damals relativ höher als heute, was eine Begebenheit aus dem Jahre 1685 verdeutlichen mag. Als Herzog Ernst August am 23. März 1685 verfügte, dass alle Experimente mit Windmühlen eingestellt und die Windmühlen abgebrochen werden mussten, wurde eine Inventarliste aller verwendeten Nägel erstellt. Wer würde heute auch nur im Entferntesten daran denken, eine Inventarliste für Nägel zu erstellen? 44 Wir erleben gerade, dass Rohstoffe knapp sein können. Diese Erfahrung ist neu: in unserer heutigen Zeit waren Rohstoffe zum richtigen Preis eigentlich fast immer in den gewünschten Mengen verfügbar. Das war früher längst nicht immer der Fall. Rohstoffe, welcher Art auch immer, waren immer ein knappes Gut, bei dem man 40 Friedrich-Wilhelm Wellmer: Why we need a standardized internationally accepted resource classification system for primary and secondary resources – Opportunities and challenges. Vortrag COST-Symposium on the availability of raw materials from secondary sources – a key aspect of circular economy. 24.4.2018, Genf. 41 U.S. Geological Survey: Mineral commodity summaries 2020: U.S. Geological Survey (https://doi.org/10.3133/ mcs2020). Historische Kupferdaten bei Sungmin Hong, Jan-Pierre Candelone, Michel Soutif, Clause F. Bouton: A reconstruction of changes in copper production and copper emissions to the atmosphere during the last 7000 years, in: The Science of the Total Environment 188 (1996), S. 183–193. 42 Wilhelm Bornhardt: Blei-, Silber- und Kupfererzeugung im Oberharz und am Rammelsberg. Niedersächsisches Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie Clausthal, IV B 1b 151 (unveröffentlicht); Gerhard Fleisch: Das Oberharzer Wassersystem und seine Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Verbraucherstandorte und Nutzungsformen sowie seine Erhaltung. Diss. TU Clausthal 1982. 43 Christoph Bartels: Vom frühzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie – Erzbergbau im Oberharz 1635–1866. (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbaumuseum Bochum, 54), Bochum 1992, S. 726f. (historische Daten); BGR Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Hannover, Rohstoffdatenbank 2020. 44 Wellmer, Lampe, Gottschalk, Walsdorf: Auf den Spuren, Erläuterungen (wie Anm. 34).
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stets versuchte, sie soweit wie möglich zu nutzen und den Ausschuss zu minimieren. Wenn wir uns in die Rohstoffsituation von Leibniz hineinversetzen wollen, dann sollten die Älteren von uns an die unmittelbare Nachkriegszeit denken, als man versuchte, auch jeden Papierschnitzel auszunutzen oder Briefumschläge zu wenden, um sie noch ein zweites Mal zu benutzen. Wie Abb. 4 als Beispiel zeigt, versuchte auch Leibniz jede freie Fläche eines Papierbogens zu nutzen, denn Papier war damals wertvoll. Gleiches lässt sich auch von Holz sagen. Wer mit wachen Auges durch alte Fachwerkstädte wie die Welfenresidenzstadt Celle oder beispielsweise durch die Stadt Salzwedel geht, wird immer wieder beobachten können, wie Lösungen gefunden werden mussten, um auch krummes Holz zu verbauen. (Abb. 5).
Abb. 4: Eine Leibniz’ Notiz als Beispiel für den sparsamen Einsatz von Ressourcen (LeibnizHandschrift Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek LH II,5,1 Blatt 16v). Es handelt sich unten um die Berechnung des Barwertes einer Geldsumme, die Leibniz etwa 1683 anstellte (Eberhard Knobloch: Die Kunst, Leibniz herauszugeben, in: Spektrum der Wissenschaft, September 2011, S. 49–57).
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Abb. 5: Beispiel eines Fachwerkhauses in Salzwedel mit krummen Holzverbau (Wellmer).
So wird es auch im Harz gewesen sein, dass jeder Holzverbraucher lernen musste, mit einer gewissen Qualitätstoleranz umzugehen, also auch für einen gewissen Anteil von Holz mit minderwertigerer Qualität eine Verwendung zu finden. So spricht auch der Gehilfe von Leibniz Balthasar Reimers, der ihn in Leibniz’ zweiter Arbeitsphase im Harz meistens vertreten musste, von „recht krum holtz“, 45 mit dem er zu tun hatte. Wie sah nun im Oberharzer Silberbergbau die Praxis aus? Zurzeit von Leibniz’ Aktivitäten im Harz gab es allein auf dem Burgstädter Gangzug, 46 dem wirtschaftlich bedeutendsten im Oberharz, 40 bis 60 aktive Gruben, 47 auf dem Rosenhöfer Gangzug, dem zweiten bedeutenden Gangzug im Clausthaler Revier waren es sogar bis zu über 70 Gruben, auf dem Hausherzberger Gangzug, dem nächstwichtigen ca.
45 A I, Supplementband Harzbergbau N. 51, S. 73, Z. 5. 46 Ein System von Gängen wird zu einem Gangzug oder sogar zu einem Hauptzug zusammengefasst. 47 Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie Clausthal, Bibliothek Achenbach IV B b 90, 91, Listen der Ausbeuten 1644 bis 1865; Friedrich-Wilhelm Wellmer, Wolfgang Lampe: Spekulation mit Bergbauaktien/Kuxen im 17. Jahrhundert im Vergleich zu heute – Hat sich die Risikobereitschaft in der Exploration über 300 Jahre verändert?, in: Der Anschnitt, 2014/2, S. 25–31.
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40 Gruben. 48 Es gab zwei Typen von Gruben, einmal die in Ausbeute stehenden und damit Gewinn abwarfen, und jene, die in Zubuße waren, d.h. Verlust machten. Die meisten Zubußegruben würde man heute als Explorationsgruben bezeichnen. Die Gruben in Ausbeute, so würde man heute sagen, stellten den Cashflow des Bergbaureviers sicher. 49 Sie mussten alle mit Holz für Ihren laufenden Betrieb beliefert werden mussten. Leibniz kam als zusätzlicher Abnehmer hinzu. Natürlich hat dort für einen Betriebsmann der laufende Betrieb Vorrang und nicht ein Experiment mit unsicherem Ausgang. Wie jeder Praktiker weiß, lässt sich eine derartige Problematik nur durch guten, vertrauensvollen, persönlichen direkten Kontakt zu den Verantwortlichen vor Ort lösen, eine Lösung, die Leibniz, wie oben ausgeführt, fern lag. Echte Holzprobleme gab es im Clausthaler Revier zurzeit von Leibniz nicht. 50 Sie traten erst mit Hütten- und Grubenschließungen 35 bis 45 Jahre später auf. 51 Das hieß aber nicht, dass es Holz im Überfluss gab. Holz war immer ein knappes Gut. Zwar spricht Leibniz’ Vertrauter beim Landdrosten in Osterode Leidenforst in der Vorbereitungsphase vor der aktiven Phase I in einem Brief am 18. April 1679 davon „Wegen des Holtzes ist keine fürsorge nöthig, den selbiges gnug da, aber lauter Tannen, so diesen Winter angeführet, 52“ aber Steinsiek kann in seiner grundlegenden Arbeit über die Holzversorgung des historischen Oberharzer Bergbaus 53 zeigen, dass der Bedarf immer höher als die Lieferungen waren. So kann das Schreiben des Bergamtes zu Clausthal am 18. (28.) August 1684 54 als Antwort an Leibniz’ Anforderung für mehr Holz für die horizontale Windmühle nicht überraschen: Auff deß HoffRaths Leibnitz ansuchen wegen herleihung etwa Sechs fuder Dielen, Eisern Seils, und annehmung des Geschmiedeten krummen Zapfen, ist nach geschehener Umbständtlicher uberlegung, ob demselben deferirt werden könte, ausgefunden, daß weil so viel Dielen, wenn sie auch von denen Gruben gleich genommen werden könten, nicht verhanden, zumahln man nicht gewohnt, einen Dielen vohrat bey denselben zu halten.
48 Die damaligen Gruben sind mit heutigen Schachtanlagen nicht zu vergleichen. Sie hatten oft nur wenige Mann Belegschaft. Der Abstand der einzelnen Gruben voneinander betrug oft nur wenige Zehner Meter bis zu 100m. 49 Das Verhältnis zwischen Ausbeute- und Zubußegruben schwankte zwischen 1: 2,5 bis 1: 5 mit einem Mittelwert um 1:3,6 (vgl. Wellmer, Lampe, wie Anm. 47). 50 Friedrich-Wilhelm Wellmer, Jürgen Gottschalk, Wilfried Ließmann: Die Holzwirtschaft im hannoverschen Welfenterritorium – Leibniz‘ blinder Fleck?, in: Wenchao Li (Hg): „Für unser Glück oder das Glück anderer“, Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover (18. – 23. Juli 2016), Bd. V, Hildesheim 2016, S. 393–411. 51 Herbert Dennert: Bergbau und Hüttenwesen im Harz vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, dargestellt in Lebensbildern führender Persönlichkeiten, Clausthal-Zellerfeld 1986, S. 30–42, Abb. 13 (Anhang). 52 A I,2 N. 130, S. 165f. 53 Peter-Michael Steinsiek: Nachhaltigkeit auf Zeit – Waldschutz im Westharz vor 1800 (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 11), Cottbus 1999. 54 A I,4 N. 72, S. 108.
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4. Der Einfluss des Nichtverstehens von Lernkurven Wie oben ausgeführt, können Leibniz’ Aktivitäten im Harzer Bergbau in zwei Phasen gegliedert werden; 55 Phase 1 von 1680 bis 1685/86 und Phase 2 von 1692 bis 1695. In der Phase 1 beschäftigte Leibniz sich vorwiegend mit dem Einsatz von Windmühlen zum Herauspumpen des Wassers aus den Gruben und in der Phase 2 mit der Verbesserung des Vorganges der Erzförderung, wenngleich die Arbeiten zur Verbesserung der Fördereinrichtungen schon in Phase 1 begonnen wurden. An seinen Arbeiten zuerst an der Vertikal-, dann an der Horizontalwindmühle kann man gut erkennen, wie Leibniz selbst Lernkurven durchlief, einmal beim Bau der im Juli 1680 begonnenen Vertikalwindmühle an der Grube Catharina. Wie in der Einleitung zu Band A I,3 prägnant herausgearbeitet ist, wurde Leibniz bald klar, dass man nur aus der Erfahrung lernen kann. „Anfangen ändern zu lassen“ heißt es bei Leibniz im September 1681. 56 Er war wohl selbst überrascht, wie schwierig es sein kann, Lernkurven zu erklimmen. Anfang 1682 gestand er: „Man hat aber die gewiße maaße nicht vorhersehen können, sondern durch die Erfahrung erlernen müßen“. 57 Auch sein gedanklicher Weg von der Vertikal- zur Horizontalwindmühle, also der Übergang vom „Immediatantrieb“ zum indirekten „Mediatantrieb“, ist eine Lernkurve. 58 Leibniz erkannte, dass der Wind im Oberharz längst nicht so stetig und kräftig war, wie er ihn in Holland erlebt hatte. Dort hatte er auf seiner Reise 1676 von Paris nach Hannover beobachtet, wie mit Windmühlen Polder trocken gehalten wurden. Diese Windmühlen-Experimente eignen sich aber weniger, die Lernwilligkeit oder -unwilligkeit der Bergbeamten zu erkennen. Hierzu sind Leibniz’ Schacht-Experimente umso besser geeignet. Leibniz verfolgte vier Ansätze: – die Unterkette zum Gewichtsausgleich, – die konische Seiltrommel zum Momentenausgleich, – die Wickeltrommel zum Momentenausgleich, – die „Neue Treibkunst“ zur Kombination von Kunst- und Kehrrad. Die physikalischen Überlegungen und die mechanischen Wirkungsweisen mit Schemaskizzen sind kürzlich von uns dargestellt worden 59 und sollen hier nicht wiederholt werden. Hier soll nur auf Aspekte des Lernens eingegangen werden.
55 Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 22). 56 A I,3 S. XXXVI, vgl. auch: Schreiben des Bergamtes an Berghauptmann Casimir von Eltz, Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie, Clausthal, Acta 27, Fach No. 761, 1682, Bl. 66r. 57 A I,3 N. 109, S. 137; vgl. auch Ulrich Horst: Die Entwicklung von Theorie und Praxis bei Leibniz‘ Erfindertätigkeit für den Oberharzer Bergbau, in: Albert Heinekamp (Hg.): Theorie cum praxi Bd. 4: Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Mathematik (= Studia Leibnitiana, Supplementa 22), Stuttgart 1982, S. 58–68. 58 Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 20), S. 196. 59 Wellmer, Gottschalk, Lampe, Walsdorf: Auf den Spuren, Erläuterungen (wie Anm. 34).
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4.1 Die Unterkette zum Gewichtsausgleich Der Versuch des Gewichtsausgleichs durch eine Unterkette bei der Schachtförderung ist ein gutes Beispiel für eine J-Kurve. Leibniz kam aus der Anfangsdelle nicht heraus und konnte nicht das „Tal des Todes“ überwinden. Im Supplementband Harzbergbau 1692–1696 kann sehr gut dieses Scheitern nachverfolgt werden. Das Problem war, wie eingangs beschrieben, dass es im Oberharz keine senkrechten Schächte gab. Der Zehntner 60 Daniel Flach, der Leibniz helfen wollte, hatte als exzellenter Techniker und Kenner der Harzer Verhältnisse Leibniz für seine Schachtexperimente den Drei-Brüder-Schacht als den senkrechtesten im Clausthaler Revier empfohlen. Diese positive Schachteigenschaft geht auch aus späteren Grubenrissen hervor. 61 Für Leibniz war er allerdings zu „bucklig“. Am 21. Juli 1693 wurde von Daniel Flach ein Test mit der Unterkette durchgeführt. Zu Vergleichszwecken „trieb“ Flach sowohl auf herkömmliche Art, wie auch nach Leibniz’ Weisung. Das Ergebnis war für Leibniz enttäuschend. So konnten am 21. Juli konventionell wie bisher mit 10 Personen in einer Stunde 5 Tonnen 62 pro Stunde gefördert werden, während mit der Endloskette acht Personen pro Stunde nur 4 Tonnen heraufzogen. 63 Ein zwei Tage später unternommener Versuch verlief noch ungünstiger, da die Unterkette riss, in den Schacht fiel und diesen verwüstete. 64 Nach weiteren Probeläufen stand für Flach fest, dass in einer Stunde nach dem alten Verfahren durchschnittlich 5 Tonnen, nach der von Leibniz vorgeschlagenen Methode jedoch nur 3 bis 3 ½ gefördert werden konnten. 65 Wie in Kapitel 3.1. dargelegt, gelang es 140 Jahre später Oberbergrat Albert auf dem Schacht St. Elisabeth, der tonnlägiger war als der Drei-Brüder-Schacht, erfolgreich die Unterkette einzuführen. Interessant ist, dass er nicht wusste, dass Leibniz schon im Oberharz mit einer Unterkette zum Gewichtsausgleich experimentiert hatte und erst später davon erfuhr. Im Rechenschaftsbericht der „Bergwerks-Verwaltung des Hannoverschen Ober-Harzes in den Jahren 1831-1836“ schreibt er 1837: 66 Ganz offen gestehe ich, dass ich diesen Gedanken damals für neu hielt, und auch von vielen Offizianten am Harze, welchen Calvörs Beschreibung des Maschinenwesens 67 so wie mir hinlänglich bekannt ist, damals sich Niemand erinnerte, dass schon vor 100 Jahren ein wenigstens
60 Zehntner ist ein hoher technischer Bergbeamter, der für alle Zahlungen im Clausthaler Revier verantwortlich war. 61 Z. B. Eduard Borchers: General-Gang-Charte des nordwestlichen Harzgebirges, Hannover 1865. 62 Es handelt sich hierbei um Erztonnen, eine leere Tonne wog 75 kg, eine volle 250 bis 280 kg. 63 A I, Supplementband Harzbergbau, N. 33, S. 49. 64 A I, Supplementband Harzbergbau N. 35, S. 51f. 65 Günter Scheel in A I, Supplementband Harzbergbau, S. XXXVI. 66 Julius Albert: Über Treibseile im Harz, in: Ders.: Die Bergwerks-Verwaltung des Hannoverschen Ober-Harzes in den Jahren 1831–1836, in: Archiv für Mineralogie, Geognosie, Bergbau und Hüttenwesen, 10 (1837), S. 215–234. 67 Hiermit ist Henning Calvörs Bergbaudokumentation gemeint: Acta Historico-Chronologico Mechanica circa metallurgiam in Hercynia superiori (Historisch-chronologische Nachricht und
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in der Hauptsache ähnlicher Gedanke, am Harze, namentlich durch Leibnitz, mit vieler Mühe versucht und gänzlich gescheitert war. Aehnliche Erfahrungen hat gewiss schon Mancher gemacht, denn nicht leicht wird etwas ganz durchaus Neues erdacht. (Kursivierung durch die Autoren).
4.2 Die konische Trommel zum Momentenausgleich Eine ganz andere J-Kurve musste Leibniz durchlaufen, als seine Idee der konischen Trommel zum Momentenausgleich am 19. Januar 1694 getestet wurde, 68 und zwar mit einem Pferdegaipel auf der Grube St. Johannes (Johannißer Schacht). Abb. 6 zeigt einen Pferdegaipel. Leibniz wollte die zylindrische Seiltrommel ersetzen durch zwei konische (Abb. 7)
Abb. 6: Pferdegaipel (Zeichnung Hans-Jürgen Boyke: Zeichnungen zur Oberharzer Wasserwirtschaft, Clausthal-Zellerfeld 2016; mit Genehmigung Stiftung Welterbe Harz).
theoretische und practische Beschreibung des Maschinenwesens und der Hülfsmittel bey dem Bergbau auf dem Oberharze), die 1763 erschien. 68 A I, Supplementband Harzbergbau, N. 87, S. 115–117.
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Abb. 7: Funktionsmodell der Erzförderung mit zwei konischen Seiltrommeln (Stein, Wellmer, Gottschalk 2016, wie Anm. 5).
Hier musste Leibniz gegen die Eigeninteressen der Versuchsdurchführenden kämpfen. Nachdem die oben beschriebene Idee mit der Unterkette zum Gewichtsausgleich gescheitert war, hatte Leibniz eine andere Idee, um zu einer Reduzierung des Energiebedarfes beim Erzfördern zu kommen, die Idee des permanenten Momentausgleichs. Der konischen Seiltrommel liegt das Hebelgesetz zu Grunde: Kraft x Hebelarm = Last x Lastarm. Die Länge des Hebelarmes ist immer konstant. Sie ist der Durchmesser des Wasserrades oder die Länge der Deichsel, mit der die Pferde im Pferdegaipel die Seiltrommel drehten. Bei der Schachtförderung ohne Unterkette zum Gewichtsausgleich änderte sich die Last mit der Tiefe der Schächte. War die Fördertonne tief unten im Schacht, musste als Last das Gewicht der Kette plus das Gewicht der Tonne mit Erz gehoben werden, war die Tonne oben fast angekommen, war die Kette aufgespult, musste also nur noch das Gewicht der gefüllten Tonne gehoben werden, d.h. die Last wurde während des Fördergangs kontinuierlich geringer. Man kann also zu einer Kraftersparnis und Vergleichmäßigung der Kraftanforderung kommen, indem man den Lastarm bei hoher Last kleiner macht als bei geringerer Last. Beim Aufwickeln der Kette auf der konischen Trommel geschieht dies automatisch. Dies ist der permanente Momentenausgleich. 69 Normalerweise wurden mit einer normalen zylindrischen Trommel 4 Tonnen pro Stunde gefördert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnten bei dem Test in 6,5 Stunden 45 Tonnen gefördert werden, d.h. 7 Tonnen/Stunde. Nach Meinung von Leibniz in seinem Bericht an das Bergamt in Clausthal 70 hätten zwei von vier Pferden abgespannt werden können. Die Fuhrleute fürchteten jedoch geringeres
69 Jeder kann diese Erfahrung selbst machen: Eine Last zu heben mit ausgestrecktem Arm ist schwerer als mit angewinkeltem Arm. Wenn man den Arm anwinkelt, verkürzt man den Hebelarm. 70 A I, Supplementband Harzbergbau N. 87, S. 115–117.
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Einkommen, da sie im Akkord arbeiteten. 71 72 Leibniz erkannte wohl das Problem, indem er in seinem Bericht an das Bergamt am 8. (18. Februar 1694) schrieb: „wäre dienlich verständige Fuhrleüte über diese Sache zu vernehmen, mit den bedeüten, daß man deswegen nicht gemeinet, sie härter zu treiben, sondern viel mehr zu subleviren“. 73 Wenn weiter unten in seinem Bericht an das Bergamt Leibniz allerdings vorschlägt, da die Vorteile so handgreiflich seien, „wenn es die obrigkeit nicht thun wolte, so wäre den Fuhr-Leüten zu rathen solche Körbe auff ihre kosten machen zu laßen“, 74 so wird bei den Fuhrleuten sofort die Befürchtung aufgekommen sein, hierzu auf ihre Kosten gezwungen zu werden. Die Versuche auf dem Clausthaler Johannißer Schacht wurden aber als erfolgreich angesehen. Es wird berichtet, dass die konische Trommel bis zum Verschleiß im Oktober 1695 benutzt wurde, jedoch wurde keine neue gebaut. Dies war der einzige Verbesserungsvorschlag von Leibniz, der zu seiner Zeit praktische Relevanz erreichte. Wie würde man denn heute derartige Versuche durchführen, wo der Versuchsdurchführer Betroffener ist? Man würde sich auf jeden Fall überlegen, wie kann ich die Betroffenen von Anfang an einbinden und mitnehmen. So würde man klarstellen, dass die neue Methode zur Arbeitserleichterung der Versuchsdurchführenden geplant sei und Vorteile z.B. hälftig zwischen Arbeitnehmern oder Kontraktoren wie den Fuhrleuten und den Grubenbesitzern geteilt würden. Die konische Seiltrommel wurde gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert zum Stand der Technik und insbesondere im Erzbergbau eingesetzt. Sie ist heute allerdings im Wesentlichen durch das völlig anders arbeitende Prinzip der Förderscheibe abgelöst, die das Seil über Reibung mitnimmt (Koepescheibe). Konische Seiltrommeln sind heute vorwiegend noch in Weißrussland, Russland und Kasachstan im Einsatz. Auch im Elsass findet sich noch eine konische Seiltrommel. Eine moderne konische Seiltrommel war im Achenbach-Schacht der letzten Blei-ZinkSilber-Grube des Harzes in Bad Grund eingesetzt, die 1992 schließen musste, nur 6 km Luftlinie entfernt vom Johannißer Schacht. In der Harzer Presse wird sie als „Leibniz-Trommel“ bezeichnet. 75 Sie war von 1933 bis 1976 in Betrieb. Die Fördermaschine und der wuchtige Förderturm der Grube sind heute noch erhalten. 4.3 Die Wickeltrommel zum Momentenausgleich Dasselbe Prinzip des Momentenausgleichs wie bei der konischen Seiltrommel wollte Leibniz bei der Wickeltrommel einsetzen. Hier geschieht die Vergrößerung 71 A I, Supplementband Harzbergbau N. 93, S. 134f., N. 174, S. 278f. 72 Die Akkordarbeit im Bergbau heißt Gedinge. Wenn das Gedinge zum Nachteil der Bergleute geändert wird, spricht der Bergmann von „Gedinge kaputtmachen“. Das befürchteten die Fuhrleute offensichtlich hier. 73 A I, Supplementband Harzbergbau, N. 93, S. 134. Subleviren heißt erleichtern/unterstützen. 74 A I, Supplementband Harzbergbau, N. 93, S. 135. 75 Z. B. Nora Garben: Wertvolle Seiltrommel steht im Bergwerk, in: Harzkurier Osterode 9.6.2016.
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des Lastarmes dadurch, dass sich eine Seillage auf die andere in einer übereinander statt nebeneinander wickelnden Seiltrommel legt. Es war die Vorstellung mit einem Hanfseil zu arbeiten, da ein Hanfseil sich besser übereinander aufwickeln lässt als eine Kette. Ob diese Trommel jemals gebaut wurde, ist nicht bekannt. Auch dieses System ist als Bobine heute Stand der Technik. Sie ist das Standardinstrument beim Schachtabteufen. Da sich hierbei die Schachtteufe kontinuierlich vergrößert, kann natürlich nicht mit einem Unterseil zum Gewichtsausgleich gearbeitet werden. Um Probleme beim Aufwickeln zu vermeiden, arbeitet man heute mit einem verdrillungsfreien Flachseil. 4.4 Die „Neue Treibkunst“ zur Kombination von Kunst- und Kehrrad Nur das 4. Konzept, die „Neue Treibkunst“, an dem Leibniz übrigens schon in der ersten Phase gearbeitet hatte, ist heute obsolet. Leibniz wollte die für den Harzer Bergbau notwendigen zwei Fördergänge (Herauspumpen des Wassers und Herausfördern des Erzes) 1685/86 mit einem einzigen Wasserrad durchführen, und zwar mit dem kontinuierlich laufenden Kunstrad für den Antrieb der Pumpen. Er versuchte es in zwei Anläufen 1685/86 am Schacht Thurm Rosenhof und in der Zeit 1693–1696 am Johannißer Schacht. Für das Herausfördern des Erzes benutzte man in der Regel die Muskelkraft von Pferden. Wollte man Wasserkraft einsetzen, benötigte man ein weiteres Wasserrad, ein umschaltbares Kehrrad. Um das immer nur in einer Richtung laufende Kunstrad auch für den zweiten Fördergang, das Heraufund Herunterlassen der Fördertonnen, einzusetzen, war ein umsteuerbares Getriebe erforderlich. Bei der Erprobung ergab sich durch den Umschaltmechanismus meist ein ruckartiger Ablauf, der schließlich zur Einstellung des Betriebes mit der „Neuen Treibkunst“ führte. 76 Die ruckartige Belastung ist verständlich, wenn man in das kontinuierlich laufende Wasserpumpen mit Hilfe des Kunstrades plötzlich eine zusätzliche Last, den vollen Förderkorb, zuschaltet. Es ist eigentlich erstaunlich, dass dem Universalgelehrten Leibniz, der seiner Zeit so voraus war, nicht die Idee für eine Vorrichtung kam, die Last graduell zuzuschalten, nämlich die Idee einer Kupplung. Kunst- und Kehrrad zu kombinieren, wurde auch von anderen später versucht, so von dem Schweden Christopher Polhem (1661–1751) im Kupferbergbau in Falun 77 oder dem Siegerländer Bergmeister Johann Heinrich Jung (1711–1786) 1776/77 im Eisenerzbergbau des Siegerlandes auf der Grube Stahlberger Schacht. 78 Im Kapitel 1.0 wird bereits der damals zuständige Berghauptmann von Ditfurdt mit einem Ausspruch zitiert, der zeigt, dass er keine Vorstellung von Lerneffekten hatte. Ein weiteres Zitat zeigt, dass er überhaupt unwillens war, Neues zu lernen: 76 Horst: Bergbau (wie Anm. 22). 77 Wilfried Ließmann: Christopher Polhem – Technologietransfer aus Schweden im Harzer Montanwesen des frühen 18. Jahrhunderts, in: Oliver Langefeld, Gerhard Lenz (Hg.): „Je n’ai qu’un copiste francais.“ – Persönlichkeiten im Harzer Bergbau. Vorträge aus dem Kolloquium 25.6.2016 Clausthal-Zellerfeld, Clausthal-Zellerfeld 2016, S. 77–94. 78 Mathias Döring: Eisen und Silber – Wasser und Wald – Gruben, Hütten und Hammerwerke im Bergbaurevier Müsen, Kreuztal 1999, S. 54f. u. S. 62.
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vnd hat Er zwar sein Neu werck zu einiger operation gebracht, […] wir halten aber das werck nicht simpel genug, sondern zu kunstlich, welches verschiedenen Räder- und federwercken undt folglich vielen gebrechlichkeiten unterworffen. 79
5. Abschlussbetrachtung – Leibniz’ Erkenntnisse über das Ideenmanagement im Oberharzer Silberbergbau Zwar sind im Oberharzer Bergbau bahnbrechende Erfindungen gemacht worden wie die Erfindung des Drahtseils durch Oberbergrat Albert 1834 oder der Fahrkunst 1833 durch den Berggeschworenen Dörell, 80 jedoch waren es im Grunde alles „top down“ Erfindungen in einer Situation, als der fortschreitende Teufenfortschritt für den Harzer Bergbau bedrohlich wurde. Aber die ständische gesellschaftliche Organisation mit ihren vielen Hierarchiestufen und ihr großes Beharrungsvermögen waren nicht innovationsfördend. Es gibt kaum „bottom up“ Erfindungen oder Erfindungen von Außenseitern wie z. B. Leibniz, die erfolgreich waren. Ein gutes Beispiel neben Leibniz ist auch der oben erwähnte Christopher Polhem, der „Archimedes des Nordens“. Er erhielt 1707 von dem damaligen Berghauptmann von dem Busche den Auftrag, Verbesserungsvorschläge für den Harzer Bergbau zu erarbeiten, aber er scheiterte. So schreibt Ließmann bei der Untersuchung über den Technologietransfer aus Schweden über Polhem: 81 Doch genau wie zuvor bei Leibniz geschehen, scheiterten viele seiner Vorschläge an der ablehnenden Einstellung der höheren Bedienten vom Leder (technische Bergbeamte), die größtenteils hartnäckige Traditionalisten waren und fremde Ideen sofort verwarfen.
Das eingangs von Leibniz wiedergegebene Zitat „die Leute aber sind gar nicht curios, sondern vielmehr allen untersuchungen zu wieder“, 82 zeigt die Schwierigkeiten eines Außenseiters sowie die Frustration und kontrastiert stark mit dem schon oben zitierten Passus in seinem Brief an Herzog Johann Friedrich aus dem Jahr 1679 vor den praktischen Arbeiten im Harzer Bergbau, dass Leibniz im Sinne eines transdisziplinären Herangehens „Theoria cum praxi“ meinte, mit 5 oder 6 Praktikern aus dem Harz mehr entdecken zu können als mit 20 der größten Gelehrten Europas. 83
79 Günter Scheel in A I, Supplementband Harzbergbau, S. XLV (N. 261). 80 Friedrich-Wilhelm Wellmer: Oberharzer Bergbauinnovationen: manche erfolgreich, manche vergessen - warum?, in: Christian Juranek, Friedhelm Knolle (Hg.): Bilanz und Perspektiven der Harz-Forschung. 150 Jahre Harz-Verein für Geschichte und Altertumskunde e.V. (= Harz Forschungen. Forschungen und Quellen zur Geschichte des Harzgebietes, hg. vom Harz-Verein für Geschichte und Altertumskunde e.V., Bd. 33), Berlin/Wernigerode 2020. 81 Wie Anm. 76. 82 A I,3 S. 143ff oder A I,4 S. 262. 83 A I,2 S. 130: „Car le Harz est uns vraye source d’experiences et découuertes en mecanique et en physique; et je me fais fort, Monseigneur, de decouurir plus avec cinq ou six hommes de practique, qvi pourrant avoir de l’employ dans ses pays la, qu’avec une vingtaine de plus scavans de l’Europe”.
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Diese Praxiserfahrung, kombiniert mit der Erkenntnis, dass Lernkurven erklommen werden müssen, spiegelt sich im folgenden Leibniz-Zitat wider: „Weilen aber zu verrichtung solcher dinge Nachdruck gehöhret, und nichts beschleüniget werden kan, wenn man nicht gebührend assistiret wird“. 84 Und eine zweite Aussage von ihm 1702 nach Abschluss der beiden Phasen im Harzer Bergbau 1680–1685/86 und 1693–1695 zeigt diese Erkenntnis , als er am 14. Januar 1702 an seinen Briefpartner Nathanael von Staff schrieb: Die meisten Erfindungen gelingen nicht auf Anhieb, aber wenn sie eine gewisse feste Grundlage haben und wenn der Fehler nur in der Ausführung liegt, dann muss man sich nicht abschrecken lassen, und das ist es, was den großen Prinzen besser gelingen kann als den Privatleuten. 85
Leibniz hatte also den wichtigsten Faktor der Lernkurve, nämlich Zeit, voll erfasst, auch, dass man am besten stufenweise vorgeht: „weiln bey Neüen dingen stuffenweise und nicht per extrema zu gehen“. 86 Auch in dieser Erkenntnis war er seiner Zeit voraus. Man muss allerdings auch bedenken, dass es im 17. und teilweise 18. Jahrhundert ein innovationshemmendes Prinzip galt. Verbesserungsvorschläge mussten erst einmal selbst bezahlt werden. Waren sie erfolgreich, wurden die Kosten mit einer Prämie erstattet und belohnt,87 d.h. die Kosten der Lernphase wurden dem Erfinder aufgebürdet.
84 A I, Supplementband Harzbergbau N. 79, S. 108. 85 A I,20 N. 419, S. 725: „La plus part des inventiones ne reussissent pas du premier coup, mais quand elles ont quelque fondament solide, et que la faut n’est que dans l’execution, il ne faut point se rebuster, et c’est en quoi des grands Princes peuvent mieux reussir que de particuliers.“ 86 A I, Supplementband Harzbergbau, N. 93, S. 132. 87 Wellmer, Gottschalk (wie Anm. 20), S. 190; Wellmer (wie Anm. 79).
IV. LEIBNIZ IN SEINER PUBLIZISTISCH-HÖFISCHEN LEBENSWELT
LEIBNIZ’ KONZEPTION VON 1713 ZU EINER BEFRIEDUNG EUROPAS IM KONTEXT DES GROSSEN NORDISCHEN KRIEGES Regina Stuber, Hannover Die Außenwahrnehmung von Leibniz als Gelehrter Im Jahr 1713 war Leibniz in inoffizielle diplomatische Verhandlungen zwischen Kaiser Karl VI. und Zar Peter I. involviert. Der Auftrag zu dieser diplomatischen Mission entstand im Rahmen von Leibniz’ Vorbereitungen zu seiner bevorstehenden Audienz bei Peter I. Anfang November 1712 in Karlsbad und einer geplanten Weiterreise nach Wien. Die diplomatische Initiative ging auf den Wolfenbütteler Herzog Anton Ulrich zurück und war im Einverständnis mit den beiden Monarchen. 1 Leibniz trat dabei explizit als Gelehrter auf, dafür spricht auch seine eigene Einschätzung, die er gegenüber Herzog Anton Ulrich in seinem Bericht über die erfolgte Audienz bei Peter I. erwähnt: „Ich habe mich also fürgesehen, dass jedermann dafür gehalten, ich hätte von nichts als meinen eignen sachen und curiosis gesprochen.“ 2 Diese Vorsicht war allerdings auch der Tatsache geschuldet, dass Leibniz den hannoverschen Hof über die beabsichtigte Wienreise nicht informiert hatte. Die diplomatische Mission war ohne Wissen des hannoverschen Kurfürsten arrangiert worden. Dass Leibniz für einen solchen Auftrag ausgewählt wurde, mag zunächst überraschen. Der Einsatz von Gelehrten im diplomatischen Geschäft des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts war jedoch nicht außergewöhnlich. 3 Im Fürstendienst stehende 1
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Zur Einwilligung Karls VI. zur Mediation über Herzog Anton Ulrich vgl.: Leibniz’ Vorstellung in Carlsbad über ein zu errichtendes Bündnis zwischen Peter d. Grossen und dem Kayser Karl VI., in: W[oldemar] Guerrier: Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen: eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, zweiter Teil: Leibniz’ Russland betreffender Briefwechsel und Denkschriften (im Folgenden = Guerrier II), Leipzig 1873, S. 264–267, hier S. 264; zur russischen Übersetzung vgl.: Pis’ma i Bumagi Imperatora Petra Velikogo [Briefe und Schriften Kaiser Peters des Großen] (im Folgenden = PiB), 12,2, Moskau 1977, S. 485–486, hier S. 485. Zum Einverständnis von Peter I. für den diplomatischen Vermittlungsversuch über Leibniz vgl. sein Schreiben an Herzog Anton Ulrich vom 12. (23.) November 1712, gedr.: Guerrier II, S. 273–274; vgl. ebenso PiB, S. 216. Vgl. Leibniz an Herzog Anton Ulrich vom 25. November 1712, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 281–282, hier S. 282. Vgl. zur folgenden Ausführung die Übersichtsdarstellung von Christian Wieland: Gelehrte Räte, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 380–384; vgl. auch die Erwähnung das Artikels, in: Friedrich Beiderbeck: Zur Kontextualisierung der Politischen Schriften
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Gelehrte konnten, aber mußten nicht zwangsläufig dem engeren Kreis des ‚Regierungsapparates‘ angehören. Gleichwohl galten ihre Qualifikationen, ihr ‚gelehrtes Wissen‘ als Legitimation für ihre juristische und politische Beratertätigkeit wie auch für ihre situativ bedingte politische Teilhabe. Die Übergänge waren in diesem ad personam ausgerichteten Fürstendienst fließend. Sowohl zum eigenen Selbstverständnis wie auch zur Außenwahrnehmung galt der Einsatz ihrer Gelehrsamkeit dem „Dienst des Allgemeinwohls“ 4. Doch nicht nur der zunehmende Bedarf ihrer Fachqualifikationen spielte für ihre Verwendung eine wichtige Rolle, ebenso die Tatsache, dass es in dieser Zeit nicht unüblich war, parallele Verhandlungsstränge zu führen, die auf unterschiedlichen zeremoniellen Ebenen stattfanden. Neben den von den offiziell akkreditierten Gesandten geleiteten Verhandlungen konnten parallel laufende diplomatische Missionen durch einen weiteren Vertreter des Hofes wahrgenommen werden. Diese parallelen Verhandlungen waren nicht zwangsläufig miteinander koordiniert, nicht selten diente gerade die inoffizielle Initiative dem Ausloten einer weiteren Verhandlungsoption. 5 Sven Externbrink sieht Ezechiel Spanheim, der auch in offiziellen Missionen tätig war, als einen der letzten Vertreter des Gelehrtentypus im diplomatischen Geschäft. 6 Im Gegensatz zu Spanheim war Leibniz nie als offizieller Gesandter tätig. Seine Teilhabe am politischen und diplomatischen Geschäft in Hannover gestaltete sich vor allem innerhalb seiner Rolle als historisch-juristischer und politischer Ratgeber. 7 Der fundierte Nachweis zur Unterscheidung zwischen reiner Ausarbeitung ei-
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von G. W. Leibniz – eine Einführung, in: Ders. / Irene Dingel / Wenchao Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung: Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit, Göttingen 2015, S. 11–40, hier S. 18; vgl. Sven Externbrink: Humanismus, Gelehrtenrepublik und Diplomatie: Überlegungen zu ihren Beziehungen in der Frühen Neuzeit, in: Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven, 1), Köln u. a. 2010, S. 133– 149; zum Typus des „gelehrten Diplomaten“ der respublica litteraria um 1600 vgl. Ruth Kohlndorfer-Fries: Diplomatie und Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des französischen Gesandten Jacques Bongars (1554–1612) (Frühe Neuzeit, 137, Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext), Tübingen 2009. Vgl. Christian Wieland: Gelehrte Räte (wie Anm. 3), Sp. 380. Vgl. hierzu die Analyse von Andreas Affolter: Verhandeln mit Republiken. Die französischeidgenössischen Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2017, S. 385–388. Vgl. Sven Externbrink: Diplomatie und République des lettres. Ezechiel Spanheim (1629– 1710), in: Francia – Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 34/2 (2007), S. 25–59, hier S. 57. Zur allgemeinen Einschätzung und Bedeutung von Leibniz’ Tätigkeit als politischer Ratgeber vgl. Günter Scheel: Leibniz als politischer Ratgeber des Welfenhauses, in: Herbert Breger / Friedrich Niewöhner (Hg.): Leibniz und Niedersachsen. Tagung anläßlich des 350. Geburtstages von G. W. Leibniz, Wolfenbüttel 1996 (Studia Leibnitiana, Sonderheft 28), Stuttgart 1999, S. 35–52; vgl. ebenso Friedrich Beiderbeck: Zur Kontextualisierung (wie Anm. 3); vgl. auch den Forschungsüberblick zur Rezeption, in: Ders.: Politik, in: Ders. / Wenchao Li / Stephan Waldhoff (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung und Ausblick. Stuttgart 2020, S. 285–341, hier S. 295–297.
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ner Konzeption als Ausführung der Dienstpflicht und eigenem Impuls als Grundlage für einen politischen Vorschlag ist im konkreten Fall nicht immer zu leisten. 8 Für Leibniz’ Einsatz in der Diplomatie lassen sich einige wenige inoffizielle Missionen belegen, mit denen Leibniz, eher situativ bedingt, beauftragt wurde. Gemeint sind konkrete diplomatische Aufträge, die inoffiziell und mitunter parallel zu den von akkreditierten Gesandten vor Ort ausgeführt wurden. Eine Parallele zu Spanheim lässt sich insofern ziehen, als auch diese wenigen belegbaren diplomatischen Vermittlungstätigkeiten von Leibniz zugleich in Verbindung mit seiner Wahrnehmung als Gelehrter standen. Zu nennen ist beispielsweise sein Austausch mit dem kaiserlichen Hof 1688/89 in Wien etwa zur Relativierung der Bedeutung des Vertrages, den der hannoversche Herzog Ernst August mit Ludwig XIV. eingegangen war, oder hinsichtlich seines Austausches mit dem Hofkanzler Theodor Althet Heinrich von Stratmann im Rahmen des kaiserlichen Einverständnisses zur Kurwürde für den hannoverschen Herzog. Leibniz’ Engagement war situativ bedingt und gestaltete sich vor dem Hintergrund, dass der Anlass seines Wienaufenthaltes Bibliotheksrecherchen galt. Konkreter (inoffizieller) Auftrag und Umfang seiner Tätigkeit in diesen Angelegenheiten lassen sich lediglich bruchstückhaft rekonstruieren. 9 Während Leibniz’ letzter Wienreise wurde vom hannoverschen Hof im Frühjahr 1713 sein Zugang zu kaiserlichen Diplomaten wohl auch genutzt, um in der Angelegenheit der umstrittenen Erbfolge von Sachsen-Lauenburg den hannoverschen Standpunkt vorzubringen. 10 Auch bei der hannoverschen Sukzession auf den englischen Thron lässt sich sein Engagement belegen, 11 aber auch eine in diesem Kontext politisch eher missglückte Publikation eines Pamphlets, dessen wahre Autorschaft Leibniz verbergen konnte. 12
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Vgl. Friedrich Beiderbeck: Zur Kontextualisierung (wie Anm. 3), S. 17. Vgl. Regina Stuber: Ein unbekannter Leibniz-Brief vom November 1688 an den hannoverschen Kammersekretär Johann Christoph Urbich und seine Einbettung in den Kontext der Beziehungen des hannoverschen Hofes mit Wien, in: Studia Leibnitiana, 49 (2017/2), S. 201–223, hier S. 217–220. 10 Zum diplomatischen Auftrag vgl. das Schreiben von Kurfürst Georg Ludwig an Daniel Erasmus von Huldenberg vom 6. April 1713, in: Hannover Niedersächsisches Landesarchiv, Cal. Br. 24, Nr. 5119/1, Bl. 131. Vgl. Rüdiger Otto: Leibniz als Historiker. Beobachtungen anhand der Materialien zum Sachsen-Lauenburgischen Erbfolgestreit, in: Martin Fontius / Hartmut Rudolf / Gary Smith (Hg.): Labora diligenter (Studia Leibnitiana, Sonderheft 29), Stuttgart 1999, S. 197–121; vgl. auch Regina Stuber: Die hannoversche Sukzession von 1714: Leibniz im Wiener Abseits?, in: Wenchao Li (Hg): Leibniz, Caroline und die Folgen der englischen Sukzession (Studia Leibnitiana, Sonderheft 47), Stuttgart 2016, S. 31–50, hier S. 37. 11 Vgl. Nora Gädeke: Gesandte ohne Akkreditierung: die Gelehrtenrepublik als Rekrutierungsfeld für inoffizielle politische Missionen, in: Volkhard Huth (Hg.): Geheime Eliten? (Bensheimer Forschungen zur Personengeschichte, 1), Frankfurt/M. 2014, S. 247–267; Dies.: ‘Matières d'esprit et de curiosité’ oder: Warum wurde John Toland in Hannover zur Persona non grata?, in: Wenchao Li / Simona Noreik (Hg.): Leibniz und der Gelehrtenhabitus: Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln u. a. 2016, S. 145–166. 12 Vgl. zur sog. Gwynne-Affaire von 1706 die Ausführung, in: A I, 25: Einleitung, S. XXXI– LXII, hier S. XXXV–XLI.
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Leibniz’ diplomatischer Auftrag im Herbst 1712, zwischen dem Zaren und dem Kaiser für mögliche spätere Verhandlungen zu sondieren, ist ein weiteres Beispiel für diese Konstellation. Es geht in diesem Fall um den bewußten Einsatz eines Gelehrten, um politische Optionen auszuloten oder einen unverbindlichen Standpunkt ‚von außen‘ einzubringen und im besten Falle zur Lösung der diplomatischen Pattsituation beizutragen. Von Bedeutung ist dabei auch Leibniz’ Reputation, die er als „gelehrter Mann“ bei Vertretern des russischen Hofes genoss. Dies betrifft vor allem die Korrespondenz mit Hans Christoph von Schleinitz, als dieser 1711 russischer Gesandter in Hannover wurde, aber auch mit Johann Christoph von Urbich in dessen Zeit als russischer Gesandter in Wien von 1707 bis 1712. 13 Das Vertrauen in Leibniz zum genannten diplomatischen Auftrag baut aus Sicht der russischen Diplomaten auf dem Interesse auf, das Leibniz seit der ersten Europareise von Peter I. (1697/98) sowohl Russland wie auch der Person Peters I. entgegenbrachte. 14 Leibniz’ Vorschläge zur Förderung der Wissenschaften in Russland und zur Akademiegründung waren nicht losgelöst von seiner Vorstellung, das Moskauer Reich auch auf politischer Ebene in die europäische Staatenkonstellation einzubinden. Den Zeitpunkt gekommen für eine Konkretisierung dieser Vorstellung sah Leibniz in dem Sieg Peters I. über den schwedischen König Karl XII. in der Schlacht bei Poltava im Juli 1709. So befürwortet Leibniz gegenüber dem russischen Gesandten Urbich, eine Annäherung zwischen dem Zaren und dem hannoverschen Kurfürsten Georg Ludwig (der sich bis dato in einer Allianz mit dem schwedischen König befand), vorzubereiten. 15 Das Zustandekommen des Freundschaftsvertrages zwischen Kurhannover und dem Moskauer Reich im Juli 1710 hatte sich Leibniz seiner eigenen Vermittlertätigkeit zugeschrieben. 16
13 Die Korrespondenz mit Hans Christoph von Schleinitz lässt sich ab 1705 belegen, als Schleinitz noch in Wolfenbütteler Diensten stand, vgl. ab A I 25. Leibniz’ Korrespondenz mit Urbich lässt sich bereits für 1688/89 belegen und wurde dann 1705 wieder aufgenommen; für die Zeit, als Urbich russischer Gesandter in Wien war, verdichtete sich die Korrespondenz, vgl. A, I 5 und ab A, I 25; vgl. auch die Edition in Guerrier II (wie Anm. 1). 14 Vgl. Stefan Luckscheiter: Auskünfte für und von Leibniz über Zar Peter I. und die große russische Gesandtschaft (1697–1698), in: Wenchao Li (Hg.): Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012, S. 293–299. – Christine Roll geht sogar so weit, Leibniz einen „singulären Ort“ in der Geschichte des ‚europäischen Rußlandbildes‘ zu geben, vgl. Christine Roll: Barbaren? Tabula rasa? Wie Leibniz sein neues Wissen über Russland auf den Begriff brachte. Eine Studie über die Bedeutung der Vernetzung gelehrter Korrespondenzen für die Ermöglichung aufgeklärter Diskurse, in: Friedrich Beiderbeck / Irene Dingel / Wenchao Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung (wie Anm. 3), S. 307– 358, hier S. 314. 15 Vgl. Leibniz an Urbich vom 27. August 1709, in: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 117–120. 16 Vgl. hierzu das Konzept eines Schreibens von Leibniz an Peter I. vom 16. Januar 1712: „Vermuhtlich wird der Herr Baron von Urbich berichtet haben und E. M. sich in Gnaden erinnern, dass die negotiation E. M. an dem Churf. Hannöverschen Hofe durch mich zuerst anbracht und der Grund geleget worden, worauff hernach der H. Fürst Kurakin gebauet und gewisse Traktaten geschlossen.“, in: ebd., S. 205–208, hier S. 206.
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Für die russischen Diplomaten gehörte der Gelehrte Leibniz zu ihren jeweiligen Netzwerken. Sie trennten nicht unbedingt zwischen den wissenschaftlichen und den politischen Konzeptionen von Leibniz, vielmehr konnten Vorschläge ‚des Gelehrten‘ situativ bedingt für die eigenen Pläne oder Interessen eingesetzt werden. So empfiehlt Urbich im Herbst 1709, d. h. nach der Schlacht bei Poltava, in seinem elogenhaften Schreiben für den Zaren, Leibniz zum beabsichtigten Aufbau einer Akademie nach Moskau holen zu lassen. Eine Denkschrift, die Leibniz auf Veranlassung von Urbich bereits im Dezember 1708 verfasst hatte, wird nun bei dieser Gelegenheit dem Zaren zugestellt. 17 Im Januar 1711, nach der Abberufung Boris I. Kurakins als russischer Gesandter in Hannover, schlägt Urbich gegenüber dem russischen Hof vor, „den gelehrten Mann“ Leibniz als ständigen Residenten in Hannover zu installieren – zusätzlich zu seinen bisherigen Dienstverhältnissen. Es ist die Rolle des Vermittlers, die ihm dabei zugedacht wird. 18 Die Stelle als Gesandter war für Schleinitz vorgesehen. Die Ernennung zum russischen Geheimen Justizrat 19 im November 1712 im Rahmen der persönlichen Audienz in Karlsbad sollte ein symbolisches Zeichen setzen: die Anerkennung des Interesses, das ein europäischer Gelehrter dem russischen 17 Vgl. Urbichs Konzept eines Memorandums für Peter I. vom Oktober 1709: „und weil unter andern auch Ir Cz. Mt allgndst. bedacht sind, die freyen Künste in dero keysen residentz durch eine ordentl. Academie einzuführen, so füge hirbei einen entwurf, welchen der Braunschweig. Geh. Rath Leibnitz im verwichenen jahr mir zugestelt, und glaubte ich daß dieser gelehrte obschon alte Mann auf Verlangen eine Reise nach Moskau thun solte, sein concept einzurichten, welcher in gantz Europa berühmt und von der Societät in Berlin praeses auch ein Mitglied der zu Paris ist. Man hat wahrgenommen, daß seit dem unter denen Cardinälen Richelieu u. Mazarin in Frankreich die literature zugenommen, auch die gantze Monarchie in größeren flor kommen.“ (Privat reflexion über die gegenwärtige glückliche conjunctur des Rußischen Reichs, in: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode (im Folgenden = Wernigerode LSA). Depositum Graf von Zech-Burkersroda. Gutsarchiv Goseck, H 82 N. 1031, Bl. 38–49, hier Bl. 42–43). Ich danke dem Eigentümer des Depositums, Graf von Zech-Burkersroda, für die Genehmigung zur Einsichtnahme. – Zur in Frage kommenden Denkschrift von Leibniz vgl. Hannover GWLB, MS 23, 1749, Bl. 33–34, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 95–100. Urbich erwähnt den Erhalt dieser Denkschrift in seinem Brief an Leibniz vom 28. Mai 1709 und dass er sie ins Holländische übersetzen ließ sowie die Weitersendung an den russischen Hof (wahrscheinlich an den Großkanzler Gavriil I. Golovkin, den Adressaten seiner Relationen), vgl. ebd., S. 113–114. 18 Vgl. Urbichs Konzept zum P.S. vom 11. Januar 1711 zur Relation vom 7. Januar 1711 an den russischen Großkanzler Golovkin: „Es wäre nöthig bey diesen conjoncturen, daß der Czaar einen residenten beständig zu Hannover hätte, weil doch daselbst alle Schwedische, Gottorfische und selbst Englische intrigen geschmiedet werden. Ich wolte dazu vorschlagen, den gelehrten Mann Leibnitz, der zwar im gesambten Braunschweig., auch Preußischen Diensten steht, dabey er gleichwohl bleiben könnte, er ist aber sehr für Ir Cz. Mt dienst affectionirt u. hat dort und sogar in Engelland gute correspondentz, daß auch viele von denen rigides an ihn geschrieben er einen tour hierin machen möchte, so er aber declinirt.“, in: Wernigerode LSA, H 82 N. 1030, Bl. 260–284 (mit Beilagen), hier Bl. 284. Vgl. zum Vorschlag auch Urbich an Leibniz vom 31. Januar 1711, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 159–162. 19 Die Ernennungsurkunde ist vom 1. (12.) November 1712, vgl. Hannover GWLB, Ms XXXIII, 1749, Bog. A–D; zum entsprechenden Erlass von Peter I., einschließlich des entsprechenden
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Zaren entgegenbringt. Der symbolische Charakter dieser Ernennung kann aber auch im Kontext der neu geschaffenen dynastischen Verbindung zwischen dem Zarenhof und dem Haus Braunschweig-Wolfenbüttel gesehen werden: 20 Der Gelehrte, als Leiter der herzoglichen Bibliothek auch im Dienst des Wolfenbütteler Herzogs Anton Ulrich stehend, wird zumindest auf Titularebene ein Mitglied des russischen Hofes. Die Aufnahme der diplomatischen Mission vor dem Hintergrund des Großen Nordischen Krieges Die Reise nach Karlsbad hatte Leibniz für sich zum Anlass genommen, seine Weiterreise nach Wien zu planen, um sich selbst vor Ort um seine Angelegenheit hinsichtlich der Ernennung zum Reichshofrat befassen zu können. 21 Von Herzog Anton Ulrich erhielt er Empfehlungsschreiben sowohl für die geplante Begegnung mit dem Zaren wie auch für eine Audienz beim Kaiser in Wien. 22 In diesem Kontext entstand die Initiative, Leibniz als inoffiziellen Vermittler zwischen dem Zaren und dem Kaiser einzusetzen. 23 Die diplomatische Vermittlung sollte in mündlicher Form stattfinden. Außerdem war vorgesehen, die Verhandlungen vorerst geheim zu führen. Im Falle eines Erfolges sollte dann ein Vertrag von den entsprechenden Ministern in offizieller Form zum Abschluss gebracht werden. 24 Leibniz’ diplomatische Mission stand im Kontext der Vorbereitungen des Braunschweiger Friedenskongresses, der 1712 von Kaiser Karl VI. veranlasst und
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Konzepts von Leibniz, vgl. Guerrier II (wie Anm. 1), S. 269–271; vgl. auch PiB (wie Anm. 1), 12,2, S. 203–204. Die Eheschließung zwischen dem russischen Kronprinzen Aleksej und der Wolfenbütteler Prinzessin Charlotte Christine erfolgte am 25. Oktober 1711. Der konkrete Anlass für den letzten Aufenthalt von Leibniz in Wien vom Dezember 1712 bis September 1714 war die Hoffnung, dass der neu gekrönte Kaiser Karl VI. das von Kaiser Leopold gegebene Versprechen auf eine Reichshofratsstelle einlösen wird. Vgl. hierzu die Erwähnung in Leibniz’ Schreiben für Kaiser Karl VI. vom 18. Dezember 1712 (Hannover GWLB, LH 41, 9, Bl. 9–10). Zu Leibniz’ Bemühungen um eine Reichshofratsstelle vgl. Margot Faak: Leibniz als Reichshofrat, hg. von Wenchao Li, Berlin u. a., 2016. Zu Leibniz’ Bitte an Herzog Anton Ulrich um ein Empfehlungsschreiben für Karl VI. vgl. seinen Brief vom 23. Oktober 1712: „wenn E. D. wollen können Sie mir einen nahen persönlichen Zutritt beym Kaiser machen und alsdann dürffte ich vielleicht gelegenheit finden, etwas guthes mit nachdruck zu insinuiren, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 256–257. Vgl. hierzu die Instruktion von Herzog Anton Ulrich für Leibniz’ Audienz bei Peter I. in diplomatischer Mission, in: ebd., S. 257–258; für die geplante Audienz bei Karl VI. vgl. das Konzept eines Creditivs wie auch das Konzept eines Empfehlungsschreiben für Leibniz’ Auftrag, zwischen dem Kaiser und dem Zaren zu vermitteln, in: ebd., S. 259–260. Vgl. hierzu Leibniz’ „Vorstellung“ für die Audienz bei Peter I.: „Und wenn alles [...] praepariret, köndte hernach der förmliche Schluss durch die ordentliche Wege der Ministrorum bewerckstelliget werden.“, in: ebd., S. 264–267, hier S. 267.
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im Dezember 1712 begonnen wurde. 25 Die Zielsetzung war, eine weitere Ausbreitung des Großen Nordischen Krieges auf dem Reichsterritorium zu verhindern. Die Interessen des Kaisers und des Heiligen Römischen Reiches waren im Herbst 1712 durch mehrere Konflikte tangiert. Die dänischen und teils auch hannoverschen Eroberungen in den schwedischen Herzogtümern Bremen und Verden hatten die Entsetzung Karls XII. als Lehnsherr zum Ziel und hätten damit aus kaiserlicher Perspektive eine Verschiebung des Machtgefüges innerhalb des Heiligen Römischen Reiches zur Folge. Im September 1712 war auf Rügen ein neu rekrutiertes schwedisches Truppenkontingent gelandet, was eine erneute Intensivierung der Kriegshandlungen auf dem Reichsterritorium auslöste. Die Ende September erfolgte Belagerung Hamburgs durch dänische Truppen stellte einen Verstoß gegen die Neutralitätsverpflichtung der Verbündeten des Großen Nordischen Krieges innerhalb des Reichsterritoriums dar. 26 Der Kaiser hatte sowohl gegen die Belagerung der Reichsstadt Hamburg, eines neutralen Reichsterritoriums, protestiert wie auch gegen die Modalitäten des Vergleichs, den Hamburg genötigt war, am 18. November 1712 mit Dänemark einzugehen, damit die dänischen Truppen die Stadt verließen.27 An den Verhandlungen in Braunschweig waren 1712/13 Vertreter von Dänemark, Kursachsen-Polen, Kurhannover und Braunschweig-Wolfenbüttel beteiligt, reichsfremde Mächte waren nicht geladen. Eine mögliche Beteiligung Schwedens an den Verhandlungen war bald nach der Eröffnung des Kongresses nicht mehr vorgesehen, allerdings sollte ein erzieltes Vertragsergebnis auch für Schweden als zwingend verbindlich gelten. Von kaiserlicher Seite wurde zur Eindämmung der Kriegshandlungen auf dem Reichsgebiet der Vorschlag unterbreitet, Neutralitätstruppen zu rekrutieren, die die Neutralitätsverpflichtung der Nordischen Verbündeten innerhalb des Heiligen Römischen Reiches gewährleisten sollten. Diese Initiative gehörte zu den Bemühungen, den Status quo des politischen Ordnungsgefüges des Heiligen Römischen Reiches zu erhalten. Sie stellt auch einen Gegenentwurf zu den Koalitionskonzepten
25 Zu näheren Ausführungen vgl. Joachim Krüger: Der letzte Versuch einer Hegemonialpolitik am Öresund. Dänemark-Norwegen und der Große Nordische Krieg (1700—1721) (Nordische Geschichte, 13), Berlin 2019, S. 358–363; vgl. auch Georg Schnath: Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674–1714, Hildesheim 1978, Bd. 3, S. 690–696. Eine ausführliche Untersuchung des Kongresses sowie der parallel geführten Verhandlungen der Beteiligten stellt in der Forschung bisher ein Desiderat dar. 26 Vgl. hierzu das Reichsgutachten vom 2. April 1710, gedr.: J[ohann] Chr[istian] Lünig [Hg.]: Des Teutschen Reichs-Archivs Partis Generalis, oder Corporis Juris Publici Romano-Germanici Continuatio II., worinn [...] des H. Röm. Reichs allgemeinen Verfassung gehörige Documenta [...] gegeben, Leipzig 1720, S. 950–951. 27 Zur dänischen Besetzung Hamburgs vgl. Adolf Wohlwill: Hamburg während der Pestjahre 1712–1714, Hamburg 1893, S. 21–25; zum kaiserlichen Mandatum cassatorium an den König von Dänemark in dessen Eigenschaft als Herzog von Holstein vom 20. Januar 1713, vgl. J[ohann] Chr[istian] Lünig (wie Anm. 26), S. 962–963; zum darauffolgenden Reichsgutachten vom 17. März 1713, vgl. ebd., S. 961.
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dar, wie sie Preußen und das Moskauer Reich, unter Einbeziehung von Kurhannover, zur Neuverteilung der schwedischen Reichslehen entwickelten. 28 Der kaiserliche Vorschlag griff einen Plan auf, der bereits in den Haager Neutralitätskonzerten vom März und August 1710 aufgrund der Bedrohungssituation für das Heilige Römische Reich durch den Großen Nordischen Krieg beschlossen worden war. Die Rekrutierung von Neutralitätstruppen war damals allerdings wegen fehlender Bereitschaft der Reichsfürsten nicht umgesetzt worden. 29 Die russische und die kaiserliche Prämisse für gemeinsame Allianzverhandlungen Das Moskauer Reich war im Herbst 1712 zu den Verhandlungen in Braunschweig offiziell nicht geladen, eine indirekte Beteiligung über zusätzliche, separat geführte Verhandlungen erschien der kaiserlichen Diplomatie aber als notwendig. Im Raum stand noch immer das von Peter I. gegenüber Karl VI. erstmals im Mai 1712 unterbreitete Angebot einer gemeinsamen politischen und militärischen Allianz, das ein Gesamtkonzept zur Beendigung sowohl des Großen Nordischen Krieges wie des Spanischen Erbfolgekrieges vorsah. Peter I. hatte seinen Vorschlag im Mai 1712 zuerst als inoffizielles „Pro Memoria“ von seinem Gesandten Urbich am kaiserlichen Hof vorlegen lassen, Ende Juni war der Vorschlag als offizieller Allianzantrag dem Kaiser übergeben worden. 30 Dieses russische Angebot war von den kaiserlichen Beratern, wie die Gesprächsvorlage für den Vortrag vom Juni 1712 gegenüber Karl VI. zeigt, kategorisch abgelehnt worden. Karl VI. hatte das Angebot gegenüber Peter I. allerdings nicht explizit zurückgewiesen, vielmehr war in einer bereits im Juni 1712 erfolgten knappen schriftlichen Antwort auf noch ausstehende Verhandlungen wie etwa mit Kursachsen verwiesen worden, um eine abschließende Entscheidung fassen zu können. 31 Außerdem war über verschiedene diplomatische Ka-
28 Eine Defensiv-Allianz zwischen dem Moskauer Reich und Preußen wurde im November 1709 unterzeichnet, der Freundschaftsvertrag zwischen dem Moskauer Reich und Kurhannover im Juli 1710. Auf deren Grundlage entwickelten sich Verhandlungen, die zu den russisch-preußischen Verträgen vom 6. Oktober 1713 und 12. Juni 1715 führten, die eine Neuverteilung schwedischer Provinzen unter einer gemeinsamen Ägide, insbesondere von Schwedisch-Pommern vorsahen; mit ähnlichem Ziel, in Bezug auf die schwedischen Reichslehen, wurde am 27. April 1714 der Vertrag zwischen dem Moskauer Reich und Kurhannover geschlossen. 29 Vgl. Joachim Krüger (wie Anm. 25), S. 210–218; vgl. den Beschluss des Fürstenkollegs vom 3. Oktober 1710, in: J[ohann] Chr[istian] Lünig (wie Anm. 26), S. 953–954, hier S. 953. 30 Zum inoffiziell vorgelegten Pro Memoria vgl. Urbich an den kaiserlichen Hof vom 11. Mai 1712, in: Wien Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im Folgenden = HHStA) StAbt Russland II 235– 236, Bl. 212–214; zum offiziell vorgelegten Allianzantrag vom 20. Juni 1712, vgl. ebd., Bl. 230–232. 31 Zum Gesprächsprotokoll der kaiserlichen Diplomaten vgl. ebd., Bl. 238–244; zur Gesprächsvorlage gegenüber Karl VI., vgl. ebd., Bl. 245–250; zum Entwurf der Antwort Karls VI. auf
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näle dem russischen Hof empfohlen worden, den Gesandten Urbich in Wien auszutauschen. Ein russischer Diplomat an Stelle Urbichs als Verhandlungspartner, so die Empfehlungen, könnte die gewünschten Fortschritte in den Verhandlungen beschleunigen. 32 Der russische Allianzantrag beinhaltete nicht nur kaiserliche Garantien für den russischen Herrschaftsanspruch auf die eroberten baltischen Provinzen, sondern sah die vollständige Entsetzung der schwedischen Reichslehen vor sowie eine Neuverteilung dieser Gebiete unter den Verbündeten des Großen Nordischen Krieges, einschließlich Preußens und Kurhannovers. In explizitem Bezug zum Westfälischen Frieden erhob Peter I. Anspruch auf die Ablösung Schwedens als Garantiemacht für das politische Ordnungsgefüge des Heiligen Römischen Reichs. Als Gegenleistung war eine militärische Unterstützung des Kaisers im Krieg gegen Frankreich vorgesehen sowie diplomatische Unterstützung – als Alliierter – in den Friedensverhandlungen zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges. Ein gemeinsames Friedenskonzept für beide Kriege könnte, so der Vorschlag, unter der Mediation des Kaisers und des Zaren ausgehandelt werden. Anfang September stellte Peter I. erneut für Urbich eine Instruktion zur Vorstellung einer Defensivallianz am kaiserlichen Hof aus, diesmal mit besonderem Schwerpunkt zu einer gemeinsamen Verteidigung gegen das Osmanische Reich.33 Der kaiserliche Gesandte Heinrich Wilhelm von Wilczeck (Welczeck) reiste Anfang November 1712 nach Karlsbad und überbrachte persönlich im Rahmen einer Audienz die kaiserlichen Freundschaftsbekundungen gegenüber Peter I., allerdings ohne ein offizielles Angebot zur Aufnahme von gemeinsamen Verhandlungen. Der Zar nutzte die Gelegenheit, um seinen Vorschlag zu einer Defensivallianz dem kaiserlichen Gesandten erneut übergeben zu lassen. Diese offizielle Begegnung fand somit fast zeitgleich zur Audienz statt, die Leibniz, dem Gelehrten, gewährt wurde. 34
das Allianzangebot vgl. ebd., Bl. 250. Vgl. hierzu Regina Stuber: Die Bewahrung der Westfälischen Friedensordnung als Argument gegen die Forderung Zar Peters I. nach einer Reichsstandschaft für Livland, in: Historische Zeitschrift (Druck in Vorbereitung). 32 Es sei hier auf folgenden Auszug aus den Relationen des kursächsischen Gesandten Georg Sigismund von Nostitz in Kurhannover an den Hof in Warschau vom Juni 1712 verwiesen: „on m’a dit [...] que les Ministres de S. M. Imp. faisant difficulté de traiter avec Mr Urbich par plusieurs raisan[s], il seroit necessaire que S. M. Cz. y envoyant quelqu’autre et plutôt un Moscowite qu’un Alemand (visant en cela à Mr le Prince Gourakyn)“, in: Dresden Sächsisches Hauptstaatsarchiv (= SächsHStA), 10026 Geheimes Kabinett Loc 2868/10, Bl. 45–46. 33 Vgl. die Instruktion vom 31. August (11. September) 1712, unterschrieben von Golovkin, in: PiB (wie Anm. 1), 12,2, S. 81–83; zum Projekt einer Defensivallianz, vgl. ebd., S. 83–87. 34 Zur Audienz des kaiserlichen Gesandten Heinrich Wilhelm von Wilczeck (Welczeck) am 27. Oktober (7. November) 1712 in Karlsbad, vgl. ebd., 12,2, S. 355 (Anm. zu N. 5468). Dass Wilczeck lediglich Freundschaftsbekundungen des Kaisers überbrachte, erschließt sich aus dem Antwortkonzept des russischen Hofes für Leibniz vom 12. (23.) November 1712, in: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 267–268; zur russischen Fassung vgl. PiB (wie Anm. 1), 12,2, S. 216– 217.
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In seiner schriftlich verfaßten „Vorstellung“ 35 für seine persönliche Audienz bei Peter I. referiert Leibniz die von Karl VI. vorgebrachte Prämisse für ein gemeinsames Bündnis zwischen dem Kaiser und dem Zaren. Hierfür zitiert Leibniz aus einem Brief von Karl VI. an Herzog Anton Ulrich, um sowohl den Vermittlungsversuch über den Wolfenbütteler Herzog herauszustellen wie auch auf die ‚Autorschaft‘ der vorgebrachten Prämisse hinzuweisen. Sie besteht in der Beibehaltung Schwedens als Garantiemacht des Heiligen Römischen Reichs, wie im Westfälischen Frieden festgelegt, d. h. eine vollständige Entsetzung der schwedischen Reichslehen durch die Nordischen Alliierten käme nicht in Betracht. Der Westfälische Frieden als Bezugsrahmen für das politische Ordnungsgefüge des Heiligen Römischen Reiches wird in diesem Schreiben explizit genannt. Auch die weiter bestehende Geltung des Altranstädter Friedensabkommens von 1706 wird erwähnt, wonach der Kaiser zur Neutralität gegenüber den Kriegsteilnehmern im Großen Nordischen Krieg verpflichtet ist. Eine einseitige Auflösung der Verträge, die der Kaiser bzw. das Heilige Römische Reich mit Schweden geschlossen haben, ist nicht vorgesehen. 36 Vage formuliert, aber angesprochen, ist eine mögliche kaiserliche Garantie für russische Interessen im Rahmen eines Friedensvertrages bzw. einer künftigen Allianz. 37 Als Teil eines gegenseitigen „Verständnisses“, wie Leibniz in seinem Schreiben die Position des Kaisers referiert, würde eine Unterstützung durch den Zaren bei den Friedensbemühungen zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges gewertet werden. Auch die Option einer militärischen Unterstützung der kaiserlichen Truppen im Krieg gegen Frankreich wird genannt. Diese Präsentation der Rahmenbedingungen, wonach auf inoffiziellem Weg Präliminarverhandlungen stattfinden könnten, lässt sich als kaiserliche Antwort auf die bisher vorgebrachten russischen Allianzvorschläge interpretieren. Leibniz’ Bericht an Herzog Anton Ulrich über seine persönliche Unterredung mit Peter I. zeigt, dass der Zar auch im Rahmen von inoffiziellen Sondierungsverhandlungen auf seiner Kernforderung beharrte: der Entsetzung der schwedischen Reichslehen. Es erschließt sich aus der von Leibniz referierten Bemerkung des Zaren, dass in Bezug auf Schweden „nach den Reichsgesetzen“ verfahren werden
35 Vgl.: Leibniz’s Vorstellung in Carlsbad über ein zu errichtendes Bündnis zwischen Peter d. Grossen und dem Kayser Karl VI., in: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 264–267. 36 Leibniz formuliert die kaiserlichen Bedingungen in diesem Schreiben als bereits vorausgesetztes Einverständnis des Zaren: „Gegenwärtig werden vermutlich S. Czarische Mayt. von der Römischen Kayserl. Mt. und dem Reich dasjenige zu abwendung der Schwedischen Gefährligkeiten verlangen, was ohne violation des westfälischen und ander zwischen dem Kayser und Schweden aufgerichteten Tractaten, sonderlich des Alt-Ranstädtischen geschehen kann, worüber dann wohl eine sonderliche erläuterung ergehn köndte.“, in: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 265. 37 Vgl.: „Endtlich würde pro futuro das oblatum Czarischer Mt. gerichtet seyn können, auff die behauptung und garantie eines rechtschaffenen Friedens und beständiger Ruhe in Europa oder ganzen Christenheit auch diessfals errichtende Allianzen.“, in: ebd., S. 266.
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müsse. 38 Diese Formulierung nimmt Bezug auf das im April 1710 verabschiedete Reichsgutachten. 39 Die darin enthaltene Neutralitätsverpflichtung der im Großen Nordischen Krieg involvierten Reichsstände beinhaltete auch das Verbot, Truppenkontingente innerhalb des Heiligen Römischen Reichs zu verlegen. Ein Verstoß dagegen sollte mit der Verhängung der Reichsacht geahndet werden. Karl XII. hatte dieses Reichsgutachten nie anerkannt und die Truppenverlegungen mit der Bedrohung der schwedischen Provinzen gerechtfertigt. Die Verlagerung eines schwedischen Truppenkontingents nach Schwedisch-Pommern hatte der russische Gesandte Urbich im Juli 1710 zum Anlaß genommen, um von Kaiser Joseph I. die strikte Befolgung des Reichsgutachtens einzufordern und damit die Verhängung der Reichsacht über Karl XII. 40 Dieser im Herbst 1712 erneut vorgebrachte Verweis auf die noch ausstehende Umsetzung der Reichsgesetze zeigt den Versuch, über die Reichsgesetzgebung eine Ablösung Schwedens als Garantiemacht des Heiligen Römischen Reiches zu legitimieren. Leibniz’ Konzeption einer Befriedung Die im Februar 1713 unter Führung Peters I. begonnene Belagerung der von den Schweden gehaltenen Festung Tönning im Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf 41 führte zum Abbruch des Braunschweiger Kongresses im März 1713. Aus Sicht der Nordischen Verbündeten sowie Kurhannovers signalisierte die Festsetzung des schwedischen Feldmarschalls Magnus Stenbock in Tönning das Ende der im Herbst 1712 neu gestarteten schwedischen Offensive. Auch Leibniz, wie er aus Wien gegenüber Herzog Anton Ulrich erwähnt, sah in der Festsetzung Stenbocks
38 Leibniz an Herzog Anton Ulrich vom 25. November 1712: „Mündlich ist er [Peter I.] auff allerhand particularia gangen und vermeynet, dass gegen Schweden nach den Reichsgesetzen verfahren werden solte.“, in: ebd., S. 281–182, hier S. 281. 39 Zum entsprechenden Reichsgutachten vom 2. April 1710 vgl. J[ohann] Chr[istian] Lünig (wie Anm. 26), S. 950–951. 40 Vgl. Alfred v. Arneth: Prinz Eugen von Savoyen: nach den handschriftlichen Quellen der kaiserlichen Archive, Bd. 2: 1708–1718, Wien, 1858, S. 154 u. S. 480 Anm. 30. Als Quelle wird ein Brief von Eugen von Savoyen vom 2. Juli 1710 genannt. Eine spätere Reaktion auf diese Forderung findet sich auch in der Gesprächsvorlage der kaiserlichen Berater für Karl VI. vom Juni 1712: „Wo doch der König in Schweden in gegenwerttigem Fall für kein Reichsfeind gehalten werden könne.“, in: Wien HHStA StAbt Russland II 235–6, Bl. 245–250, hier Bl. 246. 41 Das Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf stand in dynastischer Beziehung zum schwedischen Königshaus. Während des Großen Nordischen Krieges war es durch den Frieden von Traventhal (1700) zur Neutralität gegenüber den militärischen Gegnern von Dänemark verpflichtet. Mit dem Einverständnis, dass sich schwedische Truppen in die Festung Tönning zurückziehen können, wurde diese Neutralitätsverpflichtung verletzt. Vgl. Robert I. Frost: The Northern Wars. War, State and Society in Northeastern Europe, 1558–1721, Harlow 2000, S. 227–228.
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außerhalb des Reichsterritorums einen Grund, die Verhandlungen nicht mehr weiterzuführen. 42 Eine Neuaufnahme des Kongresses, erneut von Karl VI. initiiert, erfolgte erst im März 1714 mit Preußen, Mecklenburg-Schwerin und Gottorf als Beteiligte. Die Zielsetzung war ein Friedensvertrag für die gesamten Ostseeprovinzen. Der Abbruch des Braunschweiger Kongresses im März 1713 bedeutete nicht das Ende von Leibniz’ diplomatischer Tätigkeit, zwischen dem kaiserlichen und dem russischen Hof zu vermitteln. In Wien hatte Leibniz Kontakt zu dem neu installierten russischen Gesandten Andrej A. Matveev, dem Nachfolger Urbichs. In dessen Namen setzte Leibniz im Juni 1713 ein Rundschreiben auf für die kaiserlichen Berater Johann Friedrich von Seilern, den Hofkanzler, für Philipp Ludwig Wenzel von Sinzendorf, den Obersthofkanzler, und für Leopold von Schlick (Schlik), den Hofkanzler von Böhmen, sowie den zugehörigen Projektentwurf für eine Übereinkunft von Kaiser und Zar auf eine gemeinsame Position. 43 In einem Brief an Peter I. erwähnt Leibniz explizit seinen Kontakt zu Matveev wie auch seinen Zugang zum kaiserlichen Hof, was Matveev bekannt sei. 44 Leibniz war in Wien in Sondierungsverhandlungen zwischen den Nordischen Verbündeten, Kurhannover und dem Kaiser eingebunden. Die Initiative ging vom russischen Gesandten Matveev aus und stand im Zusammenhang mit den russischen Bemühungen, eine Allianz mit dem Kaiser zu arrangieren. Leibniz’ Korrespondenz mit dem russischen Gesandten Schleinitz in Hannover, die er zwischen Mai und Juli 1713 führte, wurde auszugsweise vom kursächsischen Gesandten Georg Sigismund von Nostitz vor Ort an den Warschauer Hof weitergeleitet. Belegen lassen sich anhand der Relationen, die Nostitz an August II. schickte, zumindest drei Leibnizbriefe an Schleinitz, wovon Exzerpte an den Warschauer Hof gingen. 45 42 Vgl. Leibniz an Herzog Anton Ulrich vom März 1713: „Ich glaube die neutralitäts Mesuren zu Braunschweig werden nun von selbst cessiren, da der Graff Steinbock so viel als eingesperret und zwar ausserm Reich im Schlesswickschen“, vgl. Guerrier II (wie Anm. 1), S. 296–297, hier S. 297. 43 Vgl. ebd., S. 305–306; zum Konzept des dazugehörigen Projektes, vgl. ebd., S. 306–307. 44 Vgl. Leibniz an Peter I. vom 26. Oktober 1713, in: ebd., S. 311–314, hier S. 312: „Es wird auch E. Mt. Botschaffter und geheimter Staats-Raht H. von Mattveof den ich zu zeiten aufgewartet, und dem mein zutritt bey dem hiesigen Ministerio bekand, mir ein zeignis [...] geben können.“ 45 Zu den für den Warschauer Hof belegten Exzerpten vgl. Leibniz an Schleinitz vom 27. Mai 1713 (undatiertes Konzept: Hannover GWLB, LBr 812, Bl. 43–44; Exzerpt: Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc. 2868/10, Bl. 143, entspricht in etwa der unteren Hälfte von Bl. 43r° des Konzepts); Leibniz an Schleinitz vom 28. Juni 1713 (undatierte, eigh. Abschrift: Hannover GWLB, LBr 812, Bl. 30, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 303–305 mit Datierung auf Juni 1713; Schleinitz bedankt sich in seinem Antwortschreiben für zwei Briefe vom 28. Juni und 1. Juli, vgl. ebd., S. 307; Exzerpt: Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc 2868/10, Bl. 145–146 mit wohl versehentlicher Datierung auf 8. Juni 1713, fast vollständige Abschrift); Leibniz an Schleinitz vom 1. Juli 1713 (Exzerpt: Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc 2868/10, Bl. 146–147). Zur Weitergabe der Exzerpte an August II. vgl. die Bemerkung von Nostitz in seiner Relation vom 15. Juni 1713: „Mr de Schleunitz m’ayant communiqué deux Lettres, l’une de Mr de Leibnitz, – l’autre, de Mr Mateof, Je les ay fait copier pour les envoyer à V. M. et si Elle trouve la pensée de ces Messrs. convenable à Ses
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Leibniz’ Schreiben vom 27. Mai 1713 wurde in Hannover darüber hinaus dem dänischen Residenten 46 und dem hannoverschen Minister Andreas Gottlieb von Bernstorff vorgelegt. 47 Leibniz kritisierte gegenüber Schleinitz, dass er als Verfasser des Schreibens genannt wurde. 48 Neben den Fragen nach einer eventuellen Unterstützung des Kaisers im Krieg gegen Frankreich sowie nach einem möglichen Konflikt mit dem Osmanischen Reich, wird in den genannten Schreiben auch eine mögliche Entsetzung Karls XII. als Lehensnehmer und damit eine Neuverteilung der schwedischen Reichslehen thematisiert. Die für August II. erstellten Exzerpte aus den Leibnizbriefen an Schleinitz zeichnen sich dadurch aus, dass sie Konzeptionen zur Beendigung der militärischen Konflikte innerhalb des Reichsterritoriums sowie zu einer künftigen Friedensabsicherung vorbringen, die sich auch in Leibniz’ für Karl VI. bestimmten Denkschriften von 1713/14 finden. 49 Diese Briefe und Schriften sind vor dem Hintergrund des im April 1713 verabschiedeten Friedensabkommens in Utrecht verfasst worden, die der Kaiser und das Heilige Römische Reich erst 1714 im Frieden von Rastatt bzw. Baden ratifizierten. Für Leibniz stellte sich im Sommer 1713 nach wie vor eine aus kaiserlicher Sicht vorteilhafte Beendigung des Krieges gegen Frankreich als Bedingung dar, um auch die militärischen Konflikte innerhalb des Reichsterritoriums im Kontext des Großen Nordischen Krieges dauerhaft befrieden zu können. Er plädiert für eine Fortsetzung des Krieges gegen Frankreich – mit Unterstützung der Nordischen Allierten – um einen Friedensvertrag zu verhindern, dessen mögliche Kon-
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Intérêts, Elle me fera la Grace de m’ordonner de quelle maniere je dois m’y conformer.“, in: Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc. 02868/10, Bl. 143; vgl. ebenso die Bemerkung von Nostitz vom 16. Juli 1713: „Je prends la liberté de joindre ici Copie de deux lettres, qui sont de nouveau venues de la part de Mr de Leibnitz [= Schreiben vom 28. Juni und 1. Juli].“, in: ebd., Bl. 144. – Für Leibniz’ Kontakte zu den diplomatischen Vertretern der involvierten Mächte vgl. seine Erwähnung im Brief an Schleinitz vom 28. Juni 1713, die Nostitz für wichtig genug erachtete, um sie in seinem Exzerpt für August II. aufzunehmen: „Je dinay hier chez luy [Matveev] avec l’Evêque de Livonie [Christoph Andreas Johann Szembek, nomineller Bischof von Livland] et Mons. le Comte de Wackerbarth, Ministre du Roy de Pologne, Mr. le B. de Weibourg, Minstre du Roy de Dannemarc, et Mr. L’Envoyé de Hollande“, in: ebd., Bl. 145. Möglicherweise handelt es sich um Johann Jacob von Holtze. Vgl. Schleinitz an Leibniz vom 15. Juni 1713, gedr. Guerrier II (wie Anm. 1), S. 300–303, hier S. 300. Vgl. Leibniz an Schleinitz vom 28. Juni 1713, ebd., S. 303–305, hier S. 304. Vgl. die Denkschrift für Kaiser Karl VI. vom 15. Juli 1713: Projet d’alliance avex les puissances du nord (Hannover GWLB LH 11, 6 B, Bl. 155–158, gedr.: Louis-Alexandre Foucher de Careil: Oeuvres de Leibniz (im Folgenden = FC), IV, Paris 1862, S. 214–217), die zeitlich und inhaltlich den genannten Leibnizbriefen an Schleinitz am nächsten steht; vgl. aber auch die Denkschrift für Kaiser Karl VI., die auf Januar 1714 datiert ist und die wesentlichen Punkte erneut aufgreift: Réflexions politiques faites avant la paix de Rastadt (Hannover GWLB LH 11, 6 B, Bl. 200–201, gedr.: FC, IV, S. 207–213).
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sequenzen mit den Auswirkungen des Friedens von Nimwegen (1678/79) vergleichbar wären. 50 Ein künftiger Friedensvertrag sollte den Status wiederherstellen, wie er im Westfälischen Frieden festgehalten war. Eine Schwächung der militärischen Möglichkeiten Ludwigs XIV. sollte darüber hinaus nicht nur dessen Expansionpolitik beenden, sondern auch einer französischen Unterstützung Schwedens im Großen Nordischen Krieg die Grundlage nehmen. Leibniz plädiert deshalb, was die Verfolgung der Interessen der im Großen Nordischen Krieg beteiligten Reichsstände betrifft, d. h. der Könige von Dänemark und Polen in ihrer Eigenschaft als Reichsfürsten, für eine eindeutige Priorisierung ihrer Interessen zu Gunsten des Reiches. 51 Anders formuliert: Eine Unterstützung des Kaisers im Krieg gegen Frankreich erachtete er als vorrangig gegenüber den Ambitionen, schwedische Provinzen zu erobern. Auch wenn Leibniz seine Vorschläge mit dem Argument der Beibehaltung des Status quo des Heiligen Römischen Reiches rechtfertigt, bedeutete es nicht, dass für ihn der Status des schwedischen Königs als Lehensnehmer unantastbar wäre. Im Gegensatz zu den kaiserlichen Diplomaten schloß er eine über die Reichsgesetze legitimierte Reichsacht nicht aus. Er spricht sich für einen Weg über die Reichsinstitutionen aus, um Beschlüsse zu fassen, die die Befriedung und künftige Sicherheit des Heiligen Römischen Reiches gegen Schweden garantieren sollen. Er insistiert, auf „legalen Wegen“ (voyes légitimes et conformes aux institutions impériales), 52 die widerrechtlichen Handlungen Karls XII. innerhalb des Reichsgebietes zu ahnden (womit sich Leibniz auf die schwedische Offensive von 1712 bezieht). Über den Reichstag, über die Reichskommission und mit Unterstützung des Kaisers sollte ein Reichsgutachten erstellt werden, in dessen letzter Konsequenz – bei Nichteinhaltung der beschlossenen Maßnahmen – die Reichsacht verhängt werden könnte. Eine vollständige Entsetzung der schwedischen Lehen, wie von den Nordischen Verbündeten beabsichtigt, wäre damit nicht das eigentliche Ziel, sondern lediglich ultima ratio.
50 Im Friedenswerk von Nimwegen erkannte Leibniz eine Mißachtung der im Westfälischen Frieden festgelegten politischen Mächtebalance wie auch der konfessionellen Ausgewogenheit in Europa zu Gunsten der Politik Ludwigs XIV. Die erfolgreichen französischen Reunionen von 1679–1684 betrachtete Leibniz als eine Konsequenz daraus. Vgl. hierzu z. B. seine Schrift von 1683: Mars Christianissimus, in: A IV, 2, S. 446–502. Vgl. Guido Braun: Frieden und Gleichgewicht bei Leibniz, in: Friedrich Beiderbeck / Irene Dingel / Wenchao Li (Hg.): Umwelt und Weltgestaltung (wie Anm. 3), S. 207–230, hier S. 222–223 sowie die dort angeführte Literatur. 51 Vgl. das Exzerpt von Leibniz an Schleinitz vom 28. Juni 1713 (wie Anm. 45), hier: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 303–304: „Mais il seroit à souhaiter [...] qu’on considerât aux Cours de Dannemarc et de Pologne que toutes les dépenses seront perdues, s’ils ne commencent par la France, laquelle étant mise à la raison, le Suède ne leur échappera pas. Mais s’ils prétendent de réduire premièrement leur forces contre la France, ils viendront trop tard, comme après la paix de Nimwege.“; vgl. ebenso die inhaltlich identische Begründung in der Denkschrift vom 15. Juli 1713, in: FC (wie Anm. 49), 4, S. 214–217, hier S. 216. 52 Vgl. ebd., S. 214.
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Für die Umsetzung dieser Konzeption sieht Leibniz die Notwendigkeit, dass die Könige von Dänemark und Polen als Reichsfürsten vor dem Reichstag und gegenüber dem Kaiser die Initiative ergreifen. 53 Der in Utrecht geschlossene separate Friedensvertrag zwischen Preußen und Frankreich 54 ist für ihn Anlaß, dass sich die kaiserliche Diplomatie gerade um eine Einbindung Preußens in die vorbereitenden Verhandlungen zu einem Reichsgutachten bemühen müsse. In einer Nichteinbeziehung Preußens erkennt er die Gefahr einer reichsinternen Isolierung Preußens sowie der Möglichkeit, dass sich auch andere Reichsstände nicht an einer Fortführung des Krieges gegen Frankreich beteiligen würden. 55 Gegenüber dem russischen Gesandten Schleinitz weist er auf die mögliche Absicht Preußens hin, den Status der schwedischen Reichslehen mit Unterstützung von Frankreich und Großbritannien zu erhalten, um dann in einem weiteren Schritt gegen die russischen Eroberungen im Baltikum vorgehen zu können. 56 Eine Einbindung des Moskauer Reichs in das politische Ordnungsgefüge des Heiligen Römischen Reichs oder gar die Ablösung Karls XII. durch Peter I. in seinem Status als Lehensnehmer wird von Leibniz in den genannten Briefen und Schriften an keiner Stelle befürwortet. Eine politische Allianz mit dem Kaiser wird als eine künftige Möglichkeit angesprochen. Als Voraussetzung hierfür nennt Leibniz auch noch Anfang 1714 einen gesicherten Frieden zwischen dem Moskauer Reich und dem Osmanischen Reich. 57 Der Konflikt mit Schweden, soweit er das Reichsterritorium betrifft, wird als reichsintern angesehen. Bereits in seinem Brief an Herzog Anton Ulrich, in dem er von seiner Audienz bei Peter I. in Karlsbad 53 Vgl. das Exzerpt von Leibniz an Schleinitz vom 28. Juni 1713 (wie Anm. 45), hier Guerrier II (wie Anm. 1), S. 304: „Pour proceder dans l’ordre des Constitutions de l’Empire, à fin de procurer la sûreteé de l’Allemagne du côté du Nord; il me semble que c’est aux Ministres des deux Rois, come Princes de l’Empire, de présenter des Mémoires contre la Suede, tant icy qu’à la Diete, à fin de porter la chose à un Commissions-Decret de l’Empereur, et puis à un ReichsGutachten“; vgl. auch die Denkschrift vom 15. Juli 1713, in: FC (wie Anm. 49), IV, S. 214– 217, hier S. 216: „suivi de procédures légales contre la Suède, fondées sur les constitutions de l’Empire comme autrefois; le Roy de Suède par ces démarches et déclarations hostiles, encor après le traité d’Altranstad, devant tomber in poenam diffidationis et fractae pacis publicae, et paroissant plus disposé à continuer qu’à changer de conduite sur les ordres de l’Empereur.“ In der Denkschrift für Kaiser Karl VI. vom Januar 1714 weist Leibniz auf den Verstoß Schwedens gegen die im Reichsgutachten beschlossene Neutralitätsverpflichtung der Nordischen Verbündeten innerhalb des Reichsterritoriums hin, vgl. ebd., S. 205–213, hier S. 209–210. 54 Der zwischen Frankreich und Preußen geschlossene Friedensvertrag ist Teil des Friedens von Utrecht vom 11. April 1713. 55 Vgl. die Denkschrift vom 15. Juli 1713, in: ebd., S. 214–217, hier S. 214–215. 56 Vgl. das Exzerpt von Leibniz an Schleinitz vom 1. Juli 1713, s. Anhang. 57 Vgl. die Denkschrift vom Januar 1714, in: FC (wie Anm. 49), IV, S. 205–213, hier S. 209: „Et il y a lieu de croire qu’une alliance directe avec le Czar, tant que ce monarque n’est pas pacifié entièrement avec le Grand Sultan, seroit exagerée par les ministres françois, anglois et suédois, à la Porte, d’une manière capable de faire de mauvais effects.“ – Mit dem Frieden vom Pruth vom Juli 1711 war der russisch-türkische Krieg beendet, die endgültige Bestätigung dieser Friedensvereinbarungen durch den Sultan Ahmed III. erfolgte im Juni 1713 durch den Frieden von Adrianopel. Karl XII. verließ erst im November 1714 das Osmanische Reich.
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berichtet, gibt er diese Position zu erkennen: Auf die von Peter I. geforderte Maßnahme gegen Schweden gemäß den Reichsgesetzen verweist Leibniz auf Dänemark und Kursachsen/Polen, die als Reichsstände gegenüber dem Kaiser entsprechend vorstellig werden könnten. 58 Damit betont Leibniz den reichsinternen Charakter der Angelegenheit. Diese Maxime setzt sich auch in den genannten Denkschriften fort. Leibniz begründet es damit, dass sich eine offene Unterstützung durch das Moskauer Reich als kontraproduktiv erweisen könnte und zu neuen, für das Heilige Römische Reich unvorteilhaften Allianzen, wie etwa zwischen Frankreich und dem Osmanischen Reich, führen würde. 59 Allerdings plädiert Leibniz gegenüber dem Kaiser, die (noch) prekäre Situation des Zaren zu nutzen und das Allianzangebot in indirekter Form, „sous la main“ zu nutzen: Eine militärische Unterstützung gegen Frankreich könnte in der Form realisiert werden, dass Dänemark und Kursachsen im Konflikt mit Schweden weniger Truppen zur Verfügung stellen, um nicht nur ihr Reichskontingent im Krieg gegen Frankreich in vollem Umfang rekrutieren zu können, sondern darüber hinaus in der Lage wären, es um den entsprechenden Umfang aufzustocken, den sie in der Vergangenheit aufgrund des Krieges gegen Schweden nicht leisten konnten. 60 Dieses Plädoyer für die Fortsetzung und Intensivierung des Krieges gegen Frankreich bedeutet allerdings nicht, die Expansionspolitik Ludwigs XIV. etwa durch eine des Kaisers abzulösen, vielmehr resultiert es aus der Befürchtung, Frankreich könnte seine Vormachtstellung auf dem Kontinent ausbauen und die Rolle des arbitre übernehmen. 61 Die projektierte Einbindung des Moskauer Reichs in das europäische Mächtegefüge als zusätzlicher Stabilitätsfaktor ist Leibniz’ eigene Vision, die anders konzipiert ist als kurzfristig angelegte militärische Allianzen im Kontext der beiden großen Kriege. 62
58 Vgl. Leibniz an Herzog Anton Ulrich vom 25. November 1712: „Ich habe gesagt, dass die Könige zu Dennemarck und Pohlen als Reichsstände ein solches bey dem Kayser und Reich ordentlich suchen müssten.“, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 281–182, hier S. 181. 59 Vgl. die Denkschrift vom 15. Juli 1713, in: FC (wie Anm. 49), 4, S. 214–217, hier S. 217: „Il est vray que l’Empereur apperemment ne pourra entrer présentement en alliance avec le Czar, parce qu’il a sujet de craindre que cela exaggéré par les ministres de France pourroit allarmer la Porte.“ 60 Vgl. ebd., S. 217: „si les deux Rois alliés du Czar se résolvoient, conformement à leurs véritables intérests, de donner non-seulement leur contingent courant, mais encor quelque chose de plus, sur le pied des arrérages des contingens passés (ce qu’ils pourroient faire sans rompre avec la France), le Czar les y pourroit assister pour cet effect sous la main.“; vgl. auch die entsprechende Ausführung in der Denkschrift vom Januar 1714, in: ebd., S. 205–213, hier S. 212. In den für August II. bestimmten Exzerpten der Leibnizbriefe findet sich kein entsprechender Hinweis. 61 Vgl. die Denkschrift vom Januar 1714, ebd., S. 213. 62 Zur Einschätzung, dass Leibniz vor dem Hintergrund des Friedens von Utrecht umso mehr auf eine Eindämmung französischer Hegemonialpolitik plädierte und hierfür eine Allianz zwischen dem Heiligen Römischen Reich und dem Moskauer Reich befürwortete, vgl. Friedrich Beiderbeck: Leibniz’s Political Vision for Europe, in: Maria Rosa Antognazza (Hg.): The Oxford Handbook of Leibniz, Oxford 2018, S. 664–683, hier S. 672.
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Eine vorsichtig formulierte Ablehnung des Leibniz’schen Vorschlags hatte der hannoversche Minister Bernstorff bereits nach der Vorlage des Leibnizbriefes an Schleinitz vom Mai 1713 formuliert. 63 August II. bezieht sich am 30. Juli 1712 in seiner Instruktion für Nostitz auf die „lettres jointes“, die dessen Relation vom 16. Juli 1712 beilagen, d. h. auf die Exzerpte von Leibniz’ Briefen an Schleinitz vom 28. Juni und 1. Juli. 64 Nostitz sollte gegenüber dem Hof von Hannover die Unterstützung Augusts II. für die hannoverschen Interessen bekräftigen. Der kursächsische Vorschlag zu Leibniz’ Konzeption bezieht sich ausdrücklich auf die schwedischen Provinzen innerhalb des Heiligen Römischen Reichs und plädiert ebenso für eine reichsinterne Lösung. Allerdings wird eine Neuverteilung der schwedischen Reichslehen als Bedingung gesehen, um dem Kaiser eine stärkere Unterstützung im Krieg gegen Frankreich gewähren zu können. Die Initiative müsse deshalb nicht von den Reichsständen, sondern vom Kaiser ausgehen. Sowohl den Reichsständen, die in den Großen Nordischen Krieg involviert sind, wie auch den Nachbarterritorien der (bisherigen) schwedischen Reichslehen sollte ein Besitzanspruch darauf als Entschädigung für Kriegsschäden garantiert werden. 65 Die Prioritäten sind ganz anders gesetzt als bei Leibniz. Eine Einbindung des Moskauer Reichs in künftige Friedensverhandlungen wird nicht angesprochen. Auf die Ablehnung der von Matveev geleiteten inoffiziellen diplomatischen Initative erfolgte von russischer Seite ein neuer Vorschlag durch den Gesandten Boris I. Kurakin in Den Haag. Kurakin ließ im September 1713 in Hannover und Wolfenbüttel ein weiteres Verhandlungskonzept unterbreiten, das den Kaiser als Mediator zur Beendigung des Großen Nordischen Krieges vorsah. Auch in diesem russischen Vorschlag sollte über einzelne Reichsstände, in diesem Fall über Kurhannover und Braunschweig-Wolfenbüttel, gegenüber dem Kaiser eine Allianz mit dem Moskauer Reich vorgeschlagen werden. Für die diplomatische Mission war der Wolfenbütteler Diplomat Rudolf Christian von Imhof vorgesehen. Auch diese Verhandlungsoption wurde von Nostitz in Hannover an August II. übermittelt. 66
63 Vgl. die Erwähnung in Schleinitz’ Brief an Leibniz vom 15. Juni 1713: „Mr. de Bernstorf est assez entré dans le goût de vos idées, quoiqu’il révoit bien de difficulté dans l’exécution“, gedr.: Guerrier II (wie Anm. 1), S. 300–303, hier S. 300. 64 Vgl. Anm. 45. 65 Vgl. die Instruktion für Nostiz vom 30. Juli 1713: Extrait des Ordres à Mr. le Comte de Nostiz (Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc 2868/10, Bl. 148): „Pour ce qui concerne les Lettres jointes à la premiere Relation du 16e Juillet, Sa Majesté les approuve, et est du même sentiment, qu’il est de l’Intérêt de la Ligue du Nord, d’entrer dans une plus Etroite union avec l’Empereur contre la France, et d’assister le premier, le plus que l’on pourra, dans la Guerre présente [...] si l’Empereur vouloit donner son consentement à la Conquête des Provinces Suedoises en Allemagne, et engager par son autorité les membres de l’Empire, y consentir aussy; de cette façon chacun des voisins de la Suede pourroit y trouver son compte [...] Car il est notoire, que la longue et onereuse Guerre contre la Suede, qu’Elle [gemeint ist August II.] a encore sur le bras [...] l’a mise dans une mauvaise situation; de sorte que l’on devroit plûtôt La secourir, que Luy demander du secours.“ 66 Vgl. die Relation von Nostitz an den Hof in Warschau vom 16. September 1713 sowie die Beilage einer Kopie des entsprechenden Verhandlungskonzepts, in: ebd., Bl. 151–153.
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Resumée Leibniz’ Konzeption einer Befriedung Europas von 1713 ist im Zusammenhang mit seiner diplomatischen Mission entstanden. Sie orientiert sich an der Legalisierung von Vereinbarungen über die Reichsinstitutionen, womit in der Praxis eine politische Stärkung der Reichsstände verbunden wäre. Seine Vorbehalte gegenüber den in Utrecht abgeschlossenen Friedensverträgen resultieren aus der Befürchtung, dass ein unter diesen Prämissen abgeschlossener Frieden nicht ein Gleichgewicht der europäischen Mächte garantieren, sondern die Hegemonialpolitik Ludwigs XIV. weiter begünstigen würde. Leibniz argumentiert in seiner Konzeption mit historischer Erfahrung, indem er auf die Konsequenzen aus dem Frieden von Nimwegen verweist. Die Hypothese, dass eine Koalition zwischen Frankreich und dem Osmanischen Reich geschlossen werden könnte, wird als massive Bedrohung wahrgenommen. Für eine effektive Eindämmung der praktizierten Außenpolitik Ludwigs XIV. und für eine Realisierung eines Friedensvertrages, der einen Mächteausgleich innerhalb Europas garantieren soll, sieht Leibniz das Moskauer Reich als notwendigen Stabilitätsfaktor. Die Tatsache, dass Leibniz sowohl auf die Dringlichkeit hinweist, dass die Reichsstände über die Reichsgesetzgebung Initiative ergreifen sollten wie auch seine Priorisierung des Krieges gegen Ludwig XIV. zeigt, dass Leibniz in wesentlichen Punkten seine eigene Vorstellung vorbrachte. Sie steht im Einklang mit Konzeptionen, die er bereits in früheren Schriften dargelegt hatte. Zugleich verdeutlicht Leibniz’ ‚Autorschaft‘, dass für den Versuch, die diplomatische Pattsituation zwischen dem Kaiser und dem Zaren aufzulösen, bewußt ein Gelehrter ausgesucht wurde, der ‚von außen‘, für die Diplomaten vorerst unverbindliche Optionen unterbreiten sollte. Anhang Leibniz an Hans Christoph von Schleinitz, Wien, 1. Juli 1713 – Überlieferung: Exzerpt: Dresden SächsHSTA, 10026 Geheimes Kabinett Loc. 2868/10, Bl. 146v°– 147v°. 2°. Auf Bl. 146 Teil des Exzerpts von Leibniz’ Brief an Hans Christoph von Schleinitz vom 28. Juni 1713. Extrait D’une Lettre du même au même, le 1er Juillet. 1713: Il semble, que les affaires par les Intrigues de La France et de L’Angleterre; ne vont pas encore assez bien à la Porte, et que les Suedois se flattent encore; de l’autre côté, le dessein de la Cour de Prusse, de sauver les Païs de la Suede en Allemagne, de concert avec La France et L’Angleterre, donne bien à penser. Et avec tout cela, Je me tiens au Plan, dont nous nous sommes entretenus. On apprehende que le Roy de Prusse ne reforce les Garnisons Suedoises des Places de la Mer Baltique. Si ce cas arrivoit, Je crois, que les Hauts Alliez du Nord, auroient d’autant plus de raison de tourner leurs forces contre La France au plûtôt: Et si La France êtoit mise à la raison, le regress contre la Suede seroit très facile, sans que d’autres le pourroient empêcher. Vous aurez vû, Monsieur, ce que Mr. Boulingbrock 67 a dit aux Minstres des Hauts Alliez contre 67 Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke.
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la Suede, Je crois qu’ils ne s’en soucient gueres, cependant ils feront d’autant plus de réflexion sur leur véritable Intérêt. La Lettre Circulaire que le Roy de Pologne a écrite aux Senateurs pour les appeller, semble marquer qu’on a des nouvelles assez douteuses de la Porte Ottomanne, et que les Intrigues de La France pourroient encore prevaloir; peût être que les Turcs font des Démonstrations de Guerre pour excroquer encore quelque chose des Moscovites, et qu’aprez cela, ils planteront là le Roy de Suede. Cependant, on ne peut encore rien assûrer, et en est toûjours dans la même incertitude. Car, il faut avouer, que, si les Turcs connoissoient leur véritable Intérêt, ils profiteroient des occasions favorables.
1708: EIN GESPENST GEHT UM IN EUROPA … Siegmund Probst, Hannover Der Ritter-Katalog der Leibnizedition enthält unter der Nr. 48452 einen merkwürdigen Eintrag für einen Brief von Leibniz an einen gewissen Isaac Bickerstaff, einen Kalendermacher und Astrologen. 1 Bickerstaff ist allerdings eine fiktive Gestalt, die zuerst Jonathan Swift in mehreren Schriften als Sprachrohr verwendete. 2 Bald entwickelte sie ein Eigenleben als literarischer Charakter, der von verschiedenen Autoren (darunter auch Daniel Defoe 3) und vor allem von Richard Steele als fiktiver Autor seiner Zeitschrift, des Tatler (1709-1711), weiter verwendet wurde. 4 Swift hatte erstmals für das Jahr 1708 eine kleine Schrift mit satirischen Prophezeiungen drucken lassen, die sich vor allem gegen den Kalendermacher und Astrologen John Partridge richtete und dessen baldigen Tod voraussagte. 5 In weiteren Publikationen behauptete Swift, dass Partridge tatsächlich gestorben wäre. Als dieser in seinem nächsten Almanach seinen vorzeitigen Tod dementierte, 6 konterte Swift mit der Verteidigungsschrift, A Vindication of Isaac Bickerstaff 7: Darin führte er in einer Liste internationaler gelehrter Korrespondenten von Bickerstaff, die dessen Seriosität suggerieren sollte, auch Leibniz an: „The most Learned Monsieur Leibnits thus addresses to me his Third Letter: Illustrissimo Bickerstaffio Astrologi[ae] 8 instauratori, &c.“ Leider gibt es bisher keinen Hin1 2
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Den Hinweis auf diesen Katalogeintrag verdanke ich meinem Kollegen Malte-Ludolf Babin. Auf die Schriften von Swift wird verwiesen nach der Cambridge Edition of the Works of Jonathan Swift, Cambridge, 2008ff (im Folgenden zitiert als SW, mit Angabe von Band und Seitenzahlen). Die „Bickerstaff Papers“ sind gedruckt in SW 2: Parodies, Hoaxes, Mock Treatises (hg. von Valerie Rumbold), 2013, S. 35ff. — Vgl. auch Valerie Rumbold: Swift in Print, Cambridge, 2020, S. 66–101. [Daniel Defoe]: The British Visions: or; Isaac Bickerstaff’s Twelve Prophecies for the Year 1711 [o. O., 1710]. — Vgl. Ashley Marshall, Political Journalism in London, 1695–1720: Defoe, Swift, Steele and their Contemporaries, Woodbridge, 2020. Vgl. SW 2, S. 39f. Predictions for the Year 1708. Wherein the Month and Day of the Month are set down, the Persons named, and the great Actions and Events of next Year particulary related, as they will come to pass. Written to prevent People from being further Impos'd on by vulgar Almanack makers. By Isaac Bickerstaff, Esq; [o. O., 1707] (SW 2, S. 35–58). John Partridge: Merlinus liberatus: being an almanack for the year of our Blessed Saviour's incarnation 1709, London, 1708; auf dem Titelblatt ist vermerkt: „Also to inform the world that I am living, contrary to that base paper said to be done by one Bickerstaff, &c.“. A Vindication of Isaac Bickerstaff Esq; Against What is Objected to Him by Mr. Partridge, in his Almanack for the present Year 1709, London, 1709 (SW 2, S. 65–75). Im Erstdruck irrtümlich: Astrologico; in einer späteren Ausgabe fügte Swift die Anmerkung hinzu, dass er in den fingierten Zitaten teilweise den Stil der Kontroverse zwischen Robert
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weis darauf, dass Leibniz von dieser Inanspruchnahme seines Namens jemals Kenntnis erhalten hätte, und es steht auch nicht zu erwarten, dass jemals ein Briefwechsel zwischen Leibniz und Bickerstaff in der Akademieausgabe gedruckt werden wird. Die Vindication wurde erst nach Leibniz’ Tod in Übersetzungen auf dem Kontinent verbreitet, anders als die erste Schrift mit den Prophezeiungen von Bickerstaff für das Jahr 1708. Diese stieß auf große Resonanz in Europa und wurde sofort – auch auszugsweise – in verschiedene Sprachen übersetzt. Sie war 1708 überhaupt das erste Werk von Swift, das auch in deutscher Übersetzung zugänglich war, und wurde in Kürze in verschiedenen Ausgaben gedruckt. 9 Der satirische Charakter der Schrift wurde zumindest nicht von allen Lesern erkannt, wie einige Publikationen belegen, in denen der Wert und die Methoden der Vorhersagen von Bickerstaff ernsthaft diskutiert wurden. 10 Bentley und Charles Boyle um die Authentizität der Phalaris-Briefe nachgeahmt habe (vgl. SW 2, S. 69, Anm. 16). 9 Vgl. Hermann J. Real (Hg.): The Reception of Jonathan Swift in Europe, London [u.a.], 2005, S. xix, sowie Marie-Luise Spieckermann: Swift in Germany in the Eighteenth Century: A Preliminary Sketch, in: Hermann J. Real (Hg.): The Reception and Reputation of Jonathan Swift in Germany, Bethesda-Dublin-Oxford-London, 2002, S. 15–38, insbesondere S. 15f. – Mir waren folgende Drucke zugänglich: Wundersahmes Prognosticon Oder Prophezeyung Was in diesem 1708. Jahr geschehen soll. Wobey nebst dem Monath auch der eigentliche Tag / und bey einigen gar der Orth und die Stunden außgedruckt / die Personen genennet / auch alle sonst vorfallende grosse Sachen desselben Jahrs Specialiter erzehlet sind / so wie dieselbe künfftighin sich zutragen werden. Beschrieben durch Isaac Bickerstaff, Edelmann. Nach der zu London gedr. Copia [o. O., 1708]; Weissagung Auf das Jahr M DCC VIII. In Englischer Sprach verfertiget Durch Isaac Bikerstaf, Einem Englischen Edelmann. Anjetzo aber In das Teutsche übersetzet. Gedruckt in diesem Jahr 1708, [o. O.]; Praedictiones Oder Vorkündigungen künfftiger Dinge / Auf das Jahr 1708. In Englischer Sprach geschrieben und an Tag gegeben / Durch Isaac Bickerstaf, Edelmann. Zu verhindern / daß sich die Engländer nicht ferner durch die gemeine Astrologos oder Calender-Macher betrügen lassen. Gedruckt im Jahr 1708, [o. O.], 1708. — Nachgewiesen sind weitere Ausgaben: Verkündigungen auff das Jahr MDCCVIII (1708): Worinnen die Monate und Tage angezeigt, die Personen benennet, und die wichtige Begebenheiten des bevorstehenden Jahrs eigentlich bemercket werden, Hg. ... Durch Isaac Bickerstaff, Berlin: J. Ch. Papen (Stabi Berlin; Signatur 1 in:@Yy 53; Verlust); Verkündigungen auf das Jahr MDCCVIII. Worinnen die Monate und Tage angezeiget, die Persohnen benennet, und die wichtige Begebenheiten des bevorstehenden Jahrs eigendlich bemercket werden, heraus gegeben, das Volck in Engeland für fernerem: Betrug des gemeinen Hauffens der Calendermacher zu verwahren, durch Isaac Bickerstaff, Ritter. Gedruckt in Londen, 1708. Aus dem englischen Original übersetzet. 10 Unverfängliche Gedancken / Uber Die unlängst im Druck heraus gekommene / aus der Englischen Sprache übersetzte Wundersame Prophezeyung / Auf das 1708. Jahr [o. O., 1708]; Johannes Urinus: Bescheidentliche Anmerckungen / über die Verkündigung / (Tit.) Hrn. Isaac Bikerstaff, Ritter / Die Er Auff das halbe Jahr MDCCVIII vom Martio, bis September gerichtet / Und In Englischer Sprache durch den Druck in London publique gemachet / Auff gnädiges Begehren Einer Hohen Standes-Person / den 14. April. styl. harmon. selbiges Jahres in eyl entworffen, Elbing, 1708; [Johann Kaiser]: Alethophili Sendschreiben an Herrn M. R. O. Von unterschiedlichen Etliche Jahre her vorgegebenen Neuen Propheten und Prophezeyungen / Worinnen Absonderlich auch von der Welt-beruffenen Männer Theophrasti Paracelsi, Isaac Bickerstafs, Emanuel Philippi Paris, Georgii Reichardi und Nicolai Drabicii Vaticiniis wegen
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Man könnte diese Diskussionen der Prophezeiungen von Bickerstaff als unwichtige Äußerungen von Personen am Rande des öffentlichen Lebens abtun, aber nicht nur zur damaligen Zeit war der Glaube an Weissagungen und die propagandistische Wirkung, die von ihnen ausging, keineswegs gering. Im Fall der BickerstaffVorhersagen gibt es Beispiele, die unvermutete Treffer und eine breitere Wirkung belegen, sowohl im Bereich des Spanischen Erbfolgekrieges wie des Großen Nordischen Krieges: Bereits in der Vindication weist Bickerstaff darauf hin, dass seine Prophezeiungen von der Inquisition in Portugal (einem Verbündeten Englands) verbrannt worden seien, in der Ausgabe von 1735 fügte Swift eine Fußnote hinzu, in der er den damaligen englischen Botschafter in Portugal, Paul Methuen, als Quelle dieser Information benannte. 11 In einer ganz anderen Gegend Europas, an der Ostsee, wo der Große Nordische Krieg wütete, gab es nicht nur die am 14. April 1708 in Elbing gedruckte Stellungnahme von Johannes Urinus, verfasst „Auff gnädiges Begehren Einer Hohen Standes-Person“ (s. Anm. 10), dort ist auch in einem in Danzig am 5. April 1708 geschriebenen Brief einer anderen „Standes-Person“ Folgendes zu lesen: Il court icy, comme dans toutes les autres villes de l'Europe la prophetie angloise cy joint, qui pretend predire entres autres choses que le Roy de Suede se declarera pour l'Empereur dans le Mois d'Aoust prochain. Je me souviens d'avoir lû qu'un certain astrologue ayant predit a un prince des choses desagreables, et s'estant predit a soy mesme un mort naturel ce prince luy repondit Tu a menti mon amys car tu sera pendû aujourdhuy. Un de bons dementis a Mr Bickerstaff autheur de la dite prophetie seroit, si S. M. S. se voulait declarer bientost defenseur et protecteur des Droits des Princes, et de la paix de Westphalie contre les violences de la Cour de Vienne.
Der über die Prophezeiungen empörte Verfasser war der in den Diensten des bayerischen Kurfürsten Maximilian II. Emanuel stehende Diplomat Graf Solar de Monasterol, Gesandter beim polnischen König Stanislaus I. Leszczyński und beim schwedischen König Karl XII. Dieser Graf Monasterol war ein Bruder 12 des beder jetzigen Schwedischen und anderer Conjuncturen / ausführlicher Bericht geschiehet, Cölln, 1712. 11 Vgl. SW 2, S. 68, Anm. 11. — Swift hatte 1694, in den Anfängen seiner kirchlichen Laufbahn, bei seinen Cousins Deane Swift (Sr.) und Willoughby Swift um Protektion gebeten: Diese lebten als Weinhändler in Lissabon und hätten ihm dort möglicherweise eine Position als Kaplan einer anglikanischen Gemeinde verschaffen können. Der Bericht über ein Autodafé, den ihm Deane Swift zuvor gegeben hatte, schien ihn damals nicht davon abzuschrecken (vgl. D. Woolley (Hg.): The correspondence of Jonathan Swift, D. D., Band 1: Letters 1690– 1714, Frankfurt am Main [u.a.], 1999, S. 120f). Später verfasste Swift eine Episode in Gulliver's Travels (Teil 4, Kapitel 12; SW 16, S. 432), in der Gulliver von einem portugiesischen Kapitän nach Lissabon gebracht wird: Gulliver beschwört den Kapitän, niemand von seinen Berichten über die Houyhnhms zu erzählen, da er befürchtet, dann von der Inquisition angeklagt und verbrannt zu werden. 12 Vgl. den Brief des Hannoverschen Gesandten in den Niederlanden, Johann Caspar von Bothmer, an den Ratspensionarius Anthonie Heinsius vom 11. Januar 1707, in: A. J. Veenendaal jr (Hg.): De briefwisseling van Anthonie Heinsius, 1702–1720, 19 Bde, 1976–2001, Bd VI, 1984, S. 17f. — Monasterol war wohl im März 1708 von Paris aus nach Danzig abge-
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kannteren Ferdinand Graf Solar de Monasterol, der als Botschafter von Maximilian II. Emanuel am französischen Hof fungierte. Über den Kurfürsten war als Parteigänger von Ludwig XIV. seit 1706 die Reichsacht verhängt worden, und Monasterol war sicher auch darüber erzürnt, dass von Bickerstaff der Tod des französischen Königs für dieses Jahr vorhergesagt wurde. Der Brief war wohl an den französischen Diplomaten und Offizier Johann Viktor II. Besenval von Brunnstatt adressiert, der neben dem Gesandten JeanLouis d'Usson, marquis de Bonnac, bei den mit Frankreich verbündeten Karl XII. und Stanislaus I. Leszczyński tätig war. 13 Besenval war im September 1707 in Danzig angekommen, das Schreiben vom 5. April 1708 wurde allerdings abgefangen oder heimlich kopiert. 14 Eine Abschrift aus den Akten von Prinz Eugen von Savoyen ist im österreichischen Kriegsarchiv erhalten. 15 Bei der dem Brief ursprünglich beigelegten Fassung der Prophezeiung handelte es sich möglicherweise um eine französische Übersetzung, z.B. die Prédictions pour l'année M. DCC. VIII. Ecrites & publiées en Anglois, par Isaac Bickerstaf, Gentilhomme; Pour empêcher les Anglois de se laisser tromper davantage par les Astrologues communs, ou les faiseurs d'Almanachs. Imprimé cette Année 1708. Darin lautet die Übersetzung des angesprochenen Abschnitts zum Großen Nordischen Krieg für den Monat August 1708 folgendermaßen: Les affaires de Pologne seront aussi entiérement terminées dans ce mois. Le Roi Auguste résignera ses pretensions qu’il avoit déja reprises pour quelque tems. Stanislas sera paisible possesseur du Trône, & le Roi de Suede se declarera pour l’Empereur (S. 18f).
Ein Flugblatt mit niederländisch-französischer Übersetzung (Predictions de Mr. Is. Bickerstaf, Astrol. Angl. Pour l’An 1708. A Londres chez l‘Auteur) enthält eine Kurzfassung: „Le Roi Stanislas sera paisible possesseur de Pologne, & le Roi des Suede se declarera pour l'Empereur.“ 16
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reist (vgl. den Bericht von Ladislaus Kökenyesdi von Vetes an Franz II. Rákóczi vom 26. März 1708, in: Joseph Fiedler (Hg.), Actenstücke zur Geschichte Franz Rákóczy's und seiner Verbindungen mit dem Auslande, Band 1, Wien, 1855, S. 88–90). Zu Besenval vgl. Andreas Affolter: Vom Schlachtfeld ins Audienzzimmer: Johann Viktor II. von Besenval, Solddienstoffizier und Diplomat im Dienst der französischen Krone, in: Jahrbuch für solothurnische Geschichte 89 (2016), S. 135–171 (http://doi.org/10.5169/seals632144). Korrespondenz zwischen diesen französischen und bayerischen Diplomaten und ihren Höfen war bereits seit 1707 in den Niederlanden abgefangen und im Schwarzen Kabinett des Kurfürsten von Hannover dechiffriert worden (vgl. Karl de Leeuw: The Black Chamber in the Dutch Republic during the War of the Spanish Succession and its Aftermath, 1707–1715, in: The Historical Journal, 42, 1 (1999), S. 133–156, insbesondere S. 145f). Österreichisches Staatsarchiv, AT-OeStA/KA FA AFA HR Akten 271 (Nordischer Krieg 1703–1710. Türkische Briefe, Fermane und Beglaubigungsschreiben des 17. und 18. Jahrhunderts), Großer Nordischer Krieg. Im Jahre 1708, Brief 1708/4/1. Den Haag: Koninklijke Bibliotheek / 1056 E 6 [11].
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Die Brisanz der politischen Prophezeiungen zeigt sich auch in den Texten der deutschen Übersetzungen. Die Praedictiones geben den Abschnitt komplett wieder: Die Sachen in Pohlen werden in diesem Monat auch gäntzlich zu Ende gebracht werden / der König Augustus wird seine Praetensionen / die er schon auf eine Zeit wieder hervor gesucht hatte / gäntzlich fahren lassen. Stanislaus wird den Thron friedlich besitzen; und der König in Schweden sich vor des Käysers Parthey erklären (S. 11). 17
In der Weissagung wird auf die Erwähnung von August II. von Sachsen-Polen verzichtet: Die Sachen in Polen werden in diesem Monat ihre völlige Endtschafft erreichen / Stanislaus wird seinen Thron ruhig besitzen / und der König in Schweden wird sich vor den Kayser erklären (Bl. [4r°]).
Noch kürzer verfährt das Wundersahme Prognosticon, das gar keine Namen nennt und die für August II. ungünstige Prophezeiung verschweigt: „Die Sachen in Polen werden in diesem Monat völlig abgethan werden“ (Bl. [5v°]). Ob nun von Swift beabsichtigt oder nicht, Bickerstaffs Vorhersagen entfalteten in Europa eine Wirkung auf politischer Ebene, der von ihm für 1708 prognostizierte Tod von John Partridge und Ludwig XIV. erfolgte jedoch noch nicht: Diese überlebten das Jahr 1708, aber beide verstarben schließlich im selben Jahr 1715.
17 Diese Prophezeiung Bickerstaffs gibt wohl eine Wunschvorstellung von Swift wieder: Er war ein Anhänger des schwedischen Königs Karl XII. und verachtete August II. als Feigling (vgl. SW 2, S. 54f, Anm. 60).
„L’HISTOIRE ANECDOTE DE NOSTRE TEMS“ Leibniz liest mit Königin Sophie Charlotte die Briefe Liselottes von der Pfalz an Kurfürstin Sophie Gerd van den Heuvel, Ronnenberg-Benthe Die Korrespondenz der Elisabeth Charlotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans, zählt zu den umfangreichsten Briefcorpora des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Auch wenn die Schätzungen über die Zahl der von ihr verfassten Briefe weit auseinandergehen – die Spanne reicht von 25.000 bis zu 60.000 eigenhändigen Schreiben in deutscher und französischer Sprache 1 – steht die Schwägerin Ludwigs XIV., Madame de France, mit ihrem unablässigen brieflichen Austausch vornehmlich mit anderen Angehörigen des europäischen Hochadels in ihrer Zeit singulär da. Allerdings sind nur annähernd 6.000 Briefe Liselottes überliefert. Eine verdienstvolle chronologische Zusammenstellung aller erhalten gebliebenen Schreiben weist exakt 5.758 Briefe aus. 2 Die meisten Antwortschreiben ihrer Briefpartnerinnen und Briefpartner sind gemäß der üblichen Praxis, die Privatkorrespondenz fürstlicher Personen nach deren Tode zu vernichten, nach dem Ableben der Herzogin von Orléans 1722 verbrannt worden. Auch hinsichtlich ihrer eigenen Briefe an ihre Tante, die hannoversche Kurfürstin Sophie, war sie sich des Schicksals dieses Konvoluts sicher: „Man wirdt desto eher die meine brenen, weillen man sie nicht wirdt leßen können undt sich woll der mühe nicht geben werden, solche zu übersetzen.“ 3 Die sich über mehr als 40 Jahre erstreckende Korrespondenz mit Sophie bildet das größte überlieferte Briefcorpus Liselottes von der Pfalz. Es umfasst 2.234 Briefe, 4 von denen Eduard Bodemann 1891 837 Stücke in Auszügen, d.h. ca. 10 Prozent des Gesamttextes, veröffentlichte. 5 Während Elisabeth Charlotte selbst ihre
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Vgl. Klaus J. Mattheier: Madame als Briefschreiberin, in: Sigrun Paas (Hg.): Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs, Heidelberg 1996, S. 95–97 (25.000) und Dirk Van der Cruysse: Liselottes französischer Briefwechsel, in: ebd., S. 99–103 („mindestens 60.000“). Vgl. Hannelore Helfer: Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen, Teil 1–2, Hannover 2007, Teil 2, S. 973–1138. Zitat nach Dirk Van der Cruysse: „Madame sein ist ein ellendes Handwerck“, Liselotte von der Pfalz – eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs, München, Zürich 1995, S. 516. Vgl. Helfer (wie Anm. 2), Teil 2, S. 1142–1166. Eduard Bodemann (Hg.): Aus den Briefen Herzogin Elisabeth Charlottes von Orléans an die Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1–2, Hannover 1891.
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Briefe als eine nicht abreißende, von stilistischen Feinheiten freie Plauderei betrachtete, deren Wert für sie im Vollzug des Schreibens und im momentanen Gedankenaustausch lag, erkannten die wenigen Zeitgenossen, welche die Briefe zu Gesicht bekamen, deren einzigartigen Charakter, wenn nicht gar ihre literarische Qualität, die sie wert erscheinen ließen, als Dokumente des Zeitalters aufbewahrt zu werden. 6 I. Dass dieses Konvolut der Briefe an Sophie nach dem Tode der Kurfürstin im Jahre 1714 dem gewöhnlichen Weg der Vernichtung entging, 7 dürfte nicht zuletzt auf die Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgehen, der schon früh den außerordentlichen zeithistorischen Wert der Briefe erkannte und – ausweislich eines Eintrags in seinem Tagebuch – bereits Anfang 1697 sich für deren Aufbewahrung einsetzte. 8 Entscheidend für den Erhalt dieses Teils des Nachlasses von Kurfürstin Sophie war aber die Tatsache, dass ihr Sohn, König Georg I., 1721 die Archivierung der bis dahin in zwei großen Vasen im Leineschloss in Hannover aufbewahrten Briefe verfügte. 9 Leibniz ging es nicht allein um die Konservierung eines historischen Dokuments für die Nachwelt. Denn für ihn selbst boten die Neuigkeiten aus Frankreich und speziell vom Versailler Hof nicht nur ein unterhaltsames Sittengemälde des Zeitalters Ludwigs XIV., sondern bisweilen auch eine geradezu tagesaktuelle Informationsquelle zu politischen Ereignissen und verschiedensten Neuigkeiten vom französischen Hof. Leibniz las die an Sophie gerichteten Briefe mit; nach Aussage des langjährigen Privatsekretärs von Kurfürstin Sophie, Charles-Nicolas Gargan, bewahrte er einzelne Schreiben teilweise monatelang bei sich zu Hause auf, 10 und offensichtlich unterrichtete ihn die Kurfürstin auch umgehend über wichtig erscheinende Details aus den Briefen, die er wiederum an seine Korrespondenzpartner weitergab. So konnte er z.B. im September 1696 Albrecht Philipp von dem Bussche, Landdrost der Grafschaft Diepholz, mitteilen, er habe durch einen gerade einge-
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Vgl. Van der Cruysse: Madame (wie Anm. 3), S. 515. Sie werden aufbewahrt im Niedersächsischen Landesarchiv unter der Signatur Hann. 91 Kurfürstin Sophie Nr. 1. Der Bestand ist gegliedert in insgesamt 41 Faszikel. Hann. 91 Kurfürstin Sophie Nr. 2 enthält noch einige Fragmente von Liselotte-Briefen. 8 Georg Heinrich Pertz: Leibnizens gesammelte Werke, aus den Handschriften der Kgl. Bibliothek zu Hannover, Folge 1, Bd. 1–4, Hannover 1843–1847, hier Bd. 4, S. 221: Tagebucheintrag vom 18. Januar 1697: „Bey der Churfürstin, dass Briefe von Madame aufzuheben.” 9 Georg Schnath: Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674–1714, Bd. 1–4, Hildesheim 1938–1982, Bd. 3, S. 773f. 10 Vgl. ebd., S. 774.
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troffenen Brief Liselottes an Sophie erfahren, dass die Nachricht vom Tode der spanischen Königin auf einer Falschinformation beruhe. 11 Und auch im Quietismusstreit zwischen Bossuet und Fénelon gewann Leibniz aus den Briefen Hintergrundinformationen, die sich weniger auf den theologischen Gehalt der Auseinandersetzung bezogen als vielmehr auf Stimmungen und Einstellungen der Versailler Hofgesellschaft gegenüber den beiden Kontrahenten. 12 Leibniz trat zwar erst nach dem Tode der Kurfürstin Sophie in direkten brieflichen Kontakt mit Elisabeth Charlotte, 13 aber schon Jahrzehnte zuvor war er in den Briefwechsel Sophies mit ihrer Nichte aktiv eingebunden, nicht nur als Rezipient. Wann immer Fragen zwischen den beiden Frauen aufkamen, bei denen das Wissen und die Expertise des Universalgelehrten dienlich erschienen, war Leibniz zur Stelle, z. B. beim Streit im Jahre 1699 am französischen Hof, ob das neue Jahrhundert am 1. Januar 1700 oder am 1. Januar 1701 beginne. 14 Mit dem Fortschreiten der Edition des allgemeinen Leibniz-Briefwechsels im Rahmen der Akademieausgabe zeigt sich, dass die zeitgenössische Leserschaft der Liselotte-Briefe nicht auf Angehörige des hannoverschen Hofes beschränkt blieb, sondern die Briefe auch das brennende Interesse einer weiteren prominenten Leserin fanden, nämlich der preußischen Königin Sophie Charlotte in Berlin. Die nachfolgend zu betrachtenden, zwischen Leibniz und Königin Sophie Charlotte bzw. Kurfürstin Sophie gewechselten Briefe des Jahres 1704 sind zwar in verschiedenen Bände der Ausgabe von Onno Klopp gedruckt, 15 aber erst in ihrer chronologischen Abfolge in Band 23 der Reihe I der Akademie-Ausgabe und im Zusammenhang mit einer weiteren Archivüberlieferung geben sie Auskunft über eine bisher unbekannte Rezeption der Liselotte-Briefe und über die Rolle, die Leibniz dabei spielte. II. Im April 1704 erteilte Kurfürstin Sophie Leibniz den Auftrag, er möge in den Konvoluten der Liselotte-Briefe „ce qu’il y a de curieux“ markieren, um diese Stellen anschließend kopieren zu lassen. 16 Zu welchem Zweck diese Auszüge angefertigt werden sollten, wird nicht gesagt. Das weitere Procedere lässt allerdings vermuten, dass Sophie diese Exzerpte für ihre Tochter bestellte. Leibniz wendet sich direkt an Sophie Charlotte und schlägt vor, mit ihr zusammen „cette Bibliotheque de lettres“, 11 Vgl. A I, 13 N. 22, S. 29 Erl. 12 Vgl. z.B. bei Bodemann die Briefnummern 350, 352, 355. 13 Eduard Bodemann edierte die Korrespondenz der Jahre 1715/16 in der Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1884, S. 1–54. 14 Vgl. Leibniz an Kurfürstin Sophie, 4./14. Januar 1699 (A I, 16 N. 46, S. 72–78). Vgl. auch Malte-Ludolf Babin, Gerd van den Heuvel: Alle hundert Jahre wieder. Vor 300 Jahren begann der Streit um den Jahrhundertanfang, in: Neue Zürcher Zeitung, 13./14. Februar 1999, S. 49. 15 Vgl. Onno Klopp: Die Werke von Leibniz, Reihe I, Bd. 1–11, Hannover 1864–1884, hier Bd. 9, 1873, S. 83f., und Bd. 10, 1877, S. 229f., S. 230f., S. 231, S. 248. 16 A I, 23 N. 215, S. 306f.
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die er mit nach Berlin bringen werde, durchzulesen, statt die Arbeit alleine in Hannover zu erledigen 17 Auf diese Weise hoffe er, dass man eine bessere Auswahl der für Sophie Charlotte interessanten Stellen treffen könne; zudem werde er durch diese Arbeit nicht in Hannover zurückgehalten, sondern könne schneller die geplante Berlinreise antreten. Sophie Charlotte, die sich des Informations-, vor allem aber des Unterhaltungswertes der Liselotte-Briefe an ihre Mutter wohl bewusst ist, stimmt begeistert zu: „j’aurés infiniment du plaisir de le voir, c’est l’histoire anecdote de nostre tems“. 18 Sophie Charlotte fasste damit die Korrespondenz Elisabeth Charlottes unter dem Gattungsbegriff der histoire anecdote zusammen, der um 1650 unter Berufung auf das Vorbild der Geheimgeschichte (Anekdota) des byzantinischen Hofes von Prokopios von Caesarea in Frankreich und Spanien entstanden war. Die histoire anecdote hat in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch nicht die Bedeutungsverengung der mehr oder minder amüsanten Kurzgeschichte erfahren, sondern bezeichnet im Sinne einer histoire secrète den Bericht über die geheimen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Geschehnisse vornehmlich am Hofe. 19 Die preußische Königin musste noch einige Geduld aufbringen, bis ihre Neugier auf die Geheimnisse des französischen Hofes gestillt wurde. Leibniz̕ Berlinreise verzögert sich wegen seiner Erkrankung, einer Wunde am Bein, um mehrere Monate. Das Briefkonvolut hat aber wohl bereits Ende Mai/Anfang Juni 1704 im Gepäck der Sophie Charlotte von Kielmannsegg, einer Halbschwester des hannoverschen Kurfürsten, die sich ebenfalls von Hannover aus auf den Weg nach Berlin macht, die preußische Königin erreicht. „Je garde religieusement la cassette aux lestres, quoique je serés fort tentée d’y metre le nez, mais j’atends vostre arivee et espere que le mal de genou ne vous retiendra plus à venir me doner le plaisir de vous voir“, so schreibt sie voller Ungeduld am 7. Juni 1704 an Leibniz. 20 Kurfürstin Sophie bestätigt in einem Brief vom 12. Juli 1704 den sehnlichen Wunsch ihrer Tochter, die Liselotte-Briefe zu lesen: Sie könne es kaum erwarten, den Koffer mit den Briefen zu öffnen. 21 Durch Leibniz‘ Beinleiden wird sich seine Berlinreise jedoch weiter verzögern; erst am 27. August trifft er in Lietzenburg ein. Ob, in welcher Weise und mit welchem Ergebnis die gemeinsame Lektüre der Liselotte-Briefe stattgefunden hat, geht aus der weiteren Korrespondenz nicht hervor. Ebensowenig wird klar, ob Sophie das gesamte bis dahin angefallene Konvolut für die Auszüge zur Verfügung stellte oder ob sie die aktuellsten Briefe zurückhielt. Das Zeitfenster, in dem diese Durchsicht und die Niederschrift der Exzerpte stattfinden konnten, ist klein. Es reicht von Leibniz‘ Ankunft in Berlin am 27. August
17 Ebd. 18 Ebd. N. 224, S. 319. 19 Vgl. dazu Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Strukturund Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 22–27. 20 A I, 23 N. 293, S. 407. 21 Ebd. N. 383, S. 535.
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1704 bis zur Abreise Sophie Charlottes Ende Januar 1705 zum Karneval nach Hannover, wo sie am 1. Februar versterben wird, während Leibniz in Berlin zurückbleibt. Mangels direkter Informationen über die Durchsicht der ‚Briefbibliothek‘ durch Leibniz und Sophie Charlotte bleibt zunächst die Möglichkeit, eventuelle Lesespuren im Corpus der Liselotte-Briefe selber nachzuweisen. In der Tat gibt es in den Briefen zwei Arten von Markierungen; zum einen mit Bleistift, zum anderen mit Rötel. Während die Bleistiftmarkierungen wohl auf Eduard Bodemann zurückgehen, der so die zu exzerpierenden Stellen für seine 1891 erschienene Auswahledition kennzeichnete, 22 liegt die Autorschaft der Rötel-Anstreichungen im Dunkeln. Bei aller Unsicherheit hinsichtlich der Herkunft der Markierungen sei im Folgenden die Hypothese gewagt, dass die Unterstreichungen auf die gemeinsame Lektüre von Leibniz und Charlotte verweisen. Dafür spricht auch, dass die Unterstreichungen mit Rötelstift in den Brieffaszikeln nach der Jahrhundertwende nicht mehr vorkommen. Es bleibt die Frage, ob sich neben den möglichen Lesespuren auch Exzerpte finden lassen, die mit den Rötel-Markierungen übereinstimmen. Seit langem wird in der Forschung angenommen, dass Leibniz Auszüge aus den Liselotte-Briefen offenbar aus eigenem Interesse und für sich selbst abschrieb. Diese sind überliefert in einem Aktenfaszikel des Niedersächsischen Landesarchivs in Hannover unter der Signatur Hann. 91 Kurfürstin Sophie Nr. 3 und finden sowohl in der Akademieausgabe als auch in der Sekundärliteratur Erwähnung. 23 Aber erst mit der Edition der oben zitierten Briefe von 1704 zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass es sich bei diesem Konvolut nicht um Exzerpte handelt, die Leibniz über viele Jahre nach und nach für sich selbst anfertigte, sondern dass die Auszüge auf den oben geschilderten Auftrag der Kurfürstin Sophie und die gemeinsame Lektüre von Leibniz und Sophie Charlotte in der kurzen Zeitspanne von Ende August 1704 bis Ende Januar 1705 zurückgehen. Eine detailliertere Analyse des Exzerpt-Faszikels kann diese Vermutung untermauern. Die Akte Hann. 91 Kurfürstin Sophie Nr. 3 umfasst insgesamt 120 Bl. Folio, Bl. 2-115 sind von Leibniz‘ Hand in flüchtiger Schrift eng beschrieben, mit bis zu 70 Zeilen pro Folioblatt. Am Anfang der kaum voneinander abgesetzten Exzerpte notiert Leibniz jeweils Ort und Datum der Liselotte-Briefe. Soweit nach der Papierrestaurierung noch erkennbar, weisen die Foliobögen identische Wasserzeichen auf, was dafür spricht, dass die Exzerpte nicht über einen längeren Zeitraum nach dem jeweiligen Eintreffen der Briefe angefertigt wurden. Die Exzerpte reichen vom ersten bekannten Brief Elisabeth Charlottes an Sophie vom 5. Februar 1672 bis zum 15. April 1699. Für den nächsten Brief werden
22 Allerdings stimmen die gekennzeichneten Stellen mit der tatsächlichen Textübernahme in die Edition oft nicht überein. Bisweilen wird mehr oder auch weniger Text übernommen, als durch Bleistift gekennzeichnet ist. 23 Vgl. z.B. A I, 13 N. 22, S. 29 Erl., I, 16 N. 46, S. 72 Erl. bzw. Gerda Utermöhlen: Sophie, Kurfürstin von Braunschweig-Lüneburg, in: Paas: Liselotte (wie Anm. 1), S. 53–59, hier S. 59.
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nur noch Ort und Datum notiert: „S. Clou 16 avril [1699]“. Kontinuierliche Auszüge aus der Korrespondenz zu eigenen Informationszwecken hätten kaum ein so abruptes Ende gefunden. Man wird also annehmen dürfen, dass die gemeinsame Durchsicht bzw. die Exzerpierung an dieser Stelle abgebrochen bzw. wegen Sophie Charlottes Hannoverreise Ende Januar 1705 unterbrochen wurde. Dass die Exzerpte in einem Zug notiert wurden und von Leibniz nicht einzeln und bald nach dem jeweiligen Briefdatum abgeschrieben wurden, zeigt auch eine Anmerkung im Exzerptenkonvolut zu seinem sehr knapp gefassten Auszug eines längeren Briefs Liselottes vom 21. September 1695: „[in diesem brief ist ein pourtrait von M. le Dauphin, so ich zu einer andern Zeit bereits extrahirt gehabt.]“ 24 Das Exzerptenkonvolut weist teilweise Wasserschäden und starke Ausbleichungen der Tinte auf. Von Blatt 2 bis Blatt 78 sind die Folioblätter auf Vorderund Rückseite beschrieben, von Bl. 79 bis Bl. 115 handelt es sich um Foliobögen, deren Innenseiten freigelassen sind, möglicherweise in der Absicht, spätere Nachträge dort einfügen zu können. Auf Bl. 116-120 befinden sich Reinschriften von drei Liselottebriefen von zeitgenössischer Schreiberhand, darunter auch der oben erwähnte Brief mit dem „poutrait von M. le Dauphin“. 25 Leibniz̕ eigenhändige Exzerpte dieser drei Briefe umfassen jeweils nur zwei bis drei Zeilen. 26 Der Wunsch, eine „histoire anecdote de nostre tems“ im Sinne von Episoden und Nachrichten zur Zeitgeschichte zu erhalten, wird bei der Gewichtung der Abschriften deutlich. Die Exzerpte des Jahrzehnts 1680-1690 umfassen 17 Folioblätter, für die Abschriften der nachfolgenden Jahre bis 1699 benötigt Leibniz 89 Blatt. Die Schwerpunktsetzung in der unmittelbaren Vergangenheit zeigt sich besonders bei den Exzerpten des letzten vollständig durchgearbeiteten Jahres 1698: Von 113 überlieferten Briefen dieses Jahres fertigt Leibniz aus 93 Stücken (Teil-)kopien an. 27 III. Die von Sophie Charlotte zusammen mit Leibniz getroffene Auswahl zeigt die ganze Bandbreite der Liselotte-Briefe: Höfischer Alltag, Intrigen, Klatsch und Tratsch, Skandalgeschichten, Rang- und Statusfragen, Krieg und Frieden, aber auch Persönliches wie Gesundheit und Krankheit, Biographisches und familiäre Angelegenheiten sind die Themen, die in der Sammlung berücksichtigt sind. Die Markierungen mit dem Rötelstift geben Anhaltspunkte für das besondere Interesse einiger Stellen, die Leibniz nachfolgend exzerpierte. Allerdings sind nur Teile der tatsächlich in größerem Umfang abgeschriebenen Briefe gekennzeichnet, und für längst
24 Hann. 91 Sophie Nr. 3 Bl. 50ro. 25 Port Royal, 21. September 1695 (Bodemann Nr. 215); Fontainebleau, 1. Oktober 1695 (nicht bei Bodemann); Fontainebleau, 5. Oktober 1695 (Bodemann Nr. 217). 26 Hann. 91 Sophie Nr. 3 Bl. 50f. 27 Bodemann wird aus diesem Jahr nur 41 Briefe auszugsweise präsentieren.
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nicht alle Exzerpte finden sich überhaupt diese Kennzeichnungen in den Originalbriefen. Im Rahmen dieses Beitrags kann keine auch nur annähernd vollständige Analyse und thematische Kategorisierung der Exzerpte aus mehreren hundert Briefen geleistet werden, einige Beispiele können jedoch die große Themenbreite in der getroffenen Auswahl illustrieren. Am 13. April 1681 28 schreibt Elisabeth Charlotte aus St. Cloud an Sophie und zählt zunächst die Briefe auf, die sie in den letzten Tagen von ihrer Tante und den Mitgliedern ihrer Pfälzer Familie erhalten hat. Leibniz paraphrasiert diese Eingangsinformationen und fasst die Antworten auf die letzten Sophien-Briefe knapp zusammen. Insbesondere hatte Sophie wohl über ihren jüngsten, 1674 geborenen Sohn Ernst August („Gustgen“) berichtet. Ein weiteres Thema, das Leibniz̕ Exzerpt aufgreift, betrifft die Architektur von St. Cloud im Vergleich zu italienischen Häusern. Ganz ungekürzt entnimmt Leibniz dem Liselotte-Brief aber eine der „gar schöne historien“, die Madame ihrer Tante erzählt hat und die unvermittelt an die Neuigkeiten aus der Familie und die Architekturdiskussion anschließt. Dem Schüler eines Jesuitenkollegs, der sich unbotmäßig und renitent verhalten hatte, so berichtet sie Sophie, seien von den Patres Schläge angedroht worden, „wenn er nachts nicht in seiner cammer“ bliebe. Daraufhin sei der ungehorsame Zögling, ein Sohn des Chevalier de Lorraine, zu einem Maler gegangen und habe sich auf die Pobacken zwei Heiligenbilder malen lassen, rechts Ignatius von Loyola, links Francisco de Xavier, 29 den Apostel der Inder. Als der Junge sein Verhalten nicht änderte und schließlich die Züchtigung anstand, habe der Junge sich auf die Knie geworfen und die beiden Gründer des Jesuitenordens zum Beweis seiner Unschuld um ein Wunder angefleht. Dessen ungeachtet hätten die Patres dem Zögling die Hosen heruntergezogen, um ihn zu schlagen, wären angesichts der Heiligenbilder aber in Ehrfurcht erstarrt, mit den Worten „miracle! celuy, que nous croyons un fripon, est un saint“ auf die Knie gefallen und hätten seinen Hintern geküsst. Elisabeth Charlotte ließ es sich nicht nehmen, in Kenntnis der Entourage ihres schwulen Ehemannes und deren Gepflogenheiten abschließend darüber zu spekulieren, was in dieser Situation noch hätte geschehen sein können. Offensichtlich fand das Histörchen, von Leibniz im Original des Liselotte-Briefs teilweise rot unterstrichen 30 und von ihm in extenso abgeschrieben, 31 das Gefallen der preußischen Königin. Ein seriöseres Thema, das von Elisabeth Charlotte immer wieder aufgegriffen und von Leibniz in die Exzerpte übernommen wurde, betraf den Quietismusstreit. Am 20. Juli 1698 schilderte sie die Auseinandersetzungen zwischen Bossuet und Fénelon als bloßen Machtkampf: „Ich versichere E.L., daß dießer bischofstreit nichts wenigers alß den glauben zum ziel hatt, alles ist pure ambition undt man
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Hann. 91 Sophie Nr. 1/01 Bl. 196–200. Vgl. auch Bodemann Nr. 34. Franz Xaver (Francisco de Jassú y Javier). Ebd., Bl. 198 v–199v. Hann. 91 Sophie Nr. 3 Bl. 8r.
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denckt schir ahn keine religion mehr, es hatt nur den bloßen nahmen davon“. 32 Die Abkehr ihrer Intimfeindin, Madame de Maintenon, von der Mystikerin Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon schildert Elisabeth Charlotte als durchsichtiges Manöver, um den Einfluss auf Ludwig XIV. nicht zu verlieren. Leibniz exzerpierte diese längere Passage vollständig mitsamt einem französischen Gedicht auf den Streit, das in Versailles in Umlauf war. 33 Nicht nur die Religionsstreitigkeiten innerhalb des Katholizismus am französischen Hof, sondern auch Liselottes persönliche religiöse Überzeugung, insbesondere ihre Rückbesinnung auf den Calvinismus, in dem sie aufgewachsen war, aber auch auf das Luthertum, fand das Interesse der preußischen Königin und wurde von Leibniz zu Papier gebracht. 34 So bestätigte Liselotte in ihrem Brief vom 7. August 1698 Sophies Meinung, „daß ein jeder in seinem sinn son petit religion à part hatt“. Die Reformierten, so bekräftigte sie, hätten sich „nicht weg jagen laßen“, „wenn es nur um predigt und psalmen zu thun were“. Schier unerträglich seien die Vokalgesänge in der katholischen Messe: „Die psalmen seindt doch warlich nicht so unangenehm zu hören, alß die voyellen von einer großen meß, welche einen offt recht ungedultig machen, nichts zu hören alß [ein geplerr von] aaaa eeee iiii oooo; wenn ich dörffte, lieff ich offt gern auß der kirch deßwegen, denn ich stehe es mitt rechter mühe auß. Dr. Luther weiß ichs recht danck, hübsche lieder gemacht zu haben; ich glaube, daß dieß viellen lust geben hatt, lutherisch zu werden […]“. 35 Auf das besondere Interesse der preußischen Königin trafen offensichtlich auch Nachrichten über die finanzielle Ausstattung, welche die Tochter Elisabeth Charlottes bei ihrer Verheiratung mit Herzog Karl Leopold von Lothringen im Herbst 1698 zu erwarten hatte. Mit 900.000 Franken von Ludwig XIV., 300.000 Franken von ihren Eltern und weiteren Geschenken in Form von Diamantschmuck („also alles in allem 1600 [.000]und nahe bey 1700.000 francken“) übertrafen die Zuwendungen bei einer fürstlichen Hochzeit bei weitem die Möglichkeiten an deutschen Höfen und schienen es wert, notiert und in Zahlen festgehalten zu werden. 36 Manche Exzerpte und Paraphrasen beziehen sich nicht auf ein Kernthema, sondern geben die von Elisabeth Charlotte unvermittelt aneinandergereihten Nachrichten vom Versailler Hof, Meinungsäußerungen zu den Zeitläuften und Antworten auf die Sophienbriefe in knapper Form wieder. Aus dem großen, 17 Seiten umfassenden Brief aus dem Kloster Montargis vom 8. Oktober 1698 37 notiert Leibniz z.B. Liselottes Stellungnahmen zu den Rangstreitigkeiten zwischen den Prinzen 32 Hann. 91 Sophie Nr. 1/11 Bl. 376–381, Exzerpt von Bl. 376v–377r. “Ich versichere … pure ambition” rot unterstrichen. 33 Hann. 91 Sophie Nr. 3 Bl. 95. Vgl. Bodemann Nr. 349. 34 Hann 91 Sophie Nr. 3 Bl. 96. Einen Überblick zu diesem Thema gibt anhand der gedruckten Liselotte-Briefe Beate Lüder: Religion und Konfession in den Briefen Liselottes von der Pfalz, Mannheim 1987. 35 Hann. 91 Sophie Nr. 3. Bl. 95. Den Text in [ ] lässt Leibniz aus, hier erg. nach Hann. 91 Sophie Nr.1/11 Bl. 407. 36 Ebd., Bl. 98. 37 Hann. 91 Sophie Nr. 1/11, Bl. 521–530.
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von Geblüt und den ‚Bastarden‘ Ludwigs XIV., zu den Eskapaden der Duchesse de Bourgogne, zu Theatertruppen oder zum abendlichen Karten-Glücksspiel, dem Landsknecht, bei dem Monsieur, der Gemahl Liselottes, 200 Pistolen verloren habe, während sie mit ihren „Hoffreulein undt alle[n] die so wenig gelt haben, undt nicht Landsknecht spielen können“ mit weit geringeren Einsätzen sich dem Gänsespiel widme. 38 Und auch eine von Elisabeth Charlotte an Kurfürstin Sophie übermittelte historische Nachricht zu einem Epitaph im Kloster Montargis für eine uneheliche Tochter Kaiser Friedrichs II., eine Mitteilung, die schon zuvor Leibniz̕ Aufmerksamkeit erregt hatte und von ihm am 22. November 1698 an seinen Korrespondenzparter Nicolai von Greiffencrantz übermittelt worden war, 39 wird in diesem Exzerpt notiert. IV. Von Historikern ebenso wie von germanistischer Seite wurde Eduard Bodemann schon früh vorgeworfen, er habe durch seine Auswahl den Gesamtcharakter der Liselottebriefe verfälscht. Den Anfang der Kritik machte 1885 Adolf Köcher, der eine Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648 bis 1714 40 in Angriff genommen hatte, die allerdings nur bis zum Berichtsjahr 1674 gedieh. Georg Schnath sollte mit seiner Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674-1714 41 an diese unvollendete Arbeit anknüpfen. Köcher hatte 1884 gerade den ersten Band seines Werkes veröffentlicht und plante, für sein Thema wesentlich erscheinende Briefe der Kurfürstin Sophie in den Anhang des zweiten Bandes zu übernehmen. Den Leiter der Königlichen und Provinzialbibliothek in Hannover, Eduard Bodemann, der 1885 den Briefwechsel Sophies mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz in den Publikationen der Preußischen Staatsarchive herausgegeben hatte 42 und eine weitere Edition in dieser Reihe plante, 43 empfand Köcher als unliebsamen Konkurrenten. Gegenüber seinem einflussreichen Mentor Heinrich von Sybel, u.a. Gründer der Historischen Zeitschrift, Leiter der Preußischen Staatsarchive und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, machte er seinem Unmut über die Briefauswahl Bodemanns Luft. Seine Kritik richtete sich zwar gegen die Edition der Briefe von Sophie an ihren Bruder, hätte 38 Hann. 91 Sophie Nr. 3, Bl. 99. 39 A I, 16 N. 192, S. 300f. 40 Adolf Köcher: Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648 bis 1714, 2 Teile, Leipzig 1884–1895. 41 Vgl. Anm. 9. 42 Eduard Bodemann (Hg.): Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, und des Letzteren mit seiner Schwägerin, der Pfalzgräfin Anna, Leipzig 1885. 43 Ders. (Hg.): Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover an die Raugräfinnen und Raugrafen zu Pfalz, Leipzig 1888.
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aber wohl im Falle der 1891 von Bodemann herausgegebenen Liselotte-Briefe nicht viel anders geklungen: Köcher bezweifelte gegenüber Sybel, „ob B. wirklich die richtige Auswahl getroffen hat, nicht zu viel reinen Klatsch abgeschrieben hat, nicht manche versteckte Anspielung auf bedeutsame Erscheinungen der Literatur oder der Politik übersehen hat“, und kam zu dem Schluss: „B. ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. In summa: ein guter Editor, aber ein schwacher Autor.” 44 Das ‚Bodemann-Bashing’ setzte sich im 20. Jahrhundert fort, als in den 1980er Jahren das Interesse an den Briefen der Pfälzerin auch in der Germanistik sprunghaft anstieg und weitreichende Pläne für eine vollständige Edition aller Briefe von Liselotte an die hannoversche Kurfürstin geschmiedet wurden. „Leider ist die Bodemannsche Edition kaum noch zu gebrauchen”, so stellte Paul Valentin 1993 fest; „sie enthält ungefähr nur ein Zehntel des ursprünglichen Textes, die Sprache ist stark modernisiert, die Auswahl ist, wie jede andere Auswahl auch, anfechtbar, oft sind Passagen aus verschiedenen Briefen, gelegentlich sogar nicht zueinandergehörende Satzfetzen zu zweifelhaften, sinnentstellenden und die Edition verfälschenden Kollagen zusammenmontiert worden. Eine korrekte Vorstellung der tatsächlich vorhandenen Briefe haben wir nicht.” 45 Michel Lefevre, ein Schüler Valentins, kritisierte ebenfalls die Bodemann-Edition und feierte 1996 quasi die Wiederentdeckung der im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv verwahrten Liselottebriefe an Sophie. 46 Nicht frei von Pathos rief er „das kartesianische Zeitalter in der Liselotteforschung” aus und reklamierte eine „Renaissance in der Liselotteforschung unter Festlegung von streng wissenschaftlichen Grundregeln”. Offensichtlich keinen Widerspruch zu diesen hehren Absichten sah der Autor in der von ihm getroffenen Auswahl der Originalbriefe, auf der seine Arbeit basierte: „das erste Kriterium war die Lesbarkeit der Briefe”. 47 Die mit viel Verve u.a. auf zwei Kolloquien Dutzender Liselotte-Spezialisten in Heidelberg (1986) und in Paris (1992) vorgetragenen Absichten und Pläne, die Briefe Liselottes an Sophie neu und komplett zu edieren, verliefen im Sande. Die von Dirk Van der Cruysse, dem Biographen Liselottes und einem der besten Kenner des Briefwechsels der Herzogin von Orléans, konstatierte „urgence d’une nouvelle concertation sur une édition critique des lettres allemandes de Madame!” blieb ein
44 Köcher an Sybel, 5. Mai 1885. Zitat nach Christine van den Heuvel: Adolf Köcher (1848–1917) – Ein hannoverscher Landeshistoriker in preußischer Zeit, in: Dies., Henning Steinführer, Gerd Steinwascher (Hg.): Perspektiven der Landesgeschichte. Festschrift für Thomas Vogtherr, Göttingen 2020, S. 639–665, hier S. 658. 45 Paul Valentin: Zu den Briefen der Madame Palatine an die Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Klaus J. Mattheier u.a. (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch, Frankfurt/Main u.a. 1993, S. 353–359, hier S. 354. 46 Michel Lefevre: Die Sprache der Lieselotte von der Pfalz. Eine sprachliche Untersuchung der deutschen Briefe (1676–1714) der Herzogin von Orleans an ihre Tante, die Kurfürstin von Hannover, Stuttgart 1996, S. 11. 47 Vgl. ebd., S. 28, 27, 17.
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Appell ohne Resonanz. 48 Anders als Eduard Bodemann, der als Einzelkämpfer neben zahlreichen anderen Briefeditionen, neben den Katalogen für die Leibniz-Korrespondenz, die Leibniz-Handschriften und den gesamten Manuskriptbestand der hannoverschen Bibliothek auch die Auswahledition der Liselottebriefe an Sophie unter den Arbeits- und Publikationsbedingungen des späten 19. Jahrhunderts in kurzer Zeit vorlegen konnte, vermochte die versammelte Expertenschar das Vorhaben bis heute nicht auf den Weg zu bringen. Will oder kann man nicht auf die Originale bzw. die vorhandenen photographischen Reproduktionen zurückgreifen, so ist man weiterhin auf die Bodemannsche Edition angewiesen, die im Übrigen hinsichtlich der Texttreue und Orthographie keineswegs so schlecht dasteht, wie ihr bisweilen nachgesagt wurde. Ein gängiger Vorwurf an die Bodemannsche Auswahledition lautet, sie hätte dem Klatsch, den Skandalgeschichten, den Zoten und Obszönitäten, kurz: den „Anekdoten“, zuviel Raum gegeben. 49 Diese grundsätzliche, die Bedeutung des Gattungsbegriffs anecdote im 17. und 18. Jahrhundert verkennende Kritik richtet sich auch gegen die erste, 1789 explizit als Anekdotensammlung auf den Buchmarkt gebrachte Publikation von Liselotte-Briefen, die Anekdoten vom Französischen Hofe, 50 von denen Friedrich Schiller weite Teile in seine Allgemeine Sammlung Historischer Memoires aufnahm und damit erst recht bekannt machte. 51 Die Anekdoten, deren deutscher Fassung bereits ein Jahr früher eine französische Ausgabe vorausgegangen war, enthielten Auszüge von Briefen Liselottes an Caroline von Wales und angeblich auch an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Originalbriefe sind bis heute nicht auffindbar, man muss von ihrer Vernichtung nach der Drucklegung ausgehen, was den Liselotte-Biographen Dirk Van der Cruysse zu Zornesausbrüchen („… charcutées stupidement et réduites à un recueil d’anecdotes”) gegen die Herausgeber des späten 18. Jahrhunderts veranlasste. 52 Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass eine solche Sichtweise anachronistisch ist, die Bedürfnisse des Buchmarktes des 18. Jahrhunderts verkennt und die
48 Dirk Van der Cruysse : Du contat de carence au revirement prometteur: Etat présent de la Liselotte-Forschung, in: Klaus J. Mattheier, Paul Valentin, Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs, Tübingen 1990, S. 1–20, hier S. 20 49 Ebd., S. 24. 50 Anekdoten vom Französischen Hofe vorzüglich aus den Zeiten Ludewigs des XIV. und des Duc Regent aus Briefen der Madame d’Orleans Charlotte Elisabeth Herzog Philipp I. von Orleans Witwe Welchen noch ein Versuch über die Masque de Fer beigefügt ist, Strasburg [tatsächlich: Braunschweig] 1789. [Nachdruck, mit einem Nachwort von Maria Moog-Grünewald, Hildesheim u.a. 2006]. 51 Friedrich Schiller (Hg.): Anekdoten von Ludwig XIV. und seinem Hofe. Aus den Briefen der zweiten Gemahlin Herzogs Philipp I. von Orleans, Charlotte Elisabeth, geb. Prinzessin von der Pfalz, in: Allgemeine Sammlung historischer Memoires vom 12. Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten […]. 2. Abtheilung, Bd. 24, Jena 1802, S. 167–318. 52 Van der Cruysse fuhr fort: „C’etait la premiere d’une longue série d’Anecdotes, Mélanges, Fragmens, […] c’est-à-dire d’insipides et malhonnêtes décoctions”. Vgl. Dirk Van der Cruysse: Madame Palatine, Princesse européenne, Paris 1988, S. 568 und 621.
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Anekdoten, „eine im 18. Jahrhundert ebenso übliche wie beliebte Form der Historiographie, insbesondere der Sitten- und Kulturgeschichte“, genau die Erwartungshaltung eines breiten Publikums trafen. Gerade die „naturalistische Porträtierung des Hofes und des ‚Hinterhofes‘ Ludwigs XIV. und des Regenten“ garantierte den verlegerischen Erfolg und weckte das Interesse einer bürgerlichen Leserschaft an der zuvor in den Archiven vergrabenen Korrespondenz. 53 Als Motiv für die Publikation der Anekdoten führte der Herausgeber 1789 an, ein „treues Gemählde“ „von dem Sitten-Verderbnisse jener Zeiten“ zu präsentieren. 54 Damit setzte eine mit aufklärerischer Verve vorgetragene Skandalisierung der in den Briefen geschilderten Zustände ein, deren Beschreibung im Binnenraum der aristokratischen Hofgesellschaft um 1700 noch nicht als problematisch wahrgenommen worden war. Die Briefe Elisabeth Charlottes können zur literarischen Gattung der im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts verbreiteten anecdotes gezählt werden, einer literarischen Form, „die einen Zwischenstatus zwischen der mündlich verbreiteten und der gedruckten Literatur einnahm, und dieser Zwischenstatus schloss eine permanente Interferenz zwischen Erzählen, Zuhören, Schreiben und Lesen ein.“ 55 Bei der Korrespondenz Liselottes von der Pfalz, so muss man sich stets vor Augen halten, handelt es sich um Privatbriefe, deren Inhalte zunächst für den Empfänger oder die Empfängerin, darüber hinaus allenfalls für einen kleinen Rezipientenkreis an den Höfen bestimmt waren. Auch Liselotte „zählte auf aristokratische Diskretion“. 56 Und solange nicht die tatsächliche politische Arkansphäre tangiert war, sah die französische Briefzensur offensichtlich auch in der Diffamierung einzelner Personen oder der Ausmalung bizarrer Verhaltensweisen am französischen Hof keinen Anlass, diese Schreiben zu unterdrücken. Andernfalls hätten wir einen Großteil der Liselotte-Briefe heute nicht. Die Kritik des späten 20. Jahrhunderts, bei der Auswahl von Anekdoten handele es sich um eine „leere Hülle“, die das Wesentliche der Briefe unterschlage, 57 verkennt den Grundzug des Briefcorpus als „pointillistischen Tagebuchs“, 58 dessen Ausnahmestellung im Netz der Korrespondenzen um 1700 gerade auf dem sprunghaften, kaum ein Thema scheuenden Briefstil der Herzogin basiert. Es war diese Insidergeschichte, die scheinbar kein Blatt vor den Mund nehmende histoire anecdote, die das gleichbleibende Interesse der
53 Vgl. Maria Moog-Grünewald in ihrem Nachwort zu den Anekdoten (wie Anm. 50), S. 2. 54 Anekdoten (wie Anm. 50), Vorerinnerung, S. III. 55 Sonja Hilzinger: Anekdote, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 7–26, hier S. 9. 56 Volker Kapp: Pathos der Ehrlichkeit und Kunst des Schreibens in den Briefen der Liselotte von der Pfalz, in: Klaus J. Mattheier, Paul Valentin, Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit (wie Anm. 48), S. 175–199, hier S. 189. 57 Lefevre: Sprache der Lieselotte (wie Anm. 46), S. 24. 58 Peter Michelsen: Ein Genie des Klatsches. Der deutsche Briefstil der Herzogin Elisabeth-Charlotte von Orléans, in: Mattheier/Valentin, Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit (wie Anm. 48), S.151–174, hier S. 161.
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Rezipienten über 300 Jahre garantierte. Das gilt auch für die von Leibniz und Königin Sophie Charlotte getroffene Auswahl. Als „wahres Genie des Klatsches“ 59 war Elisabeth Charlotte sowohl in der exklusiven höfischen Sphäre um 1700 als auch für die Bildungsschichten um 1800 und für eine mehr oder minder frankophobe deutsche Öffentlichkeit um 1900 eine ‚Marke‘, deren briefliche Hinterlassenschaft sich wandelnder Erwartungshaltungen bediente: Befriedigung von Neugier und exklusive Unterhaltung in der höfischen Sphäre um 1700, herrschaftskritische Skandalisierung der Welt des Hofes am Ende des Ancien régime, die Bestätigung deutschnationaler Vorurteile gegenüber ‚französischen Zuständen‘ am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Ausweitung des Textcorpus oder eine Komplettedition würde den Gesamteindruck, den die vorliegenden Auswahltexte vermitteln, wohl nicht wesentlich verändern. Für alle Auswahleditionen dieser drei Jahrhunderte gilt, was für die Anekdoten des Jahres 1789 festgestellt wurde: Angesichts der Vorliebe Elisabeth Charlottes für Bonmots und skurrile Geschichten, für Scherz- und Witzreden war der Selektionsaspekt der Herausgeber „kein dem Briefstil und -habitus der Herzogin völlig fremder.“ 60 Und selbst wenn man einer solchen Interpretation nicht zustimmt und vor allem die Edition Bodemanns wegen ihrer vermeintlich einseitigen Auswahl von Zoten, Histörchen und Skandalgeschichten kritisiert, so muss man ihm doch zugute halten, dass er sich über weite Strecken an den Auszügen orientierte, die auch Leibniz und Königin Sophie Charlotte vorgenommen hatten. Bei allen möglichen Vorbehalten gegenüber der Auswahl Eduard Bodemanns bleibt zu konstatieren: Er edierte nicht nur auf den Spuren eines Weltweisen und Universalgelehrten, er folgte mit seiner Auswahl offensichtlich auch einem königlichen Geschmack.
59 Vgl. ebd., S. 166. 60 Ebd., S. 164.
V. LEIBNIZ-BILDER UND LEIBNIZ-FORSCHUNG
LEIBNIZ IN SPANISH PHILOSOPHY (18TH – 21ST CENTURY) 1 Juan A. Nicolás, Granada The history of Leibniz’s reception in Spanish philosophy has yet to be written in a rigorous and detailed way. The reception during the 18th and 19th centuries, in particular, still lacks a detailed and documented study. Much better known is Leibniz’s reception throughout the 20th century to the present day. An important feature in this reception is the interaction between what is produced and disseminated in Spain and in Latin America. Editions from one side of the Atlantic have been reproduced on the other and vice versa. We will focus on some of the most relevant events in the history of this reception that took place in Spain, and we will only marginally refer to some data from the Latin American context. 1. Antecedents: First interactions and receptions Interaction between Leibniz and Spanish philosophy starts with his reception of the thinking of some Hispanic authors. These include Ramón Llull (Palma de Mallorca 1232–1316), Pedro de Fonseca (Lisbon 1528–1599), Sebastián Izquierdo (Albacete 1601–1681), Juan Caramuel (Madrid 1606–1682), or Francisco Suárez (Granada 1548–1617). The influence these authors have on thinking has been analysed, especially in the case of Suárez. 2 But the object of study here is the reception that Leibniz’s work has had in the past throughout the history of Spanish philosophy. It can generally be said that the reception of Leibniz’s work in Spanish philosophy has been partial and intermittent, depending on two factors: on the one hand, the state of publication of Leibniz’s own work; and on the other, the political and cultural vicissitudes of the country. It is important to mention here two examples of Leibniz’s incorporation into Spanish philosophy, one in the 18th century (Benito Feijoo) and the other in the 19th century (Jaime Balmes). They are two extremes of Leibniz’s reception in very different philosophical, cultural and religious senses. They clearly represent the vicissitudes that the reception of Leibniz’s work in Spain has suffered in the past. In the 20th century, the mode of presence of Leibnizian
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Work carried out within the framework of the research project Leibniz: Philosophical and scientific works (PGC2018.094692.B.I00) funded by the Ministry of Science, Innovation and Universities of Spain. Cf. Miguel Escribano, Juan A. Nicolás, La influencia de Suárez en la metafísica de Leibniz, in: Éndoxa, 46 (2020), pp. 323–348.
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thinking in Spanish philosophy underwent a qualitative change. 3 The critical edition of Leibniz’s work has come a long way and the interrelation of Spanish researchers with those from other countries, especially Germans, has intensified considerably. Hannover’s Leibniz-Archiv has become a mandatory place of stay and research for Spanish researchers of Leibnizian thinking. This resulted in the emergence of a knowledge and a critical use that has no precedent since Leibniz’s death. Going back to the 18th century, almost the same time as the death of Leibniz, the essayist and philosopher Benito Feijoo (1676–1764), author in part contemporary with Leibniz and representative of the spirit of the Enlightenment in Spain, explains the philosophy of the German philosopher in his texts. It has been considered “a privileged moment in the presence of Leibniz in Spanish thinking”. 4 Feijoo presented Leibnizian thinking among the most innovative currents in Europe in philosophy and science together with the discussions of the Royal Society of London or the Academie de Sciences of Paris. Feijoo therefore confronted the most decadent and less productive Scholasticism implemented in many Spanish universities in the 17th and 18th centuries and promoted the spirit of the Enlightenment in the Spanish intellectual sphere. But the dispute between modern enlightened philosophy and scholastic philosophy would not alter the position defended by Benito Feijoo. The scholastic reaction in defence of the more conservative religious tradition was powerful in the 18th century and remained so for a long time. In this sense, the assessment of Leibniz’s work varied from its rejection by some scholars (Vicente Fernández Valcarce, Pedro de Calatayud) to its adoption and defence by the authors closest to the conservative scholastic philosophy. As early as the 19th century, it was Jaime Balmes (1810–1848) who attempted a reform of scholastic philosophy, without completely abandoning it, selectively and critically opening it to the authors and currents of modernity. In this opening turn to Modernity Balmes critically includes Leibniz. 5 He rejects his rationalisticmathematising reduction of rationality, due to Cartesian influence, but ends up accepting the whole of his philosophy as compatible with the philosophical spirit of Christianity. 3
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This can be seen in the monographic issue organized by Juan Arana dedicated to reviewing the studies on Leibniz in Spain in the last decades of the 20th century. Treinta años de estudios leibnizianos, Thémata, 29 (2002). Other partial contributions along these same lines are Quintin Racionero, La cuestión leibniziana, in: Annals of the History of Philosophy I Seminar, 1 (1980), pp. 263–311. and Tomás Guillén Vera, Publications on G. W. Leibniz in Spanish journals from 1970-1984, in: Azafea, 1 (1985), pp. 377–414. A specific analysis of this philosophical relationship can be found in Ezechiel de Olaso, Leibniz and Feijoo (1676–1764). Some historical notes about the early reception of Leibnizian ideas in Spain, in: Leibniz, Werk und Wirkung. Vorträge IV. Internationaler Leibniz-Kongress, Hannover 1983, pp. 548–556. An approach to the reception of Leibniz in the work of Balmes can be seen in José Antonio Castillo Miranda, La recepción de Leibniz en la filosofía de Jaime Balmes, in: Manuel Sánchez Rodríguez, Miguel Escribano (eds.), Leibniz en diálogo, publisher’s Thémata, Seville 2016, pp. 347–358.
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This disparate attitude to Leibnizian thought could be called the first massive arrival of Leibniz in Spain. At the end of the 19th century, the first relatively large edition of Leibniz’s works in Spanish was published. It is about the selection and translation of Patricio de Azcárate. From then on and throughout the 20th century, Leibniz’s presence in the History of Philosophy programmes of Spanish universities became more intense and continuous, also spurred by translations from Latin America. 2. A starting point: the edition of Patricio de Azcárate (1878) In 1878, an important event takes place in the history of Leibnizianism in Spain. The edition of Patricio de Azcárate (1800–1886), Obras de Leibnitz puestas en lengua castellana (Medina publishing house, Madrid, 1878–1879) is published in five volumes. It is the first Spanish edition of Leibniz’s works of a certain size, so it can be considered the starting point of the reception and significant influence of Leibniz in Spain. Hence, the Biblioteca Hispánica Leibniz inaugurated in 2012 takes the date of this edition as the starting point for its bibliographic database. Before this edition, and even in some later cases, Leibniz’s works could be directly accessed through Latin texts and at other times through French translations and/or editions. The Azcárate edition, volume I, entitled Metaphysical principles, contains a selection of metaphysical texts such as the Discours de métaphysique, De primae philosophiae emendatione, Système nouveau de la nature et de la comunication de substances, De rerum originatione radicali, Principes de la nature et de la grace fondés en raison, and La Monadologie (up to 35 texts). The Nouveaux essais occupy volumes II and III. Volume IV is dedicated to Philosophical Correspondences and contains the correspondences with Antoine Arnauld, Simon Foucher, Bernard Le Bovier de Fontenelle and Samuel Clarke. Finally, volume V contains the TeodiceaSome of these texts were later republished in Mexico by Francisco Larroyo in 1977. Patricio de Azcárate also published in 1861 Exposición histórico-crítica de los sistemas filosóficos modernos. 6 The second volume contained a chapter dedicated to the presentation of Leibniz’s doctrine (pages 287–330), along with chapters dedicated to René Descartes, Nicolas Malebranche, and Baruch de Spinoza. The detailed presentation of Leibnizian thinking is centred on the theory of monads, preestablished harmony, freedom, the “theory of sufficient reason” (p. 322) and the law of continuity. Despite the error of reintroducing teleologism, rejected by Francis Bacon and René Descartes, Pablo de Azcárate considers Leibniz “a great and elevated soul” (p. 309). This same period of the late 19th century saw the edition and translation of Antonio Zozaya, Leibniz. La Monadología: opúsculos, Sociedad General Española de
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Patricio de Azcárate, Exposición histórico-crítica de los sistemas filosóficos modernos y verdaderos principios de la ciencia, 4 vols., Madrid 1861.
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Librería, Madrid 1882 expanded in the second edition of 1889. It contains the Monadologie, De Ipsa natura, De rerum originatione radicali, Meditationes de cognitione, veritate et ideis and Système nouveau de la nature et de la communication des substances. These editions in Spanish were of decisive importance to generalise and standardise the study and teaching of Leibnizian thinking. In the 18th and 19th centuries, access to the original editions of Leibniz’s works appearing [Louis Dutens (1768); Johann Eduard Erdmann (1840); Georg Heinrich Pertz (1843–1847); Louis Alexandre Foucher de Careil (1854 and 1869); Onno Klopp (1864–1884); Carl Immanuel Gerhardt (1849–1863 and 1875–1890)] was very difficult for both economic and geographic reasons. Therefore, the appearance of these texts was very important not only as they were in Spanish, but also due to their presence in Spain. This facilitated the circulation, reading and discussion of some of Leibniz’s most important texts in Spanish universities. In so doing, Leibnizian thought became part of the catalogue of classics to be taken into account in the general history of philosophy. From that moment on, Leibniz became a regular part of philosophy programmes and activities at Spanish universities. For example, the inaugural lesson of the 1882–1883 academic year at the University of Valladolid was given by Juan Ortega Rubio under the title Leibniz: su sistema filosófico. Therefore, although at that time, unlike today, philosophy researchers and students were sure to be fluent in Latin, the edition of Patricio de Azcárate showed itself to be a really accessible instrument to read Leibniz’s texts and use them in teaching. The first decades of the 20th century saw the appearance of the translations of Manuel García Morente, a great translator of many philosophers and a great philosopher and colleague of José Ortega y Gasset in Madrid. In 1919, he published the volume G. W. Leibniz: Escritos filosóficos, which contains the Système nouveau de la nature et de la comunication de substances, La Monadologie and Principes de la nature et de la grace fondés en raison. There is also a new translation of the Theodicée and the Nuevo tratado sobre el entendimiento humano, both published by Eduardo Ovejero in Madrid in 1928. Works continue on Leibniz such as the doctoral thesis of Joaquín Xirau, exiled in Mexico. The topic was Leibniz: las condiciones de la verdad eterna and it was defended in Madrid in 1921. In the 1940s there is a certain resurgence of Leibniz studies around the third centenary of his birth in 1946. The most important are by authors like Julián Marías and Ramón Ceñal on metaphysics, Juan David García Bacca on logic and mathematics, Luis Rey Altuna on history, Wenceslao González Oliveros on law and especially José Ortega y Gasset. In 1942, the translation of the Discourse on Metaphysics (Discurso de Metafísica) by Julián Marías, one of the main disciples of Ortega y Gasset, appeared. Translations of works by Leibniz also arrive from Latin America. These include Leibniz. Correspondencia con Arnaud published by Vicente Quintero in 1946 as part of the Librería filosófica founded and directed by Francisco Romero for Editorial Losada in Argentina. The same collection in the same year contained a selection by Leibniz. Tratados fundamentales, including the
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Discurso de Metafísica, Monadología and Principios de la naturaleza y de la gracia, among others. There are also translations of works on Leibniz mainly from German and French. The publishing houses Losada and Aguilar from Argentina and Porrúa and the Fondo de Cultura Económica from Mexico were protagonists in the publication and dissemination of these works in Spain. Some works on Leibniz continue to be published, such as Francisco J.Cabrera, Leibniz y el problema del libre albedrío (Madrid, 1940), Fernando Fuentes Galindo, El significado de Leibniz en la filosofía moderna (Madrid, 1943) or by Ramón Ceñal, Leibniz y Cristobal de Rojas y Spínola (Madrid, 1946). These works are fundamentally of an interpretive and academic nature, in particular the case of Ortega y Gasset due to its influence. 3. The great influence of José Ortega y Gasset Ortega’s role was decisive in the general development of philosophy in Spain. Based on Husserl’s phenomenology, he created his own philosophical conception (rational-vitalism) in which Leibniz played an important role in the perspectival conception of knowledge, for example. His work occupies much of the entire first half of the 20th century. Ortega wrote many essays and articles in which he critically discusses and incorporates Leibniz’s thinking. 7 Regarding the third centenary of the birth of Leibniz, Ortega wrote the inaugural speech of the 19th Congress of the Spanish Association for the Progress of Sciences on Del optimismo de Leibniz (San Sebastián, 1947). Other texts in which Leibniz plays an important role are La herencia del positivismo (1912), Apercepción (1913), Ni vitalismo ni racionalismo (1924), La metafísica en Leibniz (1925), The historical reason (1940). In 1958, one of Ortega’s masterpieces, La idea de principio en Leibniz y la evolución de la teoría deductiva, was published posthumously (Ortega had died in 1955), publisher’s Emecé, Buenos Aires. This work was written in 1947 and remained unfinished. The plan was to write a second part on the principle of sufficient reason and a third on the principle of the best. This work has been reissued both in Spain and in Latin America. With it, Ortega marked a whole path of investigation on the structure and methodology of rationality and in particular on Leibniz’s thinking. Since the publication of this work, the analysis and discussion about the reception, influence, criticism and use of Leibniz’s thinking by Ortega has not ceased. Research and essays on this subject can be found in the form of articles, books, conferences, doctoral theses, etc. to the present day. Some of the most relevant are El Leibniz de Ortega, José Gaos, 1960; Leibniz y Ortega, Nemesio Gonzalez Caminero, 1967; Ortega como estudioso de Aristóteles y Leibniz, Javier Echeverría, 7
The last and most thorough investigation of the presence of Leibniz in Ortega and his writings on the German philosopher has just been presented in Javier Echeverría (ed.), José Ortega y Gasset, La idea de principio en Leibniz y la evolución de la teoría deductiva. Del optimismo en Leibniz, Madrid 2021.
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1983; Leibniz und Ortega y Gasset, Jaime de Salas, 1989; Rerum cognoscere causas: Leibniz y Ortega sobre el pensamiento científico, Hans Poser, 1992; Razón y legitimidad en Leibniz: una interpretación desde Ortega, Jaime de Salas, 1994; De cómo camino de Leibniz Ortega volvió a Aristóteles, Carlos García Gual, 1997; Leibniz y Ortega, César Pérez Gracia, 1999; Lo actual y lo posible según Leibniz y Ortega, Jorge García Gómez, 2001; Aspectos construccionistas en La idea de principio en Leibniz de Ortega y Gasset, Anastasio Ovejero, 2003; Idea leibniziana de una constitución autonómica, Manuel Angel Fernández Lorenzo, 2003; La idea de principio en Leibniz y la última etapa de la obra de Ortega, Jaime de Salas, 2003; Del principio de ‘razón suficiente’ (de Leibniz) a la pragmática noción de ‘real imposible’ (de Ortega), Eduardo Armenteros, Cuatnago 2006; Ortega y la lógica de la construcción de los mundos posibles en Leibniz, Leticia Cabañas, 2007; La crítica a Aristóteles en el “Leibniz” de Ortega y Gasset, Jesús Manuel Conderana Carillo, 2013, Nuevos silogismos del pensamiento de lengua española. Presencias de Leibniz y Ortega en Ecuador, Héctor Arévalo Benito, 2016. Seminars and Congresses have also been held: International Meeting on Leibniz and Ortega, organizer Ezechiel de Olaso, Buenos Aires 1989; II International Conference on Ortega Studies: The last philosophy of Ortega y Gasset. Regarding La idea de principio en Leibniz, organizers Lluís X.Álvarez, Jaime de Salas (eds.), Oviedo 2001; Ortega International Conference: half a century later (1955–2005), organizer José Lasaga et al., Madrid 2005. Within this general orientation designed by Ortega, a common theme in particular was considered for the introduction, understanding and critical assessment of Leibniz’s work, which was that of principles. This focus of Leibnizian research on the meaning, value and scope of principles in thinking in general and in Leibnizian thinking in particular has continued until today in works by Ezequiel de Olaso, Alejandro Herrera, Agustín Andreu, Bernardino Orio, Luis Camacho , Jaime de Salas and Juan A. Nicolás. 8 This “interpretive line” of Leibniz is just one example among others of the magnitude of Ortega’s influence and how it instilled an interest in Leibniz in most of his later disciples and philosophers. In addition to Ortega, the figure of Miguel Sánchez Mazas also stands out in the 1950s as one of the best connoisseurs of Leibnizian logic, its application and development. He founded the journal Theoria, where many of his works on Leibniz were published. Finally, in the 1960s, the Gottfried-Wilhelm-Leibniz Gesellschaft, which was a decisive boost to Leibniz studies around the world. Spain was not alien to this movement, since the initiatives of this Society generated a momentum that began to show its results in Spain in the 1970s, and that culminated with the creation of the Spanish Leibniz Society at the end of the 1980s.
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This certain “tradition” of Leibnizian research can be seen in Juan A. Nicolas, La transformation leibnizienne des principes. Le principe de raison comme principe pratique , in: ILIESI. Ricerche philosophiche e lessicale (Rome), 6 (2019), pp. 81–95.
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4. Current resurgence: three generations Since the last decades of the century there has been a general revival of Leibniz studies. On the one hand, this has to do with elements of a philosophical and/or scientific nature and on the other, with circumstances of an administrative and managerial nature. Arguments of the first type are related to the diversity of disciplines cultivated by Leibniz and his eminently creative character disrupting schemes and topics of common acceptance in his time; and they are also related to Leibniz’s strategic situation at the time of the constitution of enlightened modernity. Many of Leibniz’s proposals that were historically marginalised now sound, at the time of the crisis of modernity, like a source of inspiration and proposals for the new challenges posed. Therefore, Leibniz can be considered the promoter of a modernity that in many aspects was not possible, but that today is at least fruitful, if not necessary. This came to coincide historically with a stage of cultural and political openness in Spain after several decades of dictatorship. In the philosophical field, this openness resulted in the incorporation into study and teaching of both the latest philosophical currents (Marxism, analytical philosophy of language, pragmatism ...) and the recovery of many of the classics relegated to the background. This caused the range of topics and authors under discussion in the philosophical panorama to expand. But here we will focus on the second aspect, relative to events of an organizational nature, university policy and editorial culture. Focusing on the Spanish-Portuguese cultural sphere, the resurgence of Leibniz studies is related to some key events in the recent history of Leibnizianism. Three different generations can be distinguished, the first whose fundamental challenge was identity; the second, whose main task has been instrumental and consolidating; and a third generation that faces a basically scientific challenge. 4.1. The pioneers: Spanish Leibniz society In 1966, the creation of the Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft based in Hannover and basically Franco-German in character. As a result of this, the “Leibniz International Congresses” and the edition of the journal Studia Leibnitiana with its parallel series of Sonderhefte and Supplementa were launched. This was a group of Leibniz scholars around the world and at the same time a stimulus for new researchers to join this task. And it was also a very important boost for the edition of G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe that had been underway since the beginning of the 20th century. The significant financial investment of the German Government through the Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and the Göttingen Academy of Sciences was decisive for the launch of this “Leibniz operation”. All this multiple impulse was reflected in the field of Spanish culture. A whole group of young researchers, who were to end up constituting the first generation dedicated to the study of Leibnizian thinking in this new stage, began to attend the
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congresses of the “International Leibniz Society”. Jaime de Salas, Quintín Racionero, Javier Echeverría, Bernardino Orio de Miguel, Agustín Andreu, Marisol de Mora, Javier de Lorenzo, Leticia Cabañas, Lorenzo Peña, Julián Velarde, Eloy Rada, Luis Frayle Delgado, Ildefonso Murillo … Plus another group directly related, but settled in America such as Ezequiel de Olaso, Guillermo Ranea, Luis Flores, Alejandro Herrera, Luis Camacho, Roberto Torretti, etc. During the 70s, they, and probably some others (such as Alfonso Pérez de Laborda or Ángel Currás, who died prematurely), constituted a whole pioneering generation that put Leibniz back in the foreground of the Spanish and Latin American philosophical panorama. They began to publish books, articles, doctoral theses, conferences. Meetings were organized and journals were created such as Teorema (1971) Cuadernos Salamanca de Filosophy (1974), El Basilisco (1978), Moralia (1979), Anales del Seminario de Historia de la Filosofía (1980), Ágora (1981), Enrahonar (1981), Thémata (1984), Diálogo Filosófico (1985), etc. And at the end of the 80s, all that impulse led to the creation of the Spanish Leibniz Society, Sociedad Leibniz de España, in 1989, ()chaired by Quintín Racionero. It was a first step in the objectification and institutionalisation of work and the growing interest in Leibniz’s work. This society was re-founded at the beginning of the 21st century as the Sociedad española Leibniz para estudios del Barroco y la Ilustración, initially chaired by Javier Echeverría and later by Concha Roldán (2001). This generation gave a new impulse to the studies on Leibniz, introducing new themes, new interpretations and above all it provided an essential element for research: direct access to Leibniz manuscripts and texts focused mainly on the Hannover Leibniz-Archiv. Most of these Leibniz scholars spent time on dedicated research stays, which were the first face-to-face testimony of a certain magnitude on the international scene. There were meritorious antecedents but always on a timely basis. The founding of the Sociedad española Leibniz marked a culminating moment and a turning point in Spanish and largely Latin American Leibnizianism. From that moment on, the results of the studies on Leibniz in Spain began to occupy a place on the international scene. Perhaps this has been the fundamental contribution of this generation. From the thematic point of view, these authors covered a large part of the philosophical disciplines in which Leibniz participated. Thus, Miguel Sánchez-Mazas, Julián Velarde and Luis Camacho and Héctor Neri-Castañeda (in America) dealt with the field of logic; Julián Velarde carried out extensive studies on the work of Juan Caramuel as an antecedent of Gottfried Wilhelm Leibniz in the development of logic. Quintín Racionero, Alejandro Herrera, Agustín Andreu and Bernardino Orio dealt with metaphysics and the history of philosophy; the latter reconstructed the Neoplatonic tradition and its decisive influence on Leibniz’s thinking (Leibniz y el pensamiento hermético, Valencia, 2002). In geometry and mathematics, Javier Echeverría and Marisol de Mora have been perhaps the most prominent scholars studying his work; Javier Echeverría contributed a large number of unpublished texts on the characteristic geometry and situs analysis (Paris, 1979); the theory of knowledge Ezequiel de Olaso, Alejandro Herrera or Bernardino Orio; the history of philosophy and science, Bernardino Orio, Guillermo Ranea, Ildefonso Murillo
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and Juan Arana later; legal and political ethics and philosophy, Jaime de Salas and Eloy Rada; the philosophy of religion Ildefonso Murillo and Agustín Andreu. New translations of fundamental texts began to appear: Nuevos ensayos sobre el entendimiento humano (Javier Echeverría, 1977), Escritos políticos (Jaime de Salas, 1979), La polémica Leibniz–Clarke (Eloy Rada, 1980), Monadología (Julián Velarde, 1981), Escritos de filosofía jurídica y política (Jaime de Salas, 1984), G. W. Leibniz. Escritos políticos II (Enrique Tierno Galván, P. Mariño, Antonio Truyol y Serra, 1985). And on the other side of the Atlantic we find Ensayos filosóficos alemanes y Principios metafísicos de las matemáticas (Roberto Torretti, 1972–1973), G. W. Leibniz. Escritos filosóficos (Ezequiel de Olaso, 1982), G. W. Leibniz, Investigaciones generales sobre el análisis de las nociones y las verdades (Alejandro Herrera, Maurico Beuchot, 1986), G. W. Leibniz, Discusión metafísica sobre el principio de individuación (Mauricio Beuchot, 1986), etc. The pioneering work of this entire generation of Spanish and Latin American Leibnizians created the necessary framework to take a step forward in Leibniz’s research in the Spanish-Portuguese and Latin American cultural sphere. 4.2. The consolidation of the international challenge (A) The publication of Obras filosóficas y científicas (OFC). In this context, an important step was taken in the consolidation of the studies on Leibniz in the Spanish and Portuguese languages. This historical advance is materialised in three major projects: the edition of Obras filosóficas y científicas, the RED Iberoamericana Leibniz and the Biblioteca Hispánica Leibniz. In 2004, the project Leibniz en español (http://leibniz.es/leibniz-en-espanol) led by Juan Antonio Nicolás was launched. At the congress held in Seville in 2002, the real possibility of carrying out a large-scale project was raised for the first time: “In terms of operation and infrastructure, it is of the utmost urgency to have a systematic, compiled and accessible edition of Leibniz’s work in our language. The current situation at this point is one of huge dispersion (both geographical and chronological) and fragmentation (thematic and interests). This makes the access, dissemination, evaluation and criticism of Leibnizian thinking very difficult. The boom that studies on Leibniz are having in Spain and Latin America in recent times may provide the human and material resources necessary to project a large-scale edition that solves (as far as Leibniz’s own work allows) a chronic deficit in our culture”. 9 From there, the design and implementation of the project began and in 2007 the first volume of the series appeared (vol. 14: Correspondencia I: Antoine Arnauld and Barthélemy des Bosses). The objective is to publish Leibniz’s Obras filosóficas y científicas in 20 volumes. This project ushered in the next generation of Leibnizians. In addition to some names from the previous generation, Juan Antonio Nicolás,
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Juan A. Nicolás, La filosofía leibniziana del conocimiento. Hacia la (re)construcción de una tradición hispanoamericana, in: Thémata, 29 (2002), pp. 87–116.
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Concha Roldán, Juan Arana, Tomás Guillén Vera, María Ramon Cubells, Josep Olesti, Angel Luis González, Mª Jesús Soto Bruna, Rogelio Rovira, Socorro Fernández also joined this project , Leticia Cabañas, etc. as well as other Portuguese and Latin American researchers such as Adelino Cardoso, Marta Mendonça, Oscar Esquisabel, Manuel Correia, Lourdes Rensoli, Vivivanne de Castilho, Tessa Moura Lacerda, Edgar Marques, Ulysses Pinheiro or Evelyn Vargas. The scale of this project poses a challenge with very few precedents, but at the same time it aspires to bequeath to posterity a powerful and scientifically reliable working instrument to consolidate the studies of Leibniz’s work in Spanish and Portuguese. The Leibniz edition in Spanish is structured in two parts. The first 13 volumes are organized thematically and there are collected volumes dedicated to Metaphysics, Critique of knowledge, Logic, General Science, Encyclopaedia, History, New Essays on human knowledge, Mathematics, Natural Sciences, Medicine, Theodicy, Theology, Ethics, Aesthetics, Politics and Law. The second part is made up of six volumes that contain the most relevant correspondence that Leibniz maintained: Antoine Arnauld, Barthélemy des Bosses, Nicolas Malebranche, Christian Wolff, Gabriel Wagner, Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza, Pierre Bayle, Simon Foucher, Johann Bernoulli, Burchard de Volder, Christiaan Huygens, Joachim Bouvet, Jacques L’Enfant, Denis Papin, Lady Masham, Hermann Conring, Samuel Pufendorf, Princess Carolina, Samuel Clarke, Isaac Newton, Antonio Conti, John Chamberlayne, Jacques-Bénigne Bossuet, Paul Pellisson, Madame de Brinon and Nicolas Rémond. The last volume, number 20, is dedicated to Indices of the entire edition. The structure of the Leibniz edition in Spanish shows, on the one hand, the well-known multiplicity of philosophical and non-philosophical disciplines to which Leibniz creatively dedicated himself. And on the other, it reflects the wide range of scientific interests of those involved in the project. (B) A new impulse in this process was the creation in 2012 of the “RED Iberoamericana Leibniz” (http://leibniz.es/red-iberoamericana-leibniz) chaired by Juan Antonio Nicolás, whose objective is to coordinate and stimulate researchers on Leibniz in all areas where Spanish and Portuguese are the mother tongues. This is intended to make visible to the international community and show it the value of the work carried out over many decades by researchers of Leibniz’s work in these two languages. It also aims to strengthen the interaction between Leibniz researchers from the Latin American sphere with the rest of the international community, in terms of organizing meetings and congresses and all matters relating to publications. The RED Iberoamericana Leibniz regularly organizes both international and local conferences. So far it has organized three international congresses with approximately 200 participants in each case: San José de Costa Rica (2012), Granada (2014) and Curitiba (Brazil, 2017). The next congress is scheduled to take place in Mexico (2021). The RED Iberoamericana Leibniz collaborates with other philosophical so-
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cieties in the organization of Congresses, Conferences and Symposia and has become the largest among the international Leibniz Societies after the Gottfried Wilhelm Leibniz-Gesellschaft from Hannover. (C) The project Biblioteca Hispánica Leibniz (BHL) (Leibniz Hispanic Library), presented in 2012 (http://www.bibliotecahispanicaleibniz.es/) aims to recover everything published in Spanish and Portuguese on Leibniz since 1878. This year has been taken as a starting point because, as noted above, it was the year that Patricio de Azcárate published his edition of Obras de Leibniz in five volumes. This was the first edition of Leibniz of any size in Spanish. The Biblioteca Hispánica Leibniz houses the publications of all authors from Spain, Portugal and Latin America who have published works on Leibniz in any language. And it also welcomes the publications of external authors in this field either in Spanish or Portuguese. Publications include magazine articles, books, doctoral theses and book reviews. In all cases, all reference data of each publication is included, and in the case of articles and reviews, the full text of the publication is also added. To date, 2.600 publications have been compiled in a free public database. The search for and recovery of texts published from 1878 to the present day in different countries is practically finished; the challenge now is to keep the database updated so that it is a useful tool for the entire international Leibnizian community. This whole phase has to culminate with the completion of the edition of Obras filosóficas y científicas. Along with this, there has been a relevant scientific-university event created by the first chair in Spain dedicated to this philosopher 10: the Cátedra de Filosofía G. W. Leibniz (www.leibniz.es) of the University of Granada directed by Juan Antonio Nicolás. This has been a very important support for the Leibniz in Spanish project and for promoting Leibniz’s studies in Spain and Latin America. This Chair has allowed the launch of other relevant projects such as the Seminario Permanente Leibniz and the Nova Leibniz collection. The Seminario Permanente Leibniz (http://leibniz.es/seminario-permanenteleibniz/), created in 2017 and which continues online, aims to read and discuss Leibniz’s texts with researchers, doctoral students and students of Master’s and Undergraduate Degrees in Philosophy interested in Leibnizian thinking. The Seminar also serves as a platform for researchers from other universities and other countries for past or future research stays within the framework of the Leibniz Chair. The Seminar also serves for accredited international level Leibniz researchers to participate in its activities with lectures and workshops on Leibniz. This hotbed of work with young researchers has already resulted in the presentation and defence of a dozen doctoral theses and others. The Nova Leibniz project (http://leibniz.es/nova-leibniz/) is developed in collaboration with Editorial Comares (Granada). The objective is to publish works on 10 There is also the Leibniz chair created at the University of Hannover which has been so effectively and successfully directed for years by Wenchao Li.
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Leibniz of the highest scientific level and is aimed at specialists in this author’s thinking. It is open to researchers from all countries and publications can be made in the main languages of the international community. The project consists of two series: Nova Leibniz and Nova Leibniz/Latina, recently opened. Around twenty monographic studies or specialised collective volumes have been or are in the process of being published in this collection. Finally, in line with the activities promoted by the Leibniz Chair of the University of Granada, it is important to mention the international collaboration project called Integrated Spanish-Portuguese Action. Begun in 2009 on the theme The birth of European science: G. W. Leibniz has already produced several results in book publications and collective reviews. The last result, practically finished, is a Leibniz Comares Guide. The activities of the Leibniz Chair have also given rise to a series of UGR Leibniz Workshops which is now in its 15th edition. Along with the activities focusing on the G. W. Leibniz Chair of Philosophy at the University of Granada, it is also worth mentioning those on Leibniz carried out at the University of Navarre. For years publications and congresses and Workshops dedicated to Leibniz have been taking place. The creator of these activities was Ángel Luis González, recently deceased. He was able to create a group of researchers on Leibniz that has produced valuable doctoral theses and books, as well as important collaboration in the Leibniz in Spanish project. His work continues at the University of Navarra, and is currently in the hands of Agustín Echavarría. Along with this, it is also important to mention the group of young researchers in Argentina led by Oscar Esquisabel and the one in Mexico that emerged under the impulse of Alejandro Herrera. 4.3. The future: the scientific challenge In this context, a new and very recent generation of researchers of Leibnizian thinking is taking shape and begins to bear its first and promising fruits. This generation includes Manuel Sánchez Rodríguez, Laura Herrera Castillo, Miguel Escribano, Agustín Echeverría, Miguel Palomo or Ricardo Rodríguez Hurtado; and in the Latin American sphere Griselda Gaiada, Roberto Casales, Luis Velasco, Pedro Viñuela, Leonardo Ruiz, Alfredo Martínez, Rodolfo Fazio, Federico Raffo, Álvaro Carvajal, William Siqueira Piauí, Maximiliano Escobar Viré, Celi Hirata, etc. The situation has changed considerably in these 50 years. One piece of information can illustrate this change. At the first congress of the Gottfried-WilhelmLeibniz-Gesellschaft (Hannover, 1966) there was no single researcher from the Spanish or Latin American field. The second congress of this society, held in Hannover in 1972, was attended by three researchers of this origin. The tenth congress of the aforementioned Leibniz society, which took place in Hannover in 2016, was attended by 50 professors, researchers and doctoral candidates from Latin American countries, Spain and Portugal. The change has not only been quantitative. In this last congress (Hannover, 2016) the International Leibniz Prize was convened
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for the first time for the best doctoral theses presented worldwide related to Leibniz. Two of the three prizes were awarded to doctoral students of Spanish culture. This means that, as a result of the entire trajectory described in these last decades, a new generation is emerging whose results are at the highest international level. This new generation will already have instruments such as the edition of Obras filosóficas y científicas, the Biblioteca Hispánica Leibniz, the Nova Leibniz collection or the Cátedra de Filosofía G. W. Leibniz among others, which will undoubtedly ensure a critical mass of researchers sufficient to tackle new tasks. Therefore, the new generation of Leibniz researchers in the field of Spanish and Portuguese languages face the challenge of frequenting international forums on a regular basis and achieving recognition as their own tradition of interpretation, reconstruction and development of the work of Leibniz. This requires a quality production that is reflected in highly ambitious philosophical monographs disseminated at top international publishers. This is already happening with publications like Studia Leibnitiana or Laura Herrera’s recent collective volume, Äußerungen des Inneren. Beiträge zur Problemgeschichte des Ausdrucks, Berlin 2019. Along with this, works must be produced in the mother tongue itself and in the media of the countries that make up this broad linguistic and cultural community. Much of this has already been done by young researchers of great merit. But it is up to this generation to standardise this level of work and international insertion and to value a whole tradition that apparently starts after Leibniz’s death. The instruments are created, the circumstances allow it and capacities are proven. All that remains is the historical task of responding to this challenge of struggling for recognition with enthusiasm, confidence and a lot of work.
„AS ABOVE, SO BELOW“ Leibniz in Präraffaelitischer Perspektive Simona Noreik, Weimar „I want to hunt up every detail regarding Galileo whose statue I have undertaken for Oxford Museum – I wish to make it as worthy as I am able of the grand old Florentine“, schreibt der schottische Bildhauer Alexander Munro ca. 1857 in einem undatierten Brief an seine Freundin Lady Pauline Trevelyan (1816–1866) 1 und umreißt damit zugleich das ästhetische Prinzip, das nicht nur der Ausführung seiner für das Oxford University Museum of Natural History angefertigten Skulptur des italienischen Universalgelehrten Galileo Galilei (1564–1641/42) zugrunde lag, sondern impliziert zugleich eine fundamentale Prämisse der Künstlerbewegung, deren Ideen unmittelbar auf ihn einwirkten und mit deren Mitgliedern er sowohl personell als auch produktiv, d. h. bei der konkreten Arbeit an Kunstwerken, interagierte – die Rede ist von der sogenannten Präraffaelitischen Bruderschaft. Diese formierte sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die kunsttheoretischen Ausführungen des englischen Kunst- und Gesellschaftskritikers John Ruskin (1819–1900), die dieser in seinem kontrovers diskutierten Essay Modern Painters (1843) 2 in Abgrenzung zu den Discourses des Sir Joshua Reynolds (1723–1793) 3 und v. a. auch zur 1
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Vgl. Alexander Munro an Pauline Trevelyan, Brief o. D. [1857]; Trevelyan Papers, GB186/WCT, Newcastle University Library. Zitiert nach: Katherine Macdonald: Alexander Munro. Pre-Raphaelite Associate, in: Benedict Read, Joanna Barnes (Hg.): Pre-Raphaelite Sculpture. Nature and Imagination in British Sculpture 1848–1914, London 1991, S. 46–65, hier: S. 58. Pauline Trevelyan, ihres Zeichens selbst Malerin und sowohl künstlerisch als auch intellektuell vielfältig interessiert, machte das von ihr und ihrem Ehemann, dem Geologen Sir Walter Caverley Trevelyan (1797–1879), bewohnte Anwesen Wallington Hall, gelegen in Northumberland, zu einer Begegnungsstätte für die zeitgenössische Kunst- und Literaturszene. Dort schloss sie Bekanntschaft mit John Ruskin und dem schottischen Maler und Dichter William Bell Scott (1811–1890), über die dann auch der sich mit der Zeit intensivierende Kontakt zu den Mitgliedern der Präraffaelitischen Bruderschaft im engeren Sinne und darüber hinaus hergestellt wurde. Zu ihrer Beziehung zu den Präraffaeliten vgl. John Batchelor: Lady Trevelyan and the Pre-Raphaelite Brotherhood, London 2006. Modern Painters sollte letztendlich fünf Bände umfassen, die Ruskin im Zeitraum von 1843 bis 1860 publizierte. Vgl. Susan Phelps Gordon: Heartsight Deep as Eyesight. Ruskin’s Aspirations for Modern Art, in: John Ruskin and the Victorian Eye. Begleitkatalog zur Ausstellung (Phoenix Art Museum/Indianapolis Museum of Art 1993), New York, NY 1993, S. 116–157, hier: S. 122–131; Timothy Hilton: John Ruskin. The Early Years, New Haven, NY 1985, S. 11, speziell zur Entstehung des ersten Bandes ebd., S. 70–81. Reynolds’ Discourses bildeten das Fundament der künstlerischen Ausbildung u. a. an der Royal Academy of Arts in London und sind als erfolgreicher Versuch zu werten, eine genuin englische Kunstphilosophie zu etablieren, wobei sich v. a. die in Discourse V betonte Superiorität
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Verteidigung des von ihm hochgeschätzten Landschaftsmalers J. M. W. Turner (1775–1851) 4 formuliert hatte. Im Zentrum von Ruskins Argumentation stand dabei die Überzeugung, dass sich die Kunst in ihren Manifestationsformen der akkuraten Nachbildung der Natur zu widmen und so deren Wahrheiten bestmöglich zu vermitteln habe – die von Ruskin geforderte Art der Nachbildung im Sinne aristotelischer Mimesis beschränkt sich folglich nicht auf bloße Nachahmung bzw. Imitation: Imitation can only be of something material, but truth has reference to statements both of the qualities of material things, and of emotions, impressions and thoughts. There is a moral as well as a material truth – a truth of impression as well as of form, of thought as well as of matter. 5
Erst in der Synthese von Außen- und Innenwelt, in der Kombination materieller und mentaler Eigenschaften bildet sich demnach eine Wahrheit, die sich, zusammengeführt im und durch den Künstler vermittels kognitiver Prozesse, letztendlich im Kunstwerk manifestiert – was wiederum Existenz und Relevanz individuellen Stils erklärt, da das Innerste des Künstlers, und damit seine Wahrnehmung, ebenso wie die Natur, der er sich zuwendet, stets im Wandel begriffen ist. 6 Entsprechend basiert der künstlerische Prozess bei Ruskin zwar auf einem sich mit seiner Fokussierung von Details der wissenschaftlichen Observation annähernden Wahrnehmungs- und Reproduktionsmodus; 7 komplettiert in Form und Aussage wird das Kunstwerk allerdings erst in dem Moment, in dem der Künstler es um subjektive Eindrücke, Emotionen und Ideen ergänzt, und so die Individualität des Ausdrucks neben rationalisierende und objektivierende Ansprüche tritt – mit Ruskins Worten: Um die detailgetreue Nachbildung zum tiefergehende Wahrheiten transportierenden Kunstwerk zu erheben, benötigt es „heart-sight as deep as eyesight“. 8 Was der Künstler durch seinen individuellen Beitrag leistet, vermag zugleich, nicht nur das Kunstwerk, sondern auch die Perspektive des Betrachters zu vervollständigen, vergegenwärtigt man sich, dass Wahrnehmung stets von einem bestimmten Standpunkt bzw. Blickwinkel aus erfolgt, und infolgedessen mit (psychophysischen) Limitationen konfrontiert wird: Das menschliche Wahrnehmungsvermögen ist begrenzt, und so
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von u. a. Raffael und Michelangelo in unserem Kontext als folgenreich erweisen sollte insofern, als dass sich Ruskins Kritik besonders an der von Reynolds vorgenommenen Hierarchisierung entzündete und sich, analog dazu, die ‚Pre-Raphaelite Brotherhood‘ bei ihrer Benennung explizit zu einem zeitlich vor Raffael anzusiedelnden Ideal bekannte. Vgl. hierzu Batchelor: Lady Trevelyan (wie Anm. 1), S. 95; Timothy Hilton: The Pre-Raphaelites, New York, NY 1971, S. 28–29. Turner stand für seine unüblichen, v. a. die zerstörerisch-bedrohliche Komponente des Erhabenen betonenden Landschaftsmalereien und den in diesen zur Schau gestellten Stil in der Kritik. Vgl. hierzu Hilton: The Pre-Raphaelites (wie Anm. 2), S. 11–14; speziell zu Turner Franny Moyle: The Extraordinary Life and Momentous Times of J. M. W. Turner, London 2017. John Ruskin: Modern Painters (= The Works of John Ruskin), Bd. 1, New York, NY 1890, S. 21. Ebd., S. 68. Vgl. zum ‚wissenschaftlichen‘ Anspruch der Ruskins Ideen in die Praxis umsetzenden Präraffaeliten v. a. John Holmes: The Pre-Raphaelites and Science, New Haven, CT/London 2018. John Ruskin: Modern Painters, Bd. 5, London 1860, S. 292.
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geht Ruskin in seiner Kunsttheorie davon aus, dass man nie alles sieht und stets etwas im Verborgenen verbleibt. 9 Der Künstler vermittelt nun mit seiner ‚Komposition‘ eine Einheit, wenn er einen Gegenstand erst gewissenhaft ‚seziert‘ und dadurch möglichst viele Einzelheiten offen legt, die er dann im kreativen Akt ergänzt und neu verknüpft. Die so entstandene potentielle Verbindung existiert dabei aber stets als ein Angebot unter vielen, welches der Betrachter annehmen oder verwerfen kann, ebenso, wie der Künstler sich im Rahmen der Anfertigung für oder gegen bestimmte Optionen entscheidet. Und genau in dem Zusammenhang ist nun auch Munros oben zitiertes Versprechen an seine geplante Skulptur zu verstehen: Mit der Ankündigung, die Person Galilei bis ins kleinste Detail nachvollziehen zu wollen und dem Museum eine dem „grand old Florentine“ würdige Arbeit vorzulegen, verweist er auf die ihm gut vertrauten Ideen Ruskins, denen er während seiner Ausbildung an der Londoner Royal Academy of Arts begegnet ist – zwar nicht im Lehrplan, so doch aber in der ebenfalls dort studierenden Person des wohl bekanntesten Vertreters des von Ruskin inspirierten (und sukzessive unterstützten) Präraffaelitischen Zirkels: Dante Gabriel Rossetti (1828–1882). 1848 trifft Munro auf den drei Jahre jüngeren Rossetti, der ihn nachhaltig beeindruckt mit seiner vitalen Begeisterung für Dichter wie Dante, Blake und Keats und das bereits während Munros früherer Arbeit an den Houses of Parliament entwickelte Interesse am Mittelalter und mittelalterlicher Kunst intensiviert. 10 Die Präraffaeliten, zu denen in erster Linie Rossetti, sein Bruder William Michael Rossetti (1829–1919), die Maler William Holman Hunt (1827–1910), John Everett Millais (1829–1896), James Collinson (1825–1881), der Kunstkritiker Frederic George Stephens (1827–1907) und der Bildhauer Thomas Woolner (1825– 1892) zu zählen sind, 11 verschrieben sich der von Ruskin propagierten „truth to nature“ im Ausgang einer Union von „heart-sight“ und „eyesight“ – ein Prinzip, für das Rossetti Munro im Laufe ihrer Bekanntschaft – wie auch andere, sich mit den Idealen der Bruderschaft identifizierende Künstlerinnen und Künstler 12 – gewinnen konnte und das William Michael Rossetti 1895 in der Retrospektive in vier Schritten wie folgt präzisiert: I will therefore take it upon me to say that the bond of union among the Members of the Brotherhood was really and simply this – 1, To have genuine ideas to express; 2, to study Nature attentively, so as to know how to express them; 3, to sympathize with what is direct and serious 9 Vgl. Ders.: Modern Painters (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 192–193. 10 Vgl. Katharine MacDonald: Alexander Munro. Pre-Raphaelite Associate, in: Benedict Read, Joanna Barnes (Hg.): Pre-Raphaelite Sculpture. Nature and Imagination in British Sculpture 1848–1914. Ausstellungskatalog, London 1991, S. 46–65, hier: S. 47. 11 Vgl. zur Geschichte des Kreises, zu den Werken und zu deren zeitgenössischer Rezeption aktuell z. B. die einführenden Darstellungen von Elizabeth Prettejohn: Rossetti and His Circle, London 1997; Dies.: The Art of the Pre-Raphaelites, London 2010. 12 Weitere Anhänger bzw. Assoziierte umfassten u. a. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), George Meredith (1828–1909), Christina Georgina Rossetti (1830–1894), Ford Madox Brown (1821–1893), Arthur Hughes (1832–1915), Edward Burne-Jones (1833–1898), John William Waterhouse (1849–1917) und William Morris (1834–1896).
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Simona Noreik and heartfelt in previous art, to the exclusion of what is conventional and self-parading and learned by rote; and 4, most indispensable of all, to produce thoroughly good pictures and statues. 13
Doch diesen Ansatz verfolgt Munro nicht ausschließlich für Galilei: Insgesamt sind es sechs Skulpturen von Wissenschaftlern, für die er zur Entstehungszeit des Briefes offiziell beauftragt worden ist, nämlich – und hier bewegen wir uns nach unseren einführenden Worten allmählich auf das Zentrum unseres eigentlichen Interesses zu – arbeitet Munro neben Galilei auch an Standbildern für Hippokrates, Isaac Newton, Humphrey Davy, James Watt und – Gottfried Wilhelm Leibniz. 14 Wie kommt es dazu? Es ist im Jahr 1847, als der seit Ende der 1820er Jahre im Raum stehende Plan konkretisiert wird, auf dem Gelände der Oxford University ein naturhistorisch orientiertes Museum zu errichten als Ort der Bildung und Forschung, 15 aber auch als der natürlichen Welt nachempfundenen Mikrokosmos, in dem jedes Exponat exakt den Platz einzunehmen habe, der ihm in der Vorlage des Museums zugewiesen worden sei, d. h. „precisely the same relative place […] in God’s own Museum, the Physical Universe in which it lived and moved and had its being“, 16 um die Formulierung Richard Greswells (1800–1881) aufzugreifen. Greswell war Lehrer an der University of Oxford und einer der frühesten Unterstützer des Museums. Wie auch die Hauptverantwortlichen des Projekts, die beiden Oxforder Wissenschaftler Henry Acland (1815–1900) – übrigens ein guter Freund Ruskins – und John Phillips (1800–1874), der spätere erste Direktor des Museums Richard Owen (1804–1892) sowie die Architekten George Edmund Street (1824–1881) und Benjamin Woodward (1816–1861) vertrat Greswell die Auffassung, dass das Museum mit Blick sowohl auf die Sammlung als auch architektonische und gestalterische Entscheidungen vor allem eins sein sollte: eine adäquate, modellhafte Repräsentation der natürlichen Welt, anhand derer man das wissenschaftliche Weltbild erkunden und nachvollziehen könne. An Greswells Analogie wird zudem deutlich: Das Museumsunterfangen wurde nicht nur von der Wissenschaft bzw. säkularen Interessen getragen – darüber hinaus stand es auf einem Fundament des Glaubens, das den essentiellen Gedanken, primäres Ziel ein jeder Wissenschaft sei der Nachweis des göttlichen Plans, der Einheit in der Vielfalt, ins Zentrum rückte. 17 Diesen Bezug 13 William Michael Rossetti: The Præraphaelite Brotherhood, in: Ders. (Hg.): Dante Gabriel Rossetti. His Family-Letters. With a Memoir by William Michael Rossetti, Bd. 1, London 1895, S. 125–144, hier: S. 135. 14 Vgl. MacDonald: Alexander Munro (wie Anm. 9), S. 58. 15 Vgl. die im Vorfeld stattfindenden Erwägungen hinsichtlich der Struktur und des Bildungsauftrags von Universität und Museum bei Henry Acland: Remarks on the Extension of Education at the University of Oxford in a Letter to the Rev. W. Jacobson, D. D., Oxford/London 1848, u. a. S. 6–14. 16 Richard Greswell: Memorial on the (Proposed) Oxford University Lecture-Rooms, Library, Museums, etc. Addressed to Members of Convocation, London 1853, S. 7. 17 Vgl. Carla Yanni: Divine Display or Secular Science. Defining Nature at the Natural History Museum in London, in: Journal of the Society of Architectural Historians 55, 3 (1996), S. 276– 299, hier: S. 278. Vgl. auch Acland: Remarks (wie Anm. 15), S. 13–14.
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meinte man, als es an der Zeit war, eine Entscheidung zu treffen hinsichtlich der Architektur des Gebäudes, das diesem großen Auftrag gerecht werden sollte, am besten über die Gotik herstellen zu können – einem Stil, der in der Argumentation Streets beispiellos die Geschichte christlichen Glaubens und technischen Fortschritts referenziere und nach außen trage. 18 Die Erwägungen zur Gestaltung des Oxford University Museums of Natural History gingen also dezidiert über eine bloße Geschmacksfrage hinaus – sie waren noch vor der Grundsteinlegung essentiell mit der inhaltlichen Konzeption des Museums, seinem Auftrag und seinen Objekten verbunden. 19 * Die freundschaftlichen Beziehungen, die Ruskin u. a. zu Henry Acland pflegte, führten dazu, dass Acland, positiv den in Modern Painters erläuterten kunsttheoretischen Überlegungen gegenüber eingestellt, in denen er Parallelen zu prominenten Ideen der ‚theologia naturalis‘ entdeckte, zu einer Rekrutierung von Vertretern aus dem Umfeld der von Ruskin unterstützten Präraffaelitischen Bruderschaft motiviert wurde: Im Dezember 1854 veranstaltete Ruskin ein Abendessen, an dem neben dem ausführenden Architekten Woodward auch Dante Gabriel Rossetti teilnahm, 20 und in diesem Kontext keimte schließlich der Gedanke, Alexander Munro in die Dekoration des Museums einzubeziehen. 21 Für die Haupthalle des Museums war vorgesehen, dass die tragenden Säulen mit Standbildern von Personen von außerordentlicher wissenschaftsgeschichtlicher Relevanz verziert werden sollten – nicht jede Säule konnte entsprechend ausgestattet werden, doch durch die finanzielle Beteiligung der Öffentlichkeit wurden insgesamt neunzehn Statuen (eine davon kein Wissenschaftler, sondern der Gatte von Königin Victoria, Prinz Albert von SachsenCoburg und Gotha, die Thomas Woolner nach dessen Tod 1861 anfertigte) und zehn Büsten realisiert. Ein Jahr vor der Eröffnung der musealen Räumlichkeiten halten Acland und Ruskin den Status quo in einer mit The Oxford Museum betitelten Publikation fest:
18 Vgl. Greswell: Memorial (wie Anm. 16), S. 1. 19 Vgl. zur Geschichte des Museums Carla Yanni: Nature’s Museums. Victorian Science and the Architecture of Display, Baltimore, MD 1999, S. 62–90; mit speziellem Fokus auf die Rolle, die Mitglieder der Präraffaeliten bei der Errichtung des Museums spielten und inwiefern sich präraffaelitische Prinzipien in gestalterischen und architektonischen Elementen widerspiegeln John Holmes: Temple of Science. The Pre-Raphaelites and Oxford University Museum of Natural History, Chicago, IL 2021. 20 Vgl. Alison Chapman, Joanna Meacock: A Rossetti Family Chronology (= Author Chronologies), Basingstoke 2007, S. 88. 21 Später sollten aus dem Kreis dann u. a. auch die Bildhauer Thomas Woolner, der zum Kern der Präraffaelitischen Bruderschaft zählte, und John Lucas Tupper (ca. 1826–1879) involviert werden. Vgl. John Holmes: Ruskin, the Pre-Raphaelites and the Oxford Museum. Guild of St George Annual Lecture (November 2018), York 2018, S. 9.
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Simona Noreik In the mathematical department, Archimedes, Leibnitz, Newton; in astronomy, Hipparchus, Galileo; in geology, Cuvier; in chemistry, Lavoisier, Cavendish, Davy; in biology, Aristotle, Linnæus, John Hunter; in medicine, Hippocrates, Sydenham, Harvey; and on special, but very different grounds, as benefactors to the human race, Bacon, Volta, Oersted, Watt, and Stephenson, will be among the first whose statues it is proposed to place here for the contemplation and example of all who may hereafter enter, with various purpose, this place of study and of work. 22
Bei dem Versuch, möglichst viele der geplanten Figuren umsetzen lassen zu können, hatte man im Vorfeld öffentlich zu Spenden aufgerufen und war mit diesem Anliegen an Queen Victoria herangetreten. Sie ließ sich für fünf der oben genannten Wissenschaftler gewinnen: Francis Bacon, Galileo Galilei und Hans Christian Ørsted sowie Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz, wobei sie 1857 persönlich den anwesenden Gästen die fertigen Skulpturen für Galilei, Newton und Leibniz – allesamt Arbeiten von Munro – präsentieren sollte. 23 Auf Queen Victoria und die potentielle Bedeutung ihrer Auswahl wollen wir gleich noch einmal zurückkommen; vorerst richten wir unsere Aufmerksamkeit aber auf Gottfried Wilhelm Leibniz bzw. Munros Interpretation des Universalgelehrten. In der Haupthalle des Oxforder Museums begegnen wir Leibniz an einem Knotenpunkt: Er verbindet mit seiner Positionierung den östlichen Säulengang – die Seite am Ende des Raums, auf die der Blick des Besuchers beim Betreten gerichtet ist – mit dem südlichen – der vom Besucher aus gesehen rechten Seite. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich William Buckland zu seiner Rechten und Hans Christian Ørsted zu seiner Linken; zieht man von ihm aus eine Diagonale durch den Raum, trifft man auf Hippokrates; Carl von Linné am gegenüberliegenden Ende des östlichen Säulengangs fungiert als Verbindung zum nördlichen, während in Humphrey Davy der südliche Säulengang mit dem westlichen zusammenläuft. 24 Die für unsere Betrachtung wohl interessanteste andere Figur neben Leibniz ist – keine Überraschung an dieser Stelle – Isaac Newton. Newton bildet das Zentrum des östlichen Säulengangs und steht in einer Linie mit der Skulptur zu Ehren des Prinzgemahls, d. h.: Betritt man die Halle, ist der Blick unmittelbar auf Prinz Albert und zur selben Zeit auf den sich hinter diesem befindlichen Newton gerichtet; diese spezielle Ausrichtung der beiden Figuren verdeutlicht einerseits die Relevanz Newtons für das Vereinigte Königreich, indem sie Newton dem Prinzgemahl ‚den Rücken stärken‘ lässt, andererseits wird Newton in eine Perspektive gebracht, die ihn temporal (durch die gleichzeitige Wahrnehmung beider Figuren) und spatial (durch die Position der Figuren im Raum) unmittelbar mit dem Königshaus assoziiert. Zwischen Carl von Linné, der die obere linke Ecke des Raums bekleidet, und Newton weilt Charles Darwin; zwischen Newton und Leibniz wurden Galilei, Euklid und William Buckland aufgestellt, so dass in (zweckdienlicher) Zuspitzung und 22 Henry Acland, John Ruskin: The Oxford Museum, London/Oxford 1859, S. 34f. Aus dem Anhang geht hervor, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine Finanzierung für u. a. Archimedes, Plinius, Kopernikus, Huygens und Lagrange sichergestellt worden war. Vgl. ebd., S. 111. 23 Vgl. ebd., S. 103. 24 Vgl. z. B. Holmes: Temple of Science (wie Anm. 19) für eine reich bebilderte Besprechung der Haupthalle.
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Differenzierung eine Kette zu erkennen ist, die von der Biologie (Linné, Darwin) über die Physik (Newton), Astronomie (Galilei), Mathematik (Euklid) und Geologie (Buckland) bis hin zu Leibniz führt, der sich uns präsentiert als Vertreter von – was? Mit Blick auf den Universalgelehrten könnten wir argumentieren, dass sich alle zuvor genannten, aufeinander folgenden Felder in ihm als Endpunkt der Kette vereinen und die Statue von Leibniz somit eine Verkörperung aller Wissenschaft ist, doch das würde das künstlerische Konzept hinter Munros Figuren und die damit einhergehende, konkrete Ausführung missachten (die im Übrigen, wenn wir die einzelnen Figuren betrachten, auch die von uns vorgenommene Zuspitzung nachvollziehbarer macht): Jeder von Munros Wissenschaftlern ist – im Gegensatz zu z. B. Henry Richard Hope-Pinkers (1850–ca. 1927) Thomas Sydenham oder Joseph Durhams (1814–1877) George Stephenson – im Moment einer bahnbrechenden Entdeckung fixiert, begleitet wird er dabei von einem für diese Entdeckung elementaren oder diese zumindest versinnbildlichenden Objekt. Munros Galilei beispielsweise ist im Begriff, zwei optische Linsen zu kombinieren und impliziert damit die Konstruktion seines Teleskops; Munros Newton sinniert über einen zu seinen Füßen liegenden Apfel, die rechte Hand am Kinn, den Kopf nach unten geneigt und damit die Fallrichtung der Frucht nachvollziehend, so dass der Betrachter der Figur dem für die Gravitationstheorie ikonischen Augenblick beiwohnt, der mit ein wenig Hilfe von Newtons Biograph William Stukeley (1687–1765) 25 Geschichte schreiben sollte. Aber wenden wir uns Munros Leibniz zu: Nach Aclands und Ruskins Einschätzung ist Leibniz, wie Newton und (der nicht umgesetzte) Archimedes, zuallererst anwesend in seiner Rolle als Mathematiker. 26 Nun ist dies selbstredend im Spiegel der Quellen, Fremd- und Selbstzeugnisse ein mehr als korrekter Befund: Leibniz war ohne Zweifel Mathematiker – doch mit der Betonung dieser Disziplin wird man den multiplen Existenzweisen des Gelehrten nicht gerecht, dessen Denken und Schaffen sich über den Bereich der Mathematik hinaus erstreckt. Für die Frühe Neuzeit ist Interdisziplinarität und das sich darin artikulierende Streben nach Universalität und Vervollkommnung 27 bekanntermaßen kein Einzelfall; bevor sich die Wissenschaften zunehmend ausdifferenziert und dieser Prozess langfristig zu der Wissenschaftskultur geführt hat, wie wir sie erleben, bewegten sich Personen wie
25 Vgl. die populäre Apfel-Anekdote bei William Stukeley: Memoirs of Sir Isaac Newton’s Life (1752), London 1936, S. 20. 26 Vgl. Acland, Ruskin: The Oxford Museum (wie Anm. 22), S. 34. 27 Ohne dass der Begriff der perfectibilité bei Leibniz in der Form, wie er uns ab Mitte des 18. Jahrhunderts bei Rousseau begegnet, auftaucht, bildet der Perfektibilitätsgedanke und der Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen in Schriften wie z. B. den Essais de Théodicée (GP VI, 21–101), De progressu in infinitum (Grua, 94–95) und An mundus perfectione crescat (Grua, 95) eine zentrale Bedeutung. Vgl. u. a. Jürgen Knoppik: Leibniz’ Fortschrittskriterium. Das Übergehen zu Neuem, in: Studia Leibnitiana 29, 1 (1997), S. 45–62, hier: S. 52; Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24, 2 (1980), S. 221–257, hier: S. 223–224.
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Leibniz, Newton und Galilei (um bei Munros Skulpturen zu bleiben) wie selbstverständlich in sich durchdringenden und gegenseitig überlappenden Wissensgebieten, deren Grenzen heute mehr oder weniger klar abgesteckt sind. Je nachdem also, welche Facette Leibnizens man fokussiert, tritt er wahlweise z. B. als Mathematiker, Philosoph, Paläontologe, Astronom oder Historiker in Erscheinung – mit ihrer Kategorisierung von Leibniz als Mathematiker nehmen Acland und Ruskin zugunsten des musealen Konzepts und der Darstellung ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Chronologie Schwerpunktsetzungen vor, um über die Oxforder Statuen möglichst eindeutige und damit leicht vermittelbare (und zu erinnernde, denken wir an den Bildungsauftrag) Informationen zu transportieren, denn: Beim Versuch, Welt rational zu erschließen und Genealogien und Relationen zu verstehen bzw. beschreibbar zu machen, haben sich u. a. Kategorisierungen, Klassifizierungen, Schemata, Reduktionismen und auf Dichotomien fußende Beschreibungsapparate als unverzichtbare Mittel von Erkenntnis und Weltaneignung erwiesen. 28 Ist die Schwerpunktsetzung des ausführenden Künstlers nun zwangsläufig identisch mit derjenigen der ‚Theoretiker‘? Betrachten wir Munros Leibniz, scheint dies der Fall – die Perspektive auf Leibniz, die Munro im Laufe seiner Recherchen im Vorfeld der Arbeit an der Skulptur gewählt hat, weicht, zumindest an der Oberfläche des in Form gebrachten ‚pierre de Caen‘, von Ruskins und Aclands Klassifizierung ab bzw. spezifiziert diese, erkennt man die Mathematik als wesentliches Element weiterer, nicht in harter Abgrenzung zu denkenden Wissenschaften 29 und vergegenwärtigt sich, dass Leibniz u. a. die Logik des mathematischen Beweises fruchtbringend in seine Philosophie integriert hat: 30 Auf seinem Sockel in der rechten oberen Ecke des Raumes stehend, das linke Bein Spielbein, leicht angewinkelt und nach hinten versetzt, blickt Leibniz, im Gegensatz zu Newton, Galilei oder Ørsted, nicht nach unten auf das ihn auszeichnende Objekt, und auch nicht in den Raum, versunken in Kontemplation, wie John Hunter oder Hippokrates, oder die Besucher adressierend – als einzige der neunzehn Statuen (und zehn Büsten) richtet Leibniz seinen Blick gen Himmel. Sein Kopf ist nach rechts gewendet, das Kinn erhoben, so dass seine Augen die Decke des Raumes anvisieren – eine von Fenstern durchzogene, gewölbte Decke, die den Blick freigibt auf das Firmament. Die rechte Hand hält ein Papier, während die linke über diesem ruht, mit dem Zeigefinger auf einen Punkt weisend, wie um das am Himmel Observierte in einer orientierendabgleichenden Bewegung auf dem Papier zu fixieren. John Holmes fasst unsere 28 Vgl. hierzu u. a. Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, Berlin 2007; Geoffrey C. Bowker: Memory Practices in the Sciences (= Inside Technology), Cambridge, MA 2008. 29 Wir erinnern uns auch an Leibniz’ Interesse an einer auf der Mathematik gründenden Universalwissenschaft, der mathesis universalis, die Leibniz im Ausgang von Descartes zur (unvollständig gebliebenen) characteristica universalis weiterführt. Vgl. hierzu Jürgen Mittelstraß: The Philosopher’s Conception of Mathesis Universalis from Descartes to Leibniz, in: Annals of Science 36, 6 (1978), S. 593–610; David Rabouin hat unter diesem Fokus zuletzt eine Auswahl an Leibniz’schen Schriften herausgegeben: Gottfried Wilhelm Leibniz: Mathesis universalis. Écrits sur la mathématique universelle, hg. von David Rabouin, Paris 2018. 30 Newtons Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica, London 1687, sind ein weiteres für unsere Zusammenhänge naheliegendes Beispiel.
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Eindrücke treffend zusammen und identifiziert die Rolle in Leibniz’ Hand: „Leibnitz is looking up to the sky to check his observations against a star-chart“, 31 woraus sich ergibt, dass Munro Leibniz für das Oxford University Museum of Natural History primär als Astronomen imaginiert. Für uns schließen sich hier folgende Fragen an: 1. Welche Implikationen bzw. Konsequenzen resultieren aus dieser Einbindung Leibnizens in eine museale Konstellation, die ihn im Rahmen eines visualisierten Who’s Who der Wissenschaftsgeschichte in einen Dialog bringt einerseits mit den anderen Wissenschaftlern, andererseits mit der Öffentlichkeit des Vereinigten Königreichs? 2. Welche Leibniz’schen Gedanken boten ggf. Anknüpfungspunkte bzw. ließen Gemeinsamkeiten erkennen, die der Künstler für seinen im Präraffaelitismus beheimateten Kunstbegriff fruchtbar machen konnte und inwiefern eröffnet der spezifisch präraffaelitische Blick ggf. neue Perspektiven auf Leibniz bzw. dessen Darstellung? Verlassen wir zunächst kurz das Naturhistorische Museum der Universität in Oxford und reisen, für komparativistische Zwecke, zu anderen Orten, an denen zu Ehren Leibniz’ Statuen 32 errichtet worden sind: Eine weitere Plastik ist geographisch nicht allzu weit entfernt; sie ist an der Außenwand der Royal Academy of Arts in London angebracht: Sie datiert auf die 1870er Jahre und wurde von dem irischen Bildhauer Patrick MacDowell (1799–1890) angefertigt. Hier präsentiert sich Leibniz als einer von sechs die Fassade des Ostflügels der Akademie schmückenden „illustrious foreigners“ 33 und darüber hinaus explizit als Denker – in seiner rechten Hand ein aufgeschlagenes Buch, die Stirn in sichtbare Falten gelegt, und hinter ihm, teils von seinem Umhang verdeckt, stapeln sich weitere Bücher sowie eine Schriftrolle. Unser nächster Halt ist Leibniz’ Geburtsort Leipzig: Der Campus der Universität ist, nach mehreren Standortwechseln, Ausstellungsplatz für Ernst Hähnels (1811–1891) 1883 errichtetes Leibnizdenkmal aus Bronze. Auch diese 31 John Holmes: The Pre-Raphaelites & the Oxford Museum, Oxford 2019, S. 5; https://oumnh.ox.ac.uk/files/pre-raphaelitesandtheoumnhwebpdf (zuletzt eingesehen am 01.03.2021). 32 Wir beschränken uns in unserer exemplarischen Sichtung auf ganzkörperliche Darstellungen, d. h. Denkmäler wie die von Christopher Hewetson (1739–1799) 1790 finalisierte Porträtbüste aus Carrara-Marmor, die ursprünglich den Leibniztempel im Hannoveraner Georgengarten komplettierte, werden nicht weiter berücksichtigt. Vgl. für einen Überblick zu bekannten bildlichen Darstellungen des Universalgelehrten Hans Graeven: Leibnizens Bildnisse (= Abhandlungen der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften 3, Jg. 1916), vervollständigt und hg. von Carl Schuchardt, Berlin 1916. Neben den Ölgemälden und Kupferstichen widmen sich die Ausführungen auf S. 55–57 der Plastik, gehen dabei aber exklusiv auf die allesamt posthum angefertigten Leibniz-Büsten ein. Zu zeitgenössischen Zeugnissen vgl. ferner Ludwig Schreiner: Leibniz im Bilde seiner Zeit, in: Wilhelm Totok, Carl Haase (Hg.): Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Welt, Hannover 1966, S. 65–82. 33 Die anderen ‚illustren Ausländer‘ sind Carl von Linné, Georges Cuvier, Galileo Galilei, PierreSimon Laplace und Johann Wolfgang Goethe, Vgl. Francis H. W. Sheppard (Hg.): Survey of London, Bd. 31/32: The Parish of St James Westminster, T. 2: North of Piccadilly, London 1963, S. 435–441.
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Manifestation fokussiert Leibniz als Universalgelehrten; dies wird nicht nur durch das mit beiden Händen gehaltene Buch und die gerunzelte Stirn, sondern zusätzlich durch den Sockel, auf dem Leibniz steht, unterstrichen, der gestaltet ist mit allegorischen Darstellungen der Fakultäten der frühneuzeitlichen Universität – Jurisprudenz, Theologie und Medizin und Freie Künste. 34 In Göttingen stoßen wir wiederum auf einem Universitätsgelände auf Leibniz: Von Carl Dopmeyer (1824–1899) verewigt als eine der Gründergestalten der Georg-August-Universität am Mittelrisalit des Auditoriengebäudes 35 ähnelt er in seiner Ausstattung den beiden Erstgenannten – mit Denkerstirn und Buch (jetzt in der linken Hand) blickt Leibniz auf den Betrachter hinab. Den Abschluss unserer Reise machen wir in Leibniz’ letzter Wohn- und Wirkstätte: Die Leibniz-Statue von 1855 am Künstlerhaus Hannover stammt ebenfalls von Carl Dopmeyer, unterscheidet sich aber insofern, als dass dieser Leibniz die Arme voreinander verschränkt, das Buch in der rechten Hand ist zugeschlagen und wird, während Leibniz es an den Körper drückt und so den detailreich ausgeführten Faltenwurf seines Schulterumhangs verursacht, fast vollständig vom linken, oben liegenden Arm verdeckt. Allen vier Skulpturen gemeinsam ist, abgesehen von Buch und Mimik, das Kostüm: Leibniz trägt Perücke, Pelerine, Justaucorps, Culottes, Krawatte und zeitgenössisches Schuhwerk. Nach unserer oben erfolgten Beschreibung von Munros Leibniz-Skulptur wird nun, im Anschluss an die schlaglichtartige Schilderung weiterer Beispiele, deutlich geworden sein, dass die Statue des schottischen Bildhauers in mehreren Punkten substantiell (selbst wörtlich genommen, berücksichtigt man den für die Oxforder Kunstwerke genutzten „pierre de Caen“) abweicht: Dass der Leibniz in Oxford keinen Umhang trägt, ist dabei eher sekundär; von größerer Relevanz für uns ist erstens die Positionierung des Körpers und zweitens die anhand der Sternkarte vorgenommene attributive Zuschreibung – zwei Aspekte, anhand derer es uns möglich wird, weiterführende Ideen im Ausgang der präraffaelitischen Leibniz-Statue zu formulieren. Wir beginnen mit Letzterem und begeben uns auf die Ebene der skulpturalen Materialität und Medialität: Wie können wir Stoff – den Stein, das der Skulptur in unserem Fall zugrundeliegende Material – und die Form – Leibniz und sein über diese Repräsentation referenziertes Denken – zusammenbringen? Dazu ein kleiner Exkurs: Im Briefwechsel mit Antoine Arnauld (1612–1694) diskutiert Leibniz u. a. die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Substanz als Substanz gelten kann. Die im Descartes’schen Dualismus prävalente Auffassung, dass das menschliche Wesen aus zwei autonomen und damit unabhängig voneinander zu denkenden Substanzen besteht, d. h. aus res extensa (der Körper verstanden als ‚erweiterte‘ bzw. ausgedehnten Substanz) und ‚res cogitans‘ (die Seele bzw. der Geist als denkende Substanz), nimmt Leibniz zum Ausgangspunkt, wenn er gegen Descartes’ Verständnis der ‚res extensa‘ als zerlegbares Konglomerat von Teilen, das durch
34 Vgl. Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 54. 35 Vgl. Das Auditorium am Weender Tor. Repräsentationsarchitektur an der Wallpromenade, hg. von der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2018, S. 19.
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Bewegung zusammengehalten wird, argumentiert. Für Leibniz ist die durch Bewegung initiierte Verbindung der Teile nicht ausreichend, um dem Körper den Status einer ‚Substanz‘ zu verleihen; nach seinem Begriff wird die Einheit gewährleistet durch eine substantielle Form, wie sie der aristotelische Hylemorphismus beschreibt: Si le corps est une substance, et non pas un simple phenomene comme l’arc en ciel, ny un estre uni par accident ou par aggregation, comme un tas de pierres, il ne scauroit consister dans l’etendue, et il y faut necessairement concevoir quelque chose, qu’on appelle forme substantielle, et qui repond en quelque facon à l’ame. 36
Anders formuliert: Wenn der Körper als ‚Substanz‘ zu denken sein soll, muss diesem zwangsläufig eine substantielle Form zugrundeliegen – eine Form, die sich an das Konzept der menschlichen Seele annähert und die die Ausbildung des Körpers, wie er wahrgenommen wird, sein Funktionieren und damit seine Existenz gewährleistet. 37 Leibniz fährt im Brief vom 28. November/8. Dezember 1686 (im Einvernehmen mit Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Hippokrates) fort: […] j’accorde que la forme substantielle du corps est indivisible, et il me semble, que c’est aussi le sentiment de S. Thomas; et j’accorde encor que toute forme substantielle ou bien toute substance est indestructible et même ingenerable, ce qui estoit aussi le sentiment d’Albert le Grand et parmy les anciens celuy de l’auteur du livre de diaeta, qu’on attribue à Hippocrate. 38
Die substantielle Form des Körpers ist, im Gegensatz zum Körper, „indivisible“ – wohingegen der Körper selbst, so unteilbar er sich uns präsentieren mag, im Endeffekt doch ein, so Leibniz 1705 an Burchard de Volder (1643–1709), „aggregative[s] Ganzes“ ist, das lediglich vermittels kognitiver Prozesse als solches erkannt wird, „[d]enn nicht nur der Gesichts-, sondern auch der Tastsinn hat seine Erscheinungen, und solche sind die körperlichen Massen als Kollektivwesen, deren Einheit nur von dem vorstellenden Subjekt herrührt“. 39 Entgegen der Cartesischen Auffassung herrscht, egal, wie weit man in der Zergliederung der Dinge voranschreitet, zu keiner Zeit eine wahre, singuläre, allem zugrundeliegende Einheit (d. i. eine Einheit, die nicht erst in der Wahrnehmung des Individuums konstruiert werden müsste), auch nicht in den „einzelnen Elementen“ des „aggregativen Ganzen“: So, wie der Ozean, den wir als Ganzes, als Ding zu perzipieren gewohnt sind, nicht unteilbar ist, sondern aus Teilen, „Tropfen“ besteht, von denen jeder „wieder andre Dinge enthält, selbst wenn man annimmt, daß alle Tropfen aus einer gleichartigen Masse bestehen“, „existiert [für Leibniz] nicht eine Einheit, sondern unendlich viele 36 Leibniz an Antoine Arnauld, [14. Juli 1686]; A II, 2 N. 14, (S. 82). 37 Vgl. zu dem Gedanken, dass die Form der Seele die Formierung der Materie bedingt, bei Thomas von Aquin, den Leibniz gegenüber Arnauld u. a. aufruft, Eleonore Stump: Aquinas (= Arguments of the Philosophers), London/New York 2003, z. B. S. 200–203. 38 Leibniz an Antoine Arnauld, 28. November/8. Dezember 1686; A II, 2 N. 25 (S. 119). 39 XV. Leibniz an de Volder (1705), in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (= Philosophische Werke 2), Bd. 2, hg. von Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Leipzig 1903, S. 349–354, hier: S. 350f. Leibniz an Burchard de Volder. [Berlin,] 25. Januar 1705. [95.108.]; VE II, 4 N. 98 (S. 308–313, hier: S. 310). 40 Ebd. S. 351.
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Einheiten“ 40 – die dann wiederum weitere Einheiten beinhalten, etc. Arnauld ist von dem Gedanken, dass Körper erst als Resultat eines Rezeptionsprozesses, im Geist des Individuums, Gestalt annehmen und man sie folglich, in seiner Auslegung der Leibniz’schen Argumentation, als „quelque chose d’imaginaire et d’apparent seulement“ begreifen müsse, nicht überzeugt. 41 Wendet man das Ganze nun auf Materialien, die im Rahmen bildhauerischer Prozesse Anwendung finden, kann man sagen, dass auch diese ‚Körper‘ von Leibniz’ Prinzip der Konkomitanz betroffen sind: Seiner Erwähnung von Elfenbein gegenüber de Volder 42 geht die Exemplifizierung seiner These in der Korrespondenz mit Arnauld voraus, in der er dafür plädiert, hinter der an der Oberfläche ganzheitlich anmutenden Existenz „[d’]un quarreau de marbre“ vornehmlich eine aggregative Daseinsform als ‚Steinhaufen‘ zu erkennen, genauso, wie man die dem Besitz zweier Herrscher jeweils zugehörigen Diamanten nicht, nur weil sie beide als ‚Diamant‘ bezeichnet werden, als eine Substanz begreifen würde: Car supposons qu’il y ait deux pierres, par exemple le diamant du Grand Duc et celuy du Grand Mogol, on pourra mettre un même nom collectif en ligne de compte pour tous deux, et on pourra dire que c’est une paire de diamans, quoyqu’ils se trouvent bien éloignés l’un de l’autre. Mais on ne dira pas que ces deux diamans composent une substance. 43
Vor dem Hintergrund dieses kleinen Exkurses zu Körper und Substanz bei Leibniz können wir zunächst Ruskins oben erläuterten Prinzipien nun wie folgt greifen: So lückenlos und geschlossen sich eine Erscheinung dem Auge präsentieren mag, so wäre es doch ein Fehlschluss, davon auszugehen, dass es sich um ein statisches Gebilde handelt, das ein in sich unteilbarer ‚Splitter‘ eines ursprünglich gleichförmigen Ganzen 44 ist, wo sie doch, wie wir mit Leibniz gesehen haben, eher als Resultat verschiedener Verbindungen zu denken wäre – der Künstler Munro legt demnach, so unsere Interpretation, den Fokus vor allem auf den Umstand, dass die Erscheinung ein Netzwerk von Substanzen ist, die in unablässiger Kommunikation miteinander und wechselseitigen Verhältnissen zueinander existieren; dieses Netzwerk ist aber nicht nur auf der Ebene der Materialität zu berücksichtigen, sondern auch hinsichtlich der Form und damit der Inhalte, auf die die Form in ihrer Funktion als Repräsentation des Abwesenden für den Betrachter referiert. Michel Serres, dessen Denken und Schreiben Leibniz, Wiedergänger und universaler Bezugspunkt zugleich, seit Ende der 1960er Jahre durchzieht 45 und der die Leibniz’sche Philo41 Antoine Arnauld an Leibniz, 4. März 1687; A II, 2 N. 36 (S. 153). VE II, 4 N. 98 (S. 310-311). 42 Vgl. Leibniz an de Volder (1705) (wie Anm. 39), S. 351: „Übrigens besteht auch das Wasser, bevor es die Form von Tropfen, und die Elfenbeinmasse, von der Sie sprechen, bevor sie die Form von Statuen annimmt, tatsächlich aus Teilen, und ebenso steht es mit jeder beliebigen wirklichen Masse, wenn es auch in der mathematischen Ausdehnung, die uns nur als Grundlage möglicher Begriffe dient, keine tatsächliche Teilung gibt, nämlich keine andren Teile als die, die welche wir in Gedanken setzen.“ VE II, 4 N. 98 (S. 311). 43 Ebd. 44 Vgl. ebd., S. 352. 45 Vgl. Michel Serres: Le Système de Leibniz et ses Modèles mathematiques (= Epiméthée), Paris 1968.
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sophie besonders auch im Sinne einer Kommunikations- und Relationstheorie rezipiert und in unterschiedlichsten kulturgeschichtlichen Zusammenhängen anschlussfähig expliziert hat, unterstreicht eben diese Fähigkeit der Skulptur, sich jeglichem sprachlichen Zeichenverlust widersetzend, informationsspeicherndes und -vermittelndes Medium zu sein, das darüber hinaus auch in materieller Hinsicht essentielle Vorteile gegenüber z. B. dem Bild vorzuweisen hat: Die Statue bleibt in der Essenz verständlich und dechiffrierbar auch in dem Moment, in dem Codes vergessen werden oder das Medium der Schrift seine Funktion nicht mehr erfüllen kann. Und auch ein Porträt, obwohl visuelle Darstellungsform, ist so betrachtet der Skulptur ‚unterlegen‘ aufgrund der Tatsache, dass dessen mediale Voraussetzungen eine im Vergleich geringere ‚Haltbarkeit‘ unter bestimmten Bedingungen bedeuten. 46 Entsprechend ist die Visualisierung der spezifischen Existenzweise Leibnizens als ‚Astronom‘ eine Entscheidung, die Munro trifft, so könnte man sagen, mit Blick darauf, was im Kontext des Oxforder Museums (und potentiellen zukünftigen anderen Standorten) weiter- und an die Besucher herangetragen werden soll. Dem Verdacht, dass Munro damit eine Reduzierung betreibt, die z. B. die unverbindlicher gestalteten Standbilder in Leipzig, London, Hannover oder Göttingen durch ihre Fokussierung des ‚Denkers‘ zu vermeiden wissen, ist, wiederum gedacht mit Serres und Leibniz, entgegenzuhalten: Munro schließt mit seiner Konzentration auf den ‚Astronom‘ (ein zum Teil wohl auch zwangsläufig gestalterischer ‚Ökonomie‘ geschuldeter Beschluss), keinesfalls alle anderen identitätskonstituierenden Facetten des Universalgelehrten aus, sie sind vielmehr nach innen verlagert – doch beziehen wir uns auf Leibniz’ z. B. in der Monadologie artikulierten Gedanken, dass alle Dinge bis ins kleinste Detail in ‚liaison‘ und Übereinstimmung miteinander existieren und damit auch jede einfache Substanz alle sie umgebenden Beziehungen (die in der Summe das Universum ergeben) in sich trägt und nach außen spiegelt, können wir anführen, dass sich in der Visualisierung der Astronomie die Existenz aller anderen Verbindungen und damit Existenzformen Leibniz’ reflektieren. 47 Die auf materiellen sowie inhaltlichen Verbindungen beruhende Statue Munros wird in dieser Perspektive zum Resultat eines kompositorischen Prozesses, in dem in und durch die individiduelle Perzeption und gestalterische Kraft des Subjekts eine von unendlich vielen möglichen Einheiten konstituiert wird – eine Manifestation, die sich wiederum in Relation zu anderen Manifestationen bringen lässt. Auf diese Weise wird im musealen Raum ein dynamisches ‚Netzwerk‘ etabliert, auf das wir gleich zurückkommen wollen. Jene Eigenschaft der Skulptur, bestimmte Dinge preiszugeben, während andere im Inneren ‚verschlossen‘ bzw. vor den Augen des Betrachters verborgen bleiben (das Geheimnis der Sphinx), nähert sie an das Konzept der Blackbox an; wie Serres schreibt, ist „[e]very statue […] in effect such a 46 Ders: Statues. The Second Book of Foundations, London/New Delhi/New York, NY/Sydney 2015, S. 50–52. 47 Vgl. XXXXV. Die Monadologie. (1714), in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (= wie Anm. 39), S. 435–456, hier: S. 448: „56. Diese wechselseitige Verknüpfung oder Anpassung aller geschaffenen Dinge hat nun zur Folge, daß jede einfache Substanz Beziehungen in sich schließt, durch die sie alle andren zum Ausdruck bringt, und daß sie daher ein lebender, immerwährender Spiegel des Universums ist (§ 130. § 360).“
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black box whose secret walls envelop someone or something that they hide and protect. The way a tent or a tabernacle does“. 48 Die Rolle des Bildhauers gleicht so, legt man ein derartiges Verhältnis zu seinem Gegenstand zugrunde, der des Priesters, der Schaffensprozess wird zum Ritual, die Skulptur zum Kultobjekt, das immer nur so viel preisgibt, wie er will: Like a priest, the sculptor shows this raw concrete chest or on the contrary, opens it and exhibits the mystery that that ark contained, or lastly, lets be seen, at the same time, the box and its secret at the moment of its opening. 49
Die Schwierigkeit, der Skulptur/Blackbox in Abwesenheit des ‚Priesters‘ (und mit ihm einer vermittelnden Instanz, die selbst unmittelbar über das für das Kunstwerk konstitutive Wissen verfügt) Inhalte zu entlocken, ergo die verborgenen Konstellationen und Inhalte zu extrahieren, wird durch das oben erwähnte Netzwerk im musealen Raum behoben: Die Vielheit tritt zurück in die Blackbox bzw. Skulptur und wird aber externalisiert durch die Gruppierung mit anderen Skulpturen 50 – Leibniz’ Vielheit wird infolgedessen bewahrt, schließlich können wir nun argumentieren, dass die Konstellation der Skulpturen in der Haupthalle des Oxforder Museums, ihre nicht nur dem menschlichen Betrachter, sondern auch sich selbst bzw. ihren steinernen Gegenübern zugewandte Positionierung genau das illustriert und repräsentiert, was Leibniz u. a. in seinem Brief an Varignon über das Kontinuitätsprinzip beschreibt, wenn er sagt, dass die Dinge ‚so eng miteinander verbunden sind, daß es den Sinnen oder der Vorstellung unmöglich ist, den genauen Punkt auszumachen, wo eines beginnt oder wo es endet‘: Or puisque la loi de la Continuité exige, que, quand les déterminations essentielles d’un Etre se rapprochent de celles d’un autre, qu’aussi en conséquence toutes les propriétés du Premier doivent s’approcher graduellement de celles du dernier, il est nécessaire, que tous les ordres des Etres naturels ne forment qu’une seule chaîne, dans laquelle les différentes classes, comme autant d’anneaux, tiennent si étroitement les unes aux autres, qu’il est impossible aux sens et à l’imagination de fixer précisement le point, où quelqu’une commence, ou finit: toutes les espèces, qui bordent, ou qui occupent, pour ainsi dire, les Régions d’inflexion et de rebroussement, devant être équivoques et douées de caractères, qui peuvent se rapporter aux espèces voisines également. 51
Über die Annahme, dass über die selektive Externalisierung eines vermeintlich singulären Aspekts oder einer möglichst repräsentativen Facette hinaus mehr in der Skulptur enthalten ist, als was explizit in der Erscheinung veräußerlicht wird, gelangen wir zu einer Betrachtung von Munros Leibniz als potentieller Verkörperung 48 Serres: Statues (wie Anm. 46), S. 160. 49 Ebd. 50 Der museale Raum wird, mit Bruno Latour und im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie gesprochen, zur ‚Produktionsstätte‘ eines Netzwerkes, in dem sich die Skulpturen als Akteure in eine von Dynamik und Aktivität geprägte Situation begeben, die sowohl von mit- und untereinander agierenden Subjekten als auch Objekten geformt wird. Vgl. hierzu u. a. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1967), Frankfurt a. M. 42017, S. 302–316. 51 Beilage zu Nr. XXII. Brief von Leibniz an Varignon über das Kontinuitätsprinzip, in: Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (wie Anm. 39), S. 556–559, hier: S. 558.
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des Universalgelehrten – und dies gilt im Grunde genommen nicht nur exklusiv für Leibniz, sondern auch für weitere Statuen der Ausstellung, da diese mediale Form, verstanden im Serres’schen Sinne als Blackbox, prädestiniert ist für die visuelle Repräsentation von Einheit (in der Vielfalt) – auch durch das Material: So erscheinen die Skulpturen, in gewisser Weise noch mehr als die eigentlichen musealen Hauptakteure, die Exponate, als adäquate Reflektion göttlicher Einheit; und auch, weil in ihnen das Moment der Schöpfung noch offensichtlicher ist als z. B. in Tierpräparaten, deren ursprüngliche Existenz ihre Wurzel nicht im Schaffensprozess des Menschen hat. 52 Unsere Beschreibung des ‚Korrespondenznetzwerks‘, 53 in dem sich das von uns fokussierte Leibniz-Standbild befindet, ist damit allerdings noch nicht vollständig. Beginnen wir diesen Punkt mit einer kurzen Rekapitulation: Das Gesicht von Munros Leibniz ist vom Betrachter abgewandt; er hebt den Kopf, blickt zur Decke des Museums und durch die dort installierten Fenster direkt in den Himmel. Hinsichtlich seiner Gesichtszüge, auf die wir bislang noch nicht eingegangen sind, lässt sich festhalten, dass die in der Kunsttheorie der Präraffaeliten artikulierte Ablehnung der Übertreibung weniger detaillierte und dadurch ‚weicher‘ anmutende Gesichtszüge bedingt. Diese Reduktion hat den Effekt, dass das Gesicht wenig bietet, was von den zentralen Komponenten von Munros Gestaltung ablenken könnte, d. h. von Leibniz’ Körperhaltung und seinem ‚Accessoire‘, der Sternkarte. Das Risiko der Ablenkung wird zudem durch Leibniz’ Kopfhaltung minimiert, da das Gesicht einer Skulptur in der Regel der Aspekt ist, dem sich die Aufmerksamkeit des Betrachters, ähnlich dem Blick in den Spiegel, zuerst zuwendet. 54 Die Analyse von Leibniz’ Blickrichtung führt uns noch weiter: Durch sie wird Leibniz – ausgestellt, um angeschaut zu werden – in aller Deutlichkeit selbst zum Betrachter, und zwar ganz im Sinne seiner primären Interessen: Er wird zum Betrachter der Welt, zum Beobachter physikalischer Phänomene, zum Observator natürlicher Erscheinungen – und weniger zum Betrachter seines Gegenübers bzw. des Menschen und der Gesellschaft, wie es z. B. Thomas Woolners Interpretation von Francis Bacon durch den perfekt frontalen, den Betrachter regelrecht durchdringenden Blick suggeriert. Das bedeutet allerdings nicht, dass Leibniz in keiner Relation zu dem steht, was um ihn herum passiert: Er ist eingebettet in ein dynamisches Netzwerk, das sich durch den Fluss der Museumsbesucherinnen und -besucher stetig wandelt, aktiviert, in Teilen deaktiviert und revitalisiert wird; durch das Abschreiten des Raumes werden 52 Darüber hinaus bedingt auch das Material der Skulptur selbst eine Nähe zur göttlichen Schöpfung, bedenkt man, dass auch diese einen Vorgang der Formung von Materie bedeutet. Vgl. hierzu Serres: Statues (wie Anm. 46), S. 50. 53 Vgl. für eine andere Perspektive auch Sybille Krämer: Leibniz als Vordenker der Idee des Netzes und des Netzwerkes?, in: Martin Grötschel, Eberhard Knobloch, Juliane Schiffers, Mimmi Woisnitza, Günter M. Ziegler (Hg.): Vision als Aufgabe. Das Leibniz-Universum im 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 47–59, die dem Netzwerks- und Vernetzungsgedanken bei Leibniz über die epistoläre Ebene hinaus nachspürt. 54 Zur Theorie von Skulptur und Architektur, deren Zusammendenken als „dreidimensionale Bilder“ und der Rolle des Betrachters siehe u. a. Gundolf Winter: Schriften zu Skulptur und Architektur (= Bild und Text), hg. von Christian Spies u. Martina Dobbe, Paderborn 2014.
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von ihnen neue Linien und Verbindungen generiert, zwischen sich und den anderen Gästen, zwischen sich und den Skulpturen, aber auch zwischen den Skulpturen untereinander, so dass sich die ausgestellten Wissenschaftler in einer kontinuierlichen Dialogsituation befinden – einem Kommunikationssystem, das primär auf der Etablierung von Verbindungen, d. h. Vernetzungen, basiert. Durch den ihm exklusiven Blick nach oben Richtung Himmel stellt Leibniz weiterhin eine Relation her, die sowohl aussagekräftig ist für ihn und sein Werk als auch für seine ihn umgebenden ‚Mitstreiter‘ in Sachen Erkenntnis und Fortschritt: Sein Blick nach oben erweitert das mit der Raumkonstellation etablierte irdische Netzwerk um eine direkte Verbindung zu der Komponente, die sowohl für Leibniz’ Denken, aber auch alle anderen Vertreter der Wissenschaftsgeschichte, wie sie im Museum assembliert wurde, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist – dem Glauben bzw. der göttlichen Sphäre. Alle zwischen den Statuen existierenden Netzwerkverbindungen laufen so auf Leibniz zu, der passend nicht nur als Unterstützung einer tragenden Säule installiert ist, sondern auch als architektonisches Verbindungselement zweier Seiten des Raumes. Rückschlüsse darauf, auf welche Art und Weise der präraffaelitische Hang zum Mittelalter in der Statue Leibnizens potentiell manifest wird, gerade auch, wo man geneigt ist, in der Darstellungsform der Skulptur intuitiv zunächst primär die Kunst der Antike verwirklicht zu sehen, ermöglicht uns abschließend ebenfalls die Körperhaltung: Wenn wir erneut eine Linie ziehen, und diesmal vom Himmel ausgehend, durchquert diese Leibniz’ nach rechts oben orientierten Blick und wird durch den Zeigefinger seiner rechten Hand in der linken oberen Ecke der Sternkarte fixiert. Diese Linie, die eine Verbindung herstellt zwischen Oben und Unten, die das am Himmel Gesehene auf die Karte projiziert (und im Umkehrschluss die Karte auf das am Himmel Gesehene verweist), ermöglicht die Anbindung an prominente Prämissen der mittelalterlichen Geheimwissenschaft der Alchemie: Dabei soll nicht der Versuch unternommen werden, Leibniz als Alchemisten zu positionieren, nichtsdestotrotz ist die zeitgenössische Auseinandersetzung mit der Alchemie nicht von der Hand zu weisen, hat doch z. B. Newton selbst, neben weiteren, einen der meistzitierten alchemistischen Texte, die Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistus, aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt 55. Und an eben diese Schrift sehen wir uns erinnert, deuten wir Leibniz’ Himmel und Erde in ein Korrespondenzverhältnis bringende Positionierung (ähnlich der Karte des Magiers im Tarot) in diesem Kontext: „Quod est inferius, est sicut quod est superius, & quod est superius, est sicut quod est inferius ad perpesranda miracula rei genius“. 56
55 Vgl. Isaac Newton: Translation and Transcription of the ‚Tabula Smaragdina‘ of Hermes Trismegistus, Cambridge ca. 1680–1690. 56 Hermes Trismegistus: Tabula Smaragdina. Cui titulus Verba Secretorum Hermetis Trismegisti W. Chr. Kriegsmanni & Gerardi Dornei Commentariis illustrata, in: Jean-Jacques Manget (Hg.): Bibliotheca Chemica Curiosa, Seu Rerum ad Alchemiam pertinentium Thesaurus Instructissimus. Quo non tantùm artis auriferae, ac scriptorum in ea nobiliorum historia traditur; lapidis veritas argumentis & experimentis, Bd. 1, Coloniæ Allobrogum 1702, S. 380–382, hier: S. 381.
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* Die Alchemie ist es jetzt auch, die in den letzten Teil dieser Betrachtung überleitet: In ihrer Beschreibung der Stufen des chemischen Prozesses, die zum sogenannten ‚Stein der Weisen‘, dem lapis philosophorum führen, erkennt die Geheimwissenschaft z. B. in der Formel „solve et coagula“, ‚löse und verbinde‘ (bzw. auch ‚verfestige‘), das Ideal der Vereinigung von Gegensätzen und unterstreicht, dass für das Gelingen auf jede Separation unausweichlich eine Reunion folgen muss. 57 Illustriert wird dieses Prinzip gleichfalls von der Allegorie der ‚mystischen‘ oder ‚chemischen Hochzeit‘ von Sonne und Mond, der Stufe der coniunctio (‚Verbindung‘). Ganz im Geiste einer Versöhnung gehen wir nun auf einen zweiten Aspekt ein, der Munros Schwerpunktsetzung auf Leibniz als Astronomen, wenn vielleicht nicht definitiv oder abschließend erklären, aber vielleicht doch eine mögliche Lesart aufzeigen kann. Uns ist bei alledem natürlich nicht entgangen, dass Leibniz’ Statue uns geographisch, nachdem es dem realen Leibniz von Kurfürst Georg Ludwig bzw. King George I. infolge der Sukzession des Hauses Hannover nicht gestattet worden war, den Hof zu begleiten, 58 in England begegnet, was neben den Konsequenzen, die die Thronfolge für Leibniz nach sich zog, auch die schwierigen Beziehungen zu besonders einer dort beheimateten Person ins Gedächtnis ruft – Isaac Newton. Von Ruskin und Acland erfahren wir, dass Königin Victoria, nachdem man sich bei ihr erkundigt hatte, ob sie für die Finanzierung der Statue Francis Bacons zu gewinnen sei, dann selbst noch aus einer Liste mit Vorschlägen u. a. Newton, aber auch Leibniz ausgesucht hatte – bei dieser Auswahl handelte es sich also um keinen ihr unterbreiteten Vorschlag, sondern um ihre persönliche Entscheidung: Her Majesty Queen VICTORIA was made acquainted with the circumstance that these statues were to be gifts; and a hope was expressed that if Her Majesty thought fit to set an example to contributors, she would choose as her donation the first of the modern school, himself an Englishman, Francis Lord Bacon. In reply, the royal, and, more also, the kindly announcement – reached the University, that not Bacon only, but the four great names that followed next on the proposed list of discoverers, should be executed by Her Majesty’s command and at her own costs. 59
Eventuell handelte es sich bei Königin Victorias – erlauben wir uns im Rahmen unserer Dramaturgie die Bezeichnung – ‚Schachzug‘ um ein taktisches Vorgehen, bei dem man durch die offizielle und damit positiv konnotierte Assoziation mit dem Universalgelehrten von diesem profitieren wollte. Wir verfolgen stattdessen aber eine andere Deutungsoption, die mehr im Sinne Leibnizens und der Präraffaeliten
57 Vgl. Rosarium Philosophorum. Ein Alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Faksimile der Illustrierten Erstausgabe, Frankfurt 1550, 2 Bde., hg. u. erläutert von Joachim Telle, übersetzt von Lutz Claren, Weinheim 1992. 58 Vgl. zu diesem Themenkomplex Wenchao Li (Hg.): Leibniz, Caroline und die Folgen der englischen Sukzession (= Studia Leibnitiana – Sonderhefte 47), Stuttgart 2016. 59 Acland, Ruskin: The Oxford Museum (wie Anm. 22), S. 35f.
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erscheint: die Demonstration einer ‚Versöhnung‘, die letztendlich auch in Munros Interpretation von Leibniz und Newton wiederzuentdecken ist. Man kann davon ausgehen, dass sich Munro bei seinen Recherchen zu Leibniz,60 gerade auch aufgrund seines Parallelauftrags für das Standbild Newtons, sowohl mit dem um die Entdeckung des Differentialkalküls entbrannten Prioritätsstreit 61 als auch mit der vergleichsweise etwas weniger populären Debatte um die Himmelsmechanik vertraut gemacht hat. Leibniz’ in Reaktion auf Newtons Principia verfasste Abhandlung über die Himmelsmechanik von 1689, Tentamen de Motuum Coelestium causis, 62 versucht eine Begründung der Planetenbewegung u. a. anhand der Wechselwirkung einer von Newtons Modell abweichenden Gravitationskraft und einer Zentrifugalkraft, und obwohl auch dieser Streit den Zeitgenossen nicht entgangen ist, so ist seine Präsenz im öffentlichen Auge im Vergleich zu der Diskussion um den Calculus wohl doch eher marginal. Diesen rezeptionsgeschichtlichen Umstand, so nun die Überlegung, könnte sich Alexander Munro zunutze gemacht haben: Die Präsentation von Leibniz als Astronom wäre dann ebenfalls als ‚Deeskalationsmaßnahme‘ zu sehen, die den Prioritätsstreit dezentriert zugunsten der weniger prominenten astronomischen Debatte zwischen Newton und Leibniz. Auf diese Weise kommen sich Leibniz und Newton in ihrer Konstellation im Museum nicht konfliktbeladen ‚in die Quere‘, da sie in ihrer Darstellung als Physiker und Astronom (obwohl durch Acland und Ruskin beide dem Bereich der Mathematik zugewiesen) zwar nicht grundverschiedene Schwerpunkte vertreten, zumindest aber vordergründig durch Munros Gestaltung der Figuren wird kein Konflikt durch eventuelle ‚Hoheitsansprüche‘ vorgegeben. Unterstützend hinzu kommt, dass Newtons Blick nach unten, auf den Apfel gerichtet ist; Leibniz dagegen schaut in die entgegengesetzte Richtung – der Streitaspekt tritt so in den Hintergrund und eine Situation wird begünstigt, in der es möglich wird, Newton und Leibniz nicht als in ihrer Funktion identisch, sondern komplementär, sich gegenseitig ergänzend wahrzunehmen und so in der Zweierkonstellation das zu vermitteln, was hinter dem Museum, hinter der künstlerischen Annäherung der Präraffaeliten an die Natur und selbstverständlich hinter Leibniz steht – die Einheit in der Vielheit. 60 Eventuell war Munro der Fakt auch geläufig, es finden sich leider keine Informationen oder Aussagen darüber; es ist jedoch kaum anzuzweifeln, dass seine Vorbereitung vor dem Hintergrund des präraffaelitischen Anspruchs an die bildende Kunst nicht minder motiviert und intensiv gewesen sein muss wie die Recherche, die er für Galilei betrieben hat und im Brief an Pauline Trevelyan anspricht. 61 Zum Prioritätsstreit, auf den an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. ausführlich Thomas Sonar: Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton. Geschichte – Kulturen – Menschen (= Vom Zählstein zum Computer). Mit einem Nachwort von Eberhard Knobloch, Berlin/Heidelberg 2016 sowie u. a. auch Charlotte Wahl: „Ich schätze Freunde mehr als mathematische Entdeckungen“. Zum Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton, in: Michael Kempe (Hg.): 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten (= Forschung / Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek 2), Hannover 2016, S. 111–143. 62 Vgl. Tentamen de Motuum Coelestium causis: GM VI, 144–161
LEIBNIZ IM DIENST DER „REEDUCATION“ Paul Schrecker und sein Aufsatz über Leibniz’ Prinzipien des Völkerrechts in der Amerikanischen Rundschau (1947) 1 Stefan Lorenz, Münster Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne ist das, was die Philosophie gemein hat und was sie gemein macht mit allen „positiven“ Disziplinen. […] Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreibt, beschreibt sie das Hervortreten ihrer „Phänomene“, für die es keine andere Präparation gibt, als eben diese Geschichte. Und wie das geschieht, ist wiederum eines ihrer „Phänomene“ 2 Auch Geschichte der Philosophie, weiterhin Geschichte der Wissenschaften zu betreiben, kann nur eine der Formen sein, Anspruch auf die Achtung der Kommenden geltend zu machen, indem wir sie den Gewesenen erweisen 3 Hans Blumenberg
Atque eo magis necessaria est hæc opera, quod & nostro sæculo non desunt & olim non defuerunt, qui hanc juris partem [sc. jus illud quod inter populos S.L.] ita contemnerent quasi nihil ejus præter inane nomen existeret […] Et haec quidem […] locum aliquem haberent, etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana 4 Hugo Grotius
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Der vorliegende Beitrag geht in Teilen zurück auf einen am 29. Januar 2019 gehaltenen Vortrag: Individualität und Gemeinwohl - Zur Aktualität der Leibnizschen Philosophie. Vortrag gehalten im Rahmen der 29. Iserlohner Winteruniversität. Veranstaltet von der ESO Education Group (verantw.: Christoph Neumann), der Volkshochschule Iserlohn (verantw.: Rainer Danne, Gerhard Greczka) und der Evangelischen Akademie Villigst (im Institut für Kirche und Gesellschaft der EKvW, verantw.: Kirsten Gralher) in Kooperation mit der UE University of Applied Sciences Europe (Iserlohn/Berlin/Hamburg). Iserlohn. Für Hilfe bei seiner Fertigstellung sei Frau Dr. Nora Gädeke gedankt. Hans Blumenberg: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, Vorwort, S. 3–6, hier S. 6. Hans Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974, in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben (wie Anm. 2), S. 163–172, hier S. 172. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena, § 3 u. § 11.
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Stefan Lorenz
I. Das Jahr 1946 Der Bauherr eines im Jahre 1952 wieder aufgebautes Hauses in der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Altstadt von Münster in Westfalen hat an einem von einem Dreiecksgiebel bekrönten Risalit eine die Passanten der Mit- und Nachwelt mahnende Inschrift anbringen lassen: „Remota iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?“ Dieses Diktum, das pointiert den Begriff und die Sache der „Gerechtigkeit“ so sehr als proprium einer legitimen Herrschaft herausstellt, daß Herrschaftsformen, bei denen dieses Merkmal fehlt, füglich als „Räuberbanden“ gelten können, stammt aus dem Buch De civitate dei (IV,4) des Kirchenvaters Augustinus und lautet in deutscher Sprache so: „Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“ 5 Unschwer lässt sich erkennen, daß mit dieser vom Münsteraner Bauherren gewählten Giebeldevise auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gedeutet werden soll, deren Ende erst sieben Jahre zurücklag. Denn wenn man dann bei Augustinus weiterliest, heißt es dort weiter: Aber Nachbarn bekriegen, von einem Krieg zum andern übergehen und Völker, die einem nichts zuleide getan, aus bloßer Herrschsucht niedertreten und unterwerfen, wie soll man das anders nennen als eine große Räuberei? 6
* Wenchao Li hat sich – zumal in seiner Eigenschaft als Inhaber der Leibniz-Stiftungsprofessur (2010 bis 2017) – sowohl in eigenen Publikationen als auch über von ihm angestoßene oder herausgegebene Veröffentlichungen und Editionen intensiv auch mit den Komplexen „Recht“ und „Gerechtigkeit“ bei Leibniz befasst 7 5
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Augustinus: De civitate dei IV,4: „Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? quia et latrocinia quid sunt nisi parua regna?” Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate dei). Buch 1–10. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet u. kommentiert von Carl Andresen, München 1977, S. 173. Augustinus: De civitate dei IV,6 (wie Anm. 5), S. 176. Augustinus führt diesen Gedanken weiter in De civitate dei XIX, 21, wo es (Buch 11–22, a. a. O. S. 567) heißt: „Denn wo keine wahre Gerechtigkeit ist, gibt’s auch kein Recht. […] Ungerechte menschliche Anordnungen kann man ja nicht Recht nennen […] falsch [ist] die Ansicht, […] Recht sei, was dem Stärkeren nützt. Wo demnach keine wahre Gerechtigkeit ist, kann es auch keine durch Rechtsgleichheit verbundene Menschengemeinschaft geben […] sondern nur eine Menge, die den Namen Volk nicht verdient.“ Das verrät bereits das leitende Motto des von ihm ausgerichteten X. Internationalen LeibnizKongresses: „Für unser Glück oder das Glück anderer“. Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover, 18.–23. Juli 2016. Hg. von Wenchao Li in Verbindung mit Ute
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und ist in diesem Zusammenhang auch dem Wandel des Leibniz-Bildes nachgegangen. So hat er erst jüngst in seinem das monumentale, von ihm mit herausgegebene Leibniz-Handbuch abschließenden Beitrag dies Thema monographisch behandelt, und er hat dabei eindrücklich aufzeigen können, in welch starkem Maße die jeweilige Einschätzungen und Präsentationen Leibnizens und seines Denkens und Wirkens auch Resultanten oder Variablen der jeweiligen Epochen der deutschen Geschichte und zumal ihrer vorherrschenden politischen Orientierungen und weltanschaulichen Eigenheiten gewesen sind. So kann Leibniz als ein Gewährsmann für lokale Patriotismen (etwa für den anti-preußischen Affekt im Hannover des 19. Jahrhunderts), als ein Vorkämpfer für die deutsche Reichseinigung, als ein Vordenker des anti-französischen Chauvinismus im Ersten Weltkrieg (über den die französisch-deutsche Zusammenarbeit an der erst wenige Jahre zuvor gemeinsam begonnenen Gesamtausgabe der Werke Leibnizens zerbricht) vorgestellt werden. Auch der Versuch des Nationalsozialismus, Leibniz zu vereinnahmen und ihn als einen seiner Vordenker zu reklamieren, wird dargestellt. Er schließt seinen Beitrag mit dem Abschnitt „Lehrer und Erzieher“, der die deutsche Nachkriegszeit und vor allem auch jenes Jahr 1946 und seine Publikationen zu Leibniz behandelt, in dem auch Schreckers Aufsatz zuerst in englischer Sprache erschienen ist, und von dem hier weiter unten ausführlich die Rede sein soll. Li kann nach Sichtung prominenter zeitgenössischer deutscher Stellungnahmen und Gedenkreden zu Leibnizens 300. Geburtstag, 8 den es 1946 in den materiellen
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Beckmann, Sven Erdner, Esther-Maria Errulat, Jürgen Herbst, Helena Iwasinski u. Simona Noreik. 6 Bde, Hildesheim/Zürich/New York 2016–2017. Vgl. weiter: Wenchao Li (Hg.): Völkerverständigung und Ökumene. Dokumentation einer Ausstellung über Leben und Werk von Daniel Ernst Jablonski (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur, 17), Hannover 2012; Wenchao Li (Hg.): Der gute Mensch. Dokumentation einer Veranstaltung anlässlich des 366. Geburtstags von Gottfried Wilhelm Leibniz (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur, 21), Hannover 2013 [darin S. 29–42: Wenchao Li: Festvortrag: „Der gute Mensch“ (vir bonus)]; Wenchao Li (Hg.): „Das Recht kann nicht ungerecht sein …“. Beiträge zu Leibniz‘ Philosophie der Gerechtigkeit (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 44), Stuttgart 2015; Wenchao Li: Lautdenken mit L. Reden und Vorträge (2010–2016) (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur, 24), Hannover 2017 und Gottfried Wilhelm Leibniz; Gedanken über den Begriff der Gerechtigkeit. Hg. u. mit einer Einführung versehen von Wenchao Li. Übersetzt von Pierre Castagnet, Nina Asmussen, Stefanie Ertz u.Stefan Luckscheiter, Hannover 2017. Von den deutschen Publikationen zu Leibniz der Jahre 1946/1947 seien hier nur einige genannt, die eine besondere Bedeutung auch für die philosophische Deutung gehabt haben: Gottfried Wilhelm Leibniz. Vorträge der aus Anlass seines 300. Geburtstages in Hamburg abgehaltenen wissenschaftlichen Tagung. Hg. von der Redaktion der Hamburger Akademischen Rundschau, Hamburg 1946; Georgi Schischkoff (Hg.): Beiträge zur Leibniz-Forschung (= Monographien zur philosophischen Forschung hg. von Georgi Schischkoff, Bd. I), Reutlingen: Gryphius-Verlag 1947. [S. 6: Bibliographie „Leibniz-Literatur 1946“]; Alois Guggenberger: Leibniz oder Die Hierarchie des Geistes (= Der Deutschenspiegel. Schriften zur Erkenntnis und Erneuerung. Hg. Gerhart Binder. Band 26), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1947; Kurt Huber: Leibniz und wir, in: Zeitschrift für philosophische Forschung I (1946), S. 5–34; Katharina Kanthack: Leibniz. Ein Genius der Deutschen, Berlin: Minerva-Verlag 1946; Gerhard Krüger: Leibniz als
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und moralischen Trümmern zu begehen galt, konstatieren, daß zwar die Einsicht vorherrschend war, daß Ideologie und Praxis des nationalsozialistischen Deutschland all dem widersprach, was Leibniz über die Wahrheit, das Recht, die Toleranz, das Geltenlassen von Vielfalt und das erstrebenswerte Ideal des Kosmopolitismus und der Völkerverständigung gelehrt hatte, daß man aber kaum eine Erklärung für den verhängnisvollen und verbrecherischen Weg hatte, auf dem die Mehrheit des deutschen Volkes der Führerschaft einer „Räuberbande“ (um mit Augustinus und unserem Münsteraner Bauherren zu reden) zu folgen bereit war. Es sei dagegen, so Li, kein Zufall gewesen, dass gerade Leibniz […] dem Nachkriegsdeutschland „ein gewaltiger Ankläger sinnlosen Kriegswütens“ [so Wilhelm Böhm S.L.] wurde […] und dass Leibniz […] nicht als Universalgelehrter, sondern als ein außerordentlicher „Lehrer und Erzieher“ [so Karl Schlechta S.L.] berufen wurde, der den Deutschen und vor allem ihren Intellektuellen die Augen öffnen sollte „[…] und zu sehen „was für eine Art von Wissenschaft herauskommt“ [so Theodor Litt S.L.], was für ein menschlicher Abgrund sich auftut, wenn die Wissenschaft ihren Wahrheitsmaßstab preisgibt und der politischen Macht blindlings folgt und wenn, statt Frieden, Krieg als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt wird. 9
Zwar hatten Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie versucht, auch Leibniz für die Vorgeschichte des „Tausendjährigen Reiches“ zu vereinnahmen, aber – so urteilt Gerd van den Heuvel, Lis Einschätzung bestätigend – [a]lles in allem sind Leibniz und sein Werk von der braunen Tünche nicht nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden. Gleich nach dem Zusammenbruch und verstärkt mit seinem 300. Geburtstag im Jahre 1946 wurde Leibniz als einer der herausragenden Vertreter des „besseren Deutschland“ in Anspruch genommen, als Philosoph der Harmonie und des Ausgleichs, als Künder der Humanität, als guter Europäer.
Wobei diese Inanspruchnahme Leibnizens nach dem Krieg mitunter – auch darauf weist van den Heuvel zu Recht hin – durchaus die Züge von Verdrängung und Vertuschung annehmen konnte:
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Friedensstifter. Vortrag gehalten im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main anläßlich der Feier zur 300. Wiederkehr des Geburtstages von Gottfried Wilhelm Leibniz am 1. Juli 1946, Wiesbaden: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1947; Theodor Litt: Leibniz und die Gegenwart. Ein Vortrag gehalten in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Feier von Leibniz‘ 300. Geburtstag, Wiesbaden: Dieterich’sche Verlagsbuchhandung 1946. Auch die wichtige Textsammlung: Gottfried Wilhelm Leibniz: Gott · Geist · Güte. Eine Auswahl aus seinen Werken (= Das Zeugnis – Europäische Denker. Hg. von Carl Heinz Ratschow), Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag 1947 dürfte im Zusammenhang mit dem Leibniz-Jubiläum des Jahres 1946 entstanden sein. Wenchao Li: Der Wandel des Leibniz-Bildes. In: Friedrich Beiderbeck,Wenchao Li, Stephan Waldhoff (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick. Stuttgart 2020, S. 793–815, hier S. 808f.
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Die Schattenseiten dieses Umganges mit der Vergangenheit werden dort besonders deutlich, wo trotz des Neuanfangs personell und intellektuell die Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945 gewahrt wurden. 10
dies überhaupt (und nicht nur im Spezialfall der Leibniz-Rezeption und Leibnizforschung) ein generelles Problem der geistigen Situation des Nachkriegsdeutschland in West und Ost. Wenn das besondere Interesse Wenchao Lis auch immer den Fragen der Leibniz-Rezeption in ihrem Zusammenhang mit den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen gegolten hat, so gebührt ihm besonderes Verdienst dafür, daß er eine (auf eine Idee Hartmut Rudolphs zurückgehende) Tagung realisiert hat, die von der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft gemeinsam mit der Leibniz-Stiftungsprofessur der Universität Hannover im September 2010 veranstaltete wurde. Diese Arbeitstagung war wohl erstmalig und explizit dem Thema: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet. Deren Ergebnisse hat er dann auch als Mitherausgeber in einem gewichtigen und facettenreichen Band der Öffentlichkeit vorgelegt, 11 womit der Auftakt einer kritischen Auseinandersetzung der Leibniz-Forschung mit ihrer eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 gegeben war. II. Paul Schrecker (1889–1963) Der verdienstvolle Leibniz-Forscher Patrick Riley (1941–2015) 12 hat in einem in diesem Band „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus erschienenen Aufsatz die Person und das philosophische Denken Paul Schreckers mit großer Empathie dargestellt. Er schildert ihn als einen überzeugten Vertreter des – letztlich auch auf Platon zurückzuführenden – Leibniz’schen, naturrechtlichen ‚Rationalismus‘, der in Abwehr eines Voluntarismus und Dezisionismus, wie er ihn in der Konsequenz etwa auch des Cartesianismus liegen sah, das Recht und die Gerechtigkeit nicht im bloßen Willen – sei es der Gottes oder der eines irdischen Gesetzgebers – begründet sieht, sondern in der allgemein Geltung beanspruchenden, emphatisch verstandenen Vernunft. Gerade Schreckers Erfahrungen mit Vertreibung und Exil hätten diesen in besonderem Maße darin bestärkt, im Rückgriff auf Leibniz‘ Theorie der Gerech-
10 Gerd van den Heuvel: Von der Notwendigkeit eines guten Namens. Leibniz als Namengeber und politisches Argument im 19. und 20. Jahrhundert, in: Georg Ruppelt (Hg.): Von der Notwendigkeit eines guten Namens. Die Niedersächsische Landesbibliothek wird Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (= Lesesaal. Kleine Spezialitäten aus der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek. Heft 22), Hameln 2006, S. 34f. 11 Wenchao Li, Hartmut Rudolph (Hg.): „Leibniz” in der Zeit des Nationalsozialismus (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 42), Stuttgart 2013. 12 Vgl. Hartmut Rudolph: Nachruf auf Patrick Riley, in: Studia Leibnitiana 47 (2015) S. 128–130; François Duchesneau: Patrick Riley (1941–2015) in memoriam, in: Archives de philosophie 78 (2015), S. 529; Philip Beeley: Patrick Riley (1941–2015): Some reminiscences and reflections on his life, in: The Leibniz Review 24 (2014), S. 139–143; David Lay Williams: Patrick Riley (1941–2015). In Memoriam, in: The Leibniz Review 24 (2014), S. 145–151.
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tigkeit sowohl als Historiker die fatalen Konsequenzen des Voluntarismus aufzuzeigen, als auch publizistisch gegen Diktaturen, Totalitarismen und Unterdrückung in seiner eigenen Zeit aufzutreten: that Paul Schrecker’s philosophical devotion to Leibniz […] and his tragic personal circumstances of violence and exile, combined to make both Leibniz and Schrecker the united, eloquent opponents of „tyranny“, of „willful“ power, and of every princeps viewed as legibus solutus. Both ardently opposed absonderlich Cartesianer, whether found in the 17th century or in the 20th; both ardently embraced Platonism as the best of all possible defenses of ratio against voluntas.
Mit dieser Kongruenz von historischer Erforschung und politischer Aktualisierung von Leibniz – so Riley, der sich selbst im Rahmen seiner Forschungen zur politischen Philosophie um eine Erhellung der berühmt gewordenen Formel Leibnizens für die Definition von ‚Gerechtigkeit‘ bemüht hat 13 – könne Schrecker geradezu als Personifikation des ‚Gerechten‘ im Sinne Leibnizens apostrophiert werden: „Of Schrecker, then, it can be truly said: he was not just a Leibniz-scholar, but a wisely charitable Leibnizian.” 14 Der hier nicht zu überhörende Anflug von Pathos in Rileys Charakterisierung sollte nicht befremden: ist er doch, bei Würdigung von Schreckers gelehrten und philosophischen Arbeiten und angesichts der seinem Lebenslauf gewaltsam aufgedrungenen Wendungen, durchaus angemessen. Der vorliegende Beitrag möchte einige Ergänzungen zu Patrick Rileys Darstellung bieten, andererseits aber auch einige Hinweise geben, die einer künftig stärkeren Beachtung der Gestalt Schreckers, zumal der des systematischen Philosophen dienlich sein könnten. * Paul Schrecker wurde 1889 in Wien geboren. Er studierte zunächst Rechtswissenschaft an der dortigen Universität und schloß dieses Studium 1913 dem Titel eines Dr. jur. ab. Bereits ein Jahr zuvor hatte er seine philosophischen Interessen mit einer Publikation zu Henri Bergson dokumentiert. 15 Ein Jahr später publizierte er eine Schrift Die individualpsychologische Bedeutung der ersten Kindheitserinnerungen (Wiesbaden 1914). Seine politischen und gesellschaftstheoretischen Interessen in der Zeit des Ersten Weltkrieges belegen dann seine Schriften zur österreichischen
13 Vgl. etwa Patrick Riley: Leibniz‘ universal jurisprudence: justice as charity of the wise, Cambridge, Mass. [u. a.] 1996. 14 Patrick Riley: Paul Schrecker’s defense of Leibniz’ Platonic idealism against the dangers of Cartesian voluntarism, in: Li, Rudolph: „Leibniz” in der Zeit des Nationalsozialismus. (wie Anm. 11), S. 171–183, hier S. 183. 15 Paul Schrecker: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit. Ein Essay über analytische und intuitive Psychologie, Wien 1912.
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Verfassung (1917) und zur Theorie der Ständestaatlichkeit (1919). 16 Seit seinen Wiener Jahren verband Schrecker eine enge Freundschaft mit dem ebenfalls politisch interessierten Schriftsteller Hermann Broch, 17 eine Freundschaft, die Schreckers erste Ehefrau Claire Bauroff teilte. Nach weiteren Studienjahren in Paris und Berlin und dem Erwerb auch eines Titels eines Dr. phil. ging er im Jahr 1927 seine erste Ehe ein: Nach einer vierjährigen Liaison ohne Trauschein heirateten Claire Bauroff und der in amtlichen Unterlagen zu dieser Zeit als „Privatgelehrter“ firmierende Paul Schrecker am 30. März 1927 in Berlin-Schöneberg. 18
Seine Ehefrau, Claire Bauroff gehörte zwar zu den durchaus bedeutenden Protagonistinnen des avantgardistischen Tanzes 19 in der Weimarer Republik, doch vermochte Schrecker keinerlei Verständnis für ihren künstlerischen Beruf aufzubringen. Bauroffs Biograph, Ralf Georg Czapla schreibt: Mit Dauer ihrer Beziehung wuchs die Kluft, die sich zwischen Claires tänzerischen Ambitionen und Pauls akademischer Gelehrsamkeit auftat. Claire litt darunter, dass seit dem Beginn der
16 Philodikos [d.i. Paul Schrecker]: Bemerkungen zur Verfassungs-Reform in Österreich. Wien 1917; Paul Schrecker: Für ein Ständehaus – Ein Vorschlag zu friedlicher Aufhebung der Klassengegensätze, Wien 1919. 17 Vgl. Jens Thiel: Leibniz-Tag, Leibniz-Medaille, Leibniz-Kommission, Leibniz-Ausgabe – die Preußische Akademie der Wissenschaften und ihr Ahnherr im „Dritten Reich“, in: Li, Rudolph: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus“ (wie Anm. 11), S. 41–73, hier S. 71, Anm. 110. Thiel verweist dafür – einem Hinweis von Nora Gädeke folgend – auf Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1985. 18 Ralf Georg Czapla: Die ungleichen Geschwister. Der Unternehmer Friedrich Baur und die Tänzerin Claire Bauroff. Biografie, München/Berlin/Zürich 2015, S. 176. Zur Ehe mit Claire Bauroffs mit Paul Schrecker insgesamt: S. 167–181: Kapitel 21. „Szenen einer Ehe. Claire und der Philosoph Paul Schrecker“. 19 Vgl. jetzt das instruktive Kapitel von B[rygida] O[chaim]: Claire Bauroff (1895–1984) – Freiheit und Ideal. Der Körper als Skulptur. In: Brygida Ochaim, Julia Wallner (Hg.): Der absolute Tanz. Tänzerinnen der Weimarer Republik. Katalog der Ausstellung im Georg Kolbe Museum, 25. 4. – 29. 8. 2021, Berlin 2021, S. 74–79. – Vgl. weiter Alfred Oberzaucher: Das KünstlerInnen-Netzwerk der Wiener Tanzmoderne. „Claire Bauroff (eigtl. Claire Baur; verh. Zichy, Schrecker), T[änzerin]/Ch[oreographin], Weißenhorn (bei Neu-Ulm) 26. 2. 1895 – 7. 2. 1984, Gräfelfing (bei München). Obwohl sie nie wirklich im ‚Nacktkostüm’ aufgetreten ist, festigten die von Trude Fleischmann angefertigten Aktstudien ihren Ruf als ‚Nackttänzerin‘. Über einen längeren Zeitraum war Bauroff, ausgebildet bei Rudolf Bode in München, künstlerisch mit Wien verbunden. Nach ihren Debut 1919 im Ronacher und zahlreichen Tanzabenden im Konzerthaus (auch gemeinsam mit Maria Ley, Sascha Leontjew und Ellinor Tordis) und in der Secession brachte sie 1924 im Theater in der Josefstadt die Tanzdichtung Das Licht ruft (Musik: Franz Salmhofer) zur Aufführung und trat im Raimundtheater in Frank Wedekinds Franziska auf. 1926 war sie Star eines Wien-Gastspiels der Haller-Revue, 1927 der Revue Hallo! Hier Grünbaum. Literatur: Czapla 2015.“, in: Andrea Amort (Hg.): Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne. Anlässlich der Ausstellung Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne. Theatermuseum, Wien 21. März 2019–10. Februar 2020, Berlin 2019. S. 331–349, hier S. 332. Vgl, auch: https://litkult1920er.aau.at/litkult-lexikon/bauroff-claire/ (letzter Aufruf 28.09.2021).
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Stefan Lorenz dreißiger Jahre die Zahl ihrer Auftritte drastisch zurückgegangen war, und Paul nichts unternahm, um sie in dieser Situation […] zu stützen. […] Zur beruflichen Unsicherheit traten in dieser Zeit immer wieder Anfechtungen von Seiten ihres Ehemannes, der sich in Anbetracht fehlender Nachfrage in seiner Einschätzung bestätigt sah, dass der Tanz nur „brotlose“ Kunst sei. 20
So verwundert es nicht, daß die Ehe schließlich geschieden wurde. Die Freundschaft und Korrespondenz zwischen Claire Bauroff und Hermann Broch (die sich wohl seit 1922 kannten) hielt jedoch bis zu dessen Tod im Jahr 1951 an. 21 Seit 1929 war Paul Schrecker bei der Leibniz-Edition in Berlin tätig. Doch schon 1933 wurde er als Jude gezwungen, diese Tätigkeit aufzugeben und ins Exil zu gehen. Von 1933 bis 1940 hielt er sich in Frankreich auf, wo er als Rockefeller research fellow am Pariser Centre de la Recherche Scientifique tätig sein konnte. In diese Zeit fallen auch Vorträge an der Britischen Akademie der Wissenschaften, darunter im Jahr 1937 einer über Leibniz. Ses idées sur l’organisation des relations internationales, 22 der in thematischer Hinsicht als ein Vorläufer des uns im Folgenden näher beschäftigenden Aufsatzes von 1946 gelten kann. Nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten war er zunächst an der New School for Social Research tätig, später unterrichte er an der Columbia University (1946–1947). Im Jahr 1948 veröffentlicht er ein umfangreiches geschichtsphilosophisches Werk unter dem Titel Work and History. An Essay on the Structure of Civilization, 23 das – wie zahlreiche Rezensionen belegen 24 – im angelsächsischen Raum zwar große Beachtung fand und auch ins Spanische übersetzt, 25 in Europa, zumal in Deutschland jedoch kaum wahrgenommen wurde. An dem von den Quäkern unterhaltenen Swarthmore College bei Philadelphia nahm er Lehraufträge wahr und von 1950 bis zu seiner Emeritierung 1960 war er Professor für Philosophie an der University of Pennsylvania. Im Jahr 1963 ist er verstorben. Die Würdigung des systematischen Philosophen Schrecker bleibt – zumal im deutschsprachigen Raum – ein Desiderat: seine umfangreiche geschichtsphilosophische Studie Work and History. An Essay on the Structure of Civilization von 20 Czapla, a. a. O., S. 170. 21 Vgl. Ralf Georg Czapla: ‘nach Maß gearbeitet’. Hermann Brochs Gedichte für die Tänzerin Claire Bauroff. Mit einer Edition des Briefwechsels Bauroff – Broch und von Auszügen aus der Korrespondenz Bauroff – Burgmüller, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 12 (2008), S. 69–113. 22 Paul Schrecker: Leibniz. Ses idées sur l’organisation des relations internationales. Annual lecture on a master mind. Henriette Hertz Trust. Conference faite le 14 juillet 1937 par Paul Schrecker (Paris), in: Proceedings of the British Academy 1937, London 1937, S. 193–229. 23 Paul Schrecker: Work and History. An Essay on the Structure of Civilization, Princeton 1948. Repr. Gloucester, Mass. 1967. 24 The American Historical Review 54, 1 (1948), S. 94–96 [Henry David]; The Philosophical Review 58, 1 (Jan. 1949), S. 76–78 [Maurice Mandelbaum]; ISIS 40, 1 (1949), S. 83–85 [Ernest Nagel]; Canadian Journal of Economics and Political Science / Revue canadienne de economiques et science politique 15, 2 (Mai 1949), S. 266–267 [A. Innis]. 25 La Estructura de la civilización. Traducción de Blanca Pascual Leone y Elsa Cecilia Frost, Mexico: Fondo de Cultura Económica 1957.
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1948 scheint – wie gesagt – bislang nicht Gegenstand einer eingehenden Untersuchung geworden zu sein, auch wenn Schrecker durch dieses Werk zu seiner Zeit in den Vereinigten Staaten durchaus zu einer in das akademische establishment eingebundene Größe geworden zu sein scheint. So war er Mitglied einer Gruppe von Wissenschaftlern, die der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Alfred L. Kroeber (1876–1960), ein Schüler von Franz Boas, zu einer interdisziplinären Konferenz im Mai 1949 an das damals unter der Leitung von Robert Oppenheimer stehenden Institute for Advanced Study einlud. 26 Dort konnte Schrecker seine Geschichtsphilosophie mit ihren Leitbegriffen der Zivilisation und der Arbeit vorstellen und diskutieren lassen: Also attending the May 1949 conference was another German émigré, the philosopher of history Paul Schrecker. In Work and History: An Essay on the Structure of Civilization (1948), which the Rockefeller Foundation supported with grants-in-aid, Schrecker construed civilization as „integrations of results of human work” distinguished by the correspondence of six „provinces”: the state, science, religion, aesthetics, the economy, and language. 27
Von der Wertschätzung Schreckers im akademischen Milieu der USA zeugt auch der Umstand, daß sein Aufsatz Revolution as a Problem in the Philosophy of History noch 1966 posthum in dem von einem der bedeutendsten Politikwissenschaftler der USA, Carl J. Friedrich (1901–1984) herausgegebenen Yearbook oft the American Society for Political and Legal Philosophy zum Abdruck kam. 28 Der umfangreiche Nachlass 29 Paul Schreckers wird an der University of Pennsylvania verwahrt. Er umfasst auch die ausgebreitete Korrespondenz Schreckers, so 26 Vgl. John S. Gilkeson: Anthropologists and the Rediscovery of America, 1886–1965, Cambridge 2010, S. 200–249: [Chapter] 5: America as a Civilization. 27 Gilkeson, S. 212. 28 Paul Schrecker: Revolution as a Problem in the Philosophy of History, in: Carl J. Friedrich (Ed.): Revolution: Nomos VIII. Yearbook oft the American Society for Political and Legal Philosophy, New York 1966, S. 34–52. 29 Paul Schrecker papers, 1921–1964, Kislak Center for Special Collections, Rare Books and Manuscripts, University of Pennsylvania. Vgl. dazu das Findbuch: Paul Schrecker papers Ms. Coll. 987. Finding aid (Last updated on May 30, 2017): http://dla.library.upenn.edu/dla/pacscl/ead.pdf?id=PACSCL_UPENN_RBML_PUSpMsColl987 (letzter Aufruf: 28.09.2021): „University of Pennsylvania, Kislak Center for Special Collections, Rare Books and Manuscripts (2014 May 14 and 2017 May 4) – Paul Schrecker papers Ms. Coll. 987 Finding aid prepared by Megan Evans and Chase Markee (2014) and Alexandra M. Wilder (2017). Last updated on May 30, 2017. – Summary Information: Repository „University of Pennsylvania: Kislak Center for Collections, Rare Books and Manuscripts. – Creator: Schrecker, Paul, 1889. – Title: Paul Schrecker papers. – Call number: Ms. Coll. 987. – Date [inclusive] 1921–1964. – Extent: 10 linear feet (11 boxes). […] – Note: This collection largely consists of materials in English, with portions in German and French. – Paul Schrecker (1889–1963) was an Austrianborn philosopher and University of Pennsylvania professor who edited the works of Gottfried Wilhelm Leibniz from 1929 to 1933 and Nicolas Malebranche from 1934 to 1940. This collection of his professional and personal papers consists of the teaching materials, correspondence, writing, and research materials accumulated throughout his career. This collection is of value to scholars interested in research on Enlightenment philosophers and the culture of 20th century academia.– Cite as: Paul Schrecker papers, 1921–1964, Kislak Center for Special Collections,
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etwa mit W. H.Auden, Raymond Klibansky, George Sarton, Charlot Strasser, Otto Kraus, Hermann Broch, Claude Levi-Strauss, Otto Neurath, Siegfried Kracauer, Alexandre Koyré, Julius Kraft, Robert Fitzgibbon Young, Glenn R. Morrow und Richard Popkin. Auch dieser Nachlass harrt noch einer Sichtung und Auswertung. Exkurs I: Paul Schrecker als akademischer Lehrer Martin Luther Kings Ein Detail der akademischen Aktivitäten Schreckers während seiner Lehrtätigkeit an der University of Pennsylvania ist erst jüngst durch eine Publikation von Patrick Parr bekannt geworden. In den Jahren 1949 bis 1951 belegte der junge Student der Theologie, Martin Luther King, Jr., der eigentlich am Crozer Theological Seminary in Chester (Pennsylvania) eingeschrieben war, zusätzlich auch verschiedene philosophische Kurse an der University of Pennsylvania. So nahm er im Trimester November 1949–Februar 1950 als Gasthörer an einem Kurs über Ethics and Philosophy of History bei Elizabeth F. Flower (1914–1995) teil 30 und im Herbst 1950 hörte er bei John Stokes Adams Jr. über Problems of Esthetics. 31 Am nachhaltigsten Rare Books and Manuscripts, University of Pennsylvania. […] – Scope and Contents: The Paul Schrecker papers, 1921–1964, consist primarily of the professional papers, correspondence, writings, and research materials of University of Pennsylvania professor, Paul Schrecker. This collection consists of teaching materials, correspondence, research and bibliographic notes, annotated drafts of conference papers and commentaries, and unbound volumes of works by Leibniz and Malebranche. These materials document Schrecker's scholarly pursuits, particularly his writing, research, and teaching career at the University of Pennsylvania, the New School for Social Research, Bryn Mawr College, Haverford College, and Swarthmore College. The collection also contains personal materials such as financial records and family papers. The first series in this collection, Teaching and Lectures, 1929–1962, contains records from Paul Schrecker's teaching career at Bryn Mawr College, the University of Pennsylvania, and the New School for Social Research. Other colleges and universities at which Schrecker taught are arranged in a subseries that includes: Haverford College, Swarthmore College, and Columbia University, among others. Records in this series consist of administrative correspondence, exam questions, lecture notes and manuscripts, and student lists and grades (which are restricted).The second series in this collection, Writings by Schrecker, 1927–1957, focuses on the philosophers Rene Descartes […], Gottfried Wilhelm Leibniz […], and Nicolas Malebranche […].This series contains manuscripts and typescripts on the philosophers, as well as related correspondence, newspaper clippings, and research notes. The subseries Other Writings, 1936–1963, contains other manuscripts and typescripts, including unpublished original manuscripts. The third series in this collection, Research, 1936–1946, contains research notes and manuscripts on Descartes, Leibniz, and Malebranche, as well as other philosophers, including Thomas Hobbes and Lucien Levy-Bruhl. […] – Related Archival Materials note: In 1960, the University of Pennsylvania purchased Schrecker’s Leibniziana collection of 5,000 books.” Vgl. auch Alexandra M. Wilder: Small Details of a Big Life: the Paul Schrecker papers, 1921–1964. (Posted on May 31, 2017): https://pennrare.wordpress.com/2017/05/31/small-details-of-a-biglife-the-paul-schrecker-papers-1921-1964/ (letzter Aufruf: 20.09.2021). 30 Vgl. Patrick Parr: The Seminarian. Martin Luther King Jr. Comes of Age, Chicago 2018, S. 99– 104. 31 Vgl. Parr, The Seminarian (wie Anm. 30), S. 163–165.
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scheint ihn allerdings das ebenfalls von ihm besuchte Kant-Seminar des seit 1950 an der University of Pennsylvania lehrenden Paul Schrecker im Trimester 1950–51 beeindruckt zu haben. 32 Die von Patrick Parr rekonstruierte Veranstaltungsbeschreibung aufgrund der erhaltenen Aufzeichnungen Kings für dies Seminar 33 lautet: Kant, Paul Schrecker, LLD (University of Vienna), PhD (University of Berlin). Course Description: An analysis of the concepts within Kant’s A Critique of Pure Reason. Among other topics: the distinction between phenomena (beings of sense) and noumena (beings of reason); Kant’s definition of reality. 34
Schrecker scheint in diesem der Philosophie Kants gewidmeten Seminar allerdings auch zahlreiche Hinweise auf Leibniz gegeben zu haben, denn Parr kann nach Sichtung der bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen Martin Luther Kings zu diesem Seminar feststellen: A few of M[artin] L’s notes from Schrecker’s Class – and there are a lot of them – are peppered with references to Leibniz, a sign perhaps of the philosophical connection Schrecker drew between the two men. More important, of course, was what ML learned about Kant, who would have posed philosophical challenges for the young seminarian. 35
Laura Hertzler fasst diese Wirkung auf den späteren Bürgerrechtler King in ihrer Online-Rezension von Parrs Buch 36 so zusammen: 32 Vgl. Parr: The Seminarian (wie Anm. 30), S. 184–186. 33 Die Inventarliste des an der Boston University (Boston, Mass.) verwahrten Nachlasses von Martin Luther King, Jr. verzeichnet insgesamt sechs, bislang unveröffentlichte Konvolute zu Kings Besuch der Lehrveranstaltung Schreckers zu Kant: „[1] 1/24/1951 Schrecker, Paul (University of Pennsylvania). „Midyear examination questions, Kant.” 1/24/1951. [Philadelphia, Pa.] (THD) 2 pp. (Marginal comments by King.) MLKP-MBU [Martin Luther King, Jr., Papers, 1954-1968, Boston University, Boston, Mass.]: Box 106, folder 23. 510124-001. – [2] 1/24/1951 King, Martin Luther Jr. (University of Pennsylvania). “Notes for examination, Kant.” [1/24/1951]. [Philadelphia, Pa.] (A[utograph] D[ocument]) 1 p. MLK-MBU: Box 106, folder 23.510124-001.– [3] 2/3/1951 King, Martin Luther Jr. (University of Pennsylvania?), „Class notes, Kant.” [9/25/1950-2/3/1951?]. [Philadelphia, Pa.?] (A[utograph] D[ocument] f[ragment]) 22 pp. MLK-MBU: Box 106, folder 23. 510203-001.- [4] 2/3/1951 King, Martin Luther Jr. (University of Pennsylvania?). „Notes on Kant.” [9/25/1950–2/3/1951?]. [Philadelphia, Pa.?] (A[utograph] D[ocument]) 1 p. MLK-MBU: Box 106, folder 23. 510203-002.–[5] 2/3/1951 King, Martin Luther Jr. (University of Pennsylvania?). „Notes on book on Kant.” [9/25/1950-2/3/1951?]. [Philadelphia, Pa.?] (A[utograph] D[ocument]) 5 pp. MLK-MBU: Box 106, folder 23. 510203-003.-[6] 2/3/1951 King, Martin Luther Jr. (University of Pennsylvania?). „Study questions, Kant.” [9/25/1950-2/3/1951?]. [Philadelphia, Pa.?] (A[utograph] D[ocument]) 1 p. MLK-MBU: Box 106, folder 23. 510203-000.” The papers of Martin Luther King, Jr. Volume I: Called to Serve. January 1929-June 1951. Berkeley/Los Angeles/London 1992, S. 460. 34 Parr: The Seminarian (wie Anm. 30), S. 178. 35 Parr: The Seminarian (wie Anm. 30), S. 184. 36 Laura Hertzler: Martin Luther King Jr‘s time studying at Penn. While studying at Crozer Theological Seminary near Chester Pa., in the late 1940s, Martin Luther King Jr. traveled to Penn often, auditing there philosophy courses. https://penntoday.upenn.edu/news/martin-lutherking-jrs-time-studying-penn (letzter Aufruf: 21.08.2021).
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Stefan Lorenz It was Paul Schrecker’s 1950/51 „Kant” course that helped clarify the philosopher to King, says Parr. „It would have been the deepest dive into Kant that King had taken to that point. At the dawn of World War II, Schrecker – born in Vienna to a Jewish family, and also a French citizen – was a professor at the University of Berlin. As Hitler’s regime investigated faculty at universities, pushing out anyone of Jewish heritage, Schrecker escaped to Paris. While in hiding, he translated the works of Kant and Gottfried Wilhelm Leibniz. The Rockefeller Foundation helped Schrecker start a new life in America, where he landed in Pennsylvania teaching at Bryn Mawr, Haverford, and Swarthmore, before joining Penn in 1950. Parr says Schrecker, who was fluent in German, French, and English, „had a unique, transcontinental perspective to offer ML“. Perhaps most memorably, Parr says, King applied a bit of Kantian logic in his 1963 Letter from a Birmingham Jail. „He was able to remember key concepts of the philosopher while writing on nothing more than the margins of newspaper and toilet paper,” says Parr. „He wrote, ‘Over the last few years I have consistently preached that nonviolence demands that the means we use must be as pure as the ends we seek. I have tried to make clear that it is wrong to use immoral means to attain moral ends“.
Allerdings scheinen die Hinweise Paul Schreckers auf Leibniz im Rahmen des von King besuchten Seminars zu Kant zumindest keinen Einfluß auf dessen Seminararbeit Religion’s Answer to the problem of evil vom 17. April 1951 37 gehabt zu haben. Denn diese dann wieder am Crozer Theological Seminary in Chester, Pennsylvania im Rahmen eines Kurses Philosophy of Religion bei George W. Davis entstandene Arbeit geht an keiner Stelle auf die Essais de Theodicée Leibnizens ein, was doch bei dieser Themenstellung durchaus zu erwarten gewesen wäre. Zwar verweist King auf Platon, Hegel und John Stuart Mill (so referiert King im Abschnitt: „The Doctrine of a Finite God“ die entsprechende Theorie Mills aus den Three Essays On Religion), aber der metaphysische Optimismus Leibnizens kommt dabei nicht in den Blick. Dagegen fungiert Leibniz neben Whitehead und Buber als philosophischer Gewährsmann im Abschnitt „Individuality and participation“ von Kings Dissertation A Comparison of the Conceptions of God in the Thinking of Paul Tillich and Henry Nelson Wieman aus dem Jahr 1955. Hier verweist King für den prozessualen Charakter des Individuums und seine Entwicklung auf den Paragraphen 62 der Monadologie: To be is to be an individual. But man’s individualization is not absolute and complete. It gains meaning only in its polar relation with participation. Leibniz emphasizes this point when he speaks of the microcosmic structure of the monad. 38
Daß King gerade den Gedanken einer Welt aus Individuen, die aber ihre je eigene Entwicklung doch mit Bezug auf dieselbe Welt nehmen, deren Spiegel sie sind, hier aus dem Leibniz’schen Denken herausgreift, mag sich durchaus seinem Seminar-
37 Martin Luther King, Jr.: Religion’s Answer to the problem of evil, in: The papers of Martin Luther King, Jr. Volume I: Called to Serve. January 1929–June 1951. Berkeley/Los Angeles/London 1992, S. 416–433. 38 Martin Luther King, Jr.: A Comparison of the Conceptions of God in the Thinking of Paul Tillich and Henry Nelson Wieman (1955), in: The papers of Martin Luther King, Jr. Volume II: Rediscovering Precious Values. July 1951–November 1955. Berkeley/Los Angeles/London 1994, S. 339–544, hier S. 389.
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besuch bei Paul Schrecker verdanken, dem der Entwicklungsgedanke als Geschichtsphilosoph wichtig war. Aber erst ein genauerer Blick auf Kings unveröffentlichte Seminaraufzeichnungen könnten darüber genauen Aufschluß geben. Schrecker und seine Tätigkeit für die Akademie-Ausgabe der Leibniz’schen Werke Stephan Waldhoff bemerkt in seinem breit angelegten und höchst informativen Kapitel Quellenkunde für ein jüngst erschienenes Leibniz-Handbuch zu den unmittelbaren Konsequenzen, die das Jahr 1933 für Schrecker und die Arbeit der AkademieAusgabe der Sämtlichen Schriften und Briefe Leibnizens gehabt hat: Hitlers Machtergreifung führte zunächst zum Ausscheiden des Mitarbeiters Paul Schrecker (1889–1963), der als Jude seine Stelle verlor. […]. Aber der noch weitgehend von Paul Ritter und Paul Schrecker bearbeitete Band I, 4 konnte 1950 von Kurt Müller (1907–1983), seit 1947 Leiter der Ausgabe […], vorgelegt werden. 39
Tatsächlich hatte Schrecker jedoch auch Wesentliches bereits zum dritten Band der Reihe I beigetragen, der 1938 erschienen war und der den Allgemeinen politischen und historischen Briefwechsel Leibnizens der Jahre 1680 bis 1683 beinhaltete. Allerdings wird Schrecker weder im Impressum dieses Bandes, noch in dessen Einleitung genannt. Dort heißt es: Der vorliegende Band ist wieder von Paul Ritter bearbeitet worden, der auch diese Einleitung hinzugefügt hat. […] [Es] […] haben die Herren Dr. Waldemar von Olshausen 40 und Dr. Kurt Dülfer 41 mitgearbeit. Herr Dr. v. Olshausen hat auch noch einmal die ganze Korrektur nach den
39 Stephan Waldhoff: Quellenkunde, in: Beiderbeck, Li, Waldhoff: Gottfried Wilhelm Leibniz (wie Anm. 9), S. 29–165, hier S. 137f. 40 Zu Waldemar von Olshausen vgl. Li: Der Wandel des Leibniz-Bildes, (wie Anm. 9), S. 806. 41 Zu Kurt Dülfer (1908–1973) vgl. Jens Thiel: Leibniz-Tag (wie Anm. 17), S. 62: „Der ursprünglich als Nachfolger [Paul] Ritters für den Leiterposten [sc. der Leibniz-Ausgabe S.L.] vorgesehene Archivar Kurt Dülfer – der seinerseits 1934 als Ersatz für Paul Schrecker an die Ausgabe gekommen war – hatte wegen ‚politischer Unzuverlässigkeit‘ nicht das erforderliche Placet des Reichserziehungsministerium bekommen. Er ging zurück an seine alte Arbeitsstelle, das Geheime Staatsarchiv in Berlin Dahlem. [Joseph Ehrenfried] Hofmann trat seine neue Stelle [sc. als Leiter der Ausgabe S.L.] Anfang Oktober 1939 an.“ Dülfer war 1941 bis 1945 beschäftigt bei der Kulturgutkommission Baltikum und wohl direkt Arthur Rosenberg unterstellt. Von 1963 bis 1973 war er Leiter des Staatsarchivs und der Archivschule Marburg; vgl. Robert Meier: Wie die Archivschule nach Marburg kam IV, in: Archivwelt, 25/12/2019, https://archivwelt.hypotheses.org/507 (letzter Aufruf 17.07.2021). Hier sei nur am Rand bemerkt, daß auch der langjährige Mitarbeiter der Leibniz-Edition, Erich Hochstetter (1888–1968), im August 1942 seine Stelle bei der Akademie in Berlin aufgab, um außerplanmäßiger Mitarbeiter im Amt Rosenberg zu werden. Nach 1945 war er in der Position eines außerplanmäßigen Professors an der Universität Münster beschäftigt. Seit dem Jahr 1956 war er Leiter der von ihm in Münster installierten Leibniz-Forschungsstelle.
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Stefan Lorenz Handschriften mitgelesen. Das Personenverzeichnis hat Fräulein Dr. Liselotte Richter 42 hergestellt. 43
Der dann in der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1970 und unter der Verantwortung der sich nunmehr Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin nennenden Akademie veranstaltete Unveränderte Nachdruck der Erstausgabe von 1938 dieses Bandes I, 3 hält es nicht für notwendig, diese verkürzten Angaben durch den Zusatz des Namens von Paul Schrecker als Mit-Bearbeiter des Bandes zu korrigieren: das Impressum dieses Nachdruckes von 1970 lautet: „Bearbeiter diese Bandes Paul Ritter †, Waldemar von Olshausen †, Kurt Dülfer.“ Dabei hätte ein Blick in das von Kurt Müller 44 verfaßte Vorwort des bereits zwanzig Jahre zuvor (1950) erschienenen Bandes 4 der Reihe I hinreichen können, um die Verantwortlichen der Leibniz-Forschung und des Akademie-Verlages in Ost-Berlin dazu zu bringen, das aus antisemitischem Ressentiment vorgenommene Verschweigen von Schreckers editorischer Leistung aus dem Jahr 1938 rückgängig zu machen. Denn in diesem Vorwort hatte Kurt Müller in klaren Worten eine Dankesschuld der Leibniz-Ausgabe Schrecker gegenüber eingeräumt und abgetragen, von der man 1970 entweder nichts mehr wissen wollte oder die man geflissentlich vergessen hatte: Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin betont mit der Veröffentlichung dieses Briefbandes ihren Willen, das von Paul Ritter begonnene Unternehmen weiterzuführen. Es ist ihr eine besondere Genugtuung, daß es dem verdienten Leibniz-Forscher in seinem hohen Alter vergönnt ist, zu sehen, wie seine Arbeit nach langen Jahren fruchtbar wird. Denn Paul Ritter hat den vorliegenden Band noch selbst im Rohbau zusammengestellt und die Bearbeitung der Texte geleitet oder selbst durchgeführt. Neben ihm stand einst Paul Schrecker, der jetzt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika seine Leibnizarbeit fortsetzt. Seiner Tätigkeit in der Leibniz-Kommission der Pr.[eußischen] Akademie der Wissenschaften wurde durch die nationalsozialistische Gesetzgebung im Jahre 1933 ein jähes Ende bereitet, sein Name konnte nicht in der Einleitung zu dem im Jahre 1936 [sic!] veröffentlichten Band I, 3 dieser Ausgabe genannt werden, trotzdem er an der Bearbeitung der Texte entscheidend beteiligt war. Auch zu dem vorliegenden Band [sc. A I, 4 S.L.] hat Paul Schrecker die Grundlagen für die Edition geschaffen. Auf diese Tatsache hinzuweisen, betrachtet die Akademie als ihre Pflicht. 45
Schrecker als Leibnizforscher in der Emigration Die großen Verdienste Schreckers um die Leibniz-Philologie auch in den Jahren der Emigration, nachdem ihm nach 1933 die Weiterarbeit an der Akademie-Ausgabe verunmöglicht wurde, und in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten 42 Vgl. Annette Vogt: Annelise Maier und Liselotte Richter – Zwei Wissenschaftlerinnen in der Leibniz-Edition der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: Li, Rudolph: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus“ (wie Anm. 11), S. 87–104. 43 Hier zitiert nach A I, 3. Nachdruck der Erstausgabe [Leipzig 1938], Berlin 1970, S. XLVI. 44 Zu ihm vgl. den Nachruf von Albert Heinekamp: Kurt Müller * 14. Mai 1907, † 27. November 1983, in: Studia Leibnitiana 16 (1984), S. 129–142. 45 Kurt Müller: Vorwort zu A I, 4, S. XXXIf., hier S. XXXI.
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Weltkrieg sind bekannt. So ist hier nur an seine Editionen und Übersetzungen zu erinnern, mit denen er hervortrat, 46 und mit denen er maßgeblich für die Beschäftigung mit Leibniz in seinen Gastländern und dann auch in seiner neuen Heimat, den USA, anregend gewesen ist. Von der ausgebreiteten Kenntnis Schreckers der Leibniz-Rezeption zeugen auch die Ergänzungen und Nachträge, die er im Jahr 1938 zur großen Bibliographie des Œuvres de Leibniz von Émile Ravier 47 vorgelegt hat. 48 Als Forscher und akademischer Lehrer hat Schrecker auch in den Vereinigten Staaten sein Augenmerk darauf gerichtet, die Beschäftigung mit Leibniz auf eine philologisch verlässliche Grundlage zu stellen. So hat er an der Universität von Pennsylvania gemeinsam mit John W. Nason49 eine bedeutende Sammlung von Mikrofilmen von Leibniz-Handschriften der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover aufgebaut, die mehr als 100.000 Blatt des Nachlasses des Philosophen umfasst: „the greatest collection of Leibniz microfilms outside Hannover“. 50 Diese Sammlung befindet sich heute in der Hauptbibliothek der University of Pennsylvania, der Van Pelt Library, und ein im Jahr 1955 erstelltes Verzeichnis dieser Mikrofilmsammlung ist dank seiner Publikation durch Paul Lodge einsehbar. 51 46 G. W. Leibniz: Lettres et Fragments inédits concernant les problèmes philosophiques, théologiques, politiques de la réconciliation des doctrines protestantes (1669–1704) publiés avec une introduction historique et des notes par Paul Schrecker. Revue Philosophique de la France et del’Étranger, 118 (1934); G. W. Leibniz: Opuscula philosophica selecta. [Texte latin]. (Texte revu par Paul Schrecker, Paris 1939; G. W. Leibniz: Opuscules philosophiques choisis. Traduits du latin par Paul Schrecker, Paris 1954 [„Notes du Traducteur“, S. 149–154 ; „Fautes à corriger dans le texte latin“, S. 155.]; Gottfried Wilhelm Leibniz. Monadology and Other Philosophical Essays. Translated by Paul Schrecker and Anne Martin Schrecker [...] With an Introduction and Notes by Paul Schrecker, Indianapolis/New York 1965. 47 Émile Ravier: Bibliographie des Œuvres de Leibniz, Paris 1937 (ND Hildesheim 1966). 48 Paul Schrecker: Une bibliographie de Leibniz, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger, 126 (1938), S. 324–346. 49 John W. Nason (1905 – 2001), Dozent für Philosophie am Swarthmore College (Pennsylvania) und von 1940 bis 1953 dessen Präsident. 50 Riley: Paul Schrecker's defense of Leibniz' Platonic idealism (wie Anm. 14), S. 174. Riley verweist auf Paul Schrecker: „Qui me non nisi editis novit, non novit“, in: The library chronicle of the Friends of the Library of Pennsylvania 20 (1954), S. 24–31. 51 Paul Lodge: Leibniz Microfilms at the University of Pennsylvania, in: Leibniz Society Review 6 (1996), S. 164–169. Lodge kennzeichnet diese Sammlung so: „Schrecker’s and Nason’s concern, when they compiled the U. Penn microfilms, was the preservation of those of Leibniz’s papers that were either unpublished at the time, or that they deemed to have been published inaccurately. For this reason, one should not expect to find microfilms of Leibniz’s most famous works in the Van Pelt Library. However, one should not expect to find any shortage of fascinating documents either. The items from Leibniz’s Briefwechsel that are listed […] include correspondence with luminaries such as Isaac Newton, John Toland, John Wallis, and Christian Wolff, as well as lesser figures, who are nonetheless well known to students of Leibniz – such as Nicolas Remond, Johann Christoph Sturm, and Henri Basnage de Beauval. The selections from Leibniz’s Handschriften are equally generous. As well as numerous writings on Mathematics, Medicine, Philology, Physics, and Theology, there are philosophical writings of obvious significance (such as the early criticisms of Locke and various writings on the philosophy
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III. Der Aufsatz über Leibniz‘ Prinzipien des Völkerrechts in der Amerikanischen Rundschau Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, daß der Leibniz-Spezialist Schrecker über eine deutsche Übersetzung seines anläßlich des 300. Geburtstages von Leibniz im Jahre 1946 publizierten, englischsprachigen Artikels in die Bemühungen der amerikanischen Besatzungsmacht eingebunden war, das deutsche Publikum des Jahres 1947 über die Erinnerung an die eigenen, aber verschütteten, freiheitlichen Traditionen womöglich einer Umerziehung zuzuführen. Hierauf soll im Folgenden etwas näher eingegangen werden. Wichtigstes Organ der Umerziehung im Nachkriegsdeutschland waren die Medien. Dieses Land […] sollte nun „zur Demokratie geführt“ werden – und zwar „von oben“ mit den Mitteln militärischer Besatzungsbehörden. […] Ihre Instrumente waren neben der Veränderung des Bildungssystems vor allem Rundfunkanstalten, Wochenschauen, die Tagespresse, Zeitschriften und eigene Bildungseinrichtungen, wie die Amerika-Häuser bzw. die entsprechenden Institution der Briten, „Die Brücke“. 52
In den Jahren 1945 bis 1949 erlebte Deutschland eine „Blüte literarisch-politischer Zeitschriften, wie sie später nicht wieder erreicht wurde“, wobei das Spektrum „von liberal-konservativen über christlich-kirchliche bis hin zu sozialistischen Publikationen“ reichte. „In ihnen spiegelte sich die Suche nach neuen Orientierungen oder die Neuaufnahme früherer Traditionen deutschen Geisteslebens wider.“ Es wird geschätzt, daß rund „1400 Zeitschriften […] in den Jahren 1945 bis 1948 ihre Käufer [suchten] und fanden […]; etwa 150 bis 200 dieser Blätter waren im engeren Sine kulturell-politisch-literarische Organe“. 53 Zu diesen periodischen Publikationen gehörte auch die im Auftrag des „Amerikanischen Informationsdienstes“ 54 herausgegebene Zeitschrift Die amerikanische Rundschau. Sie erschien von 1945 bis 1949/50 in sechs Bänden mit insgesamt 29 Einzelnummern, bis sie ihr Erscheinen einstellte. 55 Ihre programmatische Zielsetzung war es, die deutsche Leserschaft mit dem aktuellen Stand der nordamerikanischen Wissenschaft, Literatur und Kunst, aber auch mit den vielfältigen Aspekten der lebensweltlichen Wirklichkeit in den USA vertraut zu machen. Diesem Programm entsprechend hieß es: „In der Zeitschrift selbst jedoch werden nur Artikel
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of Malebranche), as well as many others whose significance still remains to be determined.” (a. a. O., S. 164f.). Alexander von Plato, Almuth Leh: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, Bonn 1997, S. 112. Plato, Leh: „Ein unglaublicher Frühling“ (wie Anm. 52), S. 116. Vgl. Agnes Hartmann: Kalter Krieg der Ideen. Die United States Information Agency in Westdeutschland von 1953–1960 (= Mosaic. Studien und Texte zur amerikanischen Kultur und Geschichte, 56), Trier 2015. Zur Amerikanischen Rundschau dort S. 45. Die amerikanische Rundschau. Hg. im Auftrag des amerikanischen Informationsdienstes. 1.1945–6.1949/50 = Nr. 1–29; damit Erscheinen eingestellt.
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abgedruckt, die bereits in den USA veröffentlicht worden sind.“ 56 Geboten wurden daher „nur Übersetzungen aus amerikanischen Zeitschriften“ und nicht etwa „Originalartikel, die eigens für den deutschen Leser zugeschnitten“ 57 gewesen wären. Das thematisch durchaus ambitionierte Programm des Redaktionsteams der Amerikanischen Rundschau ließ Fachleute aller Wissens- und Forschungsgebiete mit Essays und Abhandlungen zu Wort kommen, die sich schon bei der englischsprachigen Erstveröffentlichung in den USA an ein intellektuell interessiertes Laienpublikum gewendet hatten: so sollte nun auch für eine deutsche Leserschaft ein fächerübergreifender Querschnitt sowohl der rezenten anglo-amerikanischen Wissenschaft als auch ein repräsentatives Bild der neueren literarisch-künstlerischen Tendenzen gegeben werden – wobei selbst die neue Musik und das Kino einbegriffen waren. Selbstverständlich griff die Auswahl der Redaktion auf besonders solche amerikanischen Beiträge zu, die nach Tendenz und Zuschnitt geeignet waren, dem soeben einem totalitären Regime entronnenen deutschen Publikum die Werte von Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln und ihm die Vorteile der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit, sowie die Freiheit der künstlerischen Betätigung vor Augen zu führen. Die Liste der Autoren und ihrer Beiträge 58 liest sich wie ein Who’s Who der amerikanischen Wissenschafts-, Literatur- und Kunstlandschaft jener Zeit, wobei 56 So die Erläuterung des erst im 6. Heft des zweiten Jahrganges 1946 erscheinenden Editorials (S. 92), das der dann auch erst hier beginnenden Rubrik Briefe an die Amerikanische Rundschau vorangestellt ist. 57 Dies das kritische Monitum des Leserbriefes von Hermann Schlicht aus Niebüll. Die Amerikanische Rundschau 2 (1946), H. 6, S. 92f., der auch den „abstrakt-akademisch[en] Gesamtcharakter“ des Periodikums bemängelt. Der Herausgeber rechtfertigt dieses Programm – auch angesichts der Einsendung von selbstverfassten Artikeln durch einzelne Leser - jedoch mit dem folgenden Verweis: “An die fünfzig deutsche Zeitschriften, die sich mit Einzelwissenschaften befassen, erscheinen jetzt schon, oder werden in Kürze erscheinen.“ (a. a. O., S. 92). 58 Ein „Inhalts- und Autorenverzeichnis für die Hefte 1–16“ d. h. für die ersten drei Jahrgänge 1945 bis 1947 findet sich in: Die amerikanische Rundschau. Dritter Jahrgang 1947, Sechzehntes Heft [im Expl. der ULB Münster: Sign.: Z Okt 53 eingebunden nach S. 128, versehen mit der – wohl irrtümlichen Paginierung: S. 123–128]. Ein Blick auf die Rubriken, nach denen die Beiträge dort geordnet sind, zeigt, wie breitgespannt das Programm der Zeitschrift war: „Kultur- und Zeitkritik, Philosophie – Religion – Weltanschauung, Geschichte und Biographie, Probleme des Wiederaufbaus, Wirtschaftsleben und Technik, Staatswissenschaft – Internationales Recht, Americana, Wissenschaftliche Grundfragen, Mathematik – Naturwissenschaft – Medizin, Bildungswesen, Psychologie und Gesellschaftslehre, Ästhetik und Kunstwissenschaften, Architektur – Bildende Kunst – Kunstgewerbe, Literatur- Musik – Bühne – Film, Erzählungen“. – Neben Paul Schrecker finden sich Autoren, deren Namen noch heute Klang haben, wie etwa Franz Boas, Albert Camus, Ernst Cassirer, John Dewey, John Dos Passos, T. S. Eliot, László Moholny-Nagy, Gunnar Myrdal, Lewis Mumford, Thornton Wilder. – In den übrigen Jahrgängen 1948 bis 1950 finden sich unter den Autoren so prominente Namen wie: Karl Barth, John Dickson Carr, Mario Einaudi, Carl J. Friedrich, John Huston, Hermann Kesten, Walter Mehring, J. Robert Oppenheimer, Linus Pauling, Kurt Pinthus, W. Somerset Maugham, Arnold Toynbee, Lionel Trilling. – Eine eigene monographische Aufarbeitung der Amerikanischen Rundschau scheint zu fehlen, wäre aber ein in jeder Hinsicht lohnendes und aufschlußreiches Unterfangen.
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auch Autoren aus dem Kreis der europäischen Emigrantenszene – wie eben Paul Schrecker auch – vertreten waren. Die drucktechnische Aufmachung dieses Periodikums war für die Zeit überaus anspruchsvoll: einzelne Beiträge – vor allem solche zur Kunst und Literatur – waren mit fotografische Abbildungen und Textillustrationen versehen. * Exkurs II: Paul Schreckers Geschichtsphilosophie der „Zivilisation“: Amerikanisches Tagebuch (1946) Der Aufsatz Leibniz‘ Prinzipien des Völkerrechts, von dem weiter unten ausführlicher die Rede sein soll, war nicht der erste Beitrag, den Schrecker für die Amerikanische Rundschau lieferte. Bereits im sechsten Heft des zweiten Jahrganges (1946) der Zeitschrift kamen Schreckers Aufzeichnungen zu einer in das Jahr 1943 fallenden Rundreise 59 zu nordamerikanischen Universitätsstädten unter dem Titel Amerikanisches Tagebuch zum Abdruck – eine deutsche Übersetzung eines Textes, der in englischer Sprache zuerst in Harper’s Magazine erschienen war. 60 Schrecker dokumentiert hier seinen mitunter verwunderten, aber immer wachen Blick auf die Gegebenheiten seiner ihm noch neuen Heimat USA, ein Blick, der natürlich geprägt ist von den europäischen Erfahrungen des Emigranten. Mit der in diesem „Reisetagebuch“ erwähnten „Geschichtsphilosophie, an der ich gerade arbeite“ und deren Hauptthese seinen verschiedenen akademischen Gesprächspartnern in den USA „verständlich zu machen“ Schrecker so viel Probleme bereitet, ist sein dann 1948 erschienenes großes Werk Work and History. An Essay on the Structure of Civilization 61 gemeint. Hier sollen nur diejenigen Tagebuch-Passagen ganz unkommentiert wiedergegeben werden, die bezeichnend sind für Schreckers geschichtsphilosophische Vorstellungen. Er verwendet dabei Formulierungen, die sein durchaus teleologisches Verständnis des Geschichtsverlaufes erkennen lassen. Politische Geschichte, so Schrecker, sei eben nur eine der „provinces of civilization“ unter anderen. Das übergreifendere Konzept der „Zivilisation“ (und deren zunehmende Vervollkommnung und globale Geltung) ist schon hier bei Skizzierung des Geschichtsverlaufes ein Schlüsselbegriff für Schrecker, der uns weiter unten im Völkerrechts-Aufsatz zu Leibniz erneut begegnen wird. Hier im Tagebuch ist zwar 59 Die Vorbemerkung zur deutschen Publikation lautet: „Der Verfasser bereiste im Sommer 1943 die Vereinigten Staaten, um Universitäten und Museen zu besuchen. Er führte ein Tagebuch über seine Reise, in dem er seine Eindrücke von der amerikanischen Zivilisation aufzeichnete.“ 60 Paul Schrecker: Amerikanisches Tagebuch, in: Die amerikanische Rundschau. Zweiter Jahrgang 1946. Sechstes Heft, S. 56–67. 61 Paul Schrecker: Work and History. An Essay on the Structure of Civilization. Princeton University Press 1948. Reprints: Gloucester, Mass. 1967. Reprint: New York 1971.
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Leibniz nicht genannt, aber dessen Gedanken zu einer zunehmenden Vervollkommnung des menschlichen Geschlechtes auch in Wissenschaft und Künsten mag auch hier ebenso Pate gestanden haben, wie andererseits vielleicht auch Kants Geschichtsphilosophie der „Weltbürgerlichkeit“. Auch mit diesem Text – wie der Völkerrechts-Aufsatz auch zunächst an ein amerikanisches, dann auch an ein deutsches Publikum adressiert - überschreitet Schrecker die engeren Grenzen eines bloß akademischen Forums. Paul Schrecker: Amerikanisches Tagebuch (1946) [61] Lincoln, Nebraska (Universität von Nebraska). […] lange Diskussionen mit verschiedenen Professoren im Haus des Dekans der geschichtlichen Fakultät der Universität […] über Geschichtsphilosophie. Wieder stieß ich auf jenes Mißverständnis, das jede Diskussion über dieses Thema so schwierig macht, daß bei der Erwähnung der Geschichte nahezu jedermann automatisch an politische Geschichte denkt und ziemlich überrascht ist, wenn man auf andere Zweige der Geschichte hinweist und versichert, daß jede Geschichtstheorie mit der Analyse der sprachlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Geschichte anfangen sollte. Nahezu immer, wenn ich die Geschichtsphilosophie, an der ich gerade arbeite, verständlich zu machen versuche, fragt mich jemand über die Rolle des Zufalls in der Geschichte, worauf ich immer dieselbe Antwort gebe, die anscheinend keinen der Fragesteller befriedigt: daß alle geschichtlichen Vorgänge gleichzeitig Naturereignisse sind, so daß jeder, der in seiner Auffassung von der Natur an Folgerichtigkeit glaubt, die Rolle des Zufalls in der Geschichte nicht anerkennen kann: daß weiterhin, wenn Geschichte nur der Ablauf rein auf dem Zufall begründeter Ereignisse wäre, Geschichtsschreibung nur ein chronologisches Ver-[62]zeichnis von Vorgängen wäre und nichts mehr; daß die Sprachgeschichte zum Beispiel, oder Naturgeschichte, oder auch Religionsgeschichte jeder inneren Logik entbehren müßte, wollte man dem Zufall einen entscheidenden Einfluß einräumen. [66] es ist, trotz aller Rückschläge, in allen Bereichen der Zivilisation eine entschiedene Bereitwilligkeit zu einem weltumfassenden Zusammenschluß der Zivilisationen festzustellen. Skeptiker mögen eine solche Richtung in Abrede stellen und den Glauben daran als gefühlvollen Optimismus abtun. Ich sehe jedoch keinen Optimismus darin, wenn man eine einigende Tendenz in der Zivilisation feststellt. Es könnte sich um Optimismus nur dann handeln, wenn man eine solche Entwicklung für wünschenswert hielte, eine Ansicht, die ich keineswegs als richtig voraussetze. Was jedoch die Tatsache als solche anbelangt, so wird sie nur von denjenigen in Abrede gestellt, die unter Geschichte immer nur politische Geschichte verstehen; auf allen anderen Gebieten ist diese Tendenz zu augenfällig, als daß sie angezweifelt werden könnte. Während früher jeder Volksstamm seine eigene Religion besaß, gibt es heute nur einige Weltreligionen, die man nicht mehr für miteinander unvereinbar ansieht. Früher sprach jeder Stamm seine eigene Sprache, während es heute Weltsprachen gibt. Während der Einfluß von Kunst und Literatur früher örtlich begrenzt war, gibt es heute eine Weltliteratur und auch eine Weltkunst. Von lokalen wirtschaftlichen Zusammenschlüssen bis zur Weltwirtschaft, mag diese noch so anarchisch sein, hat die Geschichte der Zivilisation in der Tat Fortschritte gemacht. In diesem [67] Verschmelzungsprozeß ist der amerikanische Beitrag ohne Zweifel eine der wirksamsten Triebkräfte. Ich glaube, ohne von Natur Optimist zu sein, daß in jedem Konflikt zwischen den Zivilisationen diejenige den Sieg davon tragen wird, die dem Menschen in seinem Schaffen Freiheit läßt und sich somit den mannigfaltigen und wechselnden Verhältnissen mit größerer Biegsamkeit anpaßt. Ich will hiermit keineswegs, was man gemeinhin ein „Werturteil“ nennt, abgeben. Es ist vielmehr eine These, die sich auf unsere historische Erfahrungen stützt und ebenso auf eine gründliche Analyse der Struktur und Dynamik der Zivilisation als solcher. Meines Erachtens bieten Geschichte und Schicksal der Vereinigten Staaten
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Stefan Lorenz einen treffenden Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie als jedes andere Kapitel der Geschichte, und ich glaube, auch die Amerikaner setzen dies stillschweigend voraus, wenn sie ihre Gedanken auf die Zukunft ihres Landes richten.
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Im elften Heft des dritten Jahrganges (1947) der Amerikanischen Rundschau erscheint dann Schreckers Aufsatz Leibniz‘ Prinzipien des Völkerrechts. Zum 300. Geburtstag des Philosophen, 62 der die deutschsprachige Fassung eines zuvor in englischer Sprache im Journal of the History of Ideas publizierten Beitrages darstellt. 63 Dieser Journal-Version war wiederum eine thematisch eng verwandte, französischsprachige Publikation Schreckers aus dem Jahr 1937 vorausgegangen. 64 Ob die deutsche Übersetzung der Journal-Fassung von Schrecker selbst stammt, muß weiteren Recherchen vorbehalten sein. Ganz in das Programm der Amerikanischen Rundschau, sich an ein zwar gebildetes und interessiertes, aber breiteres Publikum des Nachkriegsdeutschland wenden zu wollen, passt der Umstand, daß der gelehrte Anmerkungsapparat der englischen Journal-Fassung in der deutschen Version um der leichteren Lesbarkeit willen ganz weggefallen ist. Wir erinnern uns, daß Schrecker selbst Jurist vom Fach war: so hat er im Jahr 1913 sein Jura-Studium mit einer Promotion abgeschlossen. Und es überrascht auch von daher nicht, daß er sich für den der Publikation zugrundeliegenden Vortrag zur Feier des dreihundertsten Geburtstag Leibnizens an der New School for Social Research im Mai 1946 just dies rechtsphilosophische Thema zu Leibniz gewählt hatte, das ja überdies von größter Brisanz und Aktualität war: zum einen wegen der unmittelbar zurückliegenden Überwindung des deutschen Unrechtsregimes des Nationalsozialismus, zum anderen wegen des sich bereits ankündigenden Kalten Krieges. Dies – und wohl auch die Tatsache, daß Schrecker als Emigrant seine ganz eigenen, leidvollen Erfahrungen mit dem deutschen, rassistischen Totalitarismus hatte machen müssen (ein Umstand, auf den aber in der deutschen Publikation nicht eigens hingewiesen wird 65) – wird auch der Grund gewesen sein, warum die Wahl 62 Paul Schrecker: Leibniz‘ Prinzipien des Völkerrechts. Zum 300. Geburtstag des Philosophen, in: Die amerikanische Rundschau 3 (1947), H. 11, S. 114–122. 63 Paul Schrecker: Leibniz’s Principles of International Justice, in: Journal of the History of Ideas 7 (1946) No. 4, Leibniz Tercentenary Issue; S. 484–498. Zur Entstehungsgeschichte des Aufsatzes ist dort vermerkt: „Read at the meeting in celebration of the tercentenary of Leibniz held by the Conference on Methods in Philosophy and the Sciences at the New School for Social Research, New York City, May 5, 1946.” 64 Paul Schrecker: Leibniz. Ses idées sur l’organisation des relations internationales. Annual lecture on a master mind. Henriette Hertz Trust. Conference faite le 14 juillet 1937 par Paul Schrecker (Paris), London 1937, in: Proceedings of the British Academy 1937, London 1937, S. 193–229. 65 Die am Ende eines jeden Heftes der Amerikanischen Rundschau gebotenen biographischen Informationen zu den Autoren lauten für Schrecker so: „Paul Schrecker hat sich durch Veröffentlichungen und Vorträge einen Namen geschaffen. Er stammt aus Wien und wurde dort erzogen.
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der Redaktion der Amerikanischen Rundschau gerade auf diesen Beitrage gefallen war, um ihn in einer deutschen Übersetzung in den Dienst der Reeducation zu stellen. Bot er doch überdies die Möglichkeit, auf die Notwendigkeit und philosophische Triftigkeit der Rechtsstaatlichkeit mit Rekurs auf einen Denker wie Leibniz hinzuweisen, der doch zuvor von der nationalsozialistischen Ideologie als „deutscher“ Denker par excellence hatte vereinnahmt werden sollen. Es ging hier also auch um so etwas wie eine Richtigstellung eines zuvor verzerrten und verzeichneten Leibniz-Bildes: Leibniz wird hier bei Schrecker gerade zu dem Gewährsmann für die Lehre von der universelle Geltung des Rechtes und gegen einen totalitär-voluntaristischen Dezisionismus. 66 Gleich zu Beginn seines Aufsatzes stellt Schrecker die Universalität als das Hauptmerkmal des Leibniz’schen Denkens heraus, das es ihm erlaubte, Bevor er nach Amerika ging, hielt er eine Reihe von Vorträgen in London und Paris; in New York wurde er als Dozent für Politik und Sozialwissenschaften an die New School for Social Research berufen. Sein American Diary erschien in Nr. 6 der Amerikanischen Rundschau; die in diesem Heft veröffentlichte Abhandlung über Leibniz wurde vom Verfasser anläßlich einer Dreihundertjahrfeier zu Ehren des Philosophen gelesen und später im Journal of the History of Ideas abgedruckt.“ Auch die biographische Informationen, die zuvor der Veröffentlichung des Amerikanischen Tagebuches beigegeben waren sind in diesem Punkt eigentümlich zurückhaltend. Dort heißt es: „Paul Schrecker, Geschichtsphilosoph, studierte in Wien und hielt Vorlesungen am „Institute [sic!] des Sciences [sic!] der Sorbonne (1934–1940) und an der „British Academy“, London (1937). Im Jahr 1936 wurde ihm von der Academie des Sciences morales et politiques, Paris, ein Preis für Philosophie zuerkannt. Schrecker ist Mitglied der Fakultät für Politik und Sozialwissenschaft an der Neuen Schule für soziale Forschung (New School for Social Research) in New York City. American Diary (Amerikanisches Tagebuch) wurde Paul Schreckers Notizen über seine Besuche an zahlreichen Universitäten der Vereinigten Staaten entnommen, wie sie in der Monatsschrift Harper’s Magazine veröffentlicht wurden.“ Ob die beiden biographischen Einträge von Schrecker selbst stammen, ist bislang nicht auszumachen, aber sie dürften doch in enger Abstimmung mit ihm formuliert worden sein. 66 Dies erhält die Bestätigung seiner Richtigkeit aus berufenem Munde, wenn der Vertreter solchen Dezisionismus‘, Carl Schmitt, verächtlich von der „Idee des modernen Rechtsstaates“ spricht, der sich „mit dem Deismus [durchsetzt], mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung.“ Als Vertreter eines solchen „Rationalismus“, der „den Ausnahmefall in jeder Form verwarf“ erscheint dann konsequent auch der dem Verdikt anheimfallende Leibniz: „Der Souverän, der im deistischen Weltbild, wenn auch außerhalb der Welt, so doch als Monteur der großen Maschine geblieben war, wird radikal verdrängt. Die Maschine läuft jetzt von selbst. Der metaphysische Satz, daß Gott nur generelle, nicht partikulare Willensäußerungen von sich gibt, beherrscht die Metaphysik von Leibniz und Malebranche.“ Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 5. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 1934 erschienenen 2. Aufl. Berlin 1990, S. 49 u. S. 62. Zur Verwendung von Figur und Denken Leibnizens in solchen „Säkularisierungstheoremen“ (in dem Fall die weithin akzeptierte Interpretation Odo Marquards der modernen Geschichtsphilosophie als Säkularisat der Leibniz’schen ‚Theodizee‘) und zu den Gemeinsamkeiten zwischen Malebranche und Leibniz vgl. Stefan Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791) (= Studia Leibnitiana, Supplementa 31), Stuttgart 1997, S. 13–23 u. S. 28–46.
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Stefan Lorenz nicht nur wissenschaftliche und philosophische, sondern auch religiöse. politische und historische Gegensätze zu versöhnen. […] Beschränkte Naturen haben die Welt willkürlich in voneinander scharf getrennte Gebiete zerlegt: Körper und Seele, Wissenschaft und Religion, Theorie und Praxis, Recht und Politik. In Wahrheit, sagt Leibniz ist das Universum aber die Schöpfung des einen, unteilbaren und universalen Geistes, der im Reich der Religion Gott, im Reich der Tat Gerechtigkeit heißt. (114) 67
Aus diesem universalistischen Ansatz Leibnizens folgt – und hier wird die Intention Schreckers einer Aktualisierung und Fruchtbarmachung des Leibnizianismus für eine Gegenwart nach dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar deutlich – die Aufgabe, den wissenschaftlichen Fortschritt zu befördern, um „die Unstimmigkeiten […] zwischen einem theoretischen System und der praktischen Erfahrung, Schritt für Schritt zu beseitigen“, damit die „Einheit der Zivilisation“ hergestellt werden kann, eine trotz aller „Mannigfaltigkeit der auf den verschiedenen Gebieten verfolgten Ziele, […] potentielle Einheit, die zu verwirklichen wir nichts unversucht lassen dürfen.“(114) Dem aufmerksamen deutschen Leser des Jahres 1947 wird die Verwendung des Terminus‘ der „Einheit der Zivilisation“ bei Schreckers Angabe des Zielbegriffes einer Leibniz’schen „Geschichtsphilosophie“ 68 sicherlich aufgefallen sein: ihm mußte (und sollte) der von Leibniz selbst nicht gebrauchte Terminus „Zivilisation“ wo nicht als Kampfbegriff, so doch als deutliche Positionierung Schreckers gegen das deutsch-nationalistische, anti-westliches Stereotyp schlechthin erscheinen, das eine angeblich höherrangige, deutsche „Kultur“ gegen eine vorgeblich äußerliche „Zivilisation“ des westlichen Europa ausspielen wollte. 69 Mit der Reklamierung 67 Die in den Text inserierten Seitenzahlen beziehen sich auf: Schrecker: Leibniz‘ Prinzipien des Völkerrechts. (wie Anm. 62). 68 Vgl. Wolfgang Hübener: Leibniz – ein Geschichtsphilosoph?, in: Ders.: Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1985, S. 42–51, bes. S. 49 u. 51: „Versteht man jedoch [sc. anders, als die „Theorie unaufhaltsamer, gesetzmäßiger Totalveränderungen“ S.L.] Geschichtsphilosophie als eine Theorie der Verbesserung und Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Dinge, der die Gattung nur als das finale Referenzsubjekt gilt, auf das hin zahllose reale Handlungssubjekte tätig sind, dann war Leibniz im eminenten Sinne Geschichtsphilosoph. […] Es ist Leibniz‘ Beitrag zur Geschichtsphilosophie […], den geschichtsbestimmenden Einfluß der Wissenschaften auf die ‚affaires du genre humain‘ frühzeitig erkannt und im Horizont der Deutungsmöglichkeiten seiner Zeit – noch nicht belastet durch die humanen Folgelasten des damit eingeleiteten Prozesses – exemplarisch zur Sprache gebracht zu haben.“ 69 Vgl. Georg Bollenbeck: Art. Zivilisation, in: Joachim Ritter †, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, Basel 2004, Sp. 1365–1379, bes. Sp. 1374f.: „Was ‚von außen‘ der Kultur entgegensteht, das wird mit dem Verdikt ‚Z.[ivilisation]‘ abgewertet. […] Funktional bleibt die Z.[ivilisation] häufig noch durchaus anerkannt; werthierarchisch wird sie jedoch schroff abgelehnt. Sie wirkt in ihrem Selbstlauf bedrohlich und wird (gegen den liberalen oder sozialistischen Optimismus der Weltbemächtigung) vom Fortschritt abgekoppelt, während die Kultur einen elitären Akzent erhält und nicht mehr als Partizipationsangebot für alle konzipiert ist. Entscheidende Stichwortgeber hierfür sind Nietzsche und Spengler. […] In der Tonlage vergleichbar, verurteilen so unterschiedliche Autoren wie H. S. Chamberlain, D. Koigen, G. Lukács oder die Mitglieder des George-Kreises ebenfalls im Namen der Kultur die Z.[ivilisation], und ihre stereotypisiertenMerkmalszuweisungen
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Leibnizens und seines Denkens für den Zusammenhang eines „Prozesses der Zivilisation“ sucht Schrecker gleich zu Beginn seines Beitrages der zu Ende des 19. Jahrhundert beginnenden und während des „Dritten Reiches“ verstärkt betriebenen Zurichtung Leibnizens zum „deutschen“ Philosophen zu entziehen und ihn einer Tradition der „Weltbürgerlichkeit“ (um einen Ausdruck Kants zu gebrauchen) und ihren Absichten zuzurechnen. Neben das unmittelbar aus dem Begriff Gottes fließende Konzept der „Gerechtigkeit“ lässt Schrecker bei Leibniz dann das der „Wahrheit“ treten, wobei er dessen anti-voluntaristisches Gottesbild eigens betont. Die Gottheit Leibnizens ist eine potentia ordinata – in dem Sinne, daß sie sich selbst (freiwillig) an die Regeln der Gerechtigkeit und die Kriterien der Wahrheit bindet, statt als potentia absoluta ein willkürliches Machtregiment auszuüben. Für ihn sind die Wahrheiten der Vernunft, das heißt solche, deren Gegenteil einen Selbstwiderspruch bedeuten, unverletzlicher noch als der Styx, wie er sich ausdrückt; selbst der Herrgott muß sie in seiner Schöpfung respektieren. […] Und wie die notwendigen Wahrheiten vom göttlichen Intellekt unabhängig sind, so sind die Prinzipien der Gerechtigkeit unabhängig vom göttlichen Willen. (115)
Wie in der Erkenntnistheorie auch, hängt Leibniz in der Rechtsphilosophie einem, wie man sagen könnte: platonisierenden „Essentialismus“ an: es sind universell geltende Ideen, die Wissen und Tun des Menschen bestimmen sollten: Wahrheit und Gerechtigkeit aber sind die beide aufeinander bezogen universalen Ideen, welche das gesamte Verhalten des Menschen regieren sollten.“ […] sie „begreifen […] nahezu alle Manifestationen der wahren Zivilisation in sich.“ (115)
Doch erhebt sich – im Jahr 1946 keineswegs überraschend – gegen einen solchen Essentialismus von Wahrheit und Recht der Einwand: es scheint die Idee der Gerechtigkeit […] jeder exakten Bedeutung [so] bar, […] daß es lächerlich erscheinen muß, sie zum obersten Prinzip des menschlichen Handelns proklamieren zu wollen. Auch in der Geschichte scheint die Gerechtigkeit nicht, wie es zweifellos bei der Erkenntnis der Fall ist, Fortschritte zu machen.
Daher stellt sich in großer Dringlichkeit die Frage:
dringen mit Langzeitfolgen in das allgemeine (intellektuelle Bewußsein der Gebildeten ein: Die Z.[ivilisation] ist das Geringerwertige, Äußerliche, Seelenlose, Mechanische, Nivellierende, Internationale, Gesellschaftliche, bloß Nützliche und Technische. Die Kultur hingegen wird hochgeschätzt als das Innerliche, Lebendige, Seelenvolle, Individuelle, Gemeinschaftliche, Nationale, Zweckfreie und Geistige. Die mentale Akzeptanz des Wert- und Identifikationsbegriffs für das deutsche Bildungsbürgertum zeigt sich in den „Ideen von 1914“, in der propagandistischen Legitimation des Krieges als Kampf für die deutsche Kultur gegen die westliche Z.[ivilisation]“. Für den weitreichenden Einfluß der beschrieben Topik („solche Merkmalszuweisungen finden sich noch in der Kritischen Theorie, so in der Gegenüberstellung von Z.[ivilisation] und Kultur bei […] H. Marcuse […] [und] M. Horkheimer“) vgl. Bollenhagen, a. a. O., Sp. 1375, Anm. 16 (mit genauen Nachweisen).
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Stefan Lorenz Gibt es denn ein einziges Prinzip der Gerechtigkeit, das so allgemein anerkannt wäre, wie das Prinzip, welches das Gegenteil der Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, nämlich daß Macht vor Recht geht? (115)
Mit der Formel „Macht vor Recht“ spielt Schrecker auf das berühmt-berüchtigte Rechtsprinzip an, das Platon in seinem Dialog Der Staat den Sophisten Thrasymachos aussprechen lässt, nämlich daß das Gerechte dasjenige sei, was dem jeweils Mächtigen, Stärkeren nütze, 70 um es im weiteren Verlauf des Dialoges als unrichtig zu erweisen. Schrecker antwortet auf diese Frage mit einem langen Leibniz-Zitat, das dessen „Metaphysischer Abhandlung“ (Discours de Métaphysique) entstammt und das sich gegen das Thrasymachos-Theorem wendet (hier sind einige signifikante Formulierungen des französischen Originals hinzugesetzt): So bin ich weit entfernt von der Meinung derer, die behaupten, es gebe in der Natur der Dinge oder in den Ideen, die Gott von ihnen hat („dans la nature des choses ou dans les idées que Dieu en a“) keine Regeln der Güte und Vollkommenheit, und die Werke Gottes seien einzig aus dem formellen Grund gut, weil Gott sie gewirkt hat,. […] wenn man sagt, die Dinge seien nicht durch eine Regel der Güte gut, sondern allein durch Gottes Willen. Denn weshalb sollte man ihn wohl für das, was er geschaffen, loben, wenn er bei gegenteiligem Tun gleichermaßen lobenswert wäre? Wie wäre es um seine Gerechtigkeit und Weisheit bestellt, wenn nichts bleibt, als eine gewisse despotische Macht, wenn der Wille an die Stelle der Vernunft tritt und wenn – der Definition des Tyrannen gemäß – das, was dem Mächtigen gefällt, ebendeshalb gerecht ist? („Où sera donc sa justice et sa sagesse; s’il ne reste qu’un certain pouvoir despotique, si la volonté tient lieu de raison, et si selon la definition des tyrans, ce qui plaist au plus puissant est juste par là même?“) 71 Schrecker fährt fort: „Diesen skeptischen Einwänden gegenüber behauptet Leibniz die Gewißheit und Aktualität einer Idee der Gerechtigkeit […] welche […] die einzige Idee sei, die das menschliche Verhalten auf das Gemeinwohl hinzuführen imstande sei. Eine auf Verbesserung ihrer Zivilisation bedachte Gesellschaft wäre ohne die Idee der Gerechtigkeit undenkbar.“ (115)
Die genauere Darstellung der Leibniz’schen Gerechtigkeitstheorie und ihre näheren Bestimmungen und rechtsphilosophischen Konsequenzen übernimmt Schrecker im Folgenden der Praefatio Codicis Juris Gentium Diplomatici, 72 die Leibniz 1693 veröffentlicht und auf die er immer wieder als den für sein Rechtsdenken zentralen Text hingewiesen hat. Zentraler Begriff ist dabei der des „Gemeinwohles“: „Als erstes stellt Leibniz das universale Prinzip auf, daß das Gemeinwohl Endzweck von allem sein müsse.“ Diesen, von Leibniz aus der Tradition („τὸ κοινῇ συμφέρον, bonum commune, bonum publicum, bien commun, bien publique, common good, public good“) über-
70 Platon: Rep. 338c. 71 G. W. Leibniz: Metaphysischen Abhandlung. Übersetzt u. mit Vorwort und Anmerkungen hg. v. Herbert Herring, Hamburg 1958, S. 3 u. 5. Leibniz: Discours de Metaphysique. A VI,4 N. 306, S. 1529–1588, hier S. 1532f. 72 A IV, 5 N. 7: Praefatio Codicis Juris Gentium Diplomatici [2. Hälfte April bis Anfang Mai 1693], S. 47–79, bes. S. 60. Z. 17-S. 63, Z. 28.
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nommene, aber von ihm mit ganz eigenem Inhalt gefüllte Begriff des Gemeinwohls 73 hat Friedrich Beiderbeck mit Blick auf dessen politische Implikationen erst jüngst so charakterisiert: Leibniz‘ Politikverständnis steht in christlich-aristotelischer Tradition: Die Politik ist den Allgemeinwohl und der Glückseligkeit aller Menschen verpflichtet und dabei an Moral und Recht gebunden. Seine entschiedene Ablehnung einer prinzipiellen Unabhängigkeit der Politik von der Moral verbindet Leibniz aber auch mit den Anfängen der aufklärerischen Herrschaftskritik. […] Daraus folgt […] für diejenigen, die sich am Allgemeinwohl und an „Gottes Ehre“ orientieren, der Imperativ, sich als „Politici, als Rectores Rerum publicarum“ in den Dienst der Gesellschaft zu stellen (A IV, 1 [N. 43: Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Societät. (1671(?)], 535f. […]“ Mit seinen Ausführungen „über den wechselseitigen Zusammenhang von Politik, Wissensförderung und Fortschritt […] bezeichnete [Leibniz] sich selbst gerne als „General-Anwalt des öffentlichen Wohls“ (z. B. A I, 18 377, Z. 20). […] Dem Staatswesen misst Leibniz eine Schlüsselfunktion zu für die Verwirklichung der göttlichen Gerechtigkeit und die Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit. Damit geht dessen Verantwortung über die traditionellen Verpflichtungen zur Wahrung von Frieden, Sicherheit und Recht hinaus […] der Staat [wird] zu einer Fortschrittsinstitution. […] Rationalität wird zum Welt gestaltenden Prinzip, besonders für politisches Denken und politisches Handeln.“
Das „Fernziel einer „respublica optima“ wurzelt – und hier bedient sich Beiderbeck einer Formulierung von Werner Schneiders – in einer „metaphysischen und moralischen Fundierung der Politik bei Leibniz“. 74 Schrecker – der übrigens in dieser Nachkriegszeit nicht der Einzige ist, der unter Verweis auf Leibniz den Begriff des „Allgemeinen Besten“ emphatisch thematisiert 75 – legt der deutschen Leserschaft des Jahres 1946 nun weiter dar, daß sich dieses leitende Prinzip des Gemeinwohles zerlegt in
73 Vgl. jetzt Friedrich Beiderbeck: Politik, in: Beiderbeck, Li, Waldhoff (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz,(wie Anm.. 9), S. 285–341, bes. S. 326f.: 2.3.5. Gemeinwohl. Ebd. S. 340: bibliographischer Hinweis auf Paul Schrecker: Leibniz. Ses idées sur l’organisation des relations internationales. London 1937, in: Proceedings of the British Academy 1937. London, S. 193–229. – Zu recht betont der Artikel Gemeinwohl des Historischen Wörterbuches der Philosophie die weitreichend Bedeutung, die der Begriff bei Leibniz hat: „Historisch schwierig zu präzisieren ist die Position von G. W. LEIBNIZ. G.[emeinwohl] ist bei ihm nicht bloß auf den Nutzen des Staates bezogen, sondern vorrangig auf das Menschengeschlecht und darüber hinaus auf die „societas universalis sub Rectore Deo“. Prinzip der Gesetzgebung ist ist die „utilitas Reipublicae, quae ita est ad Rempublicam, uti pietas ad mundum et Rempublicam universalem“. Das „bonum civium“ besteht in Eudaimonia und Autarkeia (seu bonis animi et fortunae); privates und öffentliches Wohl sind miteinander verbunden. […] Leibniz [hebt] zunehmend die Liebe hervor, aus der die rechtliche Verpflichtung für den anderen entspringe: „Justitia est constans conatus ad felicitatem communem salva sua“; „Justitia est habitus amandi omnes.“ a. a. O., Bd. 3 (1974), Sp. 248–258, hier Sp. 252. 74 Beiderbeck, a. a. O., S. 298f. 75 Vgl. etwa Wilhelm Treue: Leibniz und das allgemeine Beste. Festrede anläßlich des 300. Geburtstages von Gottfried Wilhelm Leibniz gehalten am 7. November 1946, Würzburg 1946. Treue möchte Leibniz in den Säkularisierungsprozeß, in die Vorgeschichte des Kulturprotestantismus und der Aufklärung einordnen wenn er schreibt: “An keinem Punkt offenbart sich die moderne Zeit in Leibniz so kräftig wie in der Ziel- und Zwecksetzung aller Tätigkeit auf
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Stefan Lorenz „drei besondere Prinzipien […] die Leibniz von den römischen Juristen entlehnt und die den traditionellen drei Stufen der Gerechtigkeit entsprechen.“ (115) Das erste ist ein strenges Gesetzesgebot: Neminem laedere – Niemandem Schaden zufügen; das zweite ein Gebot der Billigkeit: Suum cuique tribuere – Jedem das Seine gewähren 76; auf der dritten und höchsten Stufe aber, von Leibniz Ehrfurcht genannt, steht das Gebot der universalen Gerechtigkeit oder, wie wir sagen würden, der Sittlichkeit: Honeste vivere – Ehrbar leben. (115f.) Individuelles Handeln, sofern es gerecht sein soll, hat sich an diesen drei Prinzipien zu orientieren, aber es darf, so Schrecker, nicht übersehen werden, daß „sie rein formal sind“, oder, wie er es vermittels einer an Kant erinnernden Begrifflichkeit ausdrückt: „sie sollen […] als regulative [Hervorhebung von mir S.L.] Prinzipien für die Gesetzgebung und Regierung zivilisierter Gemeinschaften dienen.“ (116)
Zwar versuche Leibniz „diese Prinzipien weiterzuentwickeln, indem er Gerechtigkeit als das Verhalten des vir bonus 77 definierte“, doch sei es keineswegs ihre Aufgabe, unmittelbaren Einfluß auf die Handlungen der Menschen zu nehmen“ (da auch „jede Zivilisation einen anderen Idealtyp des vir bonus entwickelt“), sondern das „gemeinsame Ziel dieser Prinzipien der Gerechtigkeit ist also, den Handlungen der Menschen die Richtung auf das Gemeinwohl zu geben.“ Schreckers Verständnis der Leibniz’schen Rechtsprinzipien ist, indem er sie als formale Bedingungen der Möglichkeit gerechte verfahrender Zivilisationen fasst, entschieden auf ihre Aktualisierung ausgerichtet. So kann er zu der Aussage kommen: In derselben Weise fordern im sozialen System die Prinzipien der Gerechtigkeit, daß eine mit ihnen nicht in Übereinstimmung befindliche Gesetzgebung und Regierung zu verwerfen sei. Denn eine solche Gesellschaft ist keine rechtliche Gemeinschaft, sondern bloß eine de facto-
das, wie er selbst gesagt hat, „allgemeine Wohl“. Wo frühere Generationen von Seelenheil gesprochen hatten, da trat nun aus protestantisch-diesseitig-fortschrittlicher Haltung heraus das allgemeine Wohl in den Vordergrund, aus dem später Egalité und Fraternité neben der Liberté erwachsen sollte. Und doch entbehrt der Begriff des allgemeinen Wohls trotz seiner Diesseitigkeit nicht der religiösen Färbung.“ (a. a. O., S. 5). Der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Treue (1909–1992) geht in dieser kleinen Schrift lediglich an einer Stelle auf die Diktatur der Nationalsozialisten ein, nämlich dort, wo er den rein wissenschaftlichen Zuschnitt der Akademiegründung Leibnizens in Berlin lobt, um dann äußerst vorsichtig (wohl mit Blick auf die Jahre nach 1933 und den sich abzeichnenden Kalten Krieg) zu sagen: „Wir sind heute nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit geneigt, es als bezeichnend und notwendig anzusehen, daß die Akademiepläne erst von fast allem politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Beiwerk gesäubert werden mußte, bevor sie für die reine Wissenschaft verwirklicht werden konnte.“ (a. a. O., S. 10). 76 Vgl. Cicero: De legibus I, 6, 19. 77 Zum Begriff des vir bonus bei Leibniz vgl. A VI,1 N. 126, S. 480–485: Elementa juris naturalis. Zweite Hälfte 1671 (?); mit deutscher Übersetzung u. d. T.: „Axiome und Definitionen zum guten Menschen“ in: Hubertus Busche (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht. Hg., mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen sowie unter Mitwirkung von Hans Zimmermann übersetzt von Hubertus Busche, Hamburg 2003, S. 300–319. Vgl. Li (Hg.): Der gute Mensch (wie Anm. 7). Vgl. auch Chris Johns: Leibniz and the square: a deontic logic for the “Vir Bonus”, in: History and philosophy of logic 35 (2014), S. 369–376.
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Vereinigung, die sich in nichts von einer nur durch Furcht und egoistische Interessen zusammengehaltenen, wohlorganisierten Räuberbande unterscheidet. 78 (116)
Der augustinische Topos vom Staat ohne Gerechtigkeit als bloßer Räuberbande ist Leibniz als Kenner und (nicht unkritischer) Bewunderer des spätantiken Kirchenvaters 79 und seines Naturrechtsverständnisses 80 bekannt. Freilich übersieht Leibniz nicht die diesem dictum anhaftende Zweischneidigkeit, die es jenseits seiner plakativen Eingängigkeit ja auch hat. Er thematisiert diese Ambivalenz an einer prominenten Stelle, auf die Leo Strauss hingewiesen hat. 81 Denn der Verweis auf das faktische Funktionieren von Räuberbanden und ihre durch das pragmatische, an der bloßen Empirie orientierte Befolgen von gewissen Regeln erzielten, unbestreitbaren Erfolge wäre ja durchaus geeignet, die Theorie einer essentialistischen, rationalen Begründung des Rechtes zunächst einmal zu gefährden. Daher bedarf es für den juristischen Essentialisten im Weiteren eines emphatischen 82 Begriffes von ‚Vernunft‘ (und in dessen Gefolge auch von ‚Gerechtigkeit‘), 83 der sich von dem einer 78 „The same is true of the social system. If, and in so far as, its legislation and government do not comply with the principles of justice, they must be rejected. For then this society is not a lawful community, but only a de facto association, not distinguishable from the well-organized gangster-band bound merely by egoistic interests and fear.” (S. 487). 79 Vgl. Hartmut Rudolph: „Je suis du sentiment de S. Augustin“: Leibniz‘ (1646 – 1716) Nähe und Distanz zu Augustinus, in: Norbert Fischer (Hg.): Augustinus: Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Bd. 2: Von Descartes bis zur Gegenwart, Hamburg 2009, S. 59–87. 80 Vgl. Hartmut Rudolph: Leibniz‘ Naturrechtsverständnis im Licht der augustinischen „Theologie der Politik“, in: Luca Basso (Hg.): Leibniz und das Naturrecht (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 54), Stuttgart 2019, S. 66–74. 81 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 97, Anm. 18. Strauss diskutiert dort die Möglichkeit der ideengeschichtlichen Tradition, „das Naturrecht ohne den Glauben an die besondere Vorsehung oder an die eigentliche göttliche Gerechtigkeit zuzulassen.“ 82 Es sei daran erinnert, daß auch schon Augustinus von „wahrer Gerechtigkeit“ gesprochen hatte. Vgl. das Zitat oben Anm. 6. 83 In den Nouveaux Essais lässt Leibniz den Mitunterredner Philalete bestreiten, daß die Moral auf angeborenen Ideen beruhe – sie sei lediglich Sache der Erfahrung („C’est ne que par des raisonnemens, par des discours, et par quelque application d’esprit, qu’on peut s’asseurer des verités de pratique“). Selbst wenn sich dem so verhalten sollte, so repliziert sein Dialogpartner Theophile, sei dies immer noch aufgrund von angeborenen Fähigkeiten so („Quand cela seroit, elles n’en seroient pas moins innées“), denn obzwar das Moralprinzip nicht jederzeit Gegenstand der Vernunftbetätigung sei („il ne fait point partie de la lumiere naturelle; car on ne le connoist point d’une manière lumineuse“), so sei es doch ein angeborenes Prinzip („C’est un principe inné“), auch wenn die jeweilige Moralmaxime nicht über die Vernunftbetätigung aktualisiert werde, sondern durch eine Art Instinkt („elle n’est pas connue par la raison, mais pour ainsi dire par un instinct“). Beleg dafür sei die Tatsache, daß selbst Diebe, Piraten und Banditen im Umgang untereinander solche Maximen beachteten. Philalete, als Gegner des Innatismus greift dies Beispiel dankbar und begierig auf, wenn er bemerkt, daß Banditen diese Regeln untereinander zwar gelten liessen, doch nicht etwa weil sie ihnen angeboren seien, sondern lediglich aus pragmatischen Gründen der Selbstsorge, um ihre Form der Gesellschaft zu bewahren („[…] sans les considerer comme des principes innés. […] Ils n’observent les maximes de justice que comme des regles de convenance, dont la pratique est absolument necessaire pour la conservation de leur societé.”). Diese Replik nötigt Theophile zu einer Differenzierung:
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bloß „instrumentellen“ (wie Max Horkheimer es später ausdrücken wird) Vernunft abzusetzen hat. Indem Schrecker – ebenso wie der eingangs erwähnte Münsteraner Hausbesitzer – das dictum Augustins anführt, um sinnfällig zu machen, daß für jede ‚menschliche‘ und vernünftige Gemeinschaft (in diesem emphatischen Sinne) der Respekt vor und die Orientierung an den von Leibniz aufgestellten, universell gültigen „Prinzipien der Gerechtigkeit“ gefordert und erfüllt sein müssen, wenn anders sie diesen Namen verdienen soll, kann er sowohl für die unmittelbare Vergangenheit an das soeben zu Ende gegangene Unrechtssystem des Nationalsozialismus als ‚Räuberbande‘ erinnern, als auch für die Gegenwart und jede denkbare Zukunft Kriterien benennen, an denen sich – und hier scheut er sich nicht, eine Leibniz noch fremde, moderne Begrifflichkeit zu gebrauchen – ein „soziales System“ 84 messen lassen muß. Schrecker weist nachdrücklich auf das Aufeinander-Bezogen-Sein von den auch von Gott nicht veränderlichen Vernunftwahrheiten und den ebenso unveränderlich geltenden Prinzipien der Gerechtigkeit hin, wenn er im Folgenden die zusammenfassende Formel Leibnizens für die „Gerechtigkeit“ anführt: Leibniz hat häufig Gerechtigkeit als caritas sapientis, als vernünftige Menschenliebe definiert. Und es ist auch undenkbar, daß Ungerechtigkeit sich je mit der universalen Vernunft, an welcher der Vernünftige teilhat, in Übereinstimmung befinden könne, „da der Vernunft gehorchen die Befehle der höchsten Vernunft ausführen heißt“. 85 Zwischen Vernunft und Gerechtigkeit herrscht also vollkommene Harmonie. (116f.)
Weiter oben ist von der „metaphysischen und moralischen Fundierung der Politik bei Leibniz“ die Rede gewesen, auf die Werner Schneiders nachdrücklich hingewiesen hat: auch wenn Schrecker mit Anlage und Diktion seines Aufsatzes dezidiert es seien in der Tat unsere „wahren Interessen“ („vrai biens“), die wir durch Einhaltung der in uns gleichsam „eingravierten“ Moralgesetze verfolgen müssen. Diejenigen jedoch, die ihren Gerechtigkeitsbegriff lediglich pragmatisch am Erfolg des profanen Erwerbsstrebens ausrichten und messen wollten, statt an den so viel größeren Gütern der von Gott gestifteten Ordnung, setzten sich dann in der Tat dem Verdacht aus, nichts Besseres als eine Gesellschaft von Banditen aufrichten zu wollen. („Cependant ceux qui ne fondent la justice que sur les necessités de cette vie et sur le besoin qu’ils en ont, plustost que sur le plaisir qu’ils y devroient prendre, qui est des plus grands lors que Dieu en est le fondement; ceux-la sont sujets à ressembler un peu à la societé des Bandits.“). Leibniz: Nouveaux Essais I, 2, 2 (A VI,6 N. 2, S. 89f.). 84 Vgl. Stefan Jensen: Art. Systemtheorie; System, soziales, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 69), Band 10, Basel 1998, Sp. 862–869. Jensens Artikel verrät allerdings schon im Titel den eher problem- als begriffsgeschichtlichen Zugriff. Die durchaus terminologische Verwendung von ‚social system‘ bei Schrecker im Jahr 1946, womöglich etwa als Indiz für den damaligen philosophisch- soziologischen Diskurs in der angelsächsischen Welt findet keine Erwähnung. Daß Schrecker den Terminus – gerade im Rekurs auf Leibniz – inhaltlich anders fasst, als später die ‚Systemtheorie‘ Luhmannscher Prägung, liegt auf der Hand. 85 In der englische Fassung paraphrasiert Schrecker Leibniz mit „by obeying reason one carries out the orders of Supreme Reason” und verweist auf GP VI, S. 27. Die Originalstelle (Essais de Theodicée, Préface) lautet: „Car en faisant son devoir, en obeissant à la raison, on remplit les ordres de la Supreme Raison”.
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auf eine Aktualisierung und Repristination der Leibniz’schen Gedanken zur Gerechtigkeit hinarbeiten möchte, so will er doch diese metaphysische Grundierung des Leibniz’schen Denkens seiner Leserschaft im Deutschland der Nachkriegszeit ebensowenig verschweigen, wie dessen durchaus theologische Prämissen. Doch auch hier setzt er wiederum mit der Verwendung moderner Diktion einen aktualisierenden Akzent: Diese beiden unzertrennlichen Ideen [sc. Vernunft und Gerechtigkeit S.L.] bestimmen das Ziel der Zivilisation im allgemeinen, wie auch die Pflicht eines jeden, der an ihr teilhaben will, im besonderen. Indem der Menschen diese Pflicht erfüllt, d. h. indem er sich von Vernunft und Gerechtigkeit leiten lässt, wird er zum Ebenbilde Gottes. Denn, wie Leibniz schrieb: „Seine Güte und Gerechtigkeit sowohl wie seine Weisheit sind von der unseren nur deshalb verschieden, weil sie unendlich vollkommener sind.“ 86 (117)
Schrecker beendet damit den ersten, die Grundlagen und Prinzipen der Leibniz’schen Rechtstheorie darstellenden Teil seines Aufsatzes. Er stellt in der soeben zitierten Passage in der Tat ein Leibniz’sches Theorem heraus, das von ganz entscheidender Bedeutung ist: nur wenn die Rationalität und Gerechtigkeit Gottes wenn auch unendlich geringer ausfallend – von gleicher Natur ist, wie diejenige der geistbegabten Wesen (als da sind: Engel 87 und Menschen), ist eine Proportion zwischen deren Handeln und dem Gottes (und umgekehrt) möglich. Eine Unternehmung einer Theodizee etwa, also der Erweis der Güte und Gerechtigkeit Gottes auch angesichts der Zweckwidrigkeiten in der Welt, kann nur vor dem Hintergrund dieser Proportionalität, der (wenn auch graduell abgestuften) Gleichheit der kognitiven und moralischen Maßstäbe bei durchweg allen geistbegabten Wesen gelingen. Dagegen würde der Versuch, das Handeln etwa eines tyrannisch, weil unberechenbar und willkürlich handelnden deus absconditus ergründen und bewerten zu wollen, im Vorhinein zwecklos bleiben müssen oder zum Scheitern verurteilt. Da Gott jedoch der Leibniz’schen Auffassung zufolge rational, d.h. nach guten Gründen handelt, kann der Mensch, als an der Vernunft teilhabend, in seinem Denken und Handeln sich (im Rahmen seiner begrenzteren Möglichkeiten) ebenfalls rational (nämlich nach Vernunftgründen) und gut verhalten und wird so zum „Ebenbild“ Gottes: dies die Leibniz’sche Fassung des alten theologischen imitatio-Dei-Gedankens, der hier für den Bereich der Rechtstheorie fruchtbar gemacht wird. Leibniz hat an zahlreichen Stellen seines Werkes davon gesprochen, daß die potentiell gleiche, wenn auch graduell abgestufte Gemeinsamkeit aller vernunftbegabten Wesen in kognitiver und moralischer Hinsicht diese zu einer „Monarchie
86 Dies Schreckers Paraphrase von Leibniz‘ Essais de Theodicée, Disc. Prélim., § 4 (GP 6, S. 51): „Sa bonté et sa justice, aussi bien ques a sagesse, ne different des nôtres, que parce qu’elles sont infiniment plus parfaites“. 87 Vgl. Mattia Geretto: L’Angelologia leibniziana, Soveria Mannelli 2010.
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der Geister“ zusammenschliesse, an deren Spitze Gott stehe: so etwa in der sogenannten Monadologie. 88 Aber nirgends hat er dieses so bedeutende Theorem so ergreifend formuliert, wie in einem Entwurf eines Gedichtes zum (ihn regelrecht erschütternden) Tod der von ihm hoch geschätzten preußischen Königin Sophie Charlotte. Dort – beinahe seine ganze Metaphysik in prägnante Verse fassend – verschränkt er den Gedanken von der Sonderstellung der vernunftbegabten Wesen („mit Gott in Innung treten“) und deren Imitatio Dei („kleine Götter“, die „ordnen was wie Er“) mit dem der Unsterblichkeit, da dieser Stadt Gottes nichts abhanden komme („ein Regiment, da nichts verloren 89 geht“) und bei der die vernünftigen Wesen ihrer ‚Staatsbürgerschaft‘ niemals, auch nicht durch den Tod, verlustig gehen könnten („bleiben seines Staats Mitglieder immermehr“). 90 *
Schrecker nähert sich nun dem zweiten, spezielleren Teil seiner Thematik mit der Frage, wie diese doch sehr abstrakten und letztlich auch metaphysisch fundierten („regulativen“) Prinzipien nun auf die Organisation des sozialen Lebens („organization of social life“ hat die englische Fassung) Anwendung finden?“ (117) Es könne doch – Leibniz und Schrecker zufolge – keinen scheinbar „unversöhnlichen Konflikt zwischen Individuen und Gemeinschaft, Nationen, Kirchen oder Klassen“ geben, wenn sie sich nur von den universalen Ideen der Vernunft und Gerechtigkeit
88 § 83: „mais que les Esprits sont encore des images de la Divinité meme ou de l’Auteur meme da la Nature; capables de connoistre le systeme de l’univers, et d’en imiter quelque chose par des echantillons architectoniques; chaque esprit estant comme une petite divinité dans son department.” § 84: „C’est qui fait que les Esprits sont capables d’entrer dans une Maniere de Societé avec Dieu.” § 85: “[…] l’assemblage de tous les Esprits doit composer la Cité de Dieu, c’est à dire le plus parfait des monarques.” § 86: „Cette Cité de Dieu, cette Monarchie Veritablement Universelle, est un Monde Moral dans le Monde Naturel”. Leibniz sogenannte Monadologie und Principes de la nature et de la grace fondés en raison. Hg. v. Clara Strack. Als Manuskript gedruckt. Druck von Georg Reimer in Berlin. Seminar B. Erdmann S. 1917, S. 38. 89 Vgl. G. W. Leibniz: De l’horizon de la doctrine humaine (1693). Textes inédits traduits et annotés par Michel Fichant, Paris 1991; Michel Fichant: Ewige Wiederkehr oder unendlicher Fortschritt: die Apokatastasisfrage bei Leibniz, in: Studia Leibnitiana 23 (1991), S. 133–150. 90 „So viele Welt-Bilde nun als Geister sind zu finden, / Die machen Gottes Reich, das seine Sätze binden. / Wo Weisheit mit der Macht im höchsten Grade steht, / Das gibt ein Regiment, da nichts verloren geht. / Die Seelen die mit Gott in Innung können treten, / Die fähig ihr Verstand gemacht Ihn anzubeten / Die kleine Götter seyn und ordnen was wie Er, / Die bleiben seines Staats Mitglieder immermehr.“ G. W. Leibniz: Entwurf eines Gedichtes zum Tode Sophie Charlottes. Gottfried Wilhelm Leibniz-Bibliotheke – Niedersächsische Landesbibliothek LH V, III, 4, Bl. 22–23. Hier zitiert nach Gerd van den Heuvel: Leibniz in Berlin. Ausstellung im Schloß Charlottenburg, 10. Juni – 22. Juli 1987. Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Leibnizarchiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover (= Aus Berliner Schlössern, Kleine Schriften IX), Berlin 1987, S. 62–66, hier S. 65.
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leiten lassen.“ Daher sei die „Anwendung von nackter Gewalt, Zwang und Verfolgung immer ein unfehlbares Symptom eines Abfalls von Vernunft und Gerechtigkeit.“ (117). Auch hier markiert der anachronistische Gebrauch des Begriffes „Klasse“, der Leibniz ja noch fremd war, den aktualisierenden Impetus des Aufsatzes. Im Folgenden sollen nur kurz und summarisch die im zweiten Teil des Aufsatzes angesprochenen Felder benannt werden, in denen Leibniz als um die praktische Umsetzung dieser allgemeinen Prinzipien bemüht geschildert wird. Dabei folgt Schrecker in jedem Punkt seiner generellen Tendenz, die Anwendbarkeit der Leibniz’schen Ideen und Konzepte für seine eigene Gegenwart wo nicht anzusprechen so doch mitzudenken. Da ist zunächst sein ökumenisches Projekte der Wiedervereinigung der Kirchen und Konfessionen. Nicht ohne zuvor auf die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges hinzuweisen schreibt Schrecker dazu: Im Sinne der Monadenlehre repräsentiert“ für Leibniz „jede Kirche, jeweils auf die ihr eigene Weise, dieselbe göttliche Institution. Schismen verstoßen daher gegen die Vernunft, während die Folgen, die sie gezeitigt haben – Religionskriege und blutige Verfolgung von Ketzern und Dissidenten – mit der göttlichen sowohl wie der menschlichen Gerechtigkeit unvereinbar sind. […] Verlangten also Vernunft und Gerechtigkeit die Versöhnung der christlichen Kirchen, so erschien diese Leibniz gleichzeitig als die unerläßliche Vorbedingung für die Befriedung Europas. (117f.)
Hieraus ergebe sich die unmittelbare Forderung nach religiöser Toleranz. Doch an die Stelle der religiösen Motive für gewaltsame und kriegerische Auseinandersetzungen seien heute – so Schrecker – nun „ideologische Zwiste“ getreten, die sich auf „neue Dogmen, seien sie ökonomischer, philosophischer oder nationaler Natur“ berufen wollen. Doch: Was auch immer die ideologischen Motive für den gewaltsamen Austrag dieser Streitigkeiten sein mögen, die universalen Ideen der Vernunft und Gerechtigkeit verwerfen sie a priori als mit wahrer Zivilisation unvereinbar (119)
Wie heute notwendig, so habe auch Leibniz zu seiner Zeit die Ächtung kriegerischer Auseinandersetzungen propagiert. Selbst eine Organisation wie die der Vereinten Nationen habe nicht außerhalb von Leibniz‘ Vorstellungen gelegen. Voraussetzung dafür ist die rechtstaatliche Verfassung der einzelnen Staaten: Die Zivilisation hat dem Krieg aller gegen alle ein Ende gemacht […]. Sie ist „im Staat“ die „Herrschaft des Rechts“, die „entsprechend den oben dargelegten elementaren Prinzipien, die Schädigung eines Menschen durch einen anderen verbietet, jedem das Seine gewährleistet und das Gemeinwohl zum Ziele hat. […] „Das Ziel der politischen Wissenschaft“, so schrieb Leibniz, „hinsichtlich der Theorie von den Staatsformen sollte es sein, die Autorität der Vernunft zu stärken … Willkür ist das Kennzeichen derjenigen Staatsform, die mit der Autorität der Vernunft in unmittelbarem Widerspruch steht“ 91 In der Tat wäre es widersinnig und selbst got-
91 „Le but de la science politique à l’egard des Formes des Republiques, doit Ester de faire fleurir l’Empire de la raison. […] Le pouvoir arbitraire est ce qui est directement opposé à l’Empire de la Raison.” Leibniz an Thomas Burnett de Kemney (GP 3, 277).
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Stefan Lorenz teslästerlich, wollte man einen Despoten über die Gesetze der Gerechtigkeit und Vernunft stellen, denen, nach Leibniz, selbst Gott als der Schöpfer und Weltherrscher unterworfen ist.“ (118f.)
Somit wären dann auch die Voraussetzungen für einen Völkerbund erreicht: Wie die Beziehungen der Bürger in einem Staat nicht durch die Macht der Willkür, sondern durch gesetztes Recht geregelt werden, so können auch die Beziehungen der Staaten untereinander durch ein System gesetzten Rechtes geregelt werden, das ebenfalls Prinzipien der Vernunft und Gerechtigkeit untertan wäre. Auf dies Weise versuchte Leibniz, den heute genau so akuten Konflikt zwischen den Ideen der nationalen Souveränität und der des Völkerrechts auszugleichen. Da nationale Souveränität Anspruch auf Legitimität nur insofern erheben kann, als sie sich den Ideen der Vernunft und Gerechtigkeit unterordnet, und da außerdem diese selben Ideen das Völkerrecht beherrschen sollten, so ist ein berechtigter Widerspruch zwischen den beiden Systemen ausgeschlossen. (119)
Als „erstes Gebot des Völkerrechtes und zugleich die Grundlage aller andern Gebote“ macht Schrecker mit Leibniz, die „treue Einhaltung aller Verträge“ (120) dingfest, wobei er sich in diesen Passagen seines Aufsatzes mitunter völlig vom historischen Referat löst und in moderne Diktion verfällt. 92 Auch wenn er Massenvernichtungswaffen ächten wollte, war Leibniz aber keineswegs ein Verfechter eines bedingungslosen Pazifismus: er „bestand auf der Pflicht eines jeden, stark zu sein […], um sich wirksam gegen rechtswidrige Angriffe verteidigen zu können.“ Der aus Hitler-Deutschland geflohene Schrecker hat sicher die Appeasement-Politik der westeuropäischen Regierungen Hitler gegenüber und wie sie sich im Münchner Abkommen vom September 1938 mit seinen territorialen Zugeständnissen manifestierte, im Blick, wenn er fortfährt: „Ebensowenig würde er einer Politik des Opportunismus und der Nachgiebigkeit gegenüber dem Unrecht zugestimmt haben“. (121) Leibniz erteilte als Kosmopolit 93 jedem chauvinistischen und nationalistischen Versuch eine Absage, „das Wohl nur einer Nation, einer Klasse oder eines Volkes auf Kosten aller anderen“ zu erzielen. Sein Ziel ist nicht die „Vorherrschaft eines Volkes, das sich dazu berufen fühlt, sich die Welt untertan zu machen, sondern es ist die Wohlfahrt der ganzen Menschheit.“ (121) „Es ist ganz sicher“, schrieb er, „daß, wenn die Menschen nur wollten, sie sich von jenen der großen Geißeln, Krieg, Pest und Hungersnot befreien könnten. Was die beiden letzteren angeht,
92 So etwa in seinem zusammenfassenden Resumée: „Die geschichtliche Entwicklung internationaler Beziehungen, wie sie in Verträgen und Bündnissen zum Ausdruck kommt, schließt also notwendigerweise die Anerkennung eines auf der Idee der Gerechtigkeit beruhenden Völkerrechts in sich. Jede Verletzung dieses Rechts ist daher ein ruchloser Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Damit wird der Krieg als Mittel der internationalen Politik verpönt. Die friedliebenden Nationen aber müssen alles daransetzen, eine kraftvolle Organisation zu schaffen, welche der die Erfüllung der Verträge wacht. Die Erfüllung muß im Geiste der Vernunft und Gerechtigkeit, der einzigen Kraftquelle der Verträge, geschehen und nicht bloß auf Grund des stets zweideutigen Wortlauts. Loyalität ist damit zur Kardinaltugend des Staatsmannes erhoben.“ 93 Schrecker zitiert Leibniz (121): „Mir ist es ganz gleich, in welchem Lande eine Kulturtat vollbracht wird, ob in Deutschland oder Frankreich; denn was mir am Herzen liegt, ist das Wohl der Menschheit. Ich bin weder ein Philhellene noch ein Philoromane sondern ein Philanthrop.“
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so könnte es jeder einzelne Souverän in seinem Lande tun. Um aber den Krieg abzuschaffen, bedarf es einer Vereinbarung unter den Souveränen, welche schwierig zu erlangen ist“. (121)
Gleichzeitig betont Schrecker aber auch für das Völkerrecht den Leibniz’schen Gedanken von der „Einheit in der Vielheit“, wenn er bei der „Gründung einer die ganze Menschheit umfassenden Gemeinschaft“ doch den „individuellen Nationen volle Entwicklungsfreiheit für ihre kulturelle Eigenart“ belässt. (122) Diese wenigen Zitat geben schon eine Vorstellung davon, wie Leibniz seine wichtigsten Ideen auf das in Anwendung brachte, was man die Rationalisierung der internationalen Beziehungen nennen könnte. Sie zeigen auch, daß Leibniz‘ Ideen keineswegs die mehr oder weniger utopischen Träume und Illusionen eines weltfremden und doktrinären Geistes, sondern eher das Gegenteil, ausgesprochen realistisch waren. Nur war die Wirklichkeit, die er im Sinne hatte, nicht auf den engen Horizont jener Politiker beschränkt, für die es nichts gibt, als was sie mit eigenen Augen sehen und mit Händen greifen können. (121)
Schrecker ist sich im Klaren darüber, daß wir es bei Leibniz nicht mit einem Anhänger eines naiven Fortschrittsoptimismus zu tun haben, der überdies glaubte, das von ihm skizzierte Ziel einer vernünftig handelnden Menschheit sei in kurzer Zeit zu erreichen: Die Geschichte der Zivilisation ist natürlich kein ununterbrochener Fortschritt: wir müssen stets gelegentlicher Rückfälle in die Barbarei gewärtig sein. […] Unser Zeitalter befindet sich in einer erschreckend ähnlichen Geistesverfassung, wie sie Leibniz an seinem Lebensabend zu der bewegten Klage veranlaßte: „Die Menschheit verzweifelt am Ende zu ihrem Unheil selbst an der Vernunft; des Lichtes müde, sucht sie Trost in dem geheimnisvollen Dunkel alter Chimären“. 94 (122)
Und am Ende gibt das Schrecker die Gelegenheit, auf die Irrationalismen und Atavismen des 20. Jahrhunderts 95 einzugehen, die auch den Mutterboden abgaben, aus dem sich die fatale politische Entwicklung vor und nach 1933 nährte: 94 „Mais c’est un malheur des hommes, de se degouter enfin de la raison même, et de s’ennuyer de la lumiere. Les chimeres commencent à revenir, et plaisent parce qu’elles ont quelque chose de merveilleux. Il arrive dans le pays Philosophique ce qui est arrive dans le pays Poëtique. On s’est lassé des Romans raisonnables, tells que la Clelie Françoise, ou l’Aramene Allemande, et on est revenue depuis quelque temps aux Contes des Fées.” Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke (GP 7, 417). 95 Auf den grundlegenden Aufsatz von Karlfried Gründer: Aufklärung und Surrogate, in: Ders., Nathan Rotenstreich (Hg.): Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 14), Heidelberg 1990, S. 101–122 sei hier deswegen verwiesen, weil er in nuce ein philosophiehistorisches und ideengeschichtliches Forschungsprogramm im Umgang mit Irrationalismus als kompensierende Surrogate für ausbleibende, abgebrochene oder mißlungene Aufklärung umreisst, ohne die Ambivalenz und Dialektik beider Formationen zu unterschlagen. Diese Differenzierung ist in der Disziplin der Kunstgeschichte offenbar stärker präsent als in der der Philosophiegeschichtsschreibung. Vgl. etwa den Katalog Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900 – 1915. Ausstellung Schirn Kunsthalle Frankfurt, 3. Juni bis 20. August 1995, Ostfildern 1995; Christoph Wagner (Hg.): Das Bauhaus und die Esoterik. Johannes Itten · Wassily Kandinsky · Paul Klee. Ausstellung Gustav-Lübcke-Museum Hamm, 28. August bis 8. Januar 2006, Bielefeld/Leipzig 2005.
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Stefan Lorenz Welche Fülle von pseudowissenschaftlichen Chimären in Gestalt von Mystizismus, Irrationalismus und Scharlatanerie haben wir nicht wieder auferstehen sehen, Dinge, die wir längst alle überwunden zu haben glaubten! Solche Rückschläge konnten Leibniz‘ Optimismus, den man so oft verspottet und so selten verstanden hat, niemals etwas anhaben. Was könnte auch optimistischer sein als seine Vorstellung von der Welt, in der zwar die wenigsten Dinge sich je in voller Übereinstimmung mit den Ideen von Vernunft und Gerechtigkeit befinden, die aber doch von Natur dazu neigt, jene höchsten Ideen auf allen Gebieten der Zivilisation zur Verwirklichung zu bringen. […] Als sein Plan zur Vereinigung der Kirchen endgültig gescheitert zu sein schien, verlieh er in einem Brief an einen alten Freund seiner zähen Ausdauer einen ebenso einfachen wie bewegenden Ausdruck mit den Worten: „Ipso se res aliquando conficiet“ 96 – „Eines Tages wird die Sache ganz von selbst zustande kommen“. (122)
* Was nun die Wirkung des hier vorgestellten Aufsatzes angeht, so gilt auch hier mutatis mutandis der generelle Befund Wenchao Lis: zwar „stellt das Jahr 1946 ohne Zweifel eine einschneidende ‚Zäsur‘ [so der von Li übernommene Begriff Gerd van den Heuvels S.L.] in „der Entwicklung des Leibniz-Bildes“ dar. Aber was „aus diesem über die Fachwelt weit hinausgehenden, landesweiten Rekurs auf Leibniz‘ Gedankengut in den Nachkriegsjahren geworden war, ob er überhaupt etwas bewirkt hatte, inwieweit sich Kontinuität und Diskontinuität mit der Zeit des Nationalsozialismus dabei vermischten, und was für eine Rolle die Besatzungsmächte und ihre Zensurbehörden dabei spielten, Untersuchungen sind bis dato ausgeblieben“. 97 Über die Aufnahme oder Wirkung des Schreckerschen Aufsatzes im Besonderen beim deutschen Publikum von 1947 können bislang nur Mutmaßungen angestellt werden. Die in der Amerikanischen Rundschau selbst eingegangenen und zum Abdruck gekommenen Leserbriefe gehen auf diesen seinen Beitrag nicht ein. Aber auch im weiteren wissenschaftlichen Diskurs der deutschen Nachkriegszeit scheint Schreckers Beitrag, dessen englische Erstveröffentlichung ja immerhin an prominenter Stelle, im Journal of the History of Ideas erfolgt war, keine größere Beachtung gefunden zu haben. Zwar beklagt Erik Wolf noch 1966 in seiner Abhandlung Leibniz als Rechtsphilosoph den Umstand, daß „der Rechtsdenker Leibniz von Juristen und Philosophen heute noch nicht so beachtet“ werde, „wie es ihm zukäme“, 98 aber inder von ihm angeführten, bis dato erschienenen Literatur zum Thema findet Schreckers Aufsatz keine Erwähnung. Freilich hätte Wolf durchaus und leicht auf ihn aufmerksam werden können, denn die von ihm eigens erwähnte, 99 posthum erschienene Monographie La justice humaine selon Leibniz von Gaston 96 Leibniz an Johann Fabricius, Hannover 28. Januar 1708, in: Christian Kortholt (Hg.): Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos. Vol. I, Leipzig 1734, S. 124. 97 Li: Der Wandel des Leibniz-Bildes (wie Anm. 9). S. 809. 98 Erik Wolf: Leibniz als Rechtsdenker, in: Wilhelm Totok, Carl Haase (Hg.): Leibniz. Sein Leben – Sein Wirken – seine Welt, Hannover 1966, S. 465–488, hier S. 466. 99 Wolf, a. a. O., S. 466.
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Grua (eine der ersten „umfassende[n] Darstellungen“ des „Leibnizschen Rechtsund Naturrechtsdenken[s]“ 100) kennt und berücksichtigt ihn. 101 Doch es mag sein, daß sich in Schreckers Nachlass Hinweise auf eine solche zeitgenössische Wirkung finden lassen. Auch für die rezente Erforschung der Rechts- und Staatsphilosophie bei Leibniz scheint Schreckers Aufsatz zum „abgesunkenen Kulturgut“ geworden zu sein. Die Beiträge etwa zur jüngsten, gewichtigen Aufsatzsammlung zum Thema 102 gehen nicht auf ihn ein, obwohl einige von ihnen thematische Affinitäten zu dem aufweisen, was er bereits 1947 zumindest angerissen hat. 103 IV. Schluss Bei Paul Schrecker verbindet sich – und hier ist Patrick Riley zuzustimmen – seine als Philosophiehistoriker und Editor angewandte Akribie, seine profunde Sach- und Quellenkenntnis sowie sein kritischer Blick mit dem Impetus des philosophischen Systematikers, eine Verbindung, die ihn mit Verve – um nicht zu sagen: mit Pathos – die Einsichten in die von ihm wahrgenommenen Wahrheiten des Leibniz’schen Denkens einer Mitwelt und Gegenwart zur Beherzigung und Verwirklichung empfehlen liess, deren geistige Situation von den Spuren der verheerenden Folgen eines irrationalen Voluntarismus und Dezisionismus schwer (und nicht nur materiell) betroffen war. Damit gehört er zweifellos in die Kategorie der in der Geschichte der Leibniz-Philologie nicht eben seltenen „engagierten Editoren“. 104 Es werden diese,
100 Hubertus Busche: Einleitung (wie Anm. 77), S. XVf. Hinweise auf Schreckers Darstellung von Leibniz‘ „Konzeption des Völkerrechts“ sowohl in der englischen Fassung von 1946, als auch in der deutschen von 1947: a. a. O., S. XV u. S. 504. 101 Vgl. Gaston Grua: La justice selon Leibniz, Paris 1956, S. 2, Anm. 2: Bibliographie der “principales monographies modernes sur Leibniz juriste“; S. 355: Hinweis auf Schreckers Aufsatz, der belege, daß „les relations internationales [sc. Leibniz‘ Lehre vom Völkerrecht und den internationalen Beziehungen S.L.] exigeraient une étude détaillée.“ 102 Tilman Altwicker, Francis Cheneval, Matthias Mahlmannn (Hg.): Rechts- und Staatsphilosophie bei G. W. Leibniz (= Politika 20), Tübingen 2020. 103 So etwa die Beiträge von Christian Barth: Interrelations between Leibniz’s Theoretical Philosophy and his Philosophy of Law: Leibniz on Human and Divine Cognition (a. a. O., S. 43– 52); Matthias Mahlmann: Die geistigen Wurzeln der Gerechtigkeit – Rationalismus und Epistemologie in Leibniz‘ praktischer Philosophie (a. a. O., S. 89–103); Francis Cheneval: Leibniz‘ Staats- und Europakonzept (a. a .O., S. 195–213; Detlef von Daniels: Vom Kosmopolitismus zur Leibniz’schen Metaphysik und wieder zurück (a. a. O., S. 215–233);Tilman Altwicker: Völkerrechtsmetaphysik bei G. W. Leibniz – Versuch einer Überwindung der Universalismus/Partikularismus-Dichotomie (a. a. O., S. 235–254) und der den Band abrundende Aufsatz von Stephan Waldhoff: „Ich habe von meiner ersten Jugend an … mein gemüth auf … gemeines beste gerichtet“. Gottfried Wilhelm Leibniz – eine politisch-biographische Skizze (a. a. O., S. 323–345). 104 Vgl. dazu Stefan Lorenz: „Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind“. Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe, in: Annette Sell (Hg.):
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den historischen Ideenbestand – vielleicht ein wenig über Gebühr – aktualisierenden Züge des Schreckerschen Beitrages gewesen sein, die ihn in den Augen der Redaktion der Amerikanischen Rundschau als für die Aufnahme in ihr der Reeducation gewidmeten Periodikum haben geeignet erscheinen lassen. An dieser Stelle kann eine philosophisch-systematische Frage zwar nicht diskutiert und noch weniger beantwortet, sondern lediglich benannt werden, die sich bei der Lektüre des hier vorgestellten Aufsatzes von Paul Schrecker aus dem Jahre 1946 doch aufdrängen muß: diese Frage entspringt dessen eigentümlichem Changieren – oft nur in der Begrifflichkeit und den Nuancen der Diktion, aber doch ganz deutlich erkennbar – zwischen philosophiehistorischem Referat der historischen Position Leibnizens, also der Deskription auf der einen Seite und der unverkennbaren Zielsetzung, dieser Leibniz’schen Position für die Gegenwart des Jahres 1946 womöglich eine theoretisch valide Geltung zu vindizieren, also der Aufstellung einer Norm auf der anderen Seite. Ist – so wird man sich fragen – diese Aktualisierung einer philosophischen Position wie der Leibnizens, deren Wurzeln in heteronomen, um nicht zu sagen: theonomen Voraussetzungen zu gründen scheinen, für einen Philosophen möglich, der, wie Schrecker es ja getan hat, in seinen Lehrveranstaltungen den amerikanischen Studentinnen und Studenten die kritische Abkehr Immanuel Kants vom Dogmatismus erläutert hat? Bei der Beantwortung dieser Frage würde man zum einen sicher den sich an Platon anschliessenden Essentialismus und Rationalismus Leibnizens, der Schrecker – wie uns Patrick Riley gezeigt hat – so sehr eingeleucht hat und den er für die Ablehnung (auch des politischen) Voluntarismus (hier ist Descartes der Antagonist) versucht hat, stark zu machen, in Betracht ziehen müssen. Zum anderen wird man die zeitgeschichtlichen und persönlichen Umstände der Entstehung dieses großartigen Aufsatzes berücksichtigen müssen: sein unmittelbarer Anlass – der 300. Geburtstag Leibnizens – koinzidierte fast genau mit dem Ende eines grauenhaften Weltkrieges, der von einem verbrecherischen deutschen politischen Regime geführt wurde, dessen ideologische Haltung mit den Termini: Irrationalismus, Dezisionismus und Voluntarismus zwar vornehm, aber wohl nicht unzutreffend beschrieben sind. Damit fiel dem rassistisch verfolgten Emigranten Schrecker dann auch mit der deutschsprachigen Veröffentlichung seines Aufsatzes in der Amerikanischen Rundschau die Aufgabe zu, seinen früheren Landsleuten anhand einer Denkerfigur wie Leibniz ein gewisses Verständnis für das zu vermitteln, was im emphatischen Sinne „wahre Gerechtigkeit“ heißt. Und zum dritten setzt Schrecker in seinem Referat des leibnizianischen Naturrechtes einen deutlichen anti-dogmatischen Akzent, indem er diesem einen formalen Charakter unterstellt. 105
Editionen – Wandel und Wirkung. [Beiträge zur Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen, 21. bis 23. Februar 2005 in Bonn] (= Beihefte zu editio 25). Tübingen 2007, S. 65–92. 105 Vgl. Jürgen von Kempski: Naturrecht und Völkerrecht, in: Verhandlungen des 8. deutschen Soziologentages 1946, Tübingen 1948; jetzt in Der.: Studien zur Einheit der Sozialwissenschaf-
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Ohne übrigens die fachphilosophische Kompetenz Schreckers schmälern und ohne einem genaueren Blick auf seine großes geschichtsphilosophisches Werk, der vielleicht diese Frage einer Beantwortung näherzubringen geeignet sein könnte, vorgreifen zu wollen, wird man vielleicht sagen dürfen, daß Schreckers Aufsatz in seiner den Geist Leibnizens aktualisierenden, appellativen Tendenz auch von an so etwas beseelt ist, das man näherungsweise vielleicht mit dem Begriff eines ‚Gerechtigkeitsgefühls‘ belegen könnte. Für diesen – gewissermaßen und so zu reden – ‚existentiellen‘ Aspekt des menschlichen Bedürf- und Erfordernisses von „Gerechtigkeit“ und dessen fortwährende Virulenz sei abschließend aus einem jüngst erschienenen Artikel der Hongkong-amerikanischen Journalistin Melissa Chan zitiert, die in ihrer beruflichen Arbeit zahlreiche Gespräche mit von Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte betroffenen Menschen geführt hat: Sicher – die Demokratie, wie sie ursprünglich artikuliert ist, ist griechischen Ursprungs. Europa lieferte das Lexikon für ihre Elemente. Aber das bedeutet noch nicht, dass das Streben nach Demokratie und der Wunsch nach Menschenrechten nicht in einem jeden von uns existiert. […] In vielen Fällen sagten die Betroffenen, „ich will einfach nur gerecht behandelt werden. Was mir – was uns – widerfahren ist, war nicht richtig. Diese Menschen haben nicht das Wort Demokratie verwendet. Sie sprachen nicht von universellen Werten oder Rechtsstaatlichkeit. Dies war nicht ihr Vokabular. Aber die menschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung ist grundlegend. Wir sollten uns diese Worte zu eigen machen und sie feiern. Lassen Sie uns den Menschen erklären, dass es nicht nur ums wählen geht – es geht um die Chance, Fehler zu berichtigen. Und es geht nicht nur um […] soziale Gerechtigkeit […] In einem demokratischen System geht es auch um ganz banale Dinge. Um […] vor Gericht unvoreingenommen gehört zu werden. Um Eltern, die mitbestimmen möchten, was das staatliche Bildungssystem ihren Kindern beibringt. Und um die Einsicht, dass guten Menschen überall Schlechtes widerfährt, aber dass man in einer offenen Gesellschaft die Mittel hat, sich zu wehren, wenn es sein muss. Diese Einsicht ist nicht einfach. Wir begegnen internen und externen Herausforderungen. Diejenigen, die vom Autoritarismus profitieren – seine Sieger – sind oftmals auch diejenigen mit der stärksten Verbindung zur globalen Gemeinschaft, wegen ihres Reichtums, ihrer Macht und ihrer Mittel. […] Dann denke ich an den weiten Bogen der Menschheitsgeschichte, unsere Historie, die meist aus Monarchien, Imperien und Despoten bestand. Demokratie ist hier nur ein winziger Ausschnitt, und wenn er fortbestehen soll, bleibt keine Zeit für Bequemlichkeit. Jede Generation muss für sie kämpfen. 106
Wir können weder wissen, ob der Mensch, Philosoph und ‚platonisierende Leibnizianer‘ Paul Schrecker, der am 24. Dezember 1963 verstorben ist, noch auch, ob der 1716 verstorbene Leibniz diese Worte hätten unterschreiben wollen, so sie denn heute unter uns Jetztlebenden weilten – und gewiß ist schon diese Frage (in mehr
ten. Schriften 2, Frankfurt/M. 1992, S. 9–31, bes. S. 17. Auch von Kempski muss die Formalität der natürlichen Bestimmung stark betonen, und sie dem in der Tradition des Rechtspositivismus stehenden Publikum von 1946 vermitteln zu können. 106 Melissa Chan: Findet Demo. (55 Voices for Democracy. Eine Programmreihe von Villa Aurora & Thomas Mann e.V. mit Süddeutscher Zeitung, Deutschlandfunk und Los Angeles Review of Books. Teil VIII), in: Süddeutsche Zeitung, 11. August 2021, Nr. 183, S. 12 [Übersetzung: Josh Widera].
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als einer Hinsicht) verfehlt: aber Vermutungen darüber anstellen sollten wir doch dürfen. * Wenn es sich so verhält, daß der Philosophiehistoriker Schrecker mit seinem Aufsatz versucht, die Leibniz’sche Philosophie für seine Gegenwart in philosophischsystematischer Hinsicht fruchtbar zu machen, dann könnte sich ein Vergleich etwa mit dem Versuch nahelegen, der im Neukantianismus unternommen wurde, das Denken Immanuel Kants für die Lösung sozialer Fragen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Und auch da waren es mitunter bestens versierte Philosophiehistoriker, die sich zu Vertretern einer solchen Aktualisierung historischer Theoriebestände gemacht haben: so etwa Friedrich Albert Lange und Hermann Cohen. So hat – um nur ein Beispiel zu nennen – der uns vornehmlich als Philosophiehistoriker bekannte Karl Vorländer in systematischer Hinsicht einen auf dem Denken Immanuel Kants fußenden Sozialismus vertreten, der Kant und Marx zusammenschließen wollte. 107 Auch wenn sich ein solcher Vergleich zunächst nur an der Strukturähnlichkeit des jeweiligen Vorgehens (hier wie dort: Überführung von „Historie“ in „System“ bzw. historische „Deskription“ und „aktualisierende Normsetzung“) festmachen dürfte, so wäre dem doch auch im Inhaltlichen näher nachzugehen. Denn Schreckers frühe Arbeiten Bemerkungen zur Verfassungs-Reform in Österreich (bezeichnenderweise unter dem sprechenden Pseudonym Philodikos = Freund des Rechtes veröffentlicht) und Für ein Ständehaus von 1919 (letztere hatte Einfluß auf das Denken von Hermann Broch, mit dem Schrecker eng befreundet war) zeugen von dem großen Interesse des jungen Juristen an sozialen Fragen, bevor er zum historisch orientierten Leibniz-Editor und Leibniz-Forscher wird, um dann in seiner späten Zeit als systematischer Philosoph eine Theorie der Geschichte vorzulegen. 108 Freilich bleibt der philosophisch-systematische Hintergrund Schreckers insgesamt – greifbar etwa in diesem großen geschichtsphilosophischen Werk Work and 107 Karl Vorländer: Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus. Zweite, neubearbeitete Auflage. Tübingen 1926. Zum sozialistischen Kantianismus vgl. Helmut Holzhey (Hg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus. Frankfurt/M. 1994; Hans-Jörg Sandkühler, Rafael de la Vega (Hg.): Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus. Mit einer neuen Einleitung von Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt/M. 1974. 108 Philodikos [d.i. Paul Schrecker]: Bemerkungen zur Verfassungs-Reform in Österreich. Wien 1917; Paul Schrecker: Für ein Ständehaus – Ein Vorschlag zu friedlicher Aufhebung der Klassengegensätze. Wien 1919 – Die Dissertation von Zoran Mimica: Rechtsphilosophische Probleme der politischen Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung der Ständevertretung: Funktionalität bei Hobbes, Legalität und Legitimität bei Kant, Solidarität bei Schrecker, Legitimität bei Voegelin. Wien: WUV 1999 [= Diss. d. Univ. Wien, Bd. 63] gibt eine erste Orientierung: S. 71–77: Paul Schrecker und die Ständeidee – die Solidarität; S. 78–93: Schreckers Einfluß auf Hermann Broch.
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History. An Essay on the Structure of Civilization von 1948 und seinen Aufsätzen, 109 aber wohl auch in seinem noch weitgehend unerschlossenen Nachlass –, von dem aus er auch eine philosophische Aktualisierung der Leibniz’schen Philosophie und ihrer Implikationen betreiben wollte, zumindest für uns im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken.
109 Vgl. etwa Paul Schrecker: Phenomenological Considerations on Style, in: Philosophy and Phenomenological Research 8 (Mar. 1948), No. 3, S. 372–390.
PAUL RITTER (1872–1954) oder Leibniz’ aristokratische und deutsch-nationale Liebhaber 1 Stefan Luckscheiter, Potsdam Paul Ritter wurde am 15. Januar 1872 in Stolp (heute Słupsk) geboren. Seine Mutter war Hedwig, geb. Neitzke (10.12.1848–12.9.1893), sein Vater der Schuhmachermeister August Ritter (12.8.1838–5.12.1903). Er, das älteste von insgesamt fünf Kindern 2, studierte von 1891 bis 1899 in Berlin „hauptsächlich“ Geschichte und Geographie und wurde am 6. August 1898 mit einer Arbeit über die preußische und österreichische Politik im Zeitalter der Französischen Revolution zum Dr. phil. promoviert; am 12. Juni 1900 legte er die Prüfung für das Lehramt in höheren Schulen ab. 3 Zusammen mit Willy Kabitz wurde er, kurz nachdem im April 1901 die Entscheidung getroffen worden war, eine umfassende Ausgabe von Leibniz ’Werken vorzubereiten 4 – Leibniz’ Sämtliche Schriften und Briefe – von der Preußischen 3F
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Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf der anläßlich von Heinrich Schepers 90. Geburtstag am 18./19. Februar 2016 in Hannover im Rahmen der Tagung: Aus Leibniz‘ Schublade – Nachlass und Edition gehalten habe, die von der Leibniz-Stiftungsprofessur, die Wenchao Li damals innehatte, veranstaltet worden war. Ich danke Jens Thiel für Hinweise und Zuspruch. So Ritters Auskünfte in einem „Personalfragebogen“ der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone“ von 1947; Berlin Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [ABBAW] Bestand PAW (1812–1945) II-IV156, unfoliiert. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 12 und Bl. 13. Seine Dissertation ist: Paul Ritter: Die Konvention von Reichenbach (27. Juli 1790), Berlin 1898. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, die Académie des sciences und die Académie des sciences morales et politiques hatten, nach einem Beschluss der Internationalen Union der Akademien, im April 1901 die Aufgabe übernommen, eine solche Ausgabe vorzubereiten. Zur Geschichte der Leibniz-Ausgabe vgl. die beiden von Wenchao Li (mit-)herausgegebenen Bände: Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012, und „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. von Wenchao Li und Hartmut Rudolph (= Studia Leibnitiana – Sonderheft 42), Stuttgart 2013; sowie: Emile Boutroux: Projet d’une édition internationale des oeuvres de Leibniz“, in: Journal des savants, NS 1, 1903, S. 172–179; Albert Heinekamp: L’état actuel de la recherche leibnizienne, in: Les études philosophiques, avril-juin 1989, S. 139-160, hier S. 141f.; Thomas Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der Otto Reichl Verlag 1909–1954, St. Goar 1994, S. 277–290; Hans Poser: Langzeitvorhaben in der Akademie. Die Geschichte der Leibniz-Edition zwischen Kaiserreich und geteiltem Deutschland, in: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Berliner Akademiegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert: Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hg. von Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Rainer Hohlfeld u.
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Akademie der Wissenschaften damit beauftragt, als Vorarbeit die bereits gedruckten Leibniz-Texte zu katalogisieren. 5 Nachdem die Aufgabe im September 1902 erledigt war, 6 verfasste Ritter einen Text, in dem er darlegte, wie bei der nun anstehenden Katalogisierung der Handschriften am besten vorzugehen sei, und sandte ihn Hermann Alexander Diels, dem Sekretär der philosophisch-historischen Klasse, der die Geschäfte der Leibniz-Kommission führte 7. Er schrieb dazu, einen „bestimmten Auftrag zu einer solchen Arbeit habe ich von keiner Seite erhalten […]“; 8 und: „nehmen Sie die ganze Arbeit nicht als ein fürwitziges Vordrängen, sondern nur als ein Zeichen des inneren Interesses auf, das ich für ein Unternehmen gewonnen habe, an dem ich mich bisher nur mit einer sehr äußerlichen Thätigkeit beteiligen durfte.“ 9 Nach einer Probe am Material 10 verbrachte eine Gruppe von insgesamt acht Männern 11 den größten Teil des Jahres 1903 damit, 12 die Hannoveraner Leibniz-Handschriften nach Ritters Plan 13 zu katalogisieren. 14 Offenbar überließ ihm die Leibniz-Kommission seither die praktische Leitung des Unternehmens.
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Peter Th. Walther (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 7), Berlin 1999, S. 375–389; Stefan Lorenz: „Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind“, in: Anette Sell (Hg.): Editionen – Wandel und Wirkung, Tübingen 2007, S. 65–92; hier S. 83–92; Hans Poser: Die Frühphase der Leibniz-Edition, in: Wenchao Li (Hg.): Komma und Kathedrale, S. 23–35; Stephan Waldhoff: Quellenkunde, in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick, hg. von Friedrich Beiderbeck, Wenchao Li u. Stephan Waldhoff, Stuttgart 2020, S. 29-165, hier S. 137–140. Kritischer Katalog der Leibniz-Handschriften. 1. Heft (1646–1672), im Verein mit Willy Kabitz, Albert Rivaud und Jules Sire bearbeitet von Paul Ritter, Berlin 1908, S. 3+. ABBAW Bestand PAW (1812-1945) II-VIII-172 Bl. 31 u. 49. Sie hatten auf 25.000 Zetteln in Oktav ungefähr 2200 Schriften und Notizen und 6100 Briefe erfasst; vgl. ABBAW PAW (1812–1945) II-VIII-173 Bl. 74. Vgl. Kritischer Katalog der Leibniz-Handschriften (wie Anm. 5), S. 3+; Boutroux: Projet d’une édition internationale (wie Anm. 4), S. 173. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-172 Bl. 41, Schreiben vom 30.9.1902. Ebd., Bl. 46, Schreiben vom 6.10.1902. Noch im Herbst 1902 reiste er zusammen mit Kabitz nach Hannover, um „die von mir in Aussicht genommene Methode für die Bearbeitung der Leibniz-Handschriften praktisch zu prüfen“; schon am 28. November 1702 konnte er feststellen, „daß diese Methode in der That durchgeführt werden kann, ja, daß ich sie mehr wie je für den einzigen möglichen Weg halte“; ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-172 Bl. 155. Ritter, Kabitz, Albert Rivaud, Louis Davillé, Maurice Halbwachs, Jules Sire, Wiese und Bernhard Groethuysen. Am 22. September baten Ritter und Kabitz um Verlängerung ihres Aufenthaltes bis zum 31. Oktober, um einen noch nicht erledigten Rest an Leibniz-Handschriften katalogisieren zu können; vgl. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-172 Bl. 375; ebd., II-VIII-173 Bl. 75. Vgl. Kritischer Katalog der Leibniz-Handschriften (wie Anm. 5), S. 3+. Nach einer von Kabitz, Ritter, Rivaud und Sire durchgeführten Überarbeitung in den Jahren 1904-1906 wurde ein Teil der Ergebnisse 1908 als Manuskript von der Hand Ritters vervielfältigt; Kritischer Katalog der Leibniz-Handschriften (wie Anm. 5), S. 4+.
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Am 7. Juli 1910 wurde er von der philosophisch-historischen Klasse zum wissenschaftlichen Beamten gewählt, 15 1913 zum Professor ernannt 16. Er leitete die akademische Leibniz-Ausgabe bis zu seiner eigentlichen Versetzung in den Ruhestand am 31. März 1937 17 und zwei Jahre darüber hinaus, bis er schließlich im Herbst 1939 durch Joseph Ehrenfried Hofmann abgelöst wurde. 18 Er starb am 6. August 1954 im Alter von 82 und wurde am 12. August auf dem Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde beigesetzt. 19 Bereits 1926 hatte er die Akademie-Ausgabe „mein Lebenswerk“ genannt. 20 Tatsächlich gäbe es die Leibniz-Edition ohne ihn gewiss nicht in dieser Form, und vielleicht gäbe es sie überhaupt nicht mehr. Er war nicht nur an der Konzeption der Ausgabe und der Ausarbeitung ihrer Editionsregeln maßgeblich beteiligt 21; ihre Arbeitsstellen profitieren auch bis heute von seinen Vorarbeiten, vor allem von dem ganz zu Recht nach ihm benannten Arbeitskatalog. Aber Ritter hat nicht nur Leibniz ediert. 1. Freundeskreis und Biographisches Wilhelm Dilthey (1833–1911) Ritter wurde 1898 „Hilfsarbeiter“ Wilhelm Diltheys 22 und erstellte nach dessen Tod 1911 zusammen mit Bernhard Groethuysen, einem anderen Mitarbeiter Diltheys
15 Die entsprechenden Bezüge sollte er rückwirkend ab dem 1.4.1910 erhalten; vgl. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 2. 16 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 18, Bl. 19. 17 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 97, Bl. 104. 18 Vgl. Carsten Klingemann: Leibniz-Forschung und die Preußische Akademie der Wissenschaften im Kontext der Nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik – Ein wissenschaftssoziologisches Modell, in: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 4), S. 15–39, hier S. 20; Jens Thiel: Leibniz-Tag, Leibniz-Medaille, Leibniz-Kommission, Leibniz-Ausgabe – die Preußische Akademie der Wissenschaften und ihr Ahnherr im „Dritten Reich“, in: Ebd., S. 41– 73, hier S. 60; Poser: Langzeitvorhaben (wie Anm. 4), S. 375–389, hier S. 385f. 19 Die Todesanzeige in: ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156, unfoliiert; vgl. Sigrid von der Schulenburg, Leibniz als Sprachforscher (= Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs, hg. von der Niedersächsischen Landesbibliothek, Bd. 4), Frankfurt am Main 1973, S. VII. Das (nicht mehr vorhandene) Grab befand sich (nach freundlicher Auskunft der Friedhofsverwaltung) in Abteilung 6, Nr. 410. 20 ABBAW NL Ritter 10, Bl. 7r°. Ein Abriss seiner Tätigkeit für die Leibniz-Ausgabe findet sich in: Paul Ritter: Gedanken zur Geschichte der Leibniz-Ausgabe 1901–1939, 7. Dezember 1939, Typoskript, in: ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-178, unfoliiert. 21 Sein Typoskript Technik der Leibniz-Ausgabe von 1925 legt auf 135 Seiten kleinteilige Regeln fest, die – trotz der nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommenen Änderungen (vgl. Kurt Müllers Vorwort zu A I, 5 von 1952) – zum Kanon der Ausgabe gehören. 22 Vgl. Wilhelm Dilthey: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes (= Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3), Leipzig/Berlin 1927, S. VII.
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und der Leibniz-Ausgabe 23, ein Inventar über Diltheys Nachlass 24, den er dann auch verwaltete 25 und sich mit anderen um die Herausgabe der Manuskripte kümmerte.26 1927 gab er selbst die Studien zur Geschichte des deutschen Geistes heraus, an denen er mit Dilthey zusammen gearbeitet und die Dilthey ihm mit folgenden Worten gewidmet hatte: Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, wäre nach dem Maß der verfügbaren Zeit und Kraft nicht lösbar gewesen ohne die Mitarbeit meines lieben Freundes Paul Ritter, welche dem Werke von seinen ersten Anfängen an zugute kam. 27
Da eine historisch-kritische Edition des Buches bis heute nicht vorliegt, lässt sich nicht genau sagen, welcher Art und welchen Umfangs Ritters Mitarbeit tatsächlich war. Seiner eigenen Beschreibung zufolge hat er Teile des Textes selbst verfasst und Dilthey dieselben dann nur noch „geprüft“ und gegebenenfalls „gebilligt“. 28 Auf das Bild, das dieses Werk von Leibniz zeichnet, werde ich zurückkommen. 27F
Heinrich Graf Yorck von Wartenburg (1861–1923) Spätestens bei seiner Arbeit mit Diltheys Nachlass muss Ritter Heinrich Graf Yorck von Wartenburg, den ältesten Sohn 29 von Diltheys Freund Paul Graf Yorck von Wartenburg (1835–1898), kennen gelernt haben. Denn Heinrich Yorck war Diltheys Testamentsvollstrecker und von Dilthey damit beauftragt, die „Ordnung und Herausgabe“ seiner Werke in die Wege zu leiten. 30 Er muss es also gewesen sein, der Ritter Diltheys Nachlass anvertraute. In seinem eigenen Testament setzte Heinrich Yorck Ritter dann auch als „Ratgeber für alle Publikationen aus seinem 23 Vgl. Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946) (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 91), Tübingen 2002, S. 136–148. 24 Vgl. Ritters Vorbemerkungen vom März 1812 zum Findbuch über den Nachlass Diltheys im Archiv der BBAW; seinen Brief an Misch vom 8. 10. 1913 (ABBAW NL Dilthey 345); Wilhelm Dilthey. Leben und Werk in Bildern, hg. von Guy van Kerckhoven, Hans-Ulrich Lessing u. Axel Ossenkop, Freiburg/ München 2008, S. 52. 25 Vgl. sein Ausleihbuch zu Dilthey-Manuskripten (ABBAW NL Dilthey 354); Petra Hoffmann: Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft. Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890–1945, Bielefeld 2011, S. 309. 26 Vgl. etwa den Briefwechsel betr. die Suche nach einem Bearbeiter von Diltheys Manuskripten über Schleiermacher von 1913 (ABBAW NL Dilthey 354). 27 Vgl. Dilthey: Studien (wie Anm. 22), S. VII. 28 So sagt er, er habe „alle Beiträge aus meiner Feder“ beiseitegelassen, „die Dilthey noch nicht geprüft und gebilligt hatte“ (ebd., S. VIII); er sagt weiter, der Band enthalte „keinen wesentlichen Gedanken oder Zusammenhang […], den ich nicht aus den Manuskripten Diltheys oder aus seinem Briefwechsel mit mir als von ihm herrührend oder von ihm gebilligt belegen könnte“ (ebd., S. X). 29 Vgl. die Stammtafel in: Günter Brakelmann: Peter Yorck von Wartenburg 1904–1944. Eine Biographie, München 2012, S. 314-315. 30 Vgl. Alfred Hillebrandt: „Heinrich Graf Yorck von Wartenburg“, in: Schlesische Lebensbilder, hg. von der Historischen Kommission für Schlesien, Bd. 2, Breslau 1926, S. 363-371, hier S. 365; Brakelmann: Peter Yorck von Wartenburg (wie Anm. 29), S. 27.
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Archiv, insbesondere aus dem Nachlaß seines Vaters“ ein. 31 Ritter spricht von ihm als von seinem „Freunde“. 32 Heinrich Yorck war Majoratsherr von Klein-Oels, von 1898 bis 1918 Mitglied des Preußischen Herrenhauses 33 und Vertreter der Deutschkonservativen Partei. 34 Paul Neugebauer, sein früherer Privatsekretär, 35 sagte über ihn: „was er auch tat oder sagte, alles war von heißer Liebe zu Preußen und seiner Heimat eingegeben“ 36; Joachim Ringelnatz, der sich 1913 um die Bibliothek in Klein-Oels kümmerte, befand, es fehle ihm an „Herz“; 37 nüchterner beschreibt ihn Werner Conze als einen „der reaktionärsten Männer der konservativen Partei“. 38 Am 30. März 1906 39 erklärte er vor dem Preußischen Herrenhaus, die französische Literatur des 18. Jahrhunderts sei als Lektüre für die Jugend nicht geeignet, denn „der naturwissenschaftliche Geist, der in dieser Literatur seinen Ausdruck gefunden hat,“ unterstütze die Prinzipien, „welche in der französischen Revolution so einflußreich gewesen sind“; und das „abstrakte mathematische Denken, angewendet auf das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens, wird stets das heranwachsende Geschlecht empfänglich machen für die leeren Ideale eines Staates, der nach den Grundsätzen der Gleichheit geregelt ist“, für „Materialismus und Radikalismus“. „Im Gegensatze zur Propaganda der Revolution“, so fuhr er fort, „ist die historische Schule entstanden“, deren Errungenschaften es zu verteidigen gelte: 31F
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Der Staat hat es aber durch seinen Einfluß auf die Jugendbildung in der Hand, mächtig dahin zu wirken, daß im Kampfe der Weltanschauungen die historische, auf den Geisteswissenschaften fundierte den Platz behält, daß die Kontinuität der nationalen auf dem Altertum basierten Geistesentwicklung gesichert wird. So werden die Sozialdemokratie und andere destruktive Mächte überwunden werden und nicht durch Nivellierung der Jugendbildung nach demokratischer Schablone! (Lebhaftes Bravo.) 31 Vgl. Karlfried Gründer: Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen, Göttingen 1970, S. 20. 32 Vgl. Dilthey: Studien (wie Anm. 22), S. VIII. 33 Vgl. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38 (= Acta Borussica. Neue Folge, 1. Reihe, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften); Bd. 11/2: 14. November 1918 bis 31. März 1925, bearbeitet von Gerhard Schulze, Hildesheim, Zürich, New York 2002, S. 731. 34 Vgl. Joachim Bohlmann: Die Deutschkonservative Partei am Ende des Kaiserreichs, Greifswald 2011 (online-Ressource, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:9-001206-4, zuletzt eingesehen am 30.7.2021), S. 92 u. S. 207. 35 Vgl. Joachim Ringelnatz: Mein Leben bis zum Kriege, Reinbek 1966 (64.-68. Tausend, August 1978), S. 240 u. S. 244. 36 Paul Neugebauer: Spaziergänge in und um Klein-Oels (= Schlesische Heimatbücher; Bd. 1). Ohlau 1924, S. 95; vgl. Brakelmann: Peter Yorck von Wartenburg (wie Anm. 29), S. 29. 37 Ringelnatz: Mein Leben (wie Anm. 35), S. 242; Hilmar Klute: War einmal ein Bumerang. Das Leben des Joachim Ringelnatz, Berlin 2015, S. 93. 38 Werner Conze: Polnische Nation und deutsche Politik im ersten Weltkrieg, Köln/Graz 1958, S. 205. 39 Vgl. den Abdruck in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses, Session 1905/06, Berlin 1906, S. 237-239. Es ging darum, zu verhindern, dass das Alt-Griechische zugunsten moderner Sprachen aus dem Lehrplan der Gymnasien gestrichen würde.
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Der Erste Weltkrieg brachte ihm die Gelegenheit, seine Prinzipien in die Tat umzusetzen. Laut Neugebauer war „die Verwaltung, die das deutsche Ostheer aufbaute, […] namentlich in ihren Anfängen“ ohne ihn „nicht denkbar“. 40 Deutschland hatte im September 1915 Litauen und angrenzende polnische und weißrussische Gebiete erobert. Das Gebiet wurde einer rein militärischen Verwaltung unterstellt und sollte später annektiert werden. 41 In diesem „Land des Oberbefehlshabers der gesamten deutschen Streitkräfte im Osten“ leitete Heinrich Yorck die Abteilung VII A und war damit für „die Organisation der Landbestellung, die Nutzbarmachung der landwirtschaftlichen Vorräte des Landes für das Heer und die Versorgung der Bevölkerung“ zuständig 42. Er war auch der Chef zweier Bezirke von „Ober Ost“: Wilna und Suwałki. 43 Die Verwaltung der deutschen Besatzungsmacht war geprägt von behördlich verordneten Hungerlöhnen, Zwangsarbeit, Konfiszierung von Lebensmitteln und Verhängung willkürlicher drakonischer Strafen. Bereits im Sommer 1916 herrschte unter der Bevölkerung „eine Bereitschaft zum Verzweiflungsaufstand“. 44 Kurz nachdem Heinrich Yorck sein Amt in „Ober Ost“ aufgegeben hatte, sagte er am 9. März 1917 vor dem Herrenhaus: 45 „Die Hauptsache ist: die Freiheit im deutschen Sinne besteht nicht in der Selbstregierung durch die Masse. […] Das Amt der Volksvertreter soll bei uns Pflicht sein, nicht Befugnis eines Magistratus, die gegründet wäre auf die Idee der Repräsentation, die ihrerseits auf der Fiktion beruht, daß die Menschen gleich seien.“ Denn 43F
wenn wir dazu kämen, den westeuropäischen Freiheitsbegriff uns zu eigen zu machen […] dann wäre es in der Tat zu Ende mit dem preußischen Militarismus und zu Ende mit der Möglichkeit, die Volkskraft wie bisher zu nützen und den Rankeschen Gedanken zu verwirklichen, daß die Essenz des Staates die Macht nach außen sei. 46
40 Neugebauer: Spaziergänge (wie Anm. 36), S. 94. 41 Abba Strazhas: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost 1915–1917 (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München. Reihe: Geschichte; Bd. 61), Wiesbaden 1993, S. 108; Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918 (= Studien zur historischen Migrationsforschung; Bd. 25), Paderborn/München/Wien/Zürich 2012, passim. 42 Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg 2018, S. 82; Das Land Ober Ost, hg. im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost, Stuttgart/Berlin 1917, S. 87; Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 154. 43 Strazhas: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 41), S. 154, 157, 230; Hillebrandt: Heinrich Graf Yorck von Wartenburg (wie Anm. 30), S. 365. 44 Strazhas: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 41), S. 38-42 und überall. 45 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses, Session 1916/18, Berlin 1918, Sp. 347–356. Diese Rede ist auch abgedruckt in: Heinrich Graf York von Wartenburg: Vaterländische Sorgen. Zwei Reden und ein Brief, Berlin [1917], S. 19–31. Zu dieser Rede bemerkt Strazhas (a. a. O. S. 154f.): „Gewiß rief die Rede des Grafen, an dem die ganzen gewaltigen Geschehnisse des Weltkrieges […] spurlos vorübergegangen waren, einen Abscheu in ausgedehnten Kreisen der liberal und demokratisch denkenden Persönlichkeiten des deutschen Parlamentarismus bis hin zu vielen National-Liberalen hervor“. 46 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses, Session 1916/18, Berlin 1918, Sp. 347–356, hier Sp. 356. In derselben Rede forderte er, den Krieg bis
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Am 31. Oktober 1918, zwei Wochen vor seiner Auflösung, nahm das Herrenhaus einen Antrag Yorcks an, dem „angestammten Herrscherhause“ demonstrativ die Treue zu bezeugen. 47 Der 9. November 1918, an dem die Republik ausgerufen wurde, war für ihn und seinesgleichen freilich „ein traumatisches Datum“. 48 47F
Dienst im Ersten Weltkrieg Ritter selbst war bei Beginn des Ersten Weltkriegs 42 Jahre alt. Er stellte sich im Sommer 1914 freiwillig der Verwaltung Berlin-Friedenaus, wo er seit spätestens 1913 – zunächst in der Hertelstraße 3, ab 1914 oder 1915 dann in der Mainauer Straße 8 – wohnte, 49 zur Verfügung, um in der dortigen Steuerverwaltung, neben seiner Arbeit für die Leibniz-Ausgabe, „täglich einige Stunden Dienst“ zu tun.50 Später erwog er auch, zu seinem Freund in „Ober Ost“ zu gehen. Am 16. März 1915 aber schrieb er: ich gehe nicht zum Grafen Yorck, sondern bleibe in Berlin. Den Ausschlag giebt eben die Sorge um das Leibniz-Werk. […] Die Akademie oder vielmehr die Herren, die nacheinander das Werk vertreten haben […], haben mir dasselbe mit einem so schrankenlosen Vertrauen überlassen, daß ich über die Pflicht, die mir daraus erwachsen ist, nicht hinwegkann. 51
Am 25. Mai 1915 wurde Ritter gemustert, „mit dem Ergebnis, daß ich nicht etwa in ein Armirungsbataillon oder dergl. gerate, sondern unmittelbar zur Infanterie komme“. Er wollte nicht für unabkömmlich reklamiert werden, regte aber an, die Akademie möge den Wunsch äußern, „daß ich in Berlin ausgebildet und vielleicht auch noch später eine Zeitlang verwendet würde, so daß ich die meiner Leitung anvertrauten Arbeiten der Akademie einigermaßen überwachen, oder doch für die Akademie möglichst lange erreichbar bleiben könnte“. 52 Auf eine entsprechende Bitte der Akademie 53 hin wurde er bis zum 1. Oktober 1915 zurückgestellt. 54 1916, in Leibniz’ 200. Todesjahr, hielt er eine Festrede mit dem Titel Leibniz und die deutsche Kultur im Hannoveraner Rathaus, 55 die dann sowohl in der vom Historischen Verein für Niedersachsen, der die Feier veranstaltet hatte, publizierten 51F
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zu einem Sieg fortzusetzen; erst dann könne ein Friede geschlossen werden, „der uns diejenigen Lebensbedingungen und diejenige Machtsteigerung – denn die brauchen wir – (Wiederholtes Bravo) sichert, deren das Vaterland bedarf“ (ebd., Sp. 349; vgl. Sp. 1049–1051). Vgl. ebd., Sp. 1275–1278. Detlef Graf von Schwerin: „Dann sind's die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im deutschen Widerstand, München/Zürich 1991, S. 24. ABBAW Nachlass Ritter 10 Bl. 1, ebd. Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 21, Bl. 22. 1910 hatte er noch in Friedrichshagen gewohnt (ebd., Bl. 5). ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 21. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-174 Bl. 184. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-174 Bl. 193. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 22-23. ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 24; ebd. II-VIII-174 Schreiben vom 1915 VIII 26. ABBAW Bestand PAW II-VIII-179, Bl. 155-156, hier Bl. 155v.
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Festschrift 56 also auch in der Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen gedruckt wurde. 57Außerdem publizierte er bei Reclam eine Übersetzung von Leibniz’ Mars Christianissimus 58 und in der von der Bahlsen Keksfabrik herausgegebenen Leibniz-Feldpost einen Artikel mit dem Titel Leibniz als Deutscher 59. Tatsächlich eingezogen wurde er am 2. Januar 1917. Von März bis Mai 1917 war er als Gefreiter in Galizien an der Front, danach bis Mai 1918 in der Etappe in Wilna, 60 wo er er „wissenschaftliche Vorlesungen“, 61 zwischen 3. und 14. Dezember 1917 acht Vorträge über Leibniz, hielt. 62 Auch wenn Heinrich Yorck dem Bezirk Wilna nicht mehr vorstand, dürfte Ritter nicht zufällig ausgerechnet dorthin gekommen sein. Am 30. April 1918 richtete die Akademie, die daran schon im März 1917 gedacht hatte, 63 ein Gesuch an das Stellvertretende Generalkommando des III. Armeekorps, Ritter bis auf weiteres vom Kriegsdienst freizustellen. Darin hieß es: 64 61F
Professor Ritter ist seit Jahren der Redakteur der in der Ausführung begriffenen Gesamtausgabe der Schriftwerke von Leibniz. Er hat die kaum übersehbare Fülle von Vorarbeiten für diese Ausgabe von Anfang an fast allein geleitet, durch seinen Eintritt in das Heer sind die weiteren Vorbereitungen ganz zum Stillstand gekommen. Die Leibnizausgabe, eine wissenschaftliche Aufgabe von der größten Bedeutung, sollte ursprünglich von der Berliner Akademie gemeinsam mit zwei Pariser Akademien besorgt werden. Dieser gemeinsamen Arbeit hat der Krieg ein Ende gemacht. Um so dringender erwächst unserer Akademie die nationale Ehrenpflicht, das große Werk nunmehr allein würdig zu vollenden, wie das dem Gedächtnis des großen deutschen Gelehrten und dem Ansehen der deutschen Wissenschaft entspricht.
Ritter wurde daraufhin aus dem Kriegsdienst entlassen. 65 Mitte Mai 1918 nahm er seine wissenschaftliche Arbeit an der Akademie wieder auf. 66 Für seine Leistungen 56 Leibniz. Zum Gedächtnis s. zweihundertjährigen Todestages, Hannover 1916, S. 1–37. 57 Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen. 81. Jahrgang, 1916, Heft 3, S. 165– 201. 58 Der Allerchristlichste Kriegsgott. Eine Spottschrift wider alle Verächter des Völkerrechts aus dem Jahre 1683, übersetzt und eingeleitet von Paul Ritter (= Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 5881), Leipzig [1916]. 59 Leibniz-Feldpost, Nr. 47, 14. November 1916; vgl. zu dieser Publikation Joachim S. Heise: Für Firma, Gott und Vaterland. Betriebliche Kriegszeitschriften im Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Hannover (= Hannoversche Studien, Schriftenreihe des Stadtarchivs Hannover; Bd. 9), Hannover 2000, S. 397f. u. passim; vgl. auch Gerd van den Heuvel: Leibniz als Jubilar. Das Leibnizbild des 19. und 20. Jahrhunderts im Spiegel von Gedenktagen (1846–1946), in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge, Bd. 51, 1997, S. 313–334, hier S. 323. 60 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 55; vgl. auch Ritters Eintragungen in einen Fragebogen der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone (ebd., unfoliiert). 61 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 30. 62 Die Vorlesungsskripte finden sich in: ABBAW NL Ritter 15. 63 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 27. 64 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 39; vgl. Bl. 37, Bl. 38. 65 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 40, Bl. 41, Bl. 45. 66 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 42.
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als Soldat wurde er mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet - beides keine hohen Ehrungen. 67 Sigrid Hedwig Helene von der Schulenburg (18.7.1885–1943) 1921 lernte Ritter Gräfin Sigrid Hedwig Helene von der Schulenburg 68 kennen,69 die Tochter des Freien Standesherrn auf Lieberose Dietrich Friedrich Joachim Graf von der Schulenburg (1849–1911) und seiner Frau Hedwig, geb. Gräfin von Saldern (1854-1944). 70 Auf Vermittlung Ritters lud Heinrich Yorck sie zu Studien über Dilthey nach Klein-Oels ein, 71 wo sie an einer Ausgabe des Briefwechsels zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg arbeitete, die 1923 erscheinen sollte. 1927 folgte Paul Yorcks Italienisches Tagebuch in ihrer Edition. 72 Dass sie sich bei ihrer Arbeit mit den Manuskripten in Klein-Oels mit Ritter abstimmen musste, war ihr nur recht. Sie schrieb: „Es ist das der Mann, mit dem ich in dieser Sache am liebsten zusammenarbeite und dem sich auch alle Mitglieder der Yorckschen Familie mit der größten Bereitschaft fügen werden.“ 73 Am 14. Oktober 1926 heirateten die beiden. 74 Sie war damals 41, Ritter, der schon vor dem Ersten Weltkrieg einmal verheiratet gewesen war 75, 54. Zwischen 67 „Personalfragebogen“ der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone“ in: ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156, unfoliiert. 68 Sigrid trat zwischen April und Juni 1915 als „Stud. phil. Sigrid Gräfin von der Schulenburg, Berlin-Halensee, Trabenerstr. 9“ der Kantgesellschaft bei (vgl. Kant-Studien, Bd. 20, 1915, Heft 2-3, S. 345). 1920 wurde sie in Freiburg promoviert. Der Titel ihrer Dissertation lautet: Dichtung und dichterisches Bewußtsein Ricarda Huchs erläutert an ihrem Jugendroman „Ludolf Ursleu. Ein Durchschlag dieser Arbeit findet sich in Bonn Universitäts- und Landesbibliothek NL Rothacker XVII, Mappe 6. Gutachter waren Franz Schultz und Philipp Witkop, Husserl schrieb ein Koreferat (Edmund Husserl: Briefwechsel, Bd. VIII: Institutionelle Schreiben, hg. von Karl Schumann, Dordrecht/Boston/London 1994, S. 167f.). 1920 trat sie der Gesellschaft für deutsche Literatur bei, vor der sie am 16. Februar 1921 einen Vortrag über „Literaturwissenschaftliche Methode, besonders in ihrer Anwendung auf Fontane“ hielt; vgl. HansHarald Müller, Mirko Nottscheid: Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1888-1938) (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 70 [304]), Berlin/Boston 2011, S. 126, 191f., 373, 464. 69 Vgl. Gründer: Zur Philosophie (wie Anm. 31), S. 17–22; Wilhelm Dilthey. Leben und Werk in Bildern (wie Anm. 24), S. 53; vgl. auch Hoffmann: Weibliche Arbeitswelten (wie Anm. 25), S. 309f. u. 313–315. 70 Vgl. Dietrich Werner Graf von der Schulenburg: Geschichte des Geschlechts von der Schulenburg 1237–1983, Wolfsburg 1984, S. 312–314. 71 Vgl. Gründer: Zur Philosophie (wie Anm. 31), S. 17; Neugebauer: Spaziergänge (wie Anm. 36), S. 81. 72 Paul Yorck von Wartenburg: Italienisches Tagebuch, Darmstadt 1927. 73 Schreiben an Erich Rothacker vom 21.5.1923, zitiert nach Gründer: Zur Philosophie (wie Anm. 31), S. 20. 74 ABBAW Bestand PAW (1812-1945) II-IV-156 Bl. 59, vgl. Bl. 94. 75 Nämlich mindestens zwischen 1910 und 1913; vgl. ABBAW Bestand PAW (1812-1945) IIIV-156 Bl. 6 u. Bl. 17.
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1929 und 1939 76 entstand 77 ihr bis heute wichtiges Werk über Leibniz als Sprachforscher, das erst 1973, redigiert von ihrem Mann, erschien. 78 Im Zweiten Weltkrieg hielt sie sich mit Ritter längere Zeit in Klein-Oels auf, wo er an einer LeibnizBiographie arbeitete und sie wahrscheinlich weitere Veröffentlichungen aus dem Nachlass Yorcks vorbereitete. 79 Sie starb dort, 58 Jahre alt und kinderlos, am 11. Oktober 1943. 80 Ritter war gewiss beim Tod seiner Frau im Oktober 1943 in Klein-Oels und kam Ende Januar 1945 von dort nach Berlin zurück. 81 Ob er sich in der gesamten Zwischenzeit dort aufgehalten hat, ließ sich nicht ermitteln. Deutschnationale Volkspartei Kurz nach dem 2. Weltkrieg, am 17. August 1945 schrieb Ritter an Johannes Stroux, den neuen Präsidenten der Akademie: „Ich brauche nicht zu betonen, daß ich mich von der Geistverwirrrung des Nationalsozialismus ausgesprochen fern gehalten habe“; 82 und in einem Fragebogen der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone“ beschrieb er seine politische Gesinnung als „demokratisch“. 83 Tatsächlich waren er und seine Frau nie Mitglieder der NSDAP, 84 aber ein Demokrat war Ritter keineswegs. Der nationalsozialistischen Verwaltung gegenüber hatte er am 30. Juni 1933 erklärt: 82F
76 Außerdem gab sie heraus: Briefe Wilhelm Diltheys an Bernhard und Luise Scholz 1859–1864, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1933, Philosophisch-historische Klasse, S. 416–471. 77 Kurt Müller schreibt, die Arbeit sei „angeregt von Gedanken Wilhelm Diltheys, im geistigen und persönlichen Austausch mit den Grafen Paul und seinem Sohn Heinrich“ entstanden (Schulenburg: Leibniz als Sprachforscher [wie Anm. 19], S. VII). Alle diese Personen waren 1929 (auf welches Jahr er selbst den Beginn der Arbeit datiert) bereits tot. 78 Schulenburg: Leibniz als Sprachforscher (wie Anm. 19), S. IX. 79 Das Italienische Tagebuch sollte nur der Anfang einer größeren Ausgabe der Werke des Grafen Yorck von Wartenburg sein (vgl. Paul Yorck von Wartenburg: Italienisches Tagebuch, Darmstadt 1927, S. XVII). 80 Vgl. Schulenburg: Geschichte (wie Anm. 70), S. 312–314; Schulenburg, Leibniz als Sprachforscher (wie Anm. 19), S. VIII; „Personalfragebogen“ der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone“; ABBAW Bestand PAW (1812–1945) IIIV-156, unfoliiert. 81 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156; Schreiben vom 7.4.1945 (Ritter an Scheel) und vom 11.4.1945 (Scheel an Ritter). 82 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156, unfoliiert. 83 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156, unfoliiert. 84 Laut freundlicher Auskunft des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde gibt es zu beiden keinen Eintrag in der NSDAP-Mitgliederkartei.
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Was die politischen Parteien angeht, so bin ich als alter deutsch-Konservativer der deutschnationalen Volkspartei sogleich oder bald nach ihrer Gründung im Jahr 1919 beigetreten und haben mich bis zu ihrer Auflösung zu ihr gehalten. 85
Er war im Kaiserreich also (wie sein Freund Heinrich Yorck) Anhänger der Deutschkonservativen Partei gewesen, und in der Weimarer Republik Mitglied ihrer Nachfolgepartei, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) geworden; diese Partei stand der NSDAP keineswegs „ausgesprochen fern“, sondern vielmehr ausgesprochen nah 86, nämlich am äußersten rechten Rand des Parteienspektrums. Sie war keinesfalls „demokratisch“, sondern im Gegenteil extrem antirepublikanisch und nationalistisch. Nach ihrer Auflösung schlossen sich ihre Reichstagsabgeordneten der NSDAP-Fraktion an, mit der sie bereits zuvor koaliert hatten. Paul Yorck von Wartenburg (1902–2002) Der älteste Sohn und Erbe Heinrich Yorcks war Paul. Ritter stand mit ihm, wie es scheint, in enger, vielleicht freundschaftlicher Beziehung. 87 Er trat am 1. Mai 1932 in die NSDAP ein, 88 machte Klein-Oels zu einem Treffpunkt der schlesischen Parteiprominenz und nannte Hitler ein „Genie“. 89 Allerdings erklärte er schon nach dem Röhm-Putsch (im Sommer 1934) seinen Austritt aus Partei und SA 90. Einer seiner Brüder, Peter (1904–1944), war führendes Mitglied des Kreisauer Kreises und beteiligte sich an dem misslungenen Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Er wurde am 8. August 1944 hingerichtet. Einen Tag später wurde Paul, der im Januar 1943 verwundet von der Ostfront zurückgekehrt war, obwohl er nicht an dem Attentatsversuch beteiligt gewesen war, verhaftet und enteignet und kam erst am 23. April 1945 wieder frei, als die Rote Armee das Konzentrationslager Sachsenhausen befreite. 91 Kurz darauf nahm er an der Gründung der CDU teil. Später arbeitete er für Einrichtungen der Kirche und leitete ab 1953 ungefähr zehn Jahre lang das bundesdeutsche Konsulat in Lyon. 89F
85 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156 Bl. 74; allerdings fügte er hinzu: „Ich muß allerdings bemerken, daß ich regelmäßige Jahresbeiträge nur anfangs gezahlt und später lieber einmalige Zuwendungen gemacht habe, so daß ich nicht weiß, ob ich in den Listen der Partei immer als Mitglied weitergeführt worden bin.“ 86 Zu ihr vgl. zum Beispiel Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 121–124 und passim. 87 Darauf deutet jedenfalls der vertrauliche Ton seiner Briefe an Ritter hin (ABBAW NL Ritter 3). 88 Seine Mitglieds-Nr. war 1192003 (vgl. den Eintrag in der NSDAP-Mitgliederkartei; Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde NSDAP-Gaukartei BArch R 9361-IX KARTEI / 46980811). 89 Schwerin: „Dann sind's die besten Köpfe, die man henkt“ (wie Anm. 48), S. 73f. 90 Brakelmann: Peter Yorck von Wartenburg (wie Anm. 29), S. 240. 91 Ebd., S. 273f.; vgl. Schwerin: „Dann sind's die besten Köpfe, die man henkt“ (wie Anm. 48), S. 429f.
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Vor allem dank seines Bruders gilt Paul als „Widerstandskämpfer“ 92. Dennoch waren seine politischen Anschauungen in bestimmten zentralen Punkten keine anderen als die seines Vaters. 1966, sechzig Jahre, nachdem Heinrich Yorck vor dem Preußischen Herrenhaus davor gewarnt hatte, das „abstrakte mathematische Denken“ „auf das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens“ anzuwenden, prangerte Paul in einem Text über „Das christliche Gewissen und die Verschwörung des 20. Juli 1944“ die „Knebelung der Seele durch den Verstand, die Versachlichung der Welt, welche aus der Einseitigkeit, aus der ‚Selbstbescheidung’ naturwissenschaftlichen Denkens folgt“ an. 93 Wie Heinrich gegen die „leeren Ideale eines Staates, der nach den Grundsätzen der Gleichheit geregelt ist“ gepoltert hatte, so polemisierte Paul gegen das „abstrakte Menschenbild der Demokratie“, den „Rechtspositivismus, die Verallgemeinerung des wertfreien Denkens, die Unmenschlichkeit der Technik“, denn: „sie alle fordern den totalen Staat als ihr Korrelat, sie ignorieren den sittlichen Wert, sie versachlichen jedes Lebewesen“. 94 So wie der Vater die „historische Schule“ als Gegengift gegen die „Propaganda der Revolution“ gepriesen hatte, so verspricht der Sohn sich und der Gesellschaft das Heil davon, die geschichtliche Dimension zu ihrem Recht kommen zu lassen: 95 93F
94F
Der Konservative sieht sich durch den Nationalsozialismus in seiner Leitidee bestätigt, daß ein Volk nicht die Summe der lebenden Individuen gleicher Sprache sei, als welche Liberalismus und Marxismus es begreifen, sondern ein lebendiger Organismus, der die Geschichte zu einer Daseinsdimensions hat.
Anders als noch vor dem Zweiten Weltkrieg steht der Feind jetzt nicht mehr nur links, sondern auch rechts. Denn auch die NSDAP ist dem Adligen zu demokratisch: 96 Über solcher Übereinstimmung übersieht er freilich, daß ihm der Nationalsozialismus in der Bewertung der Person als Glied des Volkes nicht folgt, die für ihn von höchstem Range ist, für den Nationalsozialismus aber zu dem abstrakten, isolierten Einzelwesen wird, als welches die moderne Demokratie den Staatsbürger ansieht.
Der Vertreter der Kirche und der Bundesrepublik Deutschland setzt die Propaganda des Mitglieds des Preußischen Herrenhauses gegen „Materialismus und Radikalismus“ schlicht als Propaganda gegen „Liberalismus und Marxismus“ fort. Ihr Kernstück – die Ansicht, die Demokratie erniedrige die Individuen zu „abstrakten, isolierten Einzelwesen“, hat die beiden Weltkriege unbeschadet überstanden. Was 1916 noch offen als Waffe im Krieg gegen Frankreich und Rußland eingesetzt
92 Zum Beispiel in dem ihm gewidmeten Eintrag der Wikipedia (zuletzt eingesehen am 28.11.2020). 93 Paul Graf Yorck von Wartenburg: Besinnung und Entscheidung – Fragen an die Gegenwart. Aufsätze und Vorträge. Stuttgart 1971, S. 98–113, hier S. 101. 94 Ebd., S. 102. 95 Ebd., S. 98f. 96 Ebd. Zu einer ähnlichen Denkfigur bei Kurt Huber vgl. Dominic Kaegi: „Als hinge von dir ab das Schicksal der deutschen Dinge“ – Zur Leibniz-Rezeption bei Kurt Huber, in: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 4), S. 151–169, hier S. 154.
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wurde, klingt nun natürlich, als Verteidungsrede gegen den „totalen Staat“, aus dem Mund eines NS-Opfers, etwas humaner. Neben seiner beruflichen akademischen Umgebung gehört Ritter privat einem Milieu um den preußischen Adel und die DNVP an. Dieses Milieu wies erhebliche Schnittmengen mit und fließende Übergänge zur NSDAP auf und arbeitete teilweise eng mit ihr zusammen. Stephan Malinowski fasst die Differenzen, die der deutsche Adel mit der NSDAP hatte, (u. a.) unter den Stichwörtern „Monarchismus vs. Führerstaat“, „Großgrundbesitz vs. Nationalsozialismus“ und „Herrentum vs. Volksgemeinschaft“ zusammen. 97 Deutlich schwerer als das Trennende aber wogen die Gemeinsamkeiten: Die erdrückende Mehrheit des Adels war völlig einverstanden mit dem aggressiven Nationalismus der NSDAP und ihrem Hass auf „Republik, Demokratie, Parlamentarismus, Parteienstaat, Liberalismus, Judentum, Sozialismus und Bolschewismus“. 98 Auch wenn Ritters Behauptung, er habe sich von der NSDAP „ausgesprochen fern gehalten“, persönlich dadurch motiviert gewesen sein könnte, dass einer seiner Bekannten im Zuge der Verfolgung des national-konservativen Widerstands zu leiden hatte, ist sie politisch allenfalls im Sinne der genannten adligen Kritik am Nationalsozialismus zu verstehen. Denn Duldung und Anerkennung hat sich der Sohn eines Schusters in diesem adligen Milieu offensichtlich nicht zuletzt dadurch erworben, dass er in der Lage war, das adlig-konservative Weltbild theoretisch zu fundieren und ihm – nicht zuletzt durch eine bestimmte Interpretation von Leibniz – eine ehrwürdige Tradition zu verschaffen; ich werde im 3. Abschnitt darauf zurückkommen. 97F
2. Größere literarische Vorhaben Leibniz-Biographie 1913 schloss Ritter mit der Verlagsbuchhandlung von Georg Reimer, die auch die Leibniz-Ausgabe verlegen sollte, einen Vertrag über die Abfassung einer LeibnizBiographie, die zu Leibniz’ 200. Todestag, 1916 erscheinen sollte. 99 Schon 1914 aber trat Ritter von dem Vertrag zurück, weil er die Aufgabe unterschätzt hatte. Von dem Vertrag sollte aber, laut einem Schreiben des Verlags vom 23. Mai 1914, „die Absicht beider Parteien erhalten werden“, das Werk „zu gegebener Zeit zu schaffen und zu vervielfältigen; daß dagegen sowohl der Zeitpunkt des Erscheinens wie die sonstigen Bedingungen einer neuen späteren Verständigung vorbehalten bleiben sollten.“ 100 97 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004, S. 504–552. 98 Ebd., S. 477; vgl. Schwerin: „Dann sind's die besten Köpfe, die man henkt“ (wie Anm. 48), S. 23–25 und passim. 99 ABBAW NL Ritter 10 Bl. 1. 100 ABBAW NL Ritter 10 Bl. 2-3.
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1926 kam der De Gruyter-Verlag (als Rechtsnachfolger Reimers) – in der Annahme, „dass Sie mit der Ausarbeitung des Manuskripts inzwischen nahezu fertig geworden sind“ – auf Ritter zu, und verlangte zu erfahren, wann er es einliefern werde. 101 Daran schloss sich ein längerer Briefwechsel an, in dem der Verlag hartnäckig behauptete, die in dem Vertrag von 1913 entstandenen Rechte an einer Biographie bestünden fort, während Ritter das genauso hartnäckig leugnete und sich auch nicht bereit zeigte, einen neuen Vertrag einzugehen. 102 Der Verlag übergab die Angelegenheit schließlich im Juni 1927 einem Rechtsanwalt 103, wie es aussieht ohne Erfolg. Auch Otto Reichl, in dessen Verlag die ersten Bände der Akademie-Ausgabe erschienen 104 und der 1927 das von Ritters Frau edierte Italienische Tagebuch Paul Yorcks herausbrachte, versuchte um 1927, die Rechte an einer von Ritter verfassten Biographie zu erlangen. 105 Ritter lehnte aber ab, denn er habe aus der „Erfahrung mit dem Hause de Gruyter ein für allemal die Lehre gezogen […], daß man sich nicht zu einem Verlagsvertrage überreden lassen soll, bevor man das Buch fertig hat.“ 106 Nachdem die Leibniz-Kommission im November 1939, veranlasst durch ein Schreiben des Ministers Rust, aufgelöst und Hofmann die Leitung der Arbeitsstelle übernommen hatte, 107 richtete der somit entlassene Ritter am 23. November 1939 ein Schreiben an den Direktor der Akademie Helmuth Scheel, in dem er einige Punkte ansprach, über die er sich nach der für ihn unerfreulich verlaufenen Amtsenthebung aussprechen wollte. 108 Er schrieb darin auch: Als eine besondere Ehre würde ich es zu schätzen wissen, wenn mir die Akademie, wie Sie gestern andeuteten, die Abfassung einer Leibniz-Biographie übertragen wollte. Ich habe ja schon lange still für ein solches Werk gesammelt, auch das eine und andere schon niedergeschrieben, und mir immer gedacht, daß ich damit bis zu Leibnizens 300jährigen Geburtstage (1946) zu stande kommen müsse. Im Auftrage der Akademie könnte ich das Werk natürlich viel besser leisten und auch für den Fall, daß ich vor der Zeit die Feder niederlegen müßte, sicher sein, daß meine Arbeit den rechten Fortsetzer fände.
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ABBAW NL Ritter 10 Bl. 4. ABBAW NL Ritter 10 Bl. 6–20. ABBAW NL Ritter 10 Bl. 29, 30, 31, 32. Nämlich die Bände A I, 1 (1923), A II, 1 (1926), A I, 2 (1927), A VI, 1 (1930) und A IV, 1 (1931); zu Reichl vgl. auch George Leaman: Offering Leibniz to Hitler. Otto Reichl and the Leibniz Ausgabe, in: „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 4), S. 75–86. Der Entwurf eines Vertrags vom 27.5.1927 findet sich in: ABBAW NL Ritter 10 Bl. 33-36. ABBAW NL Ritter 10 Bl. 50. Vgl. Menso Folkerts: Die Leibniz-Edition zwischen Wissenschaft und Politik. Zur Geschichte der mathematisch-naturwissenschaftlichen Reihen, in: Kosmos und Zahl. Beiträge zur Mathematik- und Astronomiegeschichte, zu Alexander von Humboldt und Leibniz, hg. von Hartmut Hecht, Regina Mikosch, Ingo Schwarz, Harald Siebert u. Romy Werther (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften; Bd. 58), Stuttgart 2008, S. 23–45, hier S. 34–36. ABBAW Bestand PAW (1812-1945) II-VIII-178, unfoliiert.
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Nach einigen offenbar gescheiterten Verhandlungen mit der Akademie im Jahr 1940 109, beriet die Leibniz-Kommission bei ihrer Sitzung am 16. April 1942 erneut „die Frage einer Leibniz-Biographie für das Jahr 1946“. Man beschloss, Verhandlungen mit Ritter aufzunehmen, „um dessen wertvolle stenographische Notizen zu sichern und ihn gegebenenfalls zur endgültigen Übernahme einer Leibniz-Biographie zu veranlassen“. 110 Auf eine entsprechende Anfrage Scheels vom 9. Mai 1942 antwortete Ritter am 13. Mai: 109F
Ich würde es nach wie vor als eine besondere Auszeichnung zu würdigen wissen, wenn mir der Herr Präsident für die Leibniz-Biographie, die ich vor vielen Jahren in Angriff genommen habe, einen förmlichen Auftrag erteilen wollte. Auch hoffe ich das Werk, wenn ich, wie ich denke, gesund bleibe, bis zum Anfang des Jahres 1945 oder doch spätestens bis zum 1. Juli 1945 fertig zu stellen.
Nachdem am 15. Juni 1942 ein Vertrag geschlossen worden war, berichtete Ritter am 7. Januar 1944 dem Präsidenten über den Stand seiner Arbeiten. Er habe „bisher nur die Einleitung und die beiden ersten Kapitel (zusammen 5-6 Druckbogen) endgültig abgeschlossen“ und sehe „keine Aussicht […] meine Aufgabe in dem ursprünglichen Sinne und Umfange zu lösen“. Der entscheidende Grund dafür, dass „meine Hoffnungen gescheitert sind“ sei, dass er keinen Zugang zu den in seiner Dienstzeit angefertigten Aufzeichnungen hatte. Sie waren in der Akademie verblieben, und 1942 waren „bis auf die Zettelkataloge alle Materialien der Leibniz-Ausgabe an einen entlegenen Ort in Sicherheit gebracht“ worden, „insbesondere auch die Massen unserer alten Auszüge und Untersuchungen, die zunächst nur für mich bestimmt und darum auch gewiß stenographirt waren“. Ein weiterer Grund war der Tod seiner Frau und die Beschädigung seiner Wohnung „durch Feindeinwirkung“. 111 Einen weiteren Rückschlag erlitten seine Arbeiten im Januar 1945. Er schrieb am 17. August 1945 an Stroux: 10F
Meine eigenen umfangreichen Materialien und Entwürfe aber und dazu den besten Teil meiner unvergleichlichen Leibniz-Bibliothek habe ich im Januar d.J. (1945), als ich ein gastliches Haus in Schlesien" [in Klein-Oels; S.L.] vor dem hereinbrechenden Feind verlassen mußte, dort für immer verloren. Ich arbeite gleichwohl weiter. Nur daß ich jetzt noch einmal von vorn anfangen muß und deshalb nicht weiß, ob ich das Werk noch vollenden oder nur einen mehr oder minder erheblichen Teil davon hinterlassen werde. 112
Im Februar 1946 besuchte Stroux Ritter, um sich nach dem Stand der Biographie zu erkundigen. Er berichtete: 113
109 ABBAW NL Ritter 10 Bl. 38–61. 110 ABBAW Bestand PAW II-VIII-179 Bl. 62; vgl. auch PAW II-VIII-176, Vahlen an von Staa am 17.4.1942; unfoliiert. 111 ABBAW Bestand PAW II-VIII-179 Bl. 131–132. 112 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-IV-156, Ritter an Stroux am 17.8.1945, unfoliiert; vgl. ebd., Scheel an Ritter am 11.4.1945, unfoliiert. 113 ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-179 Bl. 145.
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Stefan Luckscheiter Ritter leidet an beginnendem Star und kann kaum arbeiten. […] Ritter verfügt überdies über keine Geldmittel mehr und muss sich seinen gesamten Haushalt selbst besorgen. Er ist zweifellos in grosser Not […] hat 4 Kapitel fertiggestellt […] Ich möchte vorschlagen ihm 600 RM Honorar zu bewilligen, damit er der gröbsten Not enthoben ist. Weiter möchte ich vorschlagen, dass ihm aus Beständen der Akademie 2 Scheiben für sein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt werden, damit die Fenster verglast werden können.
Ritter sollte daraufhin im April 1947 den Auftrag erhalten, „für die Abfassung einer wissenschaftlichen Leibnizbiographie die ihm noch verbliebenen Materialien auszuwerten und in der Form biographischer Aufsätze einzelne Epochen aus Leibniz’ Leben in druckfertiger Form darzustellen.“ 114 Ritter bemerkte dazu, dass bereits zwei Kapitel fertig seien und von den zwölf übrigen vorgeschlagenen sechs „in den nächsten zwei Jahren mit Sicherheit druckfertig“ machen zu können. 115 Die Akademie erteilt ihm einen auf zwei Jahre befristeten und mit insgesamt 9600 RM vergüteten den Forschungsauftrag am 26. Juni 1947. 116 Wie lange Ritter, der seine „Arbeit für eine Leibniz-Biographie erst mit meinem Ableben einstellen“ wollte,117 noch an dieser Biographie gearbeitet hat und was aus den fertigen Kapiteln, von denen er zwei Kurt Müller, dem neuen Leiter der Ausgabe, übergab, 118 geworden ist, ließ sich nicht ermitteln. Deutsche Leibniz-Ausgabe Nachdem die Akademie den Verlags-Vertrag mit Otto Reichl am 29. Juli 1932 gekündigt hatte, 119 wurde Mitte der 30er-Jahre im Zuge der Verhandlungen mit dem K. F. Koehler Verlag 120 auch darüber verhandelt, in welcher Weise die LeibnizAusgabe fortgeführt werden sollte. Im Juni 1934 teilte Eduard Wildhagen 121 (1890– 1970, Mitglied der NSDAP seit 1933), als Referent in der Hochschulabteilung des Preußischen Kultusministeriums, Ernst Heymann, dem Sekretar der philosophischhistorischen Klasse, mit, „daß eine Volkstümliche Ausgabe an Stelle der bisherigen von Seiten des Ministeriums Unterstützung finden werde“. 122 Es sieht also so aus, als wollte das nationalsozialistische Ministerium unter Bernhard Rust 123, der 12F
12F
114 115 116 117 118 119 120 121 122 123
ABBAW Bestand PAW II-IV-156, Schreiben vom 23.4.1947, unfoliiert. ABBAW Bestand PAW II-IV-156, Schreiben vom 23.4.1947, unfoliiert. ABBAW Bestand PAW II-IV-156, Schreiben vom 26.6.1947, unfoliiert. ABBAW Bestand PAW II-IV-156, Schreiben vom 4.7.1947, unfoliiert. ABBAW Bestand PAW II-IV-156, Schreiben vom 30.8.1948, unfoliiert. Vgl. Seng: Weltanschauung (wie Anm. 4), S. 314; zur Vorgeschichte der Kündigung und der folgenden juristischen Auseinandersetzung zwischen der Akademie und Reichl vgl. ebd., S. 302–325. Vgl. Leaman: Offering Leibniz to Hitler (wie Anm. 104), S. 83. Zu ihm vgl. Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; Bd. 6), Heidelberg 2004, S. 183. ABBAW Bestand PAW II-VIII-176, Nr. 61. Zu ihm vgl. Grüttner: Biographisches Lexikon (wie Anm. 121), S. 143.
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gleichzeitig Reichserziehungsminister war, die wissenschaftliche Edition damals durch eine deutsche Auswahl-Ausgabe ersetzen. In den Verhandlungen vom Herbst 1935 wurde die deutsche Ausgabe aber dann stets als Ergänzung zur wissenschaftlichen behandelt. Am 21. Oktober 1935, bei einer Besprechung zwischen Heymann, Vertretern des Kultusministeriums und Wildhagen, der jetzt die Deutsche Forschungsgemeinschaft vertrat, regte letzterer an, „daß die billige Auswahl-Ausgabe möglichst von der Akademie geleitet werde“. 124 Tatsächlich beschloss die Akademie, künftig „eine billige AuswahlAusgabe mit Übersetzungen“ herauszubringen, „welche nebenherläuft und durch welche die Bedeutung von Leibniz für die Volksgemeinschaft besonders betont werden soll“; 125 man versuchte, mit dem Koehler-Verlag dahingehend übereinzukommen, dass derselbe in der Absicht, „möglichst weite Volkskreise zu Leibniz hinzuführen“, „neben der Großen Leibniz-Ausgabe noch eine nicht zu umfangreiche, wohlfeile populäre 'Ausgabe in Auswahl'“ herausbringen sollte.. 126 Ritter hat schon im November 1936 ein erstes Heft einer solchen „Deutschen Leibniz-Ausgabe in Auswahl“ zusammengestellt. 127 Es sollte den Titel „Erste deutsche Pläne. 1668-1671“ tragen und Texte aus den Bänden I,1 und IV,1 der Akademie-Ausgabe über die „Reform der Reichsverfassung“, die „Organisation der deutschen Wissenschaft und Kultur“ mit „Eingaben an den Kaiser und Kurmainz“ sowie „Entwürfe zu Societäten und Academien“ enthalten. 128 Ein zweites Heft sollte Leibniz’ ägyptischem Plan gewidmet sein. 129 Das Vorhaben wurde nach Ritters Ausscheiden nicht weiterverfolgt und scheint schon vorher bei der Akademie in Vergessenheit geraten zu sein. Sein Nachfolger 125F
128F
124 ABBAW Bestand PAW II-VIII-176, Nr. 138. Im Oktober 1938 schrieb Heymann, im Winter 1935/1936 sei „die Notgemeinschaft" (d. h. die Deutsche Froschungsgemeinschaft) „mit Wünschen nach einer populären Volksausgabe“ in die gerade laufenden Verhandlungen mit dem Koehler-Verlag eingetreten, die die Verhandlungen „wiederum aufhielten“; ABBAW Bestand PAW (1812-1945) II-VIII-177, Zirkular betr. Leibniz-Ausgabe (1624. 38) vom 3.10.1938, unfoliiert, darin: Bericht Heymann, Bl. c. 125 ABBAW Bestand PAW II-VIII-176, Nr. 142. 126 ABBAW Bestand PAW II-VIII-176, Nr. 137. 127 Eine Inhaltsübersicht vom 21.11.1936 findet sich in: ABBAW NL Ritter 19, Bd. I, Nr. 1 und Nr. 2. Die Manuskripte dazu befinden sich, mit von Sigrid von der Schulenburg erstellten Übersetzungen der fremdsprachigen Texte, mit Erläuterungen und einer Einleitung, ebd., NL Ritter 19, Bd. I-II. Die Einleitung des ersten Heftes beginnt mit folgenden Worten: „Die 'Deutsche Leibniz-Ausgabe' hat sich das Ziel gesetzt, diejenigen Werke Leibnizens, die in den gemeinen Schatz einer gründlichen Bildung gehören, aus unserer vollständigen Leibniz-Ausgabe herauszuheben und weiteren Kreisen des deutschen Volkes zugänglich zu machen. […] Die Hefte der deutschen Ausgabe werden also von nun an den Bänden der Gesamtausgabe auf dem Fuße folgen.“ (ebd., Bd. I., Nr. 3, Bl. I.) 128 ABBAW NL Paul Ritter 19, Bd. I, Nr. 1. 129 Eine Übersetzung von Sigrid von der Schulenburg hierzu findet sich in ABBAW NL Ritter 19, Bd. II, N. 3. Andere Übersetzungen zu diesem Heft erstellte ein Hr. Lammers von der Magdeburger Stadtbibliothek; vgl. Leibniz-Ausgabe. Manuskripte und Materialien von Prof. Ritter, Bl. 16, in: ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-178.
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Hofmann schrieb, es habe sich dabei um einen „Verlagsplan“ gehandelt: „Das hat Herr R[itter] direkt und außerhalb seines hiesigen Dienstes machen wollen“. 130 129F
3. Ritters Leibniz-Bild Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich[:] in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, 7. These.
Leibniz und sein Zeitalter, die erste der Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, die Dilthey und Ritter – wie gesagt – zusammen verfasst haben, beginnt mit folgenden Sätzen: 131 Eine große geistige Bewegung erfüllt das siebzehnte Jahrhundert. In ihr erhob sich der menschliche Geist zu einer allgemeingültigen Wissenschaft, welche im Zusammenwirken der Kulturnationen stetig und unaufhaltsam vorwärts schreitet, diese Erde der Macht des Menschen durch das Denken unterwirft und die Lebensführung des Einzelnen wie der Gesellschaft der Leitung der Erkenntnis unterzuordnen strebt.
Damit sind die wichtigsten Motive der Studie aufgezählt: 1. Die „allgemeingültige Wissenschaft" hat die mechanistische Weltanschauung als Grundlage, orientiert sich an der Mathematik und arbeitet mit Experimenten. 2. Sie strebt danach, nicht nur die Kultur, sondern auch die Gesellschaft ihrer Rationalität "unterzuordnen“. 3. Dies gelingt ihr mit Hilfe des zentralistischen Fürstenstaats, der als ausführendes Organ dieser Rationalisierung vorgestellt wird. 132 4. Wie die Verwendung des Präsens „vorwärts schreitet […] unterwirft […] unterzuordnen strebt“ zeigt, meinen Dilthey und Ritter eine Entwicklung zu beschreiben, die sich bis in ihre Gegenwart hinein fortsetzte: sie zeichnen die Linie eines kontinuierlichen Fortschritts, auf dessen vorläufigem Höhepunkt sie selbst sich befinden. Diese ihre Meinung zeigt sich noch deutlicher als im Inhalt des Textes in seiner von Wille zu Überwältigung und Pathos zeugenden Ausdrucksweise. Nachdem bereits die Verben des programmatischen zweiten Satzes die Vorliebe für phallischmilitärisches Vokabular angezeigt haben, folgt eine repetitive Anrufung von „Kraft“, „Gewalt“, „Macht“, „Kampf“, „Unterwerfung“, „Herrschaft“, „Sieg“, und immer und immer wieder: „Fortschritt“. 133 Der Text quillt geradezu über von Wörtern wie „ergreifen“ oder „entreißen“, „erringen“, „vorschreiten“, „vollziehen“; 130 Notiz Hofmanns vom 18.12.1939 auf einem Schreiben Lammers an Hofmann vom 16.12.1939; ABBAW Bestand PAW (1812–1945) II-VIII-178; unfoliiert. 131 Dilthey: Studien (wie Anm. 22), S. 3. 132 Vgl. ebd., S. 18. 133 Allein auf den Seiten 8–13 heißt es: „erwächst ihr die Kraft, jene Gottesherrschaft herbei-zuführen […] mit einer Gewalt ohnegleichen“ (S. 8), „diese mächtigsten germanischen Persönlichkeiten […] Verhältnis dieser Kräfte […] in dem Kampfe, den die Reformation entzündete […] im Kampfe gegeneinander […] in dem philosophischen Denken lag die Macht
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kontinuierlich „zerbrechen Schranken“, „fallen Grenzen“, wird „überwunden“ und „aus dem Weg geräumt“, „sich behauptet“ und „sich erhoben“; permanent „strahlen“ und „glänzen“ „der härteste Ausdruck“, „große“ und „größte“ „Köpfe“. 134 In diesem, von einem „glanzvollen Höhepunkt“ 135 zum nächsten kommenden rhetorischen Triumphzug, haben diejenigen, die unter die Räder des „Fortschritts“ geraten waren, natürlich keinen Platz. Dilthey und Ritter, die in den Studien immerhin den Anspruch erheben, eine ganze Epoche zu beschreiben, haben kein einziges Wort übrig für Einhegungen, Proletarisierung von Bauern, Kriminalisierung von Vagabunden, Arbeitszwang in Arbeitshäusern, Sklavenhandel oder Hexenverfolgung – geblendet von dem monarchischen Ständestaat, dem sie anhingen, übersahen sie all dies systematisch. Die Stellung von Leibniz in dieser von den „Macht“ entfaltenden neuen Staaten und der neuen Wissenschaften angetriebenen und „sieghaft“ zu mehr „Herrschaft über die Natur“ und „Leitung der Gesellschaft“ „vorwärts schreitenden“ Bewegung lässt sich leicht erraten: Er war neben Descartes ihr „erfindungsgewaltigster“136 Vordenker: 13F
Früh erfaßte er den Begriff einer Kultur der Menschheit, getragen von den führenden Nationen Europas, sich erstreckend über die ganze Erde, einer Verbindung von Herrschaft über die Natur durch die Kraft der Wissenschaft, mit der Aufklärung durch den vernünftigen Glauben an einen Zweckzusammenhang der Welt in Gott und an ein Fortschreiten des Menschengeschlechts, auch über diese Erde hinaus, in unendlicher Entwicklung. 137
Dass seine „Divination dem Jahrhundert vorauseilte“, macht ihn, so Dilthey und Ritter, allerdings in gewißem Maße weltfremd: Die realen Kräfte, die den Fortschritt in seiner eigenen Gegenwart praktisch vorantrieben, die „fürstlichen Personen“, „welche bis an die Knöchel in sehr irdischen Materien wateten, in Sinnlichkeit und hartem Egoismus, zuweilen auch in Blut, aber Göttern vergleichbar dahinschritten“, blieben ihm „stets unverständlich“. 138 137F
134 135 136 137 138
[…]Fortschritt des europäischen Geistes“ (S. 9), „Herrschaft über die Natur […] neues Fortschreiten […] mit einem kräftigeren Wirklichkeitssinn […] Unter allen Fortschritten des menschlichen Geistes […] Der Fortschritt aus der Traumwelt“ (S. 10), „der Erprobung an den Tatsachen unterworfen […] siegreich vorwärts drang […] zusammenhängendes und regelmäßiges Fortschreiten […] eine einheitliche Kraft […] Sie unterwarf sich die Wirklichkeit […] von Erkenntnis zu Erkenntnis stetig vorwärts schritt […] Herrschaft des Menschen über den Planeten […] ein unablässiges, unaufhaltsames, stetiges Fortschreiten dem Weltbesten entgegen“ (S. 11), „Fortschreiten der Menschheit […] beherrschen das Jahrhundert […] an jeder Stelle des Raumes beherrscht […] Fortschritten des Wissens […] zunehmende Macht des Menschen über die Natur […] ein außerordentlicher Fortschritt […] es will die Kräfte erfassen“ (S. 12), „mit einer rücksichtslosen Energie […] bekämpft […] verurteilen sie als Minderungen der Kraft […] Machtwillen der Person […] vorwärts drängende Kraft von der größten geschichtlichen Bedeutung […] nach der wissenschaftlichen Vernichtung“ (S. 13). Vgl. ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 28f. Ebd., S. 31.
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Der Beginn des Ersten Weltkriegs und noch mehr die deutsche Niederlage, die Novemberrevolution und die Ausrufung der Republik haben Ritter nicht davon abbringen können, der Monarchie anzuhängen, aber an die Stelle der ruhigen Siegesgewissheit, die sich in den Studien ausdrückte, trat der Hass auf den – nun selbst „sieghaften“ – Feind. Der Glaube an den stetigen Fortschritt unter einem mächtigen Monarchen wird ersetzt durch die Propaganda gegen Frankreich, einen aggressiven Nationalismus und die schroffe Ablehnung der Demokratie. Diese Wandlung lässt sich am Wandel seines Leibniz-Bildes ablesen. In seinem Artikel Leibniz als Deutscher, der in der Leibniz-Feldpost von 1916 erschien, schreibt Ritter, der „Mittelpunkt“ von Leibniz’ geschichtlichem und politischem Denken sei folgender gewesen: 139 Einheit, die sich auf Gleichheit gründet, bedeutet Verengung und schließlich Vernichtung der Kultur, wie im einzelnen Volk und Staat, so in der europäischen Völker- und Staatengemeinschaft.
Dieses – romantische – Prinzip 140, dessen Funktion in der politischen Propaganda Heinrich Yorcks wir bereits kennengelernt haben, bedeutet, dass jedes Individuum und auch jede politische Einheit die Pflicht habe, seine Eigenheiten möglichst rein auszubilden und zu entwickeln, weil es so am besten zur Vervollkommnung des Ganzen beitrage. Leibniz habe dementsprechend „seinem Volk für immer“ als „erste“, „heilige“ Pflicht vorgeschrieben, „daß wir vor allem für und an uns selber arbeiten, daß wir trachten, Deutsche zu bleiben und mehr und mehr zu werden. Nur so erfüllen wir unsere gottgewollte Aufgabe im Ganzen der europäischen Kultur.“ 141 Auch in den Studien wurden die „Sittenlosigkeit“ 142 und der „revolutionäre Leichtsinn der französischen Bildung“ 143 beklagt, in nationalistische Hetze aber brachen sie nicht aus. Im Vorwort zu seiner 1916 erschienenen Übersetzung des Mars Christianissimus (von dem er sagt, er könne auch heute geschrieben worden sein 144) hingegen schreibt Ritter: 145 139 Leibniz-Feldpost, Nr. 47, 14. November 1916. 140 Dieses Prinzip hatte bereits 100 Jahre vor ihm Ernst Moritz Arndt verwendet. Auch Arndt hatte es Leibniz zugeschrieben, und doch stammt es wohl vielmehr von Fichte; vgl. Stefan Luckscheiter: Spiegel des Verstandes oder Spiegel des Volksgeistes. Leibniz und Ernst Moritz Arndt über die deutsche Sprache, in: Wenchao Li (Hg.): Einheit der Vernunft und Vielfalt der Sprachen. Beiträge zu Leibniz‘ Sprachforschung und Zeichentheorie (= Studia Leibnitiana – Supplementa; 38), Stuttgart 2014, S. 165–176. 141 Leibniz-Feldpost, Nr. 47, 14.11.1916. 142 Dilthey: Studien (wie Anm. 22), S. 44f. 143 Ebd., S. 201. 144 Leibniz-Feldpost, Nr. 47, 14.11.1916. 145 Der Allerchristlichste Kriegsgott (wie Anm. 58), S. 9. 1920 schrieb er: Leibniz habe den Kampf „für die Freiheit der europäischen Kulturvölker gegen das Frankreich Ludwigs XIV.“ als „seine Aufgabe“ angesehen, einen Kampf, in dem „jedes Mittel […] willkommen“ sei, „auch der Appell an die nationalen Leidenschaften, an die religiösen, die protestantischen in England, die katholischen in Spanien. Leibniz ist nicht der Ansicht gewesen, daß man im Kriege solche Waffen verschmähen dürfe.“ (Leibniz als Politiker, in: Deutsche Monatshefte für christliche Politik und Kultur, 1. Jg., 1920, H. 8/9, S. 420–435, hier 434f.).
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Ja, ein Gefühl der Bewunderung für das große, starke Frankreich lebt gerade in den besten unserer Patrioten. Aber was aufs tieffste verletzt und alle Stimmen der Abwehr, Entrüstung, Klage, Hohn und Spott, hervorruft, das ist die Art, wie Frankreich kämpft, diese grauenerregende Mischung von roher Gewalt, Lug und Trug, Hochmut und Selbstgerechtigkeit. Dieser König fordert und nimmt, was er will, gewährt heute dem Gegner Frieden und fällt morgen noch einmal über ihn her.
Auch in den Studien fand sich die These von der mit Hilfe von Leibniz (und anderen) bewahrten Kontinuität der deutschen Kultur. 146 Aber der Fortschritt der Kultur wurde dort noch als gemeinsames Werk aller europäischen „Kulturnationen“ dargestellt. Dementsprechend konnten Dilthey und Ritter zu dieser Zeit noch anerkennen, dass Leibniz in Paris entscheidende Anregungen erhalten habe 147. Und in dem Manuskript eines Vortrages, den Ritter vor dem Historischen Verein für Niedersachsen am 30. Januar 1905 gehalten hat, hieß es: Erst die vier Jahre, die er dann in Paris zugebracht hat, sind für mich die große Epoche in seiner Entwicklung. Denn erst in Paris nimmt er die moderne mechanische Weltauffassung innerlich in sich auf.
Erst in Paris sei Leibniz dazu angeregt und befähigt worden, seine „Lebensarbeit“ in Angriff zu nehmen, nämlich „ein System wirklich durchzudenken, in welchem diese mechanische Weltanschauung innerlich verknüpft wird mit den Forderungen der praktischen Vernunft, die er, der deutsche [Hervorhebung im Original] Denker, nicht aufgeben kann“. 148 In seinem Vortrag Der junge Leibniz vom 12. Juni 1925 dagegen schreibt Ritter, an Leibniz’ „Weltanschauung“ seien die „4 Jahre von Paris […] so gut wie spurlos vorübergegangen“. 149 Diese theoretische Wendung war notwendig geworden, weil Leibniz jetzt nicht mehr als Vordenker der neuen mechanistisch-mathematischen Weltanschauung, sondern des Deutschtums 150 begriffen werden sollte: 147F
148F
Mit Leibniz tritt der deutsche Geist wieder als ebenbürtiger Mitkämpfer ein in das gemeinsame Ringen und Schaffen des Abendlandes für den Fortschritt des Denkens. Und bleibt uns doch eben der deutsche Geist.
Und nur deswegen konnte Leibniz Deutschland davor bewahren, das Opfer einer kulturellen Verengung zu werden, wie es Frankreich schon damals geworden sei:151 In den romanischen Ländern hat das Zeitalter der mathematischen Naturwissenschaft zu einem Bruch mit den alten Geistesmächten geführt und damit die Schichten, in denen sich der Fortschritt des Denkens vollzieht, für immer getrennt von der Masse des Volkes. Uns Deutschen
146 147 148 149 150
Vgl. Dilthey: Studien (wie Anm. 22), zum Beispiel S. 69, 247, 257. Vgl. ebd., S. 16 u. 35. ABBAW NL Ritter 14, S. 6f. ABBAW NL Ritter 16, S. 51. Zu „Leibniz als Deutschem“ bei anderen Schriftstellern vgl. van den Heuvel: Leibniz als Jubilar (wie Anm. 59), S. 319-–333; Wenchao Li: Der Wandel des Leibniz-Bildes, in: Gottfried Wilhelm Leibniz (wie Anm. 4), S. 791–815, hier S. 798–807. 151 ABBAW NL Ritter 16, S. 53f.
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Stefan Luckscheiter ist das große Glück wieder fahren, daß wir den Zusammenhang und die Einheit unserer geistigen Kultur bewahrt haben das ganze 18. Jahrhundert hindurch bis tief in das 19. hinein: dank Luther, dank aber auch Leibniz.
Denn Leibniz sei es gelungen, „das Fremde und Neue, das er uns gab, zugleich in eine innere Verbindung“ zu bringen „mit den alten, starken Kräften unserer Volksseele, mit den Tiefen deutschen Gewissens, deutschen Gemütes, deutscher Religiosität“. 152 Die Deutschen haben – laut Ritter – ihre Pflicht, „Deutsche zu bleiben und mehr und mehr zu werden“, also, wie nicht anders zu erwarten war, strebsam erfüllt und ihre deutschen Eigenheiten vom Mittelalter bis zur Moderne kontinuierlich immer deutlicher ausgeprägt. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war dank der ständischen Ordnung außerdem dafür gesorgt, dass die einzelnen Deutschen auch, was sie als Individuen ausmachte, ihre ganz eigenen, sich in jeweils unterschiedlichem Rang und Wohlstand ausdrückenden Persönlichkeiten ungehindert entfalten konnten. Auch in den Studien glorifizierten Dilthey und Ritter den monarchischen Ständestaat; und Ritter ließ auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht davon ab, die von der Geschichte geadelten Ungleichheiten in Rechtstellung und Wohlstand gegen alle Bestrebungen für rechtliche oder gar soziale Gleichheit zu verteidigen. Mit seinem Schlagwort von der Verengung durch Gleichheit ist ja nichts anderes gemeint als die Möglichkeit der Entfaltung nur durch Ungleichheit. 1920 schrieb er, niemand werde wohl vermuten, Leibniz habe aus seinen „Anschauungen und Beziehungen irgendwelche demokratischen Folgerungen gezogen“; „nicht nur die ganzen deutschen Verhältnisse seiner Zeit bewahrten [Hervorhebung von mir; S.L.] ihn davor, sondern auch sein eigenes Selbstgefühl“. Für den „gemeinen Mann sollte gesorgt werde: regieren sollte er nicht“. 153 Diese Ansicht von Leibniz hob Ritter natürlich deshalb hervor, weil es seine eigene war. In demselben Aufsatz von 1920 verglich er die Jahre 1648 und 1918 und kam zu dem Urteil, dass es in einer Hinsicht „damals wohl besser mit uns als heute“ stand: Die deutschen Fürsten haben „in jenen Tagen mit harter Hand die natürlichen Ordnungen der Gesellschaft aufrecht gehalten“, 154 die „natürlichen Ordnungen“, die 1918, zu Ritters Missfallen, zusammengebrochen waren. Wie wir gesehen haben, hat Heinrich Graf Yorck von Wartenburg 1906 behauptet, „die historische Schule“ sei „im Gegensatze zur Propaganda der Revolution“ entstanden. Denselben Gedanken formulieren, wenn auch weniger polemisch, 15F
152 Leibniz. Zum Gedächtnis seines zweihundertjährigen Todestages, Hannover 1916, S. 7. „Leibniz hat unsere Kultur vor der drohenden Verarmung und Verachtung bewahrt: und er hat uns dennoch nicht den Bruch mit unserer Vergangenheit zugemutet. Die deutsche Seele, die er vorfand, die in ihm selbst webte, war erfüllt von den irrationalen Mächten der Religiosität, der Persönlichkeit, des Gemütes. Leibniz hat, wie jede, so auch die Wirklichkeit anerkannt und ihr in seinem Gedankensystem eine Stellung eingeräumt, aus der sie niemand hinwegdeuten wird.“ (Leibniz als Politiker [wie Anm. 145], S. 421.) 153 Leibniz als Politiker (wie Anm. 145), S. 428. 154 Ebd., S. 420f.
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die Studien, wenn sie die Annahme „eines inneren Zweckzusammenhanges, welcher die verschiedenen Daseinsäußerungen in einer Epoche verknüpft“, das Prinzip des Historismus „Jede Zeit trägt […] ihren Maßstab in sich selbst“ als deutsche Reaktion auf das „ungeschichtliche Verfahren der Aufklärung“, den „abstrakten Begriff des Fortschrittes“ in Stellung bringen. 155 Sie lehnen damit einerseits abstrakte, „unhistorische“ Begriffe als Maßstab zur Bewertung historischer, gesellschaftlicher Phänomene ab und laden andererseits das historisch Gewachsene normativ auf 156, was auch Heinrich Yorcks Absicht gewesen sein dürfte. Das Postulat, jede Zeit aus sich selbst heraus zu interpretieren, steht freilich im Widerspruch sowohl zu der Fortschrittsgeschichte, die Dilthey und Ritter in den Studien erzählen, als auch zu der Behauptung deutscher Kontinuität, die bei Ritter später die zentrale Rolle einnehmen sollte, die er vorher den Fortschritt spielen ließ. 157 Sie ist aber auch verständlich, denn Dilthey und Ritter brauchen beides: Die These von der Normativität des Faktischen rechtfertigte ihre Forderung nach Beibehaltung der Ungleichheit und ihre Verklärung der ständischen Monarchie; und die These von der Kontinuität ermöglichte es ihnen, Leibniz und sein Zeitalter als gute Vertreter der historischen Schule angeblich am Maßstab der Frühen Neuzeit zu messen und ihn dennoch für aktuelle politische Zwecke einzuspannen. Hat das einmal Gewordene bereits als Gewordenes sein Recht, dann gilt dasselbe auch für alles Neue, das an seine Stelle tritt und damit das Recht des vorher Gewordenen stets aufs Neue untergräbt; mit dem Faktischen vergeht auch seine Normativität. Um dieser Maulswurfarbeit Einhalt zu gebieten und den Schein der Legitimität des Gewordenen aufrechtzuerhalten, stützten sich Ritter und Dilthey auf die These des Fortschritts bzw. der Kontinuität. Und umgekehrt erlaubte es ihnen die These von der Legitimität des Faktischen, die Kontinuität als an sich selbst bereits begrüßenswert hinzustellen. Die beiden einander widersprechenden Seiten erfüllen nur zusammen den Zweck der Affirmation. 154F
15F
4. Schluss Zwischen 1933 und 1945 erschien, soweit ich sehe, nur eine Seite von Ritter, nämlich ein Text über Leibniz in dem 1938 erschienenen Band Deutsche Männer. 200 Bildnisse und Lebensbeschreibungen. Der Text ist von schlagender Trostlosigkeit. Keinesfalls ist ihm anzumerken, dass Ritter sich „von der Geistverwirrung des Nationalsozialismus ausgesprochen fern gehalten“ habe: Leibniz, „der weiseste und tieffste deutsche Denker“, habe „neben die Systeme des Descartes, Hobbes, 155 Vgl. Dilthey: Studien (wie Anm. 22), S. 256f. 156 Vgl. Thorsten Fath: Der frühe Horkheimer und Dilthey. Eine Untersuchung zur Konstitutionsphase der Kritischen Theorie (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Bd. 694), Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 216. 157 Zur Notwendigkeit dieses Widerspruchs in Diltheys Geschichtsbild vgl. Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1973, S. 138–146.
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Spinoza und Locke das deutsche Weltbild“ gesetzt. „Alle Arbeit […] stand ihm vorab im Dienste seines deutschen Volkes: Zur Ehre und zum Schutze dieses Volkes sind ihm seine besten Schriften gelungen.“ 158 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wandte sich Ritter nur noch ein einziges Mal an die Öffentlichkeit: mit einem Beitrag, den der Drahtfunk im Amerikanischen Sektor von Berlin (der DIAS, der Vorläufer des RIAS) am 1. Juli 1946, Leibniz’ 300. Geburtstag, von 18:15 bis 18:30 Uhr sendete, und den Ritter in der Deutschen Rundschau veröffentlichen wollte, was aber nicht geschah. 159 Die für den Druck überarbeitete Fassung trägt den Titel Leibniz, Wahrzeichen der deutschen Wissenschaft. Für das allgemeine Bild von Leibniz mag das Jahr 1946 eine Zäsur 160 bedeutet haben, bei Ritter allerdings kann davon nicht die Rede sein. Er wiederholt hier vielmehr – wenn auch teilweise nur in Andeutungen – die wichtigsten politischen Elemente seines Leibniz-Bildes. Tatsächlich paraphrasieren die Passagen zur allgemeinen Einschätzung von Leibniz schlicht die Gedächtnisrede von 1916. Leibniz wird immer noch und wieder vorgestellt als deutscher Denker 161, als Bewahrer deutscher Kontinuität 162, als Verteidiger der Ständegesellschaft und Antidemokrat. 163 Der Text endet wie folgt: Aber Ausgang und Ziel alles Forschens und Strebens sollen für uns dieselben bleiben wie für Leibniz: Erkenntnis um ihrer selbst willen und zu Nutz und Frommen der Kultur des Abendlandes und ihrer Verbreitung über die Erde. Die deutsche Wissenschaft hat im Grunde nie etwas Anderes gewollt und getan. Leibniz ist ihr Wahrzeichen gewesen: sorgen wir dafür, daß er es immer bleibe.
Angesicht dessen, dass Ritter die Wissenschaft in Deutschland also weiterhin unter das „Wahrzeichen“ des Deutschtums und des Antirepublikanismus gestellt sehen 158 Deutsche Männer: 200 Bildnisse und Lebensbeschreibungen, Berlin 1938, S. 88. 159 Die für den Druck überarbeitete Fassung findet sich in ABBAW NL Ritter 18; die Vortragsfassung ebd., NL Ritter 17. 160 Vgl. van den Heuvel: Leibniz als Jubilar (wie Anm. 59), S. 332; Li: Der Wandel des LeibnizBildes (wie Anm. 150), S. 809. 161 Seine „Philosophie drückte das Weltbild und das Lebensgefühl eines deutschen Menschen aus“ (ABBAW NL Ritter 18 Bl. 4); „Leibniz hat das Fremde und Neue, das er uns gab, in ein inneres Verhältnis zu allen Kräften gesetzt, die bis dahin unsere Geschichte bestimmt hatten, und zu den Urgründen deutschen Gewissens, deutschen Gemütes, deutscher Religiosität. Er konnte es uns gar nicht anders geben: weil er selber es so aufgenommen und erworben hatte, als ein deutscher Mensch, und sich dessen bewußt war“ (ebd., Bl. 8). Die (bereits zitierte) Parallelstelle in der Gedächtnisrede von 1916 findet sich Leibniz. Zum Gedächtnis seines zweihundertjährigen Todestages, Hannover 1916, S. 7. Eine weitere Parallelstelle findet sich in dem Skript zu einer der 1917 in Wilna gehaltenen Vorlesungen (ABBAW NL Ritter 15 Nr. 1, Bl. 16–17). 162 „Die Linie unserer Entwicklung blieb gewahrt: Luther und Melanchthon führen zu Leibniz, Leibniz führt zu Lessing und Kant und auch zu Herder und Goethe“ (ABBAW NL Ritter 18 Bl. 8). 163 Ritter beklagt sich darüber, „daß die Leibniz-Feiern dieses Jahres uns zum Teil gar seltsame Lebensbilder vorgesetzt haben. Hat man uns doch etwa einreden wollen – wenn wir den Zeitungen trauen dürfen – daß Leibniz ein 'Kosmopolit' gewesen sei und ein 'Demokrat' und 'als Volk nur diejenigen anerkannt habe, deren dienende Mitarbeit am Aufstieg des Bürgerstaates teil hat' (ABBAW NL Ritter 18 Bl. 8).
Paul Ritter
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wollte, verwundert es kaum, dass er offenbar nicht bemerkt haben will, was „die deutsche Wissenschaft“ in den 10 Jahren vor 1946 „gewollt und getan“ hat.
ABKÜRZUNGEN
A
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. der Preußischen (später: Berlin-Brandenburgischen und Göttinger) Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Darmstadt (später: Leipzig, zuletzt: Berlin) 1923 ff. (Akademie-Ausgabe).
Dutens
Gottfried Wilhelm Leibniz: Opera omnia, nunc primum collecta […] studio Ludovici Dutens, T. 1–6, Genevae 1768.
GM
Gottfried Wilhelm Leibniz: Leibnizens mathematische Schriften, Bd. 1–7, hg. v. C. I. Gerhardt. Berlin (später: Halle) 1849–1863 (Neudruck: Hildesheim 1962).
GP
Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften von Leibniz, Bd. 1–7, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–1890 (Neudruck: Hildesheim 1960–1961).
Grua
Gottfried Wilhelm Leibniz: Textes inédits dʼaprès les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, vol. 1–2, publ. et ann. par Gaston Grua, Paris 1948.
GWLB
Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek – Hannover.
LBr
Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek – Hannover, Leibniz-Briefwechsel.
LH
Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek – Hannover, Leibniz-Handschriften.
Lucia Oliveri
Imaginative Animals Leibniz’s Logic of Imagination studia leibnitiana. sonderhefte – vol. 57 2021. 286 pages with 1 b/w illustration and 1 table 978-3-515-13049-3 softcover 978-3-515-13051-6 e-book
Through the reconstruction of Leibniz’s theory of the degrees of knowledge, this book investigates and explores the intrinsic relationship of imagination with space and time. The inquiry into this relationship defines the logic of imagination that characterizes both human and non-human animals, albeit differently, making them two different species of imaginative animals. Lucia Oliveri explains how the emergence of language in human animals goes hand in hand with the emergence of thought and a different form of rationality constituted by logical inferences based on identity and contradiction, principles that are out of reach of the imagination. The book concludes that the presence of innate principles in human animals transforms the way in which they sense-perceive the world, thereby constantly increasing the distinction between human and non-human animals.
the author Lucia Oliveri is assistant professor at the University of Münster. Her research interests lie in metaphysics and epistemology of the early modern period, with special focus on the philosophy of G. W. Leibniz. contents Introduction: The Logic of the Imagination: Space, Time, Predictions | The Expressive Power of the Mind and its Varieties | The Groundwork of the Imagination | Interlude: Imagination and Reality | First- and Second-Order Coherence I: Time, Space, and Types | First- and Second-Order Coherence II: Modalities and Types | Similarity, Movement, and the Interiorization of Types | Why Types are not Concepts | Conceptualism, Real Distinctions, and Error | Leibniz’s Innatism | Conclusion: Contouring The Imagination | References
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In den letzten Jahrzehnten hat die Leibniz-Forschung gezeigt, wie wichtig Körperlichkeit ist und Juan Antonio Nicolás untersucht ebendiese Rolle des Körpers und sein Verhältnis zur Rationalität im Leibnizschen Denken. Die Grundbegriffe zum Verständnis der Wechselwirkung zwischen Körper und Vernunft und der daraus resultierenden Metaphysik sind Kraft, Organismus, Individuation, Substanz, Phänomen, Tendenz, Spontanität und Funktionalismus. Mit ihnen kann von biologischem Präformationismus, Körperorganismus oder spontaner körperlicher Tendenz als Kraft zu monadischer Substanz, Individuation von Geistern und funktionalistischer Aufwertung von Phänomenen gesprochen werden. Dies zeigt, dass der Begriff „Körper“ ein transversaler Begriff ist, der eine gewisse Einheitlichkeit und Systematisierung von Leibniz’ Denken ermöglicht. Dieses Konzept reicht von Biologie und Physik bis hin zu Metaphysik, Politik oder Theodizee.
der herausgeber Juan Antonia Nicolás ist Philosophie Professor (Universität Granada), Präsident des „Red Iberoamericana Leibniz“ und Direktor des Lehrstuhls „Cátedra GW Leibniz“ (Universität Granada). Forschungsschwerpunkte: Moderne Philosophie (G.W. Leibniz), Kritische Hermeneutik (K.O. Apel), Lateinamerikanische Philosophie (I. Ellacuría), Wahrheitstheorie (Post-Wahrheit). mit beiträgen von François Duchesneau, Edgar Marques, Gianfranco Mormino, Celso Vargas Elizondo, Alessandro Becchi, Lucio Mare, Hans Burkhardt, Martine de Gaudemar, Antonella Lang-Balestra, Maria Ramon Cubells Bartolomé, Ansgar Lyssy, Luca Basso, Sacha Zilber Kontic, Juan A. Nicolás, Klaus Erich Kaehler, Laura E. Herrera Castillo, Agustín Andreu, Miguel Escribano Cabeza, Roberto Casales-García
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Wenchao Li (Hg.)
300 Jahre Monadologie Interpretation, Rezeption und Transformation studia leibnitiana. supplementa – band 39 313 Seiten mit 43 s/w-Abbildungen 978-3-515-11466-0 gebunden 978-3-515-11470-7 e-book
Unter dem umfangreichen schriftlichen Nachlass von Gottfried Wilhelm Leibniz besitzt die im Jahre 1714 in Wien entstandene so genannte Monadologie ohne Zweifel einen herausragenden Stellenwert. Seit ihrer Entstehung und bis in die Gegenwart hinein ist die geradezu hingeworfene Gelegenheitsschrift einer der wirkmächtigsten Schlüsseltexte der Leibniz’schen Philosophie geblieben. Ziel dieses Bandes ist es, die Interpretation, Rezeption und Transformation der Monadologie erstmals zu bündeln und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Im Fokus stehen diejenigen Prozesse und Reflexionen, die die Leibniz’sche Monadenlehre im Besonderen
und die monadistischen Denkstrukturen im Allgemeinen unter anderem in den Disziplinen Psychologie, Soziologie, Poetik und Kunst nach sich gezogen haben. mit beiträgen von Paul Rateau, Enrico Pasini, Hartmut Hecht, Catherine Wilson, Anne-Lise Rey, François Duchesneau, Christoph Asmuth, Kiyoshi Sakai, Hans Poser, Arnaud Pelletier, Michel Fichant, Andreas Luckner, Klaus Erich Kaehler, Juan A. Nicolás, Charles De Roche, Patrizia Giampieri-Deutsch, Michael Schillmeier, Oswald Egger
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Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wird allgemein als eines der letzten Universalgenies bezeichnet. Tatsächlich hat er ein an Umfang, thematischer Vielfalt und Originalität einzigartiges Werk hinterlassen. In 22 Beiträgen entwirft die Festschrift ein Panorama, das Leibniz’ Denken und Schaffen in seiner ganzen Breite umfasst: von der Philosophie – v. a. der Erkenntnistheorie und dem Rechts- und Staatsdenken – über die historische Forschung bis zu asiatischen Religionen, von der Mathematik über die Naturwissenschaften bis zu technischen Innovationen. Dabei werden auch aktuelle Debatten thematisiert:
ISBN 978-3-515-13121-6
9 783515 131216
die Diskussion um Philosophie und Rassismus, das Verhältnis Mensch – Tier oder Transdisziplinarität. Zugleich kommt Leibniz in seiner Lebenswelt in den Blick: am Fürstenhof, als Netzwerker in der Gelehrtenrepublik und als Gelehrter mit seiner ‚Zettelwirtschaft‘. Schließlich geht es um seine Rezeption in Philosophie, Kunst und Edition, aber auch in der „Reeducation“ nach 1945. Der Band ehrt Wenchao Li als einen Wissenschaftler, der in Edition, Lehre und internationalen Tagungen Leibniz’ Denken in seiner Vielfalt erforscht und in die Öffentlichkeit gebracht hat.
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