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German Pages 1387 [1401] Year 2009
Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal (Hrsg.) Strafvollzugsgesetz – Bund und Länder de Gruyter Kommentar
Strafvollzugsgesetz – Bund und Länder Kommentar
herausgegeben von Hans-Dieter Schwind, Alexander Böhm (†), Jörg-Martin Jehle, Klaus Laubenthal
5., geänderte und neu bearbeitete Auflage
De Gruyter Recht • Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, ● das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-89949-625-3
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Aufteilung der Kommentierung Best, Peter Böhm, Alexander/ Jehle, Jörg-Martin Böhm, Alexander/ Laubenthal, Klaus Böhm, Alexander/ Maelicke, Bernd Böhm, Alexander/ Koop, Gerd Egg, Rudolf Freise, Ulrich/ Lindner, Tina-Angela Freise, Ulrich/ Jehle, Jörg-Martin Jehle, Jörg-Martin Keppler, Karlheinz Koepsel, Klaus Koop, Gerd Laubenthal, Klaus Lindner, Tina-Angela Maelicke, Bernd Rassow, Peter/ Schäfer, Karl Heinrich Riekenbrauck, Wolfgang/ Keppler, Karlheinz Schäfer, Karl Heinrich Schmid, Gabriele Schuler, Manfred/Laubenthal, Klaus Schwind, Hans-Dieter Steinhilper, Monica Ullenbruch, Thomas Wirth, Wolfgang Wischka, Bernd Wydra, Bernhard
§§ 71–75 §§ 1–4, 167–177 §§ 17–20, 93, 102–107, 201–202 §§ 139–140 §§ 143–144 §§ 9, 123–126 §§ 8, 10, 147 §§ 136–138 § 166, s. auch Böhm/Jehle, Freise/Jehle s. Riekenbrauck/Keppler §§ 67, 94–100, 129–134, 152–153, 178 §§ 145–146, s. auch Böhm/Koop §§ 22, 37–52, 148–150, 188–202, s. auch Böhm/ Laubenthal, Schuler/Laubenthal s. Freise/Lindner s. Böhm/Maelicke §§ 53–55, 157 §§ 21, 56–66, 92, 101, 158 s. Rassow/Schäfer §§ 179–187 §§ 108–122 §§ 23–33, 68–70, 88–91 §§ 76–80, 135, 142, 151 §§ 11–16, 35–36, 81–87 § 141 §§ 5–7 §§ 154–156, 159–165
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Verzeichnis der Autoren Best, Peter (1944), Dr. rer. pol., bis 2005: Niedersächsische Staatskanzlei, Europaabteilung, bis 1999 Referatsleiter im Niedersächsischen Ministerium der Justiz; zuvor stellvertretender Leiter einer Jugendvollzugsanstalt und Staatsanwalt. 1996–2001 gewähltes Mitglied im „Council for Penological Co-operation“, Europarat; seit 2006 EU-Rechtsexperte und Lehrbeauftragter an der Leibniz Universität Hannover für European Studies, Kriminalpolitik und Strafvollzug. Böhm, Alexander (1929–2006), Dr. jur., Universitätsprofessor für Kriminologie, Strafrecht und Strafvollzug an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (seit 1974). Zuvor (seit 1957) im höheren Strafvollzugsdienst des Landes Hessen. Von 1960 bis 1974 Leiter der Jugendstrafanstalt Rockenberg und des H.B. Wagnitzseminars (Ausbildungsstätte für die Bediensteten des hessischen Strafvollzugs), Rockenberg. 1977 bis 1979 Vorsitzender der vom Bundesjustizminister einberufenen „Jugendstrafvollzugskommission“. 1974 bis 1999 im Landesbeirat für Kriminologie und Strafvollzug beim rheinland-pfälzischen Ministerium der Justiz. 1988 bis 1994 Richter am Oberlandesgericht Zweibrücken (Strafsenat) im zweiten Hauptamt. Veröffentlichungen zum Jugendstrafrecht und Strafvollzug. Egg, Rudolf (1948), Dr. phil., Dipl. Psych., apl. Professor für Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (seit 1990); Fachpsychologe für Rechtspsychologie (seit 2005); seit 1997 Direktor der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden; seit 2004 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Forums für Kriminalprävention; Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Kriminal- und Rechtspsychologie, insbesondere Sexual- und Gewaltdelikte, forensisch-psychologische Begutachtung, Methoden der Straftäterbehandlung. Freise, Ulrich (1955), Jurist, seit 2003 Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Inneres (Berlin); 1996–2003 Leiter der Abteilung Justizvollzug, Soziale Dienste und Gnadenwesen im Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern; 1987–1996 Referent und Referatsleiter in der Senatsverwaltung für Justiz (Berlin), Abteilung Strafvollzug, Arbeitsschwerpunkte: Konzeptentwicklung, Organisationsentwicklung sowie Aus- und Fortbildung; 1985–1987 Staatsanwalt, Richter. Jehle, Jörg-Martin (1949), Prof. Dr. jur., Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Abteilung für Kriminologie, Strafvollzug und Jugendstrafrecht (seit 1996). Zuvor (1986–1997) Direktor der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden. Seit 1990 Vorstandsmitglied der Kriminologischen Gesellschaft (Präsident 1997–1999). Mitglied verschiedener Expertengruppen auf europäischer Ebene. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen zu: Rückfallforschung, Strafrechtliche Sanktionen und Strafzumessung; Kriminalprävention und Kriminalstatistik; Untersuchungshaft, Strafund Maßregelvollzug; Strafrechtspflege im Europäischen Vergleich. Keppler, Karlheinz (1951), Dr. med., M.A., Medizinaldirektor, seit 1991 Leiter Ärztlicher Dienst JVA f. Frauen Vechta; klinische Tätigkeit in den Fächern Innere Medizin, Chirugie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe; Veröffentlichungen mit den Schwerpunkten Sucht, Drogen, Infektionskrankheiten,
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Verzeichnis der Autoren
Prophylaxe, Gesundheitsförderung; Mitherausgeber Keppler/Stöver: Gefängnismedizin – Stuttgart 2009; seit 1992 Mitarbeit bei Fort- und Weiterbildung der Justizvollzugsbediensteten in Deutschland; seit 1996 Moderator des Qualitätszirkels der Gefängnisärzte in den Ländern Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein. Koepsel, Klaus (1936), Dr. jur., Präsident des Justizvollzugsamts Rheinland (1992–2001); von 1966–2001 im Strafvollzug Nordrhein-Westfalens: 1968–1992 überwiegend als Anstaltsleiter und zwar in den Anstalten Attendorn, Castrop-Rauxel, Hagen und Werl; 1975–1977 Referent für Aus- und Fortbildung der Bediensteten im nordrhein-westfälischen Justizministerium; 1978–1984 nebenamtlich Lehrbeauftragter für Kriminologie an der Fachhochschule für Rechtspflege in Bad Münstereifel; 1982–1984 Leiter der Justizvollzugsschule Nordrhein-Westfalen; 1987–1992 nebenamtlich Lehrbeauftragter für Strafvollzugsrecht und Kriminologie an der Universität Bielefeld; 1988–2001 nebenamtlich Prüfer für Strafrecht und Kriminologie im ersten Juristischen Staatsexamen. Ab 1999 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für den Justizvollzug des Landes Brandenburg. Veröffentlichungen: offener Vollzug, Diagnostik im Einweisungsverfahren, Probleme psychisch kranker Rechtsbrecher, Sicherungsverwahrung. Koop, Gerd (1952), Sozialarbeiter (grad.), Diplom-Pädagoge, Leitender Sozialdirektor, Managementtrainer, von 1976–1991 Tätigkeiten in den Justizvollzugsanstalten Vechta, Vechta Frauen, Lingen; 1987 Niedersächsisches Justizministerium Hannover; von 1989–1992 Fachberater für Suchtfragen des Niedersächsischen Justizministeriums; seit 1991 Leiter der Justizvollzugsanstalt Oldenburg: seit 2000 im Vorstand der Vereinigung der Leiterinnen und Leiter von Justizeinrichtungen in Niedersachsen; seit 2003 im Vorstand und seit 2009 Vorsitzender des Präventionsrates Oldenburg; seit 1982 Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Kriminalpädagogische Praxis“, seit 2008 Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift Forum Strafvollzug. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Sucht, Untersuchungshaft, Organisations- und Personalentwicklung, Führung, neue Steuerungsinstrumente. Laubenthal, Klaus (1954), Dr. iur. utr., Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Richter am Oberlandesgericht Bamberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen u. a. Straftaten gegen die Person, Strafvollzugsrecht, Jugendstrafrecht. Lindner, Tina-Angela (1972), Dr. jur., Ministerialrätin, Leiterin des Referats „Recht des Vollzugs“ im Niedersächsischen Justizministerium, Hannover; zuvor Richterin am Amtsgericht Hamburg; Leiterin der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand in Hamburg. Maelicke, Bernd (1941), Dr. jur., Ministerialdirigent a.D.; Honorarprofessor an der Leuphana-Universität Lüneburg; 1987–1990 Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), Frankfurt; 1990–2005 Abteilungsleiter Strafvollzug, Soziale Dienste und Gnadenwesen im Justizministerium Schleswig-Holstein; Schriftleiter „Forum Strafvollzug“; Vorsitzender div. Fachkommissionen und Fachverbände; Leiter div. nationaler und internationaler Innovationsprojekte; Arbeitsschwerpunkte: Vollzugsmanagement und Integrierte Resozialisierung. Rassow, Peter (1928), Pastor i.R.; Seelsorger an der Justizvollzugsanstalt Celle I (1965–1981); Mitglied des Beirates bzw. Vorstandes (1972–1978) und Vorsitzender (1978–1981) der evangelischen Gefängnis-
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Verzeichnis der Autoren
pfarrerkonferenz in der Bundesrepublik Deutschland; Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten (1981–1993); Mitglied (1985– 1990) und Vorsitzender (1990–1995) des Lenkungsausschusses der International Prison Chaplains’ Association (IPCA WORLDWIDE). Veröffentlichungen zur Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten. Riekenbrauck, Wolfgang (1947), Dr. med., Leitender Arzt der Inneren Abteilung und Ärztlicher Direktor des Justizvollzugskrankenhauses NW (seit 1987). 1974–1986 Assistenzarzt und Oberarzt verschiedener Krankenhäuser in Düsseldorf, Hattingen, Dortmund, Beckum und Kamen. Gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt: Desmoterische Medizin und Akutbehandlung, Diabetes mellitus, HIV-Erkrankung, Drogenkrankheit im Strafvollzug. Schäfer, Karl Heinrich (1947) Prof. Dr. iur; 1973–1975 Richter; 1975–2002 Justizvollzug Hessen (u.a. Leiter der Justizvollzugsanstalten Schwalmstadt und Butzbach; stellvertretender Abteilungsleiter Hessisches Ministerium der Justiz); seit 2002 Direktor beim Hessischen Rechnungshof; Honorarprofessor (Strafvollzug, Straffälligenhilfe) an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt; seit 1994 Präses der Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau; zahlreiche Veröffentlichungen zu: Öffentlichkeit und Justizvollzug; Anstaltsbeiräte und parlamentarische Kontrolle; Organisation und Gestaltung des Justizvollzugs; Verhältnis von Staat und Kirche am Beispiel Gefängnisseelsorge; Ehrenamt und Verantwortung in der Kirche; Organisation und Leitung in der Kirche. Schmid, Gabriele (1962), Ministerialrätin, Referentin in der Abteilung Öffentliches Recht, Europarecht im Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz; Aufgabengebiet u. a. Datenschutzfragen; 1993 bis 2008 Referentin in der Abteilung Strafvollzug, davor tätig in den Justizvollzugsanstalten Diez und Zweibrücken. Schuler, Manfred (1935), Leitender Ministerialrat (a.D. seit 2000), stellvertretender Abteilungsleiter „Strafvollzug“ im Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz, Aufgabengebiet: u.a. Strafvollzugsrecht, Personal, Fort- und Ausbildung; vor Übernahme in das Ministerium tätig als Staatsanwalt bei verschiedenen Staatsanwaltschaften und der Generalstaatsanwaltschaft. Mitarbeiter bei Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2. Auflage, 1988. Schwind, Hans-Dieter (1936), Dr. jur., Universitätsprofessor (em.) für Kriminologie, Strafvollzug und Kriminalpolitik an der Ruhr-Universität Bochum (1974–2001), Niedersächsischer Minister der Justiz (1978– 1982); 1981 Vorsitzender der Konferenz der Justizminister und -senatoren. 1984–1989 Präsident der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft. 1987–1990 Vorsitzender der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung. Seit 1997 Honorarprofessor an der Universität Osnabrück. Seit 2002 Vorstandsmitglied des WEISSEN RINGES (Vorsitzender des Fachbeirats „Kriminalitätsvorbeugung“). Veröffentlichungen: u.a. zu Dunkelfeldforschung, Kriminalgeographie, Gewaltkriminalität, Strafvollzug, Entlassenenhilfe und Kriminalpolitik. Steinhilper, Monica (1952), Dr. phil., Ministerialdirigentin, Leiterin der Abteilung „Justizvollzug“ im Niedersächsischen Justizministerium, Hannover; von 1988–1990 Mitglied der „Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt“ (Gewaltkommission); diverse
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Verzeichnis der Autoren
Referatsleitungen, u.a. Frauenvollzug, Sozialtherapie, Personal, Aus- und Fortbildung, Organisation; Veröffentlichungsschwerpunkte: Personal- und Organisationsentwicklung im Justizvollzug, neue Steuerungsinstrumente. Ullenbruch, Thomas (1957), Richter am Amtsgericht (Regierungsdirektor a.D.); Strafrichter am Amtsgericht Emmendingen (bei Freiburg i.Br.), zuvor als Staatsanwalt und 15 Jahre im Strafvollzug tätig (u.a. als Leiter der Abteilung für Sicherungsverwahrte in der JVA Freiburg, als Leiter der Langstrafenanstalt Waldheim und als Leiter des Referats für vollzugliche Grundsatzangelegenheiten im Sächsischen Staatsministerium der Justiz in Dresden); Mitverfasser des „Münchener Kommentars zum StGB“ und des „Radtke/Hohmann“, Kommentar zur StPO; Mitherausgeber der „Neuen Zeitschrift für Strafrecht“ (NStZ); 2.Vorsitzender der „Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug“ (BVASt); Veröffentlichungsschwerpunkte: (nachträgliche) Sicherungsverwahrung sowie Strafvollzug in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wirth, Wolfgang (1954), Diplom-Soziologe, Regierungsdirektor und Leiter der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen; zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie, anschließend am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik sowie schließlich am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Koordinator diverser internationaler Forschungsgruppen und Projektverbünde; Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Bewährungshilfe: Soziales – Strafrecht – Kriminalpolitik“. Arbeitsschwerpunkte und zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen: Sozialpolitik und Soziale Dienste, Evaluationsforschung, Kriminologie und Kriminalpolitik und Strafvollzug. Wischka, Bernd (1952), Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychologiedirektor, Leiter der Sozialtherapeutischen Abteilung bei der JVA Lingen; Vorstandsmitglied im „Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten e.V.“, Mitherausgeber der Zeitschrift „Kriminalpädagogische Praxis“; Koordinator für die sozialtherapeutischen Einrichtungen im niedersächsischen Justizvollzug. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Sozialtherapie, Behandlung von Sexualstraftätern, Behandlungsforschung im Justizvollzug, Fortbildung. Wydra, Bernhard (1938–2009), Jurist und Diplom-Psychologe; Leitender Regierungsdirektor a.D., von 1968 bis 2003 im Strafvollzug tätig in den Anstalten München, Straubing, Bamberg und Kronach, zuletzt Leiter der Bayerischen Justizvollzugsschule (1985–2003). Vielfältige Kontakte auch zu ausländischen Vollzugsschulen; mehrfache Mitarbeit beim Europarat, zuletzt im Rahmen von Projekten in Albanien und in der Türkei als Experte für Aus- und Fortbildung des Vollzugspersonals.
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Vorwort zur fünften Auflage Als vor drei Jahrzehnten das Strafvollzugsgesetz in Kraft trat, hätte wohl niemand gedacht, dass ihm eine vergleichsweise kurze Lebensdauer beschieden wäre. Ohne sachlichen Anlass und fachlichen Grund hat mit der Föderalismusreform des Jahres 2007 eine bewährte Praxis auf der Grundlage eines Bundesgesetzes und bundeseinheitlich vereinbarter Verwaltungsvorschriften ein Ende gefunden. Auch wenn bislang erst drei Bundesländer von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht haben, ist für die Vollzugslandschaft eine schwierige Situation entstanden. Es bleibt zu hoffen, dass die übrigen Länder, in denen infolge der Übergangsvorschriften des Art. 125a Abs. 1 GG das StVollzG noch fortgilt, sich zusammenschließen und gemeinsam ein Mustergesetz, orientiert am bewährten StVollzG, erarbeiten werden. Um die neue Lage abzubilden, musste für die vorliegende fünfte Auflage die Konzeption des Kommentars abgeändert werden. Die Landesvollzugsgesetze von Bayern, Hamburg und Niedersachsen sind in der Weise eingearbeitet, dass der Kommentierung jedes Paragraphen des StVollzG ein zusätzlicher Abschnitt „Landesgesetze“ angefügt ist. Dort wird auf Übereinstimmungen mit bzw. Abweichungen von dem StVollzG aufmerksam gemacht sowie – soweit angebracht – aus den Gesetzesbegründungen zu den Landesgesetzen zitiert. Darüber hinaus werden in der Kommentierung des StVollzG Ländervorschriften angesprochen, wenn diese für das Verständnis und die Auslegung der Bundesregelung von Bedeutung sind. Damit die Leser in Bayern, Hamburg und Niedersachsen davon Gebrauch machen können, sind am Ende des Bandes die Landesgesetze abgedruckt, wobei jede Landesvorschrift mit einem Verweis auf die entsprechende Kommentierung im StVollzG versehen ist. Das grundlegende Verständnis der Herausgeber ist indessen seit der ersten Auflage gleichgeblieben: Es handelt sich um einen Kommentar von Praktikern für Praktiker, der zugleich für sich in Anspruch nimmt, die Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und wissenschaftlichen Auffassungen angemessen zu führen. Dies drückt sich in der Zusammensetzung der Autoren und Herausgeber aus, auch wenn seit der letzen Auflage einige Veränderungen eingetreten sind: Mit dem tragischen Unfalltod von Alexander Böhm, der den Kommentar mit begründet und ihn wesentlich geprägt hat, haben wir einen schmerzlichen Verlust erlitten. An seine Stelle ist Klaus Laubenthal getreten, der sich seit vielen Jahren als Lehrbuchautor und Richter am OLG theoretisch und praktisch mit Strafvollzugsfragen befasst. Im Team der Mitarbeiter gab es gleichfalls Wechsel: Bernd Wydra hat uns – nach Abgabe des Manuskripts – der Tod entrissen; aus beruflichen oder Altersgründen standen Ulrich Freise, Burghardt Hasenpusch, Peter Rassow, Wolfgang Riekenbrauck und Manfred Schuler nicht mehr zur Verfügung. Ihre bisherigen Beiträge sind teils durch andere Mitarbeiter, teils durch neu berufene Co-Autoren überarbeitet worden: Tina-Angela Lindner, Bernd Maelicke, Karlheinz Keppler, Gerd Koop, Karl Heinrich Schäfer. Die Bearbeitung bringt den Kommentar auf den neuesten Stand (Mai/ Juni 2009). Neben den erwähnten Landesgesetzen wurden die seit der letzten Auflage veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur sowie Forschung und Statistiken berücksichtigt. Für die gute Zusammenarbeit bei diesem Unterfangen bedanken wir uns bei allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dieses Bandes sowie nicht zuletzt bei Frau Dr. Ute von der Aa vom de Gruyter Verlag. Besonderen Dank schulden wir Frau Assessorin Tanja Köhler für die reibungslose Organisation der Redaktionsarbeit. Bei den redaktionellen Arbeiten, namentlich beim Korrekturlesen und der Erstellung der Verzeichnisse, haben uns tatkräftig unterstützt: Frau Prof. Dr. Brigitta Goldberg, Frau Dr. Nina Nestler, Frau Referendarin Lisa Heidbreder und Herr Referendar Malte-Johannes Volker sowie die stud. iur. Claudio Bött-
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Vorwort
cher, Teresa Frank, Sabine Gröne, Florian Panknin, Nora Vick, Eva Wiglinski und EstherMaria Worthmann. Schließlich möchten wir an dieser Stelle betonen, dass wir uns über eine ganze Reihe freundlicher Rezensionen zu den Vorauflagen gefreut haben, und hoffen, dass sich dieser Hand-Kommentar weiterhin als hilfreich erweist. Osnabrück, Göttingen, Würzburg, im Juli 2009
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Hans-Dieter Schwind Jörg-Martin Jehle Klaus Laubenthal
Vorwort zur ersten Auflage Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) ist vor nunmehr sechs Jahren (am 1.1.1977) in Kraft getreten. Zahlreiche Verbesserungen der Vollzugssituation sind seither in den Bundesländern erreicht worden. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, daß viele Erwartungen enttäuscht worden sind: insbesondere derjenigen, die eine weit raschere Verwirklichung der Reform des Vollzuges vom Verwahrvollzug zum Behandlungsvollzug erhofft hatten. Ein Vollzug, wie ihn das Strafvollzugsgesetz anstrebt, kann aber schon der erforderlichen erheblichen finanziellen Mittel wegen nicht von heute auf morgen erreicht werden. Die beträchtlichen Anstrengungen zur Verwirklichung des Reformgedankens können sich weithin nur deshalb nicht erwartungsgemäß auswirken, weil die Gefangenenzahlen von Jahr zu Jahr steigen und dem Vollzug damit zusätzliche Belastungen bringen. In einer erheblich überbelegten Justizvollzugsanstalt wird der vom Strafvollzugsgesetz postulierte Behandlungsvollzug schon durch die räumliche Enge erschwert. Hinzu treten Personalprobleme. Der Behandlungsvollzug erfordert naturgemäß eine größere Zahl von Mitarbeitern als sie der Verwahrvollzug hatte; notwendig ist vor allem die Verstärkung der Fachdienste (Psychologen, Werkbeamte, Sozialarbeiter usw.), die inzwischen wesentlich vorangetrieben wurde. Allerdings stellen sich nun Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen dem allgemeinen Vollzugsdienst und den Fachdiensten ein, sie bleiben auch zwischen den erfahrenen älteren und den noch unerfahrenen jüngeren Mitarbeitern nicht aus (Rollenkonflikte, Zielkonflikte, Generationsprobleme usw.). Diese, wie viele andere Schwierigkeiten, die zum Alltag des heutigen Vollzuges gehören, werden oft – insbesondere von Außenstehenden – nicht erkannt. Auch mancher Vollzugswissenschaftler übersieht sie in seiner verständlichen Reformungeduld. Ohne Berücksichtigung derartiger Hintergrundinformationen aus der Vollzugspraxis erscheint indessen eine Kommentierung der Strafvollzugsvorschriften gewagt, da die Gefahr unrealistischer Entscheidungen gegeben ist. Die rechtlichen Probleme des Vollzuges und deren Auswirkungen in der Praxis sind realistisch nur für denjenigen zu ermessen, der im Vollzug oder seiner Verwaltung selbst tätig war oder ist. Ziel dieses Kommentars war die praxisnahe Darstellung durch ein Team von Praktikern, die im Vollzug Verantwortung tragen oder wenigstens für einige Jahre getragen haben. Die Herausgeber stellen mit Zufriedenheit fest, daß es gelungen ist, namhafte Vollzugsexperten für die Bearbeitung zu gewinnen. Unter ihnen befinden sich allein acht amtierende bzw. ehemalige Anstaltsleiter, so daß wohl von einem Praktikerkommentar gesprochen werden darf. Anliegen aller Mitarbeiter des Werkes war es, die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes vor dem Hintergrund der Realitäten des Vollzuges zu erläutern und auch einschlägige Informationen über die Situation der Praxis in die Erörterungen einzubringen. Diese werden als Allgemeine Hinweise jeweils unter I der eigentlichen Kommentierung (II) vorangestellt. Zur weiteren Förderung des Verständnisses werden am Schluß der Kommentierung zahlreicher zentraler Vorschriften typische Beispiele aus dem Vollzugsalltag angeführt (III). Dabei wurde der Begriff des Beispiels bewußt weit gefaßt verstanden, etwa auch zur Vermittlung von Zusatzinformationen über die ärztliche Sprechstunde u. dgl. Jeweils anschließend an den Gesetzestext sind (deutlich durch Kursivdruck hervorgehoben) die Verwaltungsvorschriften (VV) abgedruckt. Zu Einzelfragen des Strafvollzugsgesetzes gibt es teilweise sehr umfangreiches Schrifttum, das nicht vollständig dokumentiert ist. Um den Kommentar übersichtlich und für den Praktiker gut lesbar und leicht benutzbar zu gestalten, wurden nur grundsätzliche oder
XIII
Vorwort
praxiserhebliche Veröffentlichungen erfaßt 1. Unter Gesichtpunkten der Praxis wurde der Kommentierung auch solcher Vorschriften breiter Raum eingeräumt, die in anderen Werken weniger ausführlich behandelt werden, die aber für den modernen Strafvollzug von Bedeutung sind; so etwa die Vorschriften zum ärztlichen Dienst (§§ 21, 56–66, 92, 158, sowie § 101), über die Seelsorge (§§ 53–55), die Entlassenenhilfe (§§ 74, 75) und zur kriminologischen Vollzugsforschung (§ 166), die nicht nur dem Praktiker des Vollzuges, sondern auch dem verantwortlichen Politiker (Ressortminister) die Rückmeldung über Erfolg oder Mißerfolg der investierten Mittel bringen kann. Rechtsprechung und Literatur sind bis einschließlich Januar 1983 berücksichtigt. Hannover/Bochum und Mainz, im Februar 1983
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Hans-Dieter Schwind Alexander Böhm
Nach den Vorgaben des Verlages wurde das Schrifttum wie folgt zitiert: a) Häufig zitierte Veröffentlichungen (z. B. andere Kommentare) sind bei der Kommentierung in Kurzform angegeben; die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Abkürzungsverzeichnis (s. XVII–XXIII). b) Literatur, die in der Kommentierung einer Vorschrift mehrfach zitiert wird, ist im Text in Kurzform zitiert; die vollständigen bibliographischen Angaben sind in der der Kommentierung vorangestellten Schrifttums-Übersicht angeführt. c) Selten zitierte Literatur wird bei der jeweiligen Vorschrift mit vollständigen bibliographischen Angaben angeführt. d) Im Text nicht zitierte, aber gleichwohl im Zusammenhang mit einer Vorschrift bedeutsame Literatur wurde der jeweiligen Texterläuterung vorangestellt (vgl. z. B. Schrifttum vor §§ 37 ff).
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Inhaltsübersicht Aufteilung der Kommentierung Verzeichnis der Autoren . . . . Vorwort zur fünften Auflage . . Vorwort zur ersten Auflage . . Zitierweise und Abkürzungen .
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V VII XI XIII XVII
Gesetzestext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kommentar Erster Abschnitt: Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . .
§1
49
Zweiter Abschnitt: Vollzug der Freiheitsstrafe Erster Titel: Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Titel: Planung des Vollzuges . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Titel: Unterbringung und Ernährung des Gefangenen . . Vierter Titel: Besuche, Schriftwechsel sowie Urlaub, Ausgang und Ausführung aus besonderem Anlass . . . . . . . . . . . . . Fünfter Titel: Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung . . . . . . Sechster Titel: Religionsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . Siebter Titel: Gesundheitsfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . Achter Titel: Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neunter Titel: Soziale Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zehnter Titel: Besondere Vorschriften für den Frauenstrafvollzug Elfter Titel: Sicherheit und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . Zwölfter Titel: Unmittelbarer Zwang . . . . . . . . . . . . . . Dreizehnter Titel: Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . Vierzehnter Titel: Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfzehnter Titel: Strafvollstreckung und Untersuchungshaft . Sechzehnter Titel: Sozialtherapeutische Anstalten . . . . . . . .
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§§ 2–4 §§ 5–16 §§ 17–22
57 100 269
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§§ 23–36 §§ 37–52 §§ 53–55 §§ 56–66 §§ 67–70 §§ 71–75 §§ 76–80 §§ 81–93 §§ 94–101 §§ 102–107 §§ 108–121 § 122 §§ 123–128
300 382 481 498 557 592 661 682 775 791 817 897 900
Erster Titel: Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Titel: Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§§ 129–135
909
§§ 136–138
921
§§ 139–150 §§ 151–153 §§ 154–161 §§ 162–165 § 166
935 978 997 1049 1056
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Dritter Abschnitt: Besondere Vorschriften über den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung
Vierter Abschnitt: Vollzugsbehörden Erster Titel: Arten und Einrichtung der Justizvollzugsanstalten Zweiter Titel: Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten . . . . Dritter Titel: Innerer Aufbau der Justizvollzugsanstalten . . . Vierter Titel: Anstaltsbeiräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfter Titel: Kriminologische Forschung im Strafvollzug . .
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Inhaltsübersicht
Fünfter Abschnitt: Vollzug weiterer freiheitsentziehender Maßnahmen in Justizvollzugsanstalten, Datenschutz, Sozial- und Arbeitslosenversicherung, Schlussvorschriften Erster Titel: Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten . . Zweiter Titel: Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Titel: Arbeitsentgelt in Jugendstrafanstalten und im Vollzug der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierter Titel: Unmittelbarer Zwang in Justizvollzugsanstalten . . . Fünfter Titel: Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechster Titel: Anpassung des Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . Siebter Titel: Sozial- und Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . Achter Titel: Einschränkung von Grundrechten, Inkrafttreten . . .
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§§ 167–170
1067
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§§ 171–175
1069
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§§ 176–177 § 178 §§ 179–187 §§ 188–189 §§ 190–195 §§ 196–202
1075 1081 1084 1190 1190 1199
1. Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug (DSVollz) 2. Strafvollzugsvergütungsordnung (StVollzVergO) . . . . . . . . . 3. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Bayerisches Strafvollzugsgesetz (BayStVollzG) . . . . . . . . . 3.2. Hamburgisches Strafvollzugsgesetz (HmbStVollzG) . . . . . 3.3. Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
1207 1211 1213 1213 1260 1296
Anhang . . . . . .
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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351
XVI
Zitierweise und Abkürzungen Paragraphen ohne Gesetzesangaben sind solche des StVollzG; Absätze oder Richtlinien ohne Paragraphenangaben beziehen sich auf den eben erläuterten Paragraphen. Randnummern ohne vorangestellte Paragraphenbezeichnung im Text bezeichnen Randnummern des eben erläuterten Paragraphen. Andere Kommentare werden gleicherweise mit Randnummern zitiert. Gesetzesblätter, Zeitschriften und Entscheidungssammlungen werden grundsätzlich nach Jahrgang und Seite zitiert; dies gilt nur dann nicht, wenn eine andere Zitierweise allgemein üblich ist (z.B. BGHSt). Literatur, die im jeweiligen Text mehrfach zitiert wird, ist unter der Bezeichnung „Schrifttum“ der Kommentierung der einzelnen Paragraphen vorangestellt worden. Wird eine Quelle nur einmal erwähnt, wird die Fundstelle nur im Text angegeben.
a. A. aaO abl. ABl. Abs. a. E. AE AE-StVollzG
a. F. AFG AFKG AfP AK-(Bearbeiter)
AK Erg.-(Bearbeiter)
Arloth Anm. AnwBl Art. Auernhammer Aufl. AuslG AV B BAföG
anderer Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Amtsblatt Absatz am Ende Alternativentwurf Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, vorgelegt von einem Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer, Tübingen 1973 alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht; früher Archiv für Presserecht Feest (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (Reihe Alternativkommentare, hrsg. von Rudolf Wassermann), 5. Aufl., Neuwied u.a. 2006 Feest (Hrsg.), Ergänzung des Kommentars zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG) nach den Gesetzesänderungen vom 2.8.2000 (BGBl. I S. 1253, 1261) und vom 27.12.2000 (BGBl. I S. 2043), Luchterhand 2001 Arloth, Strafvollzugsgesetz. Kommentar, 2. Aufl., München 2008 Anmerkung Anwaltsblatt Artikel Auernhammer, Bundesdatenschutzgesetz, 3. Aufl., Köln/Berlin/ Bonn/München 1993 Auflage Ausländergesetz Ausführungsvorschrift Bungert, Aus der Rechtsprechung zum Strafvollzugsgesetz, in: NStZ Bundesausbildungsförderungsgesetz
XVII
Zitierweise und Abkürzungen
BAG BAnz Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann BayDSG BayGVBl. BayLSG BayObLG BayStVollzG BayVerfGH BayVGH BayVVStVollzG Bbg BBiG Bd. BDSG Beck-Rs BefrVO Begr. Bek. ber. BerHG Beschl. Bew. BewHi BFH BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BKA BlGefK BlStV BMI BMJ Böhm Böhm/Schäfer
BRAGO BR-Drucks. BRRG Brunner/Dölling BSeuchG BSG BSHG BT-Drucks.
XVIII
Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung. Kommentar, 67. Aufl., München 2009 Bayrisches Datenschutzgesetz Bayrisches Gesetz und Verordnungsblatt Bayerisches Landessozialgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht; auch Entscheidungssammlung des BayObLG in Strafsachen Bayrisches Strafvollzugsgesetz Bayrischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Bayerische Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz Brandenburg Berufsbildungsgesetz Band Bundesdatenschutzgesetz Beck-Rechtsprechung Befreiungsverordnung Begründung Bekanntmachung berichtigt Beratungshilfegesetz Beschluss Bewährung, auch in Zusammensetzung, z.B. BewHelfer Zeitschrift für „Bewährungshilfe“ Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des BGH in Strafsachen Entscheidungen des BGH in Zivilsachen Bundeskriminalamt (Wiesbaden) Blätter für Gefängniskunde Blätter für Strafvollzugskunde (Beilage zum Vollzugsdienst) Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl., Neuwied und Kriftel 2003 Böhm/Schäfer (Hrsg.), Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen, 2. Aufl., Wiesbaden 1989 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung Bundesratsdrucksache Beamtenrechtsrahmengesetz Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz. Kommentar, 11. Aufl., Berlin/New York 2002 Bundesseuchengesetz Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bundestagsdrucksache
Zitierweise und Abkürzungen
BtM(G) Buchst. Bürgerschafts-Drucks. BUrlG BVerfG(K) BVerfGE BVerfSchG
BVerwG BVerwGE bzgl. BZRG bzw. Calliess C/MD CR DÄBl. dass. DB ders. d.h. dies. Diss. div. Dörr/Schmidt
Betäubungsmittel(gesetz) Buchstabe Bürgerschaftsdrucksache Bundesurlaubsgesetz Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in den Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesverwaltungsgericht Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl., München 1992 Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 11. Aufl., München 2008 Computer und Recht
DVBl. DVO DVollzO
Deutsches Ärzteblatt dasselbe Der Betrieb derselbe das heißt dieselbe Dissertation diverse Dörr/Schmidt, Neues Bundesdatenschutzgesetz. Handkommentar, 3. Aufl., Köln 1997 Die Öffentliche Verwaltung Dienstordnung für das Gesundheitswesen Deutsche Richterzeitung Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug Datenschutz und Datensicherung Dünkel, Empirische Forschung im Strafvollzug. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Bonn 1996 Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970 – Materialien und Analysen, 2. Aufl., Freiburg 1982 Deutsches Verwaltungsblatt Durchführungsverordnung Dienst- und Vollzugsordnung der Länder
E Eds. EG EG/EU EGGVG
Entwurf englisch für Herausgeber Einführungsgesetz Europäische Gemeinschaft/Europäische Union Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
DÖV DOG DRiZ DStRE DSVollz DuD Dünkel Dünkel/Rosner
XIX
Zitierweise und Abkürzungen
EGMR EGStGB Eisenberg EKD EMRK ERJuKoG Eschke
et al. EuStVollzGrds Eyermann-(Bearbeiter)
F f, ff FAZ FEVG FG FH Fichtner/Wenzel Fischer Fn. FPR FreihEntzG FS Name FS g GA GBl. Geb. gem. GG ggf. GKG GMV GOÄ Gola/Schomerus Grunau/Tiesler GS
XX
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (in Straßburg) Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl., München 2009 Evangelische Kirche in Deutschland (Europäische) Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Gesetz über elektronische Register und Justizkosten für Telekommunikation Eschke, Mängel im Rechtsschutz gegen Strafvollstreckungsund Strafvollzugsmaßnahmen. Eine Darstellung ausgewählter Probleme mit Lösungsvorschlägen, Heidelberg 1993 und andere Europäische Strafvollzugsgrundsätze Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 12. Aufl., München 2006 Franke, Aus der Rechtsprechung zum Strafvollzugsgesetz, in: NStZ folgende (r, s) Frankfurter Allgemeine Zeitung Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen Festgabe Fachhochschule Kommentar zum SGB XII – Sozialhilfe: Asylbewerberleistungsgesetz, 4. Aufl., München 2009 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 56. Aufl., München 2009 Fußnote Familie, Partnerschaft, Recht. Interdisziplinäres Fachjournal für die Praxis Gesetz über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen Festschrift Forum Strafvollzug (bis einschließlich 2006 ZfStrVo) Gramm Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gesetzblatt Geburtstag gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Gefangenenmitverantwortung Gebührenordnung für Ärzte Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz mit Erläuterungen, 9. Aufl., München 2007 Grunau/Tiesler, Strafvollzugsgesetz, 2. Aufl., Köln u.a. 1982 Gedächtnisschrift
Zitierweise und Abkürzungen
GUV GVBl. GVG
Gemeindeunfallversicherungsverbände Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz
H. Hauf HdbStKirchR
Heft Hauf, Strafvollzug. Kurzlehrbuch, Neuwied/Kriftel/Berlin 1994 Listl/Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1994–1995 Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1987–2000 Hessisch/hessischer/hessischen Hessische Verfassung herrschende Lehre herrschende Meinung Hamburgisches Datenschutzgesetz Hamburgisches Jugendstrafvollzugsgesetz Hamburgisches Strafvollzugsgesetz Höflich/Schriever, Grundriss Vollzugsrecht. Das Recht des Strafvollzugs und der Untersuchungshaft für Ausbildung, Studium und Praxis, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 2003 Höchstrichterliche Rechtsprechung in Strafsachen Herausgeber Halbsatz
HdbStR Hess Hess.Verf. h.L. h.M. HmbDSG HmbJStVollzG HmbStVollzG Höflich/Schriever
HRRS Hrsg. HS. IAO i. d. Bek. i. d. F. i. d. R. i. d. S. IRG i. S. i. S. d. i. V. i. V. m. JA JGG JGH JHG JMBl. JR JStrVK jur. Jura JuS JVA(en) JV KostO JVollzDSG JWG JZ
Internationale Arbeitsorganisation in der Bekanntmachung in der Fassung in der Regel in diesem Sinne Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Sinne im Sinne des in Verbindung in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz Jugendgerichtshilfe Jugendhilfegesetz Justizministerialblatt (z.B. NW = für Nordrhein-Westfalen) Juristische Rundschau Jugendstrafvollzugskommission juristisch(e) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Justizvollzugsanstalt(en) Verordnung über Kosten im Bereich der Justizverwaltung Gesetz über den Datenschutz im Justizvollzug in Baden-Württemberg Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung
XXI
Zitierweise und Abkürzungen
Kamann KD KE KG Kissel KK-(Bearbeiter)
K/K/S-(Bearbeiter) Kopp/Schenke Kopp/Ramsauer KrimBull KrimGegfr. KrimJ KrimPäd KrimZ krit. KritJ K/S-(Bearbeiter) KVLG KZfSS LAG Laubenthal LDSG LG Litwinski/Bublies LK-(Bearbeiter) LKA LPartG LR-(Bearbeiter) LS LSA LSG LT LT-Drucks. LV, LVerf M m. Maunz/Dürig-(Bearbeiter)
XXII
Kamann, Handbuch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug, 2. Aufl., Recklinghausen 2008 Kriminologischer Dienst Kommissionsentwurf Kammergericht Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Auflage, München 2008 Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz mit Einführungsgesetz, 6. Aufl., München 2008 Kaiser/Kerner/Schöch. Strafvollzug, 4. Aufl., Heidelberg 1992 Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung. Kommentar, 15. Aufl., München 2007 Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar, 10. Aufl., München 2008 Kriminologisches Bulletin Kriminologische Gegenwartsfragen Kriminologisches Journal Kriminalpädagogische Praxis Kriminologische Zentralstelle e.V. (Wiesbaden) kritisch Kritische Justiz Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl., Heidelberg 2002 Gesetz über die Krankenversicherung für Landwirte Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Landesarbeitsgericht Laubenthal, Strafvollzug, 5. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 2008 Landesdatenschutzgesetz Landgericht Litwinski/Bublies, Strafverteidigung im Strafvollzug, München 1989 Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Berlin/ New York 2006–2009 Landeskriminalamt Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl., Berlin/New York 2006–2009 Leitsatz Land Sachsen-Anhalt Landessozialgericht Landtag Landtagsdrucksache Landesverfassung Matzke, Aus der Rechtsprechung zum Strafvollzugsgesetz, in: NStZ mit Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, München, Stand Januar 2009
Zitierweise und Abkürzungen
MdJ MDR MedR Meyer-Goßner
Minima
MiStra MJ MR MRK MRVG MschrKrim MünchKommStGB MuSchG M-V m. w. N. NAV nds. NDSG Nds MVollzG NdsRpfl. NDV NJ n. F. NJVollzG NJW NK Nr. NRW, NW NStE NStZ NStZ-RR NVwZ NZS OEG o. J. OK OLG OLGSt
Minister(ium) der Justiz Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze. Kommentar, 51. Aufl., München 2008 Europäische Strafvollzugsgrundsätze, überarbeitete europäische Fassung der Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen – Entschließung des Ministerkomitees des Europarates vom 12.2.1987 bei der 404. Tagung der Ministerstellvertreter (Empfehlung Nr. R [87] 3), Heidelberg 1988 Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen Ministerium der Justiz Mutterschaftsrichtlinien (Europäische) Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Maßregelvollzugsgesetz (Landesgesetze) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Joecks/Miebach (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Münchner Kommentar, München 2003–2006 Mutterschutzgesetz Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Ausführungsvorschrift niedersächsisch Niedersächsisches Datenschutzgesetz Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz Niedersächsische Rechtspflege Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Neue Justiz neue Fassung Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz Neue Juristische Wochenschrift Neue Kriminalpolitik Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten ohne Jahresangabe Organisierte Kriminalität Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Straf-, Ordnungswidrigkeiten und Ehrengerichtssachen
XXIII
Zitierweise und Abkürzungen
OVG OWiG
Oberverwaltungsgericht Ordnungswidrigkeitengesetz
PFA PKS
Polizeiführungsakademie (Hiltrup) Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland 2003, Wiesbaden 2004 Protokolle der Sitzungen des Bundestags-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Stenographischer Dienst) Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (Landesgesetze)
Prot.
PsychKG
RBerG RDG RdJ Rdn. RDV RE, RegE
REC
RG RGBl. RGSt RiStBV RiVASt RK R&P Rpfleger Rspr. RV RVG RVO s. S. SA sächs. Schaffland/Wiltfang
Schellhorn
SchlHA
XXIV
Rechtsberatungsgesetz Rechtsdienstleistungsgesetz Recht der Jugend und des Bildungswesens Randnummer Recht der Datenverarbeitung Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Regierungsentwurf) Europäische Strafvollzugsgrundsätze 2006 des Ministerkomitees des Europarates, von diesem verabschiedet als „Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules“ Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des RG in Strafsachen Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich (Reichskonkordat) vom 20.7.1933 Recht und Psychiatrie Der Deutsche Rechtspfleger Rechtsprechung Rundverfügung Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Reichsversicherungsordnung siehe Seite Sonderausschuss (Bericht und Antrag des Bundestags-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform) sächsisch(e) Schaffland/Wiltfang, Bundesdatenschutzgesetz. Ergänzbarer Kommentar nebst einschlägigen Rechtsvorschriften, Berlin 1977, Stand 2008 Schellhorn, Das Bundessozialhilfegesetz. Ein Kommentar für Ausbildung, Praxis und Wissenschaft, 16. Aufl., Neuwied/ Darmstadt 2002 Schleswig-Holsteinische Anzeigen
Zitierweise und Abkürzungen
SchlußB Schüler-Springorum SchwbG Schwind/Blau
Seebode SGB I-XI SH Simitis-(Bearbeiter) sog. SozR StGB StPO StraFo Strafverfolgungsstatistik
Strafvollzugsstatistik Bd. 4.1
Strafvollzugsstatistik Bd. 4.2
StrVK StV StVK StVollstrO StVollzFG StVollzG StVollzGÄndG StVollzO StVollzVergO s. u. u. a. u. ä. UHaft UHaftVollzO UJ UnterbrG
Schlussbericht (der JStrVK, hrsg. vom BMJ, 1980) Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang. Studien zum Stand der Vollzugsrechtslehre, Göttingen 1969 Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz) Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis. Eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzugs und der Entlassenenhilfe, 2. Aufl., Berlin/New York 1988 Seebode, Strafvollzug I, Lingen 1997 Sozialgesetzbuch (1. bis 11. Buch) Sonderheft Simitis, Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl., Baden-Baden 2006 so genannte(r) Sozialrecht. Rechtsprechung und Schrifttum, bearbeitet von den Richtern des BSG Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Rechtspflege. Fachserie 10, Reihe 3. Strafverfolgung 2006, Wiesbaden 2007 (nur online verfügbar unter www.destatis.de/shop) Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Rechtspflege. Fachserie 10, Reihe 4.1. Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3.2007 sowie 31.3.2008, Wiesbaden 2009 (nur online verfügbar unter www.destatis.de/shop) Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Rechtspflege. Fachserie 10, Reihe 4.2. Strafvollzug – Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten 2008, Wiesbaden. 2009 (nur online verfügbar unter www.destatis.de/shop) Strafvollzugskommission Strafverteidiger Strafvollstreckungskammer Strafvollstreckungsordnung Strafvollzugsfortentwicklungsgesetz Strafvollzugsgesetz Gesetz zur Änderung des StVollzG Strafvollzugsordnung Strafvollzugsvergütungsordnung siehe unten unter anderem und ähnliche Untersuchungshaft Untersuchungshaftvollzugsordnung Unsere Jugend, Zeitschrift für Jugendhilfe in Wissenschaft und Praxis Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung
XXV
Zitierweise und Abkürzungen
usw. u.U. UVollzO
und so weiter unter Umständen Untersuchungshaftvollzugsordnung (bundeseinheitlich)
VerfGH VerpflG
Verfassungsgerichtshof Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz) Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaates Bayern und über das Abhilfeverfahren Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vollzugsgeschäftsordnung Verordnung Vorbemerkung Verwaltungsvorschriften (zum Strafvollzugsgesetz) Gesetz über den Versicherungsvertrag Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften für den Jugendstrafvollzug Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz
VertrV VG VGH vgl. VGO VO Vorb. VV VVG VVJug. VVStVollzG VwGO VwVfG Walter WRV WStG WPKG WzM
Walter, Strafvollzug. Lehrbuch, 2. Aufl., Stuttgart/München/ Hannover 1999 Weimarer Reichsverfassung Wehrstrafgesetz Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft Wege zum Menschen
ZAR z. B. Zbl. ZevKR ZfSH/SGB ZfStrVo ZFU zit. ZPO ZRP ZStW z. T. zul. g. zust.
Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Staatliche Zentralstelle für Fernunterricht zitiert Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil zuletzt geändert zustimmend
Vgl. im Übrigen die den Kommentierungen vorangestellte Literatur.
XXVI
Gesetzestext Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (StVollzG) Vom 16. März 1976 (BGBl. I S. 581, ber. S. 2088 und 1977 S. 436) (BGBl. III 312-9-1) Geändert durch Gesetze vom 18. August 1976 (BGBl. I S. 2181), vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1523), vom 20. Januar 1984 (BGBl. I S. 97, 360), vom 20. Dezember 1984 (BGBl. I S. 1654, ber. 1985 S. 1266), vom 27. Februar 1985 (BGBl. I S. 461), vom 27. Januar 1987 (BGBl. I S. 475), vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477), vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2261), vom 23. September 1990 (Einigungsvertragsgesetz BGBl. II S. 885, 956, 957, 959), vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2847), vom 24. März 1997 (BGBl. I S. 594), vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160), vom 26. August 1998 (BGBl. I S. 2461), vom 2. August 2000 (BGBl. I S. 1253), vom 27. Dezember 2000 (BGBl. I S. 2043), vom 18. Mai 2001 (BGBl. I S. 904), vom 10. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3422), vom 22. August 2002 (BGBl. I S. 3390), vom 5. Oktober 2002 (BGBl. I S. 3954), vom 25. November 2003 (BGBl. I S. 2300), vom 23. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) und vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022), vom 23.3.2005 (BGBl. I S. 930). Zuletzt geändert durch § 62 Abs. 10 des Gesetzes vom 17. Juni 2008 (BGBl. I S. 1010).
Erster Abschnitt
Anwendungsbereich §1 Dieses Gesetz regelt den Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung.
Zweiter Abschnitt
Vollzug der Freiheitsstrafe ERSTER TITEL
Grundsätze §2 Aufgaben des Vollzuges Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. §3 Gestaltung des Vollzuges (1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. §4 Stellung des Gefangenen (1) Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern.
1
Gesetzestext
(2) Der Gefangene unterliegt den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit. Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, dürfen ihm nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind.
ZWEITER TITEL
Planung des Vollzuges §5 Aufnahmeverfahren (1) Beim Aufnahmeverfahren dürfen andere Gefangene nicht zugegen sein. (2) Der Gefangene wird über seine Rechte und Pflichten unterrichtet. Anstalt oder der Aufnahmeabteilung vorgestellt. §6 Behandlungsuntersuchung, Beteiligung des Gefangenen (1) Nach dem Aufnahmeverfahren wird damit begonnen, die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Gefangenen zu erforschen. Hiervon kann abgesehen werden, wenn dies mit Rücksicht auf die Vollzugsdauer nicht geboten erscheint. (2) Die Untersuchung erstreckt sich auf die Umstände, deren Kenntnis für eine planvolle Behandlung des Gefangenen im Vollzug und für die Eingliederung nach seiner Entlassung notwendig ist. Bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches verurteilt worden sind, ist besonders gründlich zu prüfen, ob die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt angezeigt ist. (3) Die Planung der Behandlung wird mit dem Gefangenen erörtert. §7 Vollzugsplan (1) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) wird ein Vollzugsplan erstellt. (2) Der Vollzugsplan enthält Angaben mindestens über folgende Behandlungsmaßnahmen: 1. die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug, 2. die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt, 3. die Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen, 4. den Arbeitseinsatz sowie Maßnahmen der beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung, 5. die Teilnahme an Veranstaltungen der Weiterbildung, 6. besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen, 7. Lockerungen des Vollzuges und 8. notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung. (3) Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten. Hierfür sind im Vollzugsplan angemessene Fristen vorzusehen. (4) Bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches zu Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden sind, ist über eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt jeweils nach Ablauf von sechs Monaten neu zu entscheiden.
2
Gesetzestext
§8 Verlegung. Überstellung (1) Der Gefangene kann abweichend vom Vollstreckungsplan in eine andere für den Vollzug der Freiheitsstrafe zuständige Anstalt verlegt werden, 1. wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird oder 2. wenn dies aus Gründen der Vollzugsorganisation oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist. (2) Der Gefangene darf aus wichtigem Grund in eine andere Vollzugsanstalt überstellt werden. §9 Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (1) Ein Gefangener ist in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen, wenn er wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches zu zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 6 Abs. 2 Satz 2 oder § 7 Abs. 4 angezeigt ist. Der Gefangene ist zurückzuverlegen, wenn der Zweck der Behandlung aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, nicht erreicht werden kann. (2) Andere Gefangene können mit ihrer Zustimmung in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden, wenn die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der Anstalt zu ihrer Resozialisierung angezeigt sind. In diesen Fällen bedarf die Verlegung der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt. (3) Die §§ 8 und 85 bleiben unberührt. § 10 Offener und geschlossener Vollzug (1) Ein Gefangener soll mit seiner Zustimmung in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, daß er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde. (2) Im übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen. Ein Gefangener kann auch dann im geschlossenen Vollzug untergebracht oder dorthin zurückverlegt werden, wenn dies zu seiner Behandlung notwendig ist. § 11 Lockerungen des Vollzuges (1) Als Lockerung des Vollzuges kann namentlich angeordnet werden, daß der Gefangene 1. außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Freigang) nachgehen darf oder 2. für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Ausgang) verlassen darf. (2) Diese Lockerungen dürfen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde. § 12 Ausführung aus besonderen Gründen Ein Gefangener darf auch ohne seine Zustimmung ausgeführt werden, wenn dies aus besonderen Gründen notwendig ist.
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Gesetzestext
§ 13 Urlaub aus der Haft (1) Ein Gefangener kann bis zu einundzwanzig Kalendertagen in einem Jahr aus der Haft beurlaubt werden. § 11 Abs. 2 gilt entsprechend. (2) Der Urlaub soll in der Regel erst gewährt werden, wenn der Gefangene sich mindestens sechs Monate im Strafvollzug befunden hat. (3) Ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener kann beurlaubt werden, wenn er sich einschließlich einer vorhergehenden Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung zehn Jahre im Vollzug befunden hat oder wenn er in den offenen Vollzug überwiesen ist. (4) Gefangenen, die sich für den offenen Vollzug eignen, aus besonderen Gründen aber in einer geschlossenen Anstalt untergebracht sind, kann nach den für den offenen Vollzug geltenden Vorschriften Urlaub erteilt werden. (5) Durch den Urlaub wird die Strafvollstreckung nicht unterbrochen. § 14 Weisungen, Aufhebung von Lockerungen und Urlaub (1) Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen für Lockerungen und Urlaub Weisungen erteilen. (2) Er kann Lockerungen und Urlaub widerrufen, wenn 1. er auf Grund nachträglich eingetretener Umstände berechtigt wäre, die Maßnahmen zu versagen, 2. der Gefangene die Maßnahmen mißbraucht oder 3. der Gefangene Weisungen nicht nachkommt. Er kann Lockerungen und Urlaub mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen, wenn die Voraussetzungen für ihre Bewilligung nicht vorgelegen haben. § 15 Entlassungsvorbereitung (1) Um die Entlassung vorzubereiten, soll der Vollzug gelockert werden (§ 11). (2) Der Gefangene kann in eine offene Anstalt oder Abteilung (§ 10) verlegt werden, wenn dies der Vorbereitung der Entlassung dient. (3) Innerhalb von drei Monaten vor der Entlassung kann zu deren Vorbereitung Sonderurlaub bis zu einer Woche gewährt werden. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (4) Freigängern (§ 11 Abs. 1 Nr. 1) kann innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung Sonderurlaub bis zu sechs Tagen im Monat gewährt werden. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung. § 16 Entlassungszeitpunkt (1) Der Gefangene soll am letzten Tag seiner Strafzeit möglichst frühzeitig, jedenfalls noch am Vormittag entlassen werden. (2) Fällt das Strafende auf einen Sonnabend oder Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag, den ersten Werktag nach Ostern oder Pfingsten oder in die Zeit vom 22. Dezember bis zum 2. Januar, so kann der Gefangene an dem diesem Tag oder Zeitraum vorhergehenden Werktag entlassen werden, wenn dies nach der Länge der Strafzeit vertretbar ist und fürsorgerische Gründe nicht entgegenstehen. (3) Der Entlassungszeitpunkt kann bis zu zwei Tagen vorverlegt werden, wenn dringende Gründe dafür vorliegen, daß der Gefangene zu seiner Eingliederung hierauf angewiesen ist.
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DRITTER TITEL
Unterbringung und Ernährung des Gefangenen § 17 Unterbringung während der Arbeit und Freizeit (1) Die Gefangenen arbeiten gemeinsam. Dasselbe gilt für Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung sowie arbeitstherapeutische und sonstige Beschäftigung während der Arbeitszeit. (2) Während der Freizeit können die Gefangenen sich in der Gemeinschaft mit den anderen aufhalten. Für die Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen kann der Anstaltsleiter mit Rücksicht auf die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt besondere Regelungen treffen. (3) Die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit kann eingeschränkt werden, 1. wenn ein schädlicher Einfluß auf andere Gefangene zu befürchten ist, 2. wenn der Gefangene nach § 6 untersucht wird, aber nicht länger als zwei Monate, 3. wenn es die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erfordert oder 4. wenn der Gefangene zustimmt. § 18 Unterbringung während der Ruhezeit (1) Gefangene werden während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen untergebracht. Eine gemeinsame Unterbringung ist zulässig, sofern ein Gefangener hilfsbedürftig ist oder eine Gefahr für Leben oder Gesundheit eines Gefangenen besteht. (2) Im offenen Vollzug dürfen Gefangene mit ihrer Zustimmung während der Ruhezeit gemeinsam untergebracht werden, wenn eine schädliche Beeinflussung nicht zu befürchten ist. Im geschlossenen Vollzug ist eine gemeinschaftliche Unterbringung zur Ruhezeit außer in den Fällen des Absatzes 1 nur vorübergehend und aus zwingenden Gründen zulässig.
§ 19 Ausstattung des Haftraumes durch den Gefangenen und sein persönlicher Besitz (1) Der Gefangene darf seinen Haftraum in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausstatten. Lichtbilder nahestehender Personen und Erinnerungsstücke von persönlichem Wert werden ihm belassen. (2) Vorkehrungen und Gegenstände, die die Übersichtlichkeit des Haftraumes behindern oder in anderer Weise Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden, können ausgeschlossen werden. § 20 Kleidung (1) Der Gefangene trägt Anstaltskleidung. Für die Freizeit erhält er eine besondere Oberbekleidung. (2) Der Anstaltsleiter gestattet dem Gefangenen, bei einer Ausführung eigene Kleidung zu tragen, wenn zu erwarten ist, daß er nicht entweichen wird. Er kann dies auch sonst gestatten, sofern der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt.
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§ 21 Anstaltsverpflegung Zusammensetzung und Nährwert der Anstaltsverpflegung werden ärztlich überwacht. Auf ärztliche Anordnung wird besondere Verpflegung gewährt. Dem Gefangenen ist zu ermöglichen, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen. § 22 Einkauf (1) Der Gefangene kann sich von seinem Hausgeld (§ 47) oder von seinem Taschengeld (§ 46) aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot Nahrungs- und Genußmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen. Die Anstalt soll für ein Angebot sorgen, das auf Wünsche und Bedürfnisse der Gefangenen Rücksicht nimmt. (2) Gegenstände, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden, können vom Einkauf ausgeschlossen werden. Auf ärztliche Anordnung kann dem Gefangenen der Einkauf einzelner Nahrungs- und Genußmittel ganz oder teilweise untersagt werden, wenn zu befürchten ist, daß sie seine Gesundheit ernsthaft gefährden. In Krankenhäusern und Krankenabteilungen kann der Einkauf einzelner Nahrungs- und Genußmittel auf ärztliche Anordnung allgemein untersagt oder eingeschränkt werden. (3) Verfügt der Gefangene ohne eigenes Verschulden nicht über Haus- oder Taschengeld, wird ihm gestattet, in angemessenem Umfang vom Eigengeld einzukaufen. VIERTER TITEL
Besuche, Schriftwechsel sowie Urlaub, Ausgang und Ausführung aus besonderem Anlaß § 23 Grundsatz Der Gefangene hat das Recht, mit Personen außerhalb der Anstalt im Rahmen der Vorschriften dieses Gesetzes zu verkehren. Der Verkehr mit Personen außerhalb der Anstalt ist zu fördern. § 24 Recht auf Besuch (1) Der Gefangene darf regelmäßig Besuch empfangen. Die Gesamtdauer beträgt mindestens eine Stunde im Monat. Das Weitere regelt die Hausordnung. (2) Besuche sollen darüber hinaus zugelassen werden, wenn sie die Behandlung oder Eingliederung des Gefangenen fördern oder persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten dienen, die nicht vom Gefangenen schriftlich erledigt, durch Dritte wahrgenommen oder bis zur Entlassung des Gefangenen aufgeschoben werden können. (3) Aus Gründen der Sicherheit kann ein Besuch davon abhängig gemacht werden, daß sich der Besucher durchsuchen läßt. § 25 Besuchsverbot Der Anstaltsleiter kann Besuche untersagen, 1. wenn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. bei Besuchern, die nicht Angehörige des Gefangenen im Sinne des Strafgesetzbuches sind, wenn zu befürchten ist, daß sie einen schädlichen Einfluß auf den Gefangenen haben oder seine Eingliederung behindern würden.
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§ 26 Besuche von Verteidigern, Rechtsanwälten und Notaren Besuche von Verteidigern sowie von Rechtsanwälten oder Notaren in einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache sind zu gestatten. § 24 Abs. 3 gilt entsprechend. Eine inhaltliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeführten Schriftstücke und sonstigen Unterlagen ist nicht zulässig. § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 bleibt unberührt.
§ 27 Überwachung der Besuche (1) Die Besuche dürfen aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden, es sei denn, es liegen im Einzelfall Erkenntnisse dafür vor, daß es der Überwachung nicht bedarf. Die Unterhaltung darf nur überwacht werden, soweit dies im Einzelfall aus diesen Gründen erforderlich ist. (2) Ein Besuch darf abgebrochen werden, wenn Besucher oder Gefangene gegen die Vorschriften dieses Gesetzes oder die auf Grund dieses Gesetzes getroffenen Anordnungen trotz Abmahnung verstoßen. Die Abmahnung unterbleibt, wenn es unerläßlich ist, den Besuch sofort abzubrechen. (3) Besuche von Verteidigern werden nicht überwacht. (4) Gegenstände dürfen beim Besuch nur mit Erlaubnis übergeben werden. Dies gilt nicht für die bei dem Besuch des Verteidigers übergebenen Schriftstücke und sonstigen Unterlagen sowie für die bei dem Besuch eines Rechtsanwalts oder Notars zur Erledigung einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache übergebenden Schriftstücke und sonstigen Unterlagen; bei dem Besuch eines Rechtsanwalts oder Notars kann die Übergabe aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt von der Erlaubnis abhängig gemacht werden. § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 bleibt unberührt. § 28 Recht auf Schriftwechsel (1) Der Gefangene hat das Recht, unbeschränkt Schreiben abzusenden und zu empfangen. (2) Der Anstaltsleiter kann den Schriftwechsel mit bestimmten Personen untersagen, 1. wenn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. bei Personen, die nicht Angehörige des Gefangenen im Sinne des Strafgesetzbuches sind, wenn zu befürchten ist, daß der Schriftwechsel einen schädlichen Einfluß auf den Gefangenen haben oder seine Eingliederung behindern würde.
§ 29 Überwachung des Schriftwechsels (1) Der Schriftwechsel des Gefangenen mit seinem Verteidiger wird nicht überwacht. Liegt dem Vollzug der Freiheitsstrafe eine Straftat nach des § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches zugrunde, gelten § 148 Abs. 2, § 148a der Strafprozeßordnung entsprechend; dies gilt nicht, wenn der Gefangene sich in einer Einrichtung des offenen Vollzuges befindet oder wenn ihm Lockerungen des Vollzuges gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 zweiter Halbsatz oder Urlaub gemäß § 13 oder § 15 Abs. 3 gewährt worden sind und ein Grund, der den Anstaltsleiter nach § 14 Abs. 2 zum Widerruf oder zur Zurücknahme von Lockerungen und Urlaub ermächtigt, nicht vorliegt. Satz 2 gilt auch, wenn gegen einen Strafgefangenen im Anschluß an die dem Vollzug der Freiheitsstrafe zugrundeliegende Verurteilung eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches zu vollstrecken ist.
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(2) Nicht überwacht werden ferner Schreiben des Gefangenen an Volksvertretungen des Bundes und der Länder sowie an deren Mitglieder, soweit die Schreiben an die Anschriften dieser Volksvertretungen gerichtet sind und den Absender zutreffend angeben. Entsprechendes gilt für Schreiben an das Europäische Parlament und dessen Mitglieder, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die Europäische Kommission für Menschenrechte, den Europäischen Ausschuß zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder. Schreiben der in den Sätzen 1 und 2 genannten Stellen, die an den Gefangenen gerichtet sind, werden nicht überwacht, sofern die Identität des Absenders zweifelsfrei feststeht. (3) Der übrige Schriftwechsel darf überwacht werden, soweit es aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist.
§ 30 Weiterleitung von Schreiben. Aufbewahrung (1) Der Gefangene hat Absendung und Empfang seiner Schreiben durch die Anstalt vermitteln zu lassen, soweit nichts anderes gestattet ist. (2) Eingehende und ausgehende Schreiben sind unverzüglich weiterzuleiten. (3) Der Gefangene hat eingehende Schreiben unverschlossen zu verwahren, sofern nichts anderes gestattet wird; er kann sie verschlossen zu seiner Habe geben. § 31 Anhalten von Schreiben (1) Der Anstaltsleiter kann Schreiben anhalten, 1. wenn das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. wenn die Weitergabe in Kenntnis ihres Inhalts einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklichen würde, 3. wenn sie grob unrichtige oder erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen enthalten, 4. wenn sie grobe Beleidigungen enthalten, 5. wenn sie die Eingliederung eines anderen Gefangenen gefährden können oder 6. wenn sie in Geheimschrift, unlesbar, unverständlich oder ohne zwingenden Grund in einer fremden Sprache abgefaßt sind. (2) Ausgehenden Schreiben, die unrichtige Darstellungen enthalten, kann ein Begleitschreiben beigefügt werden, wenn der Gefangene auf der Absendung besteht. (3) Ist ein Schreiben angehalten worden, wird das dem Gefangenen mitgeteilt. Angehaltene Schreiben werden an den Absender zurückgegeben oder, sofern dies unmöglich oder aus besonderen Gründen untunlich ist, behördlich verwahrt. (4) Schreiben, deren Überwachung nach § 29 Abs. 1 und 2 ausgeschlossen ist, dürfen nicht angehalten werden. § 32 Ferngespräche und Telegramme Dem Gefangenen kann gestattet werden, Ferngespräche zu führen oder Telegramme aufzugeben. Im übrigen gelten für Ferngespräche die Vorschriften über den Besuch und für Telegramme die Vorschriften über den Schriftwechsel entsprechend. Ist die Überwachung der fernmündlichen Unterhaltung erforderlich, ist die beabsichtigte Überwachung dem Gesprächspartner des Gefangenen unmittelbar nach Herstellung der Verbindung durch die Vollzugsbehörde oder den Gefangenen mitzuteilen. Der Gefangene ist rechtzeitig vor Beginn der fern-
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mündlichen Unterhaltung über die beabsichtigte Überwachung und die Mitteilungspflicht nach Satz 3 zu unterrichten. § 33 Pakete (1) Der Gefangene darf dreimal jährlich in angemessenen Abständen ein Paket mit Nahrungs- und Genußmitteln empfangen. Die Vollzugsbehörde kann Zeitpunkt und Höchstmengen für die Sendung und für einzelne Gegenstände festsetzen. Der Empfang weiterer Pakete oder solcher mit anderem Inhalt bedarf ihrer Erlaubnis. Für den Ausschluß von Gegenständen gilt § 22 Abs. 2 entsprechend. (2) Pakete sind in Gegenwart des Gefangenen zu öffnen. Ausgeschlossene Gegenstände können zu seiner Habe genommen oder dem Absender zurückgesandt werden. Nicht ausgehändigte Gegenstände, durch die bei der Versendung oder Aufbewahrung Personen verletzt oder Sachschäden verursacht werden können, dürfen vernichtet werden. Die hiernach getroffenen Maßnahmen werden dem Gefangenen eröffnet. (3) Der Empfang von Paketen kann vorübergehend versagt werden, wenn dies wegen Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerläßlich ist. (4) Dem Gefangenen kann gestattet werden, Pakete zu versenden. Die Vollzugsbehörde kann ihren Inhalt aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überprüfen. § 34 Verwertung von Kenntnissen (weggefallen) § 35 Urlaub, Ausgang und Ausführung aus wichtigem Anlaß (1) Aus wichtigem Anlaß kann der Anstaltsleiter dem Gefangenen Ausgang gewähren oder ihn bis zu sieben Tagen beurlauben; der Urlaub aus anderem wichtigen Anlaß als wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung oder wegen des Todes eines Angehörigen darf sieben Tage im Jahr nicht übersteigen. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (2) Der Urlaub nach Absatz 1 wird nicht auf den regelmäßigen Urlaub angerechnet. (3) Kann Ausgang oder Urlaub aus den in § 11 Abs. 2 genannten Gründen nicht gewährt werden, kann der Anstaltsleiter den Gefangenen ausführen lassen. Die Aufwendungen hierfür hat der Gefangene zu tragen. Der Anspruch ist nicht geltend zu machen, wenn dies die Behandlung oder die Eingliederung behindern würde.
§ 36 Gerichtliche Termine (1) Der Anstaltsleiter kann einem Gefangenen zur Teilnahme an einem gerichtlichen Termin Ausgang oder Urlaub erteilen, wenn anzunehmen ist, daß er der Ladung folgt und keine Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) besteht. § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (2) Wenn ein Gefangener zu einem gerichtlichen Termin geladen ist und Ausgang oder Urlaub nicht gewährt wird, läßt der Anstaltsleiter ihn mit seiner Zustimmung zu dem Termin ausführen, sofern wegen Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) keine überwiegenden Gründe entgegenstehen. Auf Ersuchen eines Gerichts läßt er den Gefangenen vorführen, sofern ein Vorführungsbefehl vorliegt. (3) Die Vollzugsbehörde unterrichtet das Gericht über das Veranlaßte.
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FÜNFTER TITEL
Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung § 37 Zuweisung (1) Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung dienen insbesondere dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. (2) Die Vollzugsbehörde soll dem Gefangenen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zuweisen und dabei seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen berücksichtigen. (3) Geeigneten Gefangenen soll Gelegenheit zur Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder Teilnahme an anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen gegeben werden. (4) Kann einem arbeitsfähigen Gefangenen keine wirtschaftlich ergiebige Arbeit oder die Teilnahme an Maßnahmen nach Absatz 3 zugewiesen werden, wird ihm eine angemessene Beschäftigung zugeteilt. (5) Ist ein Gefangener zu wirtschaftlich ergiebiger Arbeit nicht fähig, soll er arbeitstherapeutisch beschäftigt werden. § 38 Unterricht (1) Für geeignete Gefangene, die den Abschluß der Hauptschule nicht erreicht haben, soll Unterricht in den zum Hauptschulabschluß führenden Fächern oder ein der Sonderschule entsprechender Unterricht vorgesehen werden. Bei der beruflichen Ausbildung ist berufsbildender Unterricht vorzusehen; dies gilt auch für die berufliche Weiterbildung, soweit die Art der Maßnahme es erfordert. (2) Unterricht soll während der Arbeitszeit stattfinden. § 39 Freies Beschäftigungsverhältnis, Selbstbeschäftigung (1) Dem Gefangenen soll gestattet werden, einer Arbeit, Berufsausbildung oder beruflichen Weiterbildung auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt nachzugehen, wenn dies im Rahmen des Vollzugsplanes dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern und nicht überwiegende Gründe des Vollzuges entgegenstehen. § 11 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 14 bleiben unberührt. (2) Dem Gefangenen kann gestattet werden, sich selbst zu beschäftigen. (3) Die Vollzugsbehörde kann verlangen, daß ihr das Entgelt zur Gutschrift für den Gefangenen überwiesen wird. § 40 Abschlußzeugnis Aus dem Abschlußzeugnis über eine ausbildende oder weiterbildende Maßnahme darf die Gefangenschaft eines Teilnehmers nicht erkennbar sein. § 41 Arbeitspflicht (1) Der Gefangene ist verpflichtet, eine ihm zugewiesene, seinen körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben, zu deren
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Verrichtung er auf Grund seines körperlichen Zustandes in der Lage ist. Er kann jährlich bis zu drei Monaten zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden, mit seiner Zustimmung auch darüber hinaus. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Gefangene, die über 65 Jahre alt sind, und nicht für werdende und stillende Mütter, soweit gesetzliche Beschäftigungsverbote zum Schutz erwerbstätiger Mütter bestehen. (2) Die Teilnahme an einer Maßnahme nach § 37 Abs. 3 bedarf der Zustimmung des Gefangenen. Die Zustimmung darf nicht zur Unzeit widerrufen werden.
§ 42 Freistellung von der Arbeitspflicht (1) Hat der Gefangene ein Jahr lang zugewiesene Tätigkeit nach § 37 oder Hilfstätigkeiten nach § 41 Abs. 1 Satz 2 ausgeübt, so kann er beanspruchen, achtzehn Werktage von der Arbeitspflicht freigestellt zu werden. Zeiten, in denen der Gefangene infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert war, werden auf das Jahr bis zu sechs Wochen jährlich angerechnet. (2) Auf die Zeit der Freistellung wird Urlaub aus der Haft (§§ 13, 35) angerechnet, soweit er in die Arbeitszeit fällt und nicht wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung oder des Todes eines Angehörigen erteilt worden ist. (3) Der Gefangene erhält für die Zeit der Freistellung seine zuletzt gezahlten Bezüge weiter. (4) Urlaubsregelungen der Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Strafvollzuges bleiben unberührt. § 43 Arbeitsentgelt, Arbeitsurlaub und Anrechnung der Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt (1) Die Arbeit des Gefangenen wird anerkannt durch Arbeitsentgelt und eine Freistellung von der Arbeit, die auch als Urlaub aus der Haft (Arbeitsurlaub) genutzt oder auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden kann. (2) Übt der Gefangene eine zugewiesene Arbeit, sonstige Beschäftigung oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts ist der in § 200 bestimmte Satz der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung; das Arbeitsentgelt kann nach einem Stundensatz bemessen werden. (3) Das Arbeitsentgelt kann je nach Leistung des Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden. 75 vom Hundert der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen des Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen. (4) Übt ein Gefangener zugewiesene arbeitstherapeutische Beschäftigung aus, erhält er ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. (5) Das Arbeitsentgelt ist dem Gefangenen schriftlich bekannt zu geben. (6) Hat der Gefangene zwei Monate lang zusammenhängend eine zugewiesene Tätigkeit nach § 37 oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 ausgeübt, so wird er auf seinen Antrag hin einen Werktag von der Arbeit freigestellt. Die Regelung des § 42 bleibt unberührt. Durch Zeiten, in denen der Gefangene ohne sein Verschulden durch Krankheit, Ausführung, Ausgang, Urlaub aus der Haft, Freistellung von der Arbeitspflicht oder sonstige nicht von ihm zu vertretende Gründe an der Arbeitsleistung gehindert ist, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von weniger als zwei Monaten bleiben unberücksichtigt. (7) Der Gefangene kann beantragen, dass die Freistellung nach Absatz 6 in Form von Urlaub aus der Haft gewährt wird (Arbeitsurlaub). § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 2 bis 5 und § 14 gelten entsprechend. (8) § 42 Abs. 3 gilt entsprechend.
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(9) Stellt der Gefangene keinen Antrag nach Absatz 6 Satz 1 oder Absatz 7 Satz 1 oder kann die Freistellung nach Maßgabe der Regelung des Absatzes 7 Satz 2 nicht gewährt werden, so wird die Freistellung nach Absatz 6 Satz 1 von der Anstalt auf den Entlassungszeitpunkt des Gefangenen angerechnet. (10) Eine Anrechnung nach Absatz 9 ist ausgeschlossen, 1. soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verbüßt wird und ein Entlassungszeitpunkt noch nicht bestimmt ist, 2. bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung, soweit wegen des von der Entscheidung des Gerichts bis zur Entlassung verbleibenden Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist, 3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung die Lebensverhältnisse des Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern, 4. wenn nach § 456a Abs. 1 der Strafprozessordnung von der Vollstreckung abgesehen wird, 5. wenn der Gefangene im Gnadenwege aus der Haft entlassen wird. (11) Soweit eine Anrechnung nach Absatz 10 ausgeschlossen ist, erhält der Gefangene bei seiner Entlassung für seine Tätigkeit nach Absatz 2 als Ausgleichsentschädigung zusätzlich 15 vom Hundert des ihm nach den Absätzen 2 und 3 gewährten Entgelts oder der ihm nach § 44 gewährten Ausbildungsbeihilfe. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung; vor der Entlassung ist der Anspruch nicht verzinslich, nicht abtretbar und nicht vererblich. Einem Gefangenen, bei dem eine Anrechnung nach Absatz 10 Nr. 1 ausgeschlossen ist, wird die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld (§ 52) gutgeschrieben, soweit er nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen wird; § 57 Abs. 4 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend.
§ 44 Ausbildungsbeihilfe (1) Nimmt der Gefangene an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder an einem Unterricht teil und ist er zu diesem Zweck von seiner Arbeitspflicht freigestellt, so erhält er eine Ausbildungsbeihilfe, soweit ihm keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die freien Personen aus solchem Anlaß gewährt werden. Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch wird nicht berührt. (2) Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe gilt § 43 Abs. 2 und 3 entsprechend. (3) Nimmt der Gefangene während der Arbeitszeit stunden- oder tageweise am Unterricht oder an anderen zugewiesenen Maßnahmen gemäß § 37 Abs. 3 teil, so erhält er in Höhe des ihm dadurch entgehenden Arbeitsentgelts eine Ausbildungsbeihilfe.
§ 45 Ausfallentschädigung (zukünftig in Kraft)
§ 46 Taschengeld Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist.
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§ 47 Hausgeld (1) Der Gefangene darf von seinen in diesem Gesetz geregelten Bezügen drei Siebtel monatlich (Hausgeld) und das Taschengeld (§ 46) für den Einkauf (§ 22 Abs. 1) oder anderweitig verwenden. (2) Für Gefangene, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), wird aus ihren Bezügen ein angemessenes Hausgeld festgesetzt. § 48 Rechtsverordnung Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mit Zustimmung des Bundesrates zur Durchführung der §§ 43 bis 45 Rechtsverordnungen über die Vergütungsstufen zu erlassen. § 49 Unterhaltsbeitrag (zukünftig in Kraft) § 50 Haftkostenbeitrag (1) Als Teil der Kosten der Vollstreckung der Rechtsfolgen einer Tat (§ 464a Abs. 1 Satz 2 der Strafprozessordnung) erhebt die Vollzugsanstalt von dem Gefangenen einen Haftkostenbeitrag. Ein Haftkostenbeitrag wird nicht erhoben, wenn der Gefangene 1. Bezüge nach diesem Gesetz erhält oder 2. ohne sein Verschulden nicht arbeiten kann oder 3. nicht arbeitet, weil er nicht zur Arbeit verpflichtet ist. Hat der Gefangene, der ohne sein Verschulden während eines zusammenhängenden Zeitraumes von mehr als einem Monat nicht arbeiten kann oder nicht arbeitet, weil er nicht zur Arbeit verpflichtet ist, auf diese Zeit entfallende Einkünfte, so hat er den Haftkostenbeitrag für diese Zeit bis zur Höhe der auf sie entfallenden Einkünfte zu entrichten. Dem Gefangenen muss ein Betrag verbleiben, der dem mittleren Arbeitsentgelt in den Vollzugsanstalten des Landes entspricht. Von der Geltendmachung des Anspruchs ist abzusehen, soweit dies notwendig ist, um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gemeinschaft nicht zu gefährden. (2) Der Haftkostenbeitrag wird in Höhe des Betrages erhoben, der nach § 17 Abs. 1 Nr. 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch durchschnittlich zur Bewertung der Sachbezüge festgesetzt ist. Das Bundesministerium der Justiz stellt den Durchschnittsbetrag für jedes Kalenderjahr nach den am 1. Oktober des vorhergehenden Jahres geltenden Bewertungen der Sachbezüge, jeweils getrennt für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet und für das Gebiet, in dem das Strafvollzugsgesetz schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat, fest und macht ihn im Bundesanzeiger bekannt. Bei Selbstverpflegung entfallen die für die Verpflegung vorgesehenen Beträge. Für den Wert der Unterkunft ist die festgesetzte Belegungsfähigkeit maßgebend. Der Haftkostenbeitrag darf auch von dem unpfändbaren Teil der Bezüge, nicht aber zu Lasten des Hausgeldes und der Ansprüche unterhaltsberechtigter Angehöriger angesetzt werden. (3) Im Land Berlin gilt einheitlich der für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet geltende Durchschnittsbetrag. (4) Die Selbstbeschäftigung (§ 39 Abs. 2) kann davon abhängig gemacht werden, dass der Gefangene einen Haftkostenbeitrag bis zur Höhe des in Absatz 2 genannten Satzes monatlich im Voraus entrichtet.
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(5) Für die Erhebung des Haftkostenbeitrages können die Landesregierungen durch Rechtsverordnung andere Zuständigkeiten begründen. Auch in diesem Fall ist der Haftkostenbeitrag eine Justizverwaltungsabgabe; auf das gerichtliche Verfahren finden die §§ 109 bis 121 entsprechende Anwendung. § 51 Überbrückungsgeld (1) Aus den in diesem Gesetz geregelten Bezügen und aus den Bezügen der Gefangenen, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), ist ein Überbrückungsgeld zu bilden, das den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern soll. (2) Das Überbrückungsgeld wird dem Gefangenen bei der Entlassung in die Freiheit ausgezahlt. Die Vollzugsbehörde kann es auch ganz oder zum Teil dem Bewährungshelfer oder einer mit der Entlassenenbetreuung befaßten Stelle überweisen, die darüber entscheiden, wie das Geld innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung an den Gefangenen ausgezahlt wird. Der Bewährungshelfer und die mit der Entlassenenbetreuung befaßte Stelle sind verpflichtet, das Überbrückungsgeld von ihrem Vermögen gesondert zu halten. Mit Zustimmung des Gefangenen kann das Überbrückungsgeld auch dem Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (3) Der Anstaltsleiter kann gestatten, daß das Überbrückungsgeld für Ausgaben in Anspruch genommen wird, die der Eingliederung des Gefangenen dienen. (4) Der Anspruch auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes ist unpfändbar. Erreicht es nicht die in Absatz 1 bestimmte Höhe, so ist in Höhe des Unterschiedsbetrages auch der Anspruch auf Auszahlung des Eigengeldes unpfändbar. Bargeld des entlassenen Gefangenen, an den wegen der nach Satz 1 oder Satz 2 unpfändbaren Ansprüche Geld ausgezahlt worden ist, ist für die Dauer von vier Wochen seit der Entlassung insoweit der Pfändung nicht unterworfen, als es dem Teil der Ansprüche für die Zeit von der Pfändung bis zum Ablauf der vier Wochen entspricht. (5) Absatz 4 gilt nicht bei einer Pfändung wegen der in § 850d Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung bezeichneten Unterhaltsansprüche. Dem entlassenen Gefangenen ist jedoch so viel zu belassen, als er für seinen notwendigen Unterhalt und zur Erfüllung seiner sonstigen gesetzlichen Unterhaltspflichten für die Zeit von der Pfändung bis zum Ablauf von vier Wochen seit der Entlassung bedarf. § 52 Eigengeld Bezüge des Gefangenen, die nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag, Unterhaltsbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden, sind dem Gefangenen zum Eigengeld gutzuschreiben. SECHSTER TITEL
Religionsausübung § 53 Seelsorge (1) Dem Gefangenen darf religiöse Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft nicht versagt werden. Auf seinen Wunsch ist ihm zu helfen, mit einem Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft in Verbindung zu treten. (2) Der Gefangene darf grundlegende religiöse Schriften besitzen. Sie dürfen ihm nur bei grobem Mißbrauch entzogen werden.
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(3) Dem Gefangenen sind Gegenstände des religiösen Gebrauchs in angemessenem Umfang zu belassen. § 54 Religiöse Veranstaltungen (1) Der Gefangene hat das Recht, am Gottesdienst und an anderen religiösen Veranstaltungen seines Bekenntnisses teilzunehmen. (2) Zu dem Gottesdienst oder zu religiösen Veranstaltungen einer anderen Religionsgemeinschaft wird der Gefangene zugelassen, wenn deren Seelsorger zustimmt. (3) Der Gefangene kann von der Teilnahme am Gottesdienst oder anderen religiösen Veranstaltungen ausgeschlossen werden, wenn dies aus überwiegenden Gründen der Sicherheit oder Ordnung geboten ist; der Seelsorger soll vorher gehört werden. § 55 Weltanschauungsgemeinschaften Für Angehörige weltanschaulicher Bekenntnisse gelten die §§ 53 und 54 entsprechend. SIEBTER TITEL
Gesundheitsfürsorge § 56 Allgemeine Regeln (1) Für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen ist zu sorgen. § 101 bleibt unberührt. (2) Der Gefangene hat die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen. § 57 Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen (1) Gefangene, die das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet haben, haben jedes zweite Jahr Anspruch auf eine ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit. (2) Gefangene haben höchstens einmal jährlich Anspruch auf eine Untersuchung zur Früherkennung von Krebserkrankungen, Frauen frühestens vom Beginn des zwanzigsten Lebensjahres an, Männer frühestens vom Beginn des fünfundvierzigsten Lebensjahres an. (3) Voraussetzung für die Untersuchungen nach den Absätzen 1 und 2 ist, daß 1. es sich um Krankheiten handelt, die wirksam behandelt werden können, 2. das Vor- oder Frühstadium dieser Krankheiten durch diagnostische Maßnahmen erfaßbar ist, 3. die Krankheitszeichen medizinisch-technisch genügend eindeutig zu erfassen sind, 4. genügend Ärzte und Einrichtungen vorhanden sind, um die aufgefundenen Verdachtsfälle eingehend zu diagnostizieren und zu behandeln. (4) Gefangene Frauen haben für ihre Kinder, die mit ihnen in der Vollzugsanstalt untergebracht sind, bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, die die körperliche oder geistige Entwicklung ihrer Kinder in nicht geringfügigem Maße gefährden. (5) Gefangene, die das vierzehnte, aber noch nicht das zwanzigste Lebensjahr vollendet haben, können sich zur Verhütung von Zahnerkrankungen einmal in jedem Kalenderhalbjahr
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zahnärztlich untersuchen lassen. Die Untersuchungen sollen sich auf den Befund des Zahnfleisches, die Aufklärung über Krankheitsursachen und ihre Vermeidung, das Erstellen von diagnostischen Vergleichen zur Mundhygiene, zum Zustand des Zahnfleisches und zur Anfälligkeit gegenüber Karieserkrankungen, auf die Motivation und Einweisung bei der Mundpflege sowie auf Maßnahmen zur Schmelzhärtung der Zähne erstrecken. (6) Gefangene haben Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, wenn diese notwendig sind, 1. eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 2. einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken oder 3. Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. § 58 Krankenbehandlung Gefangene haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt insbesondere 1. ärztliche Behandlung, 2. zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz, 3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, 4. medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sowie Belastungserprobung und Arbeitstherapie, soweit die Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen. § 59 Versorgung mit Hilfsmitteln Gefangene haben Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, sofern dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs ungerechtfertigt ist und soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Der Anspruch umfaßt auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch, soweit die Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen. Ein erneuter Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen besteht nur bei einer Änderung der Sehfähigkeit um mindestens 0,5 Dioptrien. Anspruch auf Versorgung mit Kontaktlinsen besteht nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen. § 60 Krankenbehandlung im Urlaub Während eines Urlaubs oder Ausgangs hat der Gefangene gegen die Vollzugsbehörde nur einen Anspruch auf Krankenbehandlung in der für ihn zuständigen Vollzugsanstalt. § 61 Art und Umfang der Leistungen Für die Art der Gesundheitsuntersuchungen und medizinischen Vorsorgeleistungen sowie für den Umfang dieser Leistungen und der Leistungen zur Krankenbehandlung einschließlich der Versorgung mit Hilfsmitteln gelten die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuchs und die auf Grund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen.
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§ 62 Zuschüsse zu Zahnersatz und Zahnkronen Die Landesjustizverwaltungen bestimmen durch allgemeine Verwaltungsvorschriften die Höhe der Zuschüsse zu den Kosten der zahnärztlichen Behandlung und der zahntechnischen Leistungen bei der Versorgung mit Zahnersatz. Sie können bestimmen, daß die gesamten Kosten übernommen werden. § 62a Ruhen der Ansprüche Der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 57 bis 59 ruht, solange der Gefangene auf Grund eines freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 39 Abs. 1) krankenversichert ist. § 63 Ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung Mit Zustimmung des Gefangenen soll die Vollzugsbehörde ärztliche Behandlung, namentlich Operationen oder prothetische Maßnahmen durchführen lassen, die seine soziale Eingliederung fördern. Er ist an den Kosten zu beteiligen, wenn dies nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gerechtfertigt ist und der Zweck der Behandlung dadurch nicht in Frage gestellt wird. § 64 Aufenthalt im Freien Arbeitet ein Gefangener nicht im Freien, so wird ihm täglich mindestens eine Stunde Aufenthalt im Freien ermöglicht, wenn die Witterung dies zu der festgesetzten Zeit zuläßt. § 65 Verlegung (1) Ein kranker Gefangener kann in ein Anstaltskrankenhaus oder in eine für die Behandlung seiner Krankheit besser geeignete Vollzugsanstalt verlegt werden. (2) Kann die Krankheit eines Gefangenen in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden oder ist es nicht möglich, den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen, ist dieser in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen. § 66 Benachrichtigung bei Erkrankung oder Todesfall (1) Wird ein Gefangener schwer krank, so ist ein Angehöriger, eine Person seines Vertrauens oder der gesetzliche Vertreter unverzüglich zu benachrichtigen. Dasselbe gilt, wenn ein Gefangener stirbt. (2) Dem Wunsch des Gefangenen, auch andere Personen zu benachrichtigen, soll nach Möglichkeit entsprochen werden. ACHTER TITEL
Freizeit § 67 Allgemeines Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich in seiner Freizeit zu beschäftigen. Er soll Gelegenheit erhalten, am Unterricht einschließlich Sport, an Fernunterricht, Lehrgängen und sonstigen Ver-
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anstaltungen der Weiterbildung, an Freizeitgruppen, Gruppengesprächen sowie an Sportveranstaltungen teilzunehmen und eine Bücherei zu benutzen. § 68 Zeitungen und Zeitschriften (1) Der Gefangene darf Zeitungen und Zeitschriften in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt beziehen. (2) Ausgeschlossen sind Zeitungen und Zeitschriften, deren Verbreitung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Einzelne Ausgaben oder Teile von Zeitungen oder Zeitschriften können dem Gefangenen vorenthalten werden, wenn sie das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erheblich gefährden würden. § 69 Hörfunk und Fernsehen (1) Der Gefangene kann am Hörfunkprogramm der Anstalt sowie am gemeinschaftlichen Fernsehempfang teilnehmen. Die Sendungen sind so auszuwählen, daß Wünsche und Bedürfnisse nach staatsbürgerlicher Information, Bildung und Unterhaltung angemessen berücksichtigt werden. Der Hörfunk- und Fernsehempfang kann vorübergehend ausgesetzt oder einzelnen Gefangenen untersagt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerläßlich ist. (2) Eigene Hörfunk- und Fernsehgeräte werden unter den Voraussetzungen des § 70 zugelassen. § 70 Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung (1) Der Gefangene darf in angemessenem Umfang Bücher und andere Gegenstände zur Fortbildung oder zur Freizeitbeschäftigung besitzen. (2) Dies gilt nicht, wenn der Besitz, die Überlassung oder die Benutzung des Gegenstands 1. mit Strafe oder Geldbuße bedroht wäre oder 2. das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. (3) Die Erlaubnis kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 widerrufen werden.
NEUNTER TITEL
Soziale Hilfe § 71 Grundsatz Der Gefangene kann die soziale Hilfe der Anstalt in Anspruch nehmen, um seine persönlichen Schwierigkeiten zu lösen. Die Hilfe soll darauf gerichtet sein, den Gefangenen in die Lage zu versetzen, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu regeln. § 72 Hilfe bei der Aufnahme (1) Bei der Aufnahme wird dem Gefangenen geholfen, die notwendigen Maßnahmen für hilfsbedürftige Angehörige zu veranlassen und seine Habe außerhalb der Anstalt sicherzustellen. (2) Der Gefangene ist über die Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung zu beraten.
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§ 73 Hilfe während des Vollzuges Der Gefangene wird in dem Bemühen unterstützt, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen, namentlich sein Wahlrecht auszuüben sowie für Unterhaltsberechtigte zu sorgen und einen durch seine Straftat verursachten Schaden zu regeln. § 74 Hilfe zur Entlassung Um die Entlassung vorzubereiten, ist der Gefangene bei der Ordnung seiner persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten zu beraten. Die Beratung erstreckt sich auch auf die Benennung der für Sozialleistungen zuständigen Stellen. Dem Gefangenen ist zu helfen, Arbeit, Unterkunft und persönlichen Beistand für die Zeit nach der Entlassung zu finden. § 75 Entlassungsbeihilfe (1) Der Gefangene erhält, soweit seine eigenen Mittel nicht ausreichen, von der Anstalt eine Beihilfe zu den Reisekosten sowie eine Überbrückungsbeihilfe und erforderlichenfalls ausreichende Kleidung. (2) Bei der Bemessung der Höhe der Überbrückungsbeihilfe sind die Dauer des Freiheitsentzuges, der persönliche Arbeitseinsatz des Gefangenen und die Wirtschaftlichkeit seiner Verfügungen über Eigengeld und Hausgeld während der Strafzeit zu berücksichtigen. § 51 Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Die Überbrückungsbeihilfe kann ganz oder teilweise auch dem Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (3) Der Anspruch auf Beihilfe zu den Reisekosten und die ausgezahlte Reisebeihilfe sind unpfändbar. Für den Anspruch auf Überbrückungsbeihilfe und für Bargeld nach Auszahlung einer Überbrückungsbeihilfe an den Gefangenen gilt § 51 Abs. 4 Satz 1 und 3, Abs. 5 entsprechend. ZEHNTER TITEL
Besondere Vorschriften für den Frauenstrafvollzug § 76 Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (1) Bei einer Schwangeren oder einer Gefangenen, die unlängst entbunden hat, ist auf ihren Zustand Rücksicht zu nehmen. Die Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der erwerbstätigen Mutter über die Gestaltung des Arbeitsplatzes sind entsprechend anzuwenden. (2) Die Gefangene hat während der Schwangerschaft, bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung und auf Hebammenhilfe in der Vollzugsanstalt. Zur ärztlichen Betreuung während der Schwangerschaft gehören insbesondere Untersuchungen zur Feststellung der Schwangerschaft sowie Vorsorgeuntersuchungen einschließlich der laborärztlichen Untersuchungen. (3) Zur Entbindung ist die Schwangere in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen. Ist dies aus besonderen Gründen nicht angezeigt, so ist die Entbindung in einer Vollzugsanstalt mit Entbindungsabteilung vorzunehmen. Bei der Entbindung wird Hilfe durch eine Hebamme und, falls erforderlich, durch einen Arzt gewährt. § 77 Arznei-, Verband- und Heilmittel Bei Schwangerschaftsbeschwerden und im Zusammenhang mit der Entbindung werden Arznei-, Verband- und Heilmittel geleistet.
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§ 78 Art, Umfang und Ruhen der Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft Die §§ 60, 61, 62a und 65 gelten für die Leistungen nach den §§ 76 und 77 entsprechend. § 79 Geburtsanzeige In der Anzeige der Geburt an das Standesamt dürfen die Anstalt als Geburtsstätte des Kindes, das Verhältnis des Anzeigenden zur Anstalt und die Gefangenschaft der Mutter nicht vermerkt sein. § 80 Mütter mit Kindern (1) Ist das Kind einer Gefangenen noch nicht schulpflichtig, so kann es mit Zustimmung des Inhabers des Aufenthaltsbestimmungsrechts in der Vollzugsanstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet, wenn dies seinem Wohl entspricht. Vor der Unterbringung ist das Jugendamt zu hören. (2) Die Unterbringung erfolgt auf Kosten des für das Kind Unterhaltspflichtigen. Von der Geltendmachung des Kostenersatzanspruchs kann abgesehen werden, wenn hierdurch die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind gefährdet würde. ELFTER TITEL
Sicherheit und Ordnung § 81 Grundsatz (1) Das Verantwortungsbewußtsein des Gefangenen für ein geordnetes Zusammenleben in der Anstalt ist zu wecken und zu fördern. (2) Die Pflichten und Beschränkungen, die dem Gefangenen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt auferlegt werden, sind so zu wählen, daß sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen und den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen. § 82 Verhaltensvorschriften (1) Der Gefangene hat sich nach der Tageseinteilung der Anstalt (Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit) zu richten. Er darf durch sein Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben nicht stören. (2) Der Gefangene hat die Anordnungen der Vollzugsbediensteten zu befolgen, auch wenn er sich durch sie beschwert fühlt. Einen ihm zugewiesenen Bereich darf er nicht ohne Erlaubnis verlassen. (3) Seinen Haftraum und die ihm von der Anstalt überlassenen Sachen hat er in Ordnung zu halten und schonend zu behandeln. (4) Der Gefangene hat Umstände, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten, unverzüglich zu melden. § 83 Persönlicher Gewahrsam. Eigengeld (1) Der Gefangene darf nur Sachen in Gewahrsam haben oder annehmen, die ihm von der Vollzugsbehörde oder mit ihrer Zustimmung überlassen werden. Ohne Zustimmung darf er
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Sachen von geringem Wert von einem anderen Gefangenen annehmen; die Vollzugsbehörde kann Annahme und Gewahrsam auch dieser Sachen von ihrer Zustimmung abhängig machen. (2) Eingebrachte Sachen, die der Gefangene nicht in Gewahrsam haben darf, sind für ihn aufzubewahren, sofern dies nach Art und Umfang möglich ist. Geld wird ihm als Eigengeld gutgeschrieben. Dem Gefangenen wird Gelegenheit gegeben, seine Sachen, die er während des Vollzuges und für seine Entlassung nicht benötigt, abzusenden oder über sein Eigengeld zu verfügen, soweit dieses nicht als Überbrückungsgeld notwendig ist. (3) Weigert sich ein Gefangener, eingebrachtes Gut, dessen Aufbewahrung nach Art und Umfang nicht möglich ist, aus der Anstalt zu verbringen, so ist die Vollzugsbehörde berechtigt, diese Gegenstände auf Kosten des Gefangenen aus der Anstalt entfernen zu lassen. (4) Aufzeichnungen und andere Gegenstände, die Kenntnisse über Sicherungsvorkehrungen der Anstalt vermitteln, dürfen von der Vollzugsbehörde vernichtet oder unbrauchbar gemacht werden. § 84 Durchsuchung (1) Gefangene, ihre Sachen und die Hafträume dürfen durchsucht werden. Die Durchsuchung männlicher Gefangener darf nur von Männern, die Durchsuchung weiblicher Gefangener darf nur von Frauen vorgenommen werden. Das Schamgefühl ist zu schonen. (2) Nur bei Gefahr im Verzug oder auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall ist es zulässig, eine mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung vorzunehmen. Sie darf bei männlichen Gefangenen nur in Gegenwart von Männern, bei weiblichen Gefangenen nur in Gegenwart von Frauen erfolgen. Sie ist in einem geschlossenen Raum durchzuführen. Andere Gefangene dürfen nicht anwesend sein. (3) Der Anstaltsleiter kann allgemein anordnen, daß Gefangene bei der Aufnahme, nach Kontakten mit Besuchern und nach jeder Abwesenheit von der Anstalt nach Absatz 2 zu durchsuchen sind. § 85 Sichere Unterbringung Ein Gefangener kann in eine Anstalt verlegt werden, die zu seiner sicheren Unterbringung besser geeignet ist, wenn in erhöhtem Maß Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst sein Verhalten oder sein Zustand eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellt. § 86 Erkennungsdienstliche Maßnahmen Zur Sicherung des Vollzuges sind als erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken, die Aufnahme von Lichtbildern mit Kenntnis des Gefangenen, die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale, Messungen. (2) Die gewonnenen erkennungsdienstlichen Unterlagen werden zu den Gefangenenpersonalakten genommen. Sie können auch in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt werden. Die nach Absatz 1 erhobenen Daten dürfen nur für die in Absatz 1, § 87 Abs. 2 und § 180 Abs. 2 Nr. 4 genannten Zwecke verarbeitet und genutzt werden. (3) Personen, die aufgrund des Absatzes 1 erkennungsdienstlich behandelt worden sind, können nach der Entlassung aus dem Vollzug verlangen, daß die gewonnenen erkennungsdienstlichen Unterlagen mit Ausnahme von Lichtbildern und der Beschreibung von körperlichen Merkmalen vernichtet werden, sobald die Vollstreckung der richterlichen Entscheidung, 1. 2. 3. 4.
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die dem Vollzug zugrunde gelegen hat, abgeschlossen ist. Sie sind über dieses Recht bei der erkennungsdienstlichen Behandlung und bei der Entlassung aufzuklären. § 86a Lichtbilder (1) Unbeschadet des § 86 dürfen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Lichtbilder der Gefangenen aufgenommen und mit den Namen der Gefangenen sowie deren Geburtsdatum und -ort gespeichert werden. Die Lichtbilder dürfen nur mit Kenntnis der Gefangenen aufgenommen werden. (2) Die Lichtbilder dürfen nur 1. genutzt werden von Justizvollzugsbediensteten, wenn eine Überprüfung der Identität der Gefangenen im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung erforderlich ist, 2. übermittelt werden a) an die Polizeivollzugsbehörden des Bundes und der Länder, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für erhebliche Rechtsgüter innerhalb der Anstalt erforderlich ist, b) nach Maßgabe des § 87 Abs. 2. (3) Die Lichtbilder sind nach der Entlassung der Gefangenen aus dem Vollzug oder nach ihrer Verlegung in eine andere Anstalt zu vernichten oder zu löschen. § 87 Festnahmerecht (1) Ein Gefangener, der entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhält, kann durch die Vollzugsbehörde oder auf ihre Veranlassung hin festgenommen und in die Anstalt zurückgebracht werden. (2) Nach § 86 Abs. 1 erhobene und nach §§ 86a, 179 erhobene und zur Identifizierung oder Festnahme erforderliche Daten dürfen den Vollstreckungs- und Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden, soweit dies für Zwecke der Fahndung und Festnahme des entwichenen oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhaltenden Gefangenen erforderlich ist. § 88 Besondere Sicherungsmaßnahmen (1) Gegen einen Gefangenen können besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach seinem Verhalten oder auf Grund seines seelischen Zustandes in erhöhtem Maß Fluchtgefahr oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung besteht. (2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen sind zulässig: 1. der Entzug oder die Vorenthaltung von Gegenständen, 2. die Beobachtung bei Nacht, 3. die Absonderung von anderen Gefangenen, 4. der Entzug oder die Beschränkung des Aufenthalts im Freien, 5. die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände und 6. die Fesselung. (3) Maßnahmen nach Absatz 2 Nr. 1, 3 bis 5 sind auch zulässig, wenn die Gefahr einer Befreiung oder eine erhebliche Störung der Anstaltsordnung anders nicht vermieden oder behoben werden kann. (4) Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung auch dann zulässig, wenn aus anderen Gründen als denen des Absatzes 1 in erhöhtem Maß Fluchtgefahr besteht.
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(5) Besondere Sicherungsmaßnahmen dürfen nur soweit aufrechterhalten werden, als es ihr Zweck erfordert. § 89 Einzelhaft (1) Die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen (Einzelhaft) ist nur zulässig, wenn dies aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, unerläßlich ist. (2) Einzelhaft von mehr als drei Monaten Gesamtdauer in einem Jahr bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. Diese Frist wird nicht dadurch unterbrochen, daß der Gefangene am Gottesdienst oder an der Freistunde teilnimmt.
§ 90 Fesselung In der Regel dürfen Fesseln nur an den Händen oder an den Füßen angelegt werden. Im Interesse des Gefangenen kann der Anstaltsleiter eine andere Art der Fesselung anordnen. Die Fesselung wird zeitweise gelockert, soweit dies notwendig ist.
§ 91 Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (1) Besondere Sicherungsmaßnahmen ordnet der Anstaltsleiter an. Bei Gefahr im Verzug können auch andere Bedienstete der Anstalt diese Maßnahmen vorläufig anordnen. Die Entscheidung des Anstaltsleiters ist unverzüglich einzuholen. (2) Wird ein Gefangener ärztlich behandelt oder beobachtet oder bildet sein seelischer Zustand den Anlaß der Maßnahme, ist vorher der Arzt zu hören. Ist dies wegen Gefahr im Verzug nicht möglich, wird seine Stellungnahme unverzüglich eingeholt.
§ 92 Ärztliche Überwachung (1) Ist ein Gefangener in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht oder gefesselt (§ 88 Abs. 2 Nr. 5 und 6), so sucht ihn der Anstaltsarzt alsbald und in der Folge möglichst täglich auf. Dies gilt nicht bei einer Fesselung während einer Ausführung, Vorführung oder eines Transportes (§ 88 Abs. 4). (2) Der Arzt ist regelmäßig zu hören, solange einem Gefangenen der tägliche Aufenthalt im Freien entzogen wird. § 93 Ersatz von Aufwendungen (1) Der Gefangene ist verpflichtet, der Vollzugsbehörde Aufwendungen zu ersetzen, die er durch eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Selbstverletzung oder Verletzung eines anderen Gefangenen verursacht hat. Ansprüche aus sonstigen Rechtsvorschriften bleiben unberührt. (2) Bei der Geltendmachung dieser Forderungen kann auch ein den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigender Teil des Hausgeldes (§ 47) in Anspruch genommen werden. (3) Für die in Absatz 1 genannten Forderungen ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. (4) Von der Aufrechnung oder Vollstreckung wegen der in Absatz 1 genannten Forderungen ist abzusehen, wenn hierdurch die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung behindert würde.
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ZWÖLFTER TITEL
Unmittelbarer Zwang § 94 Allgemeine Voraussetzungen (1) Bedienstete der Justizvollzugsanstalten dürfen unmittelbaren Zwang anwenden, wenn sie Vollzugs- und Sicherungsmaßnahmen rechtmäßig durchführen und der damit verfolgte Zweck auf keine andere Weise erreicht werden kann. (2) Gegen andere Personen als Gefangene darf unmittelbarer Zwang angewendet werden, wenn sie es unternehmen, Gefangene zu befreien oder in den Anstaltsbereich widerrechtlich einzudringen, oder wenn sie sich unbefugt darin aufhalten. (3) Das Recht zu unmittelbarem Zwang auf Grund anderer Regelungen bleibt unberührt. § 95 Begriffsbestimmungen (1) Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen. (2) Körperliche Gewalt ist jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen. (3) Hilfsmittel der körperlichen Gewalt sind namentlich Fesseln. (4) Waffen sind die dienstlich zugelassenen Hieb- und Schußwaffen sowie Reizstoffe. § 96 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges sind diejenigen zu wählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen. (2) Unmittelbarer Zwang unterbleibt, wenn ein durch ihn zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht. § 97 Handeln auf Anordnung (1) Wird unmittelbarer Zwang von einem Vorgesetzten oder einer sonst befugten Person angeordnet, sind Vollzugsbedienstete verpflichtet, ihn anzuwenden, es sei denn, die Anordnung verletzt die Menschenwürde oder ist nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden. (2) Die Anordnung darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Vollzugsbedienstete sie trotzdem, trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, daß dadurch eine Straftat begangen wird. (3) Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung hat der Vollzugsbedienstete dem Anordnenden gegenüber vorzubringen, soweit das nach den Umständen möglich ist. Abweichende Vorschriften des allgemeinen Beamtenrechts über die Mitteilung solcher Bedenken an einen Vorgesetzten (§ 36 Abs. 2 und 3 des Beamtenstatusgesetzes) sind nicht anzuwenden. § 98 Androhung Unmittelbarer Zwang ist vorher anzudrohen. Die Androhung darf nur dann unterbleiben, wenn die Umstände sie nicht zulassen oder unmittelbarer Zwang sofort angewendet werden
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muß, um eine rechtswidrige Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, zu verhindern oder eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden. § 99 Allgemeine Vorschriften für den Schußwaffengebrauch (1) Schußwaffen dürfen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges bereits erfolglos waren oder keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist ihr Gebrauch nur zulässig, wenn der Zweck nicht durch Waffenwirkung gegen Sachen erreicht wird. (2) Schußwaffen dürfen nur die dazu bestimmten Vollzugsbediensteten gebrauchen und nur, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Ihr Gebrauch unterbleibt, wenn dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet würden. (3) Der Gebrauch von Schußwaffen ist vorher anzudrohen. Als Androhung gilt auch ein Warnschuß. Ohne Androhung dürfen Schußwaffen nur dann gebraucht werden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. § 100 Besondere Vorschriften für den Schußwaffengebrauch (1) Gegen Gefangene dürfen Schußwaffen gebraucht werden, 1. wenn sie eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug trotz wiederholter Aufforderung nicht ablegen, 2. wenn sie eine Meuterei (§ 121 des Strafgesetzbuches) unternehmen oder 3. um ihre Flucht zu vereiteln oder um sie wiederzuergreifen. Um die Flucht aus einer offenen Anstalt zu vereiteln, dürfen keine Schußwaffen gebraucht werden. (2) Gegen andere Personen dürfen Schußwaffen gebraucht werden, wenn sie es unternehmen, Gefangene gewaltsam zu befreien oder gewaltsam in eine Anstalt einzudringen. § 101 Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (1) Medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung sind zwangsweise nur bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zulässig; die Maßnahmen müssen für die Beteiligten zumutbar und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Zur Durchführung der Maßnahmen ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. (2) Zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene ist die zwangsweise körperliche Untersuchung außer im Falle des Absatzes 1 zulässig, wenn sie nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist. (3) Die Maßnahmen dürfen nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden, unbeschadet der Leistung erster Hilfe für den Fall, daß ein Arzt nicht rechtzeitig erreichbar und mit einem Aufschub Lebensgefahr verbunden ist. DREIZEHNTER TITEL
Disziplinarmaßnahmen § 102 Voraussetzungen (1) Verstößt ein Gefangener schuldhaft gegen Pflichten, die ihm durch dieses Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes auferlegt sind, kann der Anstaltsleiter gegen ihn Disziplinarmaßnahmen anordnen.
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(2) Von einer Disziplinarmaßnahme wird abgesehen, wenn es genügt, den Gefangenen zu verwarnen. (3) Eine Disziplinarmaßnahme ist auch zulässig, wenn wegen derselben Verfehlung ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet wird.
§ 103 Arten der Disziplinarmaßnahmen (1) Die zulässigen Disziplinarmaßnahmen sind: 1. Verweis, 2. die Beschränkung oder der Entzug der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs bis zu drei Monaten, 3. die Beschränkung oder der Entzug des Lesestoffs bis zu zwei Wochen sowie des Hörfunkund Fernsehempfangs bis zu drei Monaten; der gleichzeitige Entzug jedoch nur bis zu zwei Wochen, 4. die Beschränkung oder der Entzug der Gegenstände für eine Beschäftigung in der Freizeit oder der Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen bis zu drei Monaten, 5. die getrennte Unterbringung während der Freizeit bis zu vier Wochen, 6. (weggefallen) 7. der Entzug der zugewiesenen Arbeit oder Beschäftigung bis zu vier Wochen unter Wegfall der in diesem Gesetz geregelten Bezüge, 8. die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt auf dringende Fälle bis zu drei Monaten, 9. Arrest bis zu vier Wochen. (2) Arrest darf nur wegen schwerer oder mehrfach wiederholter Verfehlungen verhängt werden. (3) Mehrere Disziplinarmaßnahmen können miteinander verbunden werden. (4) Die Maßnahmen nach Absatz 1 Nr. 3 bis 8 sollen möglichst nur angeordnet werden, wenn die Verfehlung mit den zu beschränkenden oder zu entziehenden Befugnissen im Zusammenhang steht. Dies gilt nicht bei einer Verbindung mit Arrest.
§ 104 Vollzug der Disziplinarmaßnahmen, Aussetzung zur Bewährung (1) Disziplinarmaßnahmen werden in der Regel sofort vollstreckt. (2) Eine Disziplinarmaßnahme kann ganz oder teilweise bis zu sechs Monaten zur Bewährung ausgesetzt werden. (3) Wird die Verfügung über das Hausgeld beschränkt oder entzogen, ist das in dieser Zeit anfallende Hausgeld dem Überbrückungsgeld hinzuzurechnen. (4) Wird der Verkehr des Gefangenen mit Personen außerhalb der Anstalt eingeschränkt, ist ihm Gelegenheit zu geben, dies einer Person, mit der er im Schriftwechsel steht oder die ihn zu besuchen pflegt, mitzuteilen. Der Schriftwechsel mit den in § 29 Abs. 1 und 2 genannten Empfängern, mit Gerichten und Justizbehörden in der Bundesrepublik sowie mit Rechtsanwälten und Notaren in einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache bleibt unbeschränkt. (5) Arrest wird in Einzelhaft vollzogen. Der Gefangene kann in einem besonderen Arrestraum untergebracht werden, der den Anforderungen entsprechen muß, die an einen zum Aufenthalt bei Tag und Nacht bestimmten Haftraum gestellt werden. Soweit nichts anderes angeordnet wird, ruhen die Befugnisse des Gefangenen aus den §§ 19, 20, 22, 37, 38, 68 bis 70.
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§ 105 Disziplinarbefugnis (1) Disziplinarmaßnahmen ordnet der Anstaltsleiter an. Bei einer Verfehlung auf dem Weg in eine andere Anstalt zum Zwecke der Verlegung ist der Leiter der Bestimmungsanstalt zuständig. (2) Die Aufsichtsbehörde entscheidet, wenn sich die Verfehlung des Gefangenen gegen den Anstaltsleiter richtet. (3) Disziplinarmaßnahmen, die gegen einen Gefangenen in einer anderen Vollzugsanstalt oder während einer Untersuchungshaft angeordnet worden sind, werden auf Ersuchen vollstreckt. § 104 Abs. 2 bleibt unberührt. § 106 Verfahren (1) Der Sachverhalt ist zu klären. Der Gefangene wird gehört. Die Erhebungen werden in einer Niederschrift festgelegt; die Einlassung des Gefangenen wird vermerkt. (2) Bei schweren Verstößen soll der Anstaltsleiter sich vor der Entscheidung in einer Konferenz mit Personen besprechen, die bei der Behandlung des Gefangenen mitwirken. Vor der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Gefangenen, der sich in ärztlicher Behandlung befindet, oder gegen eine Schwangere oder eine stillende Mutter ist der Anstaltsarzt zu hören. (3) Die Entscheidung wird dem Gefangenen vom Anstaltsleiter mündlich eröffnet und mit einer kurzen Begründung schriftlich abgefaßt. § 107 Mitwirkung des Arztes (1) Bevor der Arrest vollzogen wird, ist der Arzt zu hören. Während des Arrestes steht der Gefangene unter ärztlicher Aufsicht. (2) Der Vollzug des Arrestes unterbleibt oder wird unterbrochen, wenn die Gesundheit des Gefangenen gefährdet würde.
VIERZEHNTER TITEL
Rechtsbehelfe § 108 Beschwerderecht (1) Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich mit Wünschen, Anregungen und Beschwerden in Angelegenheiten, die ihn selbst betreffen, an den Anstaltsleiter zu wenden. Regelmäßige Sprechstunden sind einzurichten. (2) Besichtigt ein Vertreter der Aufsichtsbehörde die Anstalt, so ist zu gewährleisten, daß ein Gefangener sich in Angelegenheiten, die ihn selbst betreffen, an ihn wenden kann. (3) Die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde bleibt unberührt. § 109 Antrag auf gerichtliche Entscheidung (1) Gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Mit dem Antrag kann auch die Verpflichtung zum Erlaß einer abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme begehrt werden. (2) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nur zulässig, wenn der Antragsteller gel-
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tend macht, durch die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. (3) Das Landesrecht kann vorsehen, daß der Antrag erst nach vorausgegangenem Verwaltungsvorverfahren gestellt werden kann. § 110 Zuständigkeit Über den Antrag entscheidet die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. Durch die Entscheidung in einem Verwaltungsvorverfahren nach § 109 Abs. 3 ändert sich die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer nicht. § 111 Beteiligte (1) Beteiligte des gerichtlichen Verfahrens sind 1. der Antragsteller, 2. die Vollzugsbehörde, die die angefochtene Maßnahme angeordnet oder die beantragte abgelehnt oder unterlassen hat. (2) In dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht oder dem Bundesgerichtshof ist Beteiligte nach Absatz 1 Nr. 2 die zuständige Aufsichtsbehörde. § 112 Antragsfrist. Wiedereinsetzung (1) Der Antrag muß binnen zwei Wochen nach Zustellung oder schriftlicher Bekanntgabe der Maßnahme oder ihrer Ablehnung schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Gerichts gestellt werden. Soweit ein Verwaltungsvorverfahren (§ 109 Abs. 3) durchzuführen ist, beginnt die Frist mit der Zustellung oder schriftlichen Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. (2) War der Antragsteller ohne Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. (3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden. (4) Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unzulässig, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. § 113 Vornahmeantrag (1) Wendet sich der Antragsteller gegen das Unterlassen einer Maßnahme, kann der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme der Maßnahme gestellt werden, es sei denn, daß eine frühere Anrufung des Gerichts wegen besonderer Umstände des Falles geboten ist. (2) Liegt ein zureichender Grund dafür vor, daß die beantragte Maßnahme noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus. Die Frist kann verlängert werden. Wird die beantragte Maßnahme in der gesetzten Frist erlassen, so ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. (3) Der Antrag nach Absatz 1 ist nur bis zum Ablauf eines Jahres seit der Stellung des Antrags auf Vornahme der Maßnahme zulässig, außer wenn die Antragstellung vor Ablauf der
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Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder unter den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles unterblieben ist. § 114 Aussetzung der Maßnahme (1) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung. (2) Das Gericht kann den Vollzug der angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, daß die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Das Gericht kann auch eine einstweilige Anordnung erlassen; § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ist entsprechend anzuwenden. Die Entscheidungen sind nicht anfechtbar; sie können vom Gericht jederzeit geändert oder aufgehoben werden. (3) Der Antrag auf eine Entscheidung nach Absatz 2 ist schon vor Stellung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung zulässig. § 115 Gerichtliche Entscheidung (1) Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß. Der Beschluss stellt den Sach- und Streitstand seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt zusammen. Wegen der Einzelheiten soll auf bei den Gerichtsakten befindliche Schriftstücke, die nach Herkunft und Datum genau zu bezeichnen sind, verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt. Das Gericht kann von einer Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung der angefochtenen Entscheidung folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt. (2) Soweit die Maßnahme rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht die Maßnahme und, soweit ein Verwaltungsvorverfahren vorhergegangen ist, den Widerspruchsbescheid auf. Ist die Maßnahme schon vollzogen, kann das Gericht auch aussprechen, daß und wie die Vollzugsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat, soweit die Sache spruchreif ist. (3) Hat sich die Maßnahme vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, spricht das Gericht auf Antrag aus, daß die Maßnahme rechtswidrig gewesen ist, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. (4) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung der Maßnahme rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Vollzugsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Anderenfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. (5) Soweit die Vollzugsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. § 116 Rechtsbeschwerde (1) Gegen die gerichtliche Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist die Rechtsbeschwerde zulässig, wenn es geboten ist, die Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. (2) Die Rechtsbeschwerde kann nur darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.
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(3) Die Rechtsbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. § 114 Abs. 2 gilt entsprechend. (4) Für die Rechtsbeschwerde gelten die Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Beschwerde entsprechend, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. § 117 Zuständigkeit für die Rechtsbeschwerde Über die Rechtsbeschwerde entscheidet ein Strafsenat des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk die Strafvollstreckungskammer ihren Sitz hat. § 118 Form. Frist. Begründung (1) Die Rechtsbeschwerde muß bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, binnen eines Monats nach Zustellung der gerichtlichen Entscheidung eingelegt werden. In dieser Frist ist außerdem die Erklärung abzugeben, inwieweit die Entscheidung angefochten und ihre Aufhebung beantragt wird. Die Anträge sind zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob die Entscheidung wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden. (3) Der Antragsteller als Beschwerdeführer kann dies nur in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle tun. § 119 Entscheidung über die Rechtsbeschwerde (1) Der Strafsenat entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß. (2) Seiner Prüfung unterliegen nur die Beschwerdeanträge und, soweit die Rechtsbeschwerde auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die in der Begründung der Rechtsbeschwerde bezeichnet worden sind. (3) Der Beschluß, durch den die Beschwerde verworfen wird, bedarf keiner Begründung, wenn der Strafsenat die Beschwerde einstimmig für unzulässig oder für offensichtlich unbegründet erachtet. (4) Soweit die Rechtsbeschwerde für begründet erachtet wird, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Der Strafsenat kann an Stelle der Strafvollstreckungskammer entscheiden, wenn die Sache spruchreif ist. Sonst ist die Sache zur neuen Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen. (5) Die Entscheidung des Strafsenats ist endgültig. § 120 Entsprechende Anwendung anderer Vorschriften (1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, sind die Vorschriften der Strafprozeßordnung entsprechend anzuwenden. (2) Auf die Bewilligung der Prozeßkostenhilfe sind die Vorschriften der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden. § 121 Kosten des Verfahrens (1) In der das Verfahren abschließenden Entscheidung ist zu bestimmen, von wem die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen zu tragen sind. (2) Soweit der Antragsteller unterliegt oder seinen Antrag zurücknimmt, trägt er die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen. Hat sich die Maßnahme vor einer Entscheidung
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nach Absatz 1 in anderer Weise als durch Zurücknahme des Antrags erledigt, so entscheidet das Gericht über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen nach billigem Ermessen. (3) Absatz 2 Satz 2 gilt nicht im Falle des § 115 Abs. 3. (4) Im übrigen gelten die §§ 464 bis 473 der Strafprozeßordnung entsprechend. (5) Für die Kosten des Verfahrens nach den §§ 109ff. kann auch ein den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigender Teil des Hausgeldes (§ 47) in Anspruch genommen werden. FÜNFZEHNTER TITEL
Strafvollstreckung und Untersuchungshaft § 122 (1) Wird Untersuchungshaft zum Zwecke der Strafvollstreckung unterbrochen oder wird gegen einen Strafgefangenen in anderer Sache Untersuchungshaft angeordnet, so unterliegt der Gefangene abweichend von § 4 Abs. 2 auch denjenigen Beschränkungen seiner Freiheit, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert. Die notwendigen Maßnahmen ordnet der nach § 126 der Strafprozeßordnung zuständige Richter an. § 119 Abs. 6 Satz 2 und 3 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend. (2) § 148 Abs. 2, § 148a der Strafprozeßordnung sind anzuwenden. SECHZEHNTER TITEL
Sozialtherapeutische Anstalten § 123 Sozialtherapeutische Anstalten und Abteilungen (1) Für den Vollzug nach § 9 sind von den übrigen Vollzugsanstalten getrennte sozialtherapeutische Anstalten vorzusehen. (2) Aus besonderen Gründen können auch sozialtherapeutische Abteilungen in anderen Vollzugsanstalten eingerichtet werden. Für diese Abteilungen gelten die Vorschriften über die sozialtherapeutische Anstalt entsprechend. § 124 Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung (1) Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen zur Vorbereitung der Entlassung Sonderurlaub bis zu sechs Monaten gewähren. § 11 Abs. 2 und § 13 Abs. 5 gelten entsprechend. (2) Dem Beurlaubten sollen für den Urlaub Weisungen erteilt werden. Er kann insbesondere angewiesen werden, sich einer von der Anstalt bestimmten Betreuungsperson zu unterstellen und jeweils für kurze Zeit in die Anstalt zurückzukehren. (3) § 14 Abs. 2 gilt entsprechend. Der Urlaub wird widerrufen, wenn dies für die Behandlung des Gefangenen notwendig ist. § 125 Aufnahme auf freiwilliger Grundlage (1) Ein früherer Gefangener kann auf seinen Antrag vorübergehend wieder in die sozialtherapeutische Anstalt aufgenommen werden, wenn das Ziel seiner Behandlung gefährdet und ein Aufenthalt in der Anstalt aus diesem Grunde gerechtfertigt ist. Die Aufnahme ist jederzeit widerruflich. (2) Gegen den Aufgenommenen dürfen Maßnahmen des Vollzuges nicht mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden.
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(3) Auf seinen Antrag ist der Aufgenommene unverzüglich zu entlassen. § 126 Nachgehende Betreuung Die Zahl der Fachkräfte für die sozialtherapeutische Anstalt ist so zu bemessen, daß auch eine nachgehende Betreuung der Gefangenen gewährleistet ist, soweit diese anderweitig nicht sichergestellt werden kann. §§ 127 u. 128 (aufgehoben)
Dritter Abschnitt
Besondere Vorschriften über den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung ERSTER TITEL
Sicherungsverwahrung § 129 Ziel der Unterbringung Der Sicherungsverwahrte wird zum Schutz der Allgemeinheit sicher untergebracht. Ihm soll geholfen werden, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. § 130 Anwendung anderer Vorschriften Für die Sicherungsverwahrung gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3 bis 126, 179 bis 187) entsprechend, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist. § 131 Ausstattung Die Ausstattung der Sicherungsanstalten, namentlich der Hafträume, und besondere Maßnahmen zur Förderung und Betreuung sollen dem Untergebrachten helfen, sein Leben in der Anstalt sinnvoll zu gestalten, und ihn vor Schäden eines langen Freiheitsentzuges bewahren. Seinen persönlichen Bedürfnissen ist nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. § 132 Kleidung Der Untergebrachte darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Untergebrachte für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt. § 133 Selbstbeschäftigung. Taschengeld (1) Dem Untergebrachten wird gestattet, sich gegen Entgelt selbst zu beschäftigen, wenn dies dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. (2) Das Taschengeld (§ 46) darf den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 im Monat nicht unterschreiten.
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§ 134 Entlassungsvorbereitung Um die Entlassung zu erproben und vorzubereiten, kann der Vollzug gelockert und Sonderurlaub bis zu einem Monat gewährt werden. Bei Untergebrachten in einer sozialtherapeutischen Anstalt bleibt § 124 unberührt. § 135 Sicherungsverwahrung in Frauenanstalten Die Sicherungsverwahrung einer Frau kann auch in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Frauenanstalt durchgeführt werden, wenn diese Anstalt für die Sicherungsverwahrung eingerichtet ist. ZWEITER TITEL
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt § 136 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Die Behandlung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus richtet sich nach ärztlichen Gesichtspunkten. Soweit möglich, soll er geheilt oder sein Zustand so weit gebessert werden, daß er nicht mehr gefährlich ist. Ihm wird die nötige Aufsicht, Betreuung und Pflege zuteil. § 137 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Ziel der Behandlung des Untergebrachten in einer Entziehungsanstalt ist es, ihn von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben. § 138 Anwendung anderer Vorschriften (1) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt richtet sich nach Landesrecht, soweit Bundesgesetze nichts anderes bestimmen. § 51 Abs. 4 und 5 sowie § 75 Abs. 3 gelten entsprechend. (2) Für die Erhebung der Kosten der Unterbringung gilt § 50 entsprechend mit der Maßgabe, dass in den Fällen des § 50 Abs. 1 Satz 2 an die Stelle erhaltener Bezüge die Verrichtung zugewiesener oder ermöglichter Arbeit tritt und in den Fällen des § 50 Abs. 1 Satz 4 dem Untergebrachten ein Betrag in der Höhe verbleiben muss, der dem Barbetrag entspricht, den ein in einer Einrichtung lebender und einen Teil der Kosten seines Aufenthalts selbst tragender Sozialhilfeempfänger zur persönlichen Verfügung erhält. Bei der Bewertung einer Beschäftigung als Arbeit sind die besonderen Verhältnisse des Maßregelvollzugs zu berücksichtigen. Zuständig für die Erhebung der Kosten ist die Vollstreckungsbehörde; die Landesregierungen können durch Rechtsverordnung andere Zuständigkeiten begründen. Die Kosten werden als Justizverwaltungsabgabe erhoben. (3) Für das gerichtliche Verfahren gelten die §§ 109 bis 121 entsprechend.
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Vierter Abschnitt
Vollzugsbehörden ERSTER TITEL
Arten und Einrichtung der Justizvollzugsanstalten § 139 Justizvollzugsanstalten Die Freiheitsstrafe sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung werden in Anstalten der Landesjustizverwaltungen (Justizvollzugsanstalten) vollzogen.
§ 140 Trennung des Vollzuges (1) Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird in getrennten Anstalten oder in getrennten Abteilungen einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Vollzugsanstalt vollzogen. (2) Frauen sind getrennt von Männern in besonderen Frauenanstalten unterzubringen. Aus besonderen Gründen können für Frauen getrennte Abteilungen in Anstalten für Männer vorgesehen werden. (3) Von der getrennten Unterbringung nach den Absätzen 1 und 2 darf abgewichen werden, um dem Gefangenen die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen in einer anderen Anstalt oder in einer anderen Abteilung zu ermöglichen.
§ 141 Differenzierung (1) Für den Vollzug der Freiheitsstrafe sind Haftplätze vorzusehen in verschiedenen Anstalten oder Abteilungen, in denen eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung gewährleistet ist. (2) Anstalten des geschlossenen Vollzuges sehen eine sichere Unterbringung vor, Anstalten des offenen Vollzuges keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen.
§ 142 Einrichtungen für Mütter mit Kindern In Anstalten für Frauen sollen Einrichtungen vorgesehen werden, in denen Mütter mit ihren Kindern untergebracht werden können.
§ 143 Größe und Gestaltung der Anstalten (1) Justizvollzugsanstalten sind so zu gestalten, daß eine auf die Bedürfnisse des einzelnen abgestellte Behandlung gewährleistet ist. (2) Die Vollzugsanstalten sind so zu gliedern, daß die Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen zusammengefaßt werden können. (3) Die für sozialtherapeutische Anstalten und für Justizvollzugsanstalten für Frauen vorgesehene Belegung soll zweihundert Plätze nicht übersteigen.
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§ 144 Größe und Ausgestaltung der Räume (1) Räume für den Aufenthalt während der Ruhe- und Freizeit sowie Gemeinschafts- und Besuchsräume sind wohnlich oder sonst ihrem Zweck entsprechend auszugestalten. Sie müssen hinreichend Luftinhalt haben und für eine gesunde Lebensführung ausreichend mit Heizung und Lüftung, Boden- und Fensterfläche ausgestattet sein. (2) Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung Näheres über den Luftinhalt, die Lüftung, die Boden- und Fensterfläche sowie die Heizung und Einrichtung der Räume zu bestimmen. § 145 Festsetzung der Belegungsfähigkeit Die Aufsichtsbehörde setzt die Belegungsfähigkeit für jede Anstalt so fest, daß eine angemessene Unterbringung während der Ruhezeit (§ 18) gewährleistet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine ausreichende Anzahl von Plätzen für Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung sowie von Räumen für Seelsorge, Freizeit, Sport, therapeutische Maßnahmen und Besuche zur Verfügung steht. § 146 Verbot der Überbelegung (1) Hafträume dürfen nicht mit mehr Personen als zugelassen belegt werden. (2) Ausnahmen hiervon sind nur vorübergehend und nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. § 147 Einrichtungen für die Entlassung Um die Entlassung vorzubereiten, sollen den geschlossenen Anstalten offene Einrichtungen angegliedert oder gesonderte offene Anstalten vorgesehen werden. § 148 Arbeitsbeschaffung, Gelegenheit zur beruflichen Bildung (1) Die Vollzugsbehörde soll im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dafür sorgen, daß jeder arbeitsfähige Gefangene wirtschaftlich ergiebige Arbeit ausüben kann, und dazu beitragen, daß er beruflich gefördert, beraten und vermittelt wird. (2) Die Vollzugsbehörde stellt durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicher, daß die Bundesagentur für Arbeit die ihr obliegenden Aufgaben wie Berufsberatung, Ausbildungsvermittlung und Arbeitsvermittlung durchführen kann. § 149 Arbeitsbetriebe, Einrichtungen zur beruflichen Bildung (1) In den Anstalten sind die notwendigen Betriebe für die nach § 37 Abs. 2 zuzuweisenden Arbeiten sowie die erforderlichen Einrichtungen zur beruflichen Bildung (§ 37 Abs. 3) und arbeitstherapeutischen Beschäftigung (§ 37 Abs. 5) vorzusehen. (2) Die in Absatz 1 genannten Betriebe und sonstigen Einrichtungen sind den Verhältnissen außerhalb der Anstalten anzugleichen. Die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind zu beachten. (3) Die berufliche Bildung und die arbeitstherapeutische Beschäftigung können auch in geeigneten Einrichtungen privater Unternehmen erfolgen.
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(4) In den von privaten Unternehmen unterhaltenen Betrieben und sonstigen Einrichtungen kann die technische und fachliche Leitung Angehörigen dieser Unternehmen übertragen werden. § 150 Vollzugsgemeinschaften Für Vollzugsanstalten nach den §§ 139 bis 149 können die Länder Vollzugsgemeinschaften bilden. ZWEITER TITEL
Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten § 151 Aufsichtsbehörden (1) Die Landesjustizverwaltungen führen die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten. Sie können Aufsichtsbefugnisse auf Justizvollzugsämter übertragen. (2) An der Aufsicht über das Arbeitswesen sowie über die Sozialarbeit, die Weiterbildung, die Gesundheitsfürsorge und die sonstige fachlich begründete Behandlung der Gefangenen sind eigene Fachkräfte zu beteiligen; soweit die Aufsichtsbehörde nicht über eigene Fachkräfte verfügt, ist fachliche Beratung sicherzustellen. § 152 Vollstreckungsplan (1) Die Landesjustizverwaltung regelt die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten in einem Vollstreckungsplan. (2) Der Vollstreckungsplan sieht vor, welche Verurteilten in eine Einweisungsanstalt oder -abteilung eingewiesen werden. Über eine Verlegung zum weiteren Vollzug kann nach Gründen der Behandlung und Eingliederung entschieden werden. (3) Im übrigen ist die Zuständigkeit nach allgemeinen Merkmalen zu bestimmen. § 153 Zuständigkeit für Verlegungen Die Landesjustizverwaltung kann sich Entscheidungen über Verlegungen vorbehalten oder sie einer zentralen Stelle übertragen. DRITTER TITEL
Innerer Aufbau der Justizvollzugsanstalten § 154 Zusammenarbeit (1) Alle im Vollzug Tätigen arbeiten zusammen und wirken daran mit, die Aufgaben des Vollzuges zu erfüllen. (2) Mit den Behörden und Stellen der Entlassenenfürsorge, der Bewährungshilfe, den Aufsichtsstellen für die Führungsaufsicht, den Agenturen für Arbeit, den Trägern der Sozialversicherung und der Sozialhilfe, den Hilfeeinrichtungen anderer Behörden und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege ist eng zusammenzuarbeiten. Die Vollzugsbehörden sollen mit Personen und Vereinen, deren Einfluß die Eingliederung des Gefangenen fördern kann, zusammenarbeiten.
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§ 155 Vollzugsbedienstete (1) Die Aufgaben der Justizvollzugsanstalten werden von Vollzugsbeamten wahrgenommen. Aus besonderen Gründen können sie auch anderen Bediensteten der Justizvollzugsanstalten sowie nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Personen übertragen werden. (2) Für jede Anstalt ist entsprechend ihrer Aufgabe die erforderliche Anzahl von Bediensteten der verschiedenen Berufsgruppen, namentlich des allgemeinen Vollzugsdienstes, des Verwaltungsdienstes und des Werkdienstes, sowie von Seelsorgern, Ärzten, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern vorzusehen.
§ 156 Anstaltsleitung (1) Für jede Justizvollzugsanstalt ist ein Beamter des höheren Dienstes zum hauptamtlichen Leiter zu bestellen. Aus besonderen Gründen kann eine Anstalt auch von einem Beamten des gehobenen Dienstes geleitet werden. (2) Der Anstaltsleiter vertritt die Anstalt nach außen. Er trägt die Verantwortung für den gesamten Vollzug, soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verantwortung anderer Vollzugsbediensteter oder ihrer gemeinsamen Verantwortung übertragen sind. (3) Die Befugnis, die Durchsuchung nach § 84 Abs. 2, die besonderen Sicherungsmaßnahmen nach § 88 und die Disziplinarmaßnahmen nach § 103 anzuordnen, darf nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen werden.
§ 157 Seelsorge (1) Seelsorger werden im Einvernehmen mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hauptamt bestellt oder vertraglich verpflichtet. (2) Wenn die geringe Anzahl der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine Seelsorge nach Absatz 1 nicht rechtfertigt, ist die seelsorgerische Betreuung auf andere Weise zuzulassen. (3) Mit Zustimmung des Anstaltsleiters dürfen die Anstaltsseelsorger sich freier Seelsorgehelfer bedienen und für Gottesdienste sowie für andere religiöse Veranstaltungen Seelsorger von außen zuziehen.
§ 158 Ärztliche Versorgung (1) Die ärztliche Versorgung ist durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen. Sie kann aus besonderen Gründen nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden. (2) Die Pflege der Kranken soll von Personen ausgeübt werden, die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Solange Personen im Sinne von Satz 1 nicht zur Verfügung stehen, können auch Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden, die eine sonstige Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben.
§ 159 Konferenzen Zur Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplanes und zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen im Vollzug führt der Anstaltsleiter Konferenzen mit an der Behandlung maßgeblich Beteiligten durch.
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§ 160 Gefangenenmitverantwortung Den Gefangenen und Untergebrachten soll ermöglicht werden, an der Verantwortung für Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse teilzunehmen, die sich ihrer Eigenart und der Aufgabe der Anstalt nach für ihre Mitwirkung eignen. § 161 Hausordnung (1) Der Anstaltsleiter erläßt eine Hausordnung. Sie bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. (2) In die Hausordnung sind namentlich die Anordnungen aufzunehmen über 1. die Besuchszeiten, Häufigkeit und Dauer der Besuche, 2. die Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit sowie 3. die Gelegenheit, Anträge und Beschwerden anzubringen, oder sich an einen Vertreter der Aufsichtsbehörde zu wenden. (3) Ein Abdruck der Hausordnung ist in jedem Haftraum auszulegen.
VIERTER TITEL
Anstaltsbeiräte § 162 Bildung der Beiräte (1) Bei den Justizvollzugsanstalten sind Beiräte zu bilden. (2) Vollzugsbedienstete dürfen nicht Mitglieder der Beiräte sein. (3) Das Nähere regeln die Länder. § 163 Aufgabe der Beiräte Die Mitglieder des Beirats wirken bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen mit. Sie unterstützen den Anstaltsleiter durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge und helfen bei der Eingliederung der Gefangenen nach der Entlassung. § 164 Befugnisse (1) Die Mitglieder des Beirats können namentlich Wünsche, Anregungen und Beanstandungen entgegennehmen. Sie können sich über die Unterbringung, Beschäftigung, berufliche Bildung, Verpflegung, ärztliche Versorgung und Behandlung unterrichten sowie die Anstalt und ihre Einrichtungen besichtigen. (2) Die Mitglieder des Beirats können die Gefangenen und Untergebrachten in ihren Räumen aufsuchen. Aussprache und Schriftwechsel werden nicht überwacht. § 165 Pflicht zur Verschwiegenheit Die Mitglieder des Beirats sind verpflichtet, außerhalb ihres Amtes über alle Angelegenheiten, die ihrer Natur nach vertraulich sind, besonders über Namen und Persönlichkeit der Gefangenen und Untergebrachten, Verschwiegenheit zu bewahren. Dies gilt auch nach Beendigung ihres Amtes.
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Gesetzestext
FÜNFTER TITEL
Kriminologische Forschung im Strafvollzug § 166 (1) Dem kriminologischen Dienst obliegt es, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen. (2) Die Vorschriften des § 186 gelten entsprechend.
Fünfter Abschnitt
Vollzug weiterer freiheitsentziehender Maßnahmen in Justizvollzugsanstalten, Datenschutz, Sozial- und Arbeitslosenversicherung, Schlußvorschriften ERSTER TITEL
Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten § 167 Grundsatz Für den Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 2 bis 122, 179 bis 187) entsprechend, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist. § 50 findet nur in den Fällen einer in § 39 erwähnten Beschäftigung Anwendung. § 168 Unterbringung, Besuche und Schriftverkehr (1) Eine gemeinsame Unterbringung während der Arbeit, Freizeit und Ruhezeit (§§ 17 und 18) ist nur mit Einwilligung des Gefangenen zulässig. Dies gilt nicht, wenn Strafarrest in Unterbrechung einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (2) Dem Gefangenen soll gestattet werden, einmal wöchentlich Besuch zu empfangen. (3) Besuche und Schriftwechsel dürfen nur untersagt oder überwacht werden, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt notwendig ist. § 169 Kleidung, Wäsche und Bettzeug Der Gefangene darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt. § 170 Einkauf Der Gefangene darf Nahrungs- und Genußmittel sowie Mittel zur Körperpflege in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt auf eigene Kosten erwerben.
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ZWEITER TITEL
Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft § 171 Grundsatz Für den Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3 bis 49, 51 bis 122, 179 bis 187) entsprechend, soweit nicht Eigenart und Zweck der Haft entgegenstehen oder im folgenden etwas anderes bestimmt ist. § 172 Unterbringung Eine gemeinsame Unterbringung während der Arbeit, Freizeit und Ruhezeit (§§ 17 und 18) ist nur mit Einwilligung des Gefangenen zulässig. Dies gilt nicht, wenn Ordnungshaft in Unterbrechung einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. § 173 Kleidung, Wäsche und Bettzeug Der Gefangene darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt. § 174 Einkauf Der Gefangene darf Nahrungs- und Genußmittel sowie Mittel zur Körperpflege in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt auf eigene Kosten erwerben. § 175 Arbeit Der Gefangene ist zu einer Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit nicht verpflichtet. DRITTER TITEL
Arbeitsentgelt in Jugendstrafanstalten und im Vollzug der Untersuchungshaft § 176 Jugendstrafanstalten (1) Übt ein Gefangener in einer Jugendstrafanstalt eine ihm zugewiesene Arbeit aus, so erhält er unbeschadet der Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes über die Akkord- und Fließarbeit ein nach § 43 Abs. 2 und 3 zu bemessendes Arbeitsentgelt. Übt er eine sonstige zugewiesene Beschäftigung oder Hilfstätigkeit aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt nach Satz 1, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. § 43 Abs. 5 bis 11 gilt entsprechend. (2) (zukünftig in Kraft) (3) Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist. (4) Im übrigen gelten § 44 und die §§ 49 bis 52 entsprechend.
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§ 177 Untersuchungshaft Übt der Untersuchungsgefangene eine ihm zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit aus, so erhält er ein nach § 43 Abs. 2 bis 5 zu bemessendes und bekannt zu gebendes Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts ist abweichend von § 200 fünf vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen (Eckvergütung). § 43 Abs. 6 bis 11 findet keine Anwendung. Für junge und heranwachsende Untersuchungsgefangene gilt § 176 Abs. 1 Satz 1 und 2 entsprechend. VIERTER TITEL
Unmittelbarer Zwang in Justizvollzugsanstalten § 178 (1) Die §§ 94 bis 101 über den unmittelbaren Zwang gelten nach Maßgabe der folgenden Absätze auch für Justizvollzugsbedienstete außerhalb des Anwendungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes (§ 1). (2) Beim Vollzug der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbringung nach § 126a der Strafprozeßordnung bleibt § 119 Abs. 5 und 6 der Strafprozeßordnung unberührt. (3) Beim Vollzug des Jugendarrestes, des Strafarrestes sowie der Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft dürfen zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung (§ 100 Abs. 1 Nr. 3) keine Schußwaffen gebraucht werden. Dies gilt nicht, wenn Strafarrest oder Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- oder Erzwingungshaft in Unterbrechung einer Untersuchungshaft, einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (4) Das Landesrecht kann, namentlich beim Vollzug der Jugendstrafe, weitere Einschränkungen des Rechtes zum Schußwaffengebrauch vorsehen.
FÜNFTER TITEL
Datenschutz § 179 Datenerhebung (1) Die Vollzugsbehörde darf personenbezogene Daten erheben, soweit deren Kenntnis für den ihr nach diesem Gesetz aufgegebenen Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten sind bei dem Betroffenen zu erheben. Für die Erhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen, die Erhebung bei anderen Personen oder Stellen und für die Hinweis- und Aufklärungspflichten gilt § 4 Abs. 2 und 3 und § 13 Abs. 1a des Bundesdatenschutzgesetzes. (3) Daten über Personen, die nicht Gefangene sind, dürfen ohne ihre Mitwirkung bei Personen oder Stellen außerhalb der Vollzugsbehörde nur erhoben werden, wenn sie für die Behandlung eines Gefangenen, die Sicherheit der Anstalt oder die Sicherung des Vollzuges einer Freiheitsstrafe unerläßlich sind und die Art der Erhebung schutzwürdige Interessen der Betroffenen nicht beeinträchtigt. (4) Über eine ohne seine Kenntnis vorgenommene Erhebung personenbezogener Daten wird der Betroffene unter Angabe dieser Daten unterrichtet, soweit der in Absatz 1 genannte Zweck dadurch nicht gefährdet wird. Sind die Daten bei anderen Personen oder Stellen erhoben worden, kann die Unterrichtung unterbleiben, wenn
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1. die Daten nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, namentlich wegen des überwiegenden berechtigten Interesses eines Dritten, geheimgehalten werden müssen oder 2. der Aufwand der Unterrichtung außer Verhältnis zum Schutzzweck steht und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden. § 180 Verarbeitung und Nutzung (1) Die Vollzugsbehörde darf personenbezogene Daten verarbeiten und nutzen, soweit dies für den ihr nach diesem Gesetz aufgegebenen Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich ist. Die Vollzugsbehörde kann einen Gefangenen verpflichten, einen Lichtbildausweis mit sich zu führen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist. (2) Die Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für andere Zwecke ist zulässig, soweit dies 1. zur Abwehr von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder von Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen a) gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, b) eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder c) auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 2. zur Abwehr erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, 3. zur Abwehr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechte einer anderen Person, 4. zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhinderung oder Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, durch welche die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet werden, oder 5. für Maßnahmen der Strafvollstreckung oder strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen erforderlich ist. (3) Eine Verarbeitung oder Nutzung für andere Zwecke liegt nicht vor, soweit sie dem gerichtlichen Rechtsschutz nach den §§ 109 bis 121 oder den in § 14 Abs. 3 des Bundesdatenschutzgesetzes genannten Zwecken dient. (4) Über die in den Absätzen 1 und 2 geregelten Zwecke hinaus dürfen zuständigen öffentlichen Stellen personenbezogene Daten übermittelt werden, soweit dies für 1. Maßnahmen der Gerichtshilfe, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht, 2. Entscheidungen in Gnadensachen, 3. gesetzlich angeordnete Statistiken der Rechtspflege, 4. Entscheidungen über Leistungen, die mit der Aufnahme in einer Justizvollzugsanstalt entfallen oder sich mindern, 5. die Einleitung von Hilfsmaßnahmen für Angehörige (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs) des Gefangenen, 6. dienstliche Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Aufnahme und Entlassung von Soldaten, 7. ausländerrechtliche Maßnahmen oder 8. die Durchführung der Besteuerung erforderlich ist. Eine Übermittlung für andere Zwecke ist auch zulässig, soweit eine andere gesetzliche Vorschrift dies vorsieht und sich dabei ausdrücklich auf personenbezogene Daten über Gefangene bezieht.
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(5) Öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen darf die Vollzugsbehörde auf schriftlichen Antrag mitteilen, ob sich eine Person in Haft befindet sowie ob und wann ihre Entlassung voraussichtlich innerhalb eines Jahres bevorsteht, soweit 1. die Mitteilung zur Erfüllung der in der Zuständigkeit der öffentlichen Stelle liegenden Aufgaben erforderlich ist oder 2. von nicht-öffentlichen Stellen ein berechtigtes Interesse an dieser Mitteilung glaubhaft dargelegt wird und der Gefangene kein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluß der Übermittlung hat. Dem Verletzten einer Straftat können darüber hinaus auf schriftlichen Antrag Auskünfte über die Entlassungsadresse oder die Vermögensverhältnisse des Gefangenen erteilt werden, wenn die Erteilung zur Feststellung oder Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit der Straftat erforderlich ist. Der Gefangene wird vor der Mitteilung gehört, es sei denn, es ist zu besorgen, daß dadurch die Verfolgung des Interesses des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, und eine Abwägung ergibt, daß dieses Interesse des Antragstellers das Interesse des Gefangenen an seiner vorherigen Anhörung überwiegt. Ist die Anhörung unterblieben, wird der betroffene Gefangene über die Mitteilung der Vollzugsbehörde nachträglich unterrichtet. (6) Akten mit personenbezogenen Daten dürfen nur anderen Vollzugsbehörden, den zur Dienst- oder Fachaufsicht oder zu dienstlichen Weisungen befugten Stellen, den für strafvollzugs-, strafvollstreckungs- und strafrechtliche Entscheidungen zuständigen Gerichten sowie den Strafvollstreckungs- und Strafverfolgungsbehörden überlassen werden; die Überlassung an andere öffentliche Stellen ist zulässig, soweit die Erteilung einer Auskunft einen unvertretbaren Aufwand erfordert oder nach Darlegung der Akteneinsicht begehrenden Stellen für die Erfüllung der Aufgabe nicht ausreicht. Entsprechendes gilt für die Überlassung von Akten an die von der Vollzugsbehörde mit Gutachten beauftragten Stellen. (7) Sind mit personenbezogenen Daten, die nach den Absätzen 1, 2 oder 4 übermittelt werden dürfen, weitere personenbezogene Daten des Betroffenen oder eines Dritten in Akten so verbunden, daß eine Trennung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist, so ist die Übermittlung auch dieser Daten zulässig, soweit nicht berechtigte Interessen des Betroffenen oder eines Dritten an deren Geheimhaltung offensichtlich überwiegen; eine Verarbeitung oder Nutzung dieser Daten durch den Empfänger ist unzulässig. (8) Bei der Überwachung der Besuche oder des Schriftwechsels sowie bei der Überwachung des Inhaltes von Paketen bekanntgewordene personenbezogene Daten dürfen nur für die in Absatz 2 aufgeführten Zwecke, für das gerichtliche Verfahren nach den §§ 109 bis 121, für Zwecke der Behandlung verarbeitet und genutzt werden. (9) Personenbezogene Daten, die gemäß § 179 Abs. 3 über Personen, die nicht Gefangene sind, erhoben worden sind, dürfen nur zur Erfüllung des Erhebungszweckes, für die in Absatz 2 Nr. 1 bis 3 geregelten Zwecke oder zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung verarbeitet oder genutzt werden. (10) Die Übermittlung von personenbezogenen Daten unterbleibt, soweit die in § 182 Abs. 2, § 184 Abs. 2 und 4 geregelten Einschränkungen oder besondere gesetzliche Verwendungsregelungen entgegenstehen. (11) Die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung trägt die Vollzugsbehörde. Erfolgt die Übermittlung auf Ersuchen einer öffentlichen Stelle, trägt diese die Verantwortung. In diesem Fall prüft die Vollzugsbehörde nur, ob das Übermittlungsersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt und die Absätze 8 bis 10 der Übermittlung nicht entgegenstehen, es sei denn, daß besonderer Anlaß zur Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung besteht.
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§ 181 Zweckbindung Von der Vollzugsbehörde übermittelte personenbezogene Daten dürfen nur zu dem Zweck verarbeitet oder genutzt werden, zu dessen Erfüllung sie übermittelt worden sind. Der Empfänger darf die Daten für andere Zwecke nur verarbeiten oder nutzen, soweit sie ihm auch für diese Zwecke hätten übermittelt werden dürfen, und wenn im Falle einer Übermittlung an nichtöffentliche Stellen die übermittelnde Vollzugsbehörde zugestimmt hat. Die Vollzugsbehörde hat den nicht-öffentlichen Empfänger auf die Zweckbindung nach Satz 1 hinzuweisen. § 182 Schutz besonderer Daten (1) Das religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis eines Gefangenen und personenbezogene Daten, die anläßlich ärztlicher Untersuchungen erhoben worden sind, dürfen in der Anstalt nicht allgemein kenntlich gemacht werden. Andere personenbezogene Daten über den Gefangenen dürfen innerhalb der Anstalt allgemein kenntlich gemacht werden, soweit dies für ein geordnetes Zusammenleben in der Anstalt erforderlich ist; § 180 Abs. 8 bis 10 bleibt unberührt. (2) Personenbezogene Daten, die den in § 203 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 des Strafgesetzbuchs genannten Personen von einem Gefangenen als Geheimnis anvertraut oder über einen Gefangenen sonst bekanntgeworden sind, unterliegen auch gegenüber der Vollzugsbehörde der Schweigepflicht. Die in § 203 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 des Strafgesetzbuchs genannten Personen haben sich gegenüber dem Anstaltsleiter zu offenbaren, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Der Arzt ist zur Offenbarung ihm im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bekanntgewordener Geheimnisse befugt, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerläßlich oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Sonstige Offenbarungsbefugnisse bleiben unberührt. Der Gefangene ist vor der Erhebung über die nach den Sätzen 2 und 3 bestehenden Offenbarungsbefugnisse zu unterrichten. (3) Die nach Absatz 2 offenbarten Daten dürfen nur für den Zweck, für den sie offenbart wurden oder für den eine Offenbarung zulässig gewesen wäre, und nur unter denselben Voraussetzungen verarbeitet oder genutzt werden, unter denen eine in § 203 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 des Strafgesetzbuchs genannte Person selbst hierzu befugt wäre. Der Anstaltsleiter kann unter diesen Voraussetzungen die unmittelbare Offenbarung gegenüber bestimmten Anstaltsbediensteten allgemein zulassen. (4) Sofern Ärzte oder Psychologen außerhalb des Vollzuges mit der Untersuchung oder Behandlung eines Gefangenen beauftragt werden, gilt Absatz 2 mit der Maßgabe entsprechend, daß der beauftragte Arzt oder Psychologe auch zur Unterrichtung des Anstaltsarztes oder des in der Anstalt mit der Behandlung des Gefangenen betrauten Psychologen befugt sind. § 183 Schutz der Daten in Akten und Dateien (1) Der einzelne Vollzugsbedienstete darf sich von personenbezogenen Daten nur Kenntnis verschaffen, soweit dies zur Erfüllung der ihm obliegenden Aufgabe oder für die Zusammenarbeit nach § 154 Abs. 1 erforderlich ist. (2) Akten und Dateien mit personenbezogenen Daten sind durch die erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen gegen unbefugten Zugang und unbefugten Gebrauch zu schützen. Gesundheitsakten und Krankenblätter sind getrennt von anderen Unterlagen zu führen und besonders zu sichern. Im übrigen gilt für die Art und den Umfang der Schutzvorkehrungen § 9 des Bundesdatenschutzgesetzes.
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§ 184 Berichtigung, Löschung und Sperrung (1) Die in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten sind spätestens zwei Jahre nach der Entlassung des Gefangenen oder der Verlegung des Gefangenen in eine andere Anstalt zu löschen. Hiervon können bis zum Ablauf der Aufbewahrungsfrist für die Gefangenenpersonalakte die Angaben über Familienname, Vorname, Geburtsname, Geburtstag, Geburtsort, Eintritts- und Austrittsdatum des Gefangenen ausgenommen werden, soweit dies für das Auffinden der Gefangenenpersonalakte erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten in Akten dürfen nach Ablauf von zwei Jahren seit der Entlassung des Gefangenen nur übermittelt oder genutzt werden, soweit dies 1. zur Verfolgung von Straftaten, 2. für die Durchführung wissenschaftlicher Forschungsvorhaben gemäß § 186, 3. zur Behebung einer bestehenden Beweisnot, 4. zur Feststellung, Durchsetzung oder Abwehr von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe unerläßlich ist. Diese Verwendungsbeschränkungen enden, wenn der Gefangene erneut zum Vollzug einer Freiheitsstrafe aufgenommen wird oder der Betroffene eingewilligt hat. (3) Bei der Aufbewahrung von Akten mit nach Absatz 2 gesperrten Daten dürfen folgende Fristen nicht überschritten werden: Gefangenenpersonalakten, Gesundheitsakten und Krankenblätter 20 Jahre, Gefangenenbücher 30 Jahre. es gilt nicht, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß die Aufbewahrung für die in Absatz 2 Satz 1 genannten Zwecke weiterhin erforderlich ist. Die Aufbewahrungsfrist beginnt mit dem auf das Jahr der aktenmäßigen Weglegung folgenden Kalenderjahr. Die archivrechtlichen Vorschriften des Bundes und der Länder bleiben unberührt. (4) Wird festgestellt, daß unrichtige Daten übermittelt worden sind, ist dies dem Empfänger mitzuteilen, wenn dies zur Wahrung schutzwürdiger Interessen des Betroffenen erforderlich ist. (5) Im übrigen gilt für die Berichtigung, Löschung und Sperrung personenbezogener Daten § 20 Abs. 1 bis 4 und 6 bis 8 des Bundesdatenschutzgesetzes. § 185 Auskunft an den Betroffenen, Akteneinsicht Der Betroffene erhält nach Maßgabe des § 19 des Bundesdatenschutzgesetzes Auskunft und, soweit eine Auskunft für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht und er hierfür auf die Einsichtnahme angewiesen ist, Akteneinsicht. An die Stelle des Bundesbeauftragten für den Datenschutz in § 19 Abs. 5 und 6 des Bundesdatenschutzgesetzes tritt der Landesbeauftragte für den Datenschutz, an die Stelle der obersten Bundesbehörde tritt die entsprechende Landesbehörde. § 186 Auskunft und Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke Für die Auskunft und Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke gilt § 476 der Strafprozessordnung entsprechend. § 187 Anwendung des Bundesdatenschutzgesetzes Die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes über öffentliche und nicht-öffentliche Stellen (§ 2), weitere Begriffsbestimmungen (§ 3), Einholung und Form der Einwilligung des Betroffenen (§ 4a Abs. 1 und 2), das Datengeheimnis (§ 5), unabdingbare Rechte des Betroffenen (§ 6 Abs. 1) und die Durchführung des Datenschutzes (§ 18 Abs. 2) gelten entsprechend. Die Landes-
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datenschutzgesetze bleiben im Hinblick auf die Schadensersatz- , Straf- und Bußgeldvorschriften sowie die Bestimmungen über die Kontrolle durch die Landesbeauftragte für den Datenschutz unberührt.
SECHSTER TITEL
Anpassung des Bundesrechts § 188 (weggefallen) § 189 Verordnung über Kosten im Bereich der Justizverwaltung SIEBTER TITEL Sozial- und Arbeitslosenversicherung § 190 Reichsversicherungsordnung § 191 Angestelltenversicherungsgesetz § 192 Reichsknappschaftsgesetz § 193 Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte § 194 (weggefallen) § 195 Einbehaltung von Beitragsteilen Soweit die Vollzugsbehörde Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit zu entrichten hat, kann sie von dem Arbeitsentgelt, der Ausbildungsbeihilfe oder der Ausfallentschädigung einen Betrag einbehalten, der dem Anteil des Gefangenen am Beitrag entsprechen würde, wenn er diese Bezüge als Arbeitnehmer erhielte.
ACHTER TITEL
Einschränkung von Grundrechten, Inkrafttreten § 196 Einschränkung von Grundrechten Durch dieses Gesetz werden die Grundrechte aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 (körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person) und Artikel 10 Abs. 1 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) des Grundgesetzes eingeschränkt.
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§ 197 (weggefallen) § 198 Inkrafttreten (1) Dieses Gesetz tritt unbeschadet der §§ 199 und 201 am 1. Januar 1977 in Kraft, soweit die Absätze 2 und 3 nichts anderes bestimmen. (2) 1. Am 1. Januar 1980 treten folgende Vorschriften in Kraft: § 37 – Arbeitszuweisung – § 39 Abs. 1 – Freies Beschäftigungsverhältnis – § 41 Abs. 2 – Zustimmungsbedürftigkeit bei weiterbildenden Maßnahmen – § 42 – Freistellung von der Arbeitspflicht – § 149 Abs. 1 – Arbeitsbetriebe, Einrichtungen zur beruflichen Bildung – § 162 Abs. 1 – Beiräte – . 2. (weggefallen) 3. (weggefallen) (3) Durch besonderes Bundesgesetz werden die folgenden Vorschriften an inzwischen vorgenommene Gesetzesänderungen angepaßt und in Kraft gesetzt: § 41 Abs. 3 – Zustimmungsbedürftigkeit bei Beschäftigung in Unternehmerbetrieben – § 45 – Ausfallentschädigung – § 46 – Taschengeld – § 47 – Hausgeld – § 49 – Unterhaltsbeitrag – § 50 – Haftkostenbeitrag – § 65 Abs. 2 Satz 2 – Krankenversicherungsleistungen bei Krankenhausaufenthalt – § 93 Abs. 2 – Inanspruchnahme des Hausgeldes – § 176 Abs. 2 und 3 – Ausfallentschädigung und Taschengeld im Jugendstrafvollzug – § 189 – Verordnung über Kosten – § 190 Nr. 1 bis 10 und 13 bis 18, §§ 191 bis 193 – Sozialversicherung – . (4) Über das Inkrafttreten des § 41 Abs. 3 – Zustimmungsbedürftigkeit bei Beschäftigung in Unternehmerbetrieben – wird zum 31. Dezember 1983 und über die Fortgeltung des § 201 Nr. 1 – Unterbringung im offenen Vollzug – wird zum 31. Dezember 1985 befunden. § 199 Übergangsfassungen (1) Bis zum Inkrafttreten des besonderen Bundesgesetzes nach § 198 Abs. 3 gilt folgendes: 1. § 46 – Taschengeld – erhält folgende Fassung: „Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist.“ 2. § 47 – Hausgeld – erhält folgende Fassung: „(1) Der Gefangene darf von seinen in diesem Gesetz geregelten Bezügen drei Siebtel monatlich (Hausgeld) und das Taschengeld (§ 46) für den Einkauf (§ 22 Abs. 1) oder anderweitig verwenden. (2) Für Gefangene, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), wird aus ihren Bezügen ein angemessenes Hausgeld festgesetzt.“ 3. (weggefallen) 4. § 93 Abs. 2 – Inanspruchnahme des Hausgeldes – erhält folgende Fassung: „(2) Bei der Geltendmachung dieser Forderungen kann auch ein den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigender Teil des Hausgeldes (§ 47) in Anspruch genommen werden.“
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5. § 176 Abs. 3 – Taschengeld im Jugendstrafvollzug – erhält folgende Fassung: „(3) Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist.“ 6. (weggefallen) (2) Bis zum 31. Dezember 2002 gilt § 9 Abs. 1 Satz 1 in der folgenden Fassung: „Ein Gefangener soll in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden, wenn er wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches zu zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 6 Abs. 2 Satz 2 oder § 7 Abs. 4 angezeigt ist.“ § 200 Höhe des Arbeitsentgelts Der Bemessung des Arbeitsentgelts nach § 43 sind 9 vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen. § 201 Übergangsbestimmungen für bestehende Anstalten Für Anstalten, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnen wurde, gilt folgendes: 1. Abweichend von § 10 dürfen Gefangene ausschließlich im geschlossenen Vollzug untergebracht werden, solange die räumlichen, personellen und organisatorischen Anstaltsverhältnisse dies erfordern. 2. Abweichend von § 17 kann die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit auch eingeschränkt werden, wenn und solange die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern; die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit jedoch nur bis zum Ablauf des 31. Dezember 1988. 3. Abweichend von § 18 dürfen Gefangene während der Ruhezeit auch gemeinsam untergebracht werden, solange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern. Eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Personen ist nur bis zum Ablauf des 31. Dezember 1985 zulässig. 4. Abweichend von § 143 Abs. 1 und 2 sollen Justizvollzugsanstalten so gestaltet und gegliedert werden, daß eine auf die Bedürfnisse des einzelnen abgestellte Behandlung gewährleistet ist und daß die Gefangenen in überschaubaren Betreuungsund Behandlungsgruppen zusammengefaßt werden können. 5. Abweichend von § 145 kann die Belegungsfähigkeit einer Anstalt nach Maßgabe der Nummern 2 und 3 festgesetzt werden. § 202 Freiheitsstrafe und Jugendhaft der Deutschen Demokratischen Republik (1) Für den Vollzug der nach dem Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik gegen Jugendliche und Heranwachsende erkannten Freiheitsstrafe gelten die Vorschriften für den Vollzug der Jugendstrafe, für den Vollzug der Jugendhaft die Vorschriften über den Vollzug des Jugendarrestes. (2) Im übrigen gelten für den Vollzug der nach dem Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafe und der Haftstrafe die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe.
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Kommentar ERSTER ABSCHNITT
Anwendungsbereich §1 Dieses Gesetz regelt den Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten und der freiheitsziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung. Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Regelungsbereich . . . . . . . . 2. Föderalismusreform . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Freiheitsstrafe i. S. d. StVollzG . . 2. Geltung des StVollzG für aus dem Jugendstrafvollzug „Herausgenommene“ . . . . . . 3. Entsprechende Anwendung des StVollzG auf Strafarrest und Zivilhaft . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Geltung des StVollzG für
Rdn. 1–2 1 2 3–11 3
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Rdn. den Vollzug der Jugendstrafe und der UHaft . . . . . . . . . . . . . 7–8 5. Geltung des StVollzG bei freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . . 9–10 6. Geltung des Gesetzes nur in Justizvollzugsanstalten . . . . . 11 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 12–14 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 13 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 14
I. Allgemeine Hinweise 1. Die Vorschrift bestimmt positiv, für welche Vollzugsformen die im StVollzG ent- 1 haltenen Regelungen gelten. Das ist in der Hauptsache der Vollzug der Freiheitsstrafe, nicht dagegen der UHaft und der Jugendstrafe, die gleichfalls in Justizvollzugsanstalten vollzogen werden. Von den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung wird lediglich die Sicherungsverwahrung in Justizvollzugsanstalten vollzogen, die anderen Formen richten sich dagegen nach Landesrecht. Mithin sind die vom StVollzG betroffenen Gefangenen und Untergebrachten nicht identisch mit den Insassen, die in den organisatorischen Einheiten der Justizvollzugsanstalten zusammenkommen. Die zu Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung Verurteilten machen im Bundesgebiet etwa 80 % der Insassen (73793 am 30.11.2008) aus, Untersuchungsgefangene 16 % und Jugendstrafgefangene 3 %; sonstige Haftformen (u. a. Abschiebungshaft) 2 %. Es bringt erhebliche praktische Schwierigkeiten mit sich, wenn eine Justizvollzugsanstalt verschiedenen Zwecken dient, z. B. der Durchführung von UHaft und der Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen zugleich, oder wenn besondere Einrichtungen für einen Bezirk zentral geschaffen sind (Anstaltskrankenhaus), in die Gefangene aller Art vorübergehend gelangen. Oft wird aber auch in derselben Anstalt im Anschluss an oder in Unterbrechung der UHaft Freiheitsstrafe vollzogen oder nach Beendigung der Freiheitsstrafe Abschiebungshaft vollstreckt. Vor allem in Justizvollzugsanstalten für weibliche Gefangene sind meistens alle Frauen eines Bezirks untergebracht, gegen die Freiheitsentzug irgendwelcher Art vollstreckt wird (vgl. auch § 140 Rdn. 4). Derartige praktische Schwierigkeiten haben den niedersächsischen Landesgesetzgeber dazu veranlasst, den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe, der Unterbringung in der
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Sicherungsverwahrung und der UHaft in einem Gesetz zu regeln (s. Rdn. 14). Indessen wird kritisiert, dass den Besonderheiten des Jugendstraf- und UHaftvollzugs in einem gemeinsamen Gesetz nicht hinreichend Rechnung getragen werde (s. z. B. Dünkel Neue Kriminalpolitik 19 (2007), 55 ff; Eisenberg NStZ 2008, 250 ff).
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2. Mit dem Föderalismusreformgesetz vom 28.8.2006 (BGBl. I 2006, S. 2034) wurde das Grundgesetz dahingehend geändert, dass die Gebiete des Strafvollzugs (insbesondere Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung) sowie des UHaftvollzugs (als Teil des gerichtlichen Strafverfahrens) – sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche und Heranwachsende – der konkurrierenden Gesetzgebung entzogen und der Kompetenz der Landesgesetzgebung zugeordnet wurden. Die Länder sind seither befugt, jeweils eigene Strafvollzugsgesetze zu verabschieden. Das als Bundesrecht erlassene Strafvollzugsgesetz gilt gem. Art. 125a Abs. 1 GG in den einzelnen Bundesländern nunmehr nur noch solange fort, bis diese ein eigenes Landesgesetz erlassen. Diese Grundgesetzänderung war nicht durch eine breite fachliche Diskussion vorbereitet, kam vielmehr überraschend und lief dem einhelligen Votum der Fachwelt zuwider (so C/MD 2008 Einl. Rdn. 52, m. w. N.; ebenso Schwind „Chancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen, in Böse/Sternberg-Lieben (Hrsg.), Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag 2009, 763, 773 m. w. N., der die Kompetenzänderung sogar für „sach- und systemwidrig“ hält). Diese politische Grundsatzentscheidung traf zusammen mit dem im gleichen Zeitraum ergangenen Urteil des BVerfG vom 31.5.2006 (NJW 2006, 2093), das dem Gesetzgeber aufgetragen hatte, bis zum Ablauf des Jahres 2007 den Jugendstrafvollzug auf eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage zu stellen, da dieser bisher nur im JGG mit wenigen Bestimmungen gesetzlich geregelt war. Alle Bundesländer waren auf diese Weise gezwungen, innerhalb einer kurzen Frist ein Landesgesetz zum Jugendstrafvollzug zu erarbeiten. Eine ganze Reihe von Ländern schlossen sich zur Erarbeitung einer gemeinsamen Konzeption zusammen (sog. 9er Gruppe); die anderen größeren Länder sind jeweils einen eigenen Weg gegangen (dazu Dünkel Neue Kriminalpolitik 19 (2007), 55 ff; Eisenberg NStZ 2008, 250 ff; Ostendorf ZRP 2008, 14 ff; ders. NJW 2006, 2073 ff). Im Zuge dessen haben drei Länder nicht nur den Jugendstrafvollzug, sondern zugleich auch den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung gesetzlich geregelt. Bayern, Hamburg und Niedersachsen haben insofern von ihrer neuen Gesetzgebungskompetenz umfassender Gebrauch gemacht. Diese drei Landesgesetze sind zum 1.1.2008 in Kraft getreten. Einzelne Vorschriften des StVollzG haben hier nur noch Gültigkeit, soweit dies im jeweiligen Landesgesetz ausdrücklich normiert ist bzw. das Landesgesetz den im StVollzG geregelten Vollzug bestimmter Haftarten ihrem Anwendungsbereich nach nicht erfasst (Laubenthal 2008 Rdn. 15). Dass Bayern und Niedersachsen (Hamburg hat diesen Schritt durch eine Novellierung des HmbStVollzG zurückgenommen; zum alten Stand Dressel Das Hamburger Strafvollzugsgesetz, 2008) neben dem Vollzug von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung auch den Jugendstrafvollzug (Niedersachsen sogar den UHaftvollzug) in ihre Landesgesetze aufgenommen haben, trägt der berechtigten fachlichen Forderung nach eigenständigen Gesetzen für die verschiedenen Materien in keiner Weise Rechnung (so C/MD 2008 Einl. Rdn. 52, m. w. N.), ist aber, wie schon der Blick auf das geltende StVollzG zeigt (vgl. §§ 1, 122, 129 ff sowie 176 bis 178 StVollzG), wohl zulässig und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Nds. LT-Drucks. 15/3565, S. 78). Das BVerfG hat den Gesetzgeber in seinem Urteil (NJW 2006, 2093) zwar dazu verpflichtet, ein eigenständiges, den Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs entsprechendes Resozialisierungskonzept zu entwickeln. Es hat indes keine Vorgaben gemacht, wie dieses Ziel gesetzgeberisch umzusetzen ist, insbe-
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sondere hat es kein eigenständiges Gesetz gefordert (ebenso Arloth 2008 BayStVollzG Art. 1 Rdn. 1). Freilich ist C/MD zuzustimmen, dass spezielle Gesetze den vom BVerfG entwickelten Grundsätzen zur gesetzlichen Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs besser entsprochen hätten (C/MD 2008 Einl. Rdn. 52; so nun auch die Begründung zum überarbeiteten HmbStVollzG: „Die Gesetzestrennung stellt die besonderen Anforderungen des Vollzuges von Jugendstrafen an Jugendlichen und ihnen gleichstehenden Heranwachsenden deutlich heraus“ [Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, S. 1]).
II. Erläuterungen 1. Vollzug der Freiheitsstrafe im Rahmen des StVollzG meint die Freiheitsstrafe i. S. v. 3 § 38 StGB, also diejenige im engeren Sinne. Andere freiheitsentziehende strafrechtliche Sanktionen mit Strafcharakter, wie etwa die Jugendstrafe, Jugendarrest oder Strafarrest nach dem WStG, werden nicht erfasst (MünchKommStGB-Radtke 2003 § 38 Rdn. 2; AK-Feest/ Lesting 2006 Rdn. 2). Freiheitsstrafe im engeren Sinne ist auch die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB, also der Freiheitsentzug, der an den Verurteilten vollzogen wird, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen. Ist der in UHaft befindliche Gefangene rechtskräftig zu Freiheitsstrafe verurteilt, die Vollstreckbarkeitsbescheinigung nach § 451 StPO aber noch nicht erteilt, so sollen in dieser „Zwischenhaft“ nach Nr. 91 UVollzO die Vorschriften des StVollzG zur Anwendung kommen, was – sobald die Rechtskraft zweifelsfrei feststeht (vgl. § 8 Rdn. 1) – sachdienlich ist. Eine gesetzliche Regelung in einem Untersuchungshaftvollzugsgesetz ist wünschenswert (vgl. Seebode 1997, 47). Die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe gelten auch für die „Organisationshaft“, d. h. für den Zeitraum, in dem ein Inhaftierter nach rechtskräftigem Urteil darauf wartet, dass der Vollzug seiner Maßregel, die neben einer Freiheitsstrafe angeordnet ist und vorab vollstreckt werden soll, beginnen kann (Volckart/Grünbaum Maßregelvollzug 2003, 32). Umstritten ist, ob überhaupt oder für wie lange Zeit diese Organisationshaft als gesetzmäßig angesehen werden kann. Die Verwaltung darf einerseits nicht die Verwirklichung eines Urteils von den Belegungsmöglichkeiten abhängig machen. Andererseits sind kurze Wartezeiten unumgänglich, „um in einer Maßregelvollzugsanstalt mit der auch sonst in Haftsachen vorgeschriebenen Beschleunigung einen geeigneten Haftplatz lokalisieren und die Überführung des Verurteilten dorthin bewerkstelligen“ zu können (OLG Brandenburg NStZ 2000, 500 ff mit Anm. Rautenberg, 502; OLG Celle NStZ-RR 2002, 349 f; OLG Hamm StV 2004, 274 f). Von der Rechtsprechung war den Vollstreckungsbehörden bisher stets eine Organisationsfrist von bis zu drei Monaten eingeräumt worden (OLG Düsseldorf NStZ 1981, 366; OLG Celle NStZ-RR 2002, 346). Dieser von Vollstreckungsbehörden und Fachgerichten häufig ausgenutzten Frist erteilte das BVerfG inzwischen eine Absage und stellte klar, dass die Organisationshaft immer dann verfassungswidrig wird, wenn die Vollstreckungsbehörden nicht auf den konkreten Behandlungsbedarf unverzüglich reagieren und in beschleunigter Form die Überstellung des Verurteilten in eine geeignete Einrichtung – und sei es in einem anderen Bundesland – herbeiführen (BVerfG StV 2006, 420, 422). Eine gesetzliche Regelung dieser unumgänglichen Organisationshaft (einschließlich der Bestimmung einer Höchstdauer) ist jedenfalls – auch wenn sie nur „regelwidrig“ sein sollte (BVerfG NStZ 1998, 77) – erforderlich (C/MD 2008 Rdn. 1). Wird jemand, der zu einer Freiheitsstrafe i. S. v. § 38 StGB verurteilt worden ist, gemäß § 114 JGG in den Jugendstrafvollzug „hineingenommen“ und in eine Jugendstrafanstalt verlegt, so bleibt gleichwohl das StVollzG auf ihn anwendbar. Auch die Jugendstrafanstalt ist eine Justizvollzugsanstalt, und aus § 114 JGG ergibt sich nicht, dass besondere
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Vollzugsbestimmungen gelten sollen (Böhm/Feuerhelm Einführung in das Jugendstrafrecht 2004, 266; C/MD 2008 Rdn. 1; a. A. Ostendorf JGG 2007 § 114 Rdn. 6, § 110 Rdn. 1). Auch weil diese unterschiedliche Gesetzeszuständigkeit in einer Anstalt zu Schwierigkeiten führt, wird in der Praxis von der keineswegs als Ausnahme formulierten Vorschrift des § 114 JGG sehr selten Gebrauch gemacht (am 30.11.2008 bei 36 Personen).
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2. Gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 JGG kann an einem zu Jugendstrafe Verurteilten, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und sich nicht für den Jugendstrafvollzug eignet, die Jugendstrafe statt nach den Vorschriften für den Jugendstrafvollzug nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene vollzogen werden. Insoweit gelten auch die Regelungen der §§ 109 ff über die gerichtliche Entscheidung gegen Vollzugsmaßnahmen (§ 92 Abs. 6; vgl. § 109 Rdn. 3). Über diese Ausnahme aus dem Jugendstrafvollzug entscheidet gem. § 91 Abs. 2 JGG der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter. Durch diese Rechtsfolgenverweisung werden ca. ein Viertel der zu Jugendstrafe verurteilten Insassen den Regelungen des StVollzG unterstellt (1943 von 8005 am 30.11.2008). 5 Zu Jugendstrafe Verurteilte, die – ohne gem. § 91 Abs. 1 JGG aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen zu sein – zeitweise in einer Justizvollzugsanstalt, die keine Jugendstrafanstalt ist, untergebracht sind, etwa anlässlich eines Transportes, einer Verlegung zur Vorführung, einer Krankenbehandlung oder aus besonderen Sicherheitsgründen, unterliegen nicht den Regelungen des StVollzG, sondern den für den Vollzug der Jugendstrafe geltenden Bestimmungen (vgl. Rdn. 7).
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3. Entsprechend gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe auch für den Vollzug des Strafarrests, soweit er in den Justizvollzugsanstalten stattfindet (§ 167). Für den Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft (und zwar unabhängig davon, ob er in Justizvollzugsanstalten oder andernorts stattfindet) gelten §§ 3–49, 51–122, 179–187 – also nicht § 2 – entsprechend, soweit nicht Zweck und Eigenart der Haft entgegenstehen oder in §§ 172–175 besondere Regelungen vorgesehen sind. Für den – in der Praxis häufig im Wege der Amtshilfe in Justizvollzugsanstalten stattfindenden – Vollzug der Abschiebungshaft gem. § 62 AufenthG gelten wiederum die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über den Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangsund Erzwingungshaft entsprechend (§§ 171–175 Rdn. 4). 4. Das StVollzG gilt nicht für in Justizvollzugsanstalten untergebrachte
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a) zu Jugendstrafe Verurteilte, soweit sie nicht aus dem Jugendstrafvollzug gem. § 91 JGG herausgenommen sind – oben Rdn. 4 – (6062 am 30.11.2008). Für den Vollzug der Jugendstrafe galten vor Erlass der Landesgesetze zum Jugendstrafvollzug die §§ 91, 115 JGG, §§ 23 ff EGGVG, §§ 176, 178 StVollzG (Arbeitsentgelt und unmittelbarer Zwang in Justizvollzugsanstalten). Als Verwaltungsvorschrift galt die VVJug, die sich viel zu stark am StVollzG orientierte und nur in einigen Teilen (etwa Voraussetzungen für Vollzugslockerungen) den Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs Rechnung trug. Veranlasst durch das oben (Rdn. 2) genannte Urteil des BVerfG und infolge der durch die Föderalismusreform erlangten Gesetzgebungskompetenz haben inzwischen alle Bundesländer Jugendstrafvollzugsgesetze erlassen. Das BVerfG hat festgestellt, dass die bisher für den Jugendstrafvollzug bestehenden Bestimmungen des JGG keine ausreichende Gesetzesgrundlage für Grundrechtseingriffe darstellten. Darüber hinaus genügten die untergesetzlichen Verwaltungsvorschriften in keiner Weise den verfassungsrechtlich gebotenen spezifischen Anforderungen an den Freiheitsentzug für Jugendliche. Das Gericht wies insbesondere darauf hin, dass für den Jugendstrafvollzug das Ziel der Befähigung zu einem
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straffreien Leben in Freiheit besonders hohes Gewicht besitze, so dass die zu schaffenden gesetzlichen Regelungen der besonderen Situation der inhaftierten Jugendlichen vor dem Hintergrund des Vollzugsziels der sozialen Integration hinreichend Rechnung zu tragen haben. Dieser gesteigerten Verantwortung könne durch eine Vollzugsgestaltung entsprochen werden, die in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen – ausgerichtet sei (NJW 2006, 2093 ff). In 13 Bundesländern sind zum 1.1.2008 selbständige Landes-Jugendstrafvollzugsgesetze in Kraft getreten; in Bayern und Niedersachsen wurde der Jugendstrafvollzug in die entsprechenden Landes-Strafvollzugsgesetze integriert, sei es, dass innerhalb der einzelnen Normen Absätze zum Jugendstrafvollzug eingefügt sind, sei es, dass ein separater Abschnitt des Gesetzes dem Jugendstrafvollzug gewidmet ist. Hamburg hat sich, nachdem zunächst ein Strafvollzugsgesetz mit integrierten Jugendstrafvollzugsregelungen erlassen worden war, nunmehr für ein eigenständiges Hamburgisches Jugendstrafvollzugsgesetz entschieden. b) Untersuchungsgefangene, die mehr als 16 % (am 30.11.2008) der im Justizvollzug 8 befindlichen Personen ausmachen. Für diese gelten bislang die Vorschriften der StPO (§ 119) – bei jungen Menschen ergänzend § 93 JGG –, §§ 23 ff EGGVG und die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) als Verwaltungsvorschrift (vgl. Böhm 2003 Rdn. 443–464; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 104–129). Aus dem StVollzG gelten für Untersuchungsgefangene § 177 (Arbeitsentgelt, wenn der Untersuchungsgefangene eine ihm zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit ausübt) und § 178 (unmittelbarer Zwang in den Justizvollzugsanstalten). Die UVollzO bestimmt zwar in Nr. 76, dass in Ergänzung der UVollzO „die Vorschriften über den Strafvollzug“ sinngemäß gelten, soweit nicht in der UVollzO etwas anderes bestimmt ist oder Wesen und Zweck der UHaft entgegenstehen. Diese Bestimmung hat aber keine besondere Bedeutung. Die UVollzO enthält eine ziemlich vollständige Regelung der UHaft; sie ist im Übrigen nur eine Art Vorschlag für den zuständigen Richter, der die Haftbedingungen im Rahmen des § 119 StPO weitgehend gestalten kann (BVerfGE 15, 288, 293 ff). Diese gesetzlichen und untergesetzlichen Bestimmungen genügen ersichtlich nicht den Vorgaben des BVerfG-Urteils vom 31.5.2006 (NJW 2006, 2093) an die gesetzliche Grundlage für Freiheitsentziehungen. Infolge ihrer neu erlangten Gesetzgebungskompetenz (s. Rdn. 2) sind deshalb die Länder dabei, Vollzugsgesetze zur UHaft zu erarbeiten. Niedersachen hat als einziges Bundesland bislang innerhalb seines am 1.1.2008 in Kraft getretenen Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz landesrechtliche Regelungen zum UHaftvollzug getroffen. Mit der Eingliederung des UHaftvollzugs in das NJVollzG treten für alle in Niedersachsen in UHaft befindlichen Personen an die Stelle des § 119 Abs. 1 bis 5 Satz 1, Abs. 6, der §§ 93, 110 JGG und der UVollzO die Vorschriften der §§ 133 ff NJVollzG (KKSchultheis 2008 § 119 Rdn. 1a). Das Gesetz ist allerdings insoweit novelliert worden, als es kompetenzrechtliche und praktische Probleme hinsichtlich der Differenzierung nach verfahrens- und vollzugsrechtlichen Aspekten, z. B. bei der Briefkontrolle (vgl. dazu OLG Oldenburg Beschl. v. 12.2.2008 – 1 Ws 87/08), aufgeworfen hatte. Diese Änderungen, die v. a. den nach § 117 StPO zuständigen Haftrichter auch für Vollzugsfragen für zuständig erklären, sind zum 1.3.2009 in Kraft getreten (vgl. zu dieser Problematik Winzer/Hupka Das neue niedersächsische Justizvollzugsgesetz: Vom Haftrichter zum Vollzugsrichter im Untersuchungshaftvollzug, in Dt. Richterzeitung 2008, 146 ff). Unter der Federführung von Berlin und Thüringen haben außerdem insgesamt 12 Bundesländer den Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes erarbeitet. Damit sollen auch Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmensch-
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licher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden. Vorgelegt wurde ein in sich geschlossenes UHaftvollzugsgesetz, das den Besonderheiten dieses Vollzuges Rechnung trägt und auch den Vollzug der UHaft an jungen Gefangenen einbezieht. Als besondere inhaltliche Herausforderung erweist sich die – in Niedersachsen zunächst nicht gelungene – Grenzziehung zwischen Strafverfahren und Vollzug, da der Landesgesetzgeber nur bezüglich des UHaftvollzugsrechts die Gesetzgebungsbefugnis besitzt. Der Entwurf wird nun in die Gesetzgebungsverfahren der einzelnen Länder eingebracht und soll jeweils Anfang 2010 in Kraft treten. Die hier für erforderlich gehaltenen Regelungen zur Organisations- und Zwischenhaft enthalten weder das NJVollzG noch der Entwurf der 12 Länder. 5. Von den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung ist nur
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a) die Sicherungsverwahrung (§§ 129–135) abschließend im StVollzG geregelt (461 Verwahrte am 30.11.2008). Diese Maßregel der Besserung und Sicherung wird nur in Justizvollzugsanstalten vollzogen.
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b) Die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Entziehungsanstalt, § 64 StGB und Psychiatrisches Krankenhaus, § 63 StGB) werden nicht in Justizvollzugsanstalten und nicht durch Justizvollzugsbeamte vollzogen. Die Einrichtungen, in denen diese Verwahrten untergebracht sind, gehören in der Regel nicht zum Justizressort. Die §§ 136 und 137 enthalten nur eine Beschreibung des Vollzugsziels dieser Maßregeln, und § 138 erklärt, dass sich die Unterbringung nach Landesrecht richtet (vgl. § 138 Rdn. 2), soweit nicht Bundesgesetze etwas anderes bestimmen. Nach § 138 Abs. 2 gelten § 51 Abs. 4 und 5, § 75 Abs. 3 (Pfändungsschutz des Überbrückungsgeldes und der Überbrückungsbeihilfe) sowie §§ 109 bis 121 (gerichtlicher Rechtsschutz) für die Unterbringung entsprechend. Darüber hinaus regelt das StVollzG entgegen dem Wortlaut von § 1 die Durchführung dieser Maßregeln gerade nicht. Es ist hier auch nicht entsprechend anwendbar (C/MD 2008 Rdn. 1 zu § 138).
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6. Der Vollzug der Freiheitsstrafe (Rdn. 3, 4) wird nach dem Wortlaut des § 1 durch das StVollzG nur insoweit geregelt, als er in Justizvollzugsanstalten stattfindet. Bei der Verlegung nach § 65 Abs. 2 in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs trifft der Anstaltsleiter mit der Krankenhausleitung Absprachen, die die Sicherheit der Verwahrung des erkrankten Gefangenen, die Belange des Krankenhauses und die erforderliche Krankenbehandlung berücksichtigen (vgl. VV und Rdn. 6 zu § 65). Eine analoge Anwendung des StVollzG darüber hinaus (so aber AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 2) kommt nicht in Betracht.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 1 des BayStVollzG lautet: „Dieses Gesetz regelt den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe, der Sicherungsverwahrung und des Strafarrests in Justizvollzugsanstalten.“ In der Gesetzesbegründung zu Art. 1 heißt es: „Die Vorschrift legt zusammen mit Art. 208 den Anwendungsbereich des Gesetzes fest [. . .] und ersetzt das StVollzG größtenteils. Neben dem Vollzug der Freiheitsstrafe (einschließlich der Ersatzfreiheitsstrafe) werden der Vollzug der Jugendstrafe (Teil 3) und der Vollzug der Sicherungsverwahrung (Teil 4) sowie der Vollzug des Strafarrests in Justizvollzugsanstalten (Teil 6 Abschnitt 1) geregelt. Für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt gelten die §§ 136 bis 138 StVollzG und die bisherigen landesrechtlichen Bestimmungen (Art. 28 BayUnterbringungsgesetz). Die Regelungen der Rechtsbehelfe in den §§ 109 bis
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121 StVollzG gelten gemäß Art. 208 fort, weil sie dem gerichtlichen Verfahren zuzurechnen sind. Die Vertretung des Staatsministeriums der Justiz in Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG ist in § 4 Abs. 2 der Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaates Bayern geregelt“ (LT-Drucks. 15/8101, 48). Zu der Frage der Regelung des Vollzugs der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe in einem Gesetz s.o. Rdn. 2, 8. 2. Hamburg § 1 HmbStVollzG lautet: „Dieses Gesetz regelt den Vollzug der Freiheitsstrafe und der 13 Sicherungsverwahrung.“ In der Gesetzesbegründung heißt es: „Kernpunkt des Entwurfs ist die Trennung des bisherigen Hamburgischen Strafvollzugsgesetzes in ein Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung (Hamburgisches Strafvollzugsgesetz – HmbStVollzG) und ein Gesetz über den Vollzug der Jugendstrafe. Dies erfolgt vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Jugendstrafvollzuges, die das Bundesverfassungsgericht abgebildet hat“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 1). Darüber hinaus nimmt der Entwurf Bezug auf die Gesetzesbegründung des bisherigen HmbStVollzG, in der es zu § 1 heißt: „ [. . .] Anders als das Strafvollzugsgesetz regelt es nicht den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung insgesamt. Für den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt gelten weiterhin die §§ 136 bis 138 StVollzG in Verbindung mit dem Hamburgischen Gesetz über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung (Hamburgisches Maßregelvollzugsgesetz), ferner für den Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten sowie den Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft die Regelungen der §§ 167 bis 175 StVollzG“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 30). 3. Niedersachsen § 1 NJVollzG lautet: „Dieses Gesetz regelt den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugend- 14 strafe, der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und der Untersuchungshaft in den dafür bestimmten Anstalten des Landes Niedersachsen.“ § 1 NJVollzG ergänzt den Regelungsbereich des § 1 StVollzG um den Jugendstraf- und UHaftvollzug. In der Gesetzesbegründung zu § 1 heißt es: „Der Anwendungsbereich des NJVollzG ist hinsichtlich des Begriffs der Freiheitsstrafe identisch mit § 1 StVollzG. Gemeint ist die in §§ 38 und 39 StGB geregelte Freiheitsstrafe einschließlich der Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB. [. . .] Jugendstrafe meint die nach den Vorschriften des JGG gegen Jugendliche oder Heranwachsende (vgl. § 1 Abs. 2 JGG) verhängte Jugendstrafe nach §§ 17 und 18 JGG, bei Heranwachsenden in Verbindung mit § 105 JGG. Untersuchungshaft ist sowohl die im allgemeinen Strafverfahren angeordnete Untersuchungshaft nach §§ 112 ff StPO als auch die gegen Jugendliche und Heranwachsende nach dem JGG verhängte Untersuchungshaft (§ 72 JGG). [. . .] Weiterhin nicht gesetzlich geregelt werden soll die sog. Organisations- oder Zwischenhaft. Hinsichtlich der von § 1 StVollzG insgesamt erfassten freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung nach § 61 Nrn. 1 bis 3 StGB, deren Vollzug ebenfalls in das Gebiet des Strafvollzuges fällt [. . .], soll im vorliegenden Gesetz nur der Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung einschließlich der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 61 Nr. 3, §§ 66 bis 66 b StGB geregelt werden. Die Regelung des Vollzuges der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 61 Nr. 1 und § 63 StGB) und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 61 Nr. 2 und § 64 StGB), die bislang in §§ 136 bis 138 StVollzG und im Nds. MVollzG erfolgt, soll aus systematischen Gründen ausschließlich dem Nds. MVollzG vorbehalten werden. Alexander Böhm/Jörg-Martin Jehle
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[. . .] Dieses Gesetz kann nach der Neufassung des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 1 GG grundsätzlich nur den Vollzug der vorgenannten Maßnahmen in den Justizvollzugsanstalten des Landes Niedersachsen regeln und nach Maßgabe des Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG das auf diesen Gebieten erlassene Bundesrecht durch Landesrecht ersetzen. Ausgeschlossen sind demgegenüber grundsätzlich Regelungen auf den Gebieten des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, der Gerichtsverfassung (einschließlich der gerichtlichen Zuständigkeiten) und des gerichtlichen Verfahrens (einschließlich der gerichtlichen Rechtsbehelfe und der Vollstreckung, mit gewissen Ausnahmen beim Untersuchungshaftvollzug), solange und soweit der Bund auf diesen Gebieten bereits gesetzliche Regelungen erlassen hat (Art. 72 Abs. 2 GG). Zu den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für den Geltungsumfang dieses Gesetzes vgl. § 193“ (LT-Drucks. 15/3565, 80).
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ZWEITER ABSCHNITT
Vollzug der Freiheitsstrafe ERSTER TITEL
Grundsätze §2 Aufgaben des Vollzuges Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Schrifttum: Arloth Strafzwecke im Strafvollzug, in: GA 1988, 403 ff; Bemmann Über das Ziel des Strafvollzugs, in: Kaufmann u. a. (Hrsg.), FS Bockelmann, München 1979, 891 ff; ders. „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, in: BewHi 1988, 448 ff; Berckhauer/Hasenpusch Legalbewährung und Strafvollzug, in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982, 281 ff; Böhm Strafzwecke und Vollzugsziele, in: Busch/Krämer (Hrsg.), Strafvollzug und Schuldproblematik, Pfaffenweiler 1988, 129 ff; ders. Bemerkungen zum Vollzugsziel, in: Prittwitz u. a. (Hrsg.), FS für Klaus Lüderssen, Baden-Baden 2002, 807 ff; Dolde Vollzugslockerungen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsversuch und Risiko für die Allgemeinheit, in: Busch/Edel/Müller-Dietz (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft, Pfaffenweiler 1994, 109 ff; Dünkel Sicherheit und Strafvollzug – Empirische Daten zur Vollzugswirklichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung bei den Vollzugslockerungen, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Festschrift für Horst Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag, Köln 1993, 641 ff; ders. (Hrsg.) Humanisierung des Strafvollzugs – Konzepte und Praxismodelle, Mönchengladbach 2008; Heghmanns Offener Strafvollzug, Vollzugslockerungen und ihre Abhängigkeit von individuellen Besonderheiten, in: NStZ 1998, 279 ff; Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine kommentierte Rückfallstatistik, Berlin 2003; MüllerDietz Strafzwecke und Vollzugsziel. Ein Beitrag zum Verhältnis von Strafrecht und Strafvollzugsrecht, Tübingen 1973; ders. (Re-)Sozialisierungsziel und Sicherungsaufgaben des Strafvollzugs – Zur Problematik der Zielkonflikte und ihrer Lösung –, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, Heidelberg/Hamburg 1979, 107 ff; ders. 10 Jahre Strafvollzugsgesetz, in: BewHi 1986, 331 ff; Schüler-Springorum Tatschuld im Strafvollzug, in: Philipps/Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus. Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1989, 63 ff; Seebode Aktuelle Fragen zum Justizvollzug 2000 und seiner Reform, in: Herrfahrt (Hrsg.), Strafvollzug in Europa, Hannover 2001, 47 ff; Steindorfer Behandlung im Strafvollzug und Schutz der Allgemeinheit, in: ZfStrVo 2003, 3 ff; Wulf Opferbezogene Vollzugsgestaltung, in: ZfStrVo 1985, 67 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Gerichtliche Strafzumessung und Vollzugsziel . . . . . . . . . . . 2. Rechtseinschränkung, Vollzugsziel und Strafzwecke . . . . . . 3. Zielkonflikt zwischen resoziali-
1–11 2–3 4–7
Rdn. sierender Behandlung und Sicherheit . . . . . . . . . . . . a) Rangordnung nach Gesetzeswortlaut . . . . . . . . . . . b) Sicherheit hat Vorrang bei Vollzugslockerungen . . . . .
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§2
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe Rdn.
Rdn.
c) Rangordnung bei anderen Vollzugsmaßnahmen . . . . 10 d) Rangordnung nach den Landes-Strafvollzugsgesetzen 11 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 12–19 1. Vollzugsziel (§ 2 Satz 1) . . . . . 12–16 a) betroffener Personenkreis . . 13 b) Erreichen des Vollzugsziels durch Freiheitsentzug . . . . 14 c) Fähigwerden zu einem Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung . . . . . . . 15 d) Bedeutung der „Schuldeinsicht“ . . . . . . . . . . . 16
2. Schutz der Allgemeinheit . . . . 17–20 a) Bedeutung . . . . . . . . . . 17 b) Behinderung des Vollzugsziels durch Gewährleistung von Sicherheit . . . . . . . . . . 18–19 c) Lösungsmöglichkeiten für den „Zielkonflikt“ . . . . . . . . 20 III. Landesgesetze 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 22 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 23
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift enthält die gesetzliche Beschreibung (Legaldefinition) des Vollzugsziels (Rdn. 10 ff) und beschäftigt sich mit Aufgaben des Vollzuges. Sie versucht ferner, die den Vollzug belastenden und erschwerenden „Zielkonflikte“ (Rdn. 18 f) wenn nicht zu beheben, so doch zu vermindern.
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1. Die Freiheitsstrafe ist zu vollziehen, wenn ihr ein rechtskräftiges Strafurteil zugrunde liegt. Das Strafgericht verhängt Freiheitsstrafen nach den Vorschriften des StGB. Danach sind für das „ob“ und das „wie lange“ einer Freiheitsstrafe die Schwere der vom Täter begangenen Rechtsverletzung – sie führt zu dem verbindlichen gesetzlichen Strafrahmen – und innerhalb des so gefundenen Strafrahmens vornehmlich das Maß der Schuld des Täters (§ 46 StGB) bestimmend. Erst nach Auffinden eines solchen „Schuldrahmens“ werden auch im Bereich der gerichtlichen Strafzumessung Überlegungen spezialpräventiven Inhalts („Folgen der Verurteilung für den Täter“, § 46 Abs. 2 StGB, Schutz der Allgemeinheit durch zeitweise Einsperrung des Täters und – § 47 Abs. 1, § 56 Abs. 1 und Abs. 2 StGB – vermuteter Resozialisierungserfolg) wirksam (im Einzelnen LK-Theune 2006 § 46 Rdn. 19 ff; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 51; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 2008). So werden im Strafvollzug Freiheitsstrafen an Tätern vollzogen, die weder resozialisiert werden müssen noch für die Allgemeinheit gefährlich sind. Zu denken ist dabei an Verurteilte, die in Konfliktsituationen schwere Verbrechen begangen haben und mitunter erst Jahre nach der Tat, inzwischen wohleingegliedert und unauffällig lebend, als Täter ermittelt worden sind. Ähnlich ist es bisweilen bei Personen, die im Zusammenhang mit ihrem Beruf bestehende Möglichkeiten zu umfangreichen Vermögensstraftaten missbraucht haben, nach Entdeckung und Entfernung aus der von ihnen kriminell genutzten Position aber in der Lage und meistens auch bereit sind, ihr Brot in dem erlernten Beruf rechtschaffen zu erwerben (eindrucksvolles Beispiel BGHSt 29, 319 ff – allerdings bedürfen auch oft solche Täter resozialisierender Behandlung: Seebode 2001, 53). In noch zahlreicheren Fällen ist jedenfalls die Strafhöhe nicht vorrangig nach den Erfordernissen der in § 2 genannten Aufgaben des Strafvollzuges bemessen. Selbstverständlich sind aber diese Freiheitsstrafen, die von den in § 2 genannten Aufgaben des Vollzuges nicht erfasst werden, rechtens und müssen vollzogen werden. Das gilt auch für den Vollzug der Freiheitsstrafe gegen zwar resozialisierungsbedürftige, aber resozialisierungsunfähige Gefangene (a. A. Köhne ZRP 2003, 207, 210, der den Vollzug dann für verfassungswidrig hält!), soweit es solche denn geben sollte. Ihr Vollzug dient dann der Vergeltung des schuldhaft begangenen Unrechts
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Aufgaben des Vollzuges
§2
und – generalpräventiv – der Bestätigung der Rechtsordnung (Arloth 2008 Rdn. 6). Dies gilt im Übrigen auch für jede andere Freiheitsstrafe, deren Verhängung und Bemessung (mehr oder weniger zufällig) auch im Sinne der in § 2 erwähnten Aufgaben des Strafvollzugs funktional ist (BVerfG – Beschluss nach § 93a BVerfGG – 19.9.1980, 2 BvR 963/79). Sie wird „vom Gefangenen auch nur so akzeptiert“ (OLG Stuttgart ZfStrVo 1984, 252f; Seebode 1997, 82; Böhm 2003 Rdn. 22 f). Im Gesetzgebungsverfahren erschien dies „so selbstverständlich“, dass die ausdrückliche Aufnahme dieses Gesichtspunkts in das Gesetz „für überflüssig“ gehalten wurde (vgl. BVerfGE 64, 261, 276). Es hätte nichts geschadet, wenn auch im StVollzG diese selbstverständliche und unstrei- 3 tige Rangfolge und Abhängigkeit der Freiheitsstrafe ausdrücklich formuliert worden wäre. Da das nicht geschehen ist, entstehen bei Verurteilten, Mitarbeitern des Strafvollzugs und in der Öffentlichkeit leicht Fehlvorstellungen über die Bedeutung der Freiheitsstrafen und ihres Vollzugs. Die Freiheitsstrafe ist ein zur Ahndung der schuldhaften Straftat dem Verurteilten auferlegtes Strafübel, eine Rechtseinbuße. Jede Verschleierung dieses Sachverhalts ist schädlich und erschwert die Erreichung des Vollzugsziels. Dem Verurteilten können die ihn durch den Vollzug der Freiheitsstrafe treffenden Beschränkungen und Belastungen niemals allein (oder auch nur überwiegend) aus den in § 2 genannten Aufgaben des Strafvollzugs und schon gar nicht aus dem Vollzugsziel erklärt werden. Wird ihm der wahre Hintergrund seines Strafleidens verschwiegen oder zerredet, so fühlt er sich letzten Endes betrogen oder für dumm verkauft, denn „wäre die Freiheitsstrafe eben nicht als Strafe unentbehrlich, würde sie kaum als Behandlung eingeführt werden“ (H. Mayer in: Busch/Edel (Hrsg.) Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug 1969, 199, 211). Schöch ist zuzustimmen, dass die erheblichen Rechtsbeschränkungen der Freiheitsstrafe nicht Aufgabe des Vollzugs, sondern als Reflex der im richterlichen Strafurteil angeordneten Sanktion dessen (häufig störende, vom Gesetzgeber aber gewollte) Rahmenbedingung sind (K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 10). In die Beschreibung der Aufgaben des Strafvollzugs gehört dieser Sachverhalt deshalb auch nicht. Das Problem ist aber, dass der Leser des StVollzG an keiner Stelle erfährt, was wirklich „Sache ist“ (vgl. hierzu Seebode 1997, 78 ff; Böhm 2003 Rdn. 22). Zu den Rechtsbeschränkungen im Strafvollzug vgl. § 4 Rdn. 3, 13, 23 f. 2. Die – vergeltende – Rechtseinschränkung ist Freiheitsentzug unter den belasten- 4 den Bedingungen eines Anstaltsaufenthalts (Böhm 2003 Rdn. 2) in dem durch das StVollzG gesteckten Rahmen. Das wird verschiedentlich an den Grenzen der „Leistung“ deutlich: z. B. zugesicherte Besuchszeit von einer Stunde im Monat (§ 24 Abs. 1 Satz 2, viel weniger als in jeder anderen sozialen Einrichtung). Zusätzlich realisiert sich das Maß vergeltender Rechtseinschränkung in der Zuweisung von Mitteln für den Strafvollzug. Hier wird eine Rolle spielen, dass die Lebenshaltung anderer sozial zu unterstützender Gruppen in der Allgemeinheit höher angesehen wird als die Strafgefangener. Die im StVollzG gewährten besseren Bedingungen für Sicherungsverwahrte (§§ 131–133) tragen dem Umstand Rechnung, dass diese Verurteilten die ihnen für ihre Straftaten zugemessene Freiheitsstrafe schon verbüßt haben und nun darüber hinaus nur noch festgehalten werden, weil sie als zu gefährlich für die Allgemeinheit gelten (AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 1 zu § 131). Die gegenüber dem Vollzug der Freiheitsstrafe günstigeren Haftbedingungen der Insassen, an denen Strafarrest vollzogen wird, hängen damit zusammen, dass Strafarrest seinem Anlass nach die weniger einschneidende Strafe ist (C/MD 2008 zu § 167). Auch die Untersuchungsgefangenen gewährte bessere Lebenshaltung hat allein diesen Grund (Unschuldsvermutung! BVerfGE 35, 311, 320). Das Vollzugsziel entspricht dem Strafzweck der (positiven) Spezialprävention, der 5 (Re-)Sozialisierung, von Schüler-Springorum für die im Strafvollzug Befindlichen zutreffend
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
als „Ersatzsozialisation“ bezeichnet (Was stimmt nicht mit dem Strafvollzug? Hamburg 1970, 49). Die in Satz 2 formulierte weitere Aufgabe des Vollzugs entspricht dem Strafzweck der (negativen) Spezialprävention, dem Sicherungszweck. Der ebenfalls zur Spezialprävention zu rechnende Warneffekt der Strafe (Individualabschreckung) wird durch den Vollzug der Freiheitsstrafe fraglos verwirklicht, ist aber weder Teil des Vollzugsziels noch (weitere) Aufgabe. Er wird durch den gesetzmäßigen Vollzug der Freiheitsstrafe erfüllt und für die Ausformung des Vollzugsziels im Einzelfall Bedeutung erlangen, eine eigenständige Berücksichtigung findet er nicht. Auch die (positive wie negative) Generalprävention ist weder Ziel noch Aufgabe des Vollzuges, wird vielmehr durch den gesetzmäßigen Vollzug der Freiheitsstrafe bewirkt, ohne dass sie bei der Ausgestaltung des Vollzugs im Rahmen des Gesetzes insgesamt oder bei der Behandlung des Gefangenen im Einzelfall Beachtung finden dürfte (so OLG Frankfurt NStZ 2002, 53 f, mit krit. Anm. Arloth, 280 gegen OLG Frankfurt NStZ 1983, 140, mit krit. Anm. Feest und Kaiser). 6 Dies gilt ebenso für die Vergeltung oder die Schwere der Schuld. Diese Gesichtspunkte werden bei der Verhängung und Bemessung der Strafe berücksichtigt. Es versteht sich von selbst, dass eine unterschiedliche Vollzugsgestaltung bei gleichlangen Strafen wegen verschieden zu bewertender Schuldschwere ein systemfremder und rechtswidriger Eingriff der Vollzugsbehörde wäre, eine nachträgliche Korrektur einer der rechtsprechenden Gewalt vorbehaltenen Bewertung. Nun ermöglicht es das Gesetz aber umgekehrt, die Freiheitsstrafe im geschlossenen Vollzug zu vollziehen, das Übel des Freiheitsentzuges aber auch in einem durch Strafurlaube und Arbeit im freien Beschäftigungsverhältnis gestalteten offenen Vollzug weitgehend zurückzunehmen. Diesen unterschiedlichen Vollzugsgestaltungen sind die Gefangenen, unabhängig von der Strafdauer und weitgehend abhängig von unverschuldeten persönlichen und sozialen Entwicklungen und Verhältnissen, ausgesetzt. Die für die Versagung von Lockerungen maßgebliche Missbrauchsgefahr (vgl. § 11 Rdn. 14 ff) kann oft von den Gefangenen selber schlecht beeinflusst werden (Seebode 2001, 49 f). Die in diesem Sachverhalt liegende Ungerechtigkeit: die der Schuld angemessene Strafe wird je nach (weitgehend) unverschuldeter Gefährlichkeit mehr oder weniger einschneidend vollzogen, widerspricht indessen nicht der allgemeinen Strafrechtsordnung; ähnliche Regelungen gelten für die Frage, ob eine (kürzere) Freiheitsstrafe vollzogen werden muss oder zur Bewährung ausgesetzt werden kann, vor allem aber für die Entlassung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe. Man hätte, ähnlich wie bei den Vollstreckungsentscheidungen nach § 57 StGB, für die Gewährung weitgehender Vollzugslockerungen Zeitgrenzen (etwa Ablauf eines Viertels oder eines Drittels der Strafzeit) gesetzlich festlegen können. Das StVollzG ist aber diesen (vielleicht vernünftigen: Heghmanns 1998, 279 f; Seebode 2001, 51; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 49) Weg nicht gegangen. Deshalb erscheint auch eine Korrektur unter Zugrundelegung des Gebotes der Gleichbehandlung (Heghmanns 1998, 279, 284) nicht zulässig. 7 Bei der lebenslangen Freiheitsstrafe darf Urlaub in der Regel erst nach Verbüßung von 10 Jahren gewährt werden (§ 13 Abs. 3; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 45; vgl. aber hierzu Laubenthal 2008, Rdn. 188). Zudem führt, wie sich aus § 57a StGB ergibt, die besondere Schwere der Schuld zu einer erst nach Teilvollstreckung der Strafe festzulegenden Mindestverbüßungsdauer. Hier erscheint es deshalb in Extremfällen, etwa beim Vollzug lebenslanger Freiheitsstrafen gegen Verurteilte, die in Vernichtungslagern oder als verantwortliche Leiter von sog. Einsatzgruppen in Polen und Russland grausam und mitleidlos Tausende von Menschen ermordet hatten, nach Kriegsende jahrelang und unauffällig in ordentlichen Verhältnissen gelebt hatten, weder rückfallverdächtig noch fluchtgefährdet waren, unerträglich, Vollzugslockerungen, die diesem Personenkreis gegenüber natürlich keine Behandlungsmaßnahmen, sondern willkommene Hafterleichterungen darstellen, nur unter
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spezialpräventiven Kriterien zu betrachten und nicht auch Aspekte der besonderen Schwere der Schuld zu bedenken. Auf diesem Hintergrund ist es zu billigen, dass das BVerfG – obwohl es dies im konkreten Fall hätte dahingestellt lassen können – diesen Überlegungen des OLG Karlsruhe (ZfStrVo SH 1978, 9 ff) zustimmte (ebenso früher OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 28 ff; NStZ 1981, 157; ZfStrVo 1984, 373), ja sogar formulierte, es sei die Frage, ob es nicht verfassungswidrig sei, die Gründe, die für Verhängung und Bemessung der Strafe maßgeblich seien, bei der Vollzugsgestaltung völlig unbeachtet zu lassen (BVerfGE 64, 261, 275 mit abl. Votum von Mahrenholz). Über diese Extremfälle hinaus haben später einige Oberlandesgerichte die Schwere der Schuld auch bei der Gewährung von Vollzugslockerungen in Fällen von Freiheitsstrafen von mehr als 10 Jahren (OLG Nürnberg ZfStrVo 1984, 114 – 14 Jahre, Totschlag; OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 120 – 11 Jahre, Notzucht) und bei geringfügigen Rücknahmen des Strafübels (OLG Stuttgart ZfStrVo 1984, 252 und ZfStrVo 1986, 117 – Ausgang; OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 111 f – 1 Tag Urlaub) berücksichtigt, freilich die beantragte Lockerung meist bewilligt. Die Vollzugsverwaltungen einiger Bundesländer haben verallgemeinernde Richtlinien zur – weitgehenden – Berücksichtigung der Schwere der Schuld erlassen (vgl. Baumann ZfStrVo 1987, 47 für Baden-Württemberg; Schüler-Springorum 1989, 66 für Bayern) oder in Einzelfällen entsprechendes Handeln nahe gelegt, was weder der Rechtsprechung entspricht noch zulässig ist. Bestrebungen, den Gesichtspunkt der Schuld als weiteres Entscheidungskriterium in §§ 2 oder 4 einzufügen, haben bei der Mehrzahl der Bundesländer keine Zustimmung gefunden; sie haben sich auch nicht in den Landes-Strafvollzugsgesetzen niedergeschlagen (Rdn. 21 ff). Zu Recht: Außerhalb der geschilderten Extremfälle stellt die Schwere der Schuld kein Abwägungskriterium im Strafvollzug dar (so auch OLG Frankfurt NStZ 2002, 53 ff mit krit. Anm. Arloth, 280). Die weitergehende – absolut herrschende – Literaturmeinung, die auch in den Extremfällen den Gesichtspunkt der Schwere der Schuld nicht berücksichtigen will (C/MD 2008 Rdn. 8; AKFeest/Lesting 2006 Rdn. 3; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 40–48; Calliess 1992, 28–31; Laubenthal 2008 Rdn. 181–188; Walter 1999 Rdn. 55–58), birgt die Gefahr, ein sinnvolles Prinzip durch Übertreibung in Misskredit zu bringen und vielfältigen Umgehungsversuchen preiszugeben. In der Praxis spielt diese Frage heute kaum eine Rolle mehr. Dass unabhängig von Tat und Schuld den besser Sozialisierten, den ohnehin Bevorzugten, durch Vollzugslockerungen wesentlich günstigere Bedingungen eingeräumt werden als den „armen Teufeln“ (Ein Hauch von „Klassenjustiz“? vgl. Böhm 1988, 132; Freimund, Vollzugslockerungen – Ausfluss des Resozialisierungsgedankens? Diss. Mainz 1990; Scholz BewHi 1986, 361, 363; vgl. auch Müller-Dietz 1986, 331 ff, 335 f), muss andere Konsequenzen haben als die Berücksichtigung von Schuldschwere bei Lockerungsentscheidungen. Der ernst zu nehmende Gedanke der Strafgerechtigkeit muss zu verstärkten Behandlungsangeboten gegenüber den als gefährlich geltenden Strafgefangenen führen (so auch Müller-Dietz 1986, 335 f) sowie zu besseren Lebensverhältnissen im geschlossenen Vollzug. So hilft den gegenwärtig Benachteiligten wohl am ehesten eine stärkere Ausrichtung des gesamten Vollzugssystems am Vollzugsziel und die stärkere Gewichtung der Erreichung des Vollzugsziels im Einzelfall gegenüber der Missbrauchsbefürchtung (vgl. Böhm 1988, 132, 133; vgl. auch Bock NStZ 1990, 457 ff, 462, 463). Zur Berücksichtigung von „Schuldverarbeitung“ vgl. Rdn. 16. 3. a) Die Zielkonflikte hat das StVollzG nicht beseitigt. Zwar lässt der Wortlaut des § 2 8 keinen Zweifel, dass das Vollzugsziel (Rdn. 12 ff) den Vorrang genießen soll und die Sicherheit der Allgemeinheit (Rdn. 17 f) vor Straftaten während des Vollzugs nur „auch“ – also in zweiter Linie – eine Aufgabe des Vollzuges ist (dazu Kudlich JA 2003, 704). b) Diese Rangordnung wird aber schon im Gesetz selber nicht eingehalten. So sind die 9 Vollzugslockerungen davon abhängig, dass „nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene
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sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde“ (§ 11 Abs. 2). Wenn eine solche Befürchtung besteht, darf auch die zur Resozialisierung notwendigste Lockerung nicht angeordnet werden (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1979, 54). Ja wenn die einzige Chance einer Resozialisierung darin bestünde, eine riskante Lockerung zu gewähren, so wäre das nach § 11 Abs. 2 verboten (§ 11 Rdn. 3; § 13 Rdn. 13). Es findet keine Abwägung zwischen der Bedeutung der Lockerung für die Resozialisierung und der Schwere der bei Gewährung der Lockerung befürchteten Straftaten statt. Der Vorrang der Sicherheit ist eindeutig festgeschrieben. Diese Umkehr der Aufgabengewichtung ist bedauerlich („unehrlich“: Seebode 2001, 56). Der Gesetzgeber hätte den Zielkonflikt, der unvermeidlich ist, offener ins Auge fassen müssen und mit mehr Mut zum Risiko eine Abwägung der Aufgaben im Einzelfall unter Angabe von Bewertungsgesichtspunkten strukturieren sollen. In der vollzuglichen Praxis wird man ohnehin in dieser flexiblen Art vorgehen müssen, also die Wichtigkeit der Lockerung für die Resozialisierung in Beziehung zur Schwere der allenfalls drohenden Straftaten setzen und bei herannahendem Entlassungszeitpunkt die Bedeutung der Missbrauchsgefahr bei Lockerungen geringer veranschlagen müssen.
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c) Bei den anderen Vollzugsmaßnahmen hat das Gesetz der Sicherheitsaufgabe des Vollzugs nicht so eindeutig den Vorrang eingeräumt. Allerdings wird in der Praxis auch hier das Sicherheitsziel besonders stark beachtet. Das lässt sich an anderen Vorschriften des Gesetzes und – man muss sagen: folgerichtig – in den VV und den DSVollz nachweisen. Obendrein werden Sachmittel und Personal in erster Linie für die Sicherungsaufgabe eingesetzt. Erst wenn dann noch etwas zur Verfügung steht, wird die Erreichung des Vollzugsziels bedacht (zur Abwägung der Interessen insoweit zutr.: OLG Hamm ZfStrVo 1985, 174, 176). Seit dem Inkrafttreten des StVollzG ist die Bedeutung der Sicherheit zunehmend stärker in den Vordergrund gerückt. Praktisch ist sie heute das wichtigste Gestaltungsmittel im Strafvollzug.
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d) Die infolge des Föderalismusreformgesetzes (s. § 1 Rdn. 2, 12 ff) erlassenen Landesgesetze in Bayern, Hamburg und Niedersachsen haben bezüglich des Zielkonflikts, der im Vollzugsalltag regelmäßig auftritt, keine echte Lösung gefunden. Art. 2 BayStVollzG stellt in Aufbau und Gliederung des Gesetzes den Schutz der Allgemeinheit dem Vollzugsziel der Resozialisierung voran. Das Ziel der sozialen Integration wird erst im Nachsatz genannt und somit „herabgestuft“ (so C/MD 2008 Rdn. 19); Art. 4 BayStVollzG bestätigt dies, der die sichere Unterbringung an erster Stelle nennt. Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung des Bayrischen Landtags, es werde klar gestellt, dass der Schutz der Allgemeinheit nicht der Resozialisierungsaufgabe nachgestellt sei, eine Änderung der bisherigen Rechtslage sei damit aber nicht verbunden (LT-Drucks. 15/8101, S. 49). Bayern verzichtet in Art. 2 auf eine Benennung von vollzuglicher Zielsetzung als „Vollzugsziel“ und überschreibt die Bestimmungen mit „Aufgaben“ des Vollzugs (Laubenthal 2008 Rdn. 151). § 2 HmbStVollzG stellt das Resozialisierungsziel voran und macht im Nachsatz deutlich, dass es „gleichermaßen“ dem Schutz der Allgemeinheit dient und dass zwischen den beiden kein Gegensatz besteht (Rdn. 22). Niedersachsen stellt in § 5 NJVollzG die Resozialisierung dem Schutz der Allgemeinheit rechtstechnisch voran, spricht aber in § 2 Satz 2 davon, dass der Vollzug „zugleich“ dem Schutz der Allgemeinheit diene (Schwind 2009, 763, 779 – in dieser Reihenfolge und dieser Begründung akzeptabel). In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass beide Belange als gleichrangige Vollzugsziele nebeneinander stünden, wobei zwischen beiden kein Gegensatz bestehe, weil die Verwirklichung des Resozialisierungsziels zugleich auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten diene. Allerdings erwartet der Gesetzgeber, dass die Änderung gegenüber § 2 StVollzG bei der Anwendung und Auslegung einzelner Vorschriften zu beachten ist (LT-Drucks. 15/3565, S. 87).
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Mit diesen Abweichungen vom Wortlaut des § 2 StVollzG ist fraglos eine Verschiebung der Gewichte zugunsten der Sicherheit beabsichtigt. C/MD hält die Gesetzesbegründungen, die jeweils von der Gleichwertigkeit bzw. Gleichrangigkeit der Vollzugsaufgaben sprechen, für Versuche, die Zurückstellung des Integrationsziels zu kaschieren (C/MD 2008 Rdn. 19). Er befürchtet, dass hier nunmehr praktisch der Grundsatz: im Zweifel Sicherheit vor Resozialisierung gelte, und meint, die neuen Ländergesetze entsprächen nicht den durch das BVerfG aufgestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen und seien somit verfassungswidrig (C/MD 2008 Rdn. 20). Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit geht sicher zu weit. Wollte man aus der Verfassung bzw. der Verfassungsgerichtsrechtsprechung einen absoluten Vorrang der Resozialisierung ableiten, so müsste man bereits § 11 Abs. 2, der bei Lockerungen der Sicherheit den Vorrang gibt (Rdn. 9), für verfassungswidrig halten. Auch wenn man in diesen Änderungen eine andere rechts- und kriminalpolitische Konzeption erblicken mag (so C/MD 2008 Rdn. 19), ist Laubenthal zuzustimmen, wenn er meint, diese landesrechtlichen Vorgaben änderten nichts daran, dass es sich bei dem Sozialisationsziel um ein verfassungsrechtlich begründetes Gebot handele, das für die staatliche Gewalt verbindlich sei (BVerfGE 33, 10 f; Laubenthal 2008 Rdn. 151; Schwind 2009, 763, 779 ). Allerdings sei zu befürchten, dass von den Vollzugsbehörden angenommene Erfordernisse des Gesellschaftsschutzes den Alltag in den Vollzugsanstalten künftig noch nachhaltiger prägen würden (Laubenthal 2008 Rdn. 174). Dass Arloth in dieser vom Landesgesetzgeber getroffenen Rangfolge kein Problem sieht, ist konsequent, geht er doch für das Bundesgesetz von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Vollzugsaufgaben in § 2 aus (Arloth 2008 Rdn. 10 unter Bezugnahme auf die Stellungsnahme der früheren BReg zum BR-Entwurf, BT-Drucks. 15/778 Anlage 2). Sein Argument, Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit seien ohnehin kein Gegensatz, sondern „zwei Seiten derselben Medaille“ (Arloth 2008 zu Art. 2 BayStVollzG u. § 5 NJVollzG), geht allerdings fehl, denn diese harmonisierende Auffassung betrifft nur die Zeit nach der Entlassung, nicht aber die hier in Rede stehende Zeit während des Vollzugs.
II. Erläuterungen 1. Als Vollzugsziel bezeichnet es das Gesetz, dass der Gefangene im Vollzug der Frei- 12 heitsstrafe fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Das bedeutet nicht, dass der Gefangene die von ihm begangenen Straftaten nicht vermeiden konnte. Aber verbesserte soziale Kompetenzen werden es ihm in Zukunft erleichtern, seine Lebensziele ohne Begehung von Straftaten zu verwirklichen (vgl. hierzu Seebode 1997, 108; Böhm 2002, 807). Die erforderliche Befähigung erstreckt sich nicht nur auf die Vermittlung von sozialen Kompetenzen, sondern auch auf die vielfältigen inneren Voraussetzungen eines straffreien Lebens (Seebode 1997, 122 f; so ist etwa deutlich zu machen, dass Gewalt kein Mittel zur Lösung von Konflikten ist: OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 249 f). Das Vollzugsziel soll einerseits maßgeblich für die Gestaltung des Vollzugssystems sein: Auswahl, Ausbildung, Einsatz und Zusammenarbeit der Vollzugsbediensteten sind ihm ebenso verpflichtet wie Einrichtung und Struktur der Vollzugsanstalten. Das Klima muss resozialisierungsfreundlich sein. So erschwert die Doppelbelegung eines Einzelhaftraums die Erreichung des Vollzugsziels (KG Berlin StV 2008, 366 ff; LG Braunschweig ZfStrVo 1984, 380; OLG Frankfurt NStZ 1985, 572). Andererseits muss das Vollzugsziel im Einzelfall Leitlinie für den Umgang mit dem Gefangenen sein (bei Verlegungen: VerfGH Leipzig Beschluss v. 16.10.2008 Vf. 112-IV-08, juris; OLG Hamm NStZ 1984, 141 und ZfStrVo 1985, 373 f; bei der Festlegung der Dauer verschuldeter Arbeitslosigkeit: OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 113). Die Erreichung des Vollzugsziels verlangt auch Entscheidungen, die den Wün-
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schen von Gefangenen zuwiderlaufen, etwa bei der beruflichen Ausbildung (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 245 f) oder bei der Festlegung der Höhe des dem Zugriff der Gläubiger entzogenen Überbrückungsgeldes (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 380). Das Ziel, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, gebietet es, ihm ein Mindestmaß an Achtung der Rechtsgüter anderer zu vermitteln (OLG Bamberg NStZ 1994, 406 f: Nichtbeförderung eines Briefes mit beleidigendem Inhalt; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 249 f: Anhalten eines zur Veröffentlichung bestimmten Schreibens, in dem der Gefangene zum bewaffneten revolutionären Kampf aufruft), Briefverkehr zu unterbinden, der den Gefangenen veranlassen soll, den vor der Verhaftung gepflegten kriminellen Lebensstil fortzusetzen (BVerfG NStZ 1996, 55) oder der ihn in dem Ausländerhass bestärkt, der Triebfeder der Straftat war (BVerfG ZfStrVo 1996, 174; KG Berlin NStZ-RR 2007, 125 f: Einbehaltung von Briefeinlagen in Form von ausländerfeindlichen Aufklebern; KG Berlin Beschluss v. 9.5.2006 5 Ws 140/06 Vollz, juris: Vorenthalten der HNG-Nachrichten; zur Vorenthaltung entsprechenden Schrifttums: BVerfG ZfStrVo 1996, 175) oder die Verfügung über das Hausgeld zu beschränken, solange der Einkauf noch nicht abgebucht ist, weil es dem Vollzugsziel widerspricht, wenn es dem Gefangenen möglich wäre, durch mehrfache Verwendung seiner Mittel „soziale Konflikte zu verursachen und den sozialen Frieden zu stören“ (OLG Koblenz NStZ 1991, 151). Einerseits, um zu erreichen, dass der Gefangene das Verbrecherische seines Handelns einsieht, wodurch die inneren Voraussetzungen für eine spätere straffreie Lebensführung geschaffen werden, andererseits, weil sonst bei ihm der Eindruck erweckt wird, dass ihm neue Straftaten nicht schaden und dass die Vollzugsbehörde das Erreichen des Vollzugsziels selber nicht ernst nimmt, muss auf während der Haft verübte neue Straftaten reagiert werden (BayObLG BlStV 1/1996, 2: Verstoß gegen das BtmG; OLG Hamburg ZfStrVo 1996, 371, 373 mit insoweit unzutr. Anm. Kubnik 375 f). Ob sich die Vollzugsbehörde in diesen Fällen auf Behandlungsmaßnahmen beschränkt, disziplinarisch vorgeht oder die Strafverfolgung betreibt, ist Sache des Einzelfalls. Bei schweren Taten wird allerdings – ungeachtet innerdienstlicher Weisungen, die dies ohnehin vorschreiben – auf jeden Fall eine Strafanzeige erfolgen müssen. Die Dienstpflichtverletzung, die eine Unterlassung einer Anzeige dann bedeuten würde, stellt aber nicht die Verletzung einer Garantenpflicht i. S. von § 13 StGB dar, da hierzu der Rückgriff auf allgemeine Zielvorgaben des Strafvollzugs nicht genügt (BGH NStZ 1997, 597 ff mit zust. Anm. Rudolphi; a. A. OLG Hamburg NStZ 1996, 102 f mit zust. Anm. Klesczewski und – zu Recht – krit. Anm. Volckart StV 1996, 608). Bei der Auslegung des Gesetzes und bei der Ausübung des Ermessens spielt das Vollzugsziel eine wichtige Rolle (Laubenthal 2008 Rdn. 139). Was der Erreichung des Vollzugsziels dienlich ist, soll im Rahmen der Möglichkeiten gewährleistet werden: Nutzung des Freigangs auch für Selbstbeschäftigung und Studium (BGH JR 1991, 167 mit Anm. Böhm), „abstrakte“ Entscheidung über die Zulassung zum Freigang (KG NStZ 1993, 100 f), Ansparen von Taschengeld, ohne dass dies die Bedürftigkeit mindert (BGH NStZ 1997, 205 f mit Anm. Rotthaus), Berücksichtigung des Vertrauens des Gefangenen auf eine ihm einmal eingeräumte Rechtsposition, solange er mit dem ihm entgegengebrachten Vertrauen verantwortungsbewusst umgeht (BVerfG NStZ 1994, 100), Stärkung des Bezuges des Gefangenen zur Außenwelt, weshalb es unzulässig ist, die Ablehnung eines Antrages auf Ausführung gem. § 11 ausschließlich damit zu begründen, dass der Gefangene Besuchskontakte hat und Briefe schreiben kann (LG Arnsberg ZfStrVo 2002, 367) oder die Telefonzeit auf 20 Minuten pro Monat zu beschränken, wenn ein Strafgefangener über einen Zeitraum von drei Monaten keinen Besuch erhalten hat (LG Fulda NStZ-RR 2007, 387 f). Kostenintensive Behandlungsmaßnahmen (Bezahlung eines Fernlehrgangs fürs Abitur), die über die schulische Grundversorgung hinausgehen, können aber nicht verlangt werden (OLG Ham-
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burg NStZ 1995, 568). Das Vollzugsziel ist auch bei die Resozialisierung betreffenden Entscheidungen nach Strafentlassung zu beachten (Gewährung von Sozialhilfe: VG Braunschweig ZfStrVo 1992, 384 ff mit Anm. Nix; Festlegung eines Schmerzensgeldes bei Veröffentlichung lange zurückliegender Straftaten unter Namensnennung des Täters, dessen Wiedereingliederung dadurch gefährdet werden kann: LG Berlin ZfStrVo 1995, 375 ff). Allerdings kann das Vollzugsziel nicht eine dem zwingenden Gesetzeswortlaut widersprechende Entscheidung gebieten (missverständlich OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 350 f). a) Der Gesetzgeber nimmt an, viele Insassen der Strafanstalten bedürften einer Stär- 13 kung ihrer Fähigkeiten und ihres Willens, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, könnten aber diese Fähigkeiten im Vollzug der Freiheitsstrafe erwerben. Dabei orientiert sich der Gesetzgeber an dem wiederholt rückfälligen Vermögensstraftäter aus ungünstigen sozialen Verhältnissen, emotional gestörten oder unvollständigen Familien mit mangelhaften schulischen Kenntnissen und ohne angemessene berufliche Eingliederung in den Arbeitsprozess (§ 37 Rdn. 16). Nach Untersuchungen aus den 70er Jahren befanden sich bis zu 80 % solcher mehr oder weniger benachteiligter Personen in Strafhaft (vgl. Wiegand in: Schwind/Blau 277 f; Berckhauer/Hasenpusch 1982, 281 ff, 295–297). Man darf annehmen, dass sich das Bild nicht entscheidend verändert hat. Allerdings hat die Ausweitung ambulanter Maßnahmen (Geldstrafe und Strafaussetzung zur Bewährung) zu einer Verschärfung der Mängelanlagen bei den verbliebenen Gefangenen geführt (auch psychische Auffälligkeiten werden häufiger berichtet: Walter 1999 Rdn. 86). Mit den zahlreichen drogenabhängigen Gefangenen, den aus fremden Kulturkreisen stammenden Verurteilten und den der organisierten Kriminalität zuzurechnenden Insassen sind zudem zunehmend Personengruppen aufgetreten, auf deren sachdienliche Behandlung sich die Anstalten noch stärker einstellen müssen (ähnlich C/MD 10. Aufl. 2005, Rdn. 28–31). Das Vollzugsziel gilt auch für sie (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 247 f: Strafgefangene fremder Nationalität). Der Strafvollzug hat sich schon immer auf neue Tätergruppen einstellen müssen, und es wird dann immer wieder notwendig (und oft schwierig), zweckmäßige und erfolgversprechende Behandlungsangebote zu entwickeln. Es besteht aber kein Anlass, solche Gruppen als vom Vollzugsziel nicht erfasst oder erfassbar anzusehen (AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 6; Böhm BewHi 2002, 92, 100). Mitunter wird angenommen, die Insassen seien nur zum Teil resozialisierungsfähig (Seebode 1997, 110 hinsichtlich schwer persönlichkeitsgestörter Gewalttäter) und resozialisierungswillig. Das mag zwar für einzelne zutreffen, (in Grenzen) lernfähig ist aber jeder Mensch bis zu seinem Tode, und die Ablehnung von Resozialisierungsbemühungen durch Gefangene weist kaum je auf mangelnden Willen zur Veränderung hin. Hinter einer solchen Ablehnung kann die Angst stehen, wieder zu versagen. Sie kann Ausdruck von Resignation sein, auf der Verinnerlichung erlernter Ausweich- und Überlebenstechniken beruhen oder auch die richtige Erkenntnis widerspiegeln, dass das konkrete Resozialisierungsangebot unangemessen oder nutzlos ist. Deshalb ist es Teil der Aufgabe, den Insassen für das Vollzugsziel zu motivieren und ihn zu ermuntern, trotz der früheren entmutigenden Erfahrungen sich auf einen neuen, oft für den Insassen mit vielen Unannehmlichkeiten verbundenen Versuch einzulassen (§ 4 Abs. 1 Satz 2; § 4 Rdn. 4 und Rdn. 7). Man wird also grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass die große Mehrzahl der Strafgefangenen mehr oder weniger unfähig zu einer sozial zu tolerierenden Lebensführung ist, diese Unfähigkeit aber jedenfalls vermindern kann und das auch will oder doch zu Anstrengungen in dieser Richtung zu motivieren ist (vgl. auch Köhne ZRP 2003, 207 f). Wer dieses Vertrauen in eine (wenn auch vielleicht begrenzte) Lernfähigkeit und Lernbereitschaft des bestraften Mitbürgers nicht hat, wessen Menschenbild einem statischen Modell
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verhaftet ist, kann weder im Strafvollzug vernünftig arbeiten noch das Gesetz im Sinne des Gesetzgebers richtig anwenden. Richtig ist vielmehr die unterdessen in der Rechtsprechung herrschende Meinung, dass bei Entscheidungen in Vollzugsfragen neben der Persönlichkeitsentwicklung, den Straftaten und zurückliegenden Auffälligkeiten im Vollzug immer und besonders sorgfältig auf die Entwicklung im Vollzug und neuere Beobachtungen und Einstellungsänderungen des Insassen eingegangen werden muss. Die Ablehnung von Vollzugsmaßnahmen allein mit dem Hinweis auf länger zurückliegende Vorfälle ist grundsätzlich unzulässig (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 3; OLG München ZfStrVo 1980, 122; OLG Koblenz ZfStrVo 1980, 186; OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 122, 124 und 376; OLG Hamm ZfStrVo 1989, 310). Welche Bedeutung das Vollzugsverhalten einschließlich der beanstandungsfreien Bewältigung von Vollzugslockerungen gegenüber den Taten, die zur Verurteilung geführt haben, hat, ist jeweils sorgfältig zu ermitteln. Im Einzelfall kann durchaus auch länger zurückliegende Straffälligkeit entscheidend sein, zumal insbesondere das Bestehen von Vollzugslockerungen nicht immer ein verlässliches Anzeichen dafür ist, dass der Gefangene die völlig anderen Belastungen und Gefährdungen, die mit der Entlassung aus dem Strafvollzug und der vollen Verantwortung für die Lebensführung in Freiheit eintreten, bewältigt (bedenklich deshalb OLG Bremen NStZ 2000, 671 f und BVerfG NStZ 2000, 109 ff mit – zu Recht – krit. Anm. Kröber 613 f; vgl. auch Endres ZfStrVo 2000, 67, 80). Dass das BVerfG prüft, ob bei der Verweigerung begehrter Vollzugslockerungen das Grundrecht des Gefangenen auf Resozialisierung verletzt sein könnte (ZfStrVo 1998, 180, 183), rechtfertigt nicht die Aussage, die Beachtung des Vollzugsziels sei eine „Dienstleistung ausschließlich zu Gunsten des Straffälligen“ (Steindorfner 2003, 3). Denn auch die Resozialisierung dient in erster Linie der Allgemeinheit (BVerfGE 35, 202, 236; C/MD 2008 Rdn. 6). Deshalb hat die Vollzugsbehörde auch in jedem Einzelfall festzustellen, was zur Erleichterung des Vollzugsziels notwendig ist, und hat dies dem Verurteilten nahe zu bringen. Das Aushändigen eines Blattes, auf dem die Angebote der Anstalt aufgelistet sind, für die sich der Gefangene bewerben darf (und abzuwarten, ob dies geschieht), reicht nicht aus (OLG Nürnberg ZfStrVo 2003, 95 f).
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b) Aber der Gesetzgeber geht auch davon aus, dass der Insasse, der zu einem gesetzmäßigen Leben (noch) nicht fähig ist, diese Fähigkeit im Vollzug der Freiheitsstrafe erwerben könne. Diese Hoffnung begleitet den Strafvollzug mindestens seit dem ersten, der Resozialisierung dienenden Zuchthaus in Amsterdam (1594; s. hierzu Schwind in: Schwind/ Blau 1988, 1 ff). Sicher sind die Zusammenfassung vieler erheblich straffälliger Personen in einer Anstalt, die künstliche Atmosphäre einer Einrichtung, in der fast alle Lebensbereiche bis ins Einzelne geregelt sind, und die Trennung der Insassen von den Menschen und den Fragen, mit denen sie es „draußen“ zu tun haben, keine günstigen Voraussetzungen für soziales Lernen. Aber auf der anderen Seite war – wie sich an dem ständigen Rückfall oft mehr als deutlich zeigt – auch die Freiheit für viele Insassen kein guter Lehrmeister. Vielleicht bietet gerade das „Schonklima“ des Freiheitsentzugs ein besseres Übungsfeld zum Nachholen versäumter Lernschritte (St. u. E. Quensel in: Kaufmann (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform 1971, 159). Nach ersten Erfolgen wäre die Übung dann im Rahmen gelockerten Vollzugs fortzusetzen. Außerdem erfolgt die Verurteilung zu Freiheitsstrafe nicht deshalb, weil der Gesetzgeber oder das Gericht den Strafvollzug für ein besonders gutes Lernfeld für soziales Verhalten halten. Es geht vielmehr darum, die Zeit der Strafverbüßung zur Resozialisierung zu nutzen. Das ist möglich und nötig. Die oft lautstark vertretene Auffassung, im Vollzug der Freiheitsstrafe könne das Vollzugsziel nicht gefördert werden, ist für die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland weder dargetan noch überhaupt zu vermuten (ebenso K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 18). Dass etwa die Hälfte der aus Freiheitsstrafvollzug ent-
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lassenen Männer (40 % der Frauen) innerhalb von 5 Jahren nach der Entlassung wieder zu Freiheitsstrafe (mit oder ohne Bewährung) verurteilt werden müssen (vgl. Übersicht bei Göppinger Kriminologie 2008, 740), hat für sich allein wenig zu bedeuten. Bei der Menge schwer benachteiligter Insassen ist mit einer sehr hohen Erfolgsquote vernünftigerweise nicht zu rechnen. Untersuchungen (die im Jahre 1994 aus der Haft Entlassenen betreffen) haben ergeben, dass in den auf die Entlassung folgenden vier Jahren 70 % der aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe und 55 % der aus dem Vollzug der Jugendstrafe Entlassenen nicht wieder in den Vollzug zurückkehrten (Jehle in: Dittmann/Jehle (Hrsg.), Kriminologie zwischen Grundlagenwissenschaften und Praxis 2003, 389, 402; Jehle/Heinz/Sutterer 2003, 37 f; vgl. auch Rösch BlStV 4/5/2004, 1 ff). Außerdem erhöht sich die Prozentzahl der „Aussteiger“ aus der kriminellen Karriere, wenn man untersucht, wie viele der Entlassenen etwa nach 10 Jahren noch immer „ein Leben mit Straftaten“ führen (Jugendstrafe betreffend: Dolde/ Grübl ZfStrVo 1988, 29 ff; Göppinger aaO, 665 ff; Kerner/Janssen in: Kerner/Dolde/Mey (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung 1996, 137 ff). Auf der anderen Seite ist nicht gewiss, ob fast die Hälfte ehemaliger Gefangener gerade wegen, trotz oder ganz unabhängig von der Verbüßung einer Freiheitsstrafe bereits im ersten Jahrfünft nach der Entlassung einigermaßen straffrei leben und sich dieser Prozentsatz später noch erhöht. Untersuchungen – vor allem an aus sozialtherapeutischen Anstalten Entlassenen und vergleichbaren Gefangenengruppen aus dem Normalvollzug – deuten jedenfalls darauf hin, dass ein Vollzug, der sich durch eine besondere Fülle und Dichte resozialisierender Angebote auszeichnet, bessere Erfolge hat als ein „Verwahrvollzug“ (Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung 1980; Dünkel/Geng in: Kaiser/Kury (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 90er Jahren. Kriminologische Forschungsberichte aus dem MPI, Band66/1 1993, 193 ff; vgl. auch Berckhauer/Hasenpusch 1982, 319 ff; krit. Ortmann in: Kury/Albrecht (Hrsg.), Kriminalität, Strafrechtsreform und Strafrecht in Zeiten sozialen Umbruchs 1999, 265 ff; zusammenfassend Lösel ZfStrVo 1996, 259 ff; vgl. auch § 9 Rdn. 6). So ist die optimistische Haltung des Gesetzgebers auch hinsichtlich der Möglichkeit des Erreichens des Vollzugsziels im Vollzug der Freiheitsstrafe durchaus vertretbar (vgl. auch K/K/S-Kerner 4. Aufl. 1992 § 20 Rdn. 28–49). Sie muss auch die Praxis des Vollzuges und die Interpretation des StVollzG bestimmen. c) Das Ziel, „ein Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung“ zu führen, bedeutet 15 nicht, dass von dem Gefangenen unangemessene moralische und sittliche Leistungen verlangt werden. „Soziale Verantwortung“ bezeichnet die Haltung, in der eben eine straffreie Lebensführung am ehesten erwartet werden kann (zu der Frage, wie eine solche Haltung begünstigt oder unterstützt werden kann: Berckhauer/Hasenpusch 1982, 328). Empirisch-kriminologisch scheint die mangelhafte Befolgung sozialer Normen häufig mit Rückfallkriminalität einherzugehen (Göppinger Kriminologie 2008, 3. Teil, § 13 und 4. Teil). Diese Erkenntnis muss bei der Erreichung des Vollzugsziels natürlich beachtet werden (K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 13; Walter 1999 Rdn. 273). Der Begriff „in sozialer Verantwortung“ lässt sich aber auch dahin deuten, dass das Leben „ohne Straftaten“ nicht aus Angst vor Strafe oder aufgrund von Dressur geführt wird, sondern in der richtigen Erkenntnis, dass die rechtlichen Regeln dem gedeihlichen Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft dienen (Bemmann 1979, 896). Das hat praktische Bedeutung für den Vollzug, weil die Berücksichtigung übertriebener Ordnungsvorstellungen, die früher einmal den „guten Gefangenen“ ausgemacht haben, einem solchen Vollzugsziel wesensfremd wären. Selbst das Aufbegehren gegen die Vollzugsordnung, auch soweit es als „schlechte Führung“ nicht hingenommen werden kann, darf nicht unbesehen als Anzeichen dafür gewertet werden, dass ein Insasse seinen Urlaub zu Straftaten oder dazu missbraucht, nicht wieder in die Strafanstalt zurück-
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zukehren (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1978, 182). Dazu auch § 13 Rdn. 32. Man kann schließlich den Hinweis auf die „soziale Verantwortung“ als Aufforderung ansehen, neben der Stärkung der persönlichen und beruflichen Fähigkeiten auch an den Verantwortungsbereich für Angehörige und durch die Straftat Geschädigte zu denken. So ist eine Erweiterung der Angebote in Richtung auf eine „opferbezogene Vollzugsgestaltung“ (Wulf 1985, 67 ff) wünschenswert (ebenso K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 14; zu den hier durch die Vollzugssituation gezogenen Grenzen: C/MD 2008 Rdn. 29; Laubenthal 2008 Rdn. 165–170). Vgl. § 73 Rdn. 6. Ein Leben ohne Straftaten ist im Wortsinn kaum zu erwarten. Vergehen, wie Beleidigung, üble Nachrede, Erschleichen der Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln, Betrügereien – jedenfalls solche kleineren Umfangs – bei Zoll oder Steuer begeht (meist unentdeckt) fast jeder Bürger einmal. Ein aus der Strafhaft zur Bewährung entlassener Gefangener, der in der Bewährungszeit ein solches – ja auch unter Umständen ein schwereres – Delikt begeht, wird oft weiter unter Bewährung bleiben und nicht den Widerruf mit der Folge der Verbüßung der Reststrafe riskieren müssen, weil das Begehen einer neuen Straftat nur zum Widerruf führt, wenn es zeigt, dass der Verurteilte die Erwartung, die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde lag, enttäuscht hat (§ 56 f Abs. 1 StGB). Erfolgt wegen einer während der Bewährungszeit begangenen Straftat eine erneute Verurteilung zu Geldstrafe, so wird so gut wie nie ein Widerruf ausgesprochen. Bei einer erneuten Verurteilung zu Freiheitsstrafe zur Bewährung wird – regelmäßig allenfalls – die Bewährungszeit verlängert (Böhm/Erhard Strafaussetzung und Legalbewährung 1988, 92 f). Diese Praxis ist auch angemessen, wenn die neue Straftat des Entlassenen zeigt, dass die Kriminalität nachlässt bzw. im Abklingen begriffen ist (was schon ein Erfolg wäre: Mey ZfStrVo 1987, 42, 45). Gemeint ist mit einem „Leben ohne Straftaten“ ein solches ohne erhebliche (schwere) Straftaten und ohne ständige Kleinkriminalität (so auch AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 7).
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d) Ob die Erreichung des Vollzugszieles regelmäßig (OLG München ZfStrVo SH 1979, 67, 69; OLG Bamberg ZfStrVo 1979, 122), im Einzelfall (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 314; so wohl auch C/MD 2008 Rdn. 25) oder jedenfalls dann, wenn der Verurteilung des Gefangenen schwerste Straftaten zugrunde liegen (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 122), eine Auseinandersetzung mit der Tat, Schuldeinsicht und Schuldverarbeitung verlangt, ist zweifelhaft (Arloth 1988, 415). Für den Regelfall wird man das nicht sagen können. Einem Rückfall kann wirksam vorgebeugt werden, wenn der Gefangene eine neue Lebensperspektive und neue Interessen entwickelt oder aus dem alten kriminellen Umfeld herauswächst. Soweit aber eine Auseinandersetzung mit der Tat und eine Schuldverarbeitung erforderlich erscheinen, kann damit nicht eine Rechtsbeschränkung begründet werden (SchlH OLG SchlHA 2007, 542–544; s. auch Schwind BewHi 1981, 351; Laubenthal 2008 Rdn. 191–194; Seebode 1997, 123). Unzutreffend wurde dagegen in Entscheidungen gleichwohl angenommen, bei einer Mordtat sei eine Schuldverarbeitung nur möglich, wenn der Täter lange im nicht durch Lockerungen erleichterten, geschlossenen Vollzug einsitze (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 122; OLG Bamberg ZfStrVo 1979, 122; ähnliche Gedanken in anderem Zusammenhang auch OLG Bamberg NStZ 1989, 389 f mit Anm. Müller-Dietz StV 1990, 29 ff), oder zur Schuldverarbeitung sei es nötig, Genehmigungen zu versagen (OLG München ZfStrVo SH 1979, 67, 69; in ähnliche Richtung weisend OLG Hamm ZfStrVo 1986, 117, 119, das es für zulässig hält, die erteilte Genehmigung zum Betreiben eines Fernsehgeräts im Haftraum zur „Erreichung des Vollzugsziels“ zu widerrufen, weil der Insasse von einem ihm gewährten Strafurlaub nicht freiwillig zurückgekehrt ist). Hier erscheint – bewusst oder unbewusst – die Vorstellung, ein so schuldig gewordener Mensch verdiene die Lockerung oder die erbetene Genehmigung (noch) nicht, also der Gedanke der Vergeltung oder des gerechten Schuldaus-
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gleichs, zu einer Resozialisierungsvoraussetzung verfälscht worden zu sein (so auch SchülerSpringorum 1989, 71 f; vgl. auch Walter 1999 Rdn. 287; Bemmann 1988, 455). Zudem ist es mit Gewissheit nicht festzustellen, ob ein Gefangener in seiner augenblicklichen Lage überhaupt fähig ist, Schuld zu verarbeiten, ob dies zur Resozialisierung jetzt oder später unerlässlich ist und in welcher Weise er ggf. zu einer solchen Auseinandersetzung veranlasst werden kann. Ja es ist nicht einmal sicher auszumachen, ob sich jemand mit seiner Schuld auseinandersetzt (Schüler-Springorum 1989, 70). Eindeutige Handlungen (Wiedergutmachungsleistung unter Konsumverzicht) sollten gefördert werden. Gesprächsangebote, Anregungen, Vorschläge, ja Ermahnungen sind angebracht. Von Gefangenen als Schikane empfundene Rechtseinschränkungen sind aber nicht nur unzulässig, sie dürften obendrein Schuldverarbeitung eher verhindern (Wulf 1985, 72; vgl. auch Schneider Kriminalpolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert 1998, 47–49). 2. „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ a) Mit dieser weiteren Aufgabe des Vollzuges wird nicht noch einmal das Vollzugsziel 17 (Rdn. 10 ff) umschrieben. Das könnte man denken, denn ein Verurteilter, der fähig gemacht worden ist, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen, und der diese Fähigkeit dann auch nützt (wovon im Regelfall ausgegangen werden kann), ist der beste Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten (so BVerfGE 98, 200; 116, 85 f). Dazu wäre kein eigener Satz in § 2 nötig gewesen. Die Aufgabe, die hier zu erörtern ist, kann auch nicht als Ermunterung zu einem Abschreckungsvollzug verstanden werden, etwa der Art, dass harte Vollzugsmaßnahmen den Verurteilten vor neuem Straffälligwerden warnen, zu Straftaten bereite Bürger außerhalb des Strafvollzuges von illegalen Verhaltensweisen abschrecken und die rechtstreue Bevölkerung in ihrer Haltung bestätigen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 120). Wie oben (Rdn. 4, 5) erörtert, werden diese Wirkungen (wenn sie überhaupt erzielt werden können, empirische Nachweise sind sehr schwer zu erbringen!) allein durch den Vollzug der verhängten Strafe entsprechend dem Gesetz herbeigeführt. Zur Ausgestaltung der Vorschriften dürfen sie nicht herangezogen werden. b) So beschränkt sich der Satz auf den Inhalt, dass während der Vollzugszeit durch 18 sichere Verwahrung des Insassen, gute Aufsicht, Kontrolle der Außenkontakte und sorgfältige Strukturierung der Vollzugslockerungen eine Gefährdung der Allgemeinheit durch weitere Straftaten des Gefangenen verhindert werden soll (AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 15; „Minimal-Aufgabe“: C/MD 2008 Rdn. 5). Dagegen lässt sich nicht einwenden, der Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten durch sichere Verwahrung des Verurteilten sei kein durch die Strafrechtsordnung gedeckter Zweck der Freiheitsstrafe (so aber C/MD 2008 Rdn. 6). Vielmehr ist es ein wichtiger Teilaspekt der Spezialprävention bei der Freiheitsstrafe, die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen (Lackner/Kühl 2007 § 46 Rdn. 27; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 24 f; Laubenthal 2008 Rdn. 171 f). Im Rahmen der schuldangemessenen Strafe kann der Richter auch anderen Strafzwecken, so dem der Sicherung, Raum geben (BGHSt 20, 264, 267): Das Gericht ist, solange die Sicherung durch die schuldangemessene Strafe bewirkt werden kann, was vor allem bei langen Freiheitsstrafen der Fall sein wird, an der Anordnung der Sicherheitsverwahrung – sollten ihre formalen Voraussetzungen vorliegen – gehindert, weil deren materielle Voraussetzung gerade ist, dass nicht schon die schuldangemessene Freiheitsstrafe zur Sicherung der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter ausreicht. Die Sicherungsaufgabe des Freiheitsentzugs kann deshalb nicht nur der Sicherungsverwahrung zugewiesen werden (so aber C/MD 2008 Rdn. 6; wie hier aber BVerfG NJW 2004, 739 ff, 748: „So wie das Gericht im Rahmen der schuldangemessenen StrafzuAlexander Böhm/Jörg-Martin Jehle
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messung den Strafzweck der Sicherung berücksichtigen darf, ist diese Sicherung auch Aufgabe des Vollzugs“). Die Wahrnehmung der Sicherungsaufgabe stört auch nicht unbedingt die Erreichung des Vollzugsziels: Natürlich soll der Gefangene sein strafbares Tun nicht fortsetzen, dadurch wird er auch nicht fähig, künftig ohne Straftaten zu leben. So entspricht die Kontrolle von Brief- und Besuchsverkehr, die das Ziel verfolgt, Straftaten des Gefangenen zu verhindern, dem Vollzugsziel i. S. v. § 2 Satz 1: OLG Koblenz ZfStrVo 1979, 250 und SH 1979, 48 (§ 23 Rdn. 2), ebenso die Versagung einer Dauertelefongenehmigung, wenn die Gefahr besteht, dass mit ihrer Hilfe Straftaten aus der Anstalt heraus begangen werden (Perwein ZfStrVo 1996, 16, 18). Kritisch wird es aber dann, wenn Vollzugsziel und weitere Aufgabe des Vollzugs miteinander in Widerspruch stehen, wenn die behandelnde Maßnahme, die die Chance des Verurteilten, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen, erhöht, das Risiko des Missbrauchs mit sich bringt: Zur Resozialisierung ist der enge Kontakt zu derFamilie notwendig. Das legt es nahe, Besuche nicht abzuhören und Briefe nicht zu lesen. Es besteht aber die Gefahr, dass der Gefangene mit Hilfe seiner Besuche oder Briefe Kontakte für ein kriminelles Treiben etwa betrügerischer Art fortsetzt. Eine qualifizierte Berufsausbildung nachzuholen, ist ein wichtiger und erfolgversprechender Beitrag des Strafvollzugs zur Verbesserung der Chancen eines Inhaftierten, künftig straffrei zu leben. Aber viele Ausbildungsgänge machen es nötig, Insassen Werkzeuge in die Hand zu geben, mit denen sie auch Straftaten begehen können (vgl. OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55, 56 mit Anm. Rotthaus, 255). Die Kontrolle bei vielen Ausbildungsgängen ist weniger gut möglich als bei Hilfsarbeiten. Teile der Ausbildung können vielleicht nur im Freigang absolviert werden, wobei die Situation der mangelnden Aufsicht zu Straftaten genützt werden kann. Vollzugslockerungen sind zur Erreichung des Vollzugsziels zu gewähren, um die sozialen Beziehungen des Inhaftierten nicht zu gefährden und um die in Richtung auf Erfüllung des Vollzugsziels durchgeführten Maßnahmen außerhalb der geschlossenen Einrichtung auf ihre Nützlichkeit hin zu erproben. Auch hierbei müssen vertretbare Risiken, die Sicherung der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Verurteilten betreffend, eingegangen werden (Laubenthal 2008 Rdn. 174; K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 50). Zur Allgemeinheit gehören auch die Anstaltsbediensteten und die Mitgefangenen (K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 24; Laubenthal 2008 Rdn. 172). Die Vollzugsgestaltung muss deshalb auch darauf ausgerichtet sein zu verhindern, dass Gefangene durch Straftaten anderer Gefangener geschädigt werden. Diese Vorkommnisse (Preusker ZfStrVo 2003, 229 f; Walter 1999 Rdn. 271; Böhm 2003 Rdn. 175) verlangen sorgfältige Auswahl der Insassen, die – etwa beim „Umschluss“ – für längere Zeit unbeaufsichtigt in einem Haftraum eingeschlossen werden, und die unmittelbare Beaufsichtigung der Gefangenen im geschlossenen Vollzug bei gemeinsamer Arbeit und Freizeit. Diese Notwendigkeiten binden personelle und sächliche Ressourcen. Allerdings sind diese Maßnahmen auch unerlässlich, um die Voraussetzungen zur Erreichung des Vollzugsziels zu schaffen (zur Entschädigung verletzter Gefangener durch die Vollzugsbehörde – Aufopferungsanspruch – bzw. nach dem OEG: K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 206–210; fragwürdig BSG ZfStrVo 2002, 50, 54 – Straftäter haben gefängnistypische Schädigungen gem. § 2 Abs. 1 OEG selbst verschuldet).
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Wie oben (Rdn. 8–10) schon erwähnt, neigt die Praxis dazu, das in erster Linie zu verfolgende Vollzugsziel durch die nur in zweiter Linie zu beachtende Sicherheitsaufgabe übermäßig einzuengen und zu behindern (vgl. z. B. § 8 Rdn. 6; vor § 23 Rdn. 3). Neben gesetzlichen Festschreibungen (§ 11 Abs. 2) – über die hinaus § 2 Satz 2 aber keine eigenständige Wirkung entfaltet (OLG Celle ZfStrVo 1984, 251) –, spielt dabei eine Rolle, dass sich ein Misserfolg bei der auf die vollzugliche Gegenwart bezogenen Sicherheitsaufgabe sofort deutlich und schmerzlich zeigt (jedenfalls in der Regel, natürlich werden mitunter Straf-
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taten eines pünktlich zurückgekehrten „Urlaubers“ erst später entdeckt), während die Erreichung des Vollzugsziels erst in vielen Jahren (vielleicht) erwiesen oder wenigstens wahrscheinlich ist, dann nämlich, wenn der Entlassene mit seinem Leben in Freiheit besser zurecht kommt und keine Straftaten mehr begeht. Das Risiko einer Vollzugsmaßnahme für die Sicherheit der Allgemeinheit ist also leicht festzustellen und zu belegen. Die Notwendigkeit dieser Vollzugsmaßnahme zur Erreichung des Vollzugsziels im Einzelfall ist dagegen viel unsicherer zu begründen (ähnlich Müller-Dietz 1979, 126). Außerdem begünstigt der Glaube an die Veränderbarkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen, an ein dynamisches Menschenbild, die Bevorzugung des Vollzugsziels, während die Vorstellung, jemand bleibe so (gefährlich), wie er war, die Sicherheitsaufgabe stärker in den Vordergrund rückt. Ist bei einer Vollzugslockerung „etwas passiert“, so werden aus den Akten und dem Vorleben des Verurteilten gerne Vorfälle hervorgekramt, die den jetzt geschehenen ähnlich sind. Sie hätten einer Lockerungsentscheidung entgegenstehen müssen, heißt es dann. Dass sich ein Mensch ändern kann und dass gerade diese Idee dem Strafvollzug zugrunde liegt, wird in solchen Fällen leicht übersehen. Exakte Feststellungen über die in Strafanstalten, aus der Strafanstalt heraus oder von entwichenen Gefangenen begangene Straftaten fehlen (Böhm 2003 Rdn. 37). Über in Zusammenhang mit Vollzugslockerungen begangene Straftaten liegen dagegen Untersuchungen vor, die keine beunruhigende Gefährdung der Allgemeinheit belegen (Dolde 1994; Dünkel 1993 und ders. in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger 1998, 55 ff). Verletzen Vollzugsbedienstete bei der Gewährung von Lockerungen ihre Sorgfaltspflichten schuldhaft (etwa Nichtbeachtung evidenter Risikofaktoren) und schädigt der Gefangene einen Bürger, so hat die Vollzugsbehörde, wenn der Geschädigte vom Täter keinen Ersatz erlangen kann, gem. Art. 34 GG i. V. mit § 839 BGB Schadensersatz zu leisten und kann bei grober Fahrlässigkeit des Bediensteten bei diesem Regress nehmen (OLG Karlsruhe NJW 2002, 445 mit zust. Anm. Rösch 6; Steindorfner 2003, 5; krit. Ullenbruch NJW 2002, 416). Dass die Amtspflicht gegenüber dem später Geschädigten nur bestehen soll, wenn für den Bediensteten gerade dessen Gefährdung im Zeitpunkt der Entscheidung erkennbar war (so OLG Hamburg, ZfStrVo 1996, 243), verkennt die Bedeutung der Schutzpflicht (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 216). c) Die Lösung dieses Zielkonflikts (oder doch seine Ordnung) ist eine der wichtigsten 20 und schwierigsten Aufgaben der vollzuglichen Praxis. Im Einzelfall ist es zunächst erforderlich, die Bedeutung der – sicherheitsgefährdenden – Maßnahme für die Erfüllung des Vollzugsziels festzustellen (BVerfG NStZ 1998, 430 f). Statt Mitarbeiter der Fachdienste zu Stellungnahmen zur Missbrauchsgefahr zu veranlassen, erscheint es sachdienlich zu prüfen, ob die Vollzugsmaßnahme wirklich notwendig ist, ob ein weniger sicherheitsgefährdender Ersatz nicht gleiche oder ähnliche Dienste leistet, ob vorbereitende Maßnahmen nötig sind (vgl. das Beispiel in OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 53) und welche Gefahren für die Erreichung des Vollzugsziels drohen, wenn die Maßnahme nicht durchgeführt wird. Ferner ist zu prüfen, welche Folgen für das Vollzugsziel das Scheitern der Maßnahmen wegen Missbrauchs hat. Zu große Überforderungen des Verurteilten sind auch für seine Entwicklung schädlich (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 188 f). Auf der anderen Seite ist zu prüfen, für welche Rechtsgüter einzelner oder der Allgemeinheit bei Gewährung der Vollzugsmaßnahme Gefahr droht und welchen Grad diese Gefahr erlangt. Gefahr für die Ehre einzelner Bürger, weil der Verurteilte leicht unbeschwert schimpft, hat natürlich einen anderen Stellenwert als Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen. Die Gefahr von Zechprellerei, Ladendiebstahl und Fahren ohne Fahrerlaubnis ist eher hinzunehmen als die Gefahr von Raubüberfällen und Einbruchsdiebstählen. Dann ist zu bedenken, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Gefahren zu vermindern
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und doch die Vollzugslockerungen, die Ausbildung oder die besondere Freizeitgestaltung zu gewähren. In Betracht kommen Auflagen und stützende Hilfen. Wichtig ist auch – vor allem bei Lockerungen – die Nähe des voraussichtlichen Entlassungstermins. Je näher der Zeitpunkt rückt, an dem der Verurteilte ohnehin in die Freiheit gelangt, desto weniger kann die Gefahr des Missbrauchs Berücksichtigung finden (Kerner ZfStrVo 1977, 74, 83). Dem entgegen neigen Vollzugsbehörden heute dazu, bis zum letzten Tag der Haft keine Lockerungen zu gewähren, damit in ihrem Verantwortungsbereich kein Missbrauch stattfindet. Sie stellen nicht in Rechnung, dass ein solches Verhalten die Rückfallgefahr nach der Entlassung erhöhen kann.
III. Landesgesetze s. dazu auch oben Rdn. 11 1. Bayern
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Art. 2 BayStVollzG lautet: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag).“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Regelung ersetzt § 2 StVollzG. [. . .] Es wird klargestellt, dass der Schutz der Allgemeinheit nicht der Resozialisierungsaufgabe nachgeordnet ist. Eine Änderung der bisherigen Rechtslage ist damit nicht verbunden (vgl. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates vom 14. Februar 2003, BT-Drucks. 15/778). Beide Aufgaben sind tragende und selbständige Elemente des Vollzugs [. . .]. Nach Satz 1 dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Diese Aufgabe des Vollzugs wird in Art. 4 näher umschrieben. [. . .] Oberstes Ziel ist die Vermeidung weiterer Straftaten, die durch eine erfolgreiche Resozialisierung der Gefangenen am besten erreicht werden kann. Satz 2 bringt das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot (vgl. BVerfGE 98, 169, 200 f) zum Ausdruck. [. . .] Die Vorschrift verpflichtet die Vollzugsbehörden, die gesamte Vollzugstätigkeit auf eine wirkungsvolle, dem genannten Ziel dienende Behandlung auszurichten“ (LT-Drucks. 15/8101, 49). Zur Behandlung im Vollzug Art. 3 BayStVollzG s. § 4 Rdn. 28. Art. 4 BayStVollzG lautet: „Der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten wird durch eine sichere Unterbringung und sorgfältige Beaufsichtigung der Gefangenen, eine gründliche Prüfung vollzugsöffnender Maßnahmen sowie geeignete Behandlungsmaßnahmen gewährleistet.“ Art. 4 ergänzt Art. 2. Die dort festgelegte Aufgabe des Vollzugs, umfasst die dem Freiheitsentzug immanente Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Gefangenen während der Zeit des Vollzugs keine Straftaten begehen. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Die Vorschrift betrifft die Sicherheit der Allgemeinheit (externe Sicherheit). [. . .] Nur ein ausgewogenes Verhältnis von instrumenteller [. . .], administrativer [. . .], und sozialer Sicherheit [. . .] gewährleistet ein Höchstmaß an Sicherheit“ (LT-Drucks. 15/8101, 50). 2. Hamburg
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§ 2 HmbStVollzG lautet: „Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Gleichermaßen hat er die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Zwischen dem Vollzugsziel und der Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht kein Gegensatz.“
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Gestaltung des Vollzuges
§3
In der Gesetzesbegründung heißt es: „[. . .] § 2 HmbStVollzG legt als alleiniges Vollzugsziel fest, die Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu befähigen. Die gesamte Vollzugsgestaltung hat sich an diesem Ziel der Resozialisierung auszurichten. Gleichermaßen hat der Vollzug die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Dies folgt aus der Pflicht des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem gleichrangigen Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht kein Gegensatz (BVerfG NJW 2006, 2095). Durch die Resozialisierung der Gefangenen wird zugleich auch der Schutz der Allgemeinheit gewährleistet. [. . .] Satz 3 stellt ausdrücklich klar, dass der Staat seiner Schutzpflicht auch dadurch nachkommt, dass er die Resozialisierung fördert. [. . .]“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 2 u. 51). Zu den Grundsätzen der Behandlung § 4 HmbStVollzG s. § 4 Rdn. 29. 3. Niedersachsen § 5 NJVollzG lautet: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen fähig werden, 23 künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Zugleich dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „[. . .] Anders als die Vorschrift des § 2 StVollzG, die das Resozialisierungsgebot als alleiniges Vollzugsziel formuliert und den Schutz der Allgemeinheit nur als Aufgabe bezeichnet, schreibt der Entwurf den Schutz der Allgemeinheit als gleichrangiges Vollzugsziel fest. Mit der sprachlichen Verknüpfung „zugleich“ macht die Entwurfsvorschrift zudem deutlich, dass zwischen der (verfassungsrechtlichen) Notwendigkeit, den Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, und der staatlichen Schutzpflicht, für die Sicherheit aller Bürger zu sorgen, kein Gegensatz besteht, weil die Verwirklichung des Resozialisierungszieles zugleich auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dient (ebenso BVerfG NJW 2006, 2095). Insoweit sind Resozialisierung und der Schutz der Allgemeinheit nicht nur gleichrangige Ziele des Vollzuges, sondern ebenso wichtige Aufgaben der Vollzugsbehörden. [. . .] Der gegenüber der Vorschrift des § 2 StVollzG veränderten Regelung des Entwurfes kommt daher nicht nur als Programmsatz, sondern auch bei der Anwendung und Auslegung einzelner Entwurfsvorschriften, eine besondere Bedeutung zu. [. . .]“ (LT-Drucks. 15/3565, 87).
§3 Gestaltung des Vollzuges (1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Schrifttum: Arloth Der Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG: Gestaltungsprinzip oder Leerformel? in: ZfStrVo 1987, 328 ff; Bemmann Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG, in: Küper u. a. (Hrsg.), FS für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, Berlin 1987, 1047 ff; Köhne Die „allgemeinen Lebensverhältnisse“ im Angleichungsgrundsatz des StVollzG, in BewHi 2003, 250 ff; Lesting Normalisierung im Strafvollzug, Pfaffenweiler 1988; Schüler-Springorum Strafvollzug und Strafvollzugsgesetz, in: Kaufmann u. a. (Hrsg.), FS für Bockelmann zum 70. Geburtstag, München 1979, 869 ff.
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§3
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise Zur Rangordnung der Gestaltungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Angleichungsgrundsatz . . . . a) Stellung im Gesetz . . . . . . b) Schwierigkeiten bei der Anwendung . . . . . . . . . . . c) Nachrangigkeit dieses Grundsatzes . . . . . . . . . . . .
1–2 3–13 3–10 3
Rdn. 2. Gegensteuerungsgrundsatz 3. Integrationsgrundsatz . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze 1. Bayern . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . .
. . . 11–12 . . . 13 . . . 14 . . . . . . . . .
15 16 17
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I. Allgemeine Hinweise 1
Der Gesetzgeber hat drei Gestaltungsgrundsätze des Vollzugs aufgestellt, den „Angleichungs-“ (Rdn. 3 ff), den „Gegensteuerungs-“ (Rdn. 11 f) und den „Integrationsgrundsatz“ (Rdn. 13). Die einprägsamen Bezeichnungen stammen von C/MD (Rdn. 3, 5, 7). Sie sollen einmal den Ausbau und die Organisation des Vollzuges der Freiheitsstrafe insgesamt bestimmen und zweitens stets dann bedacht werden, wenn bei der Entscheidung in einem Einzelfall Raum für die Ausübung von Ermessen bleibt oder ein Beurteilungsspielraum gegeben ist. Einmal wendet sich die Vorschrift an die Aufsichtsbehörden und die Länderparlamente, dann sind aber auch der Anstaltsleiter und jeder Bedienstete des Strafvollzugs angesprochen, die ihr tägliches Handeln an diesen Grundsätzen ausrichten sollen. Unmittelbar können Gefangene aus den Gestaltungsgrundsätzen keine Rechte herleiten (KG ZfStrVo 1998, 308; C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 196). Spezielle gesetzliche Regelung gehen ihnen vor. 2 Es ist aber nötig, das Verhältnis der Gestaltungsgrundsätze zu den in § 2 festgestellten Aufgaben des Vollzuges und zueinander zu bestimmen. Was das Vollzugsziel (näher § 2 Rdn. 10 ff) angeht, so lassen sich ihm alle drei Gestaltungsgrundsätze nutzbar machen. Allerdings genügt ihre Beachtung in der Regel nicht, um das Vollzugsziel zu erreichen. Wenn nach dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 35, 235) „dem Gefangenen Fähigkeiten und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden“ sollen, „er es lernen soll, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen“, dann ist es unmittelbar einleuchtend, dass ein solcher Lernprozess, der oft eine langfristige Fehlentwicklung des Insassen berücksichtigen und „umkehren“ muss, nicht mit Angleichung und Gegensteuerung bestritten werden kann. Dabei sind die Beachtung des Gegensteuerungs- und des Integrationsgrundsatzes notwendig, aber nicht ausreichend. Der Angleichungsgrundsatz wird zudem nur umsichtig angewendet werden können. Das ergibt sich schon daraus, dass es zur Erreichung des Vollzugziels sogar notwendig ist, Rechte des Gefangenen einzuschränken (§ 2 Rdn. 10), also „Angleichung“ gerade zu vermeiden. Diese Gegenläufigkeit setzt sich auf der Ebene des Ermessens natürlich fort. Dabei geht die Erreichung des Vollzugsziels dem Angleichungsgrundsatz vor. Es dient der Erreichung des Vollzugsziels nicht, wenn der Verurteilte – wie vielleicht sein Scheitern und Straffälligwerden gezeigt haben – den „allgemeinen Lebensverhältnissen“ (noch) nicht gewachsen ist und den in der Vollzugsanstalt geschaffenen künstlichen „Schonraum“ für erste Lernschritte benötigt. Das wird vor allem bei der Organisation von schulischer und beruflicher Ausbildung (vgl. Quensel ZfStrVo 1981, 277) zu bedenken sein, die – gerade im Gegensatz zu der den allgemeinen Lebensverhältnis-
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sen entsprechenden –, soll sie Erfolg haben, besonders die durch enttäuschende Vorerfahrungen und mangelndes Selbstvertrauen des Insassen entstandene Lage berücksichtigen muss. Die Genehmigung von Telespielen, die sich allgemein großer Beliebtheit erfreuen, entspricht dem Angleichungssatz. Dass dadurch bei einigen Menschen Vereinzelung und Kontaktschwierigkeiten hervorgerufen oder verstärkt werden können, gehört zu den Risiken der allgemeinen Lebensverhältnisse, kann aber im Vollzug der Freiheitsstrafe, wenn es die Erreichung des Vollzugsziels im Einzelfall unerlässlich macht, ein Verbot erfordern (§ 70 Abs. 2 Nr. 2; OLG Celle NStZ 1994, 360, das allerdings im konkreten Fall – zu Recht – eine Gefährdung des Vollzugsziels verneint; allgemeine Überlegungen genügen nicht: OLG Nürnberg NStZ-RR 2002, 191; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 244, 246 mit krit. Anm. Rösch; vgl. auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 196). Auch der Gegensteuerungsgrundsatz macht mitunter ein Abweichen von dem im allgemeinen Leben Üblichen notwendig. Eine unkontrollierte und unbeobachtete Kommunikation der Insassen ist oft nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch deswegen unangebracht, weil der Außenseiter in der Gefangenengruppe gequält oder ausgenützt wird (vgl. z. B. Fleck ZfStrVo 1985, 269 ff, 272, 273; Fleck/ Ringelhann ZfStrVo 1986, 300, 301; Wattenberg ZfStrVo 1990, 37 ff; Böhm 2003 Rdn. 175). Der Angleichungsgrundsatz wird also nur dann herangezogen werden dürfen, wenn seine Verwirklichung im Allgemeinen oder im Einzelfall weder dem Vollzugsziel noch der Aufgabe, die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen, entgegenläuft und wenn sie sich mit dem Gebot des Gegensteuerungsgrundsatzes vereinbaren lässt.
II. Erläuterungen 1. a) Der „Angleichungsgrundsatz“ ist zwar in § 3 als erster Grundsatz erwähnt und 3 scheint dadurch besonders hervorgehoben. Schüler-Springorum (1979, 879) weist ihm auch entscheidende Bedeutung für die Erreichung des Vollzugsziels zu (ähnlich: Lesting 1988, 57; Bemmann 1987, 1047; Walter 1999 Rdn. 390). Dem ist aber aus den oben (Rdn. 2) erwähnten Gründen nicht ohne weiteres zu folgen (zutr.: Arloth 1987, 330; ähnlich K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 9). b) Die Praxis hat bei der Anwendung des Grundsatzes Schwierigkeiten, weil er nicht 4 eindeutig ist. So soll es den allgemeinen Lebensverhältnissen entsprechen, dass während der mehrere Tage in Anspruch nehmenden Abrechnung der für den Einkauf verwendeten Hausgeldbeträge die Gefangenen nicht über ihre Konten verfügen dürfen (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 50 ff), dass die Anstalt die Obliegenheit trifft, sich durch Einholen von Preisvergleichen darüber zu versichern, dass der Anstaltskaufmann seine Waren zu marktgerechten Preisen anbietet (LG Hamburg ZfStrVo 1992, 258, 260; vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 2004, 180 betr. Kabelgebühr beim Fernsehen; OLG Nürnberg, Beschluss v. 1.3.2007 – 2 Ws 73/07, juris betr. Energiekostenbeitrag für Anschluss des privaten Fernsehgerätes an anstaltseigene Antennenanlage) oder dass Strafgefangene mit langen Freiheitsstrafen (im Gegensatz zu anderen) einen Wellensittich im Haftraum halten dürfen (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 373 ff; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1994, 51; zur günstigen Wirkung tiergestützter Pädagogik allgemein, s. Schwind Tiere im Strafvollzug, in Schneider/Kahlo/ Klesczewski/Schumann (Hrsg.), Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag 2008, 551 ff). Die Kontrolle des angleichungswidrigen Monopols des Kaufmanns und die Lockerung des angleichungswidrigen Verbots der Kleintierhaltung bei Langstrafigen, die darunter besonders leiden, entspricht dem Gegensteuerungsgrundsatz. Die Heranziehung des Angleichungsgrundsatzes leuchtet nicht ein. Das OLG Frankfurt (16.7.1993 – 3 Ws 283–285/93) sieht in der aus Sicherheitsgründen ergangenen Anordnung, allein zu du-
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schen, eine Sonderbehandlung mit diskriminierendem Charakter, die den Gefangenen in seinen Rechten beschränkt, obgleich doch gerade dieser Gefangene – vielleicht als einziger in der Anstalt – sich unter Bedingungen säubern darf, die den allgemeinen Lebensverhältnissen entsprechen. Es ist auch auffällig, dass gerade der Angleichungsgrundsatz herangezogen wird, um Ermessensüberlegungen der Vollzugsbehörde zu stützen, die zur Ablehnung von Anträgen von Gefangenen führen: kein Anspruch auf Beibehaltung kostenlosen Gemeinschaftsrundfunkprogramms, weil der Staat auch „draußen“ keine „überlebten sozialen Begünstigungen“ aufrecht erhalte (OLG Koblenz NStZ 1994, 103), Verweis auf noch zur Verfügung stehende Urlaubstage statt Gewährung des beantragten Ausgangs, weil in Freiheit kein Arbeitnehmer während der Arbeitszeit Dienstbefreiung erhalte, um seinen Anwalt in einer Rechtsangelegenheit aufsuchen zu können (OLG Hamburg 7.2.1997 – 3 Vollz 44/96), Anrechnung der vom Staat geleisteten Unterkunft und Verpflegung bei der Berechnung des pfändbaren Einkommens des Gefangenen, weil er sonst besser stünde als ein freier Bürger und das doch dem Angleichungsgrundsatz widerspreche (OLG Frankfurt NStZ 1993, 559; OLG Hamburg ZfStrVo 1995, 370), Ablehnung einer Satellitenantenne zum Empfang von Privatfernsehen u. a. auch deshalb, weil viele gut informierte freie Bürger ebenfalls kein Privatfernsehen empfangen könnten und so der Angleichungsgrundsatz keine Anwendung finde (OLG Hamm ZfStrVo 1995, 179), Einführung der Praxisgebühr im Strafvollzug (vgl. Blüthner ZfStrVo 2005, 96). Alle diese Entscheidungen lassen sich aus anderen Gründen rechtfertigen. Die Sorge einer ungerechtfertigten Privilegierung der Gefangenen leuchtet weniger ein (ebenso AKFeest/Lesting 2006 Rdn. 10). Der Angleichungsgedanke verstellt eben auch den Blick darauf, dass manche mit dem Freiheitsentzug notwendig verbundenen Beschränkungen durch günstigere Gestaltung auf anderen Gebieten kompensiert werden müssen, um die Freiheitsstrafe noch verhältnismäßig sein zu lassen. Dies ist dann Gegensteuerung, die gerade nicht Angleichung, sondern Besserstellung verlangt. Eine wesentlich bessere Beschreibung des mit dem etwas „vollmundigen“ Angleichungsgrundsatz Gemeinten ist in Nr. 65 EuStVollzGrds gelungen (ähnlich Laubenthal 2008 Rdn. 198). Danach muss sichergestellt sein, „dass die Lebensbedingungen mit der Menschenwürde vereinbar und mit den allgemein anerkannten Normen der Gesellschaft vergleichbar sind“ und „die schädlichen Wirkungen des Vollzugs und die Unterschiede zwischen dem Leben im Vollzug und in der Freiheit, welche die Selbstachtung oder die Eigenverantwortung des Gefangenen beeinträchtigen können, auf ein Mindestmaß herabgesetzt werden“. Dem widersprechen die Pflicht, Anstaltskleidung zu tragen (weitergehend zu dieser Problematik Köhne ZRP 2003, 60 ff), die Unterbringung in einem Raum mit zum Wohn- und Schlafteil unabgetrenntem WC, für den zentral das Licht ein- und ausgeschaltet wird, das kleinliche Verbot des Besitzes eigener Sachen (Beispiel etwa OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 85; OLG Celle BlStV 2/1982, 2 und ZfStrVo 1983, 181), die Ausgabe der Abendkost aus „organisatorischen Gründen“ um 11.30 Uhr (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 22, 23), eine restlos durchorganisierte Versorgung, ein extrem aufgegliederter Tagesablauf, in dem für individuelle Entfaltung der Insassen kein Raum bleibt und die Hinterlassung des nach § 84 Abs. 1 durchsuchten Haftraums in unaufgeräumtem Zustand mit achtlos auf dem Fußboden verstreuten persönlichen Besitz des Gefangenen. Dagegen entspricht es dieser Regelung, das bei Zulassung eines Rundfunkgerätes mit UKW-Empfangsbereich oder eines CD-Players „verbleibende Sicherheitsrisiko, das sich nur als eine allgemeine Befürchtung darstellt, zugunsten einer den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichenen Informationsmöglichkeit hinzunehmen“ (OLG Frankfurt 14.11.1979 – 3 Ws 331/78 und ZfStrVo 1989, 245; § 69 Rdn. 9; § 81 Rdn. 10). Anders wurde die Situation bewertet beim Besitz der Spielekonsole „Sony Playstation 2“, die für die Sicherheit und Ordnung von Vollzugsanstalten eine solch generell ab-
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strakte Gefahr darstelle, dass sie in der Justizvollzugsanstalt Tegel nicht besessen werden darf. Die Gefährdung liege darin, dass das Gerät dem Gefangenen die Möglichkeit eröffne, unkontrollierbar Daten unerlaubten oder vollzugswidrigen Inhalts zu speichern oder sie aus der Anstalt heraus in die Außenwelt gelangen zu lassen (so KG Berlin ZfStrVo 2005, 306 ff; entgegen OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 244; ausfürl. zum Streitgegenstand Lindhorst StV 2006, 274 ff). Es entspricht ferner dieser Regelung, Beträge vom Haus- und Taschengeld, wenn es der Gefangene wünscht, auf dessen Girokonto zu überweisen (KG NStZ 2002, 53) und die von dem Gefangenen durch Vermittlung der Anstalt bezogenen Zeitungen möglichst am Tage ihres Erscheinens auszuhändigen (OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 116). Die Bediensteten dürfen (ja müssen) jederzeit die Hafträume betreten. Sie müssen aber (Ausnahme: Eilbedürftigkeit, besondere Erfordernisse der Anstaltssicherheit) anklopfen. Danach brauchen sie keine Antwort abzuwarten, sondern dürfen unmittelbar eintreten, womit auch überraschende Haftraumkontrollen möglich bleiben. In Wahrheit geht es hier nicht um „Angleichung“ (so aber OLG Celle ZfStrVo 1994, 174, weil die Höflichkeitsregeln, die allgemein gelten, beachtet werden müssen. – Betritt man aber „draußen“ einen fremden Raum ohne ausdrückliche Erlaubnis?), sondern um die Frage, wieweit unter den besonderen Bedingungen des Vollzugs die Menschenwürde des Gefangenen im Umgang mit ihm zu achten ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1994, 302 ff; BVerfG NStZ 1996, 511). Wer den Grundsatz über die in Rdn. 4 dargestellten Bereiche ausdehnt (so besonders AKFeest/Lesting 2006 Rdn. 7), gerät in Schwierigkeiten. So falsch es ist, auf ein weltfremdes Gefängnisleben vorzubereiten, so verhängnisvoll kann es sein, den Insassen immer wieder in ihn überfordernde, zwar den allgemeinen Lebensverhältnissen entsprechende, von ihm aber noch nicht zu bewältigende Situationen zu stellen, in denen er versagt, was ihm zum Vorwurf gemacht wird und der Abstempelung dient, resozialisierungsunfähig oder -unwillig zu sein. Manche Insassen leben in ausgesprochen kriminogenen allgemeinen Lebensverhältnissen. Diese sind etwa gekennzeichnet durch unregelmäßige und unqualifizierte Arbeit, mangelnde Planung der Lebensführung, hemmungslose Ausnützung gutmütiger oder eingeschüchterter Bezugspersonen und von Alkoholkonsum begleitetes sinnloses Freizeitverhalten. Niemand kann verlangen, solche „allgemeinen Lebensverhältnisse“ im Vollzug der Freiheitsstrafe vorzufinden (OLG München ZfStrVo SH 1979, 67, 69; Seebode 1997, 137). Im Vollzug der Freiheitsstrafe – also während der Unfreiheit und in einer unnatürlichen Lebenssituation – können in den „allgemeinen Lebensverhältnissen“ übliche Gewohnheiten und Geschehnisse eine veränderte, ja dem Vollzugsziel zuwider laufende Bedeutung erlangen. So ist das Verbot einer wiederholten Wahl in die Gefangenenvertretung zur „Verhinderung einer durch mehrjährige Tätigkeit immer derselben Personen verursachten schädlichen Einfluss- und Herrschaftsstruktur“ für zulässig erachtet worden (LG Koblenz NStZ 1981, 249 f). Freilich gibt es auch „draußen“ Vereinssatzungen, die eine Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern – allerdings aus ganz anderen Gründen – ausschließen. Auch dass die gewählten Gefangenen für in ihre Arbeitszeit fallende Besprechungen das normale Arbeitsentgelt bezahlt bekommen, ist unmittelbar einleuchtend. Aber eine „Angleichung“ etwa an Regelungen des Betriebsverfassungs- oder Personalvertretungsrechts kann hierfür ja kaum bemüht werden (LG Mannheim ZfStrVo 1985, 254 f mit Anm. Butzke). Auch die Vergleichsgrößen sind unsicher (vgl. auch Laubenthal 2008 Rdn. 197). Abgesehen von dem den allgemeinen Lebensverhältnissen entgegenstehenden und nie aufzuhebenden Umstand, dass der Haftraum im geschlossenen Vollzug über Nacht und oft über viele Stunden des Tages abgeschlossen ist, bleibt unklar, ob er im Übrigen einem Hotelzimmer, einem in einem Privathaushalt gemieteten möblierten – oder teilmöblierten – Zimmer, den Zimmern einer Wohngemeinschaft oder gar der eigenen Familie „anzugleichen“ ist. Je
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nachdem könnten mehr oder weniger eigene Gegenstände eingebracht, z. B. private Bettwäsche (OLG Zweibrücken Beschluss v. 27.1.2003 – 1 VAs 5/02, juris) oder Einrichtungsgegenstände anders angeordnet werden (Einzelheiten § 19 Rdn. 3f). Der Grundsatz versagt bei Prüfung der Frage, ob die Tierhaltung in einer Anstalt gestattet werden sollte (OLG Koblenz ZfStrVo 1983, 315 f; vgl. auch § 70 Rdn. 8), während sich hier mit der Erreichung des Vollzugsziels im Einzelfall und dem Gegensteuerungsgrundsatz argumentieren ließe. Ob ein beschränkt arbeitsfähiger Frührentner der Arbeitspflicht nach § 41 unterliegt, lässt sich eher aus dem Zweck der Arbeitspflicht, die auf diesen Personenkreis möglicherweise nicht zugeschnitten ist, als aus dem Angleichungsgrundsatz (so aber OLG Frankfurt NStZ 1985, 429 mit krit. Anm. Müller-Dietz; § 41 Rdn. 12) erklären. Die Anwendung der Pfändungsschutzvorschriften auf den Anspruch des Gefangenen auf Auszahlung seines Eigengeldes, auch soweit dieses aus gutgeschriebener Arbeitsentlohnung besteht, ist angesichts der besonderen Lage des Gefangenen mit dem Angleichungsgrundsatz nicht zu rechtfertigen (BGH ZfStrVo 2004, 369 ff, 371; § 52 Rdn. 4). Und was besagt dieser Grundsatz für oder gegen die Gleichbehandlung arbeitender und unverschuldet nicht arbeitender Gefangener beim Einkauf (OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 58 ff)? Zur Angleichung gehört gewiss, dass den Insassen gestattet wird, ihre individuellen Wünsche zu befriedigen und Neigungen auszuleben, soweit dies in einer Zwangsgemeinschaft möglich ist (Seebode 1997, 138). Dabei ist aber darauf zu achten, dass sich von Haus aus finanziell gut Gestellte nicht besonders bequeme Haftbedingungen verschaffen. Die Belastungen der Freiheitsstrafe sollen die Verurteilten nicht nach Vermögensverhältnissen ungleich treffen (Böhm 2003 Rdn. 18). Die weitgehende Gleichbehandlung der Gefangenen ist im Hinblick auf die Strafgerechtigkeit, d. h., dass die zu Freiheitsstrafe Verurteilten ein vergleichbares Strafübel erleiden, erforderlich und widerspricht dem Angleichungsgrundsatz nicht (Böhm FS Schwind 2006, 533, 546). Wie einerseits Nivellierung auf niedrigem Niveau vermieden, andererseits offenbare Ungerechtigkeit ausgeschlossen werden kann, hängt von den jeweiligen Vollzugsverhältnissen ab, jedenfalls erscheint es angemessen, dass Selbstverpflegung durch Bezug der Mahlzeiten von einer Speisegaststätte ausgeschlossen ist (a. A. AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 14; Bemmann 1987, 1051, Köhne NStZ 2004, 607).
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c) Die Einschränkung „soweit möglich“ und „soll“ ist offenbar eingeführt worden, damit Insassen aus dem Grundsatz nicht unmittelbar Rechte herleiten können (BT-Drucks. 7/3998, S. 6). Als Grundsatz, der die Ausübung von Ermessen bei einer Einzelfallentscheidung beeinflusst, muss der Angleichungsgrundsatz aber auch in seiner eingeschränkten Formulierung beachtet werden. Da der Insasse Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hat (gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung § 115 Rdn. 19 f), kann er im Ergebnis aus dem Angleichungsgrundsatz ebenso – mittelbar – Rechte herleiten wie aus den anderen Vollzugsgrundsätzen (Seebode 1997, 140). Auch die Einschränkung „soweit möglich“ betrifft alle Vollzugsgrundsätze, und mit dieser Einschränkung sind nicht nur die durch die Sicherheitsaufgabe gezogenen Grenzen gemeint (so offenbar C/MD 2008 Rdn. 4) – der Sicherungsaufgabe muss ja sogar das Vollzugsziel Tribut zollen –, sondern auch die finanziellen und personellen (zu Kriterien der vorzunehmenden Abwägung der Interessen: OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 246 f) Möglichkeiten der Vollzugsbehörde. Aus dem Recht, eine Bücherei zu benutzen (§ 67), folgt nicht der Anspruch des Gefangenen, dass die Anstaltsbücherei als Freihandbibliothek eingerichtet wird (OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 311 ff; a.A. C/MD 2008 Rdn. 1). In den allgemeinen Lebensverhältnissen findet man neben der Freihandbibliothek die Möglichkeit der Fernleihe (§ 67 Rdn. 25). Wichtiger als die Form der Ausleihe ist aber eine fachliche Beratung des Lesers. Bei all dem spielen die baulichen und personellen Möglichkeiten der Anstalt eine Rolle, die auch in der Entscheidung frei ist,
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ob sie die Benutzung der Bücherei verbessert oder z. B. das Sportangebot erhöht. Gesetzliche Aufgaben dürfen nicht im Hinblick auf fehlende Mittel vernachlässigt werden. Das Ausmaß ihrer Erfüllung hängt aber natürlich von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab, bei deren Einsatz vor allem das Vollzugsziel zu beachten ist (vgl. auch Arloth 2008 Rdn. 5). 2. Der Gegensteuerungsgrundsatz ist in der Praxis das wichtigste Prinzip. Er hat 11 auch für die Insassen Bedeutung, für die das Vollzugsziel nicht verwirklicht werden muss oder kann (§ 2 Rdn. 2). „Schädlich“ sind Wirkungen des Freiheitsentzugs, die die Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 Rdn. 10 ff) behindern, aber auch Wirkungen, die die Lebensmöglichkeiten der bereits zu Beginn der Haft Eingegliederten verschlechtern. Zu denken ist an das Verlernen beruflicher Fähigkeiten, das Nicht-auf-dem-laufenden-Bleiben, Verlust oder Lockerung menschlicher Beziehungen, Nichtwahrnehmung von Rechten und Verdienstmöglichkeiten. Deshalb ist bei der Zuweisung von Arbeit und Ausbildung auf Kenntnisse und Fähigkeiten zu achten (§ 37 Rdn. 13), sind Weiterbildungsmöglichkeiten zu gewähren (§ 37 Rdn. 16), sind die Kontakte mit der Außenwelt zu pflegen (z. B. §§ 10 ff; §§ 23 ff) und ist der Gefangene in seinen persönlichen und geschäftlichen Angelegenheiten zu beraten. Zur Konkretisierung der Beratung vgl. insbesondere § 74. In allen diesen Punkten überschneidet sich der Gegensteuerungsgrundsatz mit dem Integrationsgrundsatz. Dem Gegensteuerungsgrundsatz entspricht es, dass Gefangenen mit sehr langen Strafen zur Einrichtung des Haftraums und zur Gestaltung der Freizeit weitergehende Genehmigungen erteilt werden als den anderen Insassen (Gestattung der sonst in der Anstalt untersagten Tierhaltung für Langstrafige: OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 373 ff; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1994, 51; zur günstigen Wirkung tiergestützter Pädagogik allgemein, s. Schwind Tiere im Strafvollzug, in Schneider/Kahlo/Klesczewski/Schumann (Hrsg.), Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag 2008, 551 ff). Ob die Substitutionsbehandlung einer drogenabhängigen Gefangenen fortgesetzt oder abgebrochen wird, richtet sich nicht nach § 3, sondern nach medizinischen Gesichtspunkten (a. A. OLG Hamburg StV 2002, 265 mit krit. Anm. Kubnik 266 ff und Ullmann 293 ff). Aber der Vollzug der Freiheitsstrafe hat noch ganz typische Gefahren. Sie werden in der 12 vollzugskundlichen Wissenschaft mit den Schlagworten „Prisonisierung“ und (negative) „Subkultur“ (vgl. z. B. Weis Schwind/Blau, 239 ff; Walter 1999 Rdn. 258–266, 271; Laubenthal 2008 Rdn. 199–234; Hürlimann Führer und Einflussfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs 1993) umschrieben. Der Vorgang der Prisonisierung, vor allem an den Einlieferungsprozeduren beschrieben, geht mit dem Verlust von Selbstwertgefühl einher; der Gefangene fühlt sich als Objekt, nicht oder gering geachtet, weniger wertvoll. Der Insasse gerät in ein System totaler Versorgung (Rdn. 4), in dem ihm keine Eigenbetätigung mehr möglich ist. Die Folge dieser totalen Versorgung ist unter anderem das Verlernen, für die eigenen Dinge Verantwortung zu tragen und das – mitunter als angenehm erlebte – Sich-Abfinden mit dieser Situation (Eisenberg psychosozial III/1996, 95 ff). Gegensteuerung fordert eine Vollzugsentwicklung, in der der Insasse (oder die Insassengruppe) für Versorgung und Pflege der Person und der eigenen Sachen verantwortlich ist, wo nicht jeden Tag alles geregelt wird, wo der Insasse selbst bestimmt, wann und wie oft er sich reinigt, seine Kleider pflegt, seine Wäsche wechselt und an Wochenenden isst (z. B.) und wie die dafür bereitstehenden Mittel zu verwenden sind, und in der er angstfrei leben kann. In seinen Angelegenheiten soll er beraten werden, aber in einer Weise, dass er die Dinge selbst zu erledigen lernt und nicht bequem auf andere abschieben kann. Bei längeren Strafen kann auch eine Illusionsbildung eintreten. Es geht in der genauen Ordnung alles gut. Der Gefangene meint, dann würden auch draußen wohl keine Probleme auftreten. Vollzugslockerungen und Verlegung in den offenen Vollzug dienen deshalb auch der Gegensteuerung (OLG Celle ZfStrVo
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1986, 114). In der Haft entstandenen deformierenden Persönlichkeitsveränderungen muss gegebenenfalls auf dem Wege des § 65 Abs. 2 durch anstaltsexterne Behandlung entgegengewirkt werden (BVerfG NStZ 1996, 614).
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3. Der Integrationsgrundsatz deckt sich auf der einen Seite mit dem Vollzugsziel (§ 2 Rdn. 12 ff). Er bedeutet aber darüber hinaus, dass auch der bereits Eingegliederte oder der anscheinend nicht Eingliederungswillige der Hilfen bedarf, sich nach der Haft wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Diese Hilfen sind von Beginn der Haft an, nicht erst gegen deren Ende, zu leisten; s. auch §§ 67 ff (OLG Hamm NStZ 1985, 573). Der Freiheitsentzug ist notwendigerweise eine „Ausgliederung“ auf Zeit, die möglichst reibungslos wieder in die Freiheit übergeleitet werden muss. Es ist deshalb auch nur folgerichtig, dass für jede Freiheitsentziehung die Vollzugsgrundsätze gelten, unabhängig vom Vollzugsziel (Beispiel: Zivilhaft §§ 171–175 Rdn. 5).
III. Beispiel 14
In einer Anstalt bekommen die Strafgefangenen zwei Arbeitsanzüge („Blaumann“), von denen sie einen für die Arbeit, den anderen als Oberbekleidung für die Freizeit verwenden sollen. Nach dem OLG Celle (ZfStrVo SH 1978, 20, 21) widerspricht diese Form der Berücksichtigung des § 20 Abs. 1, wonach der Gefangene für die Freizeit eine besondere Oberbekleidung erhalten soll, dem Angleichungsgrundsatz. Besondere Oberbekleidung sei nicht schlicht eine weitere Garnitur, sondern eine auch im Schnitt und der Art andere Garnitur, weil dies so auch in den allgemeinen Lebensverhältnissen üblich sei. Die Entscheidung ist richtig, wenngleich es den allgemeinen Lebensverhältnissen sicher nicht entspricht, dass sich die Insassen für ihre Freizeit gleichmäßig kleiden. Da sie dies (der Gefangene trägt Anstaltskleidung) tun müssen, könnte man durchaus auch die Auffassung vertreten, es sei nun auch gleichgültig, ob sich die Arbeits- von der Freizeitkleidung unterscheide, wenn sie nur zweckmäßig sei (s. auch Rdn. 2 zu § 20). Die Entscheidung kann auch mit dem Gegensteuerungsgrundsatz (Erhaltung des Selbstwertgefühls des Gefangenen) gerechtfertigt werden.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 5 BayStVollzG ist wortgleich mit § 3 Abs. 1 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Die Regelung ergänzt den in Art. 2 niedergelegten Behandlungsauftrag. Unmittelbare Rechte können die Gefangenen hieraus nicht ableiten. [. . .] Ausdruck des Angleichungsgrundsatzes sind u. a. die neuen Regelungen zur Kostenbeteiligung. Eine Beteiligung der Gefangenen an den Kosten des Vollzugs, die nicht bereits durch den Haftkostenbeitrag abgedeckt sind, ist nach folgenden Regelungen möglich: – Art. 31 Abs. 3, Art. 35 Abs. 2, Art. 36 Abs. 4: Briefverkehr, Telefon und Paketverkehr – Art. 61, 63 und 65: Gesundheitsfürsorge – Anpassung an die Änderungen im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – Art. 71 und 73: Betriebskosten für Hörfunk- und Fernsehgeräte sowie Stromkosten – Art. 94 Abs. 2: Drogentests [. . .]“ (LT-Drucks. 15/8101, 50). 2. Hamburg
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§ 3 Abs. 1 Satz 1 HmbStVollzG lautet: „Das Leben im Vollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit wie möglich anzugleichen.“ Die Sätze 2 und 3 entsprechen § 3 Abs. 2 und 3 StVollzG.
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Stellung des Gefangenen
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Abs. 2 lautet: „Die Belange von Sicherheit und Ordnung der Anstalt sowie die Belange der Allgemeinheit sind zu beachten. Die unterschiedlichen Lebenslagen und Bedürfnisse von weiblichen und männlichen Gefangenen werden bei der Vollzugsgestaltung und bei Einzelmaßnahmen berücksichtigt. Ein besonderes Augenmerk ist auf die Schaffung und die Bewahrung eines gewaltfreien Klimas im Vollzug zu richten.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „[. . .] Nach Absatz 2 Satz 1 ist bei allen Grundsätzen den Belangen der inneren und äußeren Sicherheit Rechnung zu tragen. Dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Absatz 2 Satz 2 legt fest, dass unter Beachtung von Artikel 3 Absätze 2 und 3 des Grundgesetzes Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gefangenen berücksichtigt werden. Dies gilt es bei der Ausgestaltung des Vollzugs und bei Einzelmaßnahmen zu bedenken, zum Beispiel auch unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher kultureller und ethnischer Belange. Absatz 2 Satz 3 berücksichtigt das Erfordernis der Gewaltprophylaxe und stellt sicher, dass auf die Schaffung und die Bewahrung eines gewaltfreien Klimas ein besonderes Augenmerk gerichtet wird“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 52). 3. Niedersachsen Abs. 1 des § 2 NJVollzG ist wortgleich mit § 3 Abs. 1 StVollzG (bis auf soweit „wie“ mög- 17 lich). Abs. 2 ist wortgleich mit § 3 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 lautet: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung soll die Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen und Sicherungsverwahrten im Vollzug fördern, ihre Eigenverantwortung stärken und ihnen helfen, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“ In der Gesetzesbegründung heißt es: „[. . .] Sodann soll bereits hier stärker als im StVollzG betont werden, dass die erfolgreiche Eingliederung in das Leben in Freiheit eine Leistung der Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten ist, die trotz aller Anstrengungen der Vollzugsbehörden von ihrer Mitarbeit im Vollzug abhängt und letztlich in ihrer eigenen Verantwortung liegt (Gedanke des Chancenvollzuges)“ (LT-Drucks. 15/3565, 84); zum sog. Chancenvollzug § 4 StVollzG Rdn. 8.
§4 Stellung des Gefangenen (1) Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern. (2) Der Gefangene unterliegt den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit. Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, dürfen ihm nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich sind. Schrifttum: Franke Vom Behandlungsvollzug zum Rechtsvollzug? in: BlStV 1/1981, 1 ff; Jung Behandlung als Rechtsbegriff, in: ZfStrVo 1987, 38 ff, 42 ff; Kruis/Cassardt Verfassungsrechtliche Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, in: NStZ 1995, 521 ff; Kruis/Wehowsky Fortschreibung der verfassungsrechtlichen Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, in: NStZ 1998, 593 ff; Mey Zum Begriff der Behandlung im Strafvollzugsgesetz (aus psychologischer Sicht), in: ZfStrVo
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1987, 42 ff; Müller-Dietz Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, Heidelberg/Hamburg 1979, 130 ff; Müller-Dietz Die Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern zur Rechtsgültigkeit der VVStVollzG, in: NStZ 1981, 409 ff; ders. Zehn Jahre Strafvollzugsgesetz – Bilanz und Perspektiven, in: BewHi 1986, 331 ff; Rotthaus Der Schutz der Grundrechte im Gefängnis, in: ZfStrVo 1996, 3 ff; Schwind Strafvollzug in der Konsolidierungsphase, in: ZfStrVo 1988, 259 ff; Schwind „Chancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen, in Böse/Sternberg-Lieben (Hrsg.), Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag 2009, 763 ff.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise Status des Gefangenen . . . . . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–26 1. Integrationsstatus (Abs. 1) . . . 2–11 a) Mitwirkungspflicht des Gefangenen nur in dem durch besondere gesetzliche Regelung bestimmten Umfang 2–3 b) Keine weitergehende Mitwirkungspflicht des Gefangenen . . . . . . . . . 4–5 c) Zum Begriff der Behandlung 6 d) Pflicht der Vollzugsbehörde zur Motivierung des Gefangenen . . . . . . . . . 7–8 e) Auswirkungen der Mitwirkungsbereitschaft auf Vollzugsentscheidungen . . 9–11 f) Mitwirkungsrecht des Gefangenen . . . . . . . . . 12 2. Abwehrstatus (Abs. 2) . . . . . . 13–26 a) Rechtsbeschränkungen nur kraft Gesetzes zulässig . . . . 14 b) Keine zusätzlichen Beschränkungen durch VV erlaubt . . 15–19
aa) Zur Entstehung der VV . . 16 bb) Einzelfall und Vereinheitlichung . . . . . . . . . . 17–18 cc) Selbstbindung der Verwaltung . . . . . . . . . . . 19 c) Rechtsbeschränkungen durch die Generalklausel (Abs. 2 S. 2) 20–27 aa) Begriff der „Sicherheit“ in Abs. 2 S. 2 . . . . . . . . . 21 bb) Schwerwiegende Störung der Ordnung . . . . . . . 22 cc) Enge Auslegung der Klausel. Subsidiarität. Erfordernis der „Unerläßlichkeit“ . . . . . . . . . 23–26 dd) Verbot einer Rechtsbeschränkungen begründenden Analogie . . . . . 27 3. Besonderheiten bei Grundrechtseinschränkungen . . . . . . . . 28 III. Landesgesetze 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 29 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 30 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 31
I. Allgemeine Hinweise 1
Wie das BVerfG wiederholt festgestellt hat, ist auch der Strafgefangene ein Bürger, für den die Rechtsgarantien des Grundgesetzes gelten. Er ist in seinen Grundrechten nur soweit beschränkbar, als dies die Verfassung in der Form und in der Sache erlaubt (BVerfGE 33, 1 ff; 40, 276 ff). Die ihm aufgrund erlittener Benachteiligungen nach dem Sozialstaatsprinzip geschuldete resozialisierende Behandlung (BVerfGE 35, 202, 235) verpflichtet den Gesetzgeber einerseits, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung hin auszurichten, wobei ihm ein weiter Gestaltungsraum zugebilligt wird (BVerfGE 98, 169, 201; ähnlich schon BVerfGE 40, 276, 284), begründet für den einzelnen Gefangenen andererseits aber auch einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass dieser Zielsetzung bei ihn belastenden Maßnahmen genügt wird (BVerfG ZfStrVo 1998, 242, 245; BVerfG NStZ 1998, 430). Dieses „Grundrecht auf Resozialisierung“ begrenzt die Rechte anderer Personen oder Institutionen (BVerfGE 35, 202, 235 – Verbot der Fernsehberichterstattung über eine länger zurückliegende schwere Straftat wegen Gefährdung der Resozialisierung des Täters). Reso-
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zialisierende Behandlung kann zwar auch zur Beschränkung von Rechten führen, ist aber keine „Gehirnwäsche“ oder „Zwangsbehandlung“, die der Verurteilte in einer Objektstellung zu erdulden hätte, sondern bezieht den Gefangenen als zu informierende, zu beteiligende und zu aktivierende Person positiv ein (BVerfG ZfStrVo 2003, 183; so auch Seebode 1997, 95). Damit sind der „Abwehrstatus“ (Rdn. 12 ff) des Gefangenen (Grenzen der Eingriffe in seine Rechte) und der „Integrationsstatus“ (Stellung des Insassen im Behandlungsprozess, Rdn. 2 ff) umschrieben (Würtenberger Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat 1970, 223; C/MD 2008 Rdn. 1).
II. Erläuterungen 1. Der „Integrationsstatus“ des Gefangenen ist in Abs. 1 behandelt. a) Im Strafvollzug befindet sich der Gefangene nicht freiwillig. Es handelt sich um ein 2 Zwangssystem, das den Gefangenen für die Dauer des Freiheitsentzugs in vielerlei Weise in seiner Handlungsfreiheit einengt. Diese Einengungen haben ihre Gründe in der Sicherung des Gewahrsams und des Lebens und der Gesundheit der in der Anstalt befindlichen Menschen (Sicherheit der Anstalt), in der Notwendigkeit, das Zusammenleben in der Anstalt einigermaßen erträglich zu organisieren (Ordnung der Anstalt; § 81 Rdn. 7), in der Verpflichtung, während des Vollzugs der Freiheitsstrafe die Allgemeinheit vor Straftaten des Insassen zu schützen (Aufgabe des Vollzuges nach § 2 S. 2; § 2 Rdn. 11, 17 ff), aber auch in der Vorstellung, im Vollzug Verhältnisse zu schaffen, die die Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 Rdn. 12 ff) ermöglichen. Rechtsbeschränkungen aus diesem zuletzt genannten Grund sind nicht nur zulässig, 3 sondern für einen geordneten Strafvollzug unerlässlich (BVerfGE 40, 276). Er kann „nicht nur Ansprüche des Gefangenen begründen, sondern unter Umständen auch grundrechtsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen, die erforderlich sind, um die inneren Voraussetzungen für eine spätere straffreie Lebensführung des Gefangenen zu fördern“ (vgl. auch BVerfG NStZ 1996, 55; ZfStrVo 1996, 174, 175). Im StVollzG finden sich deshalb an vielen Stellen Hinweise darauf, dass dem Gefangenen Beschränkungen in seinen Rechten auch auferlegt werden, um das Vollzugsziel nicht zu gefährden oder die Eingliederung der Insassen nicht zu behindern (§ 25 Nr. 2; § 27 Abs. 1; § 28 Abs. 2 Nr. 2; § 29 Abs. 3; § 31 Abs. 1 Nr. 1; § 34 Abs. 1 Nr. 2; § 68 Abs. 2 S. 2; § 70 Abs. 2 Nr. 2; vgl. auch Müller-Dietz JuS 1976, 88, 91; Seebode 1997, 93–95). Aus Gründen der Behandlung kann der Anstaltsleiter dem Gefangenen bei der Gewährung von Lockerungen Weisungen erteilen (§ 14). Der Gefangene ist mindestens auch deshalb, weil dies zur Erreichung des Vollzugsziels für notwendig gehalten wird, in der Anstalt zur Arbeit verpflichtet (§ 41). In diesem durch das Gesetz in Einzelbestimmungen gezogenen Umfang trifft den Gefangenen eine Mitwirkungspflicht an seiner Behandlung (Rdn. 7) in dem Sinne, dass er die im Einzelfall angeordneten Beschränkungen zu dulden, der Arbeitspflicht und den Weisungen nach § 14 nachzukommen hat. Lehnt er sich gegen diese Beschränkungen auf, so handelt er gegen seine Pflichten und setzt sich – schuldhaftes Verhalten vorausgesetzt – disziplinarischer Zurechtweisung aus (§§ 102 ff). Die Befürchtung, dass ein solcher Zwang entgegen dem Ziel des Vollzuges nur einen „guten Gefangenen“ schaffe, der für die Freiheit nicht tauge (C/MD 2008 Rdn. 3, 4; ganz ablehnend auch AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 19 Vor § 2), erscheint nicht begründet. Ist schon der Entzug der Freiheit oft notwendig, um das „Schonklima“ (§ 2 Rdn. 14) für die erforderlichen Lernschritte zu schaffen, so ist auch der zwangsweise Ausschluss besonderer Gefährdungen unerlässlich, freilich nicht ausreichend, um das Vollzugsziel zu erreichen (OLG Bamberg 1.10.1981 – Ws 491/81). Auf eine solche zwangsweise Ausgestaltung des Vollzuges kann
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vielleicht dann verzichtet werden, wenn die Gefährdungen durch Gespräche in einem „therapeutischen“ Wohngruppenvollzug aufgearbeitet werden. Diese Entwicklung ist anzustreben (vgl. auch Rdn. 2 zu § 102).
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b) Jenseits der ausdrücklichen Regelungen des Gesetzes, die gewissermaßen den dem Gesetzgeber unverzichtbar erscheinenden Behandlungsrahmen darstellen, besteht aber für den Gefangenen keine Pflicht, an seiner Behandlung mitzuwirken (Calliess 1992, 59; OLG Celle ZfStrVo 1985, 374). Dass der Gefangene „mitwirkt“, ist vielmehr der Wunsch des Gesetzgebers, denn die Mitwirkung ist zur Erreichung des Vollzugsziels notwendig. Wie sich aus Satz 2 ergibt, geht der Gesetzgeber aber – und damit wird eine Erfahrung aus dem Vollzugsalltag berücksichtigt – nicht davon aus, dass der Gefangene vom Beginn des Vollzugs an bereit ist, an der Gestaltung seiner Behandlung (Rdn. 6) und an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken. Deshalb muss seine Bereitschaft hierzu geweckt und, ist sie erst einmal in Ansätzen vorhanden, ständig gefördert werden. Das Einsetzen einer resozialisierenden Behandlung ist also nicht von der Mitwirkung oder Zustimmung des Gefangenen abhängig. Der Gefangene hat kein Recht darauf, sich den resozialisierenden Maßnahmen im Vollzug zu entziehen. Das Recht, gegen Absitzen der Strafzeit ein Verbrecher bleiben zu dürfen, in Ruhe gelassen zu werden, neue Kräfte für einen antisozialen Lebenswandel zu sammeln, besteht nicht (Müller-Dietz 1979, 149, 155). Deshalb muss die Behandlungsuntersuchung (§ 6) und die Erstellung, Durchführung und Fortschreibung des Vollzugsplans (§ 7) immer stattfinden, und zwar auch bei jenem Gefangenen, der seine Mitwirkung völlig verweigert. Und es ist rechtswidrig, den Gefangenen in eine Arbeit, eine Wohngruppe oder eine Maßnahme der Weiterbildung einzuteilen, die nach der Erkenntnis der Vollzugsbehörde der Erreichung des Vollzugsziels schadet (etwa Gemeinsamkeit mit anderen Insassen, die aufeinander einen schlechten Einfluss haben können), auch und gerade dann, wenn der Gefangene diese Gestaltung seiner Behandlung will. Die Verantwortung für die Erreichung des Vollzugsziels und die Gestaltung der Behandlung liegt bei der Vollzugsbehörde. Sie besteht unabhängig von der Bereitschaft oder Fähigkeit des Gefangenen, sich zu beteiligen. Vgl. zur Mitwirkung bei der Behandlungsuntersuchung § 6 Rdn. 13. 5 Behandlung ist nicht nur mit Zustimmung des zu Behandelnden auf der Ebene der Freiwilligkeit möglich. Menschen bewähren sich, leben und lernen seit eh und je in Situationen und unter Bedingungen, die sie nicht ausgewählt haben und in die sie unwillentlich geraten (Grunau/Tiesler 1982 Rdn.1). Widerstand und Unlust von Gefangenen beruhen oft auf eingeschliffenen Verhaltenstechniken, die der Lebensbewältigung dienen (C/MD 2008 Rdn. 5), auch auf angesichts unangenehmer Vorerfahrungen durchaus nachzuempfindendem Misstrauen, werden aber auch überhaupt bei erheblich straffällig gewordenen Personen häufig festgestellt (Göppinger Angewandte Kriminologie 1988, 104 f). Mit Zustimmung und Bereitschaft zu resozialisierenden Maßnahmen wird man daher anfangs oft nicht rechnen dürfen. Sie werden deshalb für den Behandlungsprozess richtigerweise nicht vorausgesetzt, in seinem Verlauf aber angestrebt. Dabei gibt es Behandlungsmaßnahmen, die ohne Zustimmung, ja gegen den Willen des Gefangenen begonnen werden, und andere, die notwendigerweise sein Einverständnis, mindestens eine Art Duldung, voraussetzen. So ist der Einsatz des Gefangenen in der Anstaltsschreinerei, der zur Erreichung des Vollzugsziels sinnvoll erscheint, auch ohne seine Zustimmung zulässig, ja vielleicht geboten. Das Eingehen eines Ausbildungsverhältnisses in der Schreinerwerkstatt bedarf aber der Zustimmung des Gefangenen, wobei in vielen Fällen die Bereitschaft zur Mitarbeit im Laufe der Zeit entsteht und wächst. Der zunächst widerwillig in der Schreinerei Tätige findet Gefallen an der Arbeit, Sympathie für den Meister und erkennt zugleich, dass ihm der erwünschte und bequeme Job in der Hofkolonne ohnehin konsequent verweigert wird.
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c) Der Begriff der Behandlung im StVollzG ist weit auszulegen. Er bedeutet jede Art 6 von Einflussnahme und Tätigkeit, die mit dem Ziel stattfindet, den Gefangenen auf die Zeit nach der Entlassung aus der Haft vorzubereiten, die Fähigkeiten, Fertigkeiten und den Willen zu stärken, ein Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu führen, die den schädlichen Wirkungen des Freiheitsentzuges gegensteuert und hilft, den Insassen in das freie Leben wieder einzugliedern (C/MD 2008 Rdn. 6). Dazu gehören die Art des Umgangs der Bediensteten mit dem Gefangenen (Lob, Tadel, Gespräche, Hilfsangebote), die Unterbringung, die Arbeit, die Aus- und Weiterbildung, das Freizeitangebot, die Lockerungen, die Förderung der Außenkontakte, die Entlassungsvorbereitungen, aber auch Therapie im engeren Sinne, wie Gesprächstherapie, Gruppentherapie und medizinische Behandlung (OLG Karlsruhe StV 2005, 337; im Einzelnen: Jung 1987, 39, 40; Mey 1987, 42; Calliess 1992, 22, 23; Walter 1999 Rdn. 280–285; Laubenthal 2008 Rdn. 158). Das StVollzG geht von einer auf die zur Resozialisierung des einzelnen Gefangenen notwendigen, maßnahmenbezogenen Behandlung aus (Walter 1999 Rdn. 280). Eine allgemeingültige oder auch nur für ausgewählte Delinquentengruppen angezeigte Behandlungsmethode ist nicht festgelegt und wohl auch nur unter Vorbehalten denkbar. Ob das „soziale Training“ (Walter 1999 Rdn. 283; Laubenthal 2008 Rdn. 164 f), der Vollzug in Wohngruppen oder die „problemlösende Gemeinschaft“ (C/MD 2008 Rdn. 6; Laubenthal 2008 Rdn. 160–163) ein verbindender Rahmen für die Behandlung der einzelnen Gefangenen sein können, ist im Regelvollzug noch nicht erprobt. Soweit im Einzelfall die Rechte und Pflichten eines Gefangenen im Hinblick auf sie bestimmt werden, ist die Behandlung ein gerichtlich voll nachprüfbarer, unbestimmter Rechtsbegriff (KG 17.9.1992 – 5 Ws 240/92). Die Gesetzgeber in Bayern und Hamburg haben sich um eine Definition des Behandlungsbegriffs bemüht (Rdn. 29 f). In Bayern sollen danach bei der Behandlung der Strafgefangenen folgende Prinzipien Beachtung finden: die Intensität der Behandlung hat sich am Risiko-Prinzip zu orientieren, die Behandlungsziele und -inhalte sollen sich auf die spezifischen kriminogenen Motive und Defizite der Straftäter beziehen (Bedürfnisprinzip), das Vorgehen sollte auf die jeweiligen Lernweisen und Fähigkeiten der Straftäter zugeschnitten sein (Ansprechbarkeitsprinzip) (LT-Drucks. 15/8101, S. 49 f). Aber auch die in den Landesgesetzen enthaltenen Umschreibungen verdeutlichen lediglich die Vielschichtigkeit strafvollzuglicher Behandlungsaspekte. Wie die Begründung zum BayStVollzG zu Recht ausführt, bleibt der Behandlungsbegriff offen und die Fortentwicklung der verschiedenen Behandlungsmethoden ist weiterhin Aufgabe von Wissenschaft und Praxis. d) Die Fähigkeit und Bereitschaft des Insassen zur Mitwirkung zu wecken und zu för- 7 dern, ist eine der wichtigsten Pflichten aller Vollzugsbediensteten. Die Erfahrung lehrt, dass die Bereitschaft des Insassen nicht kontinuierlich wächst, sondern Schwankungen unterliegt, so dass immer wieder von neuem Motivationsarbeit zu leisten ist (§ 2 Rdn. 11). Die Erfahrung lehrt auch, dass es nie zu spät ist, d. h., dass auch bei scheinbar hoffnungslos verstockten Insassen durch geduldige und einfühlsame Beharrlichkeit die Bereitschaft zur Mitwirkung am Vollzugsziel zu erreichen ist. Auch mit den Bezugspersonen des Insassen empfiehlt es sich, insoweit zusammenzuarbeiten. Die Motivationsarbeit darf nicht dem Sozialdienst überlassen sein, sie ist Sache aller Bediensteten an allen Stellen, die Hand in Hand arbeiten müssen. Der Umstand, dass es Vollzugsanstalten gibt, bei denen bei durchaus ähnlicher Insassenschaft der Anteil der Insassen, die sich etwa einer dem Vollzugsziel dienlichen Ausbildung unterziehen, extrem unterschiedlich ist, beweist, dass die Fragen der Mitarbeit der Insassen, der Resozialisierungsfähig- und willigkeit in erheblichem Maße von der Motivierungsarbeit der Bediensteten und der Art und Weise der gemachten Ange-
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bote abhängen. Viel zu rasch wird oft der Versuch eingestellt, die Bereitschaft Gefangener, an ihrer Behandlung mitzuwirken, zu wecken und zu fördern. Viel zu schnell wird der Insasse als „unwillig“ und „unfähig“ eingeordnet, statt zu bedenken, ob denn das Behandlungsangebot für den Insassen nach seiner ganzen bisherigen Entwicklung und seiner gegenwärtigen Verfassung zumutbar und brauchbar ist. Das spricht auch dagegen, von dem Begriff „Behandlung“ abzugehen und (nur) „Chancen“ zu eröffnen (so aber Meyer ZfStrVo 1987, 4 ff, 9; „spezielles Chancenangebot im Rahmen des Behandlungsvollzuges“ so Schwind 2009, 763 ff; „Vollzugsangebote“ AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 3; mindestens missverständlich C/MD 2008 Rdn. 6; dagegen – wie hier – Calliess 1992, 25–28; ausführl. dazu Rdn. 8). Denn viele Gefangene sind ohne geduldige Motivationsarbeit der Bediensteten gar nicht in der Lage, „Chancen“ zu nutzen. Was den Gefangenen betrifft, ist der Begriff „Chance“ insoweit richtig, als dessen Mitwirkung (Wahrnehmen der Angebote) und Verantwortung für seine Entwicklung im Vollzug angesprochen sind. Für die Vollzugsbehörde könnte „Chancenvollzug“ (erstmals Schwind in: Schwind (Hrsg.), FS für Günter Blau 1985, 573 ff, 590) aber die Abkehr vom zu verwirklichenden Behandlungsvollzug und die Rückkehr zum Verwahrvollzug der Zeit vor dem StVollzG bedeuten, in dem den Gefangenen durchaus auch Resozialisierungschancen eröffnet wurden, bzw. – genauer – die Berechtigung, auf die Verwirklichung des Behandlungsvollzugs zu verzichten (denn die gegenwärtige Praxis hat oft noch das Gepräge des Verwahrvollzugs: Seebode 1997, 128; Böhm in: Herrfahrt (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern 2000, 110 ff). Man beschränkt sich dann darauf, den resozialisierungsfähigen und -willigen Gefangenen Behandlungsangebote zu machen und abzuwarten, ob sie sich dafür interessieren (was natürlich nicht ausreicht: OLG Nürnberg ZfStrVo 2003, 95, 96: § 2 Rdn. 14). Es darf schließlich nicht übersehen werden, dass Behandlungsvorschläge nicht selten mit wirklichen oder vermuteten Nachteilen (weniger Freizeit, geringerer Einkauf, vgl. AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 6) verbunden sind. Dem ist entgegenzuwirken. 8 Niedersachsen hat nunmehr den Chancenvollzug für erwachsene Straftäter ausdrücklich in § 6 NJVollzG (entspr. Vorschrift für den Jugendstafvollzug § 112 NJVollzG) geregelt. In der Begründung zum Gesetzentwurf des NJVollzG heißt es, dass es sich beim Konzept des Chancenvollzugs nicht um eine Abkehr vom Konzept der Behandlung handele, sondern nur um eine Akzentverschiebung: Der Wille des Gefangenen zur Mitarbeit und damit seine Eigenverantwortung würden betont und gleichzeitig – nur – klargestellt, dass niemand ohne seinen Willen zur Änderung seiner Einstellung und seines Verhaltens und ohne seine Mitwirkung durch die Vollzugsbehörde sozial integriert werden könne. Dass es durch die im Gesetz vorgesehenen Formulierungen zu einer Verschärfung der Vollzugsbedingungen, evtl. sogar zu einem bloßen „Verwahrvollzug“ für nicht mitarbeitsbereite oder -fähige Gefangene kommen könne, sei nicht zu befürchten. In § 3 Abs. 3 sowie in § 6 Abs. 1 Satz 2 sei ausdrücklich die Verpflichtung der Vollzugsbehörden vorgesehen, die Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen im Vollzug zu fördern sowie ihre Bereitschaft zur Mitwirkung am Vollzugsziel der sozialen Integration zu wecken und zu fördern. Hierbei handele es sich um kontinuierliche Pflichten der Vollzugsbehörden, die in jedem Fall auch für – anfangs – nicht mitarbeitsbereite oder -fähige Gefangene gelten. Die Vollzugsbehörden seien also verpflichtet, sich nachhaltig und fortgesetzt um alle Gefangenen zu bemühen. (LT-Drucks. 15/3563, S. 89). Dieser gesetzgeberische Wille ändert freilich nichts daran, dass das Gesetz nun der Vollzugsbehörde nicht nur das Recht gibt, sondern sogar als regelmäßige Pflicht auferlegt, eine Maßnahme zu beenden, wenn „der Strafgefangene nicht hinreichend daran mitarbeitet“ (§ 6 Abs. 2. Satz 2 NJVollzG). Insofern ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass es für Verweigerer auf einen Verwahrvollzug oder, wie es Schwind in seiner differenzierenden Betrachtung (Schwind 2009, 763, 775) besser bezeichnet, auf eine Grundversorgung (Verwahrvollzug und Arbeitspflicht) hinauslaufen kann.
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e) Da eine Rechtspflicht, an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken, dem Gefan- 9 genen nicht auferlegt worden ist (Rdn. 4), ist es unzulässig, gegen ihn eine Disziplinarmaßnahme anzuordnen, weil er sich weigert, einen für seine Eingliederung nützlichen Fortbildungskurs zu besuchen oder an einer Gesprächsgruppe teilzunehmen. Das ist unstreitig. Schwieriger ist schon die Frage zu beantworten, ob die Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels bei anderen Vollzugsentscheidungen eine Rolle spielen darf. Für die Gewährung von Vollzugslockerungen bestimmen VV Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 zu § 11 ausdrücklich, dass zu berücksichtigen ist, „ob der Gefangene durch sein Verhalten im Vollzug die Bereitschaft gezeigt hat, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken“ (§ 11 Rdn. 24; § 13 Rdn. 31). Die Berücksichtigung dieser Mitarbeit wird von Jung (ZfStrVo 1977, 86 ff, 89) gegen Grunau (DRiZ 1978, 111) richtigerweise für zulässig gehalten. Dabei geht es eher darum, Mitarbeit zu belohnen als Verweigerungen zu bestrafen. Letzteres ist vor allem dann unangebracht, wenn die in Frage stehende Vollzugslockerung der Resozialisierung dienen kann und die Befürchtungen des § 11 Abs. 2 nicht bestehen (OLG Zweibrücken StV 1992, 598). Bei der Einordnung in die Vergütungsstufen für die Entlohnung der Ausbildung können trotz Erreichung des Ausbildungsziels oder des Schulabschlusses störendes Sozialverhalten während des Unterrichts oder mangelhafte Mitarbeit Berücksichtigung finden (Versagung einer möglichen Höhergruppierung: KG ZfStrVo 1983, 309; OLG Hamburg NStZ 1995, 303). Aber auch bei der Zulassung zu Freizeitgruppen mit begrenzter Teilnahmemöglichkeit und bei der Zuweisung besonders begehrter Arbeitsplätze ist zu bedenken, dass es vielleicht zur Motivationsarbeit gehört, Insassen, die an ihrer Sozialisierung mitwirken, nach Möglichkeit entgegenzukommen (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 78; Arloth 2008 Rdn. 2; Müller-Dietz 1979, 140; Walter 1999 Rdn. 295). Berücksichtigt man aber deren Engagement bei den genannten Entscheidungen positiv, so wirkt sich für den (derzeit) Resozialisierungsunwilligen seine mangelnde Bereitschaft negativ aus (so OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 51, 52: Ablehnung eines Langzeitbesuches). Bei der Gewährung von Lockerungen spielt die mangelnde Bereitschaft, an der Re- 10 sozialisierung (dazu § 2 Rdn. 13 ff) teilzunehmen, dann eine entscheidende Rolle, wenn sie die Gefahr begründet, der Insasse werde die Lockerung zur Flucht oder zur Begehung neuer Straftaten missbrauchen. Das ist in manchen Fällen wohl kaum von der Hand zu weisen: Erachtet man zur Erreichung des Ziels, dass der Verurteilte fähig wird, ein Leben ohne Straftaten zu führen, Maßnahmen für erforderlich, an denen mitzuwirken der Verurteilte sich weigert, dann ist im Augenblick das Ziel nicht erreichbar und die Gefahr künftiger Straftaten gegeben (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1985, 245, 247). Das macht die Gewährung der Lockerungen riskanter als bei einem an seiner Resozialisierung mitarbeitenden Insassen (ebenso: Hauf 1994, 81). Freilich kann, wenn das Missbrauchsrisiko angesichts besonderer Umstände verantwortbar erscheint, die Gewährung der Lockerung den resozialisierungsunwilligen Gefangenen vielleicht zu einer positiveren Einstellung hinsichtlich der Erreichung des Vollzugszieles gerade veranlassen; dann ist ein Vertrauensvorschuss durchaus angezeigt (OLG Hamm NStZ 1985, 573). Die von den meisten Insassen erstrebte Entlassung zur Bewährung verlangt nach § 57 StGB eine positive Entlassungsprognose (§ 15 Rdn. 2). Diese Prognose wird von den Erkenntnissen über das Erreichen des Vollzugsziels entscheidend beeinflusst (BVerfG NStZ 2000, 109, 110). Dabei geht es natürlich nicht um das beanstandungslose Verhalten des Gefangenen im Vollzug und die Erfüllung der Arbeitspflicht (die „gute Führung“). Solches Verhalten ist lobenswert, ist aber prognostisch in der Regel von geringer Bedeutung. Mit der Bereitschaft, an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken, ist vielmehr das Abarbeiten des an den individuellen Resozialisierungsnotwendigkeiten des Gefangenen orientierten Vollzugsplans gemeint. Ist dieser gesetzmäßig erarbeitet und fortgeschrieben, so ist die Weigerung des Verurteilten mitzuwirken, regelmäßig pro-
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gnostisch ungünstig. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, in ihrer Stellungnahme wahrheitsgemäß zu berichten, dass der Insasse sich beharrlich geweigert hat, an den Maßnahmen mitzuwirken, die zur Erreichung des Vollzugsziels für erforderlich gehalten worden sind. Aus dieser Mitteilung wird dann häufig der Schluss gezogen werden müssen, dass eine Entlassung zur Bewährung nicht verantwortet werden kann, während umgekehrt ein Insasse, der sich an solchen Maßnahmen bereitwillig beteiligt, seine Chancen, vorzeitig entlassen zu werden, merklich steigert. So wird auf den Insassen wegen der mittelbaren Wirkungen, die von seiner Weigerung ausgehen, ein starker Druck ausgeübt, an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuarbeiten (hierzu eingehend: Müller-Dietz 1986, 331 ff, 341 f; Jung 1987, 40, 41; Laubenthal 2008 Rdn. 240). Dass keine Pflicht postuliert ist, beschränkt sich somit darauf, dass gegen den nicht mitwirkungsbereiten Gefangenen keine Disziplinarmaßnahmen verhängt werden und ihm keine unabhängig von seiner Mitwirkungsbereitschaft zustehenden Rechte verkürzt werden (OLG Celle ZfStrVo 1980, 184; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 78; vgl. auch Haberstroh ZfStrVo 1982, 259 ff). 11 C/MD (2008 Rdn. 4) meinen, weil der Insasse keine Pflicht habe, an dem Behandlungsziel mitzuwirken (Rdn. 4, 9), dürften auch bei einer Entweichung keine Disziplinarmaßnahmen erfolgen. Hieran ist nur richtig, dass die Pflicht des Gefangenen, die Einsperrung zu dulden, nicht daraus folgt, dass er an seiner Behandlung mitwirkt. Selbst wenn er eine Rechtspflicht hierzu hätte, so könnte es bei einem Konflikttäter durchaus der Fall sein, dass resozialisierende Maßnahmen zur Erreichung des Vollzugsziels nicht erforderlich sind, ja ein künftiges Leben ohne Straftaten desto wahrscheinlicher ist, je eher der Insasse die Anstalt verlässt. Seine Entweichung wäre geradezu im Sinne der Erreichung des Vollzugsziels nötig, aber gleichwohl ein (schwerer) Pflichtverstoß, der eine Disziplinarmaßnahme rechtfertigt (Rdn. 17 f zu § 102).
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f) Der Gefangene kann zwar keine bestimmte resozialisierende Behandlung verlangen (KG, 29.1.1979 – 2 Ws 145/78; OLG Nürnberg NStZ 1982, 399; vgl. aber BVerfG NStZ 1996, 614; OLG Karlsruhe NStZ 1998, 638 f und NStZ-RR 2004, 287 f). Er hat aber ein Recht darauf, über die zur Erreichung des Vollzugsziels bei ihm für notwendig erachteten Vollzugsmaßnahmen unterrichtet zu werden (Recht auf Einsichtnahme in die schriftliche Fassung des Vollzugsplanes und seiner Fortschreibungen: BVerfG ZfStrVo 2003, 183). Sie sind mit ihm zu erörtern, am besten mit ihm zu erarbeiten. Auch wenn er zunächst nicht zur Mitwirkung bereit ist, sind ihm die Gründe verständlich zu machen, warum die eine oder andere Maßnahme ergriffen, ihm gewisse Angebote unterbreitet oder bestimmte von ihm vorgebrachte Wünsche zur Gestaltung seiner Behandlung abgeschlagen werden. Er soll eigene Vorstellungen darüber, wie das Vollzugsziel zu erreichen ist, vortragen und darf erwarten, dass sie ernst genommen, bei Erfolgsaussicht möglichst verwirklicht und mit ihm erörtert werden. Über seine entsprechenden Anträge entscheidet die Vollzugsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Insoweit hat er ein Recht darauf, an seiner Behandlung mitzuwirken (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 78). Der Gefangene ist auch nicht das Objekt von Manipulationen oder gar von einer Art „Gehirnwäsche“ – beides verstieße gegen seine in Art. 1 GG geschützte Menschenwürde und gegen den Resozialisierungsbegriff des StVollzG (Müller-Dietz 1979, 138, 139) –, sondern ein für den notwendigen Lernprozess zu gewinnender Partner (vgl. § 6 Rdn. 13 f).
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2. Der „Abwehrstatus“ ist in der Weise verwirklicht, dass die Einschränkungen der Freiheit des Gefangenen im StVollzG im Einzelnen genau dargestellt sind. Das bedeutet nicht, dass der Insasse im Übrigen unbeschränkte Freiheiten hätte. Er unterliegt vielmehr zahlreichen weiteren Beschränkungen, die in anderen Gesetzen festgelegt sind. Aber in sei-
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ner Eigenschaft als „Gefangener“ treffen ihn darüber hinaus nur die im StVollzG erwähnten Rechtsbeschränkungen. Damit ist der Gesetzgeber von der vom BVerfG (BVerfGE 33, 1 ff) für verfassungswidrig erachteten Figur des „besonderen Gewaltverhältnisses“ abgegangen, die die Rechtsstellung des Gefangenen bisher bestimmt hatte und alle Rechts- (auch Grundrechts)beschränkungen gestattete, die zur Erreichung der nach dem StGB vorausgesetzten Strafzwecke (Abschreckung, Sühne, Vergeltung, Sicherheit, Resozialisierung) erforderlich erschienen. Er hat aber auch nicht den für den Jugendstrafvollzug (§§ 91, 92, 115 JGG a. F.) und die Untersuchungshaft (§ 119 StPO) gewählten Weg beschritten, die Rechtsstellung der Insassen durch wenige, etwas spezifizierte Generalklauseln zu kennzeichnen, obwohl dies nach der früheren Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 57, 170, 177 für die Untersuchungshaft) für zulässig erachtet wurde. Insoweit wird der Rechtsschutz der Gefangenen durch das StVollzG besonders gut gewährleistet. a) Die Beschränkungen der Freiheit müssen sich aus dem Gesetz ergeben. So darf die 14 Vollzugsbehörde nicht andere Eingriffe in Rechte anordnen als die im Gesetz formulierten. Unzulässig ist die Nichtbeförderung eines Schreibens vor Änderung der irreführenden Absenderangabe durch den Gefangenen, denn hier hätte die Behörde ein, den Sachverhalt aufklärendes, Begleitschreiben gem. § 31 Abs. 2 beifügen können (OLG Celle ZfStrVo 1982, 127). Unzulässig ist die im Gesetz nicht vorgesehene Urlaubssperre (OLG Bremen NStZ 1982, 84; OLG Celle ZfStrVo 1985, 374) und das generelle Verbot der Benützung von Sportstätten und Freizeiträumen für die in einer besonderen Anstaltsabteilung untergebrachten Arbeitsverweigerer statt der Verhängung entsprechender Disziplinarmaßnahmen in jedem Einzelfall (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 250). b) Im Gesetz müssen die Freiheitsbeschränkungen geregelt sein. Das bedeutet, dass die 15 zu dem StVollzG erlassenen VV nicht weitere Beschränkungen enthalten können (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 246. Vgl. auch § 115 Rdn. 23). Ohne Prüfung des Einzelfalls darf eine ablehnende Entscheidung mit dem bloßen Hinweis auf in den VV enthaltene Beispiele nicht ergehen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 122; s. auch § 11 Rdn. 18; § 13 Rdn. 15). Die VV versuchen entweder, den Gesetzeswortlaut auszulegen (tatbestandsinterpretierende Auslegungsrichtlinien) oder Hinweise für eine gleichartige Ausübung des Ermessens zu geben (Entscheidungshilfen). Zur Ermessensausübung durch die Behörde § 115 Rdn. 20. Hier haben sich in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten ergeben (im Einzelnen Müller-Dietz 1981, 409). Sie beruhen auf folgendem: aa) Das StVollzG ist vom deutschen Bundestag beschlossen worden und beruht auf 16 einem im Wesentlichen vom Bundesjustizministerium erarbeiteten Regierungsentwurf. Im Gesetzgebungsverfahren war der Bundesrat – und somit mittelbar die Landesjustizverwaltungen, die den Strafvollzug verantwortlich durchführen und gestalten – eingeschaltet, zumal das StVollzG ein Zustimmungsgesetz war, gegen eine Mehrheit im Bundesrat also nicht erlassen werden konnte. Im Ergebnis haben sich die an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen auf einen Kompromiss geeinigt. Die VV stammen von den Landesjustizverwaltungen. Bei der Auslegung des StVollzG sind dabei auch Vorstellungen berücksichtigt worden, die im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt werden konnten. Dafür ist die „Reststrafenregelung“ beim Urlaub ein gutes Beispiel. Nach der Vorstellung des Bundesrats sollte Urlaub in der Regel erst innerhalb der letzten 18 Monate vor Strafende gewährt werden. Diese Auffassung ließ sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen. In VV Nr. 4 Abs. 2a zu § 13 taucht diese Urlaubsvoraussetzung als „Entscheidungshilfe“ wieder auf. Während das OLG Frankfurt (NJW 1978, 334) diese Regelung für unbeachtlich hält, weil sie dem Gesetz widerspricht (ebenso OLG Celle JR 1978, 258; Calliess 1992, 165; Laubenthal 2008
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Rdn. 549), wird sie überwiegend als Hinweis insoweit für beachtenswert gehalten, als neben anderen Überlegungen hinsichtlich der Fluchtgefährdung eines den Urlaub beantragenden Gefangenen auch die Höhe des noch zu verbüßenden Strafrests berücksichtigt wird (Franke 1981, 3 m. w. N.). Vgl. auch § 13 Rdn. 20 f.
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bb) Um das Vollzugsziel zu erreichen, ist es nötig, bei jeder Entscheidung vorrangig den Einzelfall zu bedenken. Deshalb hat das StVollzG die Vollzugsentscheidungen fast durchweg der fachnahen Vollzugsbehörde übertragen und sie in weitem Umfang von Ermessensüberlegungen abhängig gemacht, in die die nach den Vollzugsgrundsätzen jeweils erforderlichen, den Einzelfall betreffenden Vorstellungen eingehen müssen. Die von den Aufsichtsbehörden erlassenen VV versuchen demgegenüber eine gewisse Einheitlichkeit der Entscheidungen zu gewährleisten, wobei mehr an äußeren aktenkundigen und formalen Merkmalen festgehalten ist als an einer Gesamtbewertung des Einzelfalls, bei der jeweils unterschiedliche Merkmale und Geschehnisse ein unterschiedliches Gewicht haben (Franke 1981, 3). Durch diese formalen Richtlinien wird ein Druck auf die nachgeordneten Vollzugsbehörden ausgeübt, in jedem Einzelfall der zu prüfenden Formalie besonderes und vorrangiges Gewicht beizumessen. Sie kann und darf die Einzelfallentscheidung nicht ersetzen oder erübrigen, drängt sie aber doch erfahrungsgemäß in eine bestimmte Richtung (a. A. OLG Hamburg NStZ 1981, 237, 238 mit zu Recht krit. Anm. Meier 406, 407). Der Versuch, Ermessensausübung zu vereinheitlichen, ist nicht von vornherein abzulehnen. Große Anstalten, in denen sich jede Entscheidung schnell herumspricht, geraten in Unordnung und Unruhe, wenn nicht eine gewisse schematische, an Äußerlichkeiten festzumachende „gleiche“ Behandlung der Insassen stattfindet. Besondere Experimente im Einzelfall können das gesamte Klima der Anstalt so belasten, so dass wieder die Resozialisierung im Einzelfall behindert ist. Insgesamt ist aber eine Vollzugsgestaltung anzustreben, die mehr und mehr auf den Einzelfall zugeschnittene Entscheidungen ermöglicht. 18 Die Gerichte setzen einen stärkeren Schwerpunkt bei dem Einzelfall, wirken also der Dynamik von an allgemeinen Merkmalen ausgerichteten Richtlinien entgegen, ohne die Berechtigung der Aufsichtsbehörden, auf gewisse Vereinheitlichung hinzuwirken, ganz zu leugnen (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 123, 124 und ZfStrVo 1981, 319, 320; Müller-Dietz 1981, 417). Diese vermittelnde, bei den jeweiligen Bestimmungen im Einzelnen dargestellte Haltung erscheint angemessen (brauchbare Vorschläge für die Vollzugspraxis, wie Entscheidungen demnach zu begründen sind, bei Franke 1981, 4). Zur Bedeutung der VV für das Gericht § 115 Rdn. 23.
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cc) Dort, wo die VV über den Gesetzeswortlaut hinaus dem Gefangenen Möglichkeiten der Vollzugsgestaltung einräumen, gewähren sie ihm über die Rechtsfigur der „Selbstbindung der Verwaltung“ einen durchsetzbaren Anspruch (OLG Karlsruhe NStZ 1981, 455, 456 hinsichtlich VV Nr. 2 Buchst. b zu § 42).
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c) Mit der Generalklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 werden noch weitere Rechtseinschränkungen dann gestattet, wenn sie, obwohl für sie in den einzelnen gesetzlichen Bestimmungen keine Grundlage zu finden ist, unerlässlich (Rdn. 3; § 68 Rdn. 2) sind, um die Sicherheit aufrecht zu erhalten oder eine schwerwiegende Störung der Ordnung in der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) abzuwenden. Ohne dass für die Notwendigkeit einer solchen Einschränkungsermächtigung überzeugende Beispiele vorgebracht worden wären, hat man sich im Gesetzgebungsverfahren auf Drängen des Bundesrats auf diese „Angstklausel“ (C/MD 2008 Rdn. 20) geeinigt. Die Auslegung der Vorschrift bereitet Schwierigkeiten und ist umstritten.
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aa) Während C/MD (2008 Rdn. 18; ebenso AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 13) einen zusätz- 21 lichen Schutz von „Sicherheit und Ordnung“ der Anstalt für beabsichtigt halten, an Sicherheit gegen Entweichung/Ausbruch nach außen (evtl. gewaltsames Eindringen von außen) und gegen Meuterei und Widerstandshandlungen im Innenbereich denken, meint Schöch (in: K/S 2002 § 6 Rdn. 27–31; kritisch hierzu Müller-Dietz 1979, 116, 117), dass unter „Sicherheit“ hier mehr, nämlich auch die Sicherheit der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Verurteilten während des Vollzugs (§ 2 Rdn. 17 ff) zu verstehen sei. Dem ist zuzustimmen. Schon der Wortlaut der Vorschrift, die den Begriff Sicherheit von der Anstaltsordnung trennt und nicht in der sonst üblichen Formulierung „Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ verwendet, legt dies nahe (BGH NJW 2004, 1398 f). Beschränkungen nach § 4 Abs. 2 Satz 2 sind dann etwa denkbar, wenn Tatsachen den nahen Verdacht begründen, dass ein Insasse den ihm gewährten Besuchs- oder Briefverkehr zur Begehung von strafbaren Taten missbrauchen will. So könnte die Überwachung des Besuchs (im Einzelfall auch ein Verbot des Besuchs) angeordnet werden, wenn zu befürchten steht, dass der Gefangene seinen Besucher angreift und verletzt, ohne dass dies anders verhindert werden könnte, oder ihn betrügt oder zu einer Straftat anstiftet oder – bewusst oder unbewusst – als Kurier zur Übermittlung von Nachrichten verwendet, die strafbare Taten verursachen sollen (K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 30 ebenso Arloth 2008 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 247 f; Seebode 1997, 173; Hauf 1994, 53, 57 f). § 27 Abs. 1 erlaubt die Überwachung von Besuchen normalerweise nur aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt. Zwar lässt sich die Meinung vertreten, die Behandlung des Gefangenen lege es nahe, ihn daran zu hindern, während der Strafverbüßung Straftaten zu begehen (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 45), und eine Verletzung eines Besuchers würde vielleicht auch die Ordnung der Anstalt gefährden (so sieht das OLG Hamm NStZ 1988, 525, 526 die Ordnung der Anstalt als gefährdet an, wenn die Vollzugsbehörde sich durch Unterlassen der Aufklärung eines Außenstehenden an einem Betrug des Insassen beteiligen könnte!). Dass aber die Achtung der Rechtsgüter Dritter durch die Vollzugsbehörde nur in dieser „mittelbaren“ Weise möglicht sein soll, erscheint unangemessen, ja peinlich, und es entspricht auch nicht der Bedeutung dieser weiteren Aufgabe des Vollzuges nach § 2 Satz 2. Ein Besuchsverbot gegenüber Angehörigen, die zur Übermittlung von Straftaten veranlassenden Nachrichten missbraucht werden sollen, wäre über den Umweg „aus Gründen der Behandlung“ nach § 25 Nr. 2 gar nicht möglich (K/S-Schöch 2002 § 6 Rdn. 30). Näheres bei § 27 Rdn. 7, 9. bb) In Frage kommen auch schwerwiegende Störungen der Ordnung. Das OLG Nürn- 22 berg (ZfStrVo 1981, 57) hat die Weisung des Anstaltsleiters an einen Gefangenen, ein mit einem anderen Gefangenen gemeinsam unterhaltenes Bankkonto aufzuheben, als durch § 4 Abs. 2 Satz 2 gedeckt angesehen. Durch die mit einem gemeinsamen Konto möglichen undurchschaubaren Vermögensverschiebungen trete offenbar eine schwerwiegende Störung der Anstaltsordnung (Betätigung unerlaubter Geschäfte) ein (ebenso Hauf ZfStrVo 1994, 138 ff, 142 gegen C/MD 2008 Rdn. 21, die bereits eine Störung der Anstaltsordnung verneinen). Ob hier die Störung der Anstaltsordnung „schwerwiegend“ ist, erscheint zweifelhaft. Eine schwerwiegende Störung der Ordnung der Anstalt kann entstehen, wenn ein Gefangener geschäftsmäßig für andere Schriftsätze fertigt und dadurch unerwünschte Abhängigkeiten eintreten. Im Einzelfall kann dann das Verbot, für andere Schriftsätze anzufertigen, unerlässlich i. S. v. § 4 Abs. 2 Satz 2 sein (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1982, 249). Die Führung eines Geschäfts aus der geschlossenen Anstalt mag im Einzelfall Formen annehmen, die es aus Gründen der Sicherheit und Ordnung unerlässlich erscheinen lassen, Einschränkungen anzuordnen (LG Bonn NStZ 1988, 245 vgl. auch Laubenthal 2008 Rdn. 250; a. A. C/MD 2008 Rdn. 21, wonach §§ 39, 67 anzuwenden seien, die aber auf den Sachverhalt nicht recht passen). Dass die Über-
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weisung von Eigengeld an Angehörige eines Mitgefangenen eine schwerwiegende Störung der Anstaltsordnung darstellen soll, ist schwer vorstellbar (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 120). Drohende leichtere Störungen der Ordnung, die nicht von den generellen Verhaltensvorschriften §§ 82 ff und speziellen Eingriffstatbeständen erfasst sind, müssen ggf. hingenommen werden; Maßnahmen dagegen können sich nicht auf § 4 Abs. 2 Satz 2 stützen. Viel zu weit geht nunmehr das NJVollzG, das den Anwendungsbereich der Generalklausel auf jegliche Störung der Ordnung ausweitet (s. Rdn. 31). Was unter den unbestimmten Rechtsbegriff der Ordnung der Anstalt im Einzelfall zu subsumieren ist, wann eine Störung der Ordnung vorliegt, ob und ggf. welche Art von Maßnahmen zur Beseitigung oder Verhinderung der Störung erforderlich erscheint, ist völlig unbestimmt. So besteht die Gefahr, dass die Ordnungsvorstellungen der Vollzugsbehörde zum Maßstab für Rechtseinschränkungen der Gefangenen werden, was verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar wäre (vgl. auch Feest StV 2008, 533, 558).
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cc) „Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält“ kann nicht so ausgelegt werden, dass dort, wo der Gesetzgeber eine Rechtseinschränkung an irgendwelche Voraussetzungen geknüpft hat, eine ergänzende und erweiternde Einschränkung nach § 4 Abs. 2 Satz 2 nicht in Betracht komme (so aber AK-Feest/Lesting 2006 Rdn. 10). Das ist weder nach dem Wortlaut einleuchtend noch sachdienlich. „Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält“ bedeutet vielmehr folgendes: Die Rechtseinschränkung nach § 4 Abs. 2 Satz 2 tritt stets nur subsidiär ein, also nicht dann, wenn den durch § 4 Abs. 2 Satz 2 geschützten Belangen ohnehin durch eine besondere Regelung des Gesetzes Rechnung getragen ist. Die Anordnung, dass ein betäubungsmittelabhängiger Gefangener Pakete nur durch Vermittlung verlässlicher Stellen und nicht direkt von seinen Angehörigen zugeschickt erhalten darf, ist bereits als Einzelausgestaltung des Anspruchs aus § 33 Abs. 1 zulässig (OLG München NStZ 1981, 248 f; s. auch § 33 Rdn. 11). Über den Antrag, in der Freizeit ein Fernstudium betreiben zu dürfen, ist nach § 67 zu entscheiden. Er kann im Rahmen des dort eröffneten Ermessens auch abgelehnt werden (OLG Celle 28.11.2002, 1 Ws 336/02). 24 Auch dann ist kein Raum für die Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 2, wenn der Gesetzgeber die zu entscheidende Frage unter offenbarer Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen abschließend geregelt hat. Eine mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung des Gefangenen nach dem Besuch kann der Anstaltsleiter allgemein anordnen (§ 84 Abs. 3), vor dem Besuch aber nur im Einzelfall gem. § 84 Abs. 2 (BVerfG NStZ 2004, 227). Die Verwendung einer Trennscheibe beim unüberwachten Verteidigerbesuch, um die Übergabe von Schriftstücken oder anderen Gegenständen zu verhindern, hat der Gesetzgeber in § 29 Abs. 1 i.V.m. § 148 Abs. 2 Satz 3 StPO abschließend geregelt. In anderen als in diesen Fällen darf die Übergabe von Schriftstücken beim Verteidigerbesuch nicht mittels Trennscheibe verhindert werden (BGHSt 30, 38 gegen OLG München NStZ 1981, 36 mit Anm. Höflich 38; OLG Hamm ZfStrVo 1980, 57, 59; OLG Celle NStZ 1981, 116 und OLG Nürnberg ZfStrVo 1981, 186 ff; vgl. auch Hauf 1994, 55 f). Ein Trennscheibenbesuch (§ 27 Rdn. 14) würde aber auch einen Angriff des Gefangenen auf den Verteidiger verhindern können. Die gesetzliche Regelung betrifft diesen Gesichtspunkt nicht und schließt deshalb bei Vorliegen seiner sonstigen Voraussetzungen die Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 nicht aus (BGH NJW 2004, 1398 f – befürchtete Geiselnahme). Die unkontrollierte Übergabe von Schriftstücken müsste allerdings ermöglicht werden; vgl. BVerfG NStZ-RR 2003, 95. Für die Überwachung der Besuche, die keine Verteidigerbesuche sind, gilt ausschließlich § 27: OLG Saarbrücken NStZ 1983, 94 mit Anm. Müller-Dietz. Lässt sich ein Einschmuggeln von Rauschgift durch Besuchskontrollen nicht verhindern, so dass der Besuch nach § 25 Nr. 1 untersagt werden könnte, ist der Anstaltsleiter nicht gehindert, einen „Besuch“ unter Verwendung der Trennscheibe anzubieten (noch weiter gehend: KG NStZ 1984, 94 und NStZ
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1995, 103, 104; vgl. § 27 Rdn. 7). BVerfGE 89, 315, 322 ff wendet hier § 27 an, hält also die Trennscheibenbegegnung für einen Besuch und die Verwendung der Trennscheibe selbst für eine optische Überwachungsmaßnahme (ebenso Arloth 2008 § 27 Rdn. 3; vgl. aber hierzu C/MD 2008 Rdn. 21; Böhm 2003 Rdn. 262; Laubenthal 2008 Rdn. 517). Für die Anordnung der Abgabe einer Urinprobe gilt allein § 56 Abs. 2: OLG Zweibrücken NStE Nr. 5 zu § 56; OLG Hamburg Beschl. 2.3.2004 – 3 Vollz (Ws) 128/03; Bühring ZfStrVo 1994, 271, 272; K/SSchöch 2002 § 5 Rdn. 69; Arloth 2008 Rdn. 5; Laubenthal 2008 Rdn. 249; a. A. – § 4 Abs. 2 Satz 2 ist einschlägig – LG Freiburg NStZ 1988, 151; LG Kleve NStZ 1989, 48; dagegen OLG Koblenz NStZ 1989, 550, 551, das die Befugnis zur Vorname einer Urinkontrolle aus § 101 Abs. 1 – nicht vertretbar, § 101 Rdn. 12 – bzw. – zutreffend – aus § 56 Abs. 2 ableitet; vgl. auch § 13 Rdn. 22, § 82 Rdn. 4 und – einschränkend – § 56 Rdn. 8). Die akustische Überwachung von Telefongesprächen gem. § 32 darf nicht durch Aufzeichnung und spätere Auswertung der Telefongespräche ersetzt werden (OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 219, 221). Auch wenn eine Zeitschrift regelmäßig das Ziel des Vollzuges gefährdet, ist ein generelles Bezugsverbot nicht zulässig. § 68 Abs. 2 Satz 2 verlangt für jede Ausgabe eine eigene Entscheidung (OLG Jena NStZ-RR 2004, 317, 318) und stellt – auch im Kontext mit § 68 Abs. 2 Satz 1 – eine abschließende Regelung dar. Das OLG Koblenz (ZfStrVo SH 1979, 48) hat unter Heranziehung von § 4 Abs. 2 Satz 2 einem Insassen die ausschließliche Verwendung eines Künstlernamens bei seiner Korrespondenz untersagt und gegen dieses Verbot vorgelegte Schreiben angehalten (§ 31 Rdn. 6). Da die Vollzugsbehörde befürchtete, der Gefangene könne auf eine Namenstäuschung und betrügerische Handlungen gegenüber seinen Korrespondenten aus sein, würde die Beförderung des Schreibens bereits das „Ziel des Vollzuges“ gefährden und damit auf § 31 Abs. 1 Nr. 1 gestützt werden können. Nach § 31 Abs. 3 Satz 1 muss der Gefangene davon unterrichtet werden, dass ein ein- oder ausgehendes Schreiben nach § 31 Abs. 1 angehalten worden ist. Es gibt Fälle, in denen möglicherweise gerade diese Mitteilung ein verabredetes Zeichen für einen Befreiungsversuch von außen darstellt. Dann kann die Unterrichtung gem. § 31 Abs. 3 Satz 1 nach § 4 Abs. 2 Satz 2 jedenfalls zunächst unterbleiben (s. auch OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 51, 54; vgl. auch § 31 Rdn. 15). Zur Rechtfertigung einer Hin- und Herverschiebung eines gewalttätigen Gefangenen zwischen mehreren Anstalten: LG Köln NStZ 1983, 431. Wenn einem Gefangenen wegen einer konkreten Missbrauchsbefürchtung oder Sicherheits- und Ordnungsgefährdung eine Vollzugslockerung oder Genehmigung nur unter der Bedingung erteilt wird, dass er durch eine ihm zumutbare Handlung die Befürchtung entkräftet, so lässt sich ein solches Vorgehen schon mit der betreffenden Lockerungsvorschrift (etwa § 11) rechtfertigen. Der Umstand, dass eine Rechtseinschränkung unter irgendwelchen Voraussetzungen geregelt ist, kann jedenfalls kein stärkeres Indiz für die „abschließende“ Regelung sein als das gänzliche Fehlen einer gesetzlichen Möglichkeit, ein Recht einzuschränken. Auch dann kann der Gesetzgeber nämlich „abschließend“ davon ausgegangen sein, dass ein Eingriff in die gewährte Rechtsposition unter allen Umständen unzulässig sein soll. Das ist jeweils aus dem Sinn und der Reichweite der Vorschrift zu ermitteln. Die nach § 4 Abs. 2 Satz 2 zu treffende Rechtseinschränkung muss, wie jede Maßnahme 25 im Strafvollzug, nicht nur verhältnismäßig sein (diese Selbstverständlichkeit wird im NJVollzG nochmals eigens in § 4 formuliert; s. Rdn. 31), sondern muss darüber hinaus unerlässlich sein, die Sicherheit aufrechtzuerhalten oder eine schwerwiegende Störung der Ordnung in der Anstalt zu verhindern. Sie ist also auf den äußersten Notfall beschränkt, ultima ratio (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 58 und ZfStrVo SH 1979, 51, 54), muss die „letzte aller denkbaren Möglichkeiten“ sein (OLG Dresden NStZ 1995, 151; ähnlich OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 120).
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Außer den oben erörterten Beispielen (Rdn. 20) käme das Anhalten des Schreibens eines Gefangenen, in dem dieser Mitteilungen macht, die die Sicherheit einer anderen Anstalt als der, aus der er den Brief absendet, gefährdet (Verrat von Schwachstellen der Sicherung, die eine Befreiungsaktion von außen ermöglichen), in Betracht. Das OLG Hamburg (NStZ 1981, 239) hält ein Anhalten des Schreibens gem. § 31 Abs. 1 Nr. 1 in diesem Fall nicht für zulässig, weil diese Vorschrift ersichtlich nur die Anstalt meine, in der sich der Briefschreiber gerade aufhalte (§ 31 Rdn. 7). Der Gesetzgeber hat den zu entscheidenden Fall offenbar nicht bedacht. Eine abschließende Regelung liegt nicht vor (vgl. hierzu auch Hauf 1994, 60, 61). Unerlässlich wäre ein Anhalten des Briefes freilich nur, wenn mit einer Warnung der Anstalt, deren Sicherheitslücken verraten werden, nicht der gleiche Zweck erfüllt werden könnte (etwa deshalb, weil die Beseitigung des Sicherheitsmangels nicht sofort möglich ist). Das Gesetz enthält keine ausdrücklichen Bestimmungen über die allgemeinen Sicherungsmaßnahmen. Daraus kann nicht der Schluss gezogen werden, dass Fenster- und Türsicherungen, Häufigkeit von Anwesenheitskontrollen usw. nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 zulässig seien. Dass diese allgemeinen Einrichtungen und Maßnahmen der Anstalt zum Freiheitsentzug an sich gehören, ergibt sich schon daraus, dass das Gesetz nur „besondere Sicherungsmaßnahmen“ regelt (§ 88). Ein „Grenzfall“ ist die Verwendung der Sichtspione in den Haftraumtüren wegen des besonders belastenden Eindringens in die Privatsphäre des Gefangenen. Wenn deshalb nicht im Einzelfall die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 vorliegen, ist nach Ansicht des BGH (BGH JR 1992, 173 mit krit. Anm. Böhm) dem Gefangenen zu gestatten, den Spion zu verhängen. Die Vorschrift des § 4 Abs. 2 Satz 2 passt hier aber ebenso wenig wie bei der Frage, ob Bedienstete vor Betreten des Haftraums anklopfen müssen (BVerfG NStZ 1996, 511; § 3 Rdn. 4). Sowohl das Betreten des Haftraums wie die – weniger belastende – Einsichtnahme in diesen sind durch das Hausrecht der Vollzugsbehörde zu jeder Zeit gedeckt. Bei der Ausübung dieses Rechts sind allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ebenso wie das Schamgefühl und die Intimsphäre des Gefangenen zu beachten, was, von Eil- und Notfällen abgesehen, vorheriges Anklopfen erforderlich macht und die Verwendung des klassischen „Spions“, mit dessen Hilfe jede vor dem Haftraum befindliche Person, ohne dass dieser es bemerken kann, jederzeit ihn zu beobachten vermag, ausschließt. Auch das Anbringen eines Namensschildes an der Außenseite der Haftraumtür ist kein Fall des § 4 Abs. 2 Satz 2 (OLG Frankfurt NStZ 1995, 207; BVerfG ZfStrVo 1997, 111; vgl. auch § 144 Rdn. 2). Der Sachverhalt ist jetzt in § 182 Abs. 1 geregelt (§ 182 Rdn. 5), die früher streitige Frage der Verpflichtung des Gefangenen, einen Lichtbildausweis innerhalb der Anstalt mit sich zu führen (C/MD 2008 Rdn. 21), in § 180 Abs. 1 Satz 2.
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dd) In Theorie und Praxis ist bisher nicht ausreichend beachtet worden, dass die „Angstklausel“ – vielleicht gegen die Annahme derer, die ihre Einführung durchgesetzt haben – die Rechtsstellung der Gefangenen auch verstärkt haben könnte. Sie führt nämlich zum Verbot, Rechtsbeschränkungen durch analoge Heranziehung anderer Normen aus dem StVollzG oder aus anderen Gesetzen zu begründen. Analogie setzt das Bestehen einer Regelungslücke voraus. § 4 Abs. 2 regelt die den Gefangenen treffenden Rechtsbeschränkungen aber lückenlos. Entweder ergeben sie sich aus den besonderen Regelungen des Strafvollzugsgesetzes oder eben („soweit das Gesetz keine besondere Regelung enthält“) aus der „Angstklausel“. Vielleicht erweitert allerdings § 4 Abs. 2 Satz 2 auch insoweit die Möglichkeit der Auferlegung von Rechtsbeschränkungen, wenn man nämlich von einem allgemeinen Analogieverbot, soweit Rechtsbeschränkungen des Bürgers in Betracht kommen, ausgeht (so ließe sich BVerfG NStZ 1996, 615 interpretieren: Konzak NVwZ 1997, 872).
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Stellung des Gefangenen
§4
Jedenfalls können auf den Schriftverkehr zwischen Gefangenen innerhalb einer Anstalt die sich aus der Anwendung der für den Verkehr der Gefangenen mit Außenstehenden geltenden Vorschriften ergebenden Beschränkungen der §§ 28 bis 31 nicht analog angewendet werden, selbst wenn das, was auch zweifelhaft sein mag, von der Sache her angemessen wäre. Beschränkungen (sowohl ein generelles Verbot wie eine Inhaltskontrolle) sind vielmehr nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 zulässig (vgl. hierzu OLG Zweibrücken NStZ 1985, 141; OLG Dresden NStZ 1995, 151; OLG Koblenz NStZ 1999, 444: ein generelles Verbot dieses anstaltsinternen Schriftverkehrs ist nicht i. S. v. § 4 Abs. 2 Satz 2 „unerlässlich“). Das Analogieverbot gilt aber auch für die Heranziehung der §§ 14 Abs. 2, 70 Abs. 3 oder der §§ 48, 49 VwVfG in Fällen, in denen die Rücknahme einer einem Gefangenen erteilten Genehmigung oder Erlaubnis erfolgen soll, für die eine Rücknahme- oder Widerrufsmöglichkeit aber nicht ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist (Dauertelefongenehmigung; Ausstattung des Haftraums mit eigenen Sachen: OLG Zweibrücken NStZ 1994, 151 f; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2001, 312). Zur Umgehung des Analogieverbotes kann man sich auch nicht auf die Vorstellung berufen, eine allgemeine Regelung müsse es aus Gründen der Gleichbehandlung oder der Zweckmäßigkeit geben – so aber die h. L. und die überwiegende Rechtsprechung (etwa OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 31, 32 zur Ablösung eines Gefangenen von der Arbeit), vgl. hierzu § 14 Rdn. 22–25 – und der Gesetzgeber, der das Fehlen einer allgemeinen Regelung im StVollzG durchaus erkannt hat, aber eine Änderung nicht verwirklichen konnte, habe nur eine „Klarstellung“ für nötig gehalten (Perwein ZfStrVo 1996, 16, 19; BT-Drucks. 11/3694, S. 3, 16). Ein Widerruf oder eine Rücknahme kommen in solchen Fällen also nur in Betracht, wenn – gegebenenfalls zusätzlich zu den in den analog berücksichtigten Vorschriften enthaltenen Bedingungen – die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 im Einzelfall vorliegen (Kösling Die Bedeutung verwaltungsprozessualer Normen und Grundsätze für das gerichtliche Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz 1991, 232–235; vgl. auch Hauf 1994, 58–60). Die Durchführung eines geordneten Vollzuges ist auch mit dieser Einschränkung noch ausreichend gesichert. Schon unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (§ 14 Rdn. 11) hat der Gefangene eine ähnlich gesicherte Position gegen den Widerruf einer ihm erteilten Erlaubnis. Hat er sich durch Täuschung eine Erlaubnis erschlichen, deren Widerruf nicht nach § 4 Abs. 2 Satz 2 zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich ist, besteht meist die Möglichkeit, ihm wegen schuldhaften Verstoßes gegen seine in § 82 Abs. 1 Satz 2 normierten Pflichten im Wege des Disziplinarverfahrens den Gegenstand oder die erschlichene Erlaubnis jedenfalls für einen gewissen Zeitraum gem. § 103 zu entziehen. 3. Die Grundrechte der Gefangenen sind nur insoweit beschränkt, als das StVollzG 28 dies zulässt. Gem. § 196 schränkt das Gesetz Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG, die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit – Anwendung unmittelbaren Zwanges, Schusswaffengebrauch, Zwangsernährung, §§ 94–101 – und der Freiheit der Person, sowie Art. 10 Abs. 1 GG, Briefpost- und Fernmeldegeheimnis, ausdrücklich ein. Damit ist das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gewahrt. Soweit die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) beschränkt sind, weil die Insassen nicht beliebig Radio hören und fernsehen können und ihnen gem. § 68 Abs. 2 Teile von Zeitungen vorenthalten werden können, wenn sie etwa das Ziel des Vollzugs erheblich gefährden, bedurfte es eines besonderen Hinweises auf die Beschränkung eines Grundrechts nicht. Es steht unter dem Vorbehalt des Gesetzes, und das StVollzG ist ein solches allgemeines Gesetz nach Art. 5 Abs. 2 GG (BVerfG ZfStrVo 1981, 63; s. auch § 68 Rdn. 1). Die Gerichte müssen die Rechtseinschränkungen behutsam und unter Beachtung der Bedeutung dieses
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Informationsrechts aus Art. 5 GG vornehmen (OLG Hamburg ZfStrVo 1980, 59, 60; OLG Nürnberg ZfStrVo 1983, 190, 191). Soweit die durch den Freiheitsentzug behinderte Bewegungsfreiheit Voraussetzung zur Wahrnehmung von Grundrechten ist (Versammlungsfreiheit: Art. 8 GG; Freizügigkeit: Art. 11 GG), sind sie als spezifische Ausprägungen des Freiheitsgrundrechts automatisch eingeschränkt (C/MD 2008 Rdn. 16). Außerdem sind auch die nicht unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechte nicht „schrankenlos“, sondern nur im Rahmen der grundgesetzlichen Wertordnung gewährleistet (OLG Nürnberg ZfStrVo 1989, 374; zu Art. 4 GG vgl. Vor § 53 Rdn. 5). Ob freilich einem Gefangenen die Malerlaubnis unter der Bedingung erteilt werden darf, jede Darstellung von Gewalt sei ihm untersagt, ist nicht nur aus vollzugspädagogischen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen zweifelhaft (Matzke/Bartl zu OLG Nürnberg ZfStrVo 1990, 54; vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 21). Das BVerfG hat sich in mehreren Entscheidungen mit der Beachtung der Grundrechte im Strafvollzug befasst (Kruis/Cassardt 1995; Rotthaus 1996; Kruis/Wehowsky 1998) und so das Strafvollzugsrecht eindrucksvoll weiterentwickelt. Kritisch mag allenfalls angemerkt werden, dass grobe Beleidigungen („Reichsparteitagsgericht“: hierzu überzeugend OLG Bamberg NStZ 1994, 406, 407) im Lichte des Rechts auf freie Meinungsäußerung zu weitgehend toleriert werden (vgl. auch § 82 Rdn. 3), was obendrein, weil die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung anderer Grundrechte begründet war (BVerfG ZfStrVo 1995, 302, 303), nicht hätte erörtert werden müssen. Etwas Unbehagen bereitet die Annahme „objektiver Willkür“ bei Auslegung des Gesetzes (auch durch Rechtsbeschwerdegerichte!), womit sich das BVerfG im Ergebnis die Position eines Superrevisionsgerichts verschafft. Es hat z. B. den Gesetzesbegriff „auf seine Kosten“ in § 20 Abs. 2 – übrigens durchaus sachgerecht – so interpretiert, als lautete er „ohne der Vollzugsbehörde Kosten zu verursachen“ (BVerfG NStZ-RR 1997, 59, 60). So vernünftig das im konkreten Fall ist, so wenig leuchtet ein, dass das Fachgericht, das den Gesetzesbegriff eng dem Wortlaut entsprechend ausgelegt hat, damit „objektiv willkürlich“ entschieden haben soll. Da der einzelne Gefangene einen grundrechtlichen Anspruch darauf hat, dass die Erfordernisse seiner Resozialisierung bei ihn belastenden Maßnahmen angemessen berücksichtigt werden (Rdn. 1), kann jede gerichtliche Entscheidung, die eine solche Maßnahme der Vollzugsbehörde bestätigt, mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, so dass mindestens insoweit die besonderen Rechtsbeschwerdevoraussetzungen des § 116 im Ergebnis ausgehebelt sind. Neben den Grundrechten und teilweise über sie hinaus können sich Gefangene auch auf international verbriefte Menschenrechte berufen (vgl. hierzu Laubenthal 2008 Rdn. 33–39 und K/S-Kaiser 2002 § 3 Rdn. 19–27; C/MD 2008 Rdn. 14; Vor § 108 Rdn. 2.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 3 BayStVollzG lautet: „Die Behandlung umfasst alle Maßnahmen, die geeignet sind, auf eine künftige deliktfreie Lebensführung hinzuwirken. Sie dient der Verhütung weiterer Straftaten und dem Opferschutz. Die Behandlung beinhaltet insbesondere schulische und berufliche Bildung, Arbeit, psychologische und sozialpädagogische Maßnahmen, seelsorgerische Betreuung und Freizeitgestaltung. Art und Umfang der Behandlung orientieren sich an den für die Tat ursächlichen Defiziten der Gefangenen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „[. . .] Die Vorschrift konkretisiert zusammen mit den zu Art. 9 Abs. 1 Satz 2 zu erlassenden Verwaltungsvorschriften den Behandlungsbegriff, wobei weiterhin der Wissenschaft und Praxis die Fortentwicklung und Überprüfung verschiedener Behandlungsmethoden überlassen bleibt. Ziel der Behandlung ist
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Stellung des Gefangenen
§4
die künftige straffreie Lebensführung der Gefangenen in sozialer Verantwortung. Zur Behandlung der Gefangenen im Strafvollzug gehört es auch, diese zu befähigen, sich mit der Tat, ihren Ursachen und Folgen für das Opfer auseinanderzusetzen (in diesem Sinn auch OLG Karlsruhe, StraFo 2005, 218; K/S-Schöch 2002 S. 233 f). [. . .] Mit wissenschaftlich erprobten und anerkannten Verfahren soll den Gefangenen eine dem von ihnen ausgehenden Risiko, ihren jeweiligen delinquenzrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen und Problemen sowie ihren persönlichen Möglichkeiten angemessene Behandlung zuteil werden. [. . .]“ (LTDrucks. 15/8101, 49 f). Abs. 1 des Art. 6 BayStVollzG lautet: „Die Gefangenen sollen an der Gestaltung ihrer Behandlung und an der Erfüllung des Behandlungsauftrags mitwirken. Ihre Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern.“ Abs. 2 entspricht § 4 Abs. 2 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es: „[. . .] Damit wird entsprechend der bisherigen bayrischen Vollzugspraxis ein „fordernder Vollzug“ festgeschrieben. Entsprechend der bisherigen Regelung in § 4 StVollzG trifft die Gefangenen keine Mitwirkungspflicht [. . .]“ (LTDrucks. 15/8101, 50). 2. Hamburg § 4 HmbStVollzG lautet: „Den Gefangenen werden im Rahmen eines an ihren persön- 30 lichen Erfordernissen orientierten Vollzugs- und Behandlungsprozesses alle vollzuglichen Maßnahmen und therapeutischen Programme angeboten, die geeignet sind, ihnen Chancen zur Förderung ihrer Eingliederung in ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu vermitteln und ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe zu stärken (Behandlung). Die Behandlung dient der Prävention und dem Schutz der Opfer von Straftaten.“ In der Gesetzesbegründung des bisherigen HmbStVollzG zu dem gleichlautenden § 3 a. F. heißt es: „Die Vorschrift hebt die besondere Bedeutung der Prävention, d. h. der Vorbeugung gegen weitere Straftaten, und des Opferschutzes für den Prozess einer erfolgreichen Resozialisierung hervor. Der in der Vergangenheit im Strafvollzug vernachlässigte Ansatz des Opferschutzes widerspricht der Resozialisierungsaufgabe des Staates nicht, sondern ist im Gegenteil notwendiger Bestandteil einer zielorientierten Umsetzung der Behandlung oder der Erziehung der Gefangenen. Absätze 2 und 3 enthalten konkrete Vorgaben für die Durchführung der Behandlung oder der Erziehung. Absatz 2 nimmt dabei ausdrücklich Bezug auf den im Vollzugsplan – § 8 – konkretisierten, an den persönlichen Erfordernissen des einzelnen Gefangenen orientierten Vollzugs- und Behandlungsprozess“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 31). Abs. 1 des § 5 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen sind verpflichtet, an der Gestaltung ihrer Behandlung und an der Erfüllung des Vollzugsziels mitzuwirken. Ihre Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern. Abs. 2: Die Bereitschaft zur Mitwirkung kann durch Maßnahmen der Belohnung und Anerkennung gefördert werden, bei denen die Beteiligung an Maßnahmen, wie auch besonderer Einsatz und erreichte Fortschritte angemessen zu berücksichtigen sind.“ Abs. 3 entspricht § 4 Abs. 2 StVollzG. Abs. 4 lautet: „Vollzugsmaßnahmen sollen den Gefangenen erläutert werden.“ § 5 HmbStVollzG lehnt sich an § 4 StVollzG an, statuiert jedoch eine Mitwirkungspflicht des Gefangenen. Die zunächst im bisherigen HmbStVollzG vorgenommene Umorientierung zum so genannten Chancenvollzug wird im neuen HmbStVollzG wieder eingeschränkt. In der Gesetzesbegründung heißt es: „[. . .] Zwar bleibt es bei einer Pflicht der Gefangenen zur Mitwirkung als Teil des Resozialisierungskonzepts. Bei vielen Gefangenen
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
kann nicht als selbstverständlich angenommen werden, dass sie willens und in der Lage sind, an der Erreichung des Vollzugsziels auf freiwilliger Basis mitzuwirken. Die Anstalt stellt eine Vielzahl von Angeboten bereit. Sie nimmt dadurch, dass sie von den Gefangenen Mitwirkung verlangt, diese zugleich als eigenverantwortliche Persönlichkeiten ernst. Sie hat deren Bereitschaft zur Mitwirkung zu entwickeln und zu unterstützen. [. . .] Die Nichtbefolgung der Mitwirkungspflichten ist insbesondere für die Frage relevant, ob Vollzugslockerungen gewährt werden (§ 12 Absatz 2). [. . .] Gleichzeitig verzichtet der Entwurf aber auf die Festlegung, dass ganz oder teilweise nicht mitwirkenden Gefangenen nur Maßnahmen angeboten werden, die ihrer Mitwirkung ganz oder teilweise nicht bedürfen. Auch bei Behandlungsunwilligen – unter denen sich mitunter die gefährlichsten Wiederholungstäter befinden – muss immer wieder versucht werden, diese mit sinnvollen Maßnahmen zu erreichen. [. . .] § 5 Absatz 2 HmbStVollzG sieht vor, Anreize zur Mitwirkung auch durch Maßnahmen der Anerkennung, die die Beteiligung an entsprechenden Maßnahmen, wie auch besonderes Engagement und erreichte Fortschritte angemessen berücksichtigen, zu schaffen. Solche positiven Anreizsysteme können als Teil der Gesamtkonzeption sinnvoll eingesetzt werden, um Anstöße zu Verhaltensänderungen zu geben und Umdenkprozesse einzuleiten. [. . .] Denkbar sind Anerkennungen und Belohnungen im Leistungsbereich, bei der Freizeitgestaltung, in den Kontaktmöglichkeiten und durch andere geeignete Maßnahmen. Die Vorschrift beachtet insoweit Nummer 70 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen. Gefangenen sollen Erfolgserlebnisse vermittelt werden, die ihr Selbstwertgefühl und ihre Motivation nachhaltig stärken (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 2 und 52). 3. Niedersachsen
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§ 3 NJVollzG lautet: „Die oder der Gefangene und die oder der Sicherungsverwahrte unterliegen den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen ihrer oder seiner Freiheit. Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, können ihr oder ihm die Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich sind. Die Sicherheit der Anstalt umfasst auch den Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der Gefangenen und Sicherungsverwahrten.“ Mit dem neu formulierten § 3 Satz 2 werden die bisherigen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Generalklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 in zweifacher Hinsicht ausgeweitet. Zum einen wurde anstelle des Begriffs „unerlässlich“ die Formulierung „erforderlich“ verwendet, zum anderen wird die Schwelle des Schwerwiegenden bzgl. der Störungen der Ordnung aufgegeben. Darüber hinaus gehört nunmehr neben der inneren Sicherheit der Anstalt auch der Schutz der Allgemeinheit zur Sicherheit der Anstalt (was der bisherigen Rechtslage entspricht, s. Rdn. 21, § 3 NJVollzG). In der Gesetzesbegründung heißt es: „[. . .] Schwer wiegende Eingriffe in die Grundrechte der Gefangenen und Sicherungsverwahrten können hierauf jedoch nicht gestützt werden. Hierfür bestehen, entsprechend der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG, spezielle Regelungen im Gesetz. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, warum die für Gefangene und Sicherungsverwahrte geltende Generalklausel mit erheblich strengeren Tatbestandsvoraussetzungen versehen sein müsste als die für alle freien Bürgerinnen und Bürger geltende polizeirechtliche Generalklausel in § 11 Nds. SOG, die ähnlich formuliert ist wie die für § 4 Satz 2 vorgesehene Regelung. Die strenger formulierte Regelung in § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG sollte seinerzeit der Rechtsprechung des BVerfG zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für Eingriffe in die Rechte von Strafgefangenen Rechnung tragen, nach der Generalklauseln zwar zulässig,
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§4
aber möglichst eng zu begrenzen sind (BVerfGE 33, 1). In der Praxis hat sich indes gezeigt, dass die Anwendung der Generalklausel von der Rechtsprechung an derart hohe Hürden geknüpft wurde, dass die Regelung de facto leer läuft. Mit der nunmehr vorgesehenen Formulierung werden die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Generalklausel verringert, um der Regelung einen Anwendungsbereich zu eröffnen. [. . .]“ (LT-Drucks. 15/3565, 84). § 4 NJVollzG lautet: „Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen ist diejenige zu treffen, die die Gefangene oder den Gefangenen oder die Sicherungsverwahrte oder den Sicherungsverwahrten voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Sie ist nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder nicht mehr erreicht werden kann.“ § 6 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG lautet: „Gefangene sollen an der Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 mitwirken.“ Satz 2 ist inhaltsgleich und nahezu wortgleich mit § 4 Abs. 1 Satz 2 StVollzG. Abs. 2 lautet: „Der oder dem Gefangenen sollen geeignete Maßnahmen angeboten werden, die ihr oder ihm die Chance eröffnen, sich nach Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft einzugliedern. Kann der Zweck einer solchen Maßnahme dauerhaft nicht erreicht werden, insbesondere weil die oder der Gefangene nicht hinreichend daran mitarbeitet, so soll diese Maßnahme beendet werden.“ In der Gesetzesbegründung zu § 6 NJVollzG heißt es: „§ 6 greift die ständige Rechtsprechung des BVerfG auf, nach der den Strafgefangenen die Fähigkeit und der Wille zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden sollen; sie sollen lernen, sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken bestehen zu können (BVerfGE 35, 202, 235 f; 98, 169). [. . .] Die Erreichung des Vollzugszieles setzt die Mitwirkung der Gefangenen voraus. § 6 erlegt deshalb dem Gefangenen als Sollvorschrift auf, daran mitzuwirken, fähig zu werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Diese Pflicht ist zwar disziplinarisch nicht durchsetzbar. Bei allen Gefangenen, die sich dem Mitwirkungsgebot entziehen, wird dies jedoch bei den nach diesem Gesetz anzustellenden Prognoseentscheidungen zu berücksichtigen sein, insbesondere bei der Verlegung in den offenen Vollzug gemäß § 13 Abs. 2 des Entwurfes sowie der Gewährung von Vollzugslockerungen nach § 14, ferner bei den Stellungnahmen der Vollzugsbehörde gemäß § 57 StGB. § 6 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs stellt der Mitwirkungspflicht der Gefangenen die Verpflichtung der Vollzugsbehörde gegenüber, Angebote der Förderung, Qualifizierung und Behandlung bereitzuhalten. Soll die soziale Integration nachhaltig sein, müssen die Angebote so ausgewählt werden, dass die Gefangenen sie objektiv brauchen, sie von ihren Fähigkeiten her auch zu nutzen in der Lage sind und das auch wollen. [. . .]“ (LT-Drucks. 15/3565, 88). Vgl. auch Rdn. 8.
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§5
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ZWEITER TITEL
Planung des Vollzuges §5 Aufnahmeverfahren (1) Beim Aufnahmeverfahren dürfen andere Gefangene nicht zugegen sein. (2) Der Gefangene wird über seine Rechte und Pflichten unterrichtet. (3) Nach der Aufnahme wird der Gefangene alsbald ärztlich untersucht und dem Leiter der Anstalt oder der Aufnahmeabteilung vorgestellt. VV Durch die ärztliche Untersuchung soll der Gesundheitszustand des Gefangenen einschließlich der Körpergröße, des Körpergewichts und des Zustands des Gebisses festgestellt werden; insbesondere ist zu prüfen, ob der Gefangene vollzugstauglich, ob er ärztlicher Behandlung bedürftig, ob er seines Zustandes wegen anderen gefährlich, ob und in welchem Umfang er arbeitsfähig und zur Teilnahme am Sport tauglich ist und ob gesundheitliche Bedenken gegen die Einzelunterbringung bestehen. Das Ergebnis der Untersuchung ist schriftlich niederzulegen. Schrifttum: Bennefeld-Kersten Suizide in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2000 bis 2005. Celle: Kriminologischer Dienst 2006; Goffman Asyle, Frankfurt a. M. 1973; Harbordt Die Subkultur des Gefängnisses, 2. Aufl., Stuttgart 1972; Hürlimann Führer und Einflussfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs, Pfaffenweiler 1993; Hötter Der Vollzugsplan – Ein Instrument zur Verbesserung des Anstaltsklimas, in: ZfStrVo 1993, 143 f; Otto Nichtmitarbeitsbereite Gefangene und subkulturelle Haltekräfte, in: KrimPäd 1998, 34 ff; Schulz von Thun Miteinander reden: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981; Weis Zur Subkultur der Strafanstalt, in: Schwind/Blau 239 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Rechtliche und behandlungsmäßige Ausgestaltung des Aufnahmeverfahrens . . . . . . . . 2. Umfang des Aufnahmeverfahrens II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Abwesenheit anderer Gefangener im Aufnahmeverfahren . . . . .
1–3
1 2–3 4–9 4–5
Rdn. 2. Information des Gefangenen im Aufnahmeverfahren . . . 3. Ärztliche Untersuchung. Vorstellung beim Anstaltsleiter . III. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . . . . . .
6–7
. 8–9 . 10–12 . 10 . 11 . 12
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Das Aufnahmeverfahren ist im StVollzG im Gegensatz zu KE bzw. AE-StVollzG nicht im Einzelnen geregelt. Die Vollzugsbehörde gestaltet es in inhaltlicher Hinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen (OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 310). Das StVollzG legt lediglich fest, was für die Rechtsstellung des Gefangenen bzw. für eine behandlungsorientierte Ausgestaltung des Aufnahmeverfahrens maßgeblich ist (zum Behandlungsziel § 4
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Aufnahmeverfahren
§5
Rdn. 6). Welche Formalitäten in der Aufnahmeverhandlung durchzuführen sind (Personalblatt, Sozialversicherung, Haftkosten, Strafzeitberechnung, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Mitteilungen an Einweisungsbehörde, Landeskrimininalamt, Ausländerbehörde und Jugendamt, Aufnahmeuntersuchung, Vorstellung zum Anstaltsleiter, Habe, Lebenslauf, Fragebogen) sind in der VGO festgelegt. Nr. 33 VGO regelt auch den Sonderfall der Aufnahme auf freiwilliger Grundlage gem. § 125 StVollzG. Die Aufnahme von Verurteilten über die Belegungsfähigkeit hinaus darf die Vollzugsbehörde ablehnen (C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 5; s. § 146 Rdn. 7). Die in der Aufnahmeverhandlung erhobenen Daten werden Bestandteil einer öffentlichen Urkunde. Falsche Angaben sind deshalb nicht nur eine Ordnungswidrigkeit (§ 111 OwiG), sondern als mittelbare Falschbeurkundung nach § 271 StGB strafbar (Böhm 2003 Rdn. 160; Seebode 1997, 63). Für den Gefangenen ist der erste Schritt in den Vollzug von entscheidender Bedeutung. Die Art der Aufnahme kann für das vollzugliche Verhalten und die Mitwirkung an der Behandlung entscheidend sein (Seebode 1997, 61). Der Eintritt in eine „totale Institution“ ist mit Erniedrigungen, Demütigungen und Entwürdigungen, „Degradierungszeremonien“ (K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 315.) verbunden, die zum Verlust der gewohnten Rolle führen (Goffman 1973). Der „Statuswandel“ wird durch die mit Ent- und Bekleidung verbundene Aufnahmeprozedur, die Wegnahme der persönlichen Habe und die (leihweise) Aushändigung von Ersatzgegenständen eingeleitet. Besonders bei erstmalig Inhaftierten kann dies zu intensiv erlebter Unsicherheit und Angst führen. Die Suizidgefährdung kurz nach der Aufnahme ist besonders groß (Bennefeld-Kersten 2006). Suizid ist in westlichen Gefängnissen die häufigste Todesursache; die Suizidrate liegt wesentlich höher als bei in Freiheit lebenden Menschen (§ 56 Rdn. 5; § 88 Rdn. 15; Walter 1999 Rdn. 270). Wenn auch das Aufnahmeverfahren auf die Geschäftszeiten der Verwaltung beschränkt bleibt, so ist ein Zugangsgespräch zur Abklärung der Suizidgefährdung mit entsprechenden Reaktionen (Krisenintervention und Gemeinschaftsunterbringung), zur Reduzierung subkultureller Einflüsse und zur Mitwirkung i. S. des Vollzugsziels (§ 4 Rdn. 4) unbedingt am Aufnahmetag, vor der Zuweisung eines Haftraumes bzw. einer Wohngruppe, geboten. Qualitative Verbesserungen der Haftbedingungen (ausreichender Personalschlüssel, keine Überbelegung, Nachtdienste) können die Anzahl der Selbsttötungen senken (Walter 1999 Rdn. 270). Wie jede Form der Kommunikation haben die rituellen Handlungen des Aufnahmeverfahrens neben dem sachlichen Aspekt noch weitere Botschaften (s. Schultz von Thun 1981): Die Institution offenbart sich, sie sagt etwas über sich selbst aus, sie definiert die Beziehung zu dem neuen Insassen und sie vermittelt Erwartungen. Diese kritische und prägende Phase bietet grundsätzlich die Chance, den neu aufgenommenen Gefangenen an die Anstaltsregeln, die Vollzugsziele sowie Personen zu binden und die Vermittlung von Sicherheit, Zugehörigkeit und neuer Identität nicht der Gefangenensubkultur zu überlassen. Der Schutz der Intimsphäre (§ 5 Abs. 1) drückt sich durch das Verbot der Anwesenheit anderer Gefangener aus. Zur praktischen Bedeutung vgl. Rdn. 5 f. Unabhängig davon, ob § 5 Abs. 1 notwendig war oder als gesetzliche Vorschrift zu hoch eingestuft ist (so Grunau/ Tiesler 1982 Rdn. 1), kommt es entscheidend darauf an, den Gefangenen bei den mit dem Aufnahmeverfahren verbundenen Entäußerungen wirksam zu schützen (Rdn. 4 ff). Zum Schutz des Gefangenen bei Erhebung personenbezogener Daten s. § 179 Rdn. 4 ff. 2. Über den Umfang des Aufnahmeverfahrens bestehen unterschiedliche Auffassun- 2 gen. Während Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1 hierin nur die Vorgänge von der Zuführung zur Vollzugsgeschäftsstelle bis zur Umkleidung sieht, dauert nach C/MD 2008 Rdn. 2 und AKFeest/Joester 2006 Rdn. 3 das Aufnahmeverfahren von der Entscheidung über die Aufnahme in die Anstalt bis zur Vorstellung beim Leiter der Anstalt bzw. der Aufnahmeabteilung mit
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ärztlicher Untersuchung und Unterrichtung über Rechte und Pflichten (Rdn. 8). Die Abgabe und Registrierung der Habe gehört zum Aufnahmeverfahren und erfordert die Abwesenheit von Mitgefangenen (KG Berlin NStZ 2004, 516 f). 3 AE-StVollzG fordert nicht für das gesamte Aufnahmeverfahren die Abwesenheit anderer Gefangener, sondern lediglich für die ärztliche Untersuchung und die Einkleidung. AEStVollzG legt auf eine Beschleunigung des Ablaufs des Aufnahmeverfahrens wert und setzt dann Schwerpunkte bei der Durchführung der Behandlungsuntersuchung (§ 6 Rdn 8 ff) und bei der Aufstellung des Vollzugsplans (§ 7 Rdn. 2), dort als Behandlungsplan bezeichnet.
II. Erläuterungen 4
1. Das in § 5 Abs. 1 festgelegte Recht des Gefangenen, das Aufnahmeverfahren ohne die Gegenwart anderer Gefangener zu absolvieren, soll einerseits die Verletzung der Intimsphäre des neu aufgenommenen Gefangenen wie auch andererseits eine unkontrollierte Einflussnahme auf den Neuankömmling durch bereits länger einsitzende Gefangene verhindern, um damit einer unerwünschten raschen Anpassung an die Subkultur (§ 3 Rdn. 12) in einer JVA entgegenzuwirken (zur Gefangenensubkultur Böhm 2003 Rdn. 170– 177; Harbordt 1972; Hürlimann 1993; K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 15–17; Walter 1999 Rdn. 255–266; Weis 1988; zu subkulturellen Aktivitäten Gefangener osteuropäischer Herkunft s. Otto 1998). Gleichzeitig soll dadurch auch ein möglichst unbeeinflusster Kontakt des Gefangenen zu den Mitgliedern des Vollzugsstabes hergestellt werden (C/MD 2008 Rdn. 1). 5 Der mit der Vorschrift zu § 5 Abs. 1 angestrebte Schutz der Intimsphäre des Gefangenen wird in der Praxis selbst bei Vorliegen günstiger baulicher, räumlicher und personeller Verhältnisse schwer zu realisieren sein. Unter dem informellen Druck von Mitgefangenen (Weis 1988, 247 ff), evtl. noch verstärkt durch Überbelegung, wird der Neuankömmling oft gezwungen, seine persönlichen Verhältnisse zu offenbaren. Dem kann nur durch organisatorische Maßnahmen entgegengewirkt werden, die eine unmittelbare und ständige Betreuung der Zugänge in kleinen Gruppen durch Bedienstete garantieren (Hötter 1993, 143). Dadurch wird auch das Informationsbedürfnis (Weis 1988, 241 ff) des neu eintretenden Gefangenen über offizielle Kontakte befriedigt. Ein der Absicht des § 5 (Schutz vor Zwang zur persönlichen Preisgabe; Information über die neue Situation; Entwicklung von positiven Beziehungen zum Stab) entsprechendes Aufnahmeverfahren erfordert eine straffe und stets kontrollierte organisatorische Planung.
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2. § 5 Abs. 2 formuliert den Anspruch des Gefangenen auf Unterrichtung über seine Rechte und Pflichten. Zur Rechtsstellung der Gefangenen § 4 Rdn. 12 ff. Erst eine umfassende Information hierüber vermittelt dem Gefangenen Sicherheit in seinem neuen Status (s. Rdn. 1) und kann Gefühle der Unsicherheit mit daraus folgender Aggressionsentwicklung und Orientierung an Subkulturführern verhindern (§ 72 Rdn. 3–5). Die Pflicht zur Unterrichtung des Gefangenen ist nach anderer Auffassung bereits erfüllt, wenn ihm ein Exemplar des Strafvollzugsgesetzes und der Hausordnung ausgehändigt worden ist (C/MD 2008 Rdn. 3; kritisch dazu Böhm 2003 Rdn. 163). Auf Antrag ist dem Gefangenen ein Gesetzestext auszuhändigen, auf den er jederzeit zurückgreifen kann (OLG Celle NStZ 1987, 44; 64. Sitzung Strafvollzugsausschuss der Länder 27.–31.10.1986). Zumindest die dauerhafte Verfügbarkeit (z. B. in der Anstaltsbibliothek) ist zu gewährleisten. Die obligatorische Aushändigung ohne Antrag erfolgt offenbar nirgendwo (AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 10). Strafvollzugsgesetz und Hausordnung konkurrieren nicht miteinander (s. § 161), da die Hausordnung nur Teilbereiche des Vollzuges regelt. Zu der Rechtsnatur der Hausordnung
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Aufnahmeverfahren
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§ 161 Rdn. 2, 4. Es genügt nicht, dem Gefangenen lediglich Informationen zum Strafvollzugsgesetz auszuhändigen. Mit dem Text des Strafvollzugsgesetzes und der Hausordnung können Gefangene meist wenig anfangen. Laubenthal 2008 Rdn. 314 sieht dennoch in der Aushändigung des Gesetzestextes die gesetzliche Informationspflicht in erster Linie erfüllt. Die Erwägung, dass der bloße Gesetzestext zu Missverständnissen auf Grund von Sprachbarrieren und in der Folge zu neuen Konflikten, Ängsten und Aggressionen führen könnte, zieht das Erfordernis der Aushändigung nicht in Zweifel, sondern macht zusätzliche Erläuterungen notwendig (OLG Celle NStZ 1987, 44). Die Verpflichtung zur Unterrichtung ist nicht einmalig – zumal die Aufnahmefähigkeit in der oft als belastend erlebten Aufnahmephase begrenzt und selektiv ist – sondern muss ein ständiges Angebot der JVA sein, das auch eine möglichst umfassende Darstellung der Organisation, der alltäglichen Abläufe und des Behandlungsangebots einschließt (AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 11; § 72 Rdn. 3–5). Unter den Rechten und Pflichten, über die der Gefangene nach § 5 Abs. 2 zu unterrich- 7 ten ist, differenzieren C/MD 2008 Rdn. 3 zutreffend zwischen denjenigen, die die Stellung des Gefangenen in der Binnenstruktur des Vollzuges betreffen (etwa: Anfechtungsmöglichkeit von Vollzugsmaßnahmen, OLG Frankfurt NStZ 1989, 144), und denjenigen, die sich aus den Beziehungen zwischen ihm und der Gesellschaft außerhalb des Vollzuges ergeben. Die Unterrichtung muss nicht ohne die Gegenwart anderer Gefangener geschehen (Seebode 1997, 63). Gruppenveranstaltungen in der Aufnahmephase, in denen keine personenbezogenen Daten offenbart werden, sind nicht nur ökonomisch, sondern auch sinnvoll, weil das umfassende Verständnis durch die Gruppeninteraktion gefördert wird. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, dem aufgenommenen Gefangenen Hilfe bei der Ordnung seiner Angelegenheiten zu gewähren (s. § 72). 3. § 5 Abs. 3 legt das Recht des Gefangenen auf ärztliche Untersuchung und auf die 8 Vorstellung beim Anstaltsleiter oder dem Leiter der Aufnahmeabteilung fest. Zweck der Vorschrift ist die Sicherstellung der Voraussetzungen für eine das Leben und die Gesundheit erhaltende Behandlung im Vollzug. Sie ist für die Vollzugsbehörde auch ein Schutz vor möglichen späteren Schadensersatzansprüchen aus Haftfolgeschäden. Für den Gefangenen bildet sie umgekehrt die Grundlage für etwaige Ansprüche (C/MD 2008 Rdn. 4). Die ausführlichen VV Nr. 1 zu § 5 besagen u. a., dass die Untersuchung durch einen Arzt vorgenommen werden muss. Eine Untersuchung durch Beamte des Sanitätsdienstes genügt nicht (C/MD 2008 Rdn. 4). Die VV legen die Ziele der ärztlichen Untersuchung fest. Dazu gehört auch eine Einschätzung der Suizidgefährdung (Rdn. 1; Seebode 1997, 66), die bei der Beurteilung, ob Bedenken gegen eine Einzelunterbringung bestehen, zu berücksichtigen ist. Nach § 101 Abs. 2 kann die ärztliche Untersuchung auch zwangsweise durchgeführt werden, allerdings nicht mit Hilfe eines körperlichen Eingriffs (§ 101 Rdn. 31). Zu ihrer Durchführung hatten RE- und AE-StVollzG eine Frist von 24 Stunden vorgeschrieben. Die alsbaldige ärztliche Untersuchung und Vorstellung beim Leiter der Anstalt oder der Aufnahmeabteilung ist als Aufforderung zu verstehen, das Aufnahmeverfahren zu beschleunigen. An den unbestimmten Rechtsbegriff „alsbald“ sind strenge Maßstäbe anzulegen. Eine Frist von drei Tagen sollte auf keinen Fall überschritten werden (C/MD 2008 Rdn. 6). Mit der Vorstellung beim Anstaltsleiter soll das Aufnahmeverfahren abgeschlossen 9 werden. Die Einhaltung dieser Reihenfolge ist nicht zwingend. Die Vorstellung sollte sich nicht nur auf eine rein formale Begrüßung beschränken. Nach C/MD 2008 Rdn. 5 gehört die persönliche Begegnung mit dem „Hausherrn“ zum Kern des Aufnahmeverfahrens. Eine sinnvolle Verbindung von gründlicher Information und Diskussion über das Strafvollzugsgesetz innerhalb einer Zugangsgruppe mit der Vorstellung beim Anstaltsleiter (Rdn. 7)
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§5
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
fördert das Einleben des Gefangenen und sein Vertrautwerden mit den Verhältnissen in der JVA (ähnlich AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 11, 13). Dass ein Anstaltsleiter alle neu aufgenommenen Gefangenen tatsächlich persönlich kennenlernt, ist bei der Tendenz zu großen Vollzugsanstalten und Zusammenschlüssen kleinerer Anstalten unter einer Anstaltleitung bei oft mehr als 1000 Aufnahmen pro Jahr allerdings unrealistisch. Die landesrechtlichen Regelungen bzw. Landesgesetze schreiben insofern die übliche Praxis fest, dass diese Aufgabe delegiert werden kann (s. dort).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 7 BayStVollzG entspricht im Wesentlichen § 5 StVollzG. Abs. 1 hebt das Persönlichkeitsrecht der Gefangenen hervor, das in besonderem Maße zu wahren ist, weil die Situation in der ersten Phase der Inhaftierung besonders belastend ist (vgl. LT-Drucks. 15/8101, S. 51). Dass beim Aufnahmeverfahren andere Gefangene nicht mehr zugegen sein dürfen, ist anders als im StVollzG nicht besonders geregelt, ergibt sich aber aus Abs. 1. Ausnahmsweise kann bei sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten die Hilfe eines oder einer sorgfältig ausgesuchten Mitgefangenen in Anspruch genommen werden. Die Vorschrift, die Gefangenen über ihre Rechte und Pflichten zu belehren (Abs. 2), wird ergänzt durch die Reglung in Art. 184 Abs. 3, wonach sie einen Abdruck der Hausordnung erhalten (vgl. § 161 StVollzG). Das Zugangsgespräch (Vorstellung beim Anstaltsleiter oder dem Leiter der Aufnahmeabteilung) kann – anders als in § 5 Abs. 3 – auch von einem Vollzugsbediensteten geführt werden, der vom Anstaltsleiter bestimmt wird (vgl. LT-Drucks. 8101, S. 51). Durch diese Regelung kann sicher gestellt werden, dass sofort nach der Aufnahme – auch außerhalb der üblichen Verwaltungsdienstzeiten – ein Gespräch geführt wird, das Orientierung gibt und Gefährdungen (Suizid, Gewalteskalationen) vorbeugt. 2. Hamburg
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§ 6 HmbStVollzG entspricht § 5 StVollzG. Abs. 1 fordert ein „unverzügliches“ Aufnahmegespräch und eine „umgehende“ ärztliche Untersuchung, nicht nur wie das StVollzG eine „alsbaldige“. Das Aufnahmegespräch ist nicht zwingend vom Anstaltsleiter oder Leiter der Aufnahmeabteilung zu führen. Noch deutlicher als das BayStVollzG fordert die Regelung, dem aufgenommenen Gefangenen sofortige Orientierung zu geben und präventiv Maßnahmen zur Abwehr von Selbst- und Fremdgefährdungen zu ergreifen. Auch wenn keine Fristen genannt werden, steht die Anstalt ggf. deutlicher in der Pflicht, Begründungen für Versäumnisse zu liefern (s. Arloth 2008 § 6 HmbStVollzG). Abs. 2 fasst alle im Zuge der Aufnahme bedeutsamen Vorgänge, auch solche, die das StVollzG an anderer Stelle regelt (vgl. § 72 StVollzG), enumerativ zusammen und strukturiert damit das Aufnahmeverfahren ganzheitlich neu. § 6 Abs. 2 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen werden bei der Aufnahme 1. über ihre Rechte und Pflichten, insbesondere über ihre Pflicht zur Mitwirkung (§ 5 Absatz 1) und über die Möglichkeiten der Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung unterrichtet, 2. darin unterstützt, die notwendigen Maßnahmen für hilfsbedürftige Angehörige zu veranlassen und ihre Habe außerhalb der Anstalt sicherzustellen“. Abs. 3 entspricht § 5 Abs. 1 StVollzG. Andere Gefangene dürfen beim Aufnahmeverfahren „in der Regel“ nicht zugegen sein.
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3. Niedersachsen
12 § 8 NJVollzG entspricht im Wesentlichen § 5 StVollzG. Abs. 1 entspricht § 5 Abs. 2 StVollzG. Abs. 2 Satz 1 sieht eine Verpflichtung zur Durchsuchung der Gefangenen und ihrer Sachen bei der Aufnahme vor und schreibt damit die gängige Praxis gesetzlich fest. Abs. 2 Satz 2 fordert ein „unverzügliches“ Aufnahmegespräch und – wie das StVollzG – eine „alsbaldige“ ärztliche Untersuchung. Das Aufnahmegespräch ist nicht zwingend vom Anstaltsleiter oder Leiter der Aufnahmeabteilung zu führen. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Das Zugangsgespräch knüpft an die Unterrichtung nach Abs. 1 an. Es vertieft das Wissen der neu aufgenommenen Gefangenen, wie sich ihr Alltag künftig unter den Bedingungen der Unfreiheit gestalten wird. Darüber hinaus dient es der Feststellung von persönlichen Schwierigkeiten und Problemen der neu aufgenommenen Gefangenen. Insbesondere dient es der Feststellung, ob der häufig mit der Inhaftierung einhergehende Bruch in der Lebenslinie nicht zu einer so starken Belastung der Inhaftierten geführt hat, dass die Gefahr einer Selbsttötung oder Selbstverletzung vorliegen könnte. Deshalb ist das Zugangsgespräch auch am Zugangstag zu führen, um solche Gefährdungen nach Möglichkeit rechtzeitig erkennen zu können“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 90). Abs. 3 greift die Regelung des § 5 Abs. 1 auf, lässt aber aus Gründen der Praxis im Interesse ausländischer Gefangener eine Übersetzung der Gesprächsinhalte durch andere Gefangen zu. Er lautet: „Während des Aufnahmeverfahrens dürfen andere Gefangene nicht anwesend sein. Erfordert die Verständigung mit der oder dem aufzunehmenden Gefangenen die Zuziehung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers, so ist diese unverzüglich zu veranlassen. Ist die sofortige Verständigung mit der oder dem aufzunehmenden Gefangenen in ihrem oder seinem Interesse oder zur Gewährleistung der Sicherheit der Anstalt erforderlich, so können andere Gefangene zur Übersetzung herangezogen werden, wenn die Zuziehung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers nach Satz 2 nicht rechtzeitig möglich ist“. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt: „Die Zuziehung anderer Gefangener muss aber die seltene Ausnahme bilden; die Regel darf nicht aus Gründen der Bequemlichkeit oder zur Einsparung von Dolmetscherkosten durchbrochen werden“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 91).
§6 Behandlungsuntersuchung, Beteiligung des Gefangenen (1) Nach dem Aufnahmeverfahren wird damit begonnen, die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Gefangenen zu erforschen. Hiervon kann abgesehen werden, wenn dies mit Rücksicht auf die Vollzugsdauer nicht geboten erscheint. (2) Die Untersuchung erstreckt sich auf die Umstände, deren Kenntnis für eine planvolle Behandlung des Gefangenen im Vollzuge und für die Eingliederung nach seiner Entlassung notwendig ist. Bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches verurteilt worden sind, ist besonders gründlich zu prüfen, ob die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt angezeigt ist. (3) Die Planung der Behandlung wird mit dem Gefangenen erörtert.
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VV Bei einer Vollzugsdauer bis zu einem Jahr ist eine Behandlungsuntersuchung in der Regel nicht geboten. Schrifttum: Adler/Sonnabend Grundzüge einer kognitiv-behavioralen Therapie von Sexualstraftätern im Justizvollzug, in: Praxis der Rechtspsychologie 1998, 30 ff; Berner/Becker „Sex Offender Treatment Programme“ (SOTP) in der Sozialtherapeutischen Abteilung Hamburg-Nesselstraße, in: Rehn/ Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.) 2001, 206 ff; Berner/Briken/Hill Sexualstraftäter behandeln mit Psychotherapie und Medikamenten, Köln 2007; Born/Conzalez Cabeza „Psychopathy“ – Entwurf eins Behandlungskonzepts, in: Müller-Isberner/Conzalez Cabeza (Hrsg.), Forensische Psychiatrie, Mönchengladbach 1998, 99 ff; Boetticher/Kröber/Müller-Isberner/Böhm/Müller-Metz Mindestanforderungen für Prognosegutachten, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2007, 90 ff; Dahle Therapiemotivation hinter Gittern. Regensburg 1995; ders. Psychologische Kriminalprognose. Herbolzheim 2005; ders. Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose, in: Kröber u. a. (Hrsg.) 2006. 1 ff; ders. Aktuarische Prognoseinstrumente, in: Volbert/Steller (Hrsg.) 2008, 453 ff; ders. Methodische Grundlagen der Kriminalprognose, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2007, 101 ff; Dahle/Schneider/Ziethen Standardisierte Instrumente zur Kriminalprognose, ForensPsychiatrPsycholKriminol 2007, 15 ff; Dolde Kriminologischer Dienst – Aufgaben und Probleme, in: Egg (Hrsg.), Strafvollzug in den neuen Bundesländern, Wiesbaden 1999, 205 ff; Egg Prognosebegutachtung im Straf- und Maßregelvollzug – Standards und aktuelle Entwicklungen, in: Kühne/Jung/Kreuzer/Wolters (Hrsg.), FS für Klaus Rolinski, Baden-Baden 2002; ders. Sozialtherapeutische Anstalten und Abteilungen im Justizvollzug: Mindestanforderungen an Organisation und Ausstattung, Indikation zur Verlegung. Forum Strafvollzug 2007, 100 ff; ders. Behandlung von Sexualstraftätern, in: Volbert/Steller (Hrsg.) 2008 152 ff; Egg/Kälberer/Specht/Wischka Bedingungen der Wirksamkeit sozialtherapeutischer Maßnahmen, in: ZfStrVo 1998, 348 ff; Eher/Rettenberger/Matthes Aktuarische Prognose bei Sexualstraftätern, in: MschrKrim 2009, 18 ff; Eisenberg/Hackethal „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26.1.1998, in: ZfStrVo 1998, 196 ff; Endres Prognoseinstrumente, in: Pecher (Hrsg.) 2004, 177 ff; Foerster/Dressing Die Erstattung des Gutachtens, in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.) 2009, 43 ff; dies. Fehlermöglichkeiten beim psychiatrischen Gutachten, in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.) 2009, 55 ff; Foerster/Winkler Forensisch-psychiatrische Untersuchung. in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.) 2009, 17 ff; Freese Die Psychopathy Checklist (PCL-R und PCL-SV) von R.D. Hare und Mitarbeitern in der Praxis, in: Müller-Isberner/Conzalez Cabeza (Hrsg.), Forensische Psychiatrie, Mönchengladbach 1998, 81 ff; Gretenkord Sollte der Therapeut zu „63er-Patienten“ Beurteilungen abgeben? In: Beier/Hinrichs (Hrsg.) Psychotherapie mit Straffälligen, Stuttgart 1995, 124 ff; Hanson/Bussière Predicting Relapse: A meta-analysis of sex offender recidivism studies, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 1998, 348 ff; Hare Manual for the Hare Psychopathy Checklist-Revised, Toronto 1991; Harrendorf Rückfälligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern. Göttingen 2007; Hart/Cox/Hare The Hare PCL:SV. Psychopathy Checklist: Screening Version, Toronto 1996; Heß Struktur und Inhalte der Einweisungsuntersuchungen im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1998, 335 ff; Heinz/Jehle (Hrsg.) Rückfallforschung, Wiesbaden 2004; Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlicher Sanktion – Eine kommentierte Rückfallstatistik. Berlin 2003; Kaiser/Schöch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 6. Aufl. München 2006; Hürlimann Führer und Einflußfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs. Pfaffenweiler 1993; Kerner/Dolde/Mey (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung, Bonn 1996; Kröber Kriminalprognostische Begutachtung. in: Kröber u. a. (Hrsg.) 2006a, 69 ff; ders. Praxis der kriminalprognostischen Begutachtung: handwerkliche Mindestandards und kasuistische Illustration. in: Kröber u. a. (Hrsg.) 2006b, 173 ff; Leygraf Die Begutachtung der Gefährlichkeitsprognose, in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.) 2009, 483 ff; Lösel Behandlung oder Verwahrung? Ergebnisse und Perspektiven der Interventionen bei „psychopathischen“ Straftätern, in: Rehn/ Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.) 2001, 36 ff; Lösel/Bender Straftäterbehandlung: Konzepte, Ergebnisse, Probleme, in: Steller/Volbert 1997, 171 ff; McGuire. What works in correctional intervention? Evidence and practical implications, in: Bernfeld/Farrington/Leschied (Eds.). 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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Aufgabe der Behandlungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . 2. Klassifizierung und Behandlung 3. Individualisierung und Stigmatisierung . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Behandlungsuntersuchung als Grundlage der Vollzugsplanung/ Verlegung . . . . . . . . . . . . 2. Dauer der Behandlungsuntersuchung /Einweisungsanstalten . 3. Personal . . . . . . . . . . . . . 4. Umfang der Behandlungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . 5. Mitwirkung des Gefangenen . . . 6. Akteneinsicht . . . . . . . . . . 7. Begrenzung der Untersuchung . 8. Methoden der Behandlungsuntersuchung . . . . . . . . . .
1–6 1–2 3–4 5–6 7–34
7–9 10 11 12 13 14 15 16
Rdn. 9. Gestaltung von Gutachten . . 10. Schweige- und Offenbarungspflicht . . . . . . . . . . . . 11. Vollzugsdauer und Behandlungsuntersuchung . . . . . 12. Durchführung der Behandlungsuntersuchung . . . . . 13. Prognose der Rückfallgefahr 14. Erörterung der Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . 15. Besonders gründliche Prüfung bei Sexualdelikten . 16. Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung . . . . 17. Indikation für Sozialtherapie III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. 17–18 .
19
.
20
. 21–23 . 24 .
25
. 26–29 . 30–31 . 32–34 . 35 . 36–38 . 36 . 37 . 38
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Mit der Behandlungsuntersuchung beginnt der Vorgang der Behandlung (C/MD 2008 Rdn. 2; zum Behandlungsbegriff § 4 Rdn. 6). Es besteht ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Behandlungsuntersuchung, der Diagnose, der Planung des Vollzuges und der eigentlichen Behandlung im Vollzug. Die Unterteilung in Aufnahmeverfahren (§ 5), Behandlungsuntersuchung (§ 6), Vollzugsplan (§ 7) und weitere Durchführung des Vollzuges ist letztlich formal. Diese Vorgänge als in sich abgeschlossene, jeweils gesonderte Leistungen des Vollzuges aufzufassen, hieße den Strafvollzug als einen ganzheitlichen, fortlaufenden Prozess von der Aufnahme bis zur Entlassung zu verkennen. Es entspricht dem Stand der Wirksamkeitsforschung, keine einmaligen Querschnittsdiagnosen, sondern ein dynamisches Vorgehen bei der Diagnostik anzustreben, in dem immer wieder Veränderungen im Behandlungsverlauf ermittelt und zur Fortschreibung der Behandlungsplanung herangezogen werden (Egg u. a. 1998, 350; Lösel 2001, 48; Lösel/Bender, 190 f; McGuire 2001; Wischka/Specht 2001, 259). Die Behandlungsuntersuchung ist als Eingangsdiagnostik zu verstehen, die durch eine Verlaufsdiagnostik während des gesamten Vollzuges zu präzisieren und zu modifizieren ist. Die Formulierung „Nach dem Aufnahmeverfahren wird damit begonnen . . .“ in § 6 Abs. 1 ist unglücklich gewählt, weil auch ein vorheriger Beginn nicht ausgeschlossen werden sollte (Böhm 2003, 185). Inhalt und Methoden der Persönlichkeitserforschung werden vom Gesetzgeber nicht 2 beschrieben. Im Gegensatz zu § 7 Abs. 3 Satz 2 KE sind die an der Behandlungsuntersuchung zu beteiligenden Fachkräfte nicht benannt (BT-Drucks. 7/918, 49; K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 13). Es muss sich aber um eine mit wissenschaftlichen Methoden abgesicherte Untersuchung handeln. Ein Rückgriff auf Prozessakten reicht nicht. Es genügt auch keinesfalls ein „laienhaftes“ auf Alltagstheorien gegründetes Vorgehen (C/MD 2008 Rdn. 3). Der Gefangene ist zur Duldung der Behandlungsuntersuchung verpflichtet (BT-Drucks. 7/918, 48), seine aktive Mitwirkung ist zur Erreichung des Vollzugsziels auch notwendig (C/MD 2008
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Rdn. 1), die Pflicht zur aktiven Mitwirkung besteht jedoch nicht. Zur Mitwirkungspflicht allgemein § 4 Rdn. 2 ff. 2. Die aus der Behandlungsuntersuchung resultierenden Diagnosen ermöglichen 3 eine Klassifizierung (Rdn. 9) der Gefangenen und eine differenzierte Unterbringung. Dabei sind Stigmatisierungen zu vermeiden, die i. S. einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirken können (zur Differenzierung s. § 141 Rdn. 2, 13 und § 143 Rdn. 2 ff). Es müssen vielmehr Veränderungsziele gemeinsam entwickelt und Wege zu deren Erreichung ermöglicht werden (Müller-Dietz 1977, 22). Der Strafvollzugsaufbau der einzelnen Bundesländer und die von ihnen eingerichteten Vollzugsgemeinschaften müssen beachten, dass die sich aus individueller Diagnose und Klassifizierung ergebenden Behandlungsempfehlungen durch die Bereitstellung von geeigneten Vollzugseinrichtungen (§§ 141, 143) tatsächlich erfüllbar sind (§ 141 Rdn. 10; § 143 Rdn. 2 und unten Rdn. 9). Die Zielsetzung des Strafvollzuges bleibt inhaltsleer, wenn sie nicht in der inneren und äußeren Organisation des Vollzuges ihren Ausdruck findet (K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 20). Schilderung der möglichen Schwierigkeiten mit ihren Folgen bei Neufeind 1979, 82, ebenso Rüther 1978, 116. Die Stellung einer Legalprognose mit der in Prozentwerten ausgedrückten Wahrscheinlichkeit eines Nichtrückfalls/Rückfalls ist sinnlos, wenn Empfehlungen für eine Änderung dieses Zustandes nicht realisiert werden können (Mey 1967, 558 ff). Übersicht über Klassifizierungs-/Differenzierungssysteme in den einzelnen Bundesländern s. § 152 Rdn. 14. Die Behandlungsuntersuchung kann in der Aufnahmeabteilung der nach dem Voll- 4 streckungsplan (§ 152) zuständigen Anstalt oder in Einweisungsanstalten nach § 152 Abs. 2 (Gutachteranstalt nach §§ 51 ff AE-StVollzG) stattfinden (§ 152 Rdn. 5 ff). Die Durchführung dieser Aufgabe obliegt einzelnen diagnostisch befähigten Mitarbeitern (z. B. Psychologen, Sozialarbeitern) oder dafür geeigneten Gremien (Kommissionen). Einweisungsanstalten findet man in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen (K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 5). Ein Verurteilter hat keinen Rechtsanspruch auf sofortige Ladung in den offenen Vollzug. Das Vorliegen der Voraussetzungen dafür ist Ergebnis der Behandlungsuntersuchung (LG Thüringen ZfStrVo 2004, 300 f). 3. Nur bei einer strikt individuellen Klassifizierungsdiagnose kann Behandlung im 5 Vollzug wirksam werden (Müller-Dietz 1977, 19 mit Hinweis auf Wechselwirkung zwischen Klassifizierung und Ausgestaltung des Vollzuges; zu den hochkomplexen Bedingungen der Wirkung vollzuglicher Behandlung innerhalb der besonderen Situationsstruktur Strafvollzug s. Wirth 1996, 467 ff). Damit wird das Individualisierungsprinzip (Calliess 1992, 79; Müller-Dietz 1977, 19) aber nicht ad absurdum geführt. Mit der Neufassung von § 6 Abs. 2 Satz 2 erhält das Individualisierungsprinzip sogar zusätzliche Bedeutung für die Durchführung der Behandlungsuntersuchungen von Sexualstraftätern (vgl. Rdn. 26–29). Aus Gründen der Behandlung können Abweichungen von formalen Kriterien (z. B. Vollstreckungsplan nach § 152 Abs. 2) erfolgen. Zum Problem Individualisierung und Wohngruppenvollzug § 7 Rdn. 12. Sehr aufwändige Einweisungsverfahren sind dann bedenklich (Walter 1999 Rdn. 181), wenn die Genauigkeit der mitgeteilten diagnostischen Erkenntnisse und Behandlungsempfehlungen in keinem angemessenen Verhältnis zu den Behandlungsmöglichkeiten der für den Strafvollzug zuständigen Anstalt steht (Rheder/Wischka 2009). Diagnosen aus der Behandlungsuntersuchung und Klassifizierung sind zwar zur Siche- 6 rung der Behandlung im Strafvollzug notwendig, beinhalten aber die Gefahr der Etikettierung, Stigmatisierung und unbeabsichtigten Entmutigung durch Festschreibung einer negativen Prognose (Walter 1999 Rdn. 180; Kaiser/Schöch 2006, 92) und Verlegung auf eine (als solche erlebte) „Endstation“. Durch die Verwendung moderner und inzwischen
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gebräuchlicher Prognoseverfahren, die nicht nur dynamische (veränderbare), sondern auch die statischen (nicht mehr veränderbaren, durch biographische Daten bedingten) Risikofaktoren berücksichtigen (Rdn. 24), ist diese Gefahr eher gestiegen. Es ist deshalb notwendig, Aussagen zur Legalprognose und zur Sozialprognose mit konkreten Verhaltenserwartungen zu verbinden und entsprechende Rahmenbedingungen und Behandlungsmaßnahmen anzubieten, die in der Lage sind, diese Prognose zu verbessern. Der offene Umgang mit negativen Prognosen ist dann unschädlich oder sogar förderlich, wenn es gelingt, dem Gefangenen den „Ernst der Lage“ begreiflich zu machen und Chancen zu eröffnen. Die Ergebnisse der Behandlungsuntersuchung, die Haltung des Gefangenen dazu und die Behandlungsmöglichkeiten begründen die individuelle Behandlungsprognose. Sie ist ein wesentliches Charakteristikum für eine gründlich durchgeführte diagnostische Prüfung der Verlegungsmöglichkeit in eine sozialtherapeutische Anstalt gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 (s. auch Rdn. 24).
II. Erläuterungen 7
1. In § 6 Abs. 1 ist die Behandlungsuntersuchung als Grundlage des Vollzugsplans (§ 7 Rdn. 1) zwingend vorgeschrieben (so auch bereits Nr. 58 Abs. 2 DVollzO). Die Behandlungsuntersuchung hat in unmittelbarem Anschluss an die Aufnahme in den Strafvollzug zu beginnen (LG Berlin ZfstrVo 2003, 184). Sie wird entweder in Einweisungsanstalten oder -abteilungen (§ 152 Abs. 2) oder in Anstalten durchgeführt, deren Zuständigkeit sich aus dem Vollstreckungsplan nach allgemeinen Merkmalen ergibt (§ 152 Abs. 3). Die Vollzugsbehörde hat die organisatorischen Maßnahmen dafür zu treffen, dass die Behandlungsuntersuchung unmittelbar nach der Aufnahme stattfinden kann. So ist es unzulässig, wenn ein Strafgefangener aus Kapazitätsgründen zunächst in einer Untersuchungshaftabteilung untergebracht wird und keine Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplanung erfolgt (OLG Hamburg 10.6.2005 – 3 Vollz (Ws) 41/05, juris). 8 Die Verlegung zur Behandlungsuntersuchung ist keine einzelfallbedingte Verlegung i. S. des § 8, sondern eine Konkretisierung des Vollzugsplans (K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 30). Qualifikation der Mitarbeiter (Rdn. 11), ökonomischere Durchführung und Kompetenz der Institution sprechen einerseits für die Persönlichkeitsforschung in Einweisungsanstalten, andererseits besteht hier aber auch die Gefahr einer verstärkten Formalisierung und Bürokratisierung durch das einmal festgelegte Verfahren (Mey 1994, 129). 9 Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Klassifizierung (= Einteilung der Gefangenen in Gruppen mit gleichen oder ähnlichen Behandlungsbedürfnissen) und Differenzierung (= Bereitstellung von Anstalten, Abteilungen, Vollzugseinheiten, Wohngruppen mit bestimmten Behandlungsangeboten) wird die Einrichtung von zentralen Klassifizierungszentren (Auswahl- oder Einweisungsanstalten) immer wieder gefordert und verteidigt (K/SKaiser 2002 § 10 Rdn. 30). Man erwartet, dass bei Konzentrierung der Behandlungsuntersuchung auf Einweisungsanstalten die Qualifizierung des dort tätigen Personals steigt und Erkenntnisse für die weitere Differenzierung der Anstalten gewonnen werden können. Schließlich kommen zentrale Diagnose- und Klassifizierungszentren bei entsprechender personeller Ausstattung auch für die Durchführung der besonders gründlichen Prüfung nach § 6 Abs. 2 Satz 2 in Betracht. Auch können hier gleichzeitig Aufgaben der auf die Bedürfnisse des Strafvollzugs ausgerichteten kriminologischen Forschung (§ 166) erfüllt werden (Dolde 1999, 206 ff). Diese Annahmen haben sich jedoch nur zum Teil bestätigt. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es besonders wichtig zu sein, das in den Einweisungsanstalten tätige Fachpersonal vor Aufnahme seiner Tätigkeit mit genügend allgemeiner
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Vollzugserfahrung auszustatten und später nicht über lange Jahre hinweg ausschließlich mit diagnostischen Aufgaben zu betrauen. Vgl. auch Rdn. 3 und § 152 Rdn. 8. 2. Während der Behandlungsuntersuchung kann nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 die gemein- 10 same Unterbringung des Gefangenen während Arbeit und Freizeit bis zu zwei Monaten eingeschränkt werden (s. auch Rdn. 5 zu § 17). Daraus folgt, dass dieser Zeitraum auch als die längste Dauer der Behandlungsuntersuchung anzusehen ist (LG Berlin ZfStrVo 2003, 184; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 1; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 10; Laubenthal 2008 Rdn. 316; unterscheide dazu Rdn. 21). Während Einweisungsanstalten in der Regel sechs bis acht Wochen für die Behandlungsuntersuchung benötigen, zeigen praktische Erfahrungen aus Anstalten, welche die Gefangenen nach den Vorschriften des Vollstreckungsplans (§ 7 Rdn. 2) aufnehmen, dass bei rationeller Organisation von Aufnahmeverfahren, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplankonferenz diese Vollzugsphase schon früher abgeschlossen sein kann (ähnlich auch § 53 Abs. 1 AE-StVollzG; s. Rdn. 4; Beispiele von Organisationsformen bei Stock 1993, 94 ff; Heß 1998, 336 ff; Villmar 2009; Werner/Grotjohann 2009; zu Vor- und Nachteilen praktizierter Einweisungsverfahren Höflich/Schriever 2003, 26 f). Einweisungsanstalten begründen ihren höheren Zeitaufwand damit, dass sie einen längeren Zeitraum für Verhaltensbeobachtung im Vollzug benötigen. Wird die Behandlungsuntersuchung nicht in der Anstalt durchgeführt, die für den Strafvollzug zuständig ist, ergibt sich aus dem Sinn der Vorschrift, dass durch die Verlegung keine Verzögerung eintreten darf, die eine alsbaldige Vollzugsplanung verhindert. Es liegt auf der Hand, dass durch unterschiedliche Zuständigkeiten und den damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten (Aufnahmeverfahren – Verlegung in die Einweisungsanstalt – Behandlungsuntersuchung – Rückverlegung – Ausfertigung der Begutachtungsergebnisse und Übermittlung an die zuständige Anstalt – Vollzugsplanung) die Gefahr besteht, dass zu viel Zeit vergeht, bevor mit Behandlungsmaßnahmen begonnen werden kann. Die Vollzugsbehörde ist hier in besonderem Maße aufgefordert, durch organisatorische Maßnahmen sicher zu stellen, dass notwendige Maßnahmen (z. B. die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung oder eine Bildungsmaßnahme) oder eine Strafrestaussetzung zur Bewährung nach § 57 StGB nicht unverhältnismäßig verzögert oder sogar unmöglich werden. 3. Die Behandlungsuntersuchung sollte und wird in der Regel von einem der Aufnahme- 11 abteilung fest zugeordneten Mitarbeiterstab nach § 155 Abs. 2 durchgeführt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Mitwirkung in der Behandlungsuntersuchung sind gute diagnostische Ausbildung und Befähigung dieser Bediensteten sowie ausreichende Vollzugserfahrung (s. Rdn. 9). Die Behandlungsuntersuchung erfordert allerdings nicht in jedem Fall die Mitwirkung von psychologischen Fachkräften. Die Anstalt hat insoweit einen Beurteilungsspielraum (OLG Hamburg 13.6.2007 – 3 Vollz (Ws) 26, juris). Die Mitwirkung eines Psychiaters ist allerdings selbst in Einweisungsanstalten selten. Eine Ausnahme bildet das Prognosezentrum bei der JVA Hannover (Villmar 2009). Je mehr Bedienstete an der Behandlungsuntersuchung beteiligt sind, um so höhere Anforderungen sind an die Organisation des Ablaufs und an die Kooperation innerhalb des Gremiums zu stellen (vgl. auch § 152 Rdn. 8). Es ist sicher unzureichend, wenn sich die Behandlungsuntersuchung nur an der Selbstdefinition der Gefangenen orientiert, sich auf solche Bereiche beschränkt, in denen tatsächlich Hilfsangebote gemacht oder geplant werden und wenn sie sich in einer Abfolge von Beratungsgesprächen erschöpft, wie AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 4–6 fordern. Vielmehr scheint es notwendig, zunächst alle verfügbaren Informationen und Befunde zu erheben, diese gemeinsam mit dem Gefangenen auszuwerten (Exploration) und dann die Ergeb-
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nisse mit ihm zu besprechen. Vgl. auch Rdn. 25. Die Gefahr einer Persönlichkeitserforschung über das notwendige Maß hinaus (Böhm 2003 Rdn. 187) ist in der Praxis selten. Dennoch muss auf die Problematik hingewiesen werden, die entsteht, wenn als Ergebnis der Untersuchung Defizite und Störungen benannt werden und (in gut gemeinter Absicht) Behandlungsmaßnahmen zur Reduzierung der Rückfälligkeit und/oder Lockerungseignung als notwendig erachtet werden, die in den Anstalten aber nicht umgesetzt werden können. Dies wird häufig nicht nur dazu führen, dass die empfohlene Maßnahme nicht durchgeführt wird, sondern – weil die Prognose nicht verbessert werden konnte – dass auch keine oder sehr spät Vollzugslockerungen gewährt werden und dass kaum Chancen auf eine Strafrestaussetzung zur Bewährung bestehen. Eine zu umfangreiche Behandlungsuntersuchung und überzogene Folgerungen daraus werden dann mehr schaden als nutzen (Rehder/Wischka 2009).
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4. Die Forderung einer besonders gründlichen Prüfung für Verurteilte nach den §§ 174 bis 180 oder 182 durch Abs. 2 gebietet eine intensive Vorgehensweise. Eine lediglich auf die bestehenden Hilfsangebote einer sozialtherapeutischen Einrichtung abgestellte Untersuchung erscheint auch deshalb nicht zulässig, weil nach § 9 Abs. 1 die Indikation und ggf. der Abbruch der Behandlung an der Person des Gefangenen festzumachen ist und nicht an den Angeboten der Einrichtung. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind am Therapiebedarf auszurichten (AK-Rehn 2006 § 9 Rdn. 17). Bei dem Umfang der Behandlungsuntersuchung und ihrer Dokumentation ist auch zu berücksichtigen, dass durch § 454 Abs. 2 StPO im Falle der Erwägung einer Strafrestaussetzung durch die Strafvollstreckungskammer eine Gefährlichkeitsprognose durch einen (i.d.R. externen) Sachverständigen zu erstellen ist. Er hat zu beurteilen, ob und was sich an der Eingangsdiagnose nachvollziehbar verändert hat. Zur Problematik der Formulierung des Gutachtenauftrags, sich dazu zu äußern, ob keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretende Gefährlichkeit fortbesteht s. Eisenberg/ Hackethal (1998); Nedopil (2002b); Leygraf (2009); Schöch (1998); C/MD 2008 § 7 Rdn. 7; s. auch Rdn. 24. Dass Gefährlichkeitsprognosen bislang häufig erhebliche Mängel hatten, hat Nowara (1995) eindrucksvoll nachgewiesen. Erst nach der Exploration kann eine Schlussberatung erfolgen, welche die erhobenen Befunde, die Bedürfnisse des Gefangenen und vorhandene Angebote des Vollzuges so aufeinander abstimmt, dass mit einem Gutachten und den sich daraus ergebenden Empfehlungen einer sinnvollen Planung der weiteren Behandlung nähergetreten werden kann. Zur Gutachtenerstellung grundsätzlich Dahle (2005 und 2006), Foerster/Winkler (2009), Kröber (2006a und b), Leygraf (2009), Müller-Isberner/Gonzales-Cabeza (1998), Nedopil (1996 und 2006), Rasch (1999), Rehder (2002), Rehder/Wischka (2009).
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5. Der Gefangene ist zur Duldung der Behandlungsuntersuchung verpflichtet, jedoch nicht zur aktiven Mitwirkung (C/MD 2008 Rdn. 1). Die aktive Mitwirkung der Gefangenen ist jedoch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Behandlungsuntersuchung verwertbare Ergebnisse erbringt. Da der Gefangene hier eine sehr starke Blockademöglichkeit durch sein „Veto“ hat, kommt es wie auch später entscheidend darauf an, die Motivation des Gefangenen zur Mitarbeit an der Erreichung des Vollzugsziels zu fördern und zu erhalten (§ 4 Abs. 1 Satz 2). Die Gelegenheit, sich mit einem kritisch-interessierten Gegenüber unabhängig vom Ausgang des Verfahrens über seine Person und das Delikt zu äußern, ist häufig erwünscht und wird selten verweigert (Heß 1998, 338). Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die zunächst während der Behandlungsuntersuchung erreichte Motivation des Gefangenen zur Absolvierung bestimmter Behandlungsmaßnahmen späterhin ständig gleich bleibt (vgl. Rdn. 7 zu § 4). Mit mehr oder minder starken Motivationsschwankungen
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ist erfahrungsgemäß zu rechnen. Verweigert ein Gefangener die Behandlungsuntersuchung, ist diese Haltung zwar zu respektieren, darf aber auch in die Ermessenserwägungen hinsichtlich der Erstellung eines Vollzugsplanes einfließen (OLG Stuttgart 30.10.2006 – 4 Ws 334/06, 4 Ws 338/06, NStZ 2007, 172 f, juris; s. § 7 Rdn. 4). Grundsätzlich zur Mitwirkungspflicht § 4 Rdn. 4, 9. 6. Gespräche mit dem Gefangenen über den jeweiligen Stand der Behandlungsunter- 14 suchung sind im notwendigen Ausmaß zu führen (vgl. auch Rdn. 25). Wenn AK-Feest/ Joester 2006 Rdn. 9 verlangen, dass der Gefangene jederzeit die Möglichkeit zur Akteneinsichtnahme und zur Anforderung von Kopien eines jeden Schriftstücks aus der Behandlungsuntersuchung haben sollte, so ist dies unzweckmäßig, weil gerade bei einer noch nicht abgeschlossenen Behandlungsuntersuchung die unkommentierte Bekanntgabe von Teilergebnissen zu zusätzlichen und unnötigen Konflikten führt. Die Einsichtnahme in Aufzeichnungen persönlicher Eindrücke und Hypothesen kann deshalb nur ausnahmsweise in Betracht kommen (§ 185 Rdn. 11, Arloth 2008 § 185 Rd. 7); es müsste dargelegt werden, dass ohne diese Einsicht bestimmte Rechte nicht geltend gemacht werden können (§ 185 Rdn. 10; Arloth 2008 § 185 Rdn. 5). Dass die Einsichtnahme in Testergebnisse, die im Rahmen der Behandlungsuntersuchung ermittelt worden sind, zur Wahrnehmung der Rechte erforderlich sind, wird in der Regel nicht plausibel geltend gemacht werden können. Die Interpretation von Testergebnissen erfordert Sachverstand; sie müssen stets im Zusammenhang mit anderen Befunden gesehen und gewichtet werden (s. Rdn. 23). Erst das Gespräch nach Abschluss der Untersuchung kann dem Ziel dienen, den Gefangenen über den Gesamtbefund angemessen zu informieren und ihm zu helfen, die für ihn wichtigen Erkenntnisse zu akzeptieren und so die für die Mitwirkung bei der Behandlung notwendigen Aktivitäten zu entwickeln. Ob das Gesamtergebnis der Behandlungsuntersuchung und die darin ausgesprochenen Behandlungsempfehlungen auszuhändigen sind, wird zu bejahen sein. Zur Wahrnehmung der eigenen rechtlichen Interessen wird das Eröffnen oder einmalige Lesen komplexer Darstellungen mit darin enthaltenen psychologischen Fachtermini für einen Laien nicht ausreichend verständlich sein und auch nicht ausreichend dauerhaft erinnert werden können (s. § 185 Rdn. 9). Auch wenn das Ergebnis der Behandlungsuntersuchung nur Empfehlungs- und keinen Regelungscharakter hat, kann nur dann beurteilt werden, ob die Ergebnisse der Behandlungsuntersuchung im Vollzugsplan ermessensfehlerfrei berücksichtigt worden sind, wenn diese im Detail bekannt sind (s. § 7 Rdn. 5; zur Frage des Rechts auf Einsicht in die Gefangenenpersonalakte s. § 108 Rdn. 8; § 115 Rdn. 7; § 185 Rdn. 1 ff; zur Aushändigung von Unterlagen im Einweisungsverfahren: OLG Celle NStZ 1982, 136 positiv; LG Duisburg NStZ 1984, 238; OLG Hamm NStZ 1985, 47 = ZfStrVo 1985, 51 abl.; zur Bekanntgabe des vollständigen Wortlauts eines Prognosegutachtens OLG Nürnberg 3.5.2005 – 1 Ws 457/05, ZfStrVo 2005, 297 positiv). Da das die Behandlungsuntersuchung abschließende Gutachten (Rdn. 17, 18) keinen Regelungscharakter hat, kann es von dem Gefangenen nicht angefochten werden (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 368). 7. Umfang und Methoden der Behandlungsuntersuchung sind sowohl aus ökono- 15 mischen als auch aus Gründen des Datenschutzes (für das Aufnahmeverfahren § 5 Rdn. 4, 6) auf die Erreichung der für die Aufstellung des Behandlungs- und Vollzugsplans notwendigen Inhalte und Ausmaße zu beschränken (§ 179 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 6; K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 9; Rehder/Wischka 2009). Sie hat aber bei Gefangenen, die nach §§ 174 bis 180 oder 182 StGB verurteilt worden sind, der Forderung einer besonders gründlichen Prüfung gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 zu entsprechen (s. Rdn 12). Schematische Wiederholungen früherer Untersuchungen sind zu vermeiden (Böhm 2003 Rdn. 185, 186). Statt dessen muss die Be-
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handlungsuntersuchung als Längsschnittuntersuchung angelegt werden, in die die Ergebnisse früherer Untersuchungen – ggf. vergleichend – einzubeziehen sind.
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8. Die Behandlungsuntersuchung mit der dabei zu stellenden Diagnose (anstelle des wenig glücklichen Begriffs „Persönlichkeitserforschung“) sollte sich auf vier Methodengruppen stützen: a) Erhebungen zur Vorgeschichte (Anamnese), b) Verhaltensbeobachtungen, c) Durchführung von standardisierten Untersuchungsmethoden (Tests, Prognoseverfahren), d) erörternde und beratende Gespräche zwischen dem Gefangenen und den diagnostisch tätigen Bediensteten einschließlich der Stellungnahme des Gefangenen zu den bisher über ihn vorliegenden Befunden sowie Erkundung der Vorstellungen, Planungen und Wünsche des Gefangenen hinsichtlich seines weiteren Aufenthaltes im Vollzug und nach der Entlassung. Zur Erläuterung der Tätigkeiten s. Rdn. 21 bis 25.
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9. Zur Verbesserung der formalen und inhaltlichen Gestaltung von Gutachten und gutachtlichen Äußerungen empfiehlt es sich, in den Vollzug eintretende Fachdienste während der Einführung in ihr Berufsfeld in Seminaren zur Berichts- und Gutachtengestaltung spezifisch auszubilden. Hinweise für die Auswahl von Untersuchungsmethoden, den Umfang der Untersuchung von Sexualstraftätern und die inhaltliche Gestaltung von psychologischen Stellungnahmen geben Endres (2004), Rehder (2002 und Rehder/Wischka 2009). Generell zur forensischen Gutachtenerstellung und Fehlermöglichkeiten s. Bötticher u. a. (2007), Dahle (2007), Foerster/Dressing (2009a und b), Kröber (2006a und b). 18 Die in der Behandlungsuntersuchung anfallenden Unterlagen werden nicht Teil der Gefangenenpersonalakte. Sie sind gesondert und gegen unbefugte Kenntnisnahme sorgfältig gesichert aufzubewahren (z. B. Regelung in NRW durch Richtlinien für das Einweisungsverfahren; danach bleiben Untersuchungsunterlagen als Hausakten bei der Einweisungsanstalt). Zu Zugangsmöglichkeiten zum Inhalt von Gefangenenpersonalakten § 108 Rdn. 9, § 115 Rdn. 7, § 185 Rdn. 1 ff; zur Sicherung von Therapieakten oder Unterlagen aus psychologischen Untersuchungen und Begutachtungen § 183 Rdn. 10–12.
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10. Für die mitwirkenden Psychologen bestehen Probleme zwischen Schweige- und Offenbarungspflicht. Ihnen wie allen anderen an der Behandlungsuntersuchung und im Strafvollzug ganz allgemein beteiligten Fachdiensten fehlt es an gesetzlichen Vorschriften zur Festlegung ihrer Stellung und ihrer Aufgabenbereiche. Zur Schweige- und Offenbarungspflicht s. § 182 Rdn. 6–18 mit Hinweis auf die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen einerseits psychotherapeutisch tätigen und andererseits mit Diagnostik bzw. mit allgemeiner Behandlung und Betreuung befassten Psychologen (s. auch Gretenkord 1995 § 7 Rdn. 6).
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11. § 6 Abs. 1 Satz 2 versucht in Verbindung mit VV zu § 6 Behandlungsuntersuchung und Vollzugsdauer aufeinander abzustimmen. Unter Vollzugsdauer ist dabei der Strafrest bis zur Entlassung ohne Berücksichtigung einer möglichen Strafrestaussetzung aber ausschließlich einer angerechneten Untersuchungshaft zu verstehen (C/MD 2008 Rdn. 5). Zwischen dem Strafmaß und dem Ausmaß von Persönlichkeitsstörungen oder sozialen Defiziten und somit der Behandlungsnotwendigkeit besteht kein direkter Zusammenhang. Gerade bei Sexualdelikten gibt es progrediente Verlaufsformen, die möglichst frühe Interventionen erfordern. Dies stellt sich allerdings oft erst nach der Behandlungsuntersuchung heraus. Ergebnisse einer Behandlungsuntersuchung können für den Gefangenen auch dann von Bedeutung sein, wenn aus zeitlichen Gründen die Verlegung in eine sozialtherapeutische
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Einrichtung nicht angezeigt ist, aber Behandlungsangebote im Normalvollzug in Betracht zu ziehen sind oder Entlassungsvorbereitungen und Hilfen nach der Entlassung geboten erscheinen (Prinzip der Verzahnung des Vollzuges mit nachfolgenden Betreuungsinstanzen, s. auch § 154 Abs. 2). Zwar ist der Gesetzgeber der Meinung, dass angesichts der schwierigen Personalsituation im Vollzug eine Behandlungsuntersuchung bei kurzen Strafen nur eine unnötige Arbeitsbelastung verursachen würde (BT-Drucks. 7/918, 49 und BT-Drucks. 7/3998, 7). Dies berechtigt jedoch nicht zu einer schematischen Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 2. Diese würde den Willen des Gesetzgebers missachten, der eine generelle Ausnahme bei Kurzstrafigen gerade vermeiden wollte (K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 11). Die Umstände des Einzelfalls sind zu berücksichtigen. Lediglich wenn durch die Untersuchung keine Kenntnisse zu erlangen sind, die für eine planvolle Behandlung des Gefangenen im Vollzuge notwendig sind, weil die Vollzugsdauer zu kurz ist, ist die Behandlungsuntersuchung im Sinne des Abs. 1 Satz 2 nicht geboten (C/MD 2008 Rdn. 5; s. auch Böhm 2003 Rdn. 183). Bei einer schematischen Anwendung der Regel in der VV erhielten ca. 40 % der Gefangenen keine Behandlungsuntersuchung (Böhm 2003 Rdn. 183). Es verbleibt den Vollzugseinrichtungen bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Behandlungsuntersuchung für Gefangene mit kurzen Strafen ein erheblicher Ermessensspielraum (s. Rdn. 35). 12. Eine Behandlungsuntersuchung wird zweckmäßigerweise folgendermaßen gestaltet: 21 a) Erhebungen zur Vorgeschichte (Anamnese). Auswertung aktenkundiger Daten im Vergleich mit den Angaben des Gefangenen. Aus den Akten übernommene Daten sollten nie als festgeschrieben hingenommen werden. Übernommene Daten sind vielmehr mit dem Gefangenen zu erörtern und ggf. nach seinen Angaben zu ergänzen bzw. zu korrigieren. Bei der Aufnahme der Vorgeschichte können standardisierte Anamnesebögen hilfreich sein, um einmal die Vollständigkeit der Erhebung, zum anderen ihre eventuell geplante statistische Auswertung in anonymisierter Form zu sichern (vgl. § 166; s. auch § 179 Rdn. 11 i.V.m. § 180 Abs. 1 Satz 1). Auch bei der Erhebung zur Vorgeschichte ist das Verhalten des Gefangenen wie in allen anderen Situationen während der Behandlungsuntersuchung sorgfältig zu beobachten und zu protokollieren. Zur Behandlungsuntersuchung durch qualifiziertes Personal Rdn. 11. Bereits vorliegende wichtige Informationsquellen zur Persönlichkeit des Gefangenen und zu seiner sozialen Situation finden sich im Urteil, in den Berichten der Gerichtshilfe und der Bewährungshilfe sowie in Sachverständigengutachten. Für die Stellung einer Verlaufsdiagnose sind die Personalakten aus früheren Aufenthalten in einer JVA heranzuziehen (zulässige Beiziehung gem. § 179 Rdn. 11). Unverzichtbar ist die Anforderung von Sachverständigengutachten; sie sind leicht zu organisieren (s. auch Böhm 2003 Rdn. 185). Sachverständigengutachten zur Persönlichkeit des Strafgefangenen, die im Verfahren der aktuellen Vollstreckung erstattet worden sind, sollen gemäß § 31 Abs. 2 StVollstrO mit den Vollstreckungsunterlagen an die zuständige Justizvollzugsanstalt übersandt werden. b) Verhaltensbeobachtungen. Die Organisationsstruktur der Anstalt muss dafür 22 Sorge tragen, dass ganz allgemein, insbesondere aber zur Durchführung der Behandlungsuntersuchung eine systematische Verhaltensbeobachtung der Gefangenen möglich ist. Da der allgemeine Vollzugsdienst und der Werkdienst die häufigsten Kontakte mit den Gefangenen haben, muss das hier eingesetzte und der Zugangsabteilung fest zugeordnete Personal für diese Aufgabe besonders ausgebildet werden. Aber auch alle übrigen an der Behandlungsuntersuchung beteiligten Bediensteten sind dazu anzuhalten, den Gefangenen während der Kontakte mit ihnen zu beobachten und die Beobachtungen schriftlich festzuhalten. Das Verhalten des Gefangenen in Gruppen kann Bernd Wischka
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z. B. schon während der Informationsveranstaltungen für Zugänge beobachtet werden (vgl. § 5 Rdn. 7). Zwischen dem Verhalten des Gefangenen als Einzelperson und als Mitglied einer Gruppe treten oft gravierende Unterschiede auf. Situationen zu intensiver Verhaltensbeobachtung finden sich bei Sport, Spiel und Freizeitbeschäftigung. Auch das Verhalten in dem vor der Behandlungsuntersuchung liegenden Vollzugsverlauf ist in die Beurteilung einzubeziehen (KG Berlin v. 23.5.2007 – 2/5 Ws 599/06, juris).
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c) Standardisierte Untersuchungsverfahren (Tests) zur Erfassung der Persönlichkeit des Gefangenen werden durch den psychologischen Dienst zweckmäßigerweise möglichst in Gruppen durchgeführt. Es empfiehlt sich daher, die unbedingt notwendigen und in der Gruppe durchführbaren Verfahren zu einer Untersuchungseinheit zusammenzufassen (z. B. Intelligenztests, Persönlichkeitsfragebogen, Schulleistungstests). Die Verwendung sogenannter projektiver Testverfahren (z. B. Rorschach-Test; T.A.T.) ist im Methodenverständnis der heutigen Psychologie umstritten. An ihre Stelle sind verstärkt Persönlichkeitsfragebogen getreten. Die Kritik von Stock (1993, 177 f) an der Anwendung von Tests in der Behandlungsuntersuchung geht insofern fehl, als sie verkennt, dass Testergebnisse genauso wie alle anderen Teilbefunde lediglich Bausteine für einen Gesamtbefund darstellen, deren Verwendung erst nach Einzelgewichtung mit Plausibilitätsprüfung im Zusammenhang mit allen anderen Einzelbefunden zum Gesamtergebnis der Behandlungsuntersuchung beiträgt (s. Rdn. 25). Bei der Auswahl angemessener Testverfahren sind zunächst die „klassischen Gütekriterien“ zu beachten: Reliabilität (Grad der Genauigkeit; Reproduzierbarkeit der Ergebnisse), Validität (Übereinstimmung zwischen Messergebnis und zu messendem Merkmal) und Objektivität (Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersucher). Wichtige Kriterien sind außerdem Ökonomie (Gruppenverfahren, geringe Auswertungsdauer, geringe Kosten) und Nützlichkeit (bedeutsamer Zusammenhang zu wichtigen Fragestellungen). Problematisch sind oft die zur Interpretation notwendigen Normierungen, weil sie häufig auf Stichproben von Nicht-Straffälligen beruhen (Rehder 2002, 182).
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13. Die Einschätzung der Rückfallgefahr wird immer mit Unwägbarkeiten verbunden sein, weil menschliches Verhalten nie allein durch Merkmale der Person, sondern auch durch das Verhalten von interagierenden Personen und durch situative Bedingungen bestimmt ist. In der Verwendung von Prognosemethoden hat sich seit den 1970er-Jahren ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Ihr charakteristischstes Merkmal ist die Relativierung der klinischen Prognose zugunsten von Risiko-Checklisten. Damit gelingt die Identifikation von Rückfalltätern wesentlich besser, so dass deren Nicht-Berücksichtigung als „Kunstfehler“ zu bezeichnen ist (Nedopil 2002a, 170). Die Ermittlung von Rückfallprädiktoren beruht auf groß angelegten Untersuchungen der Beziehung zwischen Tätermerkmalen und Rückfälligkeit (z. B. Hanson/Bussiére 1998; s. auch Egg 2002; Endres 2004; Freese 1998; Rehder 2002, 186 f; Rehder/Wischka 2009; Schneider 2002, 252 f; zur Rückfallforschung in Deutschland s. Harrendorf (2007), Heinz/Jehle 2004; Jehle/Heinz/Sutterer 2003). Daraus lassen sich statische und dynamische Risikofaktoren ermitteln, die nicht nur zur Einschätzung der Rückfallgefahr, sondern auch zur Entwicklung von Behandlungszielen und zur Einschätzung der Behandlungsaussichten herangezogen werden. Nedopil (2002a, 170 f) unterscheidet: – Statische (unveränderbare) Risikofaktoren: anamnestische Daten, persönlichkeitsgebundene Dispositionen und kriminologische Faktoren. Sie bilden die Grundlage für eine aktuarische Risikoeinschätzung (sie sagen, um wen man sich Sorgen machen muss). – Dynamische (veränderbare) Risikofaktoren, die weiter unterschieden werden können in fixierte dynamische Risikofaktoren: z. B. Fehlhaltungen und -einstellungen, risikoträch-
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tige Reaktionsmuster (sie erlauben eine Einschätzung, bei wem Änderungen möglich und erreichbar sind) und aktuelle, sich ändernde Risikofaktoren: z. B. klinische Symptomatik, Einstellungen und Verhalten in bestimmten Situationen, Verleugnen von Gewalttaten, Fehlen von Schuld und Reue, unrealistische Zukunftspläne, Alkoholmissbrauch, fehlende Mitarbeitsbereitschaft (sie besagen, wann man sich Sorgen machen muss). Das Überwiegen statischer Risikofaktoren wird auch intensiven Behandlungsmaßnahmen wenig Chancen zur Verbesserung der Prognose einräumen. Damit werden Grenzen der Behandelbarkeit aufgezeigt (Lösel 2001; Born/Conzales Cabeza 1998; Nuhn-Naber u. a. 2002, 277 f). Sie sind allerdings niemals allein durch den Einsatz einzelner Verfahren, sondern nur in der Zusammenschau aller Ergebnisse der Behandlungsuntersuchung bestimmbar und erfordern ein hohes Maß an klinisch-diagnostischer und therapeutischer Erfahrung. Prognosemethoden auf dieser theoretischen Grundlage sind inzwischen nicht nur bei der Behandlungsuntersuchung und Indikationsstellung für die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung gebräuchlich, sondern auch bei Begutachtungen zur Strafrestaussetzung nach § 454 Abs. 2 StPO und im Rahmen des Strafverfahrens. Sie werden auch bei der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB (§ 130 Rdn. 1) bzw. vorbehaltlicher oder nachträglicher Sicherungsverwahrung zunehmend eine Rolle spielen. Nach neueren Untersuchungen ist allerdings Vorsicht angebracht, der Vorhersagekraft dieser Instrumente eine zu große Bedeutung beizumessen (Eher u. a. 2009; Reichel/Marneros 2008). Wenn sie inwischen auch unverzichtbar sind, so ist ein kritischer Umgang damit zu fordern. Im deutschsprachigen Raum eingesetzte Prognoseverfahren auf dieser Grundlage sind z. B. „Psychopathy Checklist“ (PCL-R und PCL-SV) von Hare (1991) und Hart u. a. (1996), HCR 20 (Webster u. a.; deutsch: Müller-Isberner u. a. 1998), SORAG (Rettenberger/Eher 2007), SVR 20 (Boer u. a.; deutsch: Müller-Isberner u. a. 2000), RRS (Rehder/Suhling 2006), FOTRES (Urbaniok 2004); Übersicht s. Nedopil (2006), Dahle (2008), Dahle u. a. (2007). 14. Das Explorationsgespräch basiert auf der Zusammenfassung der bisher ermittel- 25 ten Daten und der inzwischen vorliegenden Untersuchungsergebnisse. Abs. 3 begründet ein Recht des Gefangenen auf Erörterung der Behandlungsplanung (K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 10). Er hat auch die Pflicht, am Erörterungstermin teilzunehmen (C/MD 2008 Rdn. 7). Damit ist das Beteiligungsrecht bei der Vollzugsplanung abschließend und umfassend festgelegt (BVerfG NStZ-RR 2002, 25). Ein Anwesenheitsrecht des Gefangenen oder/und seines Rechtsanwalts bei der Vollzugsplankonferenz ist daraus nicht abzuleiten, aber zulässig und im Einzelfall sinnvoll (OLG Stuttgart NStZ 2001, 392; s. § 7 Rdn. 5). „Federführer“ und Gefangener erörtern diese Befunde sowie noch offene Fragen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der Gefangene wird veranlasst, seine Einstellungen zu seiner Vergangenheit, seiner jetzigen Situation und zu seinen Perspektiven für die Zukunft darzulegen. Schließlich versuchen beide gemeinsam, die sich aus dem Gesamtbefund ergebenden Aussichten und Möglichkeiten zu definieren sowie Motivation für notwendige Veränderungen zu wecken. Die Behandlungsuntersuchung geht hier mit der Anfertigung des Abschlussgutachtens und einer darauf aufbauenden Planungsberatung (§ 6 Abs. 3) bereits konkret in Behandlung über. Die Mitarbeitsbereitschaft des Gefangenen wird gefördert, wenn er die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Behandlungsuntersuchung nachvollziehen kann. Die Aushändigung des Abschlussgutachtens ist deshalb sinnvoll. Er hat darauf auch einen Anspruch (OLG Celle NStZ 1982, 136; dazu auch die Feststellung des OLG Nürnberg, dass Akteneinsicht in ein Gutachten über die Eignung für Vollzugslockerungen zu gewähren ist – 1 Ws 457/05 ZfStrVo 2005, 297).
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15. Mit der seit dem 31.1.1998 in Kraft getretenen Novellierung des StVollzG durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten verlangt § 6 Abs. 2 Satz 2 für Täter, die wegen einer Sexualstraftat nach den §§ 174–180 oder 182 StGB verurteilt worden sind, bei der Durchführung der Behandlungsuntersuchung eine besonders gründliche Prüfung der Verlegungsmöglichkeit in eine sozialtherapeutische Anstalt. Welche qualitativen oder quantitativen Änderungen der bisherigen Prüfungsmethodik für eine in diesem Sinne gründliche Prüfung erforderlich sind, sagt das Gesetz nicht. Allerdings werden gegenwärtig in den Bundesländern Methoden und organisatorische Maßnahmen entwickelt. 27 Eine gründliche Prüfung führt auch zu Aussagen über die Psychodynamik des Tatgeschehens und zur Einordnung in Tätertypologien (zumindest zu Hypothesen als Arbeitsgrundlage). Für die Behandlungsplanung (und auch zur Beurteilung der Erfolgsaussichten und der Rückfallgefahr) macht es einen ganz erheblichen Unterschied, ob es sich z. B. bei einem Täter, der wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden ist, um eine inzestuöse Beziehung gehandelt hat, ob eine pädophile Fixierung besteht, ob es Grenzüberschreitungen im Rahmen einer dissozialen Symptomatik gegeben hat oder ob sadistische Neigungen erkennbar sind. Zu Tätertypologien s. Rehder (1996a und b; Pfäfflin 2009); zur Problematik der Etikettierung Rdn. 6. Die früher eher unspezifischen Behandlungsmethoden sind durch die zunehmenden Erfahrungen differenzierter geworden. Psychodynamische Therapieformen werden ergänzt durch kognitiv-behaviorale Methoden, die das Tatgeschehen und den Rückfallprozess in den Vordergrund stellen. Zur Geschichte der Therapie von Sexualstraftätern und zur kognitiv-behavioralen Therapie s. Adler/Sonnabend (1998), Berner/Becker (2001), Berner u. a. (2007), Egg (2008), Pfäfflin (2009), Pfäfflin/Kächele (2002), Wischka (2005), Wischka u. a. (2001). Die mit der Behandlungsuntersuchung betrauten Fachkräfte benötigen somit auch Kenntnisse über die Therapiemethoden der aufnehmenden sozialtherapeutischen Anstalt. Dies setzt bei den für Sexualstraftäter zuständigen Diagnostikern eine hohe fachliche Kompetenz und ständige Weiterbildung voraus. Eine fachaufsichtliche Kontrolle des Qualifikationsstandes dieser Bediensteten ist stets notwendig und deshalb sicherzustellen (Lösel/Bender 1997, 192). 28 Die für das StVollzG ungewöhnliche Betonung der Qualität (gemeint: Gründlichkeit) in der Durchführung einer gesetzlichen Vorschrift (hier: Behandlungsuntersuchung) ist zweischneidig. Die Ambivalenz zwischen Risikobereitschaft und Behandlungsnotwendigkeiten wird sich verschärfen. Einerseits definiert sich die Gründlichkeit einer Behandlungsuntersuchung dadurch, dass sie alle inneren Dispositionen und äußeren Bedingungen beschreibt, die die künftige soziale Anpassung des Gefangenen so unterstützen können, dass er in der Lage ist, ein Leben ohne schwerwiegende bzw. dauerhafte Kriminalität zu führen. Die Behandlungsuntersuchung muss daher auch konkrete Hinweise auf dafür notwendige einzelne Behandlungsformen geben. Sie wird sich dabei andererseits auch schon zu Beginn des Vollzuges mit dem Risiko befassen müssen („kalkuliertes Risiko“ nach Rasch 1985; s. auch Rdn. 11, § 7 Rdn. 11 und § 23 Rdn. 2), das in einzelnen Vollzugsmaßnahmen liegen kann (z. B. offener Vollzug, Lockerungen, Urlaub), ohne dass allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits etwas festgeschrieben wird. Zu den Gefahren einer zu frühen Festschreibung: Mey 1995. 29 Es ist erkennbar, dass die im „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ erkennbare Tendenz zu restriktiver Sicherung und Risikovermeidung durch den nunmehr mehrfach vorliegenden Hinweis (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und VV zu § 10 Nr. 2 Abs. 3; VV zu § 11 Nr. 6 Abs. 4; VV zu § 13 Nr. 4 Abs. 4; zur Risikovermeidung Nowara 1995, 158 ff) auf die besondere Gründlichkeit der Diagnosen zur Genehmigung behandlungssensibler Vollzugsmaßnahmen bei Sexualstraftätern die Verteilung derartiger
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Entscheidungen einseitig negativ beeinflussen wird. Die Risikoscheu vieler Diagnostiker wird durch diesen „Mehrfach-Hinweis“ besonders angesprochen und verstärkt. Auch forensische Psychiater gelangen allzu leicht in die Gefahr, dem öffentlichen Druck nachzugeben (Nedopil 2002b, 214). Das ist allerdings vom Gesetzgeber gewollt. Die Diagnose soll gründlich und die Prognose zutreffend sein. Bei letzterer sind die Freiheitsinteressen des Einzelnen und die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit i. S. des „kalkulierten Risikos“ jeweils sorgfältig abzuwägen (s. dazu auch BVerfG 30.4.2009 – 2 BvR 2009/08, juris). 16. Mit der Änderung des § 6 soll sichergestellt werden, dass alle wegen einer Straftat 30 nach §§ 174–180 oder 182 StGB verurteilten Gefangenen im Rahmen der Behandlungsuntersuchung besonders gründlich untersucht werden, um u. a. die Frage, ob ihre Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt angezeigt ist, gründlich prüfen zu können. Hierzu sind zeitliche Begrenzungen aus dem Strafmaß, wie sie in § 7 Abs. 4 bestimmt werden, zunächst noch nicht vorgesehen. Dabei ist eine Abstimmung mit dem Team der sozialtherapeutischen Einrichtung empfehlenswert (Walter 1999 Rdn. 307a; Schüler-Springorum 2003, 585). Die Indikation für eine sozialtherapeutische bzw. psychotherapeutische Behandlung muss sich aus dem Resultat der Behandlungsuntersuchung ergeben. Bei der Indikationsstellung sind zunächst die Kriterien Therapiebedürftigkeit, Therapiefähigkeit und Therapiemotivation (Dahle 1995) zu beurteilen. Letztere spielt allerdings nicht mehr die Rolle wie in § 9 a. F. Therapiefähigkeit wird oft allein als Klienteneigenschaft zu einseitig beschrieben und 31 definiert. Zusammen mit der Therapiemotivation des Klienten ist die Therapiefähigkeit auch unter Berücksichtigung der therapeutischen Rahmenbedingungen der Anstalt, den dort praktizierten Behandlungsmethoden und der konkreten Qualifizierung des Therapeuten zu beurteilen. Über den Begriff der Therapiemotivation bestehen heterogene Vorstellungen (Dahle 1995). Er kennzeichnet eine vielschichtige und sich ändernde Realität, die von verschiedensten Faktoren bestimmt ist. Diese können beim Klienten widersprüchliche Einstellungen hervorrufen. Viele Hemmnisse, z. B. konkurrierende Erwartungen, Unwissenheit, irreführende Information durchkreuzen besonders oft bei Menschen mit chronisch negativen Lebenserfahrungen das Vertrauen in die Möglichkeit persönlicher Veränderungen durch Therapie. Bei der Therapiemotivation ist auch die von Steller (1977) getroffene sehr bedeutsame Unterscheidung zwischen Veränderungswunsch und Hilfewunsch sinnvoll. Letzterer richtet vor allem Erwartungen an andere und weniger an sich selbst. Nach § 9 bedarf die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung nicht mehr der Zustimmung des Gefangenen und auch nicht mehr der des Leiters der Einrichtung. d. h., die Anforderungen an die Therapiemotivation sind bewusst gesenkt worden. Damit gelten ähnliche Ausgangsbedingungen wie im Maßregelvollzug. Es gehört zu den Aufgaben der Einrichtungen, Motivation zu erzeugen. Eine Probephase ist notwendig, um zu beurteilen, ob sich ein Gefangener auf Dauer behandlungsablehnend verhält und dann zurückverlegt werden muss. Die Einführung eines Probeaufenthaltes von drei Monaten ist vom Bundesrat vorgeschlagen (BT-Drucks. 13/7559), jedoch nicht in das Gesetz ausdrücklich aufgenommen worden. 17. Auch bei Beschränkung auf Sexualstraftäter mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 32 zwei Jahren wird es Fälle geben, die einer speziellen sozialtherapeutischen Behandlung nicht bedürfen. Je nachdem wie hoch die Anforderungen an die motivationalen Faktoren gestellt werden und je nachdem wie groß die Bereitschaft einer sozialtherapeutischen Einrichtung ist, Methodenrepertoire und formale Aufnahmekriterien (Strafrest, Alter) an die Klientel anzupassen, wird auch die Indikationsquote ausfallen. Die Praxis der Indikationsstellung in den Bundesländern ist sehr heterogen. Eine Befragung der Leiter der so-
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zialtherapeutischen Einrichtungen hat u. a. gravierende Unterschiede in der Berücksichtigung von Kriterien wie Strafmaß, Straflänge und Verlegungszeitpunkt sowie in der Gewichtung klinischer Störungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Ausländerstatus als Gegenindikationskriterien gezeigt (Suhling/Wischka 2008). 33 Die durch §§ 6, 7 und 9 getroffenen Regelungen beinhalten die Aufforderung an die Bundesländer, Behandlungsplätze in sozialtherapeutischen Einrichtungen in dem Ausmaß zu schaffen, wie Indikationen gestellt werden, und nicht umgekehrt, die Indikationsquote an den vorhandenen Plätzen auszurichten. Dazu ist es erforderlich, dass sich bundesweit ähnliche Maßstäbe bei der Indikationsstellung entwickeln. Der Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten e.V. hat Indikationskriterien veröffentlicht, die den derzeitigen Konsens in den sozialtherapeutischen Einrichtungen wiedergeben (Egg 2008, 103; s. § 9). Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung ist danach angezeigt: (1) bei Verurteilten, bei denen gefährliche Straftaten wegen einer erheblichen Störung ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu befürchten sind, (2) die erkennen lassen, dass sie sich um eine Änderung ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen bemühen wollen, und (3) die über die kognitiven und sprachlichen Möglichkeiten für eine Beteiligung am Behandlungsvorgehen verfügen. Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung ist zum Zeitpunkt der Feststellung nicht angezeigt: (1) bei Gefangenen, bei denen andere Behandlungsmaßnahmen eine hinreichende Wirksamkeit erwarten lassen, (2) bei Gefangenen, bei denen wegen – des Ausmaßes der Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol, – einer Erkrankung oder Schwäche des Zentralnervensystems, – schwerwiegender psychiatrisch zu behandelnder psychischer Störungen andere Hilfen angezeigt sind, (3) bei Gefangenen, bei denen der Strafrest für eine Integrative Sozialtherapie zu kurz ist oder den dafür notwendigen Zeitraum noch erheblich überschreitet, (4) bei Gefangenen, die den Gebrauch von Suchtmitteln nicht aufgeben wollen, (5) bei Gefangenen, die durch ihre subkulturellen Aktivitäten die Behandlung der anderen Gefangenen gefährden, (6) bei Gefangenen, die sich unbeeinflussbar behandlungsablehnend verhalten. Darüber hinaus können sich Gegenanzeigen gegenüber der Verlegung oder gegenüber dem Verbleiben in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung ergeben – bei Gefangenen, bei denen die Sicherheitsvorkehrungen der Sozialtherapeutischen Einrichtung nicht ausreichen, – bei Gefangenen, bei denen sich herausstellt, dass sich der Zweck Integrativer Sozialtherapie aus Gründen, die in seiner Person liegen, nicht erreichen lässt. 34 Zu der Frage, wann die Verlegung angezeigt ist, wenn der Strafrest deutlich größer ist als die zu veranschlagende Therapiezeit, haben das KG Berlin (NJW 2001, 1806 ff) und das LG Stuttgart (NStZ-RR 2001, 255 f) die von Rotthaus (ZfStrVo 2002, 182 f) geteilte Auffassung vertreten, dass die Behandlung möglichst frühzeitig zu beginnen, aber nicht unbedingt bis zum Ende der Strafe zu dauern hat. Die Verlegung in eine andere Anstalt nach Beendigung der Therapie ist kein Abbruch i. S. des § 9 Abs. 1 Satz 2. Die Zweckerreichung ist ein legitimer Grund für die Beendigung eines Rechtsverhältnisses (aaO 183; kritisch dazu Schüler-Springorum 2003, 586). Eine zeitweilige Unterbrechung der Sozialtherapie ist dagegen auch dann unzulässig, wenn ein Gefangener mit einer Strafzeit von mehr als zehn Jahren langfristig einen Behandlungsplatz „blockiert“ und lediglich Platzprobleme und der
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Umstand, dass der Gefangene nicht alle Behandlungsangebote nutze, angeführt werden (LG Stuttgart NStZ-RR 2001, 255 f). Die Auffassung, dass eine Sozialtherapie auch weit vor der Entlassung beendet werden kann, berücksichtigt die Bedeutung der Entlassungsphase und der Nachsorge für den Erfolg der Behandlung nicht angemessen. Sozialtherapie hat sich stets als eine Anstrengung zur Entlassungsvorbereitung verstanden; deshalb sind Zeitvorgaben so bedeutsam (Schüler-Springorum 2003, 584). Die Effekte therapeutischer Maßnahmen müssen durch kontrollierte Nachsorge und Rückfallprävention abgesichert werden (Lösel 2001, 51 f). Die schrittweise Gewährung von Vollzugslockerungen, Entlassungsvorbereitungen und Nachsorge sind deshalb nicht nur in den Konzepten einer integrativen Sozialtherapie (Specht 1986; Wischka/Specht 2001), sondern auch in den Regelungen des § 124 (Entlassungsurlaub), § 125 (Aufnahme auf freiwilliger Grundlage) und § 126 (Nachsorge) gesetzlich vorgesehen. Das Fehlen von Zeitvorgaben zur Behandlung in den Regelungen zur Indikation im Gesetz erscheint somit mehr als Versäumnis, denn als Wille. Die in § 104 Abs. 3 NJVollzG getroffene Regelung, dass die Verlegung zu einem Zeitpunkt erfolgen soll, der den Abschluss der Behandlung zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt erwarten lässt, berücksichtigt dieses Versäumnis.
III. Beispiel Ein wegen exhibitionister Handlungen mit Freiheitsstrafen zur Bewährung vorbestraf- 35 ter Mann wird bei einer erneuten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt. Berücksichtigt wurde beim Strafmaß, dass es diesmal zu einer deutlichen Annäherung an das Tatopfer und zu bedrohlichem Verhalten gekommen ist. Bei der Anwendung der Regel, dass bei diesem Strafmaß keine Behandlungsuntersuchung und auch keine Vollzugsplanung erfolgen, bleiben wesentliche Fragen unbeantwortet. Die Indikation für die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung wird nicht geprüft und ist wegen der kurzen Behandlungszeit auch nicht angezeigt. In der Behandlungsuntersuchung könnte z. B. sichtbar werden, dass eine sexuelle Devianz vorliegt und dass weiter mit einem progredienten Verlauf zu rechnen ist, der eine Entwicklung von „hands-off-Delikten“ zu „hands-on-Delikten“ wahrscheinlich macht. Zu klären wäre u. a., wo die Ursachen liegen und in welchem Ausmaß Kontaktstörungen und mangelnde soziale Kompetenzen dabei eine Rolle spielen. Ein Vollzugsplan auf der Basis dieser Kenntnisse könnte in dem zur Verfügung stehenden Jahr z. B. vorsehen, dass die sozialen Kompetenzen im sozialen Training erweitert werden und dass eine Nachsorge installiert wird, die therapeutische Maßnahmen zur Bearbeitung der sexuellen Devianz ermöglichen.
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 8 BayStVollzG entspricht weitgehend der Regelung des § 6 StVollzG. Die Unter- 36 suchung erstreckt sich auf die Umstände, die für eine planvolle Behandlung im Vollzug und für die Eingliederung nach der Entlassung notwendig sind. Dabei sollten in geeigneten Fällen auch die Tat und eventuell auszugleichende Tatfolgen untersucht werden, um auch Opferinteressen während des Vollzugs angemessen berücksichtigen zu können (LT-Drucks. 15/8101, S. 51; vgl. auch Gesetzesbegründung zu Art. 78, der hervorhebt, dass die Einsicht in die Verantwortung für die Tat geweckt werden soll, dass die Gefangenen anzuhalten sind, den verursachten Schaden zu regeln und dass in geeigneten Fällen ein Täter-OpferAusgleich anzustreben ist, LT-Drucks. 15/8101, S. 66).
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Mit Bezug auf die VV zu § 6 StVollzG ist eine Behandlungsuntersuchung und auch ein Vollzugsplan bei einer Vollzugsdauer bis zu einem Jahr in der Regel nicht geboten (LTDrucks. 15/8101, S. 51). Anders als § 6 Abs. 2 Satz 2 StVollzG wird die Prüfung der Indikation für die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung nicht nur auf Gefangene beschränkt, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 StGB verurteilt worden sind. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 lautet: „Es ist zu prüfen, ob eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung nach Art. 11 Abs. 1 oder 2 oder andere therapeutische Maßnahmen angezeigt sind“. Der fehlende Hinweis, dass die Indikationsprüfung „besonders gründlich“ zu erfolgen hat (§ 6 Abs, 2 Satz 2), erscheint nicht als Mangel, denn Fragestellungen bei einer Behandlungsuntersuchung, die eine planvolle Behandlung und Eingliederung zum Ziel hat, die „weniger gründlich“ zu prüfen sind, sind schwer vorstellbar (vgl. auch Arloth 2008 Art. 8 BayStVollzG). 2. Hamburg
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§ 7 HmbStVollzG entspricht weitgehend der Regelung des § 6 StVollzG. Die Behandlungsuntersuchung wird hier allerdings als „Aufnahmeuntersuchung“ bezeichnet. Als Untersuchungsgegenstand werden neben den Umständen, die für eine planvolle Behandlung oder Erziehung im Vollzug sowie für die Eingliederung nach der Entlassung notwendig sind, auch die Ursachen und Umstände der Tat ausdrücklich erwähnt. Die Forderung ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, akzentuiert aber eine delikt- und ursachenbezogene Vorgehensweise bei der Behandlung und Wiedereingliederung. Abs. 3 konkretisiert die in § 6 Abs. 1 Satz 1 StVollzG nur allgemein geregelte Befugnis, mit Rücksicht auf die Vollzugsdauer von einer Untersuchung absehen zu dürfen. Er lautet: „Die Untersuchung kann bei einer Vollzugsdauer bis zu einem Jahr auf die Umstände beschränkt werden, deren Kenntnis für eine in der verbleibenden Haftzeit angemessene Behandlung und für eine angemessene Entlassungsvorbereitung unerlässlich ist“. Die Regelung enthält somit lediglich eine Beschränkung der Behandlungsuntersuchung bei kurzen Freiheitsstrafen, nicht aber das Gebot, in der Regel gänzlich davon abzusehen. Für die in § 6 Abs. 1 Satz 1 StVollzG allgemein gebliebene Regelung, nach dem Aufnahmeverfahren mit der Erforschung der Persönlichkeit und der Lebensverhältnisse zu beginnen, hatte § 7 Abs. 4 HmbStVollzG zunächst eine Regelfrist von höchstens sechs Wochen für die Dauer der Untersuchung eingeführt, sie jedoch in der Neufassung gestrichen. Stattdessen wurde eine Frist für die Aufstellung des Vollzugsplans aufgenommen (s. § 8 HmbStVollzG). Damit wird einerseits eine zügige Aufnahmeuntersuchung zugesichert, andererseits bleibt berücksichtigt, dass bei Strafantritt nicht immer die für die Untersuchung wichtigen Unterlagen und Auskünfte vorliegen (Bürgerschafts-Drs. 18/6490, S. 32 f). Eine längere Untersuchungsdauer muss ggf. begründet werden. Abs. 4 Satz 2 schreibt die gängige Praxis gesetzlich fest und gibt dem Gefangenen einen Rechtsanspruch auf Erörterung eines schriftlich dokumentierten Ergebnisses der Aufnahmeuntersuchung. Er lautet: „Die Ergebnisse der Untersuchung sind zu dokumentieren und mit dem Gefangenen zu erörtern“. Die Prüfung der Frage, ob die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung angezeigt ist, wird auf die Zeit der Vollzugsplanerstellung verschoben. Der Vollzugsplan hat Angaben dazu zu enthalten (§ 8 Abs. 2 Nr. 3 HmbStVollzG). Es ist zwar kaum vorstellbar, dass eine Aufnahmeuntersuchung entsprechend der Vorgaben des § 7 Abs. 2 HmbStVollzG nicht auch Behandlungsziele und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele benennen wird. Entsprechende Empfehlungen werden aber nicht in gleichem Maße einen Rechts-
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anspruch auf Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung begründen können wie die Regelungen des § 6 StVollzG und des Art. 8 BayStVollzG. Nur diese Gesetze regeln eindeutig, dass die Frage der Indikation für Sozialtherapie im Rahmen der Behandlungsuntersuchung zu beantworten ist. Damit kann gewährleistet werden, dass der bei der Neufassung des StVollzG durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 31.1.1998 beabsichtigte bedarfsgerechte Ausbau der Sozialtherapie auch tatsächlich umgesetzt wird. §§ 7 und 8 HmbStVollzG und auch § 9 NJVollzG machen Verwaltungsvorschriften notwendig, in denen festgelegt wird, wer die nach § 10 HmbStVollzG und § 104 Abs. 1 NJVollzG rechtsverbindliche Feststellung trifft, ob Sozialtherapie angezeigt ist oder nicht. Haben die Diagnostiker lediglich Empfehlungskompetenzen und treffen die Verwaltungskräfte im Vollzug die Entscheidung im Rahmen der Vollzugsplanung wie die Empfehlungen der Fachkräfte zu interpretieren sind, ist die Gefahr sicherlich größer, dass nicht der Bedarf die Anzahl der Behandlungsplätze bestimmt, sondern dass umgekehrt eine Indikationsstellung nach den vorhandenen Plätzen erfolgt. 3. Niedersachsen § 9 NJVollzG fasst die in § 6 StVollzG geregelte Behandlungsuntersuchung und den in 38 § 7 StVollzG geregelten Vollzugsplan in einer einheitlichen „Vollzugsplanung“ zusammen. In der Gesetzesbegründung heißt es mit Bezug auf den Beschluss des BVerfG v. 25.9.2006 (2 BvR 2132/05, Bespr. s. Pollähne JR 2007, 446 ff), dass an der elementaren Gewichtung der Vollzugsplanung für die Erreichung des Vollzugszieles der sozialen Integration festgehalten werden soll. Eine Beschränkung auf die wesentlichen Vorschriften und eine redaktionelle Straffung erscheine aber möglich (LT-Drucks. 15/3565, S. 91). § 9 Abs. 2 NJVollzG entspricht weitgehend der Regelung des § 6 StVollzG. § 9 NJVollzG schreibt – anders als § 6 Abs. 2 Satz 2 und StVollzG und Art 8. Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG – nicht vor, dass im Rahmen der Behandlungsuntersuchung zu prüfen ist, ob die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung angezeigt ist. Der Vollzugsplan hat Angaben dazu zu enthalten (Abs. 2 Nr. 2). In Niedersachsen ist durch Verwaltungsvorschriften die Aufgabe der Behandlungsuntersuchung (Erstbegutachtung) aller Gefangener, die gem. §§ 174–180, 182, 211, 212 StGB oder nach § 323a StGB verurteilt worden sind, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten Taten ist, dem Prognosezentrum bei der JVA Hannover übertragen worden, wenn die Restvollzugsdauer mehr als ein Jahr beträgt. Es prüft auch die Indikation für die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung für erwachsene Männer (s. Villmar 2009). Die für den Strafvollzug zuständigen Anstalten nehmen im Rahmen der Vollzugsplanung zunächst eine Indikationsvorprüfung vor, in der überprüft wird, ob die Verurteilung wegen Straftaten gem. § 104 Abs. 1 NJVollzG erfolgt ist und ob die Voraussetzungen für eine Sozialtherapie offenkundig nicht vorliegen. Kommt nach der Vorprüfung eine Behandlung grundsätzlich in Betracht, wird durch das Prognosezentrum umfassend geprüft, ob eine sozialtherapeutische Behandlung indiziert ist. Wird dort die Indikation festgestellt, erhält der vom MJ bestellte Koordinator oder die Koordinatorin für die sozialtherapeutischen Einrichtungen eine Mitteilung und trifft die Entscheidung, in welcher sozialtherapeutischen Einrichtung die Behandlung durchzuführen ist. Die Anstalten des Jugend-, Jungtäter- und Frauenvollzugs nehmen die Prüfung in eigener Zuständigkeit vor. Eine Vollzugsplanung hat bei allen Gefangenen zu erfolgen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Dies ist im Hinblick auf das für alle Gefangenen geltende verfassungsrechtlich ableitbare Gebot der sozialen Integration erforderlich. Deshalb sind bei allen
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Gefangenen Überlegungen anzustellen, wie die Zeit im Vollzug möglichst sinnvoll strukturiert werden kann“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 91). Ein aufwändiges Planungsverfahren erscheine aber erst bei einer Vollzugsdauer von mindestens einem Jahr sinnvoll und geboten. Abs. 1 unterscheidet deshalb zwischen einer Vollzugsplanung, die auch in einem vereinfachten Verfahren durchgeführt werden kann und einer Vollzugsplanung durch einen Vollzugsplan. Nur dieser Vollzugsplan erfordere die Durchführung einer Untersuchung nach Abs. 2, die regelmäßige Fortschreibung nach Abs. 3 sowie die Durchführung einer Konferenz nach Abs. 4. Welche Daten für die Vorbereitung der Aufstellung des Vollzugsplans erforderlich sind, schreibt Abs. 2 vor: Daten zur Persönlichkeit, zu den Lebensverhältnissen und den Ursachen der Straftaten. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Der Vollzugsplan ist frühzeitig nach der Aufnahme vorzubereiten. Dem dient die nach Abs. 2 vorgeschriebene Erhebung der Daten, die für die Aufstellung des Vollzugsplans erforderlich sind“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 92). Der Katalog der Mindestangaben, die ein Vollzugsplan enthält (Abs. 1 Satz 3), entspricht § 7 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht § 7 Abs. 3 StVollzG. In Abs. 4 wird die bisher in § 159 StvollzG enthaltene Regelung zur Durchführung von Konferenzen übernommen, soweit sich diese auf die Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplans bezieht. Die Zuziehung der betroffenen Gefangenen oder anderer maßgeblich an der Vollzugestaltung beteiligter Personen steht im Ermessen des Anstaltsleiters. Die Einfügung, dass „nach Auffassung der Vollzugsbehörde“ an der Vollzugsplanung maßgeblich Beteiligte teilnehmen, ist insofern überflüssig (Arloth 2008 zu § 9 NJVollzG). Abs. 5 schreibt die Erörterung der Vollzugsplanung vor: „Die Vollzugsplanung wird mit der oder dem Gefangenen erörtert. Erfolgt die Vollzugsplanung in Form eines Vollzugsplans, so wird ihr oder ihm dieser in schriftlicher Form ausgehändigt“. Damit wird das vom BVerfG bejahte Einsichtsrecht des Gefangenen in den Vollzugsplan gesetzlich festgelegt (NStZ 2003, 620; ZfStrVo 2003, 183; StV 2003, 408). Denn ohne Zugang zur schriftlichen Fassung ist der Gefangene nicht in der Lage, die Vollständigkeit und Richtigkeit erteilter Auskünfte zu überprüfen.
§7 Vollzugsplan (1) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) wird ein Vollzugsplan erstellt. (2) Der Vollzugsplan enthält Angaben mindestens über folgende Behandlungsmaßnahmen: 1. die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug, 2. die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt, 3. die Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen, 4. den Arbeitseinsatz sowie Maßnahmen der beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung, 5. die Teilnahme an Veranstaltungen der Weiterbildung, 6. besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen, 7. Lockerungen des Vollzuges und 8. notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung.
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(3) Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten. Hierfür sind im Vollzugsplan angemessene Fristen vorzusehen. (4) Bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des StGB zu Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden sind, ist über eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt jeweils nach Ablauf von sechs Monaten neu zu entscheiden. Schrifttum: Berner/Becker „Sex Offender Treatment Programme“ (SOTP) in der Sozialtherapeutischen Abteilung Hamburg-Nesselstraße, in: Rehn u. a. (Hrsg.) 2001, 206 ff; Egg/Pearson/Cleland/Lipton Evaluation von Straftäterbehandlungsprogrammen in Deutschland: Überblick und Meta-Analyse, in: Rehn u. a. (Hrsg.) 2001, 321 ff; Egg/Schmitt Sozialtherapie im Justizvollzug: Synopse der sozialtherapeutischen Einrichtungen, in: Egg (Hrsg.), Sozialtherapie in den 90er Jahren, Wiesbaden 1993, 113 ff; Gretenkord Sollte der Therapeut zu „63er-Patienten“ Beurteilungen abgeben? In: Beier/Hinrichs (Hrsg.) Psychotherapie mit Straffälligen, Stuttgart 1995, 124 ff; Hürlimann Führer und Einflußfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs. Pfaffenweiler 1993; Kerner/Dolde/Mey (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung – Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung, Bonn 1996; Lohse Konsequenz als Handlungsmaxime in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung, in: KrimPäd 1993, Heft 34, 49 ff; Mai Die psychodiagnostische Tätigkeit im Strafvollzug – dargestellt am Beispiel der Haftlockerungen, in: Mai (Hrsg.) Psychologie hinter Gittern, Weinheim 1981; Mey Zum Begriff der Behandlung im Strafvollzugsgesetz (aus psychologisch-therapeutischer Sicht), in: ZfStrVo 1987, 42 ff; Neufeind „Planvolle Behandlung“ als Gegenstand der Behandlungsuntersuchung und des Vollzugsplans (§§ 6, 7 StVollzG), in: JZ 1980, 603 ff; Otto Nichtmitarbeitsbereite Gefangene und subkulturelle Haltekräfte, in: KrimPäd, 1998, 34 ff; Ortmann Resozialisierung im Strafvollzug, Freiburg 1987; Rehn/Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.), Behandlung „gefährlicher Straftäter“, 2. Aufl., Herbolzheim 2001; Steller Sozialtherapie statt Strafvollzug, Köln 1977; Schmucker Kann Therapie Rückfälle verhindern, Herbolzheim 2004; Specht Die Zukunft der sozialtherapeutischen Anstalten, in: Pohlmeier/Deutsch/Schreiber (Hrsg.). Forensische Psychiatrie heute. Berlin 1986, 108 ff; Stock Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, Engelsbach u. a. 1993; Walter, J. Moralische Entwicklung im Jugendstrafvollzug oder: Demokratie lernen, in: KrimPäd 1998, 13 ff; Weidner Anti-Aggressivitäts-Training für Gewalttäter, Bonn 1990; Wirth Prävention durch Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt: Cui bono? Kongreßbericht Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, in: Kawamura/Helms (Hrsg.), Straffälligenhilfe als Prävention, Freiburg 1998, 55 ff; Wischka Die Faktoren Milieu, Beziehung und Konsequenz in der stationären Therapie von Gewalttätern, in: Rehn/Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.) 2001, 125 ff; Wischka Wohngruppenvollzug, in: Pecher (Hrsg.), Justizvollzug in Schlüsselbegriffen, Stuttgart 2004, 335 ff; Wischka/Foppe/Griepenburg/NuhnNaber/Rehder Das Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (BPS) im niedersächsischen Justizvollzug, in: Rehn u. a. (Hrsg.) 2001, 193 ff; Wischka/Specht Integrative Sozialtherapie – Mindestanforderungen, Indikation und Wirkfaktoren, in: Rehn/Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.) 2001, 249 ff.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Wesen des Vollzugsplans . . . . 2. Definitorische Abgrenzung . . . 3. Vollzugsplanung in der Praxis . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Recht auf Erstellung des Vollzugsplans . . . . . . . . . . . . 2. Vollzugsplankonferenz . . . . . 3. Inhalt des Vollzugsplans . . . . 4. Selbstbindung der Verwaltung . 5. Anfechtung des Vollzugsplans als Ganzes . . . . . . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
1–3 1 2 3 4–15
6. Behandlungsplan . . . . . . . . 11 7. Mindestregelungen des Vollzugsplans . . . . . . . . . . . . . . 12–13 14 8. Fortschreibung des Vollzugsplans 9. Sonderregelung für Sexualstraftäter . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 16–18 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 17 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 18
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Der Vollzugsplan ist das wichtigste Ergebnis des Aufnahmevollzuges (Böhm 2003 Rdn. 178). Er will Planungssicherheit vermitteln (C/MD 2008 Rdn. 2) und kann im günstigen Fall eine stabilisierende Gegenerfahrung zu einem planlosen Leben vor der Inhaftierung sein (s. auch Böhm 2003 Rdn. 184). Er ist zentrales Element eines am Resozialisierungsziel ausgerichteten Vollzuges. Der Vollzugsplan dient der Konkretisierung des Vollzugsziels und bildet mit richtungsweisenden Grundentscheidungen zum Vollzugs- und Be— handlungsablauf einen Orientierungsrahmen für den Gefangenen und für die Vollzugsbediensteten (BVerfG 16.2.1993 – 2 BvR 594/92, StV 1994, 93; 21.1.2003 – 2 BvR 406/02, NStZ 2003, 620; 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05, juris; OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 170; OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 58). Dies gilt auch in Fällen lebenslanger Freiheitsstrafe (BVerfG 1.7.1998 – 2 BvR 441/90). Vorschriften zur Vollzugsplanung hat es zwar in Nr. 58 Abs. 4 DVollzO bereits gegeben, sie sind jedoch im StVollzG eingehender gestaltet und begründen auch erstmalig das Recht des Gefangenen auf eine ihm angemessene Vollzugsplanung. Der Vollzugsplan konkretisiert die Erreichung des Vollzugsziels im Einzelfall in Form eines Rahmenplanes. Er beschränkt sich nicht auf die Beurteilung eines bestimmten Zeitpunktes und die Anordnung der zum gegenwärtigen Zeitpunkt erforderlichen Maßnahmen, sondern er enthält Überlegungen über zukünftige Maßnahmen und entwirft Perspektiven zur Erreichung des Vollzugsziels (OLG Hamburg 13.6.2007 – 3 Vollz (Ws) 26, juris). Er muss erkennen lassen, dass neben einer Beurteilung des bisherigen Behandlungsverlaufs auch eine Auseinandersetzung mit den zukünftig erforderlichen Maßnahmen stattgefunden hat (BVerfG 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05). Eine solche Planung eröffnet schließlich weitere Aspekte in der Behandlung aus einer „Verbundzuständigkeit“ gem. § 154 Abs. 2. Die Vollzugsplanung wird dadurch unter Einbeziehung der Untersuchungshaft zum Unterteil eines Gesamtplanes zur Gegensteuerung gegen abweichendes Verhalten (Böhm 2003 Rdn. 178 f).
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2. Zu unterscheiden ist der Vollzugsplan vom Behandlungsplan (Rdn. 11) und vom Vollstreckungsplan. Der Vollstreckungsplan bestimmt, in welche Anstalt der einzelne Gefangene einzuweisen ist (s. Rdn. 2 zu § 152; Laubenthal 2008 Rdn. 305). Der Vollzugsplan legt für jeden Gefangenen fest, was mit ihm während seiner Vollzugszeit geschehen soll (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 15). Aus der Begründung zum RE (BT-Drucks. 7/ 918, 49) stammt der Begriff des Behandlungsplans. Er stellt einen besonderen Teil des Vollzugsplans dar und wird als Regelung der auf den Gefangenen anzuwendenden therapeutischen Behandlung durch Fachdienste aufgefasst (K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 12). Er konkretisiert die einzelnen Elemente des Vollzugsplans (C/MD 2008 Rdn. 2).
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3. Obwohl der Vollzugsplan ein Kernstück des behandlungsorientierten Vollzuges ist, hat sich die Praxis seiner Gestaltung ähnlich wie die der Behandlungsuntersuchung in den Bundesländern und in den einzelnen Anstalten sehr unterschiedlich entwickelt. Die Vollzugsplangestaltung reicht von einer schlichten Zuweisung zu einem Arbeitsplatz und der Anordnung der Unterbringung auf einer gerade frei gewordenen Zelle nach Durchführung eines kargen Zugangsgesprächs anstelle einer Behandlungsuntersuchung bis hin zur interdisziplinären Diagnose in einer Einweisungsanstalt mit dezidierten Empfehlungen unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit. Die Qualität der Vollzugsplanungen hat sich im Vergleich zur Zeit der Einführung des StVollzG deutlich verbessert. An der Durchsetzung des Rechts auf einen Vollzugsplan sind viele Gefangene nicht interessiert, wenn grundlegende Entscheidungen getroffen oder in Aussicht gestellt worden sind (akzeptabler Arbeitsplatz und Unterbringung, Vollzugslockerungen). Die so hergestellte Unverbindlichkeit entspricht dann häufig dem bisherigen, auf momentane Bedürfnisse ausge-
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richteten Lebensstil (Böhm 2003 Rdn. 184), dem durch eine planvolle Vorgehensweise entgegen gewirkt werden soll.
II. Erläuterungen 1. Der Gefangene hat ein Recht auf die Erstellung eines Vollzugsplans (OLG Hamm 4 aaO; OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 308; LG Berlin StV 1982, 476) unter der Voraussetzung, dass eine Behandlungsuntersuchung gemäß § 6 durchgeführt worden ist (§ 6 Rdn. 8). Dieses Recht bezieht sich auf einen vollständigen, sorgfältig erarbeiteten, auf die Situation des Gefangenen abgestellten und sich nicht auf „Leerformeln“ beschränkenden oder sich in Selbstverständlichkeiten erschöpfenden Vollzugsplan und dessen Fortschreibung (Böhm 2003 Rdn. 180). Gefangene, bei denen mit Rücksicht auf die Vollzugsdauer eine Behandlungsuntersuchung nicht geboten erscheint, haben diesen Anspruch nicht (s. § 6 Rdn. 20). In den Fällen, in denen gem. § 6 Abs. 1 Satz 2 StVollzG eine Behandlungsuntersuchung zulässigerweise unterbleiben kann, liegt die Erstellung eines Vollzugsplans ebenfalls im pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörde (OLG Stuttgart 30.10.2006 – 4 Ws 334/06, 4 Ws 338/06, juris, NStZ 2007, 172 f). Die Vollzugsbehörde ist in diesen Fällen an der Aufstellung eines Vollzugsplans aber nicht gehindert. Seine Ausgestaltung ist dann nach Art und Umfang auf die Kürze der zur Verfügung stehenden Strafzeit abzustellen. Es sollte dann wenigstens ein „rudimentärer Vollzugsplan“ erstellt werden (AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 3). Insbesondere zur Steuerung von Maßnahmen zur Entlassungsvorbereitung sind Planungen hier sinnvoll (Wirth 1998). Der Vollzugsplan muss wegen seiner zentralen Bedeutung für die Realisierung des Vollzugsziels nicht nur für den Gefangenen verständlich sein und ihm als Leitlinie für die Ausrichtung seines Verhaltens dienen können. Es muss auch eine den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG genügende gerichtliche Kontrolle daraufhin möglich sein, ob die Rechtsvorschriften für das Aufstellungsverfahren beachtet wurden und das inhaltliche Gestaltungsermessen der Behörde rechtsfehlerfrei ausgeübt worden ist (BVerfG 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05, juris). Die Nachvollziehbarkeit der rechtserheblichen Abläufe und Erwägungen ist durch geeignete Dokumentation sicherzustellen. 2. Die Durchführung der Behandlungsuntersuchung in einer Einweisungsanstalt oder 5 in der Aufnahmeabteilung der jeweils unmittelbar zuständigen Anstalt führt zwingend zur Aufstellung des Vollzugsplans (OLG Hamm ZfStrVo 1979, 63). Beschluss und Empfehlungen der Einweisungsanstalt stellen aber noch nicht den eigentlichen Vollzugsplan dar, sie sollen lediglich seine Aufstellung vorbereiten und ermöglichen (OLG Hamm aaO). Der Gefangene hat zwar einen Rechtsanspruch auf die Einhaltung der Mindestanforderungen, die gemäß § 7 Abs. 2 an den Vollzugsplan zu stellen sind. Dieses Recht kann jedoch nicht auf die Empfehlungen der Einweisungsanstalten ausgedehnt werden. Der Vollzugsplan muss auf einer Beratung in einer Konferenz nach § 159 beruhen und in schriftlicher Form fixiert werden (OLG Hamm aaO). Das mündliche Gespräch ersetzt nicht die schriftliche Form. Die Anhörung des Gefangenen vor Erlass des Vollzugsplanes ist ein Gebot rechtsstaatlicher Fairness (AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 6). Der Gefangene und/oder sein Anwalt haben kein Recht auf Anwesenheit in der Vollzugsplankonferenz; sie ist aber zulässig und im Einzelfall sinnvoll (OLG Stuttgart NStZ 2001, 392; ZfStrVo 2001, 367). Seine Teilnahme an der Vollzugsplankonferenz erleichtert ihm das Verständnis der in Aussicht genommenen Maßnahmen und fördert damit gleichzeitig seine Motivation. Vgl. auch § 6 Rdn. 25; § 159 Rdn. 7. Das gesetzliche Beteiligungsrecht beschränkt sich gem. § 6 Abs. 3 darauf, dass die Planung mit ihm erörtert wird (BVerfG NStZ-RR 2002, 25). Der Gefangene hat kein Recht
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zu verlangen, dass bestimmte Behandlungsmaßnahmen in den Vollzugsplan aufgenommen werden (OLG Hamm ZfStrVo 1979, 63; OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 308; OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 245 = NStZ 1983, 381 mit Anm. Rotthaus; OLG Celle ZfStrVo 1985, 243); er hat auch keinen Anspruch auf Festsetzung des Beginns einer Behandlungsmaßnahme (KG ZfStrVo 1987, 245; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1989, 310; C/MD 2008 Rdn. 2). Insoweit hat er nur einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des der Vollzugsanstalt zustehenden Ermessens. Vgl. auch § 4 Rdn. 11. Einzelanordnungen müssen allerdings mit den im Vollzugsplan enthaltenen Angaben über Behandlungsmaßnahmen in Einklang stehen (OLG Celle NStZ 1982, 136). Der Gefangene hat einen Anspruch, über den Vollzugsplan so unterrichtet zu werden, dass ihm die Mitwirkung an seiner Behandlung möglich ist und er seine Rechte wahrnehmen kann. Dass der Gefangene ein Exemplar des Vollzugsplans zur Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen benötigt, wird ausnahmslos zu bejahen sein, wenn seine Funktion als zentrales Element eines am Resozialisierungsziels ausgerichteten Vollzuges (s. Rdn. 1) ernst genommen wird. Er soll Orientierung und Sicherheit geben und das Verhalten auf die Behandlungsziele ausrichten. Das Aufstellungsverfahren und die enthaltenen Einzelmaßnahmen müssen einer gerichtlichen Überprüfung standhalten. Dass beide „Vertragspartner“ ihren Verpflichtungen nachkommen und sich an die schriftlich fixierten Vereinbarungen halten, ist für das Ziel einer Verantwortungsübernahme nach der Entlassung fundamental. BVerfG ZfStrVo 2003, 183 f; ebenso K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 17. C/MD 2008 Rdn. 1 bejahen dies auch für den Einweisungsbescheid mit den Gründen und Hinweisen zum Vollzugsplan; zurückhaltender Arloth 2008 Rdn. 6. Die Aushändigung des Vollzugsplans ist für die Vollzugsverwaltung auch einfacher als die Gewährung von Akteneinsicht, auf die der Gefangene einen Anspruch hat, wenn er darlegen kann, dass er hierauf angewiesen ist und kein Ausschlussgrund nach § 19 Abs. 4 BDSG vorliegt (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 17; § 185 Rdn. 11). Schöch aaO hält die Begründung des OLG Karlsruhe, der Vollzugsplan könne auch geheimzuhaltende Tatsachen aus der Gefangenenpersonalakte enthalten, zu Recht nicht für stichhaltig (vgl. Rdn. 12; vgl. auch OLG Celle ZfStrVo 1985, 169). Im Geltungsbereich des NJVollzG haben die Gefangenen einen Rechtsanspruch auf Aushändigung des Vollzugsplans erhalten (s. Rdn. 18). Zur Aushändigung von Befunden aus der Behandlungsuntersuchung an Gefangene § 6 Rdn. 13, 25 u. § 152 Rdn. 13. 6 Die Entscheidung über den Vollzugsplan muss nach Beratung in einer Konferenz gefällt werden (§ 159). Der gesetzlichen Anforderung, eine Konferenz durchzuführen, ist nicht genügt, wenn ein Vollzugsbediensteter den Plan entwirft und die Dienstvorgesetzten sich auf Überprüfung des Entwurfs beschränken (KG NStZ 1995, 360). Zur Anwesenheit des Gefangenen bei der Vollzugsplankonferenz s. § 6 Rdn. 25. Konferenzteilnehmer sollen die an der Behandlung maßgeblich Beteiligten sein. In der Unterlassung der Konferenzbeteiligung liegt ein Rechtsfehler in der Ausübung des Anstaltsermessens (KG ZfStrVo 1999, 119; StraFo 2004, 362 f; BVerfG 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05; Arloth 2008 § 159 Rdn. 2). Es ist aber nicht erforderlich, dass alle Konferenzteilnehmer an der Behandlung des Gefangenen beteiligt gewesen und mit ihm persönlichen Kontakt gehabt haben müssen (OLG Hamburg 13.6.2007 – 3 Vollz (Ws) 26, juris) Der Anstaltleiter muss nicht persönlich teilnehmen, sondern kann von seinen Delegationsmöglichkeiten Gebrauch machen. Der Begriff des Anstaltsleiters ist nicht persönlich, sondern offenkundig funktionell aufzufassen (OLG Celle 22.1.2009 – 1 Ws 591/08). Maßgeblich an der Behandlung beteiligt i. S. des § 159 sind alle im Vollzug tätigen Bediensteten, die genaue persönliche Kenntnisse über den Gefangenen haben. Hierzu gehört auch dessen Einzeltherapeut. Eine nur schriftliche Unterrichtung der übrigen Konferenzteilnehmer durch den Einzeltherapeuten über das Ergebnis der Behandlung erfüllt die Anforderungen des § 159 nicht. Die Vertretung eines „an der Behand-
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lung maßgeblich Beteiligten“ setzt voraus, dass der Vertreter nicht nur über eine vergleichbare Qualifikation verfügt, sondern auch über den Kenntnisstand des Vertretenen. Gretenkord (1995) setzt sich mit der Zurückhaltung von Therapeuten auseinander, Beurteilungen über ihre Klienten abzugeben, weil sie eine strikte Trennung der Funktion von Therapeut und Beurteiler für zwingend halten. Er kommt nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass es vor allem notwendig ist, transparent zu machen, wer welche Informationen weitergibt. Je mehr die Behandlungsbedürftigkeit durch Störungen der Sozialisation, Reifeverzögerungen oder psychopathische Züge begründet ist, desto mehr sind klare Strukturen mit eindeutigen Beziehungsmustern und die Mitwirkung aller, auch der Therapeuten, an Entscheidungen geboten. Ein Verstoß gegen § 159 bei der Aufstellung des Vollzugsplans führt grundsätzlich auch zur Rechtswidrigkeit der in ihm enthaltenen Einzelmaßnahmen (OLG Frankfurt 1.3.2007 – 3 Ws 1051/06, juris). Zeit, Ort und Teilnehmer sowie der wesentliche Inhalt der Vollzugsplankonferenz sind aktenkundig zu machen. Die für den Gefangenen einsehbaren Unterlagen müssen eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Person des Betroffenen im Rahmen der seiner Person gewidmeten Konferenz erkennen lassen (BVerfG 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05). 3. § 7 Abs. 2 regelt den inhaltlichen Mindestumfang des Vollzugsplans. Der Vollzugs- 7 plan darf allerdings nicht nur die nach § 7 Abs. 2 Nr. 1–8 getroffenen einzelnen Entscheidungen aufzählen. Er muss darüber hinaus auch erkennen lassen, dass die Entscheidungen aus dem Ergebnis der Behandlungsuntersuchung abgeleitet worden sind. Zur Gewinnung des Behandlungsergebnisses im Einzelnen § 6 Rdn. 22 ff. Die Aufstellung eines Zeitplans für einen sinnvoll abgestimmten Verlauf des Vollzuges ist sowohl aus Behandlungs- wie auch aus organisatorischen Gründen notwendig, aber auch schwierig. Insbesondere bei Gefangenen mit langen Strafen wird es noch nicht möglich sein, zu allen Punkten von § 7 Abs. 2 unmittelbar nach der Behandlungsuntersuchung konkrete Aussagen zu machen. Auch dies muss in den Vollzugsplan aufgenommen werden mit dem Hinweis auf die Inaussichtnahme des Zeitpunkts einer späteren Entscheidung (OLG Hamm ZfStrVo 1979, 63; OLG Zweibrücken 4.2.2004 – 1 Ws 513/03, juris). Bereits aus diesen Gründen sind Fortschreibungsfristen individuell festzulegen (OLG Celle ZfStrVo 1985, 244). Es ist in jedem Fall erforderlich – auch unter Berücksichtigung einer möglichen Strafrestaussetzung nach § 57 StGB –, den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt in den Vollzugsplan aufzunehmen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Entscheidung, ob im Vollzugsplan vom notierten Strafende oder von einer Strafrestaussetzung ausgegangen wird, häufig im Sinne einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ wirkt. Werden besondere Behandlungsmaßnahmen, die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung, Ausbildungsmaßnahmen oder Vollzugslockerungen so terminiert, dass von einer Entlassung zum Strafende ausgegangen wird, werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Voraussetzungen, die eine Strafrestaussetzung nach § 57 StGB begründen können, zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegen. Für die Richter der Strafvollstreckungskammern hat die Erprobung in Vollzugslockerungen eine zentrale Bedeutung (s. auch AK-Feest/Joester 2006 Vor § 5 Rdn. 12, 15–17; BVerfG 30.4.2009 – 2 BvR 2009/08, juris). Auch bei erheblicher krimineller Vorbelastung sollten Behandlungsmaßnahmen deshalb so geplant werden, dass bei günstigem Verlauf eine Strafrestaussetzung zur Bewährung oder eine Erprobung im offenen Vollzug möglich sind. Es ist beanstandungsfrei, von einer Entlassung zum Endzeitpunkt auszugehen, wenn der Verurteilte unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib der aus der Tat erlangten Beute macht (OLG Zweibrücken 1 Ws 513/03-Vollz, NStZ 1999, 104, OLG Zweibrücken 4.2.2004 – 1 Ws 513/03, juris). Die Festsetzung des voraussichtlichen Entlassungs-
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zeitpunktes im Vollzugsplan ist nicht anfechtbar (OLG Frankfurt NStZ 1995, 520; KG NStZ 1997, 207 ff; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 34). Die Aufzählung über den Inhalt des Vollzugsplans nach § 7 Abs. 2 Nr. 1–8 ist nicht abschließend. So empfiehlt es sich, einen Urlaubsplan aufzustellen und das Überbrückungsgeld (s. § 51 Rdn. 4 ff) festzusetzen. Weitere Bereiche sind Maßnahmen zu Freizeitgestaltung, Außenkontakte, Maßnahmen zum Ausgleich der Tatfolgen oder Schuldenregulierung, die z. T. in die landesrechtlichen Regelungen aufgenommen worden sind (weitere Vorschläge bei AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 19). Andere notwendige Entscheidungen oder in Aussicht genommene Behandlungsmaßnahmen sollen – falls notwendig – den Vollzugsplan vervollständigen. Insbesondere für die Planung therapeutischer Maßnahmen lässt § 7 Abs. 2 Raum, da im Gesetz außer in § 37 Abs. 5 besondere therapeutische Maßnahmen nicht erwähnt werden. Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 7 Abs. 2 Nr. 2) wird in den einzelnen Bundesländern nach verschiedenen Organisationsmodellen gehandhabt. Zur Verlegung von Sexualstraftätern in eine sozialtherapeutische Anstalt s. § 6 Rdn. 26 ff. Die Verwendung eines Vollzugsplan-Formulars ist möglich (Arloth 2008 Rdn. 7), verleitet aber zu einer Reduzierung wesentlicher Erkenntnisse auf Stichworte. Es birgt die Gefahr, dass die Darstellung individuell erforderlicher Schwerpunkte und Entwicklungsverläufe verhindert wird und dass Routinepläne entstehen (Laubenthal 2008 Rdn. 325).
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4. Ist eine Maßnahme in den Vollzugsplan aufgenommen, muss sie auch sachgerecht durchgeführt werden (C/MD 2008 Rdn. 2), es sei denn, sie wird nach § 7 Abs. 3 änderungsbedürftig. Die Änderung muss ermessensfehlerfrei begründet werden (C/MD 2008 Rdn. 2; OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 111, 114; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1989, 310; OLG Karlsruhe 18.8.2005 – 2 Ws 159/04, juris; KG 6.2.2006 – 5 Ws 573/05, juris). Die Aufnahme in den Vollzugsplan bewirkt bei Ermessensentscheidungen eine Selbstbindung der Verwaltung (Arloth 2008 Rdn. 4). So verlangt die Aufhebung bislang gewährter Vollzugslockerungen Begründungen i. S. des § 14 Abs. 2 (OLG Celle ZfStrVo 1989, 116). Unzulässig ist auch die Einschränkung von im Vollzugsplan vorgesehenen Behandlungsmaßnahmen allein aus personalwirtschaftlichen Gründen. Treten Gründe ein, die das Personal an der Erfüllung gebotener Behandlungsmaßnahmen hindert, müssen sie konkret benannt und in ihrer Bedeutung den Belangen des Behandlungsvollzugs im Einzelfall gegenübergestellt und gewichtet werden (OLG Karlsruhe StraFo 2004, 362 f; NStZ 2005, 53 f = ZfStrVo 2005, 125). Die Versagung einer im Vollzugsplan vorgesehenen Ausbildungsstelle darf nicht mit Gründen gerechtfertigt werden, die bei der Erstellung des Vollzugsplans bereits bekannt waren (OLG Karlsruhe 2 Ws 2/08 juris). Wenn abzusehen ist, dass sich ein ursprünglich seitens der Anstalt vorgesehener Behandlungsansatz aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht verwirklichen lassen wird, hat die Vollzugsanstalt zu prüfen, ob auch andere Behandlungsmaßnahmen in Betracht kommen (OLG Karlsruhe – 1 Ws 165/03, StV 2004, 555 f = ZfStrVo 2005, 246 f). Auch bei Verlegung in eine andere Anstalt behält der Vollzugsplan seine Bedeutung (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 58; NStZ 1986, 92; KG NStZ 1990, 559). Er kann zwar entsprechend der Entwicklung des Gefangenen und den besonderen therapeutischen Möglichkeiten der (sozialtherapeutischen) Anstalt abgeändert werden. Unzulässig ist aber eine beliebige Neuplanung, die die Behandlung für den Gefangenen in einem kontrollierten Prozess unberechenbar macht (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1988, 367; NStZ 1988, 431). Ein als „vorläufig“ bezeichneter Vollzugsplan eröffnet der Vollzugsanstalt nicht die Möglichkeit einer gänzlich neuen Ermessensausübung. So kann eine Lockerungsplanung, die unter dem Vorbehalt der Abklärung des voraussichtlichen Entlassungszeitpunktes mit der Strafvollstreckungskammer und der Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft) nach
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ihrer Durchführung nicht zu einer gänzlich anderen Entscheidung führen als im Vollzugsplan vorgesehen. Eine vorherige Abstimmung mit anderen Behörden sieht das StVollzG nicht vor. Es besteht auch kein praktisches Bedürfnis für eine solche Konstruktion. Kann der Entlassungszeitpunkt z. B. wegen weiterer Ermittlungs- und Strafverfahren nicht zuverlässig prognostiziert werden, ist die Vollzugsbehörde nicht gehindert, den Zeitpunkt möglicher Lockerungen zunächst offen zu lassen (OLG Karlsruhe 18.8.2005 – 2 Ws 159/04, juris). Werden Maßnahmen nicht in den Vollzugsplan aufgenommen (z. B. Vollzugslockerun- 9 gen), enthebt dies die Vollzugsbehörde nicht von der Verpflichtung, einen konkreten Antrag auch konkret zu bescheiden. Vollzugsplan und Einzelmaßnahme des Vollzuges stehen zueinander im Verhältnis von Grundsatz und Einzelakt. Trotz der eine Maßnahme grundsätzlich befürwortenden oder ablehnenden Planung vermag im Einzelfall eine Maßnahme gleichwohl verweigert oder gewährt werden. Die Existenz des Vollzugsplans beeinflusst insoweit die Begründungslast dahin, dass Abweichungen von der generellen Planung im Einzelfall gesondert zu begründen sind. (OLG Schleswig-Holstein 8.4.2008 – 2 VollzWs 123/08, juris). So unterliegt die Feststellung des Vollzugsplanes, keine Vollzugslockerungen zu gewähren, der gerichtlichen Überprüfung. Der Gefangene kann also nicht darauf verwiesen werden, zunächst bei der JVA einen Antrag auf Gewährung von Lockerungen gem. § 11 StVollzG zu stellen und erst gegen eine mögliche Ablehnung des Antrags gerichtlich vorgehen zu können. Der Vollzugsplan hat deshalb nicht nur den pauschalen Hinweis auf Flucht- und Missbrauchsgefahr zu enthalten. Es ist auch keine ausreichende Feststellung, dass eine Missbrauchsgefahr nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Bei der Beurteilung der Missbrauchsgefahr muss die Prognose zwischen Gefahren, die sich auf die Zeit nach der Entlassung beziehen (Langzeitprognose) und Gefahren in Lockerungen, die kuzzeitig sind und Kontrollen beinhalten, unterscheiden. Z. B. sind Straftaten, die in besonderen Beziehungskonstellationen entstanden sind, in Vollzugslockerungen häufig nicht zu befürchten. Es reicht auch die Feststellung einer fehlenden Mitarbeit an der Behandlung oder das Fehlen einer günstigen Sozialprognose nicht aus. Dass eine Behandlungsbedürftigkeit besteht, kann allein eine Missbrauchsgefahr auch nicht begründen. Zumindest in groben Zügen sind die tragenden Gründe für die Entscheidung darzulegen. Dabei sind konkrete Tatsachen zu nennen, dass ein Missbrauch sogar unter den Einschränkungen und Kontrollen befürchtet werden muss, denen der Gefangene bei der Gewährung von Lockerungen unterworfen ist. Nur durch diese Kenntnis wird die Planung für den Gefangenen nachvollziehbar und verständlich, so dass er sein künftiges Verhalten darauf einstellen und eigene Fehler korrigieren kann. Ob die Anstalt von dem ihr zustehenden Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat, ist nur bei Kenntnis der dargelegten Gründe überprüfbar (BVerfG 3.7.2006 – 2 BvR 1383/03; 30.4.2009 – 2 BvR 2009/08, juris OLG Karlsruhe 25.6.2004 – 3 Ws 3/04, juris; 13.10.2006 – 2 Ws 236/06, juris, StraFo 2007, 39 f, StV 2007, 200; 2.10.2007 – 1 Ws 64/07L, juris; OLG Hamburg 13.6.2007 – 3 Vollz (Ws) 26, juris; OLG Frankfurt 1.3.2007 – 3 Ws 1051/06, juris: OLG Celle 31.10.2008 – 1 Ws 538/08 NdsRpfl 2009, 15 ff). Da ein Missbrauchsrisiko niemals gänzlich ausgeschlossen werden kann, ist bei der Ermessensentscheidung, ob ein Restrisiko vertretbar ist, auch das „Unterlassungsrisiko“ (Mai 1981) abzuwägen, also die möglichen Gefahren für die Allgemeinheit (nach der Entlassung), wenn bestimmte Maßnahmen (z. B. Lockerungen) unterbleiben. 5. Das BVerfG wertet es als Verletzung des durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten An- 10 spruchs auf eine möglichst effektive gerichtliche Kontrolle, wenn eine Strafvollstreckungskammer einen auf Anfechtung des Vollzugsplans als Ganzes gerichteten Antrag als
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unzulässig verwirft. Es kann sich vor allem darum handeln, dass das Aufstellungsverfahren fehlerhaft ist und dass der Plan nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen genügt, etwa nicht auf die Entwicklung des Gefangenen und die in Betracht kommenden Behandlungsansätze in zureichender, Orientierung ermöglichender Weise eingeht. Dies gilt auch für die zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten angesichts der Verpflichtung, auch ihnen eine Chance zur Wiedererlangung ihrer Freiheit zu eröffnen. Unabhängig davon, ob sich ein Entlassungszeitpunkt bereits konkret abzeichnet, muss jedenfalls die Vollzugsplanung besonders auch auf die Vermeidung schädigender Auswirkungen lang dauernden Freiheitsentzuges als ein wesentliches Teilelement des Resozialisierungsauftrages ausgerichtet sein (BVerfG 16.2.1993 – BvR 594/92 StV 1994, 93; 301; StV 1994, 94; BVerfG NStZRR 2008, 60 f; BVerfG 25.9.2006 – 2 BvR 2132/05; BverfG OLG Celle NStZ 1999, 444; OLG Hamburg StrFo 2007, 390; Laubenthal 2008 Rdn. 327; a. A. s.KG ZfStrVo 1984, 370; OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 116; KG ZfStrVo 1987, 245; OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 322). Ein erheblicher Mangel ist auch eine fehlende Frist zur Vollzugsplanfortschreibung (OLG Karlsruhe StV 2004, 555 ff). Das Aufstellungsverfahren ist auch fehlerhaft, wenn zeitgleich zwei Fortschreibungen des Vollzugsplans erstellt werden (inhaltliche Abweichungen zwischen der Vollzugsplanung in den Akten und der Planung, die dem Gefangenen ausgehändigt worden ist), ohne dass deutlich wird, welche von beiden Rechtswirkung entfalten soll (OLG Karlsruhe – 1 Ws 165/03, StV 2004, 555 f = ZfStrVo 2005, 246 f).
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6. Vom Vollzugsplan zu unterscheiden ist der Behandlungsplan. Er ist dem Vollzugsplan untergeordnet und regelt die Konkretisierung einzelner Elemente des Vollzugsplans durch behandelnde Fachkräfte (BT-Drucks. 7/918, 49). Im Gesetz ist der Behandlungsplan nicht besonders geregelt. Die Benutzung der Begriffe Behandlungsuntersuchung (§ 6 Abs. 1; § 7 Abs. 1), Planung der Behandlung (§ 6 Abs. 3), Vollzugsplan (§ 7) und Behandlungsplan führt leicht zu terminologischer Verwirrung (kritisch erläuternd dazu Stock 1993, 69 und 110 f, Anm. 229). Sozialtherapeutische Erfahrungen haben im Übrigen gezeigt, dass eine Verbesserung der Effizienz des Strafvollzuges weniger durch Einsatz spezifischer psychotherapeutischer Methoden als vielmehr durch ein als „integrative Sozialtherapie“ bezeichnetes Vorgehen erreicht wird, in dem das gesamte Lebensfeld innerhalb und außerhalb der Einrichtung einbezogen wird, wenn ein therapeutisches Klima hergestellt werden kann und wenn psychotherapeutische, pädagogische und arbeitstherapeutische Maßnahmen miteinander verknüpft werden (Specht 1986, 110; Steller 1977, 13; Wischka/Specht 2001, 254; zu einem umfassenden Behandlungsbegriff: C/MD 2008 § 4 Rdn. 6; Mey 1987, 45; vgl. auch § 9 Rdn. 5 und § 141 Rdn. 10). Zwar stellt der Gesetzgeber in BT-Drucks. 7/918, 49 fest, dass der Vollzugsplan als Rahmenplan die am Vollzug Beteiligten zur Zusammenarbeit anregt. Dennoch verbleibt es trotz dieser Erkenntnis bei der Unterscheidung zwischen Vollzugsplan und Behandlungsplan. Der gesetzlich ungeregelte Begriff des Behandlungsplans hat allerdings den Vorteil, dass dadurch in Verbindung mit den ebenfalls nicht definierten besonderen Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen (§ 7 Abs. 2 Nr. 6) die Anwendung und Erprobung vielfältiger Behandlungsmethoden möglich ist. Diese Möglichkeit ist auch im Rahmen verschiedener sozialtherapeutischer Konzepte genutzt worden. (Zur Meta-Evaluation der Sozialtherapie Egg u. a. 2001; Lösel/Schmucker 2008).
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7. Die in § 7 Abs. 2 aufgezählten Mindestregelungen des Vollzugsplans stehen mit anderen Regelungen des Gesetzes in Verbindung und werden dort spezifisch erläutert: Nr. 1 mit §§ 10 f; Nr. 2 mit § 9; Nr. 3 mit §§ 17 f; Nr. 4 und 5 mit §§ 37 ff und 67; Nr. 6 mit §§ 9, 56; Nr. 7 mit § 11; Nr. 8 mit § 15. § 7 Abs. 2 Nr. 3 schreibt die Zuweisung zu Wohngruppen zwingend vor und sieht darin eine Behandlungsmaßnahme (C/MD 2008 Rdn. 4). In Verbindung mit § 143 Abs. 2 ergibt
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sich daraus, den sog. Wohngruppenvollzug in allen Anstalten zur Regel zu machen. Ob die Zuweisung zu einer Wohngruppe bereits Behandlung ist und insbesondere das Individualisierungsprinzip der Behandlung (§ 6 Rdn. 5) erfüllt, mag dahingestellt bleiben. Die Unterbringung der Gefangenen in Wohngruppen ist jedoch Voraussetzung dafür, das Leben in der Anstalt zu einem natürlichen sozialen Trainingsfeld zu gestalten („Angleichungsgrundssatz“ § 3 Rdn. 3), das Klima dem einer problemlösenden Gemeinschaft anzunähern (Walter 1999 Rdn. 284; Lohse 1993; Wischka 2001, 2004) und demokratische Strukturen einzuführen (J. Walter 1998). Diese Aufgaben stellen erhöhte Anforderungen an das Personal. Jeder Bedienstete muss gerade im Wohngruppenvollzug das Verhältnis von Distanz und Nähe zum Gefangenen besonders sorgfältig austarieren. Notwendig ist daher ständige Praxisberatung der Bediensteten, die im Wohngruppenvollzug tätig sind. Vgl. auch § 143 Rdn. 4. Einer aus Behandlungsgründen geschaffenen Wohngruppe kommt keine Rechtspersönlichkeit zu; sie kann somit weder Träger von Rechten und Pflichten sein, noch von einem Gefangenen vertreten werden. Antragsberechtigt i. S. § 109 können nur natürliche Personen oder vom Gesetz ausdrücklich dazu befähigte Personenmehrheiten (z. B. Anstaltsbeirat nach § 163 oder Gefangenenmitverantwortung nach § 160) sein, soweit ihre ureigensten Interessen betroffen sind (OLG Hamm NStZ 1993, 512). Gegen Entscheidungen der Anstaltsleitung hat eine Wohngruppe somit kein Widerspruchsrecht. Kommt die Zuweisung zu einer Wohngruppe aus individuellen oder organisatorischen Gründen nicht in Betracht, so hat der Vollzugsplan eine Begründung dafür zu enthalten (C/MD 2008 Rdn. 4). Individuelle Gründe liegen z. B. vor, wenn befürchtet werden muss, dass die mit dem Wohngruppenvollzug verbundenen Freiräume zu subkulturellen Aktivitäten und zur Unterdrückung von Mitgefangenen missbraucht werden (Hürlimann 1993; Otto 1998; Wischka 2004, 342 ff). Die Verlegung eines Gefangenen in den behandlungsorientierten Wohngruppenvollzug ist eine begünstigende Maßnahme, die nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 14 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zurückgenommen werden kann (KG 4.6.2004 – 5 Ws 227/04 Vollz, ZfStrVo 2005, 121 f). Von der Wohngruppe zu unterscheiden ist die Behandlungsgruppe (vgl. auch § 143 Rdn. 4). Die hier zusammengefassten Gefangenen gehören meist zu verschiedenen Wohngruppen. Die Behandlungsgruppe wird zum Zweck der Durchführung besonderer Behandlungsmaßnahmen gebildet, von denen allerdings die Maßnahmen nach § 7 Abs. 2 Nr. 6 zu unterscheiden sind. Denkbar wäre jedoch, Methoden wie „group counselling“ oder soziales Training (§ 74 Rdn. 12) auch in geschlossenen Wohngruppen durchzuführen. Maßnahmen nach § 7 Abs. 2 Nr. 6 sind dagegen methodisch speziell ausgerichtete Therapieformen oder Trainingsabläufe, wie z. B. Anti-Aggressions-Training (Weidner 1990), kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme für Sexualstraftäter (Berner/Becker 2001; Wischka u. a. 2001), aber auch gezielte Einzelhilfemaßnahmen. Der Auffassung von AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 13, dass mit „Zuweisung“ nur „Beratung“ gemeint sein könne, weil die Entscheidung zur Teilnahme an Behandlungsgruppen den Gefangenen überlassen bleiben müsse, kann nicht zugestimmt werden. Wenn auch das Gesetz keine Mitwirkungspflicht kennt, die durch formelle oder informelle Sanktionen erzwungen werden darf (§ 4 Rdn. 3 ff; C/MD 2008 § 4 Rdn. 4 f; Seebode 1997, 156), hat der Gefangene kein Recht, sich resozialisierenden Maßnahmen zu entziehen (§ 4 Rdn. 4). Die Bereitschaft hierzu ist i. S. d. § 4 Abs. 1 zu wecken und zu fördern. Insofern kann die Mitwirkung des Gefangenen an den im Vollzugsplan festgelegten Maßnahmen natürlich Auswirkungen auf die Beurteilung der Missbrauchsgefahr bei Vollzugslockerungen haben (s. § 11 Rdn. 24). Gleiches gilt für die Prognoseerstellung im Rahmen der Strafrestaussetzung gem. § 57 StGB. Wenn auch das Merkmal „mangelnde Kooperation“ zur Beurteilung des Missbrauchsrisikos und der Rückfallgefahr nicht direkt verwertbar ist (AK-Feest/Lesting 2006 § 4
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Rdn. 5), so ist es aber die Beurteilung, ob sich deliktrelevante Einstellungen und Verhaltensmuster verändert haben oder ob soziale Kompetenzen zur Bewältigung von Konflikten und Alltagsschwierigkeiten erworben wurden. Dies wird ohne aktive Mitwirkung kaum möglich sein. 13 Für die durch § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 4 und § 9 Abs. 1 hervorgehobene Gruppe der wegen Sexualdelikten verurteilten Gefangenen ist die Zustimmung zur Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung in der Neufassung bewusst gestrichen worden. Dass sich diese Gefangenen dort nicht nur aufhalten, sondern an den zur Reduzierung der Rückfallgefahr erforderlichen Behandlungsmaßnahmen teilnehmen sollen, versteht sich von selbst. In einer unbeeinflussbar ablehnenden Haltung ist ein Rückverlegungsgrund i. S. d. § 9 Abs. 1 zu sehen (s. § 6 Rdn. 33), der auch prognostisch relevant ist. Bei der Planung der Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung sind die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten zu berücksichtigen. Die restriktiveren Kriterien bei der Strafrestaussetzung gem. § 57 StGB und die erhebliche Erweiterung des Personenkreises, bei dem eine Begutachtung gem. § 454 Abs. 2 StPO erforderlich wird, macht den Entlassungszeitpunkt sowohl für den Gefangenen als auch für die Vollzugsbehörde schwerer kalkulierbar. Das kann die Probleme erhöhen, Gefangene zu einer aktiven Mitarbeit zu motivieren (C/MD 2008 Rdn. 7) und die Vollzugsplanung verlässlich einzuhalten (zur Problematik des § 454 StPO und zur Prognose s. § 6 Rdn. 11 und 24). Um so wichtiger ist es, auf der Basis einer sorgfältigen Behandlungsuntersuchung die Vollzugsplanung, deren Umsetzung, die dabei erzielten Ergebnisse und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen für die Entlassungsprognose so zu dokumentieren, dass sie für den Gutachter und die Strafvollstreckungskammer nachvollziehbar sind. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Klarstellung des BVerfG (NStZ 1998, 373 ff), dass auch die Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit (§ 57 StGB Abs. 1 Satz 1 Nr. 2), ebenso wie schon die Klausel der Verantwortbarkeit der Erprobung (§ 57 StGB a. F.) es einschließt, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird.
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8. § 7 Abs. 3 soll verhindern, dass der Vollzugsplan eine negative Festschreibungsfunktion erhält. Er ist mit der Entwicklung des Gefangenen und den weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten, wobei bereits im Vollzugsplan individuell angemessene Fristen zu seiner Überprüfung festzulegen sind. Der Vollzugsplan und seine Fortschreibung ist ein dynamischer, die gesamte Dauer des Strafvollzuges begleitender Prozess. Die Fortschreibungen ersetzen den Vollzugsplan nicht, sondern bauen auf ihm auf. Sie modifizieren ihn unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Gefangenen (OLG Hamburg 13.6.2007 – 3 Vollz (Ws) 26/07, juris). Es muss der Gefahr begegnet werden, dass der Gefangene mit der Diagnose aus der Behandlungsuntersuchung unveränderlich abgestempelt bleibt. Darüber hinaus enthält diese Vorschrift eine Anweisung zur organisatorischen Gestaltung des Vollzuges. Die fortlaufende Überprüfung des Vollzugsplans, die gemäß § 159 wiederum in einer Konferenz zu geschehen hat, muss sich nach den Bedingungen des Einzelfalls ausrichten (OLG Hamm – 19.4.1994 – 1 Vollz (Ws) 37/94). Dabei ist es entbehrlich, diejenigen Regelungen lediglich abzuschreiben, für deren Änderung kein Anlass besteht (KG NStZ 2001, 410 f). Es empfiehlt sich, zur Überprüfung zunächst grundsätzlich feste zeitliche Abstände zu bestimmen. Angemessen ist eine Frist von sechs Monaten, wie sie für die in Abs. 4 bestimmten Sexualstraftäter zur Überprüfung der Indikation zur Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt verbindlich vorgesehen ist. Kürzere Fristen sind im Bedarfsfall, z. B. bei kurzen Strafen oder in der Entlassungsphase sinnvoll, längere sind i.d.R. unangemessen (C/MD 2008 Rdn. 8; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 21). Nach Arloth 2008 Rdn. 9 ist bei zehn-
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jährigen oder lebenslangen Freiheitsstrafen eine Überprüfung innerhalb Jahresfrist angemessen. 9. In § 7 Abs. 4 sind ebenso wie in § 9 Abs. 1 Voraussetzungen für die Verlegung von 15 Sexualstraftätern in sozialtherapeutische Anstalten oder Abteilungen formuliert, sofern ihre Verlegung nach § 6 Abs. 2 Satz 2 n.F. angezeigt ist (zur Indikationsprüfung s. § 6 Rdn. 33). Die Fristprüfung gem. § 7 Abs. 4 soll sicherstellen, dass die Erkenntnisse und Veränderungen des Vollzuges berücksichtigt werden (BT-Drucks. 13/9062, 13). Sie beziehen sich insb. auf Veränderungen hinsichtlich einer behandlungsablehnenden Haltung, die eine Verlegung nur unter Anwendung unmittelbaren Zwanges ermöglichen würde, auf Gewaltpotenziale, die Risiken für Bedienstete oder Mitgefangene in einem für die Therapie notwendigen Freiraum unvertretbar erhöhen würde, und Suchtmittelgebrauch, der verhindert, sich auf therapeutische Prozesse einzulassen. Die Überprüfung der Verlegung kommt auch für solche Fälle in Betracht, in denen eine Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt zwar angezeigt ist, die jedoch entweder aus in ihrer Strafzeit liegenden Gründen und/oder aus Gründen der Vollzugsorganisation (z. B. begrenzte Aufnahmekapazität der sozialtherapeutischen Einrichtung) noch nicht verlegt werden können (s. § 6 Rdn. 33). Zur anderen Auffassung des KG Berlin (NJW 2001, 1806 ff) s. § 6 Rdn. 34. Dass diese vollzugsorganisatorische Bestimmung allerdings Gesetzesrang haben muss, ist nicht ganz verständlich. Eine längere Frist als sechs Monate ist bei der definierten Gruppe von Sexualstraftätern somit gesetzeswidrig; kürzere Fristen sind nach Abs. 3 allemal zulässig und im Einzelfall auch geboten. Die sowohl in § 7 Abs. 4 als auch in § 9 Abs. 1 formulierte weitere Voraussetzung für die Verlegung, nämlich die Verurteilung zu Freiheitsstrafe von über zwei Jahren zielt offenbar auf die konkrete Erfahrung, dass die Mindestdauer sozialtherapeutischer Behandlung im Mittel bei 18 bis 24 Monaten liegt (Egg/Schmitt 1993, 117). Damit ist es aber auch fraglich, ob angesichts vielfältiger zeitaufwändiger Abläufe bis zur Rechtskraft des Urteils bei Strafen zwischen zwei und drei Jahren nach der Verlegung zur Strafverbüßung noch genügend Reststrafzeit für die Durchführung der Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt bleibt (s. dazu § 9 Rdn. 6).
III. Landesgesetze 1. Bayern
16 Art. 9 BayStVollzG ersetzt § 7 und § 6 Abs. 3 StVollzG. Er lautet: „(1) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung gemäß Art. 8 wird ein Vollzugsplan erstellt. Er enthält insbesondere Angaben über vollzugliche, pädagogische und sozialpädagogische sowie therapeutische Maßnahmen. Das Nähere regelt das Staatsministerium der Justiz durch Verwaltungsvorschrift. (2) Der Vollzugsplan ist jeweils nach Ablauf eines Jahres an die Entwicklung der Gefangenen und die weiteren Ergebnisse der Persönlichkeitserforschung anzupassen. (3) Über eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung gemäß Art. 11 Abs. 1 oder 2 ist jeweils nach Ablauf von sechs Monaten neu zu entscheiden. (4) Die Planung der Behandlung wird mit dem Gefangenen erörtert.“ Abweichend von § 7 Abs. 2 StVollzG enthält die Vorschrift keinen Mindestkatalog von Behandlungsmaßnahmen. In der Gesetzesbegründung wird eine Unterteilung von Behandlungsmaßnahmen aufgeführt, die in eine Verwaltungsvorschrift übernommen werden sollen (LT-Drucks. 15/8101, S. 51). Es werden vollzugliche Maßnahmen, pädagogische und sozialpädagogische sowie therapeutische Maßnahmen genannt: Bernd Wischka
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Vollzugliche Maßnahmen Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug Zuweisung zu einer Wohngruppe Arbeitseinsatz Freizeitgestaltung Lockerungen des Vollzugs und Urlaub Pädagogische und sozialpädagogische Maßnahmen Berufliche Aus- und Weiterbildung Trainingsmaßnahmen zur sozialen Kompetenz Vorbereitung einer Schuldenregulierung Suchtberatung Entlassungsvorbereitung Therapeutische Maßnahmen Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung Unterbringung in einer Behandlungsabteilung Einzeltherapie Gruppentherapie
Abs. 3 trifft eine von der Jahresfrist abweichende Regelung hinsichtlich der Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung, um bei den für die Allgemeinheit besonders gefährlichen Gefangenen in erhöhtem Maße sicherzustellen, dass Veränderungen während des Vollzugs (z. B. eine gestiegene Therapiemotivation des oder der Gefangenen) frühzeitig berücksichtigt werden. Abs. 4 entspricht § 6 Abs. 3 StVollzG. Die Planung der Behandlung ist auch dann mit den Gefangenen zu erörtern, wenn kein Vollzugsplan erstellt wird, weil dies mit Rücksicht auf die Vollzugsdauer nicht geboten erscheint (vgl. Art. 8 Abs. 1 Satz 2). Die Verschiebung der Mindestangaben, die ein Vollzugsplan zu enthalten hat, auf die Ebene der Verwaltungsvorschriften ist angesichts der erheblichen Bedeutung, die der Vollzugsplanung in der zitierten Rechtsprechung des BVerfG zukommt, nicht unproblematisch (s. Arloth 2008 Art. 9 BayStVollzG sowie Pollähne JR 2007, 446 ff). Die als „angemessen“ angesehene Jahresfrist zur Vollzugsplanfortschreibung wird nur bei langen Freiheitsstrafen ausreichend sein (s. Rdn. 13). 2. Hamburg
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§ 8 HmbStVollzG lehnt sich an § 7 StVollzG an. Der Vollzugsplan ist im Anschluss an die Aufnahmeuntersuchung zu erstellen (Abs. 1) und sieht somit eine enge zeitliche Verzahnung der Vollzugsplanerstellung mit der Aufnahmeuntersuchung vor, um die Vollzugszeit konsequent ausnutzen zu können (Bürgerschafts-Drs. 18/6490, S. 33). In der Neufassung des § 8 Abs. 1 HmbStVollzG wird bestimmt, dass der Vollzugsplan regelmäßig innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Aufnahme erstellt wird. Die Mindestangaben (Abs. 2) entsprechen denen des StVollzG. § 8 Abs. 2 Nr. 2 HmbStvollzG ergänzt die analog in § 7 Abs. 2 Nr. 3 StvollzG geregelte Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen um die Möglichkeit der Zuweisung zu Behandlungsabteilungen. Die in vielen Vollzugsanstalten gängige Praxis, zwischen Normalvollzug und Sozialtherapie als niederschwellige Maßnahme Behandlungsabteilungen einzurichten, erhält hier eine gesetzliche Grundlage. Anders als das StVollzG konkretisiert Abs. 2 Nr. 5 die besonderen Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen bzw. Erziehungsmaßnahmen und nennt insbesondere Schuldenregulierung einschließlich Unterhaltszahlungen, Schadensausgleich, Maßnahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs, Suchtberatung und Maß-
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nahmen des Verhaltenstrainings. „Die Angaben sind in Grundzügen zu begründen“ (Abs. 2 Satz 2). Anders als das StVollzG regeln § 8 Abs. 3 Nr. 1 und 2 HmbStvollzG konkrete und verbindliche Mindestfristen für die Fortschreibung des Vollzugsplanes. Er lautet: „Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung der Gefangenen in Einklang zu halten. Er wird regelmäßig alle sechs Monate überprüft und fortgeschrieben. Bei einer Vollzugsdauer von mehr als drei Jahren verlängert sich die Frist auf zwölf Monate“. Abs. 4 Satz 1 bestimmt, dass der Vollzugsplan mit dem Gefangenen zu erörtern ist. Mit Abs. 4 Satz 2 soll die Erfahrung der Praxis berücksichtigt werden, wonach Gefangene die Kenntnis der Inhalte des Vollzugsplans bisweilen leugnen (Bürgerschafts-Drs. 18/6490, S. 33). § 8 Abs. 4 HmbStVollzG lautet: „Der Vollzugsplan und seine Fortschreibungen sind mit den Gefangenen zu erörtern. Die Gefangenen bestätigen mit ihrer Unterschrift, dass sie von dem Inhalt des Vollzugsplanes Kenntnis genommen haben“. Die in § 7 Abs. 4 StVollzG geregelte Frist für eine neue Entscheidung über eine Verlegung von Sexualdelinquenten in eine sozialtherapeutische Einrichtung ist wegen des Sachzusammenhangs in § 10 übernommen worden. 3. Niedersachsen § 9 NJVollzG fasst die in § 6 StVollzG geregelte Behandlungsuntersuchung und den in 18 § 7 StVollzG geregelten Vollzugsplan in einer einheitlichen Vorschrift als „Vollzugsplanung“ zusammen. Eine Vollzugsplanung hat bei allen Gefangenen zu erfolgen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Dies ist im Hinblick auf das für alle Gefangenen geltende verfassungsrechtlich ableitbare Gebot der sozialen Integration erforderlich. Deshalb sind bei allen Gefangenen Überlegungen anzustellen, wie die Zeit im Vollzug möglichst sinnvoll strukturiert werden kann“ (LT-Drucks 15/3565, S. 91). Ein aufwändiges Planungsverfahren erscheine aber erst bei einer Vollzugsdauer von mindestens einem Jahr sinnvoll und geboten. Abs. 1 unterscheidet deshalb zwischen einer Vollzugsplanung, die auch in einem vereinfachten Verfahren durchgeführt werden kann, und einer Vollzugsplanung durch einen Vollzugsplan. Nur dieser Vollzugsplan erfordere die Durchführung einer Untersuchung nach Abs. 2, die regelmäßige Fortschreibung nach Abs. 3 sowie die Durchführung einer Konferenz nach Abs. 4. Welche Daten für die Vorbereitung der Aufstellung des Vollzugsplans erforderlich sind, schreibt Abs. 2 vor: Daten zur Persönlichkeit zu den Lebensverhältnissen und den Ursachen der Straftaten.In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Der Vollzugsplan ist frühzeitig nach der Aufnahme vorzubereiten. Dem dient die nach Abs. 2 vorgeschriebene Erhebung der Daten, die für die Aufstellung des Vollzugsplans erforderlich sind“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 92). Der Katalog der Mindestangaben, die ein Vollzugsplan enthält (Abs. 1 Satz 3), entspricht § 7 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht § 7 Abs. 3 StVollzG. In Abs. 4 wird die bisher in § 159 StVollzG enthaltene Regelung zur Durchführung von Konferenzen übernommen, soweit sich diese auf die Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplans bezieht. Die Zuziehung der betroffenen Gefangenen oder anderer maßgeblich an der Vollzugestaltung beteiligter Personen steht im Ermessen des Anstaltsleiters. Die Einfügung, dass „nach Auffassung der Vollzugsbehörde“ an der Vollzugsplanung maßgeblich Beteiligte teilnehmen, ist insofern überflüssig (Arloth 2008 zu § 9 NJVollzG). Der An-
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staltsleiter muss nicht persönlich teilnehmen, sondern kann von seinen Delegationsmöglichkeiten Gebrauch machen. Der Begriff des Anstaltsleiters (u. a. in § 159 StVollzG) ist nicht persönlich, sondern offenkundig funktionell aufzufassen (OLG Celle 22.1.2009 – 1 Ws 591/08). Abs. 5 schreibt die Erörterung der Vollzugsplanung vor: „Die Vollzugsplanung wird mit der oder dem Gefangenen erörtert. Erfolgt die Vollzugsplanung in Form eines Vollzugsplans. So wird ihr oder ihm dieser in schriftlicher Form ausgehändigt“. Damit wird das vom BVerfG bejahte Einsichtsrecht des Gefangenen in den Vollzugsplan gesetzlich festgelegt (NStZ 2003, 620; ZfStrVo 2003, 183; StV 2003, 408). Denn ohne Zugang zur schriftlichen Fassung ist der Gefangene nicht in der Lage, die Vollständigkeit und Richtigkeit erteilter Auskünfte zu überprüfen.
§8 Verlegung, Überstellung (1) Der Gefangene kann abweichend vom Vollstreckungsplan in eine andere für den Vollzug der Freiheitsstrafe zuständige Anstalt verlegt werden, 1. wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird oder 2. wenn dies aus Gründen der Vollzugsorganisation oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist. (2) Der Gefangene darf aus wichtigem Grund in eine andere Vollzugsanstalt überstellt werden. VV 1 (1) Wichtige Gründe für eine Überstellung sind namentlich a) Besuchszusammenführung, wenn ein Besuch in der zuständigen Anstalt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten möglich ist; b) Ausführung und Ausgang am Ort oder in Ortsnähe einer anderen Anstalt; c) Vorführung und Ausantwortung am Ort oder in Ortsnähe einer anderen Anstalt; d) Begutachtung und ärztliche Untersuchungen. (2) Überstellungen sind nur im Einvernehmen mit der aufnehmenden Anstalt zulässig. Dies gilt nicht bei Vorführungen und Ausantwortungen. 2 Auf begründeten Antrag darf der Gefangene einer Polizeibehörde befristet ausgeantwortet werden.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . 1. Sonderregelungen, insb. § 24 StVollStrO . . . . 2. Interessengegensätze . II. Erläuterungen . . . . . .
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Rdn. 1. Verlegung . . . . . . . . . . a) Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung . b) Verlegung nach Abs. 1 Nr. 1 c) Verlegung nach Abs. 1 Nr. 2
Ulrich Freise/Tina-Angela Lindner
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Verlegung, Überstellung Rdn. d) Rückverlegung . . . . . . . e) Zuständigkeit und Verlegungsverfahren . . . . . f) Durchführung der Verlegung g) Fortsetzung des Vollzugs in der aufnehmenden Anstalt h) Antrag auf gerichtliche Entscheidung . . . . . . . . .
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. 12–13 .
Rdn. 2. Überstellung . 3. Ausantwortung III. Landesgesetze . . 1. Bayern . . . . . 2. Hamburg . . . 3. Niedersachsen .
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. 15 . 16 . 17–19 . 17 . 18 . 19
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I. Allgemeine Hinweise 1. Der Vollstreckungsplan (§ 152), der von den Landesjustizverwaltungen für das je- 1 weilige Bundesland aufgestellt wird, bestimmt, in welcher Vollzugsanstalt ein Verurteilter seine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. § 8 regelt unter welchen Voraussetzungen ein Gefangener abweichend hiervon in eine andere Anstalt verlegt oder überstellt werden kann. Die Vorschrift ist jedoch nicht abschließend. Vielmehr enthält das Strafvollzugsgesetz eine Vielzahl von Spezialregelungen: So kann ein Gefangener zunächst in eine Einweisungsanstalt (§ 152 Abs. 2) aufgenommen und auf Grund einer Einweisungsuntersuchung zum weiteren Vollzug nach Gesichtspunkten der Behandlung und Eingliederung in die dafür ausgewählte Vollzugsanstalt verlegt werden (§ 152 Rdn. 3; § 6 Rdn. 4). § 9 regelt die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt, § 10 die Verlegung in den offenen Vollzug. § 15 Abs. 2 ermöglicht die Verlegung zur Entlassungsvorbereitung, § 65 zur besseren Krankenbehandlung, § 76 Abs. 3 zur Entbindung und § 85 zur sicheren Unterbringung. Angesichts dieser vielen Spezialregelungen zur Verlegung wäre für § 8 die Überschrift „Abweichung vom Vollstreckungsplan“ treffender gewesen. Zu Beginn des Strafvollzugs ist für die Verlegung von Gefangenen in Abweichung vom 2 Vollstreckungsplan zudem § 24 Abs. 2 StVollstrO von großer praktischer Bedeutung. Nach dieser Verwaltungsvereinbarung zwischen den Bundesländern kann ein Gefangener binnen zwei Wochen nach Vollzugsbeginn beantragen, in die für seinen Wohnort zuständige Anstalt verlegt zu werden, wenn eine Strafe mit einer Vollzugsdauer von mehr als sechs Monaten vollzogen wird. Wohnort ist der Ort, an dem der Verurteilte den Schwerpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (§ 24 Abs. 1 StVollstrO). Auf diese Weise kann ein Gefangener, der z. B. in einem von seiner Heimat entfernten Bundesland verurteilt wurde, auf einfache Weise erreichen, zur Verbüßung seiner Strafe in eine Anstalt verlegt zu werden, die seinem Lebenskreis näher liegt. 2. Ein geordneter Vollzug ist nur möglich, wenn die Gefangenen in der Regel in der 3 nach dem Vollstreckungsplan zuständigen Anstalt untergebracht sind (BT-Drucks. 7/918, 49). Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Anstaltswechsel für den betroffenen Gefangenen, der sein gewohntes Umfeld verliert, einen schwerwiegenden Eingriff bedeuten kann (BT-Drucks. 7/918, 49; BVerfG NStZ 1993, 300 f; 26.8.2008 – 2 BvR 679/07; OLG Stuttgart NStZ 1998, 431 f). Gleichwohl müssen der Vollzugsbehörde aber Verlegungen z. B. aus organisatorischen Gründen (Abs. 1 Nr. 2) möglich sein, etwa wenn Anstalten vorübergehend über- oder unterbelegt sind oder anderweitig genutzt werden sollen. Es kann aber auch im Interesse des einzelnen Gefangenen liegen, auf Grundlage von Abs. 1 Nr. 1 zur Förderung der Behandlung oder Wiedereingliederung in eine andere Anstalt verlegt zu werden. Der Gesetzgeber hat sich bei § 8 um einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen bemüht.
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II. Erläuterungen 4
1. Verlegung ist der auf Dauer angelegte Anstaltswechsel. Ein Wechsel der Unterbringung innerhalb der Anstalt, auch wenn er mit einem Ortswechsel verbunden ist (Zweiganstalt), ist keine Verlegung. Doch können bei der Entscheidung und Überprüfung einer solchen Maßnahme die Rechtsgedanken des Abs. 1 herangezogen werden (AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 16), wenn der Ortswechsel ähnliche Folgen wie eine Verlegung hat. Die Verlegung darf nur in eine dem Vollzug von Freiheitsstrafe dienende Anstalt erfolgen, nicht also in Anstalten, die nur dem Vollzug von Jugendstrafe, von Untersuchungshaft (vgl. § 152 Rdn. 10) oder Sicherungsverwahrung dienen, und – nach dieser Vorschrift – auch nicht in eine psychiatrische Klinik oder eine andere Einrichtung, in der die Behandlung mit Freiheitsentzug verbunden ist. § 8 ist entsprechend anwendbar, wenn sich der Gefangene bereits in einer nach Vollstreckungsplan unzuständigen Anstalt befindet und vor hier aus weiterverlegt werden soll (BVerfG 26.8.2008 – 2 BvR 679/07).
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a) Die Bestimmung ist als „Kannvorschrift“ gefasst. Es besteht also kein Anspruch auf eine Verlegung, jedoch ein Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung (§ 115 Rdn. 20). Die Vollzugsbehörde muss bei ihrer Ermessensentscheidung den Sachverhalt umfassend würdigen und dem verfassungsrechtlich gesicherten Resozialisierungsziel und der für die Erreichbarkeit dieses Ziels maßgebenden Umstände Rechnung tragen (BVerfGK 8, 36 ff). Raum für die Ermessensentscheidung ist dabei erst dann, wenn zuvor das Vorliegen eines Verlegungsgrundes nach Abs. 1 Nr. 1 oder 2 festgestellt wurde (Folgeermessen – OLG Bremen StV 1984, 166 ff m. Anm. Volckart). Die Verlegung setzt keinen Antrag des Gefangenen voraus. Die Vollzugsbehörde muss das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen von Amts wegen prüfen. Die Verlegungsgründe sind von den Gerichten voll überprüfbar (OLG Bremen aaO; Arloth 2008 Rdn. 10; vgl. § 115 Rdn. 21; a. A.: OLG Hamm NStZ 1984, 141 f: Vollzugsbehörde hat Beurteilungsspielraum).
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b) Die Verlegung zur Förderung der Behandlung des Gefangenen oder seiner Eingliederung nach der Entlassung (Abs. 1 Nr. 1). In der Praxis werden viele Verlegungsanträge auf diese Vorschrift gestützt und mit der Erwartung begründet, dass die eigene Behandlung oder Eingliederung nach der Entlassung in einer anderen als der an sich zuständigen Anstalt besser gefördert werden könne. Am häufigsten ist der Antrag auf Verlegung zur Erleichterung des Kontaktes zu Angehörigen und Freunden an einen Ort, der deren Wohnsitz näher gelegen ist. Die Rspr. war bei derartigen Gründen bislang zurückhaltend: „Beschwernisse, welche die Besuche durch Anreise, Aufbringung von Reisekosten und Bindung an Besuchszeiten mit sich bringen, müssen die Besucher zur Durchführung eines geordneten Vollzuges und im Hinblick auf die Beachtung der nötigen Sicherheitsvorkehrungen hinnehmen“ (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 86; OLG Hamm ZfStrVo 2004, 243; ZfStrVo 2002, 315 f; s. auch § 152 Rdn. 7 und 12). Gefordert wurden vom Durchschnittsfall abweichende Erschwerungen des Kontaktes zu den Angehörigen, um einen Verlegungsantrag ausreichend zu begründen (OLG Hamm ZfStrVo 2004, 243). Dem ist das BVerfG nicht gefolgt: Der Wortlaut des § 8 Abs. 1 Nr. 1 fordert nicht, dass die Verlegung für den Gefangenen aus Resozialisierungsgründen unerlässlich ist, sondern eine Verlegung kommt bereits dann in Betracht, wenn die Behandlung oder die Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird. Bei der Ermessensentscheidung bedarf es einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls, bei der das Resozialisierungsinteresse des Betroffenen gegenüber der Ordnungsfunktion des Vollstreckungsplans angemessen zu gewichten sind. Insbesondere dürfen finanzielle oder gesundheitliche Probleme
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der Kontaktpersonen nicht ohne Betrachtung des Einzelfalls generell als Erschwernisse des Strafvollzugs gewertet werden, die von den Betroffenen hinzunehmen sind (BVerfGK 8, 36 ff; in Folge: OLG Thüringen 5.4.2007 – 1 Ws 73/07). Eine Verlegung zur Förderung der Besuchskontakte kann nicht ohne Weiteres unter Verweis auf Kapazitätsprobleme der aufnehmenden Anstalt versagt werden; insbesondere ist zu prüfen, ob räumliche und personell bedingte Engpässe durch den Einsatz von Überstunden aufgefangen werden können, ob eine Überschreitung der Belegungsfähigkeit vor dem Hintergrund des Resozialisierungsinteresses des Einzelnen vertretbar ist oder ob andere Gefangene verlegt werden können (BVerfG StV 2008, 424 ff). Der Vollzug hat der Belastung und Gefährdung persönlicher Beziehungen schließlich nicht nur bei familiären Beziehungen vor dem Hintergrund des Art. 6 GG, sondern auch bei anderen Kontakten unter Rücksicht auf das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Gefangenen entgegenzuwirken (BVerfGK 8, 36 ff). Im Rahmen der Ermessensausübung kann es jedoch weiterhin rechtmäßig sein, wenn zur Ermöglichung von Besuchen keine Verlegung erfolgt, sondern auf die Möglichkeit von gelegentlichen Besuchsüberstellungen in eine wohnsitznahe Anstalt verwiesen wird (OLG Koblenz aaO; OLG Hamm ZfStrVo 2002, 315 f; Arloth 2008 Rdn. 5). Als Dauerlösung dürfte eine Verlegung zur Wahrung des Resozialisierungsinteresses allerdings sachgerechter sein, wenn nicht dringende Gründe entgegenstehen, etwa Sicherheitsgründe oder bessere Behandlungsmöglichkeiten (C/MD 2008 Rdn. 4; OLG Hamm NStZ 1985, 573). Überstellungen sind indessen angebracht, wenn der Gefangene seine Verlegung nicht begehrt, weil er z. B. – weiter entfernt zwar, aber dafür – in einer offenen Anstalt untergebracht ist oder an einer beruflichen oder schulischen Bildungsmaßnahme teilnimmt (s. auch § 141 Rdn. 9). Nach OLG Saarbrücken soll Art. 6 Abs. 1 GG bei Eheleuten, die beide im Strafvollzug, aber in verschiedenen Anstalten untergebracht sind, zu einer Verlegung in nahegelegene Anstalten wegen der Erleichterung der Besuchszusammenführung anhalten (ZfStrVo 1983, 379; kritisch Arloth 2008 Rdn. 5). Hingegen kann die Notwendigkeit der Trennung von Mittätern zur Erreichung des Vollzugsziels deren Verteilung auf mehrere – auch heimatfernere – Anstalten rechtfertigen (LG Stuttgart ZfStrVo 1990, 184). Weitere Beispiele sind die Verlegung in eine andere Anstalt zur beruflichen oder schulischen Förderung, wenn bei der anderen Anstalt zwar keine besondere Zuständigkeit für eine solche Maßnahme begründet ist, diese Einzelmaßnahme (berufsnaher Einsatz als Schlosser, Besuch einer Abendschule im Wege des Freigangs) aber nur dort aus tatsächlichen Gründen durchführbar ist. c) Ein Gefangener kann zudem verlegt werden, wenn dies aus Gründen der Vollzugs- 7 organisation oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist (Abs. 1 Nr. 2). Die Vollzugsbehörde muss dabei zunächst alle ihr zu Gebote stehenden anderen Mittel prüfen, bevor sie Verlegungen anordnet. Infolge von Änderungen der Gefangenenzahlen ergeben sich organisatorische Gründe allerdings oft genug. Bei Überbelegung hat die Verwaltung meist kein anderes Mittel zur Verfügung als den „Belegungsausgleich“ durch Verlegung von Gefangenen aus überbelegten in weniger stark genutzte Anstalten. Allerdings erlaubt diese Vorschrift einer Anstalt nicht die Verlegung eines Gefangenen, weil sie ihrerseits einen einzigen zusätzlichen Gefangenen aufnehmen musste (OLG Hamm NStZ 1984, 141 f). Andere Beispiele für Gründe der Vollzugsorganisation sind Vollstreckungsplanänderungen zum Belegungsausgleich in einem Lande (OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 189), Teilschließungen bei Umbauarbeiten oder Stilllegungen von Anstalten bei sinkenden Gefangenenzahlen. Meist handelt es sich um Sachverhalte, die eine Vielzahl Gefangene in gleicher Weise betreffen. Die Voraussetzungen der Nr. 2 sind darum von den Vollzugsbehörden leicht darzulegen. Bei Ausübung des Rechtsfolgeermessens ist ggf. eine Auswahl zu treffen. Gesichts-
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punkte wie Außenkontakte, Qualifikations- und Behandlungsmöglichkeiten sowie Entwicklungsstand können hier eine Rolle spielen. 8 Teilweise wird vertreten, dass Gründe, die auf das individuelle Verhalten des Gefangenen oder dessen persönliche Situation bezogen sind, eine Verlegung nach Nr. 2 aus wichtigen Gründen nicht rechtfertigen (C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 8; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 19). In Nr. 1 sei die Verlegung aus individuellen Gründen für § 8 abschließend geregelt. Dieser einschränkenden Auslegung des Wortlauts kann nicht gefolgt werden (Arloth 2008 Rdn. 6), da sich Interessen des Gesamtvollzugs und individuelle Interessen nicht systematisch trennen lassen. In einer Gemeinschaft wie dem Strafvollzug ist ständig nach einem Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und der Gefangenen in ihrer Gesamtheit zu suchen. Die Regelung dient deshalb nicht nur der Verwirklichung der individuellen Behandlung, sie soll auch die sachgemäße Behandlung von Gefangenen mit ähnlichen Behandlungsbedürfnissen sicherstellen (vgl. § 152 Rdn. 5 f). Das Recht des Gefangenen auf den Verbleib in einer Anstalt, die an sich für seine Behandlung die richtige ist, endet, wenn er dort – allerdings in schwerwiegender Weise – stört. So hat die Rechtsprechung die Verlegung von Gefangenen nach Nr. 2 gebilligt, bei denen Anhaltspunkte für die Beteiligung am Drogenhandel vorlagen (LG Hamburg ZfStrVo 1983, 300; LG Stuttgart NStZ 1981, 405 f). Wenn die im Einweisungsverfahren erstellte Gefährlichkeitsprognose sich als unzutreffend erweist, weil der Gefangene Vollzugslockerungen zur Begehung neuer Straftaten missbraucht hat, so soll nach Nr. 2 die Verlegung in eine Anstalt mit höheren Sicherheitsvorkehrungen in Betracht kommen (OLG Hamm NStZ 1997, 102 f). Die Regelung gilt schließlich auch für die nicht ganz seltenen Fälle, in denen ein Gefangener zu seiner eigenen Sicherheit verlegt werden muss, weil nur dies ihn z. B. vor den Racheakten anderer Gefangener schützen kann (vgl. KG 27.8.2007 – 2/5 Ws 376/06 Vollz). § 85 ist in diesen Fällen nicht anwendbar, weil die Gefahr nicht von dem bedrohten Gefangenen ausgeht (KG aaO). Dabei ist allgemeinen Grundsätzen folgend zunächst stets zu prüfen, ob Abhilfe durch Maßnahmen gegen den Störer geschaffen werden kann (vgl. Nds. LT-Drucks. 15/3565, 94; BVerfGK 8, 307 ff). Vorrangig ist auch immer anzustreben, Konflikte in der bestehenden Vollzugsgemeinschaft zu bearbeiten (C/MD 2008 Rdn. 5). In der Praxis gibt es jedoch nicht selten Fälle, in denen dies nicht zum Erfolg führt und ein Verbleib des Gefangenen daher nicht verantwortet werden kann. Niedersachsen hat hier durch Aufnahme von Verlegungstatbeständen, die auf dem individuellen Verhalten des Gefangenen gründen, Rechtssicherheit geschaffen (s. Rdn. 19).
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d) Fällt der Grund einer Verlegung nach § 8 nachträglich fort, darf die Rückverlegung in die frühere Anstalt wegen des vollständigen Abbruchs der Beziehungen zu dieser Anstalt nicht „automatisch“ erfolgen. Es bedarf wiederum einer Verlegungsentscheidung entsprechend § 8 (BVerfG 26.8.2008 – 2 BvR 679/07; OLG Bremen ZfStrVo 1996, 310 f ). Das gilt z. B. im Falle einer Verlegung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 zur Entlastung einer Anstalt nach Beendigung eines größeren Prozesses (OLG Bremen aaO; vgl. zur Verlegung bei beruflicher Fortbildungsmaßnahme auch OLG Frankfurt/a.M. NStZ-RR 1996, 188 f). Ein in einer unzuständigen Anstalt untergebrachter Gefangener kann Anspruch auf Schutz des Vertrauens auf die ihm zu Unrecht eingeräumte Rechtsposition haben. Die Belange des Allgemeinwohls und die Interessen des Gefangenen am Fortbestand der Rechtslage sind abzuwägen (BVerfG NStZ 1993, 300 ff; vgl. auch OLG Stuttgart NStZ 1998, 431 f).
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e) Zuständigkeit und Verfahren. Soll ein Gefangener in eine an sich nicht zuständige Anstalt verlegt werden, müssen bei der Verlegungsentscheidung mehrere Vollzugseinrichtungen zusammenwirken. In der Regel sind das wenigstens drei: die abgebende Anstalt, die aufnehmende Anstalt und ggf. die gemeinsame Aufsichtsbehörde, deren Zu-
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Verlegung, Überstellung
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stimmung es für eine Abweichung vom Vollstreckungsplan bedarf. Häufig behält sich die Landesjustizverwaltung die zustimmende Entscheidung vor (§ 153), wobei sie ihre Entscheidung auf die Stellungnahmen der beteiligten Anstalten stützt. Besonders kompliziert wird das Verfahren, wenn ein Gefangener von einem Bundesland in ein anderes Bundesland verlegt werden soll. Gesetzliche Vorschriften zur Regelung des Verfahrens fehlen (vgl. C/MD 2008 Rdn. 2 zu § 153). Der Gefangene muss auch hier seinen Antrag an die Anstalt richten, in der er untergebracht ist. Hält diese Anstalt und ebenso die übergeordnete Landesjustizverwaltung den Antrag für begründet, so muss sich letztere um das Einverständnis des anderen Bundeslandes bemühen, § 26 Abs. 2 Satz 3 StVollstrO (vgl. Brandenburgisches OLG ZfStrVo 2004, 179; OLG Hamm ZfStrVo 2004, 110 f). Niedersachsen hat die länderübergreifende Verlegung nunmehr in § 11 NJVollzG geregelt und insbesondere klargestellt, wie mit erworbenen Rechtspositionen umzugehen ist (näher Rdn. 19). Über eine Rückverlegung oder die Verlegung in die zuständige Einrichtung entscheidet die Anstalt, in der der Gefangene untergebracht ist (OLG Hamm NStZ 1994, 608: auch nach Abschluss des Einweisungsverfahrens; abweichend OLG Stuttgart ZfStrVo 1995, 251, das wegen eines Zustimmungserfordernisses nach Verwaltungsvorschrift den Leiter der Einweisungskommission für zuständig hält). f) Durchführung der Verlegung. Wird der Gefangene durch die Verlegung beschwert, 11 ist ihm in der Regel rechtliches Gehör zu gewähren (OLG München ZfStrVo SH 1978, 87; AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 17) und ihm ist der Verlegungszeitpunkt rechtzeitig bekannt zu geben, soweit dem Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen. Die Art und Weise der Verlegung richtet sich nach der von den Ländern vereinbarten Gefangenentransportvorschrift (GTV). Die Gefangenen werden regelmäßig im Sammeltransport in Fahrzeugen befördert, die zur Verhinderung von Entweichungen technisch gesichert sind (näher Romanski ZfStrVo 1988, 338 ff). Die von AK-Feest/Joester 2006 (Rdn. 15) gegen diese Art von Personenbeförderung geäußerten Bedenken sind von der Rechtsprechung nicht anerkannt worden (OLG Celle 30.10.1985 – 3 VAs 15/85). Entsprechendes gilt für die dort gerügte Verletzung des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1), jedenfalls soweit es um den Transport von Gefangenen des geschlossenen Vollzugs geht. Unter bestimmten Voraussetzungen ist der Einzeltransport vorgeschrieben (Nr. 5 GTV). Der Gefangene kann auch aus persönlichen Gründen einen Einzeltransport beantragen, der aber im Allgemeinen nur zulässig ist, wenn er die Kosten übernimmt (Nr. 5 Abs. 3 Buchst. c). g) Wird der Gefangene verlegt, setzt die aufnehmende Anstalt die Behandlung un- 12 ter Verwertung der bisherigen Ergebnisse fort. Der Vollzugsplan wird nach § 7 Abs. 3 fortgeschrieben, nicht völlig neu erstellt (OLG Koblenz NStZ 1986, 92). Zu den Auswirkungen der Verlegung auf den Besitzstand des Gefangenen vgl. im Einzelnen § 69 Rdn. 12; § 70 Rdn. 14. Eine wichtige Auswirkung des Anstaltswechsels ist jedoch die Änderung der Zustän- 13 digkeit der Strafvollstreckungskammer, die dann eintritt, wenn der Gefangene in einen anderen Landgerichtsbezirk verlegt wird. Regelmäßig ändert sich die Zuständigkeit auch, wenn der Gefangene während eines laufenden Verfahrens nach §§ 109 ff verlegt wird (BGH NStZ 1989, 196 f: Vollzugslockerungen; BGH NStZ 1990, 205 m. krit. Anm. Volckart: Einzelfernsehempfang; OLG Stuttgart NStZ 1989, 496: Anhalteverfügung; vgl. § 110 Rdn 6). Ausnahmsweise tritt ein Zuständigkeitswechsel nicht ein, wenn die Verlegung auf den Streitgegenstand keinen Einfluss hat (OLG Celle NStZ 1990, 428: Disziplinarmaßnahme). Ebenso ist es im Verfahren zur Anfechtung der Verlegungsverfügung selbst (LG Stuttgart ZfStrVo 1990, 307; C/MD 2006 § 110 Rdn. 4). Die Verlegung führt zur Erledigung der
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Hauptsache, wenn sich durch sie eine für die Beurteilung des Falles maßgebliche Veränderung der Verhältnisse ergeben hat (KG NStZ 1997, 429). Die zunächst mit der Sache befasste Strafvollstreckungskammer muss den Antragsteller auf die Möglichkeit der „Klageänderung“, einen Antrag auf Verweisung an das jetzt zuständige Gericht oder auf eine Änderung der Benennung des Antragsgegners hinweisen, näher hierzu § 115 Rdn. 6.
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h) Die unter Rdn. 10 beschriebenen komplizierten Zuständigkeitsregelungen für Verlegungsentscheidungen wirken sich besonders dann aus, wenn der Gefangene seinen abgelehnten Verlegungsantrag mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiterverfolgen will. Zu unterscheiden sind drei Grundfälle: Zunächst gibt es den Fall, dass die beiden Anstalten demselben Bundesland angehören und ermächtigt sind, einvernehmlich zu entscheiden. Der Antrag ist an die Anstalt zu richten, in der sich der Gefangene befindet. Hat der Antrag keinen Erfolg, weil die aufnehmende Anstalt abgelehnt hat, so ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung dennoch gegen den Bescheid der abgebenden Anstalt zu richten. Die für diese zuständige Strafvollstreckungskammer prüft die Entscheidung der aufnehmenden Anstalt mit (BVerfG, StV 2008, 88 f; BGH NStZ 1996, 207 f). Gehören die beiden Anstalten demselben Bundesland an, hat sich die Landesjustizverwaltung aber nach § 153 die Verlegungsentscheidung vorbehalten oder sie einer zentralen Stelle übertragen, so ist die Strafvollstreckungskammer am Sitz der obersten Landesbehörde oder der zentralen Stelle zuständig (OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 111; § 153 Rdn. 2). Sind dagegen zwei Landesjustizverwaltungen beteiligt, so kann der Gefangene gezwungen sein, die ablehnende Entscheidung in zwei Verfahren vor zwei Gerichten anzufechten. In dem ersten Verfahren nach §§ 109 ff wird nur die ablehnende Entscheidung der Heimatanstalt überprüft (KG NStZ-RR 2007, 124 f). Das zweite Verfahren richtet sich gegen die Entscheidung der Justizverwaltung des Landes, das den Gefangenen aufnehmen soll (C/MD 2008 Rdn. 3; KG aaO; offen hier BVerfG StV 2008, 88f; a. A. Arloth 2008 Rdn. 11, der sich im Interesse effektiven Rechtsschutzes für eine inzidente Prüfung ausspricht). Diese Entscheidung ist nach § 23 ff EGGVG anfechtbar (KG aaO; KG ZfStrVo 1995, 112 ff; OLG Hamm NStZ 2002, 53; OLG Stuttgart NStZ 1997, 103 f; § 109 Rdn. 8; hingegen immer eine Maßnahme nach § 109 bejahend: OLG Hamm ZfStrVo 1979, 91; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 248). Künftig werden sich die Gerichte bei länderübergreifenden Verlegungen inhaltlich mit dem Umstand zu befassen haben, dass die neuen Landesgesetze Verlegungen unter unterschiedlichen Voraussetzungen zulassen.
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2. Die Überstellung (Abs. 2) ist die befristete Überführung eines Gefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt. Sie darf nur aus wichtigem Grund erfolgen. VV Nr. 1 gibt Beispiele für wichtige Gründe. Genannt sind die Besuchszusammenführung, Ausführung, Ausgang, Vorführung, Ausantwortung (zur Definition s. Rdn. 16), Begutachtung oder ärztliche Untersuchungen am Ort einer anderen Anstalt. Die Förderung einer Briefbekanntschaft ist kein wichtiger Grund für eine Überstellung zur Besuchszusammenführung (OLG München ZfStrVo 1979, 63). Das OLG Karlsruhe (NStZ-RR 2002, 315 f) sieht aber in der Teilnahme an einem landesweiten Sportwettbewerb in einer anderen Anstalt einen wichtigen Grund. Die Überstellung zur Teilnahme an einem Zivilprozess setzt zur Annahme eines wichtigen Grundes nicht die Anordnung des persönlichen Erscheinens oder gar ein Vorführungsersuchen voraus, vielmehr ist zu fragen, ob das Interesse des Gefangenen an der Wahrnehmung des auswärtigen Termins hinreichend sachlich fundiert ist, um als wichtiger Grund gewertet zu werden (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 242 f). Zu prüfen ist, ob anstatt der Überstellung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Ausführung oder eine Verlegung geboten ist (vgl. näher Freise, Vorauflage Rdn. 15).
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Im Einzelfall kann unklar sein, ob eine Überstellung oder eine Verlegung vorliegt. Die Frage hat z. B. Bedeutung für die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer (§ 110 Rdn. 6). Wird ein Gefangener „zur Teilnahme an einer längeren Berufsausbildung (hier: fast zwei Jahre) in eine andere Vollzugsanstalt überführt, so handelt es sich um eine Verlegung i. S. des § 8 Abs. 1“ (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 86). Überstellungen sind nur im Einvernehmen der beteiligten Anstalten zulässig (VV Nr. 1 Abs. 2). Verweigert die Anstalt, die den Gefangenen aufnehmen soll, die Zustimmung, so ist ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung auch dann, wenn die abgebende Anstalt den Überstellungsantrag unterstützt hatte, gegen diese zu richten. Die Mitwirkungsentscheidung der aufnehmenden Anstalt unterliegt jedenfalls bei Anstalten desselben Bundeslandes der gerichtlichen Mitprüfung, wenn die von der „Heimatanstalt“ lediglich übermittelte ablehnende Entscheidung angefochten wird (OLG Hamm JR 1997, 83 ff; vgl. für den Fall der Verlegung Rdn. 14). Dies gilt nach Auffassung Böhms (Anm. zu OLG Hamm aaO) auch bei Überstellung in ein anderes Bundesland, weil die Überstellung anders als die Verlegung nicht in die von der Landesjustizverwaltung aufzustellende Gesamtordnung des Vollstreckungsplans eingreift (a. A. C/MD 2008 Rdn. 6; OLG Thüringen NStZ 1997, 455 f: Ein zweites Verfahren nach § 109 gegen die ablehnende Mitwirkungsentscheidung der aufnehmenden Anstalt ist erforderlich). 3. Für die sog. Ausantwortung gem. VV Nr. 2 fehlt eine gesetzliche Grundlage. Die 16 Verwaltungstradition kennt die Übergabe eines Strafgefangenen an die Polizeibehörde zu längeren Vernehmungen, Gegenüberstellungen oder zur Durchführung von Ortsterminen. Die VV Nr. 2 ist hierfür aber eine wenig tragfähige Basis. Problematisch ist dabei nicht die Pflicht des Gefangenen, dem Ausantwortungsgesuch nachzukommen. Denn seine Teilnahmepflicht an Zeugenvernehmungen etc. richtet sich nach den allgemeinen gesetzlichen Regelungen, z. B. § 163a Abs. 3 StPO (Arloth 2008 Rdn. 8; vgl. auch AK-Feest/Joester 2006 Rdn. 14). Regelungsbedürftig ist das Institut der Ausantwortung jedoch, weil mit der Übergabe des Gefangenen eine erhebliche Verantwortung übertragen wird (vgl. Nds. LT-Drucks. 15/3565, S. 93). Niedersachsen und Bayern haben die Gesetzeslücke in ihren Landesgesetzen mittlerweile geschlossen. Der niedersächsische Gesetzgeber hat dabei in § 10 Abs. 3 NJVollzG klargestellt, dass die Behörde, die die Ausantwortung begehrt, die Verantwortung für die Prüfung der Zulässigkeit und die Sicherung des Gewahrsams trägt. Ein praktisches Bedürfnis für die Ausantwortung ist anzuerkennen. Solange eine gesetzliche Grundlage fehlt, ist aber ein zurückhaltender Umgang mit dem Institut ratsam.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 10 BayStVollzG ist inhaltsgleich. Neu ist lediglich die Regelung der Ausantwor- 17 tung in Abs. 3: „Gefangene dürfen befristet dem Gewahrsam einer Polizei-, Zoll- oder Finanzbehörde überlassen werden.“ 2. Hamburg
18 § 9 Abs. 1 HmbStVollzG ist inhaltsgleich zu § 8 StVollzG. § 9 Abs. 2 HmbStVollzG gibt den Inhalt von § 85 StVollzG wieder. Nach § 9 Abs. 2 HmbStVollzG können Gefangene darüber hinaus verlegt werden, wenn „ihre Kontakte zu anderen Gefangenen eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellen“. Ulrich Freise/Tina-Angela Lindner
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3. Niedersachsen
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§ 10 Abs. 1 Nr. 1 NJVollzG ist inhaltsgleich zu § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG. § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG findet sich in § 10 Abs. 1 Nr. 5 NJVollzG wieder, § 8 Abs. 2 StVollzG in § 10 Abs. 2 NJVollzG. Darüber hinaus hat Niedersachsen eine Regelung aufgenommen, nach der Gefangene im dortigen Sicherheitsstufenkonzept verlegt werden können. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 NJVollzG ist eine Verlegung möglich, „wenn sich während des Vollzugs herausstellt, dass die sichere Unterbringung der oder des Gefangenen auch in einer anderen Anstalt mit geringer Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet ist und durch die Verlegung die Erreichung des Vollzugsziels nach § 5 Satz 1 nicht gefährdet wird“. Zudem hat Niedersachsen die Verlegungsmöglichkeiten des § 85 StVollzG und zur Beseitigung der Unklarheiten bei § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG weitere individuelle Verlegungsgründe in die neue landesrechtliche Regelung aufgenommen. § 10 Abs. 1 Nr. 3 NJVollzG erlaubt die Verlegung der oder des Gefangenen, wenn „ihr oder sein Verhalten oder Zustand eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt oder eine schwer wiegende Störung der Ordnung darstellt und diese durch die Verlegung abgewehrt wird“. § 10 Abs. 1 Nr. 4 NJVollzG lässt eine Verlegung der oder des Gefangenen zu, wenn „ohne Rücksicht auf ihr oder sein Verhalten oder ihren oder seinen Zustand eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt oder eine schwer wiegende Störung der Ordnung nicht anders abgewehrt werden kann.“ Die Ausantwortung hat Niedersachsen in § 10 Abs. 3 NJVollzG wie folgt geregelt: „Die oder der Gefangene kann mit ihrer oder seiner Zustimmung befristet dem Gewahrsam einer anderen Behörde überlassen werden, wenn diese zur Erfüllung ihrer Aufgaben darum ersucht (Ausantwortung). Die Ausantwortung ist auch ohne Zustimmung der oder des Gefangenen zulässig, wenn die ersuchende Behörde aufgrund einer Rechtsvorschrift das Erscheinen der oder des Gefangenen zwangsweise durchsetzen könnte. Die Verantwortung für die Sicherung des Gewahrsams und für das Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 2 trägt die ersuchende Behörde.“ § 11 NJVollzG regelt die länderübergreifende Verlegung: Abs. 1 lautet: „Die oder der Gefangene kann mit Zustimmung des für die Justiz zuständigen Ministeriums (Fachministerium) in eine Anstalt eines anderen Landes verlegt werden, wenn die in diesem Gesetz geregelten Voraussetzungen für eine Verlegung vorliegen und die zuständige Behörde des anderen Landes der Verlegung in die dortige Anstalt zustimmt. Dabei ist sicherzustellen, dass die nach diesem Gesetz erworbenen Ansprüche auf Arbeitsentgelt, Ausbildungsbeihilfe, Freistellung von Arbeitspflicht und Ausgleichsentschädigung entweder durch das Land erfüllt oder in dem anderen Land anerkannt werden. § 40 Abs. 10 gilt entsprechend, soweit Ansprüche auf Freistellung von der Arbeitspflicht infolge der Verlegung nicht erfüllt werden können“. Abs. 2 lautet: „Gefangene aus einer Anstalt eines anderen Landes können mit Zustimmung des Fachministeriums in eine Anstalt des Landes aufgenommen werden.“ § 40 Abs. 10 NJVollzG, auf den die Vorschrift verweist, entspricht der Regelung zur Ausgleichsentschädigung in § 43 Abs. 11.
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Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt
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§9 Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (1) Ein Gefangener ist in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen, wenn er wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches zu zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 6 Abs. 2 Satz 2 oder § 7 Abs. 4 angezeigt ist. Der Gefangene ist zurückzuverlegen, wenn der Zweck der Behandlung aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, nicht erreicht werden kann. (2) Andere Gefangene können mit ihrer Zustimmung in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden, wenn die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der Anstalt zu ihrer Resozialisierung angezeigt sind. In diesen Fällen bedarf die Verlegung der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt. (3) Die §§ 8 und 85 bleiben unberührt. Schrifttum: Albrecht Die Determinanten der Sexualstrafrechtsreform, in: ZStW 1999, 863 ff; Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug Mindestanforderungen an Sozialtherapeutische Einrichtungen, in: MschrKrim 1988, 334 f; ders. Mindestanforderungen an Organisationsform, räumliche Voraussetzungen und Personalausstattung Sozialtherapeutischer Einrichtungen, in: ZfStrVo 2001, 178 f; Baulitz et al. Inegrative Spzialtherapie. Innovation im Justizvollzug, Bad Gandersheim 1980; Bauriedl Beziehungsanalytische Arbeit mit Sexualstraftätern im Strafvollzug, in: R&P 2002, 54 ff; van Beek/Mulder The Treatment of Sexually Aggressive Offenders in the Dr. Henri van der Hoeven Kliniek: a Forensic Therapeutic Institute in the Netherlands, in: Marshall u. a. (Eds.), Sourcebook of Treatment Programs for Sexual Offenders, New York 1998; Böhm Zur Sozialtherapie, in: NJW 1985, 1813 ff; Boetticher Der neue Umgang mit Sexualstraftätern – eine Zwischenbilanz, in: MschrKrim 1998, 354 ff; Breuer-Kreuzer Alkoholabhängige Strafgefangene in der Sozialtherapeutischen Justizvollzugsanstalt Kassel, in: ZfStrVo 1997, 93 ff; Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Sozialtherapie und sozialtherapeutische Anstalt, Bad Godesberg 1973; ders. Sozialtherapeutische Anstalten – Konzepte und Erfahrungen, Bonn/Bad Godesberg 1977; ders. Sozialtherapie als kriminalpolitische Aufgabe, Bonn 1981; Bussmann/Seifert/Richter Probanden im sozialtherapeutischen Strafvollzug: Delinquenzbelastung, Biographie und Persönlichkeitsmerkmale, in: MschrKrim, 2008, 6 ff; Clarke/Simmons/Wydall Delivering cognitive skills programmes in prison: a qualitative study. Home Office, London 2004; Cullen/Jones/Woodward (Eds.) Therapeutic Communities for Offenders, Chichester 1997; Dessecker Veränderungen im Sexualstrafrecht, in: NStZ 1998, 1 ff; ders. Behandlung von Sexualstraftätern im Strafvollzug und in Freiheit – Ein Überblick zu den neuen gesetzlichen Grundlagen, in: Egg (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern im Justizvollzug. Folgerungen aus den Gesetzesänderungen, Wiesbaden 2000, 27 ff; Dahle/Schneider/Ziethen Standardisierte Instrumente zur Kriminalprognose, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 2007, 15 ff; Dessecker Sanktionsrechtliche Sonderregeln für Sexualstraftäter und ihre Berechtigung, in: Görgen et al. (Hrsg.), Festschrift für Arthur Kreuzer zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Frankfurt 2008, 103 ff; Dessecker/Spöhr Entwicklung der Sozialtherapie in Deutschland und im Rahmen der sozialtherapeutischen Behandlung angewandte Diagnoseverfahren, in: Praxis der Rechtspsychologie, 2007, 305 ff; Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung Stellungnahme zum „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten“, in: MschrKrim 1998, 368 ff; Dolde Untersuchungen zur Sozialtherapie und Wirksamkeit der Behandlung in der Sozialtherapeutischen Anstalt Ludwigsburg, Sitz Hohenasperg, in: Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Sozialtherapie als kriminalpolitische Aufgabe, Bonn-Bad Godesberg 1981, 96 ff; dies. Effizienzkontrolle sozialtherapeutischer Behandlung im Vollzug, in: Göppinger/Bresser (Hrsg.), Sozialtherapie. Grenzfragen bei der Beurteilung psychischer Auffälligkeiten im Strafrecht, Stuttgart 1982, 47 ff; dies. Kriminelle Karrieren von Sexualstraftätern, in: ZfStrVo 1997, 323 ff; Drenkhahn Endlich Therapie für alle? Die Bundesländer und ihre sozialtherapeutischen Einrichtungen, in NK 2003, 62–65; Drenkhahn Sozialtherapeutischer Strafvollzug in Deutschland, Mönchengladbach 2007; Driebold (Hrsg.), Strafvollzug. Erfahrungen, Modelle, Alternativen, Göttingen 1983; Driebold/Egg/Nellessen/Quensel/Schmitt Die sozialtherapeutische Anstalt, Göttingen 1984; Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine empiri-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
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Pfaffenweiler 1994; Stürup Treating the Untreatable, Baltimore 1968; Suhling Zur Untersuchung der allgemeinen und differentiellen Wirksamkeit sozialtherapeutischer Behandlung im Justizvollzug. Konzepte aus Niedersachsen, in: BewHi 2006, 240 ff; Suhling/Wischka Indikationskriterien für die Verlegung von Sexualstraftätern in eine sozialtherapeutische Einrichtung, in: MschrKrim, 2008, 210 ff; Weber/Narr Zur aktuellen Debatte über Strafschärfungen für Sexualstraftäter, in: BewHi 1997, 73 ff; Wischka et al. (Hrsg.) Sozialtherapie im Justizvollzug Aktuelle Konzepte, Erfahrungen und Kooperationsmodelle, Lingen 2005. Weitere Literatur findet sich in Egg 1993, 193 ff sowie bei Egg 1996, 280 f und Müller-Dietz 1996, 273–275. Schwerpunkthefte zum Thema Sozialtherapie haben die Kriminalpädagogische Praxis (KrimPäd 30/1990), die Bewährungshilfe (Therapie mit Straffälligen – BewHi Heft 4/1993) und das Prison Service Journal (Therapeutic Communities – PSJ May 1997 No. 111) herausgebracht.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Die gesetzlichen Grundlagen der Sozialtherapie . . . . . . . . . . 2. Der Aufbau der Anstalten . . . . 3. Bestand und Bedarf an Behandlungsplätzen . . . . . . . . . . 4. Organisatorische Strukturen und Rahmenkonzepte für die Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Erfolg sozialtherapeutischer Behandlung . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzungen für die Aufnahme nach Abs. 1 . . . . . .
1–6 1–2 3 4
5 6 7–18
Rdn. 2. Die Voraussetzungen für die Aufnahme nach Abs. 2 . . . . a) Die Zustimmung des Gefangenen . . . . . . . . b) Die Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt . . . . . . . . . . . c) Die Rückverlegung aus der Sozialtherapie . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. 14–18 .
15
.
16
. 17–18 . 19–21 . 19 . 20 . 21
7–13
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Als gesetzliche Grundlage für die sozialtherapeutische Anstalt, die ein wesentlicher Bestandteil der Strafrechtsreform werden sollte, hat das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts im Jahre 1969 den § 65 in das Strafgesetzbuch eingefügt. Danach sollte die auf den Schutz der Allgemeinheit hin orientierte Sicherungsverwahrung ein behandlungsorientiertes Gegenstück erhalten, eine zeitlich unbestimmte Verwahrung zum Zwecke therapeutischer Behandlung (Maßregellösung; krit. Schwind 1981, der sich schon damals für eine „angereicherte Vollzugslösung“ aussprach und der sozialtherapeutischen Anstalt damit eine Vorreiterrolle des Behandlungsvollzuges im Rahmen des Regelvollzuges geben wollte). Durch mehrere Verschiebegesetze wurde der Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung mehrfach hinausgeschoben und schließlich durch das StVollzÄndG im Jahre 1984 aufgehoben. Einzige Grundlage für die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ist jetzt das StVollzG (§§ 9, 123–126, Vollzugslösung). Die damalige Regelung hat Böhm (NJW 1985, 1813, 1816) zusammenfassend wie folgt kritisiert: „Der Gesetzgeber hatte die Aufgabe, eine Sonderform des Vollzuges der Freiheitsstrafe zu skizzieren und zu strukturieren, ohne mögliche künftige Entwicklungen durch starre Festschreibungen zu behindern. Skizziert und strukturiert ist kaum etwas, festgeschrieben (Zustimmungsbedürfnis und Urlaubsanrechnung) ist schon zuviel.“ Anfang des Jahres 1998 brachte das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und 2 anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGBl. I, 160) tiefgreifende Änderungen
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Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt
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der gesetzlichen Grundlagen der Sozialtherapie. Die Vorschrift des § 9 wurde neu gefasst, um im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen die ,Zwangstherapie‘ für Sexualstraftäter zu verwirklichen. Für die Verlegung dieser Tätergruppe ist danach weder die Zustimmung des Gefangenen noch die des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt erforderlich. Unberücksichtigt blieben die vom Bundesrat gegen diese Neufassung erhobenen wohlbegründeten Bedenken (BT-Drucks. 13/8586, 12): „Der mit dem Entwurf angestrebte undifferenzierte Zwang zur Therapie wird lediglich zu einer nicht an der Behandlungsbedürftigkeit und der Behandlungsmotivation ausgerichteten Verlegungspraxis in die sozialtherapeutischen Anstalten führen, was eine hohe, sich in Rückverlegungen ausdrückende Misserfolgsquote zur Folge haben wird. Mit hohen Kosten vorgehaltene Haftplätze werden dadurch anderen therapiebedürftigen und therapiewilligen Gefangenen vorenthalten. [. . .] Eine uneingeschränkte und nicht an den Besonderheiten des Einzelfalles festgemachte Vorrangstellung von Sexualtätern gegenüber anderen gefährlichen und zum Teil gewalttätigen Straftätern bei der Belegung der sozialtherapeutischen Anstalten würde eine nicht hinnehmbare Behandlungslücke gerade bei solchen Gefangenen hervorrufen, die mit positivem Ergebnis behandelbar erscheinen.“ Allerdings konnte sich der Bundestag dem Hinweis des Bundesrats nicht verschließen, „dass nicht alle Länder über sozialtherapeutische Anstalten verfügen“ (Rdn. 2) und dass „nicht alle sozialtherapeutischen Anstalten in Deutschland [. . .] über Möglichkeiten zur Behandlung von Sexualstraftätern“ verfügen, diese vielmehr „durch qualifizierte Ausbildung und Einstellung von Sexualtherapeuten erst geschaffen werden“ (BT-Drucks. 13/8586, 12) müssen. So kam es trotz der schlechten Erfahrungen mit Übergangsfassungen und Verschiebegesetzen (Rdn. 1) wiederum zu einer Übergangsvorschrift, die das zwingende ,ist‘ des ersten Halbsatzes bis Ende 2002 durch ein ,soll‘ ersetzte (§ 199 Abs. 3). Die Neufassung von § 9 bedeutet einen radikalen Wandel für die sozialtherapeutischen Anstalten. Während die alte Fassung der Vorschrift ein Angebot an behandlungsbedürftige Straftäter enthielt, die sich auf Grund eigenen Entschlusses für die Aufnahme in die Sozialtherapie entscheiden konnten, bestimmt die Neufassung jetzt in Abs. 1 die verpflichtende Aufnahme eines eng umrissenen Kreises von Sexualstraftätern in die sozialtherapeutische Anstalt. Für die anderen behandlungsbedürftigen Verurteilten bleibt das Angebot des früheren ersten Absatzes zwar bestehen (Abs. 2), doch zeigte es sich erwartungsgemäß, dass für diese Gefangenen die in den meisten Bundesländern bisher schon schlechten Aussichten auf einen Behandlungsplatz weiter zurückgingen (Egg/Ellrich 2008, 17). Für Sexualstraftäter dagegen bedeuten die neuen Bestimmungen eine grundlegende Veränderung im Vergleich zu der früheren Situation. Schon bald nach Verabschiedung des Gesetzes wurden verschiedene Kritikpunkte laut, die sich zum einen auf die grundsätzliche Notwendigkeit einer solchen Regelung sowie auf die Frage der Privilegierung von Sexualstraftätern gegenüber anderen Tätern konzentrierten. Bezweifelt wurde außerdem, dass die Länder angesichts knapper Kassen in der Lage sein werden, den erforderlichen Ausbau der sozialtherapeutischen Einrichtungen unter Beachtung von Mindeststandards (Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug 1988, 2001) vorzunehmen (vgl. dazu und zu weiteren Kritikpunkten Albrecht 1999; Boetticher 1998; Dessecker 1998; Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung 1998; Drenkhahn 2003; Eisenberg/Hackethal 1998; Hammerschlag/Schwarz 1998; Meier 1999; Rotthaus 1998; Schöch 1998; Weber/Narr 1997). Tatsächlich zeigt die Rückfallforschung, dass die einschlägige Rückfälligkeit von Sexualstraftätern eher geringer ist als bei anderen Tätergruppen. So ergab eine von der KrimZ in Wiesbaden durchgeführte bundesweite Studie, dass lediglich etwa 20 % der untersuchten
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Kindesmissbraucher und sexuellen Gewalttäter innerhalb eines Beobachtungszeitraumes von sechs Jahren erneut wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurden (Egg 2003; Elz 2001, 202 ff; Elz 2002, 217 ff). Auch nach Dolde (1997, 327 f) kehrten nur etwa 20 % der von ihr untersuchten Gefangenen wegen eines einschlägigen Deliktes wieder in den Strafvollzug zurück. Auch die 2003 vom BMJ vorgelegte „kommentierte Rückfallstatistik“ ergab, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit von Tätern mit schwerer Eigentumsdelinquenz (Einbruchdiebstahl, räuberische Handlungen) deutlich über der von Sexualstraftätern liegt (Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen: eine kommentierte Rückfallstatistik, Berlin 2003, 69 f). Die Bevorzugung dieses Täterkreises bei der verpflichtenden Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt ist deshalb jedenfalls nicht mit dem Hinweis auf eine vermeintlich besonders hohe Rückfälligkeit zu rechtfertigen (Dessecker 2008). Auf der anderen Seite bietet das Gesetz aber auch Chancen für eine konstruktive Fortentwicklung des sozialtherapeutischen Konzepts, die ohne diese Neuregelung nicht möglich gewesen wäre (vgl. Dessecker 2000, 30 f). So wurde in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, dass die Zahl der Behandlungsplätze in sozialtherapeutischen Einrichtungen nur knapp 1 % aller im Justizvollzug verfügbaren Haftplätze ausmacht und damit insgesamt zu klein ist. Vor der Gesetzesänderung gab es zwar einige Pläne für Neubauten oder Erweiterungen, große Veränderungen waren aber nicht zu erkennen (vgl. Egg 1994). Dies hat sich seit 1998 grundlegend geändert (Rdn. 4). Außerdem zwingt die Neuregelung dazu, klare Maßstäbe zu definieren, unter welchen Voraussetzungen die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt angezeigt ist und wann nicht, weil dies jetzt das einzige Kriterium für die Aufnahme von Sexualstraftätern ist. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Weiterentwicklung und Erprobung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Auf dieser Grundlage kann außerdem die Erforschung der Rückfälligkeit bzw. der für den Rückfall maßgeblichen Faktoren einschließlich der Wirksamkeit rückfallpräventiver Maßnahmen intensiviert und verbessert werden.
3
2. Zum Aufbau der sozialtherapeutischen Anstalten, zur Auswahl der Gefangenen nach § 9 Abs. 1 a. F. und zum Inhalt der Behandlung der bisherigen Klientel, unter der Sexualstraftäter – wenn sie überhaupt aufgenommen wurden – nur eine kleine Minderheit bildeten, liegt eine umfangreiche leicht zugängliche Literatur vor. Zur Einführung z. B. Böhm 1985; Egg 1984; Romkopf 1988; Rotthaus 1981, 1988. Dasselbe gilt für die wechselvolle, zeitweise dramatische Geschichte mancher Anstalten, z. B. Rasch 1977. Zu den typischen Persönlichkeitsstörungen, die in den sozialtherapeutischen Anstalten behandelt werden sollten, und zu den Behandlungsmethoden knapp und sehr anschaulich C/MD 2008 Rdn. 7–10. 3. Bestand und Bedarf an Behandlungsplätzen
4
Nach Verkündung des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes richteten die meisten Länder der alten Bundesrepublik Erprobungsanstalten ein (Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.) 1977). Bis zum Scheitern der Maßregellösung im Jahre 1984 (Rdn. 1) entstanden 13 sozialtherapeutische Anstalten und Abteilungen mit insgesamt rund 670 Haftplätzen (Egg/Schmitt 1993, 122). In der Folgezeit kam es lediglich an einigen Orten zu einem geringen Ausbau verfügbarer Plätze. Eine am 31.3.1997 durchgeführte Stichtagserhebung der KrimZ ergab einen Bestand von 888 Plätzen in 20 sozialtherapeutischen Einrichtungen (Egg/Schmidt 1998). Diese Situation änderte sich erwartungsgemäß sehr deutlich durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998
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(Rdn. 2). Nachdem es in allen Ländern teilweise umfangreiche Planungen zur Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten für Sexualstraftäter gab (vgl. Egg 2002), die in kleineren Ländern (z. B. Bremen, Saarland) verständlicherweise geringer und bescheidener ausfielen als in großen Ländern, wurde seit 1998 die Belegungskapazität sozialtherapeutischer Einrichtungen stark erhöht. Nach der am 31.3.2008 durchgeführten Stichtagserhebung der KrimZ (Egg/Ellrich 2008) standen zu diesem Zeitpunkt 1.857 Haftplätze in insgesamt 47 sozialtherapeutischen Einrichtungen zur Verfügung (Einzelheiten siehe folgende Tabelle). Dieser Trend wird sich voraussichtlich noch einige Jahre fortsetzen, da die neu geschaffenen Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder ebenfalls sozialtherapeutische Einrichtungen vorsehen. Außerdem gibt es zumindest in Bayern Planungen für einen deutlichen Ausbau sozialtherapeutischer Haftplätze für die Gruppe der (nicht sexuell motivierten) Gewaltstraftäter (knapp 200 Plätze im Erwachsenen- und Jugendvollzug; Quelle: Website des Bayerischen Justizvollzuges).
Sozialtherapeutische Einrichtung (geordnet nach Ländern)
Verfügbare Haftplätze am 31.03.2008
Belegung am 31.03.2008
Männer
Männer
Frauen
Frauen
Baden-Württemberg Adelsheim Asperg Crailsheim
24 61 24
– – –
23 57 21
– – –
Bayern Amberg Bayreuth Erlangen Kaisheim Landsberg München Neuburg-Herrenwörth Straubing Würzburg
16 24 41 16 24 22 16 24 24
– – – – – – – – –
16 29 44 15 24 22 15 24 24
– – – – – – – – –
– 163
18 –
– 156
10 –
80 10
– –
Hamburg Hamburg Fuhlsbüttel Hamburg Hahnöfersand
136 12
– –
135 10
– –
Hessen Kassel
140
–
138
–
Berlin Berlin-Neukölln Berlin-Tegel Brandenburg Brandenburg Wriezen
Rudolf Egg
54 10 (+2)
– –
153
§9
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Sozialtherapeutische Einrichtung (geordnet nach Ländern)
Verfügbare Haftplätze am 31.03.2008
Belegung am 31.03.2008
Männer
Männer
Frauen
Frauen
Mecklenburg-Vorpommern Waldeck
48
–
36
–
Niedersachsen Alfeld Bad Gandersheim Hameln RSH Hameln Sotha II Hannover Lingen Meppen Uelzen Vechta
– 26 31 22 39 46 20 32 25
11 – – – – – – – –
– 25 22 22 39 48 20 27 24
11 – – – – – – – –
Nordrhein-Westfalen Aachen Bochum Detmold Euskirchen Gelsenkirchen Herford Schwerte Siegburg Willich
35 15 15 16 57 26 15 29 24
– – – – – – – – –
32 15 15 17 55 22 16 27 22
– – – – – – – – –
Rheinland-Pfalz Diez Ludwigshafen
13 66
– –
12 60
– –
Saarland Saarbrücken
36
–
33
–
Sachsen Dresden Waldheim Regis-Breitingen
– 124 10
9 – –
– 104 10
5 – –
Sachsen-Anhalt Halle
116
–
70
–
Schleswig-Holstein Lübeck
39
–
39
–
Thüringen Tonna
75
–
73
–
1.857
38
1.703
26
Alle Einrichtungen
154
Rudolf Egg
Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt
§9
Die Länder gingen beim Ausbau der Sozialtherapie übrigens unterschiedliche Wege. Überwiegend wurden nicht die schon bestehenden Einrichtungen erweitert, sondern neue sozialtherapeutische Einrichtungen geschaffen, wobei es sich fast ausschließlich (Ausnahme JVA Halle) um unselbständige sozialtherapeutische Abteilungen handelt. Damit wurde der in § 123 Abs. 2 geregelte Ausnahmefall faktisch zur Regel; eine Entwicklung, die aus Finanzgründen zwar plausibel erscheint, wegen der strukturellen Nachteile von Abteilungen aber zu bedauern ist (vgl. § 123 Rdn. 2). Nachvollziehbar ist auch, dass die neu geschaffenen Plätze nahezu ausschließlich Sexualstraftätern vorbehalten sind, denn für diese gilt ja das Verlegungskonzept von § 9 Abs. 1. Demgemäß stieg die Zahl der (jeweils am Stichtag 31.3. der KrimZ-Erhebung) in sozialtherapeutischen Einrichtungen befindlichen Verurteilten nach Sexualdelikten zwischen 1997 und 2008 von 191 auf 1.080 (Egg/Ellrich 2008, 17). Bedenklich ist jedoch, dass dieser Anstieg nicht nur einen relativ höheren Prozentsatz von sozialtherapeutisch behandelten Sexualstraftätern (62,5 % statt 23,3 %) bedeutet, sondern zugleich mit einem Rückgang an Verurteilten nach anderen Delikten verbunden ist. So ging zwischen 1997 und 2008 die Zahl der (oft gewaltsamen) Eigentums- und Vermögenstäter in sozialtherapeutischen Einrichtungen von 367 auf 201, d. h. um rund 45 %, zurück (Egg/Ellrich 2008, 17). Die bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußerten Bedenken bezüglich einer Reduzierung der ohnedies knappen Therapieplätze für behandlungsbedürftige, rückfallgefährdete Verurteilte mit anderen Delikten (Rdn. 2) wurden durch die bisherige Praxis somit leider bestätigt. Eine gewisse Ausnahme bildet dabei Bayern. Dort gibt es für die Behandlung von Sexualstraftätern seit 1972 eine sozialtherapeutische Abteilung der JVA München mit ursprünglich 12, jetzt 22 Haftplätzen. Im Zuge der Umsetzung von § 9 Abs. 1 wurden von 1998 bis 2007 sieben weitere Abteilungen für Sexualstraftäter mit insgesamt 144 Plätzen eröffnet (in den JVAen Amberg, Bayreuth, Kaisheim, Landsberg, NeuburgHerrenwörth, Straubing und Würzburg). Dies bedeutet eine erhebliche Erweiterung des Behandlungsangebotes für Sexualstraftäter im bayerischen Justizvollzug (von 12 auf 166 Plätze). Für die Behandlung anderer Verurteilter steht nach wie vor die ebenfalls seit 1972 existierende sozialtherapeutische Anstalt Erlangen (41 Haftplätze) zur Verfügung. Zusätzlich ist geplant, in den nächsten Jahren in den Justizvollzugsanstalten Aichach (für Frauen), Amberg, Bernau, Kaisheim, München, Niederschönenfeld, Nürnberg und Straubing neue sozialtherapeutische Abteilungen für Gewaltstraftäter mit insgesamt 152 Haftplätzen zu errichten. Auch im Jugendstrafvollzug sollen neben den bestehenden Plätzen in der JVA Neuburg-Herrenwörth weitere sozialtherapeutische Abteilungen für Gewaltstraftäter (mit jeweils 16 Haftplätzen) in den Jugenstrafvollzugsanstalten Laufen-Lebenau und Ebrach eröffnet werden (Quelle: www.justizvollzug-bayern.de). Lediglich drei der 47 sozialtherapeutischen Einrichtungen nehmen Frauen auf (Alfeld, Berlin-Neukölln, Dresden); die dort insgesamt verfügbaren 38 Plätze entsprechen rund 2 % aller Haftplätze in der Sozialtherapie. Demgegenüber liegt der Anteil weiblicher Gefangener im Strafvollzug insgesamt bei rund 5 % (Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de). Etwas günstiger ist die Situation im Jugendstrafvollzug. Obwohl sich § 9 Abs. 1 lediglich auf Verurteilte mit „zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren“ bezieht und somit für Verurteilte mit Jugendstrafen nicht unmittelbar anzuwenden ist, erfolgte seit 1998 auch hier ein Ausbau sozialtherapeutischer Haftplätze; zwischen 1997 und 2008 stiegen diese von 86 auf 204 Plätze, d. h. um 137 %. Ihr Anteil an den insgesamt verfügbaren Plätzen in der Sozialtherapie blieb nahezu konstant bei rund 10 %; dies entspricht auch in etwa dem Anteil aller Jugendstrafgefangenen im Strafvollzug (2007: 10,8 %, Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de). Allerdings ist wegen der besonderen Betonung des Resozialierungsaspektes im Jugendstrafvollzug ein weiterer Ausbau sozialtherapeutischer Haftplätze im Jugendstrafvollzug dringend geboten (vgl. Egg 2002). Damit ist in den nächs-
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§9
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
ten Jahren auch zu rechnen, nachdem die Länder in der Folge des BVerfG-Urteils vom 31.5.2006 (2 BvR 1673/04) Jugendstrafvollzugsgesetze geschaffen haben, die alle, wenn auch mit unterschiedlicher Ausgestaltung, Regelungen für Sozialtherapie im Jugendstrafvollzug vorsehen. Insgesamt ist zu betonen, dass der Bedarf an Haftplätzen in sozialtherapeutischen Einrichtungen auch nach dem seit 1998 erfolgten Ausbau bei weitem nicht gedeckt ist. Wenn auch die frühen Forderungen, nach denen 20 % der Haftplätze für Strafgefangene Behandlungsplätze in sozialtherapeutischen Anstalten sein sollten, übersetzt erscheinen, so war doch – bereits nach § 9 a. F. bei Berücksichtigung der schwieriger gewordenen Belegung – ein Angebot von mindestens 5 % erforderlich. Der künftige Bedarf an Behandlungsplätzen lässt sich nicht abschätzen (vgl. Rdn. 9). Erfreulicherweise ist der Gedanke der intensiven Behandlung rückfallgefährdeter Straftäter trotz der erschwerten Bedingungen im Vollzug und einer verstärkten Betonung des Sicherheitsdenkens in der Kriminalpolitik (vgl. Mushoff 2005) lebendig geblieben und erlebt sogar eine gewisse Revitalisierung (vgl. z. B. Rehn u. a. 2001; Steller u. a. 1994). Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch international (z. B. Cullen u. a. 1997). So wurden bereits in den 90er Jahren in England und Wales in zahlreichen Gefängnissen spezielle Behandlungsprogramme für Straftäter implementiert, die sich überwiegend an lerntheoretischen Konzepten orientieren. Dazu zählt vor allem das „Sexual Offender Treatment Programme“ (SOTP, Mann 1999), ferner die Programme „Reasoning and Rehabilitation“ (Gretenkord 2002) und „Enhanced Thinking Skills“ (Clarke et al. 2004). Mit Hilfe dieser Programme zeigte sich eine Reduktion der Rückfallraten um 11 bis 14 % (zum Ganzen: Lau 2006 mit weiteren Nachweisen). Auch in den Niederlanden, die in der Vergangenheit wegen der strikten Trennung von Strafe und Behandlung kriminaltherapeutische Maßnahmen lediglich in forensisch-psychiatrischen Einrichtungen, namentlich den sog. TBR-Kliniken wie der bekannten Dr. Henri van der Hoeven Kliniek in Utrecht (van Beek/Mulder 1998), vorsahen, setzte sich in den letzten Jahren die Erkenntnis durch, dass auch im regulären Strafvollzug die Behandlung psychisch gestörter Straftäter möglich und sinnvoll ist. Dafür wurden vom niederländischen Justizministerium mehrere Pilotprojekte initiiert, von deren Ergebnissen eine mögliche landesweite Einführung der Programme abhängen wird. Ziel ist dabei keine umfassende Heilung der Täter, sondern die spezifische Behandlung von Risikofaktoren der Rückfälligkeit gemäß der Devise „no cure but control“ (zum Ganzen: Kröger/van Beek 2006).
5
4. Die sozialtherapeutischen Anstalten in Deutschland haben sich unterschiedliche, aber klare organisatorische Strukturen gegeben und ebenso unterschiedliche Rahmenkonzepte für die Behandlung entwickelt, die kontinuierlich fortgeschrieben werden. Sie haben in ihrer Arbeit Sicherheit gewonnen und wissen, dass Konflikte und selbst schwere Störungen im Anstaltsleben unvermeidbar sind, dass sie diese Schwierigkeiten aber bewältigen können. Sie scheuen sich nicht mehr, Angehörige der vollzuglichen Problemgruppen, der Verurteilten mit grober Gewalt im Delikt, der Sexualstraftäter und der Alkohol- oder Drogenabhängigen aufzunehmen. Die im Rahmen einer Evaluationsstudie der KrimZ erstellte Übersicht über die gegenwärtige Praxis der sozialtherapeutischen Einrichtungen (Spöhr in Vorbereitung) vermittelt ein anschauliches Bild dieser Vielfalt. Bei aller Verschiedenartigkeit der Konzepte herrscht über die wesentlichen Kriterien der Sozialtherapie doch Übereinstimmung. Der seit 1983 bestehende Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug (Specht 2000) hat dazu verschiedene Mindestanforderungen ausgearbeitet, die breite Akzeptanz gefunden haben und nach den Ergebnissen der jährlichen KrimZ-Stichtagserhebungen (zuletzt: Egg/Ellrich 2008) auch weit-
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Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt
§9
gehend erfüllt werden. Diese Anforderungen beziehen sich zum einen auf grundsätzliche Aspekte wie Zielsetzung, Aufnahme, Personal, Methoden und allgemeine Gestaltung (Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug 1988), zum anderen wurden Mindestkriterien bezüglich Organisationsform, räumlicher und personeller Ausstattung sowie Dokumentation und Evaluation formuliert (Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug 2001; Egg 2007). Danach sollen u. a. folgende Grundsätze beachtet werden: Sozialtherapeutische Einrichtungen sollen als kleine Einheiten von nicht weniger als 20 und nicht mehr als 60 Plätzen – möglichst als selbständige Anstalten – angelegt werden. Die vom Gesetz an anderer Stelle festgelegte Höchstgrenze von 200 Plätzen (§ 143 Abs. 3) ist zu hoch. Als Grundeinheiten sind Wohngruppen für 8–12 Gefangene einzurichten. Sozialtherapeutische Abteilungen sollen organisatorisch, räumlich und personell unabhängige Einheiten mit eigenen Finanzmitteln sein. Für die Behandlung muss ausreichend Personal zur Verfügung stehen. Für die Anzahl der Personalstellen des Allgemeinen Vollzugsdienstes soll grundsätzlich eine Stelle auf zwei Gefangene vorhanden sein. Für Personalstellen der besonderen Fachdienste wird folgendes empfohlen: jeweils eine Stelle des höheren Dienstes (in der Regel Psychologen) für 10 Gefangene und eine Stelle des gehobenen Dienstes (in der Regel Diplom-Sozialpädagogen) für 10 Gefangene. Dabei soll die Stelle des Leiters nicht angerechnet werden. Bei den Psychologen sollen vorzugsweise solche mit Approbation für Psychologische Psychotherapie eingestellt werden. Für Psychologen, die diese Approbation anstreben, soll die sozialtherapeutische Einrichtung die Anerkennung als Praktikumsstätte gem. § 2 Abs. 2, Nr. 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten (PsychTh-AprV) erlangen. Besonders die Arbeit auf den kleinen Wohngruppen (Rehn 1996), die durchschnittlich nicht mehr als 10 Insassen umfassen dürfen, ist sehr personalintensiv. Bei der schwierigen und kriminell stark gefährdeten Klientel muss das Wohngruppenleben, solange die Haftraumtüren offen stehen, vom Personal gewissermaßen durchtränkt werden. Andernfalls würde sich eine negative Subkultur bilden können, die zur Unterdrückung der schwächeren Gruppenmitglieder führen und die kriminelle Ansteckung begünstigen würde. Innerhalb der Wohngruppen ist eine beständige von Fachkräften geleitete Wohngruppenarbeit sicherzustellen, an der jeder Gefangene teilnehmen muss. Diese Wohngruppenarbeit schafft die Grundlage für die ,problemlösende Gemeinschaft‘. Psychotherapie kann, braucht aber nicht das Kernstück der sozialtherapeutischen Behandlung zu sein (vgl. hierzu § 7 Rdn. 11). Besser als die zunächst bevorzugten analytischen oder gesprächstherapeutischen Methoden haben sich kognitive, behaviorale Programme bewährt (Lösel 1996, 265; Lösel/Schmucker 2008). Weitere Behandlungsangebote sind die schulische und berufliche Weiterbildung, die gründliche Entlassungsvorbereitung, zu der auch ein Außentraining mit Vollzugslockerungen gehört, und die Nachbetreuung (vgl. § 126). 5. Erfolg sozialtherapeutischer Behandlung Wegen ihres hohen Kostenaufwandes – vergleichbare psychiatrische Einrichtungen be- 6 rechnen Pflegesätze von 250 Euro täglich und mehr – stand die Sozialtherapie von Anbeginn an unter einem starken Rechtfertigungsdruck. Insbesondere wurde an sie mit großer Dringlichkeit die Frage nach dem Behandlungserfolg gerichtet. Die ursprünglich sehr hochgespannten Erwartungen blieben dabei freilich unerfüllt. Auch heute – rund vierzig Jahre nach dem Beginn der Sozialtherapie in Deutschland – ist die Frage nach dem Erfolg von Behandlung nicht abschließend beantwortet, wenngleich inzwischen zahlreiche Ergebnisse vorgelegt wurden. Bereits 1987 stellte Lösel in einer Meta-Evaluationsstudie der Sozialtherapie, die alle bis dahin publizierten einschlägigen Forschungsarbeiten umfasste,
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§9
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
einen moderaten Haupteffekt der Sozialtherapie fest, der „bei den Probanden aus sozialtherapeutischen Anstalten im Durchschnitt um 8–14 % häufiger positive Veränderungen (z. B. kein Rückfall)“ erwarten lässt als bei den Probanden des „Normalvollzuges“ (Lösel u. a. 1987, 263). Während die dabei berücksichtigten Legalbewährungsstudien von Dolde (1981, 1982), Dünkel (1980), Rasch/Kühl (1977, 1978) sowie Rehn (1979) sich noch auf Behandlungszeiträume zwischen 1970 und 1974 bezogen, also lediglich die Anfangszeit der Modellversuche erfassten und dabei meist auch nur Follow-up-Zeiträume zwischen drei und vier Jahren betrafen, analysierten spätere Arbeiten auch längerfristige Effekte der Sozialtherapie (Dünkel/Geng 1994; Egg 1990). Die Integration dieser neueren Befunde in den Datenpool der von Lösel durchgeführten Meta-Evaluation führte zu einem nur wenig veränderten Gesamteffekt (Lösel 1994). Die in der Sozialtherapie behandelten Straftäter erreichten danach im Durchschnitt um etwa 11 % günstigere Werte (insbesondere geringere Rückfälligkeit) als Vergleichspersonen im Regelvollzug. Eine seit den 1980er Jahren vom Max-Planck-Institut in Freiburg mit großem Aufwand und hoher methodischer Präzision durchgeführte experimentelle Längsschnittstudie zur Sozialtherapie in Nordrhein-Westfalen kommt dagegen zu einem weniger günstigen Ergebnis. Der Erfolg der sozialtherapeutischen Behandlung ist danach „alles in allem gering bis sehr gering, aber nicht null“ (Ortmann 2002, 332). Freilich ergibt sich auch hier ein mittlerer Effekt von etwa 5 Prozentpunkten zu Gunsten der Sozialtherapie (Follow-up-Intervall: fünf Jahre, Rückfalldefintion: mehr als drei Monate Freiheitsstrafe oder mehr als 90 Tagessätze). Zudem sollte die Aussagekraft einer einzigen Studie nicht überschätzt werden, sondern im Kontext des übrigen Forschungsstandes betrachtet werden. So gelangt eine im Rahmen des US-amerikanischen CDATE-Programms erstellte Meta-Evaluation von acht deutschsprachigen Studien zur Sozialtherapie unter Einschluss der neueren Ergebnisse des MPI Freiburg zu dem Ergebnis, dass die (sozialtherapeutische) Versuchsgruppe im Durchschnitt um 12,3 % erfolgreicher ist als die Kontrollgruppe (Egg u. a. 2001). Insgesamt darf nach allen vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten und nicht zuletzt nach den vielfältigen teilweise jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen bezüglich der Bewertung der Sozialtherapie von einem vorsichtigen Optimismus ausgegangen werden. Freilich ist auch vor dem Hintergrund der internationalen Behandlungsforschung, die zum Teil erhebliche Wirkungsunterschiede aufzeigte und auf spezifische Wirkfaktoren der Straftäterbehandlung aufmerksam machte (vgl. Lösel 2000), zu prüfen, in welcher Weise die derzeit angewandten sozialtherapeutischen Behandlungsprogramme weiter entwickelt und verbessert werden können. Dies gilt insbesondere für die sozialtherapeutische Behandlung von Sexualstraftätern, über die aus den bisherigen Studien wegen zu kleiner Fallzahlen kaum tragfähige Ergebnisse abgeleitet werden können. Eine 2004 von Schmucker vorgelegte Metaanalyse, in die auch Studien aus dem deutschsprachigen Raum einbezogen wurden, ergab positive Effekte für kognitiv-behaviorale Programme, während andere psychosoziale Interventionen geringere, teilweise sogar negative Effekte zeigten. In den letzten Jahren wurden mehrere Evaluationsprojekte in Angriff genommen, mit denen die praktische Umsetzung von § 9 Abs. 1 wissenschaftlich begleitet werden soll (z. B. Bussmann et al. 2008, Hosser et al. 2006, Ortmann et al. 2004, Suhling 2006, zusammenfassend: Spöhr in Vorbereitung). Die Ergebnisse dieser Studien werden weiteren Aufschluss geben über die Wirksamkeit der in den sozialtherapeutischen Einrichtungen für Sexualstraftäter angewandten Behandlungsprogramme, wenngleich eine länderübergreifende Evaluation sozialtherapeutischer Maßnahmen für Sexualstraftäter im Vollzug, wie sie der Bundesrat am 14.3.2003 gefordert hatte (BR-Drucks. 851/02), nicht realisiert werden konnte.
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II. Erläuterungen 1. Voraussetzungen für die Aufnahme nach Abs. 1 Abs. 1 begründet einen Anspruch auf Verlegung, sofern die dort genannten Vorausset- 7 zungen vorliegen (OLG Celle, 1 Ws 224/06). Die Vorschrift greift indes nicht in das Recht der Strafvollstreckung ein. Wie bisher sind auch die Sexualstraftäter in die nach dem Vollstreckungsplan (§ 152 Abs. 1) allgemein zuständige Anstalt aufzunehmen. Dort findet die Behandlungsuntersuchung statt, bei der für diese Gefangenen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 „besonders gründlich zu prüfen (ist), ob die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt angezeigt ist“. Soweit die Gefangenen nach dem Vollstreckungsplan in eine Einweisungsanstalt (§ 152 Abs. 2) aufzunehmen sind, findet die Behandlungsuntersuchung dort statt (§ 6 Rdn. 4). Unterbleibt die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt, so konkretisiert § 7 Abs. 4 die für alle Gefangene geltende Bestimmung des Abs. 3, nach der für die Fortschreibung des Vollzugsplans „angemessene Fristen“ vorzusehen sind, für die Sexualstraftäter dahin, dass „über eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt jeweils nach Ablauf von sechs Monaten neu zu entscheiden ist“. Zuständig für die Entscheidung ist die ,abgebende‘ Anstalt, die dabei mit der aufnehmenden sozialtherapeutischen Einrichtung eng kooperieren muss. Nur durch eine solche enge Zusammenarbeit lassen sich Misserfolge in der Behandlung und Rückverlegungen (Satz 2, Rdn. 12) auf ein Mindestmaß reduzieren. Die bisherigen Verfahrensweisen, die der sozialtherapeutischen Anstalt die Entscheidung überließen oder wenigstens großen Einfluss einräumten, hatten ihre Grundlage in § 9 Abs. 2 a. F. (Egg (Hrsg.) 1993, 150 ff); die Verlegung bedurfte „der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt“. Diese Regelung ist in Abs. 1 n. F. nicht aufgenommen worden. Doch kann sich die Landesjustizverwaltung nach § 153, der für Sexualstraftäter unverändert gilt, diese Verlegungsentscheidungen wie andere „Entscheidungen über Verlegungen vorbehalten oder sie einer zentralen Stelle übertragen“ (vgl. C/MD 2008 Rdn. 11). Eine solche Zuständigkeitsverlagerung kann dazu beitragen, dass nicht Gefangene mit einer zu unsicheren Behandlungsindikation in die sozialtherapeutische Anstalt gelangen. Auch können schwierige, verhaltensauffällige Gefangene, die die abgebende Anstalt vielleicht gern loswerden möchte, so aus der Sozialtherapie herausgehalten werden. Aus der Zuständigkeit der ,abgebenden‘ Anstalt folgt auch, dass für eine gerichtliche Überprüfung stets jene Strafvollstreckungskammer zuständig ist, in deren Bereich diese JVA ihren Sitz hat (BGH 2 ARs 307/04). Ferner kann ein Gefangener nicht verlangen, dass sich die jeweilige sozialtherapeutische Einrichtung mit seinem Aufnahmewunsch befasst, wenn die „Stammanstalt“ eine Verlegung ablehnt. Die Aufzählung der Tatbestände des Strafgesetzbuches (§§ 174–180 und 182) nach Abs. 1 öffnet die Schleuse für die, wenn angezeigt, zu verlegenden Gefangenen außerordentlich weit. Es werden nicht nur ,Triebverbrechen‘ erfasst, sondern auch Verhaltensweisen, die zwar strafwürdig sind, jedoch dem Spektrum ,normalen‘ sexuellen Verhaltens zugerechnet werden, wenn etwa Lehrer oder Ausbilder geschlechtliche Beziehungen zu jugendlichen Schülerinnen und Schülern oder Auszubildenden aufnehmen (§ 174 Abs. 1 StGB). Erheblich eingeschränkt wird der Kreis der Verurteilten dagegen durch die auf mehr als zwei Jahre festgelegte Strafhöhe. Bei der Prüfung der Behandlungsindikation ist einerseits der Wille des Gesetzgebers, möglichst alle Sexualstraftäter sozialtherapeutisch zu behandeln, zu berücksichtigen. Andererseits müssen hier und nicht erst nach einem erfolglosen Behandlungsversuch zur Behandlung ungeeignete Gefangene identifiziert und von der Verlegung ausgeschlossen werden (s. auch § 6 Rdn. 33). Als Kriterium der Behandlungsunfähigkeit ist dabei eine auf Dauer angelegte und nicht korrigierbare Mitarbeit der
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Gefangenen an der Behandlung anzusehen bzw. eine mit therapeutischen Mitteln nicht erreichbare Persönlichkeitsstörung (OLG Celle 1 Ws 91/07, 1 Ws 294/07; OLG Frankfurt 3 Ws 845/04; OLG Schleswig-Holstein 2 Vollz Ws 415/05; LG Aachen 33 Vollz 134/05). 8 Alle sozialtherapeutischen Einrichtungen kennen eine Mindestreststrafe als Voraussetzung für die Aufnahme, die überwiegend bei 18 bis 24 Monaten liegt (Egg (Hrsg.) 1993, 150 ff; Spöhr in Vorbereitung). Eine planvolle therapeutische Behandlung braucht Zeit. Außerdem soll der Gefangene nach Abschluss der Behandlung nach Möglichkeit nicht bei Strafende, sondern vorzeitig zur Bewährung entlassen und zur Sicherung des Behandlungserfolgs der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt werden. Daher sind 18 bis 24 Monate ein Minimum (vgl. aber Konrad 1998). Auch die Gefangenen nach Abs. 1, die nur noch einen geringeren Strafrest zu verbüßen haben, sind deshalb von der Sozialtherapie – von Ausnahmen abgesehen – auszuschließen. Ihre Zahl ist nicht klein, weil die meisten Sexualstraftäter, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt werden, längere Zeit in Untersuchungshaft verbringen. Von der Rechtskraft des Urteils an vergeht zwangsläufig eine Zeit, bis der Vollzugsanstalt die vollständigen Vollstreckungsunterlagen vorliegen. Oft müssen die für eine gründliche Diagnostik erforderlichen früheren Gutachten und Vorgänge anderer Behörden wie z. B. der Jugendämter oder von psychiatrischen Kliniken beigezogen werden. Nach allem haben erst Verurteilte mit Strafen von mehr als drei Jahren eine realistische Aussicht für die Aufnahme in die Sozialtherapie. Sie müssen – etwa bis zu einer Strafzeit von sechs Jahren – möglichst schnell verlegt werden. Sollte die Behandlung vor dem Zeitpunkt der (vorzeitigen) Entlassung abgeschlossen sein, lassen sich Maßnahmen der Entlassungsvorbereitung (offener Vollzug, soziales Training) sinnvoll anschließen. Dem Sinne des neuen Gesetzes entspricht es, den (z. B. wegen zu kurzer Restverbüßungszeit) von der Verlegung ausgeschlossenen Gefangenen in der Anstalt des Normalvollzugs ein Behandlungsangebot zu machen. Zu denken ist hier an psychotherapeutische Behandlung durch einen Therapeuten ,von draußen‘. Die Behandlung kann dann über den Zeitpunkt der Entlassung hinaus fortgesetzt werden. Nach Möglichkeit sollte sie mit der Unterstellung unter einen Bewährungshelfer verbunden werden. Problematisch sind die zu Strafen von mehr als sechs Jahren Verurteilten. Es stellt sich die Frage, ob sie zu Beginn der Strafzeit in die sozialtherapeutische Anstalt aufgenommen und nach Abschluss der Behandlung in eine ,normale Verbüßungsanstalt‘ verlegt werden sollen. Dafür sprechen die § 67 Abs. 1 StGB zugrundeliegenden Erwägungen, nach dem im Regelfall die Maßregel vor der Freiheitsstrafe vollzogen wird. Bisher wurde diese Reihenfolge für die Sozialtherapie abgelehnt: Die Behandler wollten die Gefangenen nicht auf ein Leben im ,Normalvollzug‘, sondern in der Freiheit vorbereiten. Andererseits geht eine zunächst vorhandene Behandlungsmotivation im Laufe eines längeren Vollzuges oft verloren. Die Frage kann nicht allgemein beantwortet werden. Meist wird ein möglichst früher Beginn der Behandlung angezeigt sein (i.d.S. KG, NJW 2001, 1806 ff). Dann müssen dem Gefangenen bereits mit der Entscheidung über die Verlegung in die Sozialtherapie für die Zeit nach Abschluss der Behandlung Perspektiven für eine positive Ausgestaltung des sich anschließenden ,Normalvollzuges‘ aufgezeigt werden: z. B. ein Arbeitsplatz oder eine Fortbildungsmaßnahme, die seinen Fähigkeiten und Neigungen (§ 37 Abs. 2) entsprechen, offener Vollzug. Wird der Beginn der Behandlung auf einen späteren Zeitpunkt festgelegt, ist in der ,normalen Verbüßungsanstalt‘ eine fachliche Betreuung zur Aufrechterhaltung der – etwa vorhandenen – Therapiemotivation erforderlich (vgl. auch § 6 Rdn. 34). Eine Sondergruppe sind die Sexualstraftäter mit anschließender Sicherungsverwahrung. Soweit die Behandlungsindikation gegeben ist, muss die Behandlung so rechtzeitig begonnen werden, dass sie – voraussichtlich – spätestens bei Strafende beendet ist.
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Die therapeutische Behandlung im Strafvollzug hat auch den Zweck, den Gefangenen nach Möglichkeit vor dem Sonderopfer weiteren Freiheitsentzuges zu bewahren. Dies gilt sowohl für Gefangene, bei denen Sicherungsverwahrung im Urteil angeordnet wurde (§ 66 StGB), als auch für Fälle der 2002 geschaffenen Regelung eines Vorbehalts der Anordnung (§ 66a StGB). Eine erfolgreich durchgeführte sozialtherapeutische Behandlung kann hier als prognostisch günstiges Kriterium für eine Aussetzung der Anordnung bzw. für eine Aufhebung des Vorbehalts herangezogen werden. Bei der im Juli 2004 eingeführten nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB; siehe BGBl. I, S. 1838) sollte umgekehrt aus einem ungünstigen Therapieverlauf nicht automatisch eine Negativprognose mit notwendiger Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abgeleitet werden, sondern eine umfassende Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung aller relevanten Informationen (Anlasstat, Persönlichkeit, Entwicklung, Zukunftsperspektive) vorgenommen werden. Aus dem rechtlichen Anspruch auf Verlegung (Rdn. 7) folgt, dass auch langstrafige Verurteilte, insbesondere solche mit anschließender Sicherungsverwahrung, nicht „vor dem Hintergrund letztlich fiskalischer Erwägungen auf begrenzte Kapazitäten oder auf eine Aufnahme in eine Warteliste verwiesen werden“ dürfen (OLG Celle, 1 Ws 224/06). Die Entscheidung der Frage, ob im Einzelfall die Behandlung in einer sozialtherapeuti- 9 schen Anstalt angezeigt ist, setzt eine gründliche Diagnostik voraus (§ 6 Rdn. 30–33; dazu ausführlich Konrad 1998). Dafür ist qualifiziertes Fachpersonal erforderlich, das ggf. erst durch besondere Maßnahmen, insbesondere durch spezielle Fortbildungen, geschaffen werden muss. Entsprechendes gilt für die eigentliche therapeutische Arbeit: Es müssen geeignete Sexualtherapeuten gewonnen oder herangebildet werden, denn abgesehen von der seit 1972 in München eingerichteten Spezialabteilung lag der Schwerpunkt der Behandlungsarbeit in sozialtherapeutischen Einrichtungen bislang nicht bei der Gruppe der Sexualstraftäter. Gleichzeitig sind auch die nach dem Vollstreckungsplan allgemein zuständigen Anstalten für ihre diagnostische Aufgabe zur Vorbereitung der Verlegungsentscheidungen mit Fachkräften auszustatten. Für die Landesjustizverwaltungen bedeutet diese Vorschrift darum eine ganze Reihe von Aufgaben und Problemen. Die Länder müssen neue sozialtherapeutische Anstalten oder Abteilungen einrichten oder – wo vorhanden – Behandlungsplätze, die bisher für andere Therapiefälle genutzt wurden, für die Behandlung von Sexualstraftätern umwidmen. Zusammenfassend heißt dies, dass die Länder, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, zumindest mittelfristig nur einem Teil der Sexualstraftäter zu der vom Gesetz geforderten Behandlung verhelfen können, wenngleich der seit 1998 erfolgte Ausbau (Rdn. 4) zumindest in Relation zu der vorherigen Situation seit der Aufhebung der Maßregellösung (Rdn. 1) beachtlich erscheint. Die Verlegung von Sexualstraftätern in die sozialtherapeutische Anstalt ist nicht da- 10 von abhängig, dass ihr der Gefangene – wie es nach Abs. 1 a. F. allgemein erforderlich war und für andere Täter nach Abs. 2 nach wie vor erforderlich ist – zustimmt. Diese unter dem Stichwort „Zwangstherapie“ geforderte oder kritisierte Neuerung dürfte in der Praxis keine Schwierigkeiten bereiten. Kaum einer der für die Verlegung in Betracht kommenden Sexualstraftäter hat eine Vorstellung von Therapie und vom Leben in einer sozialtherapeutische Anstalt. Es ist deshalb sinnvoll und vertretbar, diese Gefangenen auch gegen ihren Willen an die Therapie heranzuführen und sie gründlich und anschaulich zu informieren (zur Einführung in die sozialtherapeutische Anstalt: Driebold u. a. 1984, 134 ff). Ein Teil von ihnen wird dann die Notwendigkeit einer solchen Behandlung erkennen und die für die Therapie erforderliche Motivation zur Mitarbeit entwickeln. Daher kann der Ansicht von Arloth (Arloth 2008 Rdn. 12), behandlungsunmotivierte Gefangene seien für die Sozialtherapie weniger geeignet, als Gefangene, die zu einer Teilnahme an der Behand-
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lungsmaßnahme bereit seien, grundsätzlich nicht gefolgt werden. Denn auch umgekehrt sind Gefangene, die vor der Aufnahme in die sozialtherapeutische Anstalt – auch durchaus aufrichtig – ihre Behandlungsmotivation bekunden, keine sicheren Behandlungserfolge. Nicht selten kommt es vor, dass zunächst gut motivierte Gefangene die Mitarbeit in der Therapie einstellen, wenn sie erfahren, welche schmerzhaften und Angst auslösenden Forderungen die notwendige Umstrukturierung ihrer Persönlichkeit an sie stellt. Eine therapeutische Behandlung ist andererseits ohne aktive Mitarbeit des Klienten nicht möglich. Es widerspricht dem Berufsethos der Therapeuten, Zwang auszuüben. Eine Verletzung von Grundrechten (Art. 1, 2 GG) ist nicht zu befürchten. Doch ist auch einer sozialtherapeutischen Anstalt Zwang notwendigerweise immanent. Es ist die Aufgabe der Behandler, diese Problematik im Rahmen von Mitarbeiterbesprechungen und Supervision ständig im Auge zu behalten und Sorge zu tragen, dass auf keinen Insassen in rechtlich unzulässiger und therapeutisch schädlicher Weise Druck ausgeübt wird. – Die Möglichkeit einer zwangsweisen Heranführung von behandlungsbedürftigen und behandlungsfähigen Verurteilten an die Therapie hatte bereits der Fachausschuss V des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe (1981, 10 ff) im Vorfeld der Aufhebung von § 65 StGB in der Weise empfohlen, dass die probeweise Aufnahme eines Gefangenen in eine sozialtherapeutische Anstalt auch ohne dessen Zustimmung für einen Zeitraum von nicht mehr als drei Monaten möglich sein solle (i.d.S. auch Egg 1984, 150). Kaiser/Dünkel/Ortmann (1982, 206) haben den Vorschlag aufgegriffen und unter der Überschrift einer ,angereicherten Vollzugslösung‘ unterstützt (vgl. auch die Kritik von Böhm 1985 an dem durch das StVollzÄndG von 1984 bestimmten Zustimmungserfordernis nach § 9 Abs. 1 a. F. Rdn. 15). 11 Ebenso im Gegensatz zur alten Fassung verzichtet das neue Gesetz auf die Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt zur Aufnahme eines wegen Sexualstraftaten verurteilten Gefangenen (hinsichtlich anderer Gefangener s. Rdn. 16). Diese Neuerung wirkt sich ähnlich aus wie die Einschränkung der Rückverlegungsmöglichkeit (Satz 2). Die Anstalt hat nicht mehr die Möglichkeit, Gefangene, die ihr schwierig erscheinen, von sich fernzuhalten. Das ist berechtigt, zumal den sozialtherapeutischen Einrichtungen von den anderen Anstalten oftmals der Vorwurf gemacht wurde, sich ,pflegeleichte‘ Gefangene auszusuchen, um sichere Behandlungserfolge zu erzielen und sich Schwierigkeiten, wie der Alltag des Vollzuges sie überall mit sich bringt, zu ersparen. Andererseits gehört es zur Kooperation zwischen den abgebenden Anstalten oder der nach § 153 zur Entscheidung berufenen Stelle und der Sozialtherapie, dass der Leiter der sozialtherapeutischen Einrichtung die Grenzen der Therapie aufzeigt. Doch wäre eine bestimmende Einflussnahme des Leiters der sozialtherapeutischen Einrichtung im Einzelfall nicht mit dem Gesetz zu vereinbaren. 12 Die Rückverlegung eines Gefangenen aus der Sozialtherapie in die allgemein zuständige Anstalt ist nur aus Gründen erlaubt, die „in der Person des Gefangenen liegen“. Hier ist zunächst daran zu denken, dass der Gefangene hartnäckig bei seiner Entscheidung gegen die Therapie bleibt oder dass er seine Mitarbeit dabei einstellt. Wie aber ist bei schweren Verstößen gegen die Hausordnung zu verfahren, wenn der Gefangene in der Anstalt gewalttätig wird oder gegen andere fundamentale Verhaltensregeln wie das Alkoholverbot oder das Drogenverbot verstößt? Derartige Verhaltensweisen sind im Blick auf den Zweck der Behandlung zu bewerten. Sind es durch die Behandlung ausgelöste Reaktionen, die im Zuge weiterer Behandlung aufgearbeitet werden können, so darf die Rückverlegung nicht erfolgen. Etwas anderes gilt, wenn die genannten Störungen deutliche Hinweise auf die Behandlungsunfähigkeit sind. Die Anwendung dieser Vorschrift wirft schwierige rechtliche Fragen auf. Zugleich stellt sie den Anstalten neue Aufgaben. In der Vergangenheit führten Konflikte, wie oben beispielhaft genannt, zur Verlegung und damit dazu, dass die sozialthera-
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peutische Anstalt dieses Problem loswurde und dem ,Normalvollzug‘ überließ (Rdn. 15). Nun muss in solchen Fällen nach Lösungsmöglichkeiten im Rahmen der Therapie gesucht werden. – Nur für die recht seltenen Grenzfälle erhöhter Fluchtgefahr sowie die häufigeren Fälle der Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gibt § 85, der ebenso wie § 8 nach Abs. 3 auch für Sexualstraftäter gilt, eine klare Antwort und erlaubt die Rückverlegung. Nicht möglich ist dagegen eine Rückverlegung aus Zweckmäßigkeitserwägungen oder Belegungsschwierigkeiten der sozialtherapeutischen Einrichtung, etwa bei einer beabsichtigten Unterbrechung einer Therapie eines therapiewilligen und -fähigen Gefangenen mit einer langen Haftstrafe (LG Stuttgart NStZ-RR 2001, 255 f). Auch aus therapeutischen Gründen ist eine derartige Unterbrechung und spätere Wiederaufnahme einer Therapie abzulehnen. Die Sorge, dass sich durch solche Gefangene Probleme für die Anstalten ergeben werden, weil diese Therapieplätze auf Dauer blockieren könnten, ist jedoch unbegründet. Das Gesetz verlangt nämlich nicht, dass ein Gefangener auch nach erfolgreich beendeter Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt verbleiben muss, vielmehr ist dann ein legitimer Grund (Zweckerreichung) für die Verlegung in eine andere Anstalt gegeben. Allerdings sollte dort durch eine entsprechende Nachbetreuung, am besten durch das Personal der sozialtherapeutischen Anstalt, der Erfolg der Therapie stabilisiert und gesichert werden (vgl. Anm. Rotthaus in ZfStrVo 2002, 182 f; s. auch § 6 Rdn. 34). Grundsätzlich zwingt Abs. 1 die Länder dazu, soweit erforderlich neue sozialtherapeutische Anstalten einzurichten und durch Umsetzung und Einstellung von Fachpersonal die Voraussetzungen für die nach § 6 Abs. 2 Satz 2 besonders gründliche Prüfung der Behandlungsindikation und für die Behandlung der Sexualstraftäter zu schaffen. Darüber hinaus entspricht es dem Sinn dieses ungewöhnlichen Gesetzes, dass alle Bundesländer auch nach anderen, zusätzlichen Wegen suchen, den Sexualstraftätern zu einer Behandlung zu verhelfen. Ein Weg, der sich in vielen Anstalten bereits bewährt hat, ist die therapeutische Behandlung eines Gefangenen in der für ihn allgemein zuständigen Anstalt durch einen Therapeuten ,von draußen‘. Damit kann auch dem zur Zeit im Vollzug noch herrschenden Mangel an einschlägig erfahrenen Therapeuten begegnet werden. Auch wenn die Psychotherapie in den Händen eines Therapeuten von draußen liegt, genügt es nicht, lediglich den technischen Rahmen der Behandlung in der Anstalt zu organisieren. Die betreffenden Gefangenen müssen durch einen Psychologen oder eine andere Fachkraft in der Anstalt begleitet und betreut werden. Diese Organisationsform nach dem ,Importmodell‘ (Egg 1984, 121) braucht nicht eine Notlösung an Stelle der noch nicht durchführbaren Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung zu sein. Sie kann durchaus Vorteile haben. Der Gefangene bleibt in einer Anstalt, die vielleicht heimatnäher gelegen ist oder die günstigere Voraussetzungen für seine berufliche Beschäftigung oder für seine Fortbildung bietet. Auch für die Vollzugsorganisation des Landes sind Vorteile denkbar. Andere behandlungsbedürftige Gefangene als Sexualstraftäter können einen Platz in einer sozialtherapeutischen Einrichtung erhalten. Die Einrichtungen selbst werden nicht zu therapeutischen ,Monokulturen‘, die – was die neue Regelung zum Ergebnis haben könnte – überwiegend oder gar ausschließlich mit behandlungsbedürftigen Sexualstraftätern belegt sind. Mit derartigen Spezialeinrichtungen gibt es jedenfalls im Justizvollzug bislang noch kaum Erfahrungen. Das Leben dort kann jedoch spezifische Schwierigkeiten mit sich bringen. Auf jeden Fall ist es noch weiter von Normalität (§ 3 Abs. 1) entfernt als das in anderen Vollzugsanstalten. Im Anschluss an diese Möglichkeiten einer Therapie im Normalvollzug stellt sich die Frage, ob diese Art der Behandlung von Sexualstraftätern die Verlegung nach Abs. 1 selbst dann ersetzen kann, wenn in den sozialtherapeutischen Einrichtungen ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht. Die Frage ist zu bejahen. Wenn ein Gefangener ebenso gut oder
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besser anderswo als in der Sozialtherapie behandelt werden kann, so ist die „Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt“ nicht angezeigt. Die Indikation nach Abs. 1 ist nur gegeben, wenn sie zur Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 Satz 1) erforderlich ist. Von der Verlegung sind nicht nur Gefangene auszuschließen, die nicht behandlungsfähig sind. Dasselbe gilt für diejenigen von ihnen, die – aus welchen Gründen auch immer – einer Behandlung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung nicht bedürfen (so auch der Bericht des Rechtsausschusses vom 13.11.1997, BT-Drucks. 13/9062, 13). 13 Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass § 9 eine Anzahl neuer Rechtsfragen aufwirft. Unabhängig von seiner kriminalpolitischen Fragwürdigkeit (Rdn. 2) ist die Novelle auch gesetzestechnisch nicht ausgereift. In der Vergangenheit waren Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Aufnahme in die sozialtherapeutische Anstalt nur selten Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen gewesen. Die Vorschrift des § 9 Abs. 1 a. F. räumte den Gefangenen nur eine schwache Position ein (Rdn. 14). Das ist durch die Neuregelung entschieden verändert worden. Wie zu erwarten, haben einige als Sexualstraftäter Verurteilte Ansprüche auf Verlegung und auf therapeutische Behandlung geltend gemacht, wenngleich nicht immer in der von ihnen gewünschten Weise entschieden wurde (z. B. LG Aachen 33 Vollz 134/05): Die bisherigen Verfahren haben jedenfalls zur Klärung einiger wichtiger Rechtsfragen (z. B. Anspruch auf Behandlung, Behandlungsunfähigkeit, Voraussetzungen für die Verlegung, örtliche Zuständigkeit) beigetragen. Dennoch sollten sich die Landesjustizverwaltungen die praktische Umsetzung von § 9 Abs. 1 nicht – wie manchmal geschehen – von den Gerichten abringen lassen, sondern stets im Sinne des gesetzgeberischen Zieles handeln, möglichst vielen Sexualstraftätern möglichst bald zu therapeutischer Behandlung zu verhelfen. 2. Die Voraussetzungen für die Aufnahme nach Abs. 2
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Nach § 7 Abs. 2 Ziff. 2 ist bei der Erstellung des Vollzugsplanes in jedem Fall zu prüfen, ob der Gefangene in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen ist. Für Gefangene, die nicht zu den in Abs. 1 genannten Sexualstraftätern gehören, ist die Frage nach Abs. 2 zu entscheiden. Diese Vorschrift ist durch die Novelle anders formuliert worden; inhaltliche Änderungen gegenüber § 9 Abs. 1 a. F. waren nicht beabsichtigt. Als Bestandsgarantie (Böhm 1985) gewinnt die Vorschrift freilich an Bedeutung. Die Landesjustizverwaltungen sind weiterhin verpflichtet zu gewährleisten, dass auch andere behandlungsbedürftige Gefangene als Sexualstraftäter in eine sozialtherapeutische Anstalt aufgenommen werden können. Die Sozialtherapie darf nicht auf die Behandlung von Sexualstraftätern eingeengt werden. Im Gegensatz zu Abs. 1 sind die Voraussetzungen für die Aufnahme so vage umschrieben, dass eine Rechtskontrolle schwierig ist. So hat das OLG Celle erwogen, „dass der Vollzugsbehörde auch im Rahmen der Indikation nach § 9 Abs. 1 Satz 1“ (a. F.) in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zur Gefahrenprognose nach § 11 Abs. 2 StVollzG (NStZ 1982, 173) „ein Beurteilungsspielraum zusteht“ (NStZ 1984, 142; zutreffend dagegen i. S. uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle AK-Kamann/Volckart 2006 § 115 Rdn. 31 ff). Bejaht das Gericht die Indikation, so kann bei der Ausübung des Folgeermessens die Entscheidung immer noch negativ ausfallen, weil die für den konkreten Gefangenen erforderlichen therapeutischen Mittel und Hilfen in der zuständigen Einrichtung nicht zur Verfügung stehen (LG Aachen NStZ 1993, 149), oder einfach deshalb, weil die Behandlungsplätze auf absehbare Zeit besetzt sind. Zur Indikation vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ 1997, 302 und § 6 Rdn. 33.
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a) Anders als nach Abs. 1 bedarf die Verlegung hier der Zustimmung des Gefangenen. Dieser Grundsatz wurde von allen sozialtherapeutischen Einrichtungen beachtet, bevor er
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durch das StVollzÄndG von 1984 („mit seiner Zustimmung“) ausdrücklich festgelegt wurde (hierzu krit. Böhm 1985). Entsprechendes muss auch für die einzelnen Behandlungsangebote, insbesondere für die Psychotherapie, gelten. Sachliche Gründe gibt es für eine unterschiedliche Regelung des Zustimmungserfordernisses der Sexualstraftäter und der anderen sozialtherapeutischer Behandlung bedürftigen Gefangenen jedoch nicht (Rdn. 10). Auch für sie kann eine Heranführung an die therapeutische Behandlung sinnvoll sein. b) Die Aufnahme in die sozialtherapeutische Anstalt bedarf nach Abs. 2 Satz 2 wie bis- 16 her nach Abs. 2 a. F. der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt. Die Voraussetzungen, unter denen er seine Zustimmung zu erteilen hat, sind nicht normiert und nie normiert gewesen. Der Anstaltsleiter hat das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufnahme deshalb nach pflichtmäßigem Ermessen zu prüfen und demgemäß zu entscheiden. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Fachkunde des Leiters der Sozialtherapie die Aufnahmeentscheidungen bestimmt. Es soll damit auch verhindert werden, dass Gefangene, die nach Auffassung anderer Anstalten behandlungsbedürftig sind, in die sozialtherapeutische Anstalt abgeschoben werden. Diese Gefahr einer Verlegungsentscheidung aus sachfremden Gründen ist aber auch bei Sexualstraftätern nicht auszuschließen. Sachliche Gründe gibt es daher ebenso wenig für eine unterschiedliche Regelung des Zustimmungserfordernisses des Anstaltsleiters nach Abs. 1 und Abs. 2 (Rdn. 11). Ebenso wie bei den Sexualstraftätern ist es möglich, dass die Verlegungsentscheidung durch die Aufsichtsbehörde oder die von ihr bestimmte zentrale Stelle (§ 153) getroffen wird (C/MD 2008 Rdn. 11). Für manche Bundesländer gelten Verwaltungsvorschriften, die das vorsehen. Doch berücksichtigen die danach zur Entscheidung berufenen Stellen die gutachterliche Äußerung der Anstalt. c) Die Rückverlegung von in die Sozialtherapie aufgenommenen Gefangenen im Falle 17 eines voraussichtlichen Misserfolgs der Behandlung ist für die Sexualstraftäter in Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich geregelt. Auffallenderweise hat Abs. 2 weder diese enge Rückverlegungsvorschrift noch die des Abs. 1 Satz 2 a. F. übernommen, die eine hohe Rückverlegungsquote ermöglichte. Da Abs. 2 das Zustimmungserfordernis des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt für die Aufnahme beibehalten hat, liegt auch der actus contrarius, die Rückverlegung, in seinem pflichtmäßigen Ermessen. Auf eine ausdrückliche Regelung konnte verzichtet werden, da Abs. 1 Satz 2 a. F. im Grunde Selbstverständliches aussagte und keinen Einfluss auf die unerwünscht häufigen Rückverlegungen hatte. Voraussetzung für die Rückverlegung war, dass mit den besonderen therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen in der sozialtherapeutischen Anstalt voraussichtlich kein Erfolg erzielt werden konnte. Die Rückverlegung eines zur Behandlung aufgenommenen Insassen in den ,Normalvollzug‘ ist ein Problem, das die sozialtherapeutischen Anstalten von Beginn an begleitet. (Für den von Anstalt zu Anstalt unterschiedlichen Umfang der Rückverlegungen von 20–60 % Egg 1993, Synopse der sozialtherapeutischen Einrichtungen Tabelle 20, Zurückverlegung in den Normalvollzug, S. 176 f). Einerseits müssen Gefangene, die gegen Basisregeln des Zusammenlebens grob oder wiederholt verstoßen oder andere Hinweise auf Behandlungsunfähigkeit oder Behandlungsunwilligkeit zeigen, aus der sozialtherapeutischen Einrichtung verlegt werden, damit sie die kostbaren Plätze dort nicht blockieren. Andererseits bestand wegen der wenig verbindlichen Fassung der Rückverlegungsvorschrift von Abs. 1 Satz 2 a. F. die Gefahr, dass Insassen ebenso wie Behandler übereilt handelten. Schwankungen in Motivation und Mitarbeit gehören zur Entwicklung eines jeden Klienten in der Psychotherapie. Selbst schwere Verstöße gegen die Basisregeln können Anzeichen einer vorübergehenden Krise sein. Das Problem kann aber auch bei den Therapeuten liegen. Bei
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Behandlungskrisen projiziert das Personal bisweilen Störungen der Zusammenarbeit auf den Gefangenen und betreibt die Verlegung in der Hoffnung, auf diese Weise die eigenen Schwierigkeiten zu bewältigen. Vor der Verlegungsentscheidung sind deshalb die Auswirkungen der Verlegung für den Gefangenen und für die Anstalt sorgfältig abzuwägen. Manchmal ist es besser, die Therapieziele neu und bescheidener zu formulieren. Besonders wenn der Zeitpunkt der Entlassung nicht mehr fern liegt, sollte von einer Rückverlegung abgesehen werden. Dann wird die sozialtherapeutische Anstalt immerhin noch eine sorgfältigere Entlassungsvorbereitung durchführen können als die meisten personell weniger gut besetzten Vollzugsanstalten. Die Rückverlegung gegen den Willen des Insassen darf nur aus zwingenden Gründen erfolgen. Sie kann nämlich zu der weiteren Stigmatisierung führen, selbst in der Sozialtherapie versagt zu haben. Rückfalluntersuchungen zeigen, dass Rückverlegte besonders schnell und schwer rückfällig werden (Lösel 1996). Es wäre deshalb sachgerecht gewesen, die eingeschränkte Rückverlegungsmöglichkeit nach Abs. 1 Satz 2 nicht nur für die Sexualstraftäter, sondern auch für die anderen Insassen der sozialtherapeutischen Anstalten einzuführen. Dem Antrag des Gefangenen, der ernsthaft und nachdrücklich seine Rückverlegung in den Normalvollzug verlangt, ist, den Überlegungen zur Freiwilligkeit der Aufnahme (Rdn. 15) entsprechend, zu folgen. Geschieht das zu einem Zeitpunkt, an dem der Insasse über die Inhalte therapeutischer Behandlung und das Leben in der sozialtherapeutischen Anstalt umfassend informiert ist, ist die Rückverlegung auch sachlich gerechtfertigt. Von den Fällen der voraussichtlichen Erfolglosigkeit der Behandlung abgesehen, kann ein Gefangener auch nach den allgemeinen Vorschriften des § 8 oder nach § 85 in eine „zu seiner sicheren Unterbringung besser geeignete Anstalt“ verlegt werden. Die Vorschrift (Abs. 3) gilt für Sexualstraftäter und für andere Insassen von sozialtherapeutischen Anstalten. Sie dient der Klarstellung und gilt auch für die in § 8 nicht genannten Verlegungsgründe (vgl. Rdn. 1 zu § 8). 18 Wenn in Abs. 2 Satz 2 ausdrücklich der Anstaltsleiter genannt wird, bedeutet das nicht, dass die Entscheidung über die Aufnahme (und entsprechend über die Rückverlegung) sein „einsamer Entschluss“ sein müsste. Zu den Grundelementen sozialtherapeutischer Arbeit gehört im Gegenteil, dass alle wichtigen Entscheidungen in Konferenzen getroffen werden (OLG Celle NStZ 1984, 142). Gerade bei den Entscheidungen über Aufnahme und Rückverlegung ist der Anstaltsleiter auf einen möglichst breiten Konsens unter den Mitarbeitern angewiesen. Die Behandlung wird kaum erfolgreich anlaufen können, wenn die Mehrzahl der Mitarbeiter der Aufnahme des Gefangenen ablehnend gegenübersteht. Umgekehrt kann der Abbruch der sozialtherapeutischen Behandlung gegen den Willen der Mitarbeiter zu Spannungen und zu Krisen in der Zusammenarbeit führen, weil durch die Verlegungsentscheidung Beziehungen der Mitarbeiter zum Klienten zerschnitten werden.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 11 BayStVollzG entspricht § 9 StVollzG, enthält aber einige inhaltliche Veränderungen: Abs. 1 ist nahezu wortgleich mit § 9 Abs. 1 StVollzG. Anders als dieser betrifft er aber auch Sexualstraftäter, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Die Zurückverlegung ist in einem eigenen Abs. 4 geregelt. Abs. 2 wurde verändert und lautet: „Andere Gefangene, von denen schwerwiegende Straftaten gegen Leib oder Leben oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu erwarten
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sind, sollen in eine sozialtherapeutische Einrichtung verlegt werden, wenn deren besondere therapeutische Mittel und soziale Hilfen zu ihrer Resozialisierung angezeigt sind.“ Diese Soll-Vorschrift gilt bis einschließlich 31.12.2012 lediglich als Kann-Bestimmung (Art. 210 Abs. 2 BayStVollzG). Grundlage für die Verlegung ist eine prognostische Einschätzung der Gefährlichkeit des Gefangenen. Auf die Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Einrichtung zur Verlegung wird verzichtet. Insgesamt verstärkt diese Vorschrift die Anwendungsmöglichkeit sozialtherapeutischer Maßnahmen für „andere Gefangene“, gleichzeitig wird der dafür in Frage kommende Personenkreis enger gefasst. Abs. 3 ist neu und lautet: „Vor einer Verlegung nach Abs. 1 oder 2 ist die Bereitschaft der Gefangenen zur Teilnahme an therapeutischen Maßnahmen zu wecken und zu fördern.“ Damit obliegt es der abgebenden Anstalt, nicht mehr der sozialtherapeutischen Einrichtung (OLG Celle 1 Ws 91/07), Motivation und Mitarbeitsbereitschaft geeigneter Gefangener zu stärken. Abs. 4 entspricht § 9 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, bezieht sich aber nicht nur auf eine mögliche Zurückverlegung, sondern erweitert dessen Anwendung auch auf eine damit zu versagende Verlegung. 2. Hamburg § 10 HmbStVollzG entspricht § 9 StVollzG, enthält aber einige inhaltliche Veränderun- 20 gen. Das Gesetz spricht anders als das StVollzG konsequent von sozialtherapeutischen Einrichtungen, die nach § 99 HmbStVollzG „eigenständige Anstalten oder getrennte Abteilungen“ sein können. Des Weiteren gibt es folgende Änderungen: Abs. 1 ist nahezu wortgleich mit § 9 Abs. 1 StVollzG. Anders als dieser betrifft er aber auch Sexualstraftäter, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Die Zurückverlegung ist in einem eigenen Abs. 3 geregelt. Abs. 2 entspricht inhaltlich § 9 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht § 9 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, bezieht sich aber nicht nur auf eine mögliche Zurückverlegung, sondern erweitert dessen Anwendung auch auf eine damit zu versagende Verlegung. Dabei gilt jedoch für die Verlegung von Gefangenen nach Abs. 1 eine regelmäßig neu zutreffende Entscheidung „jeweils spätestens nach Ablauf von sechs Monaten“. Abs. 4 entspricht inhaltlich § 9 Abs. 3 StVollzG. 3. Niedersachsen Das NJVollzG fasst die speziellen Vorschriften für sozialtherapeutische Anstalten und 21 Abteilungen in einem eigenständigen sechzehnten Kapitel (§§ 103–106 NJVollzG) zusammen. Dabei entspricht § 104 NJVollzG inhaltlich § 9 StVollzG, er enthält neben der konsequenten Verwendung männlicher und weiblicher Geschlechtsbezeichnungen auch einige inhaltliche Veränderungen: Abs. 1 erweitert gegenüber dem StVollzG den Kreis der in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegenden Gefangenen. So betrifft er einerseits auch Verurteilte mit lebenslanger Freiheitsstrafe und gilt andererseits nicht nur für Sexualstraftäter (Ziffer 1), sondern in gleicher Weise auch für Personen, die wegen „eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252 und 255, StGB verurteilt worden“ sind (Ziffer 2). Des Weiteren ist die Verlegung davon abhängig, dass „die dortige Behandlung zur Verringerung einer erheblichen Gefährlichkeit der oder des Gefangenen für die Allgemeinheit angezeigt ist.“ Diese an § 66b StGB angelehnte Formulierung impliziert eine zweifache prognostische Beurteilung:
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a) die Wahrscheinlichkeit neuer erheblicher Straftaten (Gefährlichkeit) und b) eine durch die sozialtherapeutische Behandlung zu erwartende Verringerung dieser Gefährlichkeit. Abs. 2 wurde gegenüber § 9 Abs. 2 StVollzG in zwei Punkten inhaltlich verändert und lautet: „Andere Gefangene können in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden, wenn der Einsatz der besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der Anstalt zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 angezeigt ist.“ Damit ist eine Verlegung „anderer Gefangener“ weder von der Zustimmung des jeweiligen Gefangenen noch von der Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Einrichtung abhängig. Abs. 3 ist neu und lautet: „Die Verlegung soll zu einem Zeitpunkt erfolgen, der den Abschluss der Behandlung zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt erwarten lässt.“ In der Gesetzesbegründung zu Abs. 3 heißt es: „Er schärft den Blick für den passenden Zeitpunkt des Beginns der Sozialtherapie: Diese soll auf die Entlassung hinführen, weil sie ihre Wirkung nach der Entlassung und nicht im Vollzug und für diesen entfalten soll. Sie darf darum nicht zu früh beginnen. Sie darf aber auch nicht verspätet beginnen, damit die Therapie noch während des Vollzuges abgeschlossen werden kann. Damit kommt eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung bei Gefangenen mit einer Vollzugsdauer von weniger als zwei Jahren in der Regel nicht in Betracht. Die Verlegung soll so geplant werden, dass der Abschluss der Therapie zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt zu erwarten ist und der Gefangene aus der Sozialtherapie heraus entlassen wird“ (LT-Drucks. 15/3565, 95 f). Abs. 4 regelt die Rückverlegung von Gefangenen aus der Sozialtherapie in den Normalvollzug. Dabei entspricht Satz 1 inhaltlich § 9 Abs. 1 Satz 2 StVollzG. Neu ist Satz 2: „Die oder der Gefangene kann zurückverlegt werden, wenn sie oder er durch ihr oder sein Verhalten den Behandlungsverlauf anderer erheblich und nachhaltig stören.“ Damit soll nach der Gesetzesbegründung die therapeutische Arbeit in der Einrichtung, also das gesamte Setting und die Behandlung anderer Gefangener, abgesichert werden (LT-Drucks. 15/3565, 96). Abs. 5 entspricht inhaltlich § 9 Abs. 3 StVollzG.
§ 10 Offener und geschlossener Vollzug (1) Ein Gefangener soll mit seiner Zustimmung in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde. (2) Im übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen. Ein Gefangener kann auch dann im geschlossenen Vollzug untergebracht oder dorthin zurückverlegt werden, wenn dies zu seiner Behandlung notwendig ist.
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VV 1 (1) Vom offenen Vollzug ausgeschlossen sind Gefangene, a) gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, welche gemäß § 74a GVG von der Strafkammer oder gemäß § 120 GVG vom Oberlandesgericht im ersten Rechtszug verhängt worden ist, b) gegen die Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebungshaft angeordnet ist, c) gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes besteht und die aus der Haft abgeschoben werden sollen, d) gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine sonstige Unterbringung gerichtlich angeordnet und noch nicht vollzogen ist. (2) In den Fällen des Absatz 1 Buchstaben a, c und d sind Ausnahmen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. In den Fällen des Buchstabens a ist die Vollstreckungsbehörde, des Buchstabens d das zuständige Gericht zu hören; in den Fällen des Buchstabens c bedürfen Ausnahmen des Benehmens mit der zuständigen Ausländerbehörde. 2 (1) Für die Unterbringung im offenen Vollzug ungeeignet sind in der Regel namentlich Gefangene, a) die erheblich suchtgefährdet sind, b) die während des laufenden Freiheitsentzuges entwichen sind, eine Flucht versucht, einen Ausbruch unternommen oder sich an einer Gefangenenmeuterei beteiligt haben, c) die aus dem letzten Urlaub oder Ausgang nicht freiwillig zurückgekehrt sind oder bei denen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass sie während des letzten Urlaubs oder Ausgangs eine strafbare Handlung begangen haben, d) gegen die ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist, e) bei denen zu befürchten ist, dass sie einen negativen Einfluss ausüben, insbesondere die Erreichung des Vollzugszieles bei anderen Gefangenen gefährden würden. (2) Ausnahmen von Absatz 1 können zugelassen werden, wenn besondere Umstände vorliegen; die Gründe hierfür sind aktenkundig zu machen. In den Fällen des Buchstaben d ist die zuständige Behörde zu hören. (3) Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe wegen grober Gewalttätigkeiten gegen Personen, wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Handels mit Stoffen im Sinne des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vollzogen wurde oder zu vollziehen ist oder die im Vollzug in den begründeten Verdacht des Handels mit diesen Stoffen oder des Einbringens dieser Stoffe gekommen sind, bedarf die Frage, ob eine Unterbringung im offenen Vollzug zu verantworten ist, besonders gründlicher Prüfung. Dies gilt auch für Gefangene, über die Erkenntnisse vorliegen, dass sie der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. 3 (1) Ein Gefangener, der sich im offenen Vollzug befindet, ist in den geschlossenen Vollzug zurückzuverlegen, wenn a) er seine Zustimmung zur Unterbringung im offenen Vollzug zurücknimmt, b) er sich für den offenen Vollzug als nicht geeignet erweist, c) Umstände bekannt werden, die nach Nummer 1 einer Unterbringung im offenen Vollzug entgegengestanden hätten. (2) Dem Gefangenen ist Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Die Gründe für die Verlegung sind aktenkundig zu machen und dem Gefangenen bekannt zu geben. (3) Die Verlegung in den geschlossenen Vollzug schließt eine erneute Unterbringung im offenen Vollzug nicht aus.
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4 (1) Über die Verlegung in den offenen Vollzug sowie die (Rück-)Verlegung in den geschlossenen Vollzug entscheidet die von der Landesjustizverwaltung bestimmte Stelle. (2) Die Entscheidung über die Unterbringung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen ist in einer Konferenz nach § 159 StVollzG vorzubereiten. Über die Konferenz ist eine Niederschrift zu fertigen; gutachtliche Äußerungen sind aktenkundig zu machen. Die Unterbringung bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. Schrifttum: Baumann/Maetze/Mey Zur Rückfälligkeit nach Strafvollzug, in: MschrKrim 1983, 133 ff; Böhm Vollzugslockerungen und offener Vollzug zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen, in: NStZ 1986, 201 ff; Boetticher/Kröber/Müller-Isberner/Böhm/Müller-Metz/Wolf, Mindestanforderungen an Prognosegutachten, in: NStZ 2006, 537 ff; Diepolder Die Problematik des offenen Vollzuges bei kurzen Freiheitsstrafen, dargestellt am Beispiel der Justizvollzugsanstalt Moers-Kapellen, in: ZfStrVo 1990, 22 ff; Dünkel Der deutsche Strafvollzug im internationalen Vergleich, in: Maelicke/Flügge/Preusker Perspektiven und Strategien zur Modernisierung des Strafvollzuges – Tagungsbericht Baden Baden 11/2002; Eiermann Der offene Vollzug am Beispiel des Gustav-Radbruch-Hauses, in: Schwind/Blau 1988, 47 ff; Gerstner Das Selbststellermodell als Baustein des offenen Vollzuges am Beispiel der Justizvollzugsanstalt Heiligensee (Berlin), in: ZfStrVo 1999, 335 ff; Ittel Erfahrungen mit dem offenen Vollzug, in: Materialdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 9/1979, 15 ff; Ittel/Erzhöfer Erfahrungen mit dem offenen Vollzug, in: ZfStrVo 1980, 135 ff; Kaiser Zielsetzung und Grenzen des offenen Vollzuges, in: Materialdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 9/1979, 1 ff; Klotz Rückfälligkeit von ehemaligen Gefangenen des geschlossenen und offenen Strafvollzugs, in: Materialdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 9/1979, 31 ff sowie ZfStrVo 1980, 70 ff; Loos Die offene und halboffene Anstalt im Erwachsenenstraf- und Maßregelvollzug, Stuttgart 1970; Maelicke Straffälligenhilfe für Erwachsene in: Cornel/Maelicke/Sonnen (Handbuch der Resozialisierung, Baden-Baden 1995; ders. Sparen als Chance? Zur Notwendigkeit der Qualitätsdiskussion in der Kriminalpolitik, in: NK 1/1997, 26 ff; Müller/Wulf Offener Vollzug und Vollzugslockerungen (Ausgang, Freigang), in: ZfStrVo 1999, 3 ff; MüllerDietz Perspektiven und Probleme des offenen Strafvollzuges, in: ZfStrVo 1988, 204 ff; Reim Der Inspektor für Sicherheit und Ordnung im offenen Vollzug, in: ZfStrVo 1992, 123 ff; Rüther/Neufeind Offener Vollzug und Rückfallkriminalität, in: MschrKrim 1978, 363 ff; Thomas Erfahrungen mit dem offenen Strafvollzug in Bremen, in: ZfStrVo 1985, 220 ff; ders. Hat sich der offene Strafvollzug bewährt? in: ZfStrVo 1992, 157 ff; Wettreck Betreuung von Gefangenen durch Beamte des allgemeinen Vollzugsdienstes in einer Anstalt des offenen Strafvollzugs, in: ZfStrVo 1981, 297 ff. Vgl. im Übrigen auch das Schrifttum zu den §§ 11–14.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–5 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 6–14 1. Unterbringung im offenen Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . 6–11 a) Verfahren und Zuständigkeit für die Einweisung . . . . . . 6 b) Ermessen . . . . . . . . . . . 7 c) Eignung des Gefangenen . . 8–11 aa) besondere Anforderungen des offenen Vollzuges . . . . . . . . . . . 10 bb) Flucht- und Missbrauchsgefahr . . . . . . . . . . . 11 2. Unterbringung im geschlossenen Vollzug . . . . . . . . . . . . . 12–14 a) fehlende Eignung . . . . . . 12
b) Notwendigkeit einer Behandlung im geschlossenen Vollzug 13 c) Rückverlegung aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . 14 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 15–17 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 15 a) Regelvollzugsform und Voraussetzungen für eine Verlegung 15 b) Rückverlegung . . . . . . . . 15 c) Prüfungsanforderungen . . . 15 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 16 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 17 a) Regelvollzugsform und Voraussetzungen für eine Verlegung 17 b) Rückverlegung . . . . . . . . 17 c) Begutachtung . . . . . . . . 17
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Offener und geschlossener Vollzug
§ 10
I. Allgemeine Hinweise Das Ziel des Vollzuges ist die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft (§ 2 Rdn. 12 ff). Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn der Vollzug dem Gefangenen Übungsfelder für soziales Verhalten zur Verfügung stellt und ihn zu Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Aktivität befähigt. Ein besonders geeignetes Umfeld hierfür ist der offene Vollzug (§ 141 Rdn. 18). „Offen“ ist der Vollzug nach der Legaldefinition des 141 Abs. 2 dann, wenn die ihn praktizierende Anstalt keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vorhält. Im offenen Vollzug können deshalb bauliche und technische Sicherungsvorkehrungen, insbesondere Umfassungsmauer, Fenstergitter und besonders gesicherte Türen entfallen (VV Nr. 2 Abs. 1 Satz 1 zu § 141). Hinzu tritt im offenen Vollzug die Öffnung nach innen (VV Nr. 2 Abs. 2 zu § 141): Es entfällt in der Regel die ständige und unmittelbare Aufsicht. Den Gefangenen wird ermöglicht, sich nach Maßgabe der Hausordnung innerhalb der Anstalt frei zu bewegen. Die Außentüren der Unterkunftsgebäude können zeitweise unverschlossen bleiben, die Wohnräume der Gefangenen können auch während der Ruhezeit geöffnet bleiben. Die Gewährung von Lockerungen und Urlaub gemäß §§ 11 und 13 ist dagegen eine eigenständige Vollzugsentscheidung, die auch im geschlossenen Vollzug möglich ist. Insoweit kann sich jede Vollzugsanstalt unabhängig von ihrer Kennzeichnung gemäß der Legaldefinition des § 141 Abs. 2 „öffnen“ (vgl. als Beispiel für eine besonders weitgehende Öffnung einer geschlossenen Anstalt: Dolde in: ZfStrVo 1992, 24 ff). Die Unterbringung eines Gefangenen im offenen Vollzug wird gesetzlich zu den Behandlungsmaßnahmen gezählt (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 1). Das Gesetz geht hier von einem sehr weiten Behandlungsbegriff aus, denn letztendlich ist der offene Vollzug nur ein, jedoch wegen der Orientierung nach außen besonderes geeignetes Umfeld für begleitende Behandlungsangebote und unterstützende Maßnahmen. Die Unterbringung im offenen Vollzug kann zudem etwaigen schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenwirken (vgl. § 3 Abs. 2). Die Unterbringung des Gefangenen in einer geschlossenen Anstalt bringt gewöhnlich belastende Nebenfolgen des Freiheitsentzuges mit sich. Das Leben in einer geschlossenen Anstalt ist notwendigerweise stark reglementiert, die Möglichkeit des eigenverantwortlichen Handelns ist geringer. Insbesondere bei längerer Strafverbüßung können sich diese Einschränkungen auf die Persönlichkeit und das Verhalten des Gefangenen negativ auswirken. Zur unzureichenden Forschung über die Wirksamkeit des offenen Vollzugs siehe ausführlich Freise, Vorauflage Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 1. Zur Problematik der Vollziehung kurzer (Ersatz-)Freiheitsstrafen im offenen Vollzug Diepolder 1990, 23 und Ittel 1979, 23. Nach der Konzeption des Strafvollzugsgesetzes ist der offene Vollzug für geeignete Gefangene die Regelvollzugsform (BVerfG EuGRZ 2007, 238 ff; OLG Hamburg ZfStrVo 1980, 185; OLG Celle ZfStrVo 1985, 374; KG StV 2002, 36f; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Lesting 2006 Rdn. 4; Arloth 2008 Rdn. 3). Dafür spricht der Wortlaut des § 10 Abs. 2 Satz 1 (Umkehrschluss): „Im Übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen“. Niedersachsen (vgl. Rdn. 17) und Bayern (vgl. Rdn. 15) haben mit ihren Gesetzen abweichend davon nunmehr den geschlossenen Vollzug zum Regelvollzug erklärt. Die rechtspolitische Diskussion zur Regelvollzugsform bleibt jedoch für die Praxis ohne Auswirkung. So wäre es mit dem offenen Vollzug als Regelvollzugsform konsequent, zumindest Gefangene, die sich dem Strafvollzug selbst stellen, für die Zeit im offenen Vollzug unterzubringen, in der ihre Eignung noch überprüft wird (ausführlich Freise, Vorauflage, Rdn. 14; AK-Lesting 2006 Rdn. 4). Das BVerfG hat eine abweichende Einweisungspraxis jedoch vor
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dem Hintergrund der Gesetzeslage nicht gerügt, sondern lediglich angemerkt, ein Prüfverfahren im offenen Vollzug würde dem Resozialisierungsziel und der gesetzlichen Konzeption des offenen Vollzugs als Regelvollzug besonders wirksam Rechnung tragen (BVerfG EuGRZ 2007, 238 ff; siehe aber OLG Frankfurt NStZ 2007, 173 ff; ausführlich Rdn. 6). Zudem bleiben die (für den Umfang der Verlegungen letztendlich maßgeblichen) Anforderungen an die Eignungsprüfung gleich, auch wenn der geschlossene Vollzug zum Regelvollzug erklärt wird. Die Rspr. fordert, dass konkrete Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr festgestellt werden, damit die Unterbringung eines Gefangenen im offenen Vollzug aus diesen Gründen ausgeschlossen ist (BVerfG NJW 1998, 1133 ff; OLG Karlsruhe StRR 2008, 76). Dieser Grundsatz kann nicht umgekehrt werden (Feststellung von Anhaltspunkten dafür, dass es nicht zu Missbrauch oder Flucht kommen wird), da die Rspr. ihn nicht aus dem Prinzip des offenen Vollzugs als Regelvollzugsform, sondern aus dem grundgesetzlich garantierten Resozialisierungsgebot ableitet (vgl. BVerfG a. A.O.). Für die Diskussion zum juristischen Regel-Ausnahme-Verhältnis ist schließlich das immer wieder herangezogene Zahlenverhältnis zwischen der Belegung im offenen und geschlossenen Vollzug ohne Bedeutung (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 6). 5 Die Anzahl der Gefangenen, die beim Vollzug der Freiheitsstrafe im offenen Vollzug untergebracht sind, ist in den Bundesländern unterschiedlich (Quelle: Statistisches Bundesamt, Stichtag 31.8.2008): Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
von 5.409 Gefangenen 972 von 8.468 Gefangenen 665 von 3.818 Gefangenen 1.159 von 1.331 Gefangenen 229 von 485 Gefangenen 39 von 1.414 Gefangenen 142 von 3.708 Gefangenen 342 von 1.005 Gefangenen 143 von 4.585 Gefangenen 883 von 12.862 Gefangenen 3.648 von 2.702 Gefangenen 292 von 561 Gefangenen 113 von 2.667 Gefangenen 240 von 1.678 Gefangenen 121 von 1.067 Gefangenen 87 von 1490 Gefangenen 57
= = = = = = = = = = = = = = = =
17,7 % 7,9 % 30,3 % 17,2 % 8,0 % 10,0 % 9,2 % 14,2 % 19,2 % 28,3 % 8,0 % 10,8 % 9,0 % 7,2 % 8,1 % 3,8 %
Für das gesamte Bundesgebiet betrug die Quote der Strafgefangenen, die im offenen Vollzug untergebracht sind, am 31.8.2008 17, 1 %.
II. Erläuterungen 1. Unterbringung im offenen Vollzug
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a) Gefangene können auf unterschiedliche Weise in den offenen Vollzug kommen: In einigen Ländern legt der Vollstreckungsplan (§ 152) bestimmte Kriterien fest, unter denen der Gefangene den Vollzug direkt in einer offenen Anstalt antreten kann (vgl. die Zusammenstellung zur Praxis der Bundesländer in BVerfG EuGRZ 2007, 738 ff; zum Umgang mit Selbststellern speziell in Berlin ausführlich Freise, Vorauflage Rdn. 14). Für die Entscheidung der Frage, ob sich ein Gefangener für eine Unterbringung bzw. einen Verbleib im offenen Vollzug eignet, ist jedoch auch bei diesem Modell stets die Vollzugsbehörde zuständig (OLG Thüringen ZfStrVo 2004, 300 f; KG 6.12.1993 in: NStE Nr. 4 zu § 10 StVollzG).
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Offener und geschlossener Vollzug
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Ist eine Einweisungsanstalt oder -abteilung im Sinne des § 152 Abs. 2 Satz 1 vorhanden, trifft diese die Entscheidung über die Unterbringung im offenen Vollzug. Schließlich hat das BVerfG es gebilligt, dass alle Gefangenen zu Beginn der Vollstreckung regelhaft in den geschlossenen Vollzug geladen werden (vgl. hierzu auch Rdn. 4). Voraussetzung ist jedoch, dass die Verfahrensabläufe so geregelt sind, dass Nachteile für die erfolgreiche Resozialisierung, insbesondere ein drohender Arbeitsplatzverlust, durch zügige Entscheidungen über die Eignung für den offenen Vollzug vermieden werden (BVerfG EuGRZ 2007, 738 ff; im Anschluss OLG Sachsen-Anhalt 4.9.2008 – 1 VAs 10/08). Allgemein ist nach § 7 im Zuge der Vollzugsplanung alsbald nach Beginn der Strafverbüßung zu prüfen, ob sich der Gefangene für eine Unterbringung im offenen Vollzug eignet. Die Entscheidung ist gemäß § 7 Abs. 1 i.V. m. Abs. 2 Nr. 1 das Ergebnis der Behandlungsuntersuchung, welche von der Vollzugsbehörde vorzunehmen ist. Kann die Eignung zu diesem Zeitpunkt noch nicht bejaht werden, so ist die Prüfung nach einer angemessenen Frist gem. § 7 Abs. 3 Satz 2 zu wiederholen. Nicht wenige Gefangene sind für den Vollzug erst geeignet, nachdem sie im geschlossenen Vollzug ein geändertes Verhalten gezeigt und hier Maßnahmen durchlaufen haben. § 15 Abs. 2 und § 147 stellen den offenen Vollzug als besonders geeignete Vollzugsform für die Vorbereitung der Entlassung heraus. Über die Unterbringung im offenen Vollzug entscheidet die abgebende Anstalt, wobei die Unterbringung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen im offenen Vollzug in vielen Bundesländern der Zustimmung der Aufsichtsbehörde bedarf (VV Nr. 4 Abs. 2 Satz 3; § 153). Der Leiter der offenen Anstalt ist an die Verlegungsentscheidung grundsätzlich gebunden und kann die Aufnahme des Gefangenen in den offenen Vollzug nicht mit Argumenten verweigern, die der abgebenden Anstalt im Zeitpunkt der Verlegung in den offenen Vollzug bereits bekannt waren (KG 21.2.2002 – 5 Ws 1/02 Vollz). Die offene Anstalt kann die Aufnahme nur aus organisatorischen oder aus anderen Gründen ablehnen, die in der spezifischen Vollzugssituation der Anstalt begründet sind (OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 111 ff; Arloth 2008 § 10 Rdn. 2). b) Nach Abs. 1 soll der Gefangene bei Eignung mit seiner Zustimmung im offenen Voll- 7 zug untergebracht werden. Der Gefangene hat dabei keinen Rechtsanspruch auf Unterbringung im offenen Vollzug, sondern lediglich ein Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Die Sollvorschrift bedeutet jedoch, dass die Vollzugsbehörde bei positivem Ergebnis der Eignungsprüfung die Unterbringung im offenen Vollzug wählen muss und nur in besonders begründeten Ausnahmefällen einen für den offenen Vollzug geeigneten Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterbringen kann (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1998, 179 f; OLG Frankfurt NStZ 1991, 55 f; C/MD 2008 Rdn. 2). Unzulässig ist es, auf fehlende Unterbringungsmöglichkeiten in einer bestimmten (offenen) Anstalt zu verweisen, falls in einer anderen Anstalt derartige Unterbringungsmöglichkeiten bestehen (OLG Frankfurt NStZ 1991, 55 f). Sieht der Vollzugsplan die Verlegung eines Gefangenen in den offenen Vollzug vor, kann dies die Vollzugsbehörde binden (vgl. KG NStZ 2007, 224 ff; 19.1.2005 – 5 Ws 412/004; Arloth 2008 Rdn. 15; OLG Hamm NStZ 1986, 47; OLG Celle NStZ-RR 1998, 92 f – methodisch sachgerecht ist, die allgemeinen Rechtsgrundsätze der §§ 48, 49 VwVfG anzuwenden, vgl. Rdn. 14). c) Voraussetzung für die Unterbringung eines Gefangenen im offenen Vollzug ist 8 zunächst, dass er der Maßnahme zustimmt. Die Zustimmungsvoraussetzung soll dem Gefangenen nach dem Willen des Gesetzgebers ein gewisses Maß an Selbstbestimmung sichern (BT-Drucks. 7/918, 52). Verweigert der Gefangene seine Zustimmung oder widerruft er sie, ist das zugrundeliegende Motiv für die Frage der Wirksamkeit der Willenserklärung ohne Bedeutung. Besteht sein Motiv jedoch darin, die größeren Anforderungen des offenen
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Vollzugs vermeiden zu wollen, gehört es gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 zur Aufgabe der Vollzugsbehörde, die Bereitschaft des Gefangenen zu wecken, seine Zustimmung zu einer Unterbringung im offenen Vollzug zu geben oder aufrechtzuerhalten (BT-Drucks. aaO; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Lesting Rdn. 9). Niedersachsen und Hamburg haben auf das Zustimmungserfordernis verzichtet. Dies ist sachgerecht (ebenso Arloth 2008 Rdn. 5, a. A. Freise, Vorauflage Rdn. 5; AK-Lesting 2006 Rdn. 9). Zwar kann ein Gefangener, der gegen seinen Willen im offenen Vollzug untergebracht ist, durch sein eigenes Verhalten, z. B. durch einen Fluchtversuch, die gesetzlichen Unterbringungsvoraussetzungen entfallen lassen (s. Freise, Vorauflage, aaO). Die Praxis zeigt jedoch, dass es Gefangene gibt, denen lediglich die Veränderungsbreitschaft fehlt, den für die Eingliederung hilfreichen Schritt in den offenen Vollzug zu gehen, ohne dass deshalb bei ihnen eine Flucht oder ein Missbrauch zu befürchten ist. Bei fehlender Zustimmung wird die Eignung für den offenen Vollzug aber besonders gründlich zu hinterfragen sein.
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d) Der Gefangene muss sich für eine Unterbringung im offenen Vollzug eignen. Eine Eignung ist dann zu bejahen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Gefangene den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügen wird und nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde. Die Entscheidung, ob ein Gefangener für die Unterbringung im offenen Vollzug geeignet ist, lässt sich nur nach Abwägung der prognoserelevanten Umstände treffen. Es sind dabei auch das Vorleben des Gefangenen, etwaige frühere Straftaten, die Umstände und das Gewicht der Tat sowie die Tatmotivation, sein Verhalten und – soweit möglich – seine Persönlichkeitsentwicklung im Vollzug zu berücksichtigen (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1985, 174). Den Vollzugsbehörden kommt bei der Prüfung der Eignung ein Beurteilungsspielraum zu. Der gerichtlichen Kontrolle unterliegt insofern nur die Frage, ob die Vollzugsbehörden die unbestimmten Rechtsbegriffe zur Eignung (Flucht- und Missbrauchsgefahr) richtig ausgelegt und angewandt sowie bei ihrer Prognoseentscheidung die Grenzen des eingeräumten Beurteilungsspielraums eingehalten haben (BVerfG 1.4.1998 – 2 BvR 1951/96; BGHSt 30, 320 324 f; OLG Hamm ZfStrVo 2006, 369 ff; OLG Thüringen 19.6.2006 – 1 Ws 156/06; weitgehend Hanseatisches OLG StV 2005, 564 ff). Wegen des Beurteilungsspielraums sind die Gerichte z. B. gehindert, selbst ergänzende Gutachten zur Prüfung der Eignung einzuholen (OLG Hamm aaO).
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aa) Der Gefangene muss zunächst den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen. Besondere Anforderungen an den Gefangenen stellt der offene Vollzug, da hier das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen in großem Umfang angeglichen werden kann (vgl. Ittel/Erzhöfer 1980; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 6). Es ist deshalb notwendig, dass der Gefangene die Bereitschaft und Fähigkeit zur freiwilligen Einordnung mitbringt und willens ist, sich in ein System einbeziehen zu lassen, das auf Selbstdisziplin und Verantwortungsbewusstsein des Gefangenen beruht (BT-Drucks. 7/918, 51). Da im offenen Vollzug weniger Aufsicht geübt wird und wegen der größeren Ausweichmöglichkeiten Hafträume oftmals mehrfach belegt werden, muss der Gefangene ein Mindestmaß an Gemeinschaftsfähigkeit und Verträglichkeit mitbringen (Böhm 2003 Rdn. 149; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 30). Er muss gewillt und fähig sein, sich in die soziale Gemeinschaft des offenen Vollzuges einzugliedern (vgl. zu den Voraussetzungen Loos 1970, 169; Eiermann 1988, 52). Dies ist bei den Gefangenen nicht der Fall, bei denen zu befürchten ist, dass sie einen negativen Einfluss ausüben, insbesondere die Erreichung des Vollzugszieles bei anderen Gefangenen gefährden würden (vgl. VV Nr. 2 Abs. 1 Buchstabe e). Besondere Anforderungen an den
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Gefangenen stellt der offene Vollzug aber insbesondere „durch das Wechselspiel zwischen Haft und Freiheit“ (Walter 1999 Rdn. 170). Durch Freigang (§ 11 Abs. 1 Nr. 1), Ausgang (§ 11 Abs. 1 Nr. 2) und häufige Beurlaubungen (insbesondere nach §§ 13 und 15 Abs. 4) verfügt der Gefangene in der Regel über die Möglichkeit, sich tagsüber „in Freiheit aufzuhalten“, muss aber immer wieder zurückkehren. Diese Situation wird von vielen Gefangenen mit zunehmender Verweildauer im offenen Vollzug als starke Herausforderung empfunden, was zu einem Ansteigen der Versagensquote führen kann (Ittel 1979, 24; zur Strukturierung des Aufenthalts im offenen Vollzug vgl. § 147 Rdn. 2). Als Kriterien, die bei der Prüfung der Frage, ob ein Gefangener den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügt, zu prüfen sind, werden in der Rechtsprechung folgende Punkte genannt: die charakterliche Befähigung zu korrekter Führung unter geringerer Beaufsichtigung als im geschlossenen Vollzug, die Aufgeschlossenheit gegenüber den gesteigerten Bemühungen des offenen Vollzuges in sozialpädagogischer Hinsicht, die Bereitschaft zur uneingeschränkten und loyalen Mitarbeit, ein bestimmtes Maß an Fähigkeiten und Bereitschaft zur Einordnung in die Gemeinschaft sowie die Rücksichtnahme auf Mitbewohner (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 319; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1985, 174). Dabei führt jedoch die fehlende Mitarbeitsbereitschaft für sich noch nicht zur Ungeeignetheit eines Gefangenen für den offenen Vollzug (OLG Celle ZfStrVo 1985, 374). Zudem darf an die Fähigkeiten des Gefangenen kein allzu strenger Maßstab angelegt werden, da bei der Entscheidung über die Eignungsfrage auch zu prüfen ist, inwieweit die Unterbringung im offenen Vollzug das Vollzugsverhalten eines Gefangenen positiv beeinflussen und damit bewirken kann, dass der betreffende Gefangene den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges im vollen Umfang genügen wird (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1990, 373 f; OLG Koblenz aaO; C/MD 2008 Rdn. 6). bb) Zudem darf keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr bestehen. Die Anforderun- 11 gen an die Eignungsprüfung und die positive Sozialprognose nach § 57 StGB sind nicht deckungsgleich. Denn eine Missbrauchsgefahr nach § 10 kann nur angenommen werden, wenn konkrete negative Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Gefangene neue Straftaten während seiner Unterbringung im offenen Vollzug begehen wird. Für eine positive Sozialprognose nach § 57 StGB müssen hingegen umgekehrt positive Umstände festgestellt werden, die eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass der Betroffene künftig ein Leben ohne Straftaten führen wird (OLG Karlsruhe StV 2008, 314 f; OLG Hamm StraFo 2008, 81 f). § 10 Abs. 1 gestattet daher auch die Verlegung solcher Gefangener in den offenen Vollzug, denen eine Aussetzung des Strafrestes aus prognostischen Gründen nicht bewilligt werden kann (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 319; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1985, 174 und 245 ff; Hans. OLG StraFo 2007, 390 ff). Hingegen spielt die Gefahr, dass der Gefangene sich des staatlichen Zugriffs entziehen wird, bei der Entscheidung nach § 57 StGB regelmäßig keine Rolle (vgl. OLG Karlsruhe StraFo 2008, 179 f; OLG Nürnberg 2007, 431). Folge ist, dass es fluchtgefährdete Gefangene gibt, die vorzeitig entlassen werden, ohne zuvor im offenen Vollzug gewesen zu sein. Um eine möglichst sachgerechte und einheitliche Ausführung des Gesetzes zu gewährleisten, haben die Landesjustizverwaltungen mittels Verwaltungsvorschriften Ermessensrichtlinien für die Prüfung von Flucht- und Missbrauchsgefahr erlassen und insoweit Ausschlussklauseln (VV Nr. 1) sowie Regelvermutungen mangelnder Eignung (VV Nr. 2) festgelegt. Wegen der Anforderungen an die Prüfung von Fluchtund Missbrauchsgefahr im Einzelnen: § 11 Rdn. 18 ff und § 13 Rdn. 15 ff. Grundsätzlich: vgl. Böhm 2003 Rdn. 280 ff; Müller-Dietz NStZ 1981, 409 ff; OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 123 f.
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2. Unterbringung im geschlossenen Vollzug
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a) Gemäß Abs. 2 Satz 1 ist zunächst derjenige Gefangene im geschlossenen Vollzug unterzubringen, der zum Zeitpunkt der Eignungsprüfung den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges noch nicht genügt.
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b) Ein Gefangener kann im Übrigen dann im geschlossenen Vollzug untergebracht oder dorthin zurückverlegt werden, wenn dies zu seiner Behandlung notwendig ist (Abs. 2 Satz 2). Das ist der Fall, wenn der Aufenthalt im offenen Vollzug der Erreichung des Vollzugszieles (§ 2 Rdn. 10 ff) entgegensteht. Deshalb reichen Zweckmäßigkeitserwägungen nicht aus (BT-Drucks. 7/918, 52). Wegweisend ist insoweit die Entscheidung des OLG Frankfurt NStZRR 2001, 318 f: Danach findet die Regelung nur Anwendung, „wenn eine bestimmte Behandlung notwendig ist, diese nur im geschlossenen Vollzug durchgeführt werden kann und hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der Verurteilte nach seiner Entlassung in die Freiheit nicht wieder rückfällig wird“. Behandlungsmaßnahmen, die eine Unterbringung im geschlossenen Vollzug rechtfertigen, obwohl der Gefangene die in § 10 Abs. 1 genannten Eignungsvoraussetzungen erfüllt, können z. B. Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung, schulische Maßnahmen mit Vollzeitunterricht oder therapeutische Maßnahmen sein. Befindet sich der Gefangene bereits im offenen Vollzug, kommen für eine Rückverlegung aus Behandlungsgründen darüber hinaus auch befristete Maßnahmen in Betracht, z. B. zwecks Krisenintervention oder zum Schutz des Betroffenen. Vornehmlich reine Weisungsverstöße, die nicht zur Ungeeignetheit, insbesondere zur Annahme einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr Anlass geben (s. dazu Rdn. 14), können auf Grundlage von § 10 Abs. 2 nur unter den vom OLG Frankfurt (aaO) aufgestellten Voraussetzungen zur Rückverlegung führen (vgl. im Ergebnis im Spezialfall AK-Lesting Rdn. 21; vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 379; OLG Hamm 8.11.1977 – 1 Vollz(Ws) 32/77). Wird die Rückverlegung eines Gefangenen in den geschlossenen Vollzug mit dessen Verhaltensweisen im offenen Vollzug begründet, so müssen diese entweder einzeln oder in ihrer Gesamtheit die Notwendigkeit der Behandlung im geschlossenen Vollzug ergeben (OLG Frankfurt ZfStrVo 1988, 62 ff).
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c) § 10 Abs. 2 regelt die Frage, wann ein Gefangener in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt werden kann, jedoch nicht abschließend. Die VV Nr. 3 enthält ergänzende Rückverlegungsgründe. An einer gesetzlichen Grundlage fehlt es indes. Ein Teil der Rspr. zieht § 14 Abs. 2 analog heran (KG NStZ 1993, 100 ff; NStZ 2007, 224 ff; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 318 ff). Andere Gerichte wollen die belastenden Maßnahmen hingegen ausschließlich auf § 10 Abs. 2 und die ergänzenden Verwaltungsvorschriften stützen (OLG Dresden StV 2005, 567 f; OLG Schleswig-Holstein SchlHA 2006, 28 f; ebenso C/MD 2008 Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 9; vgl. OLG Koblenz 4.7.2007 – 1 Ws 273/07). Schließlich wird auf die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze zu Rücknahme und Widerruf zurückgegriffen, die in §§ 48, 49 VwVfG zum Ausdruck kommen (OLG Celle, NStZ-RR 2005, 29 f; NStZ-RR 1998, 92 f). Methodisch überzeugt die letzte Ansicht. Anders als bei einer analoger Anwendung von § 14 Abs. 2 kommt nach der hier vertretenen Auffassung eine Rückverlegung eines Gefangenen in den geschlossenen Vollzug bei Regelverstößen nur in Betracht, wenn das regelwidrige Verhalten zugleich die Wertung zulässt, dass er für den offenen Vollzug ungeeignet ist (vgl. OLG Schleswig-Holstein aaO). Aus Gründen der Rechtssicherheit ist es zu begrüßen, dass Niedersachsen und Bayern die Regelungslücke in ihren Landesgesetzen nunmehr geschlossen haben (§ 12 Abs. 3 NJVollzG, Art. 12 Abs. 2 BayStVollzG). Die Anwendung der allgemeinen Verwaltungsgrundsätze zu Rücknahme und Widerruf wird durch die VV Nr. 3 Abs. 1 konkretisiert. Nach der VV Nr. 3 Abs. 1 Buchstabe a) ist der Gefangene zurückzuverlegen, wenn er seine Zustimmung zur Unterbringung im offenen Vollzug zurücknimmt.
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Offener und geschlossener Vollzug
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Ferner kommt es zur Rückverlegung, wenn der Gefangene sich als für den offenen Vollzug nicht geeignet erweist (VV Nr. 3 Abs. 1 Buchstabe a). Dabei reicht der Umstand, dass der Gefangene während seines Aufenthaltes im offenen Vollzug keine Bereitschaft gezeigt hat, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken, für eine Herausnahme aus dem offenen Vollzug allein nicht aus (KG 21.2.2002 – 5 Ws 1/02 Vollz; OLG Celle ZfStrVo 1985, 374). Eine Rückverlegung kommt in Betracht, wenn der Gefangene die Möglichkeiten im offenen Vollzug zu Straftaten missbraucht hat, wobei kein schuldhaftes Fehlverhalten nachgewiesen werden muss. Vielmehr kann eine Rückverlegung im Interesse wirksamer Gefahrenabwehr – bei Unaufklärbarkeit des Sachverhalts oder als vorläufige Maßnahme bei noch laufenden Ermittlungen – bereits dann zulässig sein, wenn ein auf konkreten Anhaltspunkten beruhender Verdacht besteht (BVerfGK 2, 318 ff; BVerfG 26.8.2008 – 2 BvR 679/07, NStZ-RR 2004, 220 ff, KG ZfStrVo 1989, 116 ff; zur Rückverlegung bei Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO: KG NStZ 2007, 224 ff). Von der Rspr. wird gefordert, dass die Vollzugsbehörde Feststellungen zum Gegenstand des Verfahrens, zum Verfahrensstand, der Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung, der voraussichtlichen Dauer des Ermittlungsverfahrens und dem Kenntnisstand des Gefangenen zu den Ermittlungen sowie den sonstigen prognostisch relevanten Kriterien trifft (KG StV 2006, 258; OLG Celle NStZ-RR 2005, 29 f; OLG Stuttgart NStZ 1986, 45 f mit Anm. Ballhausen). Der Beiziehung und Durchsicht der Ermittlungsakten durch die Vollzugsbehörde bedarf es hierzu jedoch nicht. Grundlage kann eine dienstliche Äußerung der ermittelnden Staatsanwaltschaft sein (OLG Stuttgart aaO). Nach der Rspr. haben sich die Vollzugsbehörden zudem in angemessenen Zeitabständen über den Fortbestand des Verdachts zu informieren (KG ZfStrVo 2003, 181 f; OLG Hamm 9.10.2008 – 1 Ws 643/08). Schließlich ist der Gefangene in den geschlossenen Vollzug zu verlegen, wenn Umstände bekannt werden, die in VV Nr. 1 beschrieben sind (VV Nr. 3 Abs. 1 Buchstabe c). Allgemein kommt eine Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug wegen einer bereits anfänglich rechtswidrigen Verlegungsentscheidung nur in Betracht, wenn die ursprüngliche Entscheidung sich außerhalb des Beurteilungsspielraums bewegt hat (Celle NStZ-RR 1998, 92 f; AK-Lesting 2006 Rdn. 22). Über die Rückverlegung eines Gefangenen in den geschlossenen Vollzug entscheidet der Leiter der offenen Anstalt. Dem Gefangenen muss vor der Verlegungsentscheidung Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden. Die Gründe für die Verlegung sind aktenkundig zu machen und dem Gefangenen bekanntzugeben (VV Nr. 3 Abs. 2). VV Nr. 3 Abs. 3 stellt klar, dass die Verlegung in den geschlossenen Vollzug eine erneute Unterbringung im offenen Vollzug nicht ausschließt. Die Prüfung einer erneuten Eignung des Gefangenen erfolgt bei der Fortschreibung des Vollzugsplans.
III. Landesgesetze 1. Bayern a) Ausweislich der Gesetzesbegründung soll in Bayern der geschlossene Vollzug Re- 15 gelvollzug sein (LT-Drucks. 15/8101, S. 53). Absatz 1 und 2 des Art. 12 BayStVollzG sind vor diesem Hintergrund wie folgt formuliert worden: Abs. 1: „Gefangene sind im geschlossenen Vollzug unterzubringen.“ Abs. 2: „Gefangene sollen mit ihrer Zustimmung in einer Einrichtung des offenen Vollzugs untergebracht werden, wenn sie den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen und insbesondere nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen
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werden.“ In Bayern werden alle Gefangenen zunächst im geschlossenen Vollzug untergebracht, um hier zu beurteilen, ob sie sich für den offenen Vollzug eignen. Vor dem Hintergrund dieser Einweisungspraxis ist die gesetzgeberische Entscheidung konsequent (s. Rdn. 4). Die Voraussetzungen für eine Verlegung in den offenen Vollzug sind im bayrischen Gesetz inhaltlich unverändert. b) Die Gründe für eine Rückverlegung sind in Art. 12 Abs. 3 BayStVollzG abweichend vom StVollzG wie folgt geregelt: „Gefangene sollen in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt werden, wenn dies zu ihrer Behandlung notwendig ist; sie sind zurückzuverlegen, wenn sie den Anforderungen nach Abs. 2 nicht entsprechen.“ c) Ergänzt wird Art. 12 durch Art. 15 BayStVollzG: „Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzugs eine Strafe wegen einer schwerwiegenden Straftat gegen Leib oder Leben oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit Ausnahme der §§ 180a und 181a StVollzG vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, ist eine Unterbringung im offenen Vollzug, eine Lockerung des Vollzugs oder eine Gewährung von Urlaub aus dem Vollzug besonders gründlich zu prüfen. Bei der Entscheidung sind auch die Feststellungen im Urteil und die im Ermittlungs- oder Strafverfahren erstatteten Gutachten zu berücksichtigen.“ Da keine weiteren Eingriffsbefugnisse geschaffen werden, sondern lediglich Anforderungen an eine sorgfältige Eignungsprüfung formuliert werden, erschöpft sich der Regelungsgehalt dieser Norm in dem einer klassischen Verwaltungsvorschrift.
2. Hamburg
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a) Ausweislich der Gesetzesbegründung hat Hamburg bewusst darauf verzichtet, ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von offenem und geschlossenem Vollzug festzulegen (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, S. 53). § 11 Abs. 2 HmbStVollzG ist weitgehend inhaltsgleich mit § 10 Abs. 1 StVollzG. In Hamburg ist jedoch keine Zustimmung des Gefangenen zu seiner Verlegung in den offenen Vollzug mehr erforderlich. Auf die Regelung des § 10 Abs. 2 StVollzG, nach der eine Unterbringung im geschlossenen Vollzug erfolgen kann, wenn dies zur Behandlung notwendig ist, ist mit dem Hinweis verzichtet worden, dass bereits die Sollvorschrift des § 11 Abs. 2 HmbStVollzG diese Ausnahme zulasse. In Hamburg sollen im Vollzug der Freiheitsstrafe strengere Maßstäbe bei der Eignungsprüfung angelegt werden als im Jugendstrafvollzug. Für die Verlegung junger Gefangener in den offenen Vollzug hat der Hamburger Gesetzgeber in § 11 Abs. 2 HmbJStVollzG folgende abweichende Formulierung gewählt „Geeignet sind Gefangene, wenn sie den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen, insbesondere verantwortet werden kann zu erproben, dass sie sich dem Vollzug nicht entziehen und die Möglichkeiten des offenen Vollzugs nicht zur Begehung von Straftaten missbrauchen werden.“ Laut Gesetzesbegründung soll diese Regelung den Entscheidungsträgern im Jugendstrafvollzug „ein etwas weiteres Ermessen einräumen“ und es erlauben „beim Verbleib geringer Restzweifel zu Gunsten der Unterbringung im offenen Vollzug zu entscheiden“, wobei „die Schwere etwaiger zu befürchtender Straftaten und die noch offene Reststrafe in die Abwägung“ einzubeziehen sind (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, S. 64). Im Rückschluss heißt dies, dass im „Erwachsenenstrafvollzug“ in derartigen Fällen keine Verlegung (mehr) in den offenen Vollzug erfolgen soll. b) Rechtsgrundlage für eine Rückverlegung ist nunmehr § 92 Abs. 2 und 3 HmbStVollzG.
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Offener und geschlossener Vollzug
§ 10
c) Hamburg hat schließlich in § 11 Abs. 3 HmbStVollzG besondere Regelungen für eine Begutachtung in das Gesetz aufgenommen: „Ist gegen Gefangene eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180, 182 des Strafgesetzbuchs, wegen grober Gewalttätigkeit gegen Personen oder, sofern diese Straftaten als Rauschtaten begangen wurden, wegen Vollrausches (§ 323a des Strafgesetzbuchs) zu vollziehen oder war dies während eines vorangegangenen Freiheitsentzuges der Fall, ist vor ihrer Verlegung in den offenen Vollzug eine schriftliche Stellungnahme einer psychologischen Fachkraft, die nicht mit den Gefangenen therapeutisch befasst ist oder war, oder ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Hiervon kann mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde abgesehen werden, wenn die betroffene Freiheitsstrafe während eines vorangegangenen Freiheitsentzuges zu vollziehen war und die seither eingetretene Entwicklung des Gefangenen eine fachdienstliche Begutachtung nicht mehr erfordert.“ 3. Niedersachsen a) Auch Niedersachsen hat laut Gesetzesbegründung den geschlossenen Vollzug zum 17 Regelvollzug erklärt (LT-Drucks. 15/3565, S. 99). § 12 Abs. 1 und 2 NJVollzG ist wie folgt gefasst: Abs. 1: „Die oder der Gefangene wird im geschlossenen Vollzug untergebracht, wenn nicht nach dem Vollstreckungsplan eine Einweisung in den offenen Vollzug oder in eine Einweisungsanstalt oder Einweisungsabteilung vorgesehen ist.“ Abs. 2: „Die oder der Gefangene soll in eine Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzugs verlegt werden, wenn sie oder er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, dass sie oder er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entzieht oder die Möglichkeit des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen wird.“ Dabei ist bei den Voraussetzungen für eine Verlegung in den offenen Vollzug das Erfordernis entfallen, dass der Gefangene zustimmt (vgl. Rdn. 8). b) Die Rückverlegung ist in § 12 Abs. 3 NJVollzG wie folgt geregelt: „Befindet sich eine Gefangene oder ein Gefangener im offenen Vollzug, so soll sie oder er in eine Anstalt oder Abteilung des geschlossenen Vollzuges verlegt werden, wenn sie oder er es beantragt oder den Anforderungen nach Absatz 2 nicht genügt oder es zur Erreichung des Vollzugsziels nach § 5 Satz 1 erforderlich ist.“ c) § 16 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG schafft eine Rechtsgrundlage dafür, Gefangene begutachten oder körperlich untersuchen zu lassen, wenn dies zur Feststellung der Eignung für eine Verlegung in den offenen Vollzug erforderlich ist (vgl. auch OLG Celle StV 2005, 339 f). Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 NJVollzG ist die Erforderlichkeit für eine Begutachtung in der Regel bei Gefangenen gegeben, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe oder nach den §§ 174 bis 180, 182, 211 oder 212 Strafgesetzbuch oder einer entsprechenden Rauschtat verurteilt worden sind. § 16 Abs. 2 NJVollzG regelt qualitativ, dass Gutachter verschiedener Fachrichtungen an der Prognose beteiligt werden sollen.
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§ 11
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 11 Lockerungen des Vollzuges (1) Als Lockerung des Vollzuges kann namentlich angeordnet werden, dass der Gefangene 1. außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Freigang) nachgehen darf oder 2. für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Ausgang) verlassen darf. (2) Diese Lockerungen dürfen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde. VV 1 Lockerungen des Vollzuges werden nur zum Aufenthalt innerhalb des Geltungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes gewährt. 2 Bei der Außenbeschäftigung wird der Gefangene entweder ständig und unmittelbar oder ständig oder in unregelmäßigen Zeitabständen durch einen Vollzugsbediensteten beaufsichtigt. 3 (1) Freigang kann auch in der Weise angeordnet werden, dass ein Dritter schriftlich verpflichtet wird, die Anstalt unverzüglich zu benachrichtigen, wenn der Gefangene an der Beschäftigungsstelle nicht rechtzeitig erscheint, sich ohne Erlaubnis entfernt oder sonst ein besonderer Anlass (z. B. Erkrankung, Trunkenheit) hierzu besteht. (2) Die Anstalt überprüft das Verhalten des Gefangenen während des Freiganges in unregelmäßigen Abständen. 4 (1) Der Anstaltsleiter überträgt die Ausführung des Gefangenen besonders geeigneten Bediensteten. (2) Vor der Außenbeschäftigung und der Ausführung erteilt er den Bediensteten die nach Lage des Falles erforderlichen Weisungen. 5 (1) Die Entscheidung über Lockerungen im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe ist in einer Konferenz nach § 159 StVollzG vorzubereiten. Über die Konferenz ist eine Niederschrift zu fertigen; gutachtliche Äußerungen sind aktenkundig zu machen. Lockerungen sind in diesen Fällen in der Regel nur unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 StVollzG zulässig. Sie bedürfen der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. (2) Absatz 1 gilt nicht für die Ausführung und die Außenbeschäftigung unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht.
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Lockerungen des Vollzuges
§ 11
6 (1) Außenbeschäftigung, Freigang und Ausgang sind ausgeschlossen bei Gefangenen, a) gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, welche gemäß § 74a GVG von der Strafkammer oder gemäß § 120 GVG vom Oberlandesgericht im ersten Rechtszug verhängt worden ist, b) gegen die Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebungshaft angeordnet ist, c) gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes besteht und die aus der Haft abgeschoben werden sollen, d) gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine sonstige Unterbringung gerichtlich angeordnet und noch nicht vollzogen ist. (2) In den Fällen des Absatz 1 Buchstaben a, c und d sind Ausnahmen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. In den Fällen des Buchstabens a ist die Vollstreckungsbehörde, des Buchstabens d das zuständige Gericht zu hören; in den Fällen des Buchstabens c bedürfen Ausnahmen des Benehmens mit der zuständigen Ausländerbehörde 7 (1) Außenbeschäftigung, Freigang und Ausgang sind nur zulässig, wenn der Gefangene für diese Maßnahmen geeignet ist, insbesondere ein Missbrauch nicht zu befürchten ist. Bei der Entscheidung ist zu berücksichtigen, ob der Gefangene durch sein Verhalten im Vollzug die Bereitschaft gezeigt hat, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken. (2) Ungeeignet für eine Lockerung nach Absatz 1 sind in der Regel namentlich Gefangene, a) die erheblich suchtgefährdet sind, b) die während des laufenden Freiheitsentzuges entwichen sind, eine Flucht versucht, einen Ausbruch unternommen oder sich an einer Gefangenenmeuterei beteiligt haben, c) die aus dem letzten Urlaub oder Ausgang nicht freiwillig zurückgekehrt sind oder bei denen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass sie während ihres letzten Urlaubs oder Ausgangs eine strafbare Handlung begangen haben, d) gegen die ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist, e) bei denen zu befürchten ist, dass sie einen negativen Einfluss ausüben, insbesondere die Erreichung des Vollzugszieles bei anderen Gefangenen gefährden würden. (3) Ausnahmen von Absatz 2 können zugelassen werden, wenn besondere Umstände vorliegen; die Gründe hierfür sind aktenkundig zu machen. In den Fällen des Buchstabens d ist die zuständige Behörde zu hören. (4) Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe wegen grober Gewalttätigkeiten gegen Personen, wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Handels mit Stoffen im Sinne des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vollzogen wurde oder zu vollziehen ist oder die im Vollzug in den begründeten Verdacht des Handels mit diesen Stoffen oder des Einbringens dieser Stoffe gekommen sind, bedarf die Frage, ob eine Lockerung des Vollzuges zu verantworten ist, besonders gründlicher Prüfung. Dies gilt auch für Gefangene, über die Erkenntnisse vorliegen, dass sie der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. 8 Die Anordnung einer Lockerung ist aufzuheben, wenn der Gefangene seine Zustimmung zu dieser Maßnahme zurücknimmt. Schrifttum zu §§ 11–14: Arloth Strafzwecke im Strafvollzug, in: GA 1988, 403 ff; ders. Aufgaben des Strafvollzugs – ein Beitrag zum Einfluß der Strafzwecke auf den Strafvollzug, in: ZfStrVo 1990, 329 ff; Asprion Grau ist die Farbe – Entwicklungstendenzen im Strafvollzug: Zum Beispiel Lockerungsgewährung in Baden-Württemberg, in: ZfStrVo 1996, 333 ff; Baumann Schuld und Sühne versus Urlaub, in: ZfStrVo 1987, 47 ff; Begemann Freigängerurlaub (§ 15 IV StVollzG) ohne Freigang?, in: NStZ
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
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Straftaten während Vollzugslockerung und Hafturlaub – besondere Entschädigung für alle Opfer, in: WEISSER RING (Hrsg.), RisikoVerteilung zwischen Bürger und Staat, Mainz 1990, 22 ff; Böhm/Schäfer Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen, Wiesbaden 1989; Bölter Verlauf von Lockerungen im Langstrafenvollzug, in: ZfStrVo 1991, 71 ff; Brosch Der Hafturlaub von Strafgefangenen unter Berücksichtigung des Strafvollzugszieles. Eine empirische Untersuchung zur Einstellung betroffener männlicher Strafgefangener, Frankfurt 1983; Dietl Sollen Strafzwecke wie Schuldausgleich, Sühne, Verteidigung der Rechtsordnung in den Strafvollzug hineinwirken?, in: Schwind/Steinhilper/Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz, Heidelberg 1988, 55 ff; Dolde Vollzugslockerungen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsversuch und Risiko für die Allgemeinheit, in: Busch (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft. GS für Albert Krebs, Pfaffenweiler 1994, 109 ff; Dopslaff Abschied von Entscheidungsfreiräumen bei Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielraum im Strafvollzugsgesetz, in: ZStW 1988, 567 ff; Dünkel Die Öffnung des Vollzugs – Anspruch und Wirklichkeit, in: ZStW 1982, 669 ff; ders. Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, in: ZfStrVo 1990, 105 ff; ders. Alte Menschen im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1991, 350 ff; ders. Sicherheit im Strafvollzug – Empirische Daten zur Vollzugswirklichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung bei den Vollzugslockerungen, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.). 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Lockerungen des Vollzuges
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der Haft, in: JR 1984, 353 ff; Müller/Wulf Offener Vollzug und Vollzugslockerungen (Ausgang, Freigang), in: ZfStrVo 1999, 3 ff; Nagel Gefangenenbefreiung durch Richter?, in: NStZ 2001, 233 f; Nedopil Prognosebegutachtungen bei zeitlich begrenzten Freiheitsstrafen – Eine sinnvolle Lösung für problematische Fragestellungen?, in: NStZ 2002, 344 ff; Nesselrodt Der Strafurlaub im Progressionssystem des Freiheitsentzuges. Funktion und Wirkung der Beurlaubung Gefangener hessischer Vollzugsanstalten, Diss. jur., Marburg 1979; Peglau Strafvollstreckungsvereitelung durch Mitwirkung beim Erschleichen von Freigang, in: NJW 2003, 3256 f. Perwein Erteilung, Rücknahme und Widerruf der Dauertelefongenehmigung, in: ZfStrVo 1996, 16 ff; Peters Beurlaubung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter, in: JR 1978, 177 ff; Rössner Die strafrechtliche Beurteilung der Vollzugslockerungen, in: JZ 1984, 1065 ff; Schaffstein Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Vollzugsbediensteter für den Mißbrauch von Vollzugslockerungen, in: Küper (Hrsg.). FS für Karl Lackner, Berlin 1987, 795 ff; Schalt Der Freigang im Jugendstrafvollzug. Dargestellt am Beispiel der Fliedner-Häuser des Landes Hessen, Heidelberg 1977; Schneider Tempus fugit. Trendwende in der Rechtsprechung zu den unbestimmten Rechtsbegriffen?, in: ZfStrVo 1999, 140 ff; Schüler-Springorum Tatschuld im Strafvollzug, in: StV 1989, 262 ff; SchwindOrientierungspunkte der (Straf-)Vollzugspolitik, in: Müller-Dietz/Walter (Hrsg.), Strafvollzug in den 90er Jahren, Pfaffenweiler 1995, 216 ff; Smolka Der Freigang im Strafvollzug, Diss. jur., Göttingen 1982; Stenzel Ausführungen zur Betreuung aus der Sicht eines Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes, in: ZfStrVo 1986, 303 ff; Stilz Zum Urlaub aus der Haft, in: ZfStrVo 1979, 67 ff; Ullenbruch Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung durch Gewährung von Vollzugslockerungen und Hafturlaub, in: NJW 2002, 416 ff; Verrel Strafrechtliche Haftung für falsche Prognosen im Maßregelvollzug, in: R & P 2001, 182 ff; Volckart Praxis der Kriminalprognose, München 1997.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1–5 1. Lockerungen sind Behandlungsmaßnahmen . . . . . . . . . . 1 2. Ausschlussgründe . . . . . . . 2 3 3. Berücksichtigung der Strafzwecke 4. Aufnahme in den Vollzugsplan . 4 5. Statistische Angaben . . . . . . 5 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 6–28 1. Einzelne Lockerungen (§ 11 Abs. 1) 6–12 a) Ausführung . . . . . . . . . 6 b) Außenbeschäftigung . . . . . 7 c) Ausgang . . . . . . . . . . . 8 d) Freigang . . . . . . . . . . . 9–11 e) sonstige Lockerungen . . . . 12 2. Voraussetzungen (§ 11 Abs. 2) . . 13–26 a) Tatbestandliche Erfordernisse 13–17 aa) Zustimmung, Fehlen von Flucht- und Missbrauchsgefahr . . . . . . . . . . 13 bb) Flucht- und Missbrauchsgefahr als unbestimmte Rechtsbegriffe . . . . . . 14 cc) Fluchtgefahr . . . . . . . 15 dd) Gefahr der Begehung neuer Straftaten . . . . . . . . 16 ee) Einzelfallprüfung, Begründungsanforderungen an ablehnende Entscheidungen 17 b) Tatbestandsinterpretierende Richtlinien (VV) . . . . . . . 18–25
aa) ausnahmsloser Ausschluss nach VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. b . . . . . . . . . 19 bb) Gefangenengruppen nach VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. a, c und d . . . . . . . . . . . 20 cc) Mitwirkung anderer Behörden (VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 2) . . . . . . . . . . 21 dd) Fallgruppen nach VV Nr. 7 Abs. 2 . . . . . . . . . . . 22 ee) Fallgruppen nach VV Nr. 7 Abs. 4 . . . . . . . . . . . 23 ff) Bereitschaft zur Mitarbeit am Vollzugsziel . . . . . 24 gg) Zustimmungsvorbehalt der Aufsichtsbehörde . . 25 c) Ermessensausübung bei Vorliegen der tatbestandlichen Erfordernisse . . . . . . . . . 26 3. Besonderheiten beim Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe . . 27 4. Strafrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen fehlschlagender Vollzugslockerungen . . . . . . 28 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 29–32 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 29 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 30 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 31–32
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die Anordnung von Lockerungen des Vollzuges wie auch die Gewährung von Urlaub (systematisch ebenfalls als „Lockerung“ anzusehen; konsequent insoweit deshalb §§ 12 HmbStVollzG, 13 Abs. 1 NJVollzG; vgl. Rdn. 31 f) zählen zu den wichtigsten Behandlungsmaßnahmen des Gesetzes (zum Behandlungsbegriff § 4 Rdn. 6). „Geeignete Behandlungsmaßnahmen gewährleisten“ wiederum den „Schutz der Allgemeinheit“ (insoweit zutreffend Art. 4 BayStVollzG). Gemeint sind insoweit nur Lockerungen mit Außenwirkung (sog. „vollzugsöffnende“ Maßnahmen, i. e. nicht solche innerhalb der Anstalt, wie z. B. freizügige Bewegung im Unterkunftsbereich). Gelockert wird der Vollzug durch die Erlaubnis, sich außerhalb der Anstalt für eine bestimmte Zeit unter Aufsicht (Ausführung Rdn. 6 und Außenbeschäftigung Rdn. 7) oder ohne Aufsicht (Freigang Rdn. 9 und Ausgang Rdn. 8) aufhalten zu dürfen. Zweck der Maßnahmen kann sein: Erprobung im Hinblick auf das Vollzugsziel § 2 Satz 1 (§ 2 Rdn. 12 ff) oder eine vorzeitige Entlassung nach § 57 StGB (vgl. OLG Düsseldorf ZfStrVo 1990, 246 m. Anm. Konrad), im Hinblick auf den Gegensteuerungsgrundsatz § 3 Abs. 2 (§ 3 Rdn. 11 f) Herstellen oder Aufrechterhalten von Beziehungen zur Außenwelt (vgl. OLG Celle LS ZfStrVo 1986, 114; LG Arnsberg LS ZfStrVo 2002, 367) oder im Hinblick auf den Integrationsgrundsatz § 3 Abs. 3 (§ 3 Rdn. 13) Hilfe zur Eingliederung (vgl. OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 15: Abbau einer vorhandenen Kontakt- und Bindungsarmut). Die faktische Bedeutung der Lockerungen ist indirekter Natur: Ihre (Nicht-)Gewährung ist wesentliche Grundlage für die Entscheidung der Vollstreckungsgerichte über eine vorzeitige Entlassung (ausführlich dazu unten Rdn. 14). – Zu kriminalpräventivübergreifenden Umformulierungen gerichtlicher Prognosefragestellungen (z. B.: „Unter welchen Bedingungen ist die durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit am geringsten?“ – „Entlassung auf Reststrafe nach Lockerungen zum Aufbau entsprechenden Lebensumfeldes“) instruktiv Nedopil 2002, 344 ff. Da das Vollzugsverhältnis nicht aufgehoben, sondern (nur) gelockert wird und die Vollzugslockerungen Behandlungsmaßnahmen sind, können sie nur zum Aufenthalt innerhalb des Geltungsbereichs des StVollzG gewährt werden (vgl. VV Nr. 1 – mit Wirkung vom 1.9.1994 neu eingefügt). Die Verwaltungsvorschrift stellt eine tatbestandsinterpretierende Richtlinie dar, die der Vollzugsbehörde kein Ermessen eröffnet (OLG Celle NStZ-RR 2002, 157 = StV 2002, 323 m. Anm. Szezekalla; vgl. auch OLG Hamm NStZ-RR 1997, 195 m. Anm. Blau JR 1997, 435). Für Urlaub bereits früher VV Nr. 1 zu § 13 (vgl. § 13 Rdn. 3).
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2. Nach Abs. 2 kommt eine Lockerung des Vollzuges von vornherein nicht in Betracht bei fehlender Zustimmung des Gefangenen (Rdn. 13) oder Bestehen von Flucht- oder Missbrauchsgefahr (Rdn. 14 –16). Auch wenn diese Ausschlussgründe nicht gegeben sind, hat der Gefangene nach Abs. 1 keinen Anspruch auf Gewährung von Lockerungen, sondern lediglich auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Die Entscheidung muss sich am Vollzugsziel (§ 2 Satz 1) und den Gestaltungsgrundsätzen (§ 3 Abs. 2 und 3) orientieren. Das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit (§ 2 Satz 2) ist bereits bei der Vorfrage der Flucht- oder Missbrauchsgefahr i. S. d. Abs. 2 abschließend zu berücksichtigen. Eine „verantwortungsvolle“ Lockerungsgewährung hängt indes nicht von einer nochmaligen Betonung an anderer Gesetzesstelle ab (gleichermaßen verfehlt deshalb insoweit Art. 4 und Art. 15 BayStVollzG; vgl. Rdn. 30). – Zur Information des Verletzten vgl. § 406d StPO.
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3. Ob – und wenn ja, inwieweit – Gesichtspunkte der Schwere der Schuld und der Generalprävention als Ermessenskriterien (mit-)berücksichtigt werden dürfen, ist umstritten. Auf den ersten Blick (§ 2) scheint die bewusste und gewollte gesetzgeberische Entschei-
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Lockerungen des Vollzuges
§ 11
dung, der zufolge alleiniges Vollzugsziel die (Re-)Sozialisierung des Gefangenen ist, die wiederum dem Strafzweck der (positiven) Spezialprävention entspricht, die Einbeziehung weiterer (allgemeiner) Strafzwecke (gänzlich) auszuschließen (so OLG Frankfurt NStZ 2002, 53 = StV 2002, 211 m. abl. Anm. Arloth NStZ 2002, 280 und die ganz herrschende Lehre, vgl. K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 57, AK-Lesting 2006 Rdn. 59 und C/MD 2008 Rdn. 8 ff zu § 2 jeweils m. w. N.; zum Ganzen auch Hartwig 1995). Andererseits gebietet der übergeordnete Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung eine Erweiterung des Blickwinkels auf die Vorgaben des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB, wonach Grundlage für die Zumessung der nunmehr zu vollziehenden Freiheitsstrafe die Schuld des Täters ist (so die ständige Rspr. seit OLG Karlsruhe JR 1978, 213, zuletzt OLG Karlsruhe NStZ 1989, 247; weitere Fundstellen bei Laubenthal 2008 Rdn. 182 ff; vgl. auch BVerfGE 64, 261 ff m. abl. Sondervotum Mahrenholz 285 ff). Eine Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes auch während des Vollzuges ist deshalb nicht völlig ausgeschlossen (Arloth 2008 Rdn. 13; Grunau/Tiesler 1982 § 13 Rdn. 14; Arloth 1988, 421 ff; Dietl 1988, 55 ff; vgl. auch § 2 Rdn. 6). Zur Vermeidung einer unzulässigen Rechtsumbildung des geltenden StVollzG (so Peters 1978, 177, 180) sind allerdings folgende Einschränkungen erforderlich: Gesichtspunkte der Schwere der Schuld und der Generalprävention dürfen nicht etwa für die gesamte Vollzugsgestaltung herangezogen werden (zu weitgehend Dietl 1988, 63 ff), sondern lediglich bei Entscheidungen nach §§ 10, 11, 13 und 35, die eine faktische Lockerung des Freiheitsentzuges betreffen (Arloth 1988, 422 f spricht insoweit zu Recht von „Maßnahmen mit Außenwirkung“), nur bei Inhaftierten mit einer lebenslangen oder einer langen zeitigen Freiheitsstrafe und besonders schwerer Schuld (keinesfalls z. B. bei einer achtmonatigen Freiheitsstrafe wegen Dienstflucht nach § 53 ZDG, vgl. LG Frankfurt StV 1987, 301 m. Anm. Nestler-Tremel), nur zu Beginn des Vollzuges (insoweit richtig AV des JM Baden-Württemberg vom 20.1.1995, 4511 – VI/6, I 1. Abs. 1 Nr. 1, Die Justiz 1995, S. 75; a. A. OLG Nürnberg NStZ 1984, 92 – Berücksichtigung noch nach fast neun Jahren bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren; zu weitgehend auch OLG Frankfurt NStZ 1984, 382), und auch dann nur als eines von mehreren Kriterien im Rahmen einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände des Einzelfalles (OLG Stuttgart NStZ 1984, 525), insbesondere unter Berücksichtigung des vorrangigen Vollzugszieles nach § 2. Im so verbleibenden Anwendungsbereich wird zwar häufig bereits die Flucht- oder Missbrauchsgefahr nach Abs. 2 zu bejahen sein, betroffen sind jedoch neben der (schwindenden) Gruppe nationalsozialistischer Gewaltverbrecher (hierzu Böhm 1986, 201, 205; die Behandlung derartiger extremer Ausnahmefälle ausdrücklich offengelassen hat auch OLG Frankfurt NStZ 2002, 53 = StV 2002, 211) eine (zunehmende) Zahl von Wirtschaftsstraftätern, die besonders schwere Schuld auf sich geladen haben, unter bloßer Berücksichtigung von § 2 jedoch bereits mit Strafantritt im offenen Vollzug untergebracht werden müssten (hierzu Eyrich 1988, 34 f). 4. Die Möglichkeit der Aufnahme von Lockerungen des Vollzuges ist im Rahmen der 4 Erstellung und Fortschreibung eines Vollzugsplanes zwingend zu erörtern (§ 7 Abs. 2 Nr. 7). Dementsprechend unterliegt die Feststellung des Vollzugsplanes, keine Lockerungen zu gewähren, der gerichtlichen Überprüfung gem. § 109 Abs. 1. Bei den Bestimmungen des Vollzugsplanes handelt es sich um selbständige Maßnahmen. Deshalb ist die Frage, ob lockerungsbezogene Lücken oder positive Inhalte des Vollzugsplans (§ 7 Abs. 2 Nr. 7) die Rechte des Gefangenen verletzen, von der Rechtsverletzung durch konkrete Entscheidungen über Vollzugslockerungen (§ 11) zu trennen (vgl. BVerfG 3.7.2006 – 2 BvR 1383/03; OLG Karlsruhe StV 2007, 200; HansOLG Hamburg StraFo 2007, 390). Der Gefangene darf also nicht darauf verwiesen werden, zunächst bei der JVA einen Antrag auf Gewährung von Lockerungen gem. § 11 zu stellen und erst gegen eine mögliche Ablehnung des Antrages ge-
Thomas Ullenbruch
185
§ 11
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
richtlich vorgehen zu können (OLG Karlsruhe StraFo 2007, 519). Das Erfordernis der Durchführung einer Konferenz mit an der Behandlung maßgeblich Beteiligten und die Mitwirkung des Anstaltsleiters ergeben sich insoweit aus § 159. Eine Delegation der Entscheidung ist gesetzlich nicht ausgeschlossen. Der Anstaltsleiter trägt jedoch die Verantwortung, sofern der Aufgabenbereich nicht mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen worden ist (§ 156 Abs. 2 Satz 2). Die Vollzugsbehörde geht mit der Erstellung des Vollzugsplans, der als Programm und Konzept für die Behandlung des Gefangenen und die Lebensverhältnisse während des Strafvollzugs dienen soll, eine Bindung ein, die zur Folge hat, dass sie eine in den Plan aufgenommene konkrete, den Gefangenen begünstigende (Lockerungs-)Maßnahme nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 widerrufen darf (KG StV 2007, 313; ebenso bereits KG NStZ 1997, 207 und 1993, 100 sowie OLG Celle ZfStrVo 1989, 116). Auch wenn die Vollzugsbehörde den Vollzugsplan als „vorläufig“ bezeichnet und unter den Vorbehalt der Abstimmung mit Ermittlungsbehörden und/oder StVK stellt, reicht die Selbstbindung soweit, dass ein Abweichen vom Plan nur noch bei ermessensfehlerfreier Begründung zulässig ist. Dass die JVA bei erneuter Würdigung des in tatsächlicher Hinsicht unveränderten Lebenssachverhaltes nunmehr zu einer anderen Entscheidung kommt, ist jedenfalls unbeachtlich (OLG Karlsruhe v. 18.8.2005 – 2 Ws 159/04; vgl. auch KG NStZ 1997, 207, OLG München StV 1992, 589, OLG Zweibrücken NStZ 1988, 431). Eine im Vollzugsplan festgelegte (Sperr-)Frist zur Prüfung der Gewährung von Vollzugslockerungen ist eine anfechtbare Maßnahme i. S. d. § 109 StVollzG (OLG Koblenz BlStV 5/6/1992, 1). Orientiert sich der im Vollzugsplan vorgesehene Zeitpunkt für den Beginn der Lockerungen an einer Entlassung zum Halbstrafentermin und stellt sich später heraus, dass die konkreten Umstände diese Annahme nicht rechtfertigen, so kann ein rechtlich schutzwürdiges Vertrauen des Gefangenen auf eine bedingte Entlassung zur Halbstrafe und auf den daran ausgerichteten Einstieg in Vollzugslockerungen nicht anerkannt werden; die Vollzugsbehörde ist daher nicht gehindert, in diesem Fall den Beginn der Lockerungen zu verschieben (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1989, 310 = BlStV 3/1990, 2; Laubenthal 2008 Rdn. 329). Stellt ein Gefangener unabhängig von einer Vollzugsplankonferenz einen eigenständigen Antrag auf Gewährung von Lockerungen, kommt es darauf an, ob es für ihn (bereits) einen Vollzugsplan gibt. Ist dies (noch!) nicht der Fall, wird der Antrag häufig zum Anlass zu nehmen sein, nunmehr zu dessen Erstellung eine Konferenz (§ 159) anzuberaumen. Aber auch im Falle des gänzlichen Absehens von der Erstellung eines Vollzugsplanes (§ 6 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 7 Abs. 1) muss der Anstaltsleiter im Einzelfall entscheiden, ob es zur vollständigen Ermittlung des Sachverhaltes, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung der Persönlichkeit des Gefangenen als Grundlage der Ermessensentscheidung gleichwohl der Einberufung einer Konferenz mit an der Behandlung maßgeblich beteiligten Bediensteten bedarf. Wenn das KG (ZfStrVo 1990, 119 = BlStV 4/5/1990, 13) feststellt, dass es sich hierbei um keine wichtige Entscheidung i. S. d. § 159 2. Alt. handelt, trifft dies zwar zu, weil sie keine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Entscheidung der Vollzugsgestaltung in der Anstalt zum Gegenstand hat. Auch eine Konferenz i. S. d. § 159 1. Alt. kommt nicht in Betracht, weil es lediglich um die Entscheidung über eine einzelne Behandlungsmaßnahme geht. Hieraus folgt jedoch entgegen dem KG aaO nicht, dass in derartigen Fällen in jedem Falle eine Konferenz entbehrlich ist. § 159 schließt die Durchführung von Vollzugskonferenzen anderer Art nicht aus. Der in der genannten Vorschrift zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke spricht im Gegenteil dafür, dass zur Entscheidung über einen entsprechenden Antrag die Durchführung einer „Lockerungskonferenz“ nachgerade geboten sein kann. Unterbleibt diese, kann hierin ein Rechtsfehler in Form des Unterlassens erforderlicher Ermittlungen zur Vorbereitung der Entscheidung liegen, der zu deren gerichtlicher Aufhebung führt. Gibt es bereits einen Vollzugsplan, kommt eine Entscheidung ohne Konferenz nur in Be-
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Thomas Ullenbruch
Lockerungen des Vollzuges
§ 11
tracht, wenn diese den Festsetzungen des Planes zumindest nicht widerspricht. Ein Nebeneinander von (mehr oder weniger unverbindlichem) Vollzugsplan und davon unabhängiger verbindlicher Anstaltsleiterentscheidung wäre mit den Grundsätzen eines Behandlungsvollzuges nicht vereinbar. Sofern eine Umdeutung des Antrages in einen solchen auf Fortschreibung des Vollzugsplanes (§ 159 Rdn. 4) im Einzelfall nicht sinnvoll sein sollte, muss auch hier zumindest eine „Lockerungskonferenz“ durchgeführt werden, zumal der Anstaltsleiter an deren Empfehlungen ja nicht gebunden ist. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Fortschreibung des Vollzugsplanes die Bescheidung eines zuvor gestellten Antrages auf Gewährung einer konkreten Lockerungsmaßnahme zu ersetzen vermag. Dem ist nicht so (OLG Dresden NStZ 2000, 464 M).
5
5. Die folgende Statistik (S. 188 f) enthält Zahlen zu den Lockerungen und Urlaub.
II. Erläuterungen 1. a) Bei der Ausführung wird angeordnet, dass der Gefangene für eine bestimmte 6 Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten verlassen darf. Die Zustimmung des Gefangenen ist erforderlich. „Zwangsausführungen“ scheiden jedenfalls als Lockerungen im Sinne von Behandlungsmaßnahmen von vornherein aus (vgl. dazu § 12 Rdn. 2). Gegenüber den übrigen Lockerungen des § 11 hat die Ausführung eine geringere Bedeutung. Sie darf zwar nicht nur als vorbereitende Maßnahme für weitergehende Lockerungen wie z. B. Urlaub oder Ausgang verstanden werden (vgl. auch OLG Frankfurt NStZ 1989, 246 und OLG Hamburg NStZ 1990, 606 zur Gewährung einer Ausführung bei Lebenslänglichen). Häufig wird allerdings vor weitergehenden Lockerungen und Urlaub als erste Stufe zunächst eine Ausführung gewährt. Insbesondere, wenn einerseits aufgrund bisher bekannter Umstände die Missbrauchsgefahr (noch) nicht als vertretbar eingestuft, andererseits günstige Veränderungen bei dem Gefangenen aber auch nicht ausgeschlossen werden können, ist die Chance einer derartigen (Vor-)Bewährung sinnvoll (vgl. KG BlStV 4/5/1990, 5 f). Auch die allgemeine psychische Verfassung eines Gefangenen kann eine Ausführung als Behandlungsmaßnahme erforderlich machen (OLG Frankfurt NStZ 1984, 477). Der bloße Hinweis, der Bezug des Gefangenen zur Außenwelt sei durch Brief- und Besuchskontakte hinreichend gewährleistet, trägt die Ablehnung einer Ausführung nicht (LG Arnsberg LS ZfStrVo 2002, 367). Die Ausführung von mehreren Gefangenen ist als Gruppenausführung (zur Teilnahme an Freizeitveranstaltungen außerhalb der Anstalt) möglich (ebenso AK-Lesting 2006 Rdn. 8). Die Ausführung ist hoheitliches Handeln. Sie ist deshalb nicht jedermann, sondern nur Vollzugsbediensteten des Landes gestattet. Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes zählen nicht dazu. Der Gefangene darf z. B. zwar an sie gefesselt werden; gleichwohl muss die Ausführung aber zusätzlich von einem staatlichen Bediensteten begleitet werden (KG ZfStrVo 2002, 248 = NStZ 2002, 528 M, zum Maßregelvollzug). Die Angehörigen der Fachdienste sind hingegen Vollzugsbedienstete (vgl. nur § 155 Abs. 2) und dementsprechend – jedenfalls grds. – auch taugliche Aufsichtspersonen (wie hier Arloth 2008 Rdn. 5 und AK-Lesting 2006 Rdn. 7; a. A. Rotthaus ZfStrVo 2005, 82; unklar OLG Hamm bei Bothge ZfStrVo 2004, 362). Der Begleitbeamte ist verpflichtet, den Gefangenen außerhalb der Anstalt ständig zu beaufsichtigen. Die Art und Weise der Ausführung (Transport mit PKW oder Bahn, Anzahl der Begleitbeamten, Tragen von Zivilkleidung oder Uniform seitens des Beamten, Sicherungsmaßnahmen, Kostenbeteiligung des Gefangenen, Dauer der Ausführung) muss jeweils vom Anstaltsleiter bestimmt werden. Ist es angesichts der sonstigen Umstände der
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Jahr
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1995 2002 2007
Land
BadenWürttemberg
188
Bayern
Berlin1
Brandenburg
Bremen
Thomas Ullenbruch
Hamburg
Hessen
MecklenburgVorpommern
1 170 1 601 1 498
4 653 5 249 5 958 5206
2 286 2 799 2987 2 214
829 682 782 664
1857 2 236 1 992
3 527 4 162 5 155 5 299
9 648 10 658 11 671 12 441
7 408 8 106 8 429 7939
51 283 199
1 313 1 373 1 062 1 963
407 436 456 220
262 216 469 220
367 348 149
1 048 1 200 1 758 1 435
2 673 2 512 2 054 2 332
2 554 1 915 2 138 1963
– – –
29 31 5 6
8 25 8 1
7 9 17 4
9 2 1
56 48 33 20
43 21 8 8
44 30 21 6
JahresdurchFreigang schnittsbelegung insges. nicht rechtz. Rückkehr
1 863 6 789 3 525
44 668 77 926 74 465 47 350
14 744 21 284 21 977 9 692
6 830 7 266 10 380 6 838
5 583 11 409 10 331
23 998 54 266 71 674 70 934
16 793 16 751 14 777 17 367
45 043 41 240 49 699 47350
insges.
12 26 5
265 193 18 18
93 199 125 –
81 77 78 30
23 7 2
104 207 66 40
196 106 18 20
206 99 35 18
nicht rechtz. Rückkehr
Ausgang
1 231 3 581 2 653
15 535 15 118 7 901 5 373
8 540 8 870 8 529 2 843
3 628 3 443 2 524 1 687
2 375 2 260 1 536
9 645 12 116 14 394 11 849
11 403 10 649 8 989 9 456
11 225 8 391 7 935 8416
Regelurlaub
748 2 625 1 087
14 859 13 496 9 197 5 800
6 719 7 903 7 194 2 009
3 900 3 462 1 786 1 494
1 795 1 840 903
16 816 14 475 17 850 11 342
8 959 17 320 15 529 13 107
17 883 13 079 15 254 15168
sonst. Urlaub
Urlaub
Vollzugslockerungen im Bundesvergleich – hinsichtlich der „alten“ Bundesländer auch im Zeitvergleich mit 1986
1 979 6 206 3 740
30 394 28 614 17 098 11 173
15 259 16 773 15 723 4 852
7 528 6 905 4 310 3 181
4 170 4 100 2 439
26 461 26 591 32 244 23 191
20 362 27 696 24 518 22 563
29 108 21 470 23 189 23 584
insges.
44 18 14
345 237 26 4
127 218 90 6
98 47 24 6
47 8 –
165 72 53 36
216 150 62 37
159 89 20 18
nicht rechtz. Rückkehr
§ 11 Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Thomas Ullenbruch
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1995 2002 2007
1995 2002 2007
1986 1995 2002 2007
1995 2002 2007
1995 2002 2007
NordrheinWestfalen
RheinlandPfalz
Saarland
Sachsen
SachsenAnhalt
SchleswigHolstein
Thüringen
Gesamtdeutschland
68 051 78 327 75 546
1 142 1 933 2 044
1 618 1 428 1 586 1 519
1 462 2 718 2 394
3 381 4 347 3974
939 752 866 749
3 186 3 197 3 733 3 797
15 015 16 438 17 756 17 467
5 397 5 568 6 569 6 349
19 545 17 534 17 345
62 221 182
148 334 227 137
73 191 75
151 474 261
152 304 340 298
1 384 1 104 1 217 1 128
287 141 92
1 – 5
2 6 2 –
– 1 1
2 – 1
3 – – 1
19 25 4 8
127 52 40 26
4
1 265 8 866 7 779 6 296 5 518
41 28
1 905 1 668
468 095 586 730 615 057
2 415 5 659 6 352
5 056 22 292 25 231 18 395
1 484 4 205 4 002
2 785 7 584 8 725
2 737 2 996 2 959 6 994
15 353 22 320 33 472 28 914
62 199 108 700 246 450 247 540
1 575 847 371
19 8 2
35 57 20 7
3 4 –
30 12 6
23 14 9 7
76 41 24 14
286 299 397 178
73 347 476 78 924 196 – Keine Angaben 80 748 24 –
142 289 139 635 122 682
796 1 448 1 628
3 537 4 191 3 492 2 104
637 1 244 735
1 438 2 639 3 150
2 281 2 237 2 140 1 739
5 767 6 158 5 922 5 206
40 692 51 892 66437 55 557
8 750
13 507 12 747
141 400 154 511 117 495
417 1 804 2 001
2 181 4 159 3 423 1 638
400 1 251 375
933 2 351 2 828
1 922 3 754 4 426 3 871
7 511 9 695 9 220 6 575
42 966 38 468 60 962 40 919
8 378
9 118 11 296
283 689 294 146 240 177
1 213 3 252 3 629
5 718 8 350 6 915 3 742
1 037 2 496 1 110
2 371 4 990 5 978
4 203 5 991 6 566 5 610
13 278 15 853 15 142 11 781
83 658 90360 127 399 96 476
17 128
22 625 24 043
1
1986 nur Westberlin
Erfasst sind Fälle von Vollzugslockerungen. Erhält ein Gefangener im Erfassungszeitraum mehrfach Vollzugslockerungen, so ist er mehrfach erfasst. Quelle: Angaben des Bundesjustizministeriums
1986 1995 2002 2007
Niedersachsen
2 175 806 325
7 2 3
108 78 19 4
2 1 –
28 2 3
40 17 12 4
175 48 23 21
1 435 843 448 231
29
464 248
Lockerungen des Vollzuges
§ 11
189
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Ausführung zu verantworten, muss dem Gefangenen das Tragen eigener Kleidung gestattet werden (§ 20 Abs. 2 Satz 1; vgl. auch § 20 Rdn. 3). Dies gilt auch bei einer Aus- oder Vorführung zum Gericht (OLG Karlsruhe NStZ 1996, 302; vgl. auch § 36 Rdn. 3, 4). Entscheidend ist stets eine einzelfallbezogene Prüfung (so bereits OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 60); ebenso bei der Frage, ob Fesselung (§ 88 Abs. 4) erforderlich ist (OLG Hamm BlStV 2/1995, 10; LG Heilbronn ZfStrVo 1988, 368). Der Begleitbeamte muss besonders geeignet sein (VV Nr. 4 Abs. 1), da seine Tätigkeit Umsicht und Fingerspitzengefühl erfordert (z. B. Ausführung zur Aussprache mit der Ehefrau, zur Teilnahme an einer Beerdigung, zum Besuch am Krankenbett des Angehörigen, dazu Mertens 1978 und Stenzel 1986). Zur Ausführung zur Rechtsberatung bei der Rechtsantragsstelle vgl. KG NStZ 1997, 427 M. Gerade in schwierigen Fällen kann es geboten sein, dass der Gefangene von einem Bediensteten ausgeführt wird, zu dem ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, und zwar aus Sicherheitsgründen (Scheu des Gefangenen, die Vertrauensperson zu enttäuschen) wie auch aus Behandlungsgründen (die Vertrauensperson kann bei der Problemlösung mithelfen). Ist diese Vertrauensperson kein Bediensteter (in der Regel Angehöriger des allgemeinen Vollzugsdienstes), handelt es sich nicht um eine Ausführung, sondern um Ausgang (Rdn. 8) in Begleitung einer bestimmten Person (als Weisung gem. § 14 Abs. 1, vgl. Rdn. 12). Dem Bediensteten erteilt der Anstaltsleiter vor der Ausführung bestimmte Weisungen. Ihm kann unter Umständen gestattet sein, davon abzuweichen, wenn der Zweck der Ausführung nicht anders zu erreichen ist. Weder aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn noch aus sonstigen Rechtsvorschriften lässt sich herleiten, dass einem Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes die Ausführung eines Gefangenen, für den besondere Sicherungsmaßnahmen (z. B. Fesselung) angeordnet worden sind, zu seinem Schutze nur bei Begleitung durch einen weiteren Beamten übertragen werden dürfe (OVG Lüneburg BlStV 6/1986, 8). Über den Verlauf der Ausführung sollte der betreffende Bedienstete gerade in schwierigen Fällen einen Bericht fertigen als Material für die weitere Vollzugsgestaltung. Bei Gefangenen, die eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen, kommen wegen in der Person des Gefangenen liegenden Gründen häufig als Lockerungen zunächst nur Ausführungen in Betracht; vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1986, 376 (zu Seminarveranstaltungen einer Fernuniversität); LG Krefeld NStZ 1990, 511 (zu einer Großveranstaltung in Gestalt eines Künstlertreffens mit 500–700 Teilnehmern); OLG Hamm NStZ 1985, 189 („um nach zehnjähriger Haft wieder einmal einen Tag in Freiheit zu verbringen“) mit Anm. MüllerDietz. Zur Bedeutung der Ausführung als Behandlungsmaßnahme; vgl. auch Stenzel 1986. Bei der Prüfung der Notwendigkeit einer Ausführung dürfen auch die personellen und organisatorischen Möglichkeiten der Anstalt berücksichtigt werden (zu weitgehend allerdings OLG Hamm NStZ 1985, 189; zutreffend restriktiver OLG Karlsruhe NStZ-RR 2007, 325). Zur Ausführung zum Arzt oder in das Krankenhaus vgl. § 35 Rdn. 7. Zur Vorführung zur Rechtsantragsstelle beim Amtsgericht durch Beamte des Justizwachtmeisterdienstes im Wege der Amtshilfe und den ihnen zustehenden Zwangsbefugnissen § 36 Rdn. 4, 5. Die Ausführung kann durch Allgemeinverfügung auf 12 Stunden begrenzt werden. Diese Grenze ergibt sich aus dem Verhältnis der Tages- zu den Nachtstunden, dem Anspruch des ausführenden Beamten auf regelmäßige Dienst- und Erholungszeiten und daraus, dass eine Ausführung begrifflich auch einer räumlichen Begrenzung unterliegt (LG Hamburg 12.2.1978–98 (Vollz) 20/78; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 9). Möglich sind aber auch Ausführungen an mehreren unmittelbar aufeinanderfolgenden Tagen, wobei der Gefangene jeweils abends in der nächstgelegenen Anstalt untergebracht wird. Einen Aufwendungsersatz für Ausführungen nach § 11 sieht das Gesetz (im Unterschied zu Anordnungen
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gemäß § 35 Abs. 3) nicht vor. Mangels Ermächtigungsgrundlage können deshalb weder die Kosten für eventuellen Einsatz eines Dienstkraftfahrzeuges noch die Aufwendungen für die ausführenden Bediensteten von dem Gefangenen verlangt werden (so zutreffend Runderlass des JM Baden-Württemberg v. 24.4.1996 – 4511 – IV/6 –). Seine eigenen Reisekosten, seinen Lebensunterhalt und andere ihm während der Ausführung entstehende Aufwendungen (z. B. Eintrittsgelder) hat der Gefangene entsprechend VV Nr. 6 Abs. 2 zu § 13 aus Mitteln des Haus- oder Eigengeldes zu tragen. Nr. 2 Abs. 1 der VV zu § 51 gilt entsprechend. Soweit die eigenen Mittel des Gefangenen nicht ausreichen, kann eine Beihilfe aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Zum Aufwendungsersatz bei einer Ausführung gem. § 35 Abs. 3 vgl. § 35 Rdn. 7. b) Bei der Außenbeschäftigung handelt es sich um regelmäßige Beschäftigung außer- 7 halb der Anstalt unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten. Die Beaufsichtigung erfolgt a) ständig und unmittelbar, b) ständig oder c) in unregelmäßigen Abständen (VV Nr. 2). Zu a): Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Gefangenen und aufsichtsführenden Vollzugsbediensteten ist so festzusetzen, dass diese das Verhalten und die Vollzähligkeit der Gefangenen jederzeit überblicken können (Außenbeschäftigung unter diesen Bedingungen ist praktisch kaum möglich, weil Arbeitsabläufe und sonstige Gegebenheiten – z. B. Toilettenbesuch – dies kaum zulassen). Zu b): Die Vollzugsbediensteten brauchen die Gefangenen nicht im Blickfeld zu behalten, sofern ständige äußere Vorrichtungen gegen ein Entweichen bestehen (z. B. Arbeiten in geschlossener Halle). Zu c): Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles setzt der Anstaltsleiter fest, in welchen zeitlichen Mindestabständen sich die Vollzugsbediensteten über das Verhalten und die Vollzähligkeit der Gefangenen zu vergewissern haben. Für die Intensität der Beaufsichtigung sind die Zahl der Gefangenen, die Art der Arbeit und die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Die Beschäftigung von Gefangenen außerhalb von Anstaltsbetrieben, aber noch innerhalb des durch Zaun oder Mauer gesicherten Anstaltsgeländes (z. B. Garten- und Hofarbeiten) stellt keine Außenbeschäftigung dar (anders dagegen bei Arbeiten auf außerhalb der Mauer gelegenem Anstaltsgelände und in Dienstwohngebäuden). Auch Außenbeschäftigung von Gefangenen zusammen mit freien Arbeitern ist möglich. Die Verantwortung für die Aufsicht der Gefangenen kann aber keinem Zivilarbeiter übertragen werden (anders beim Freigang Rdn. 9). Die Außenbeschäftigung kann in Außenarbeitslagern (ständige Unterbringung außerhalb der Anstalt) oder in Arbeitskommandos (tägliche Rückkehr in die Anstalt) erfolgen. Der Vollzug in umwehrten und weit außerhalb der festen Anstalt befindlichen Barackenlagern ist überholt, da er wegen unzureichender Betreuung der Gefangenen und schädlicher Einflüsse durch Gemeinschaftsunterbringung nicht mehr heutigen vollzuglichen Anforderungen entspricht (vgl. Kühling 1988, 347). Teilweise sind solche Lager inzwischen zu Abteilungen des offenen Vollzuges (vgl. § 10 Abs. 1) umgestaltet worden. Es mag im Rahmen des Arbeitsablaufes vorkommen, dass die Gefangenen über mehrere Tage von der Anstalt entfernt beschäftigt werden und nachts am Arbeitsplatz übernachten müssen; dann muss aber auch nachts zumindest eine stichprobenweise Beaufsichtigung gewährleistet sein. – Die Gewährung einer Beihilfe zu den Kosten einer Lockerungsmaßnahme (z. B. Fahr- und Zehrgeld bei gemeinnütziger Arbeit außerhalb der Anstalt) liegt als soziale Leistung im Ermessen der Anstalt (KG StV 2007, 313; vgl. auch § 13 Rdn. 36). – Zum Ausschluss eines
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Anspruchs auf Grundsicherung nach § 7 Abs. 4 SGB II gelten die Ausführungen zum Freigang entsprechend (s. Rdn. 10 a. E.). Die Zustimmung des Gefangenen bei Außenbeschäftigung ist von Bedeutung – sie war schon früher im Strafgesetzbuch für Gefängnisgefangene vorgesehen –, weil er nicht unfreiwillig der Möglichkeit ausgesetzt werden soll, von anstaltsfremden Personen in der Öffentlichkeit erkannt und dadurch vielleicht bloßgestellt zu werden. Die Zustimmung kann jederzeit widerrufen werden.
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c) Beim Ausgang wird angeordnet, dass der Gefangene für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten verlassen darf. Hierbei dürfte es sich um die wohl „bedeutendste“ Lockerungsmaßnahme handeln (so zutreffend Feest/Lesting ZfStrVo 2005, 76, 79). Sie wird meist zur Vorbereitung und Erprobung für die Gewährung von Urlaub oder Freigang als weitergehende Lockerung gewährt (vgl. KG BlStV 4/5/1990, 5), und zwar zur Erledigung persönlicher Angelegenheiten des Gefangenen und aus sonstigen Gründen der Behandlung, z. B. zur Teilnahme am Unterricht, an kulturellen, religiösen, politischen oder sportlichen Veranstaltungen; zur Gewährung von Ausgang zur Teilnahme an Begleitveranstaltungen eines Fernstudiums: OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 246; zur Teilnahme am Gottesdienst: OLG Stuttgart NStZ 1990, 150; zur Therapiesitzung bei einer externen Psychologin: KG StV 1991, 570 m. Anm. Heischel. Beantragt ein Gefangener Ausgang, um beim Rechtspfleger des Amtsgerichts eine Rechtsbeschwerde einzulegen, so kann der Antrag grundsätzlich unter Hinweis auf dessen regelmäßige Sprechstunden in der Anstalt abgelehnt werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1991, 249; vgl. auch § 36 Rdn. 5). Unzulässig ist es, Gefangene im geschlossenen Vollzug grundsätzlich vom Ausgang auszuschließen (BVerfG NStZ 1998, 430). – Häufig wird Ausgang anstelle eines Besuches in der Anstalt gewährt. Die zum Besuch in die Anstalt kommenden Angehörigen des Gefangenen verbringen mit dem Gefangenen eine begrenzte Zeit in der Nähe der Anstalt (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 15, der allerdings selbst auf die faktische Begrenzung durch den beschränkten zeitlichen Rahmen hinweist). – Ausgang kann auch zur Vorbereitung der Entlassung erteilt werden (vgl. § 15 Rdn. 4). Der nicht geltendes Recht gewordene Entwurf des Bundesrates vom 23.9.1988 zur Änderung des StVollzG (BR-Drucks. 270/88) gab durch folgende Ergänzung des § 11 Abs. 1 einen Hinweis, für welche Fälle Ausgänge in Betracht zu ziehen sind: „Ausgang kann zur Erledigung persönlicher Angelegenheiten, zu Besuchsempfang außerhalb der Anstalt anstelle eines Besuchs in der Anstalt (§ 24), im Rahmen der Freizeitgestaltung oder sonst aus Gründen der Behandlung gewährt werden.“ Die Dauer des Ausgangs wird im Einzelfall bestimmt. Sie sollte in der Regel nicht über 24 Uhr hinausgehen. Wenn der Gefangene erst nach Mitternacht in die Anstalt zurückzukehren braucht, kommt anstelle von Ausgang Urlaub (§ 13) in Frage (wie hier Arloth 2008 § 13 Rdn. 3 und K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 41; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 14). Nach OLG Celle (NStZ 1981, 276) schließt die gesetzliche Regelung in § 11 Abs. 1 („namentlich“) nicht aus, dass ein Gefangener für eine bestimmte Tageszeit Ausgang erhält und ihm in unmittelbaren Anschluss daran Urlaub gewährt wird (hier Antrag eines Gefangenen – im Hinblick auf eine zehnstündige Reisezeit zum Wohnort seiner Ehefrau – auf Gewährung von Ausgang von 6.30 Uhr bis 24.00 Uhr und anschließendem zweitägigen Urlaub ab 0.00 Uhr bis zum folgenden Tag um 23.30 Uhr; ebenso OLG Hamm ZfStrVo 1986, 115 und 1987, 373). Nachdem der BGH (ZfStrVo 1988, 243) entschieden hat, dass der Tag, in den der Urlaubsantritt fällt, nach § 187 BGB nicht mitgezählt wird, besteht für eine Koppelung von Ausgang und Urlaub im Hinblick auf eine längere Reisezeit keine Notwendigkeit mehr. Vgl. auch § 13 Rdn. 7.
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Die Häufigkeit der Gewährung von Ausgang regelt das Gesetz – im Unterschied zum Urlaub – nicht. Auch ist der Ausgang nicht an zeitliche Voraussetzungen geknüpft (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1986, 114: „Die Auffassung, Ausgang käme nur in Betracht, wenn die weitere Vollzugsdauer weniger als drei Monate betrage, findet im Gesetz keine Stütze“). Dem Gefangenen kann im Ausgang die Benutzung eines Kfz gestattet werden (OLG Hamm BlStV 1/1981, 7). Der Zielort des Ausganges kann entfernungsmäßig beschränkt werden. Auch ist vom Gefangenen zu verlangen, dass er den Zweck des Ausgangs in nachprüfbarer Weise angibt. Kehrt ein Gefangener einen Tag verspätet aus dem Ausgang zurück, wird dadurch zwar die Strafvollstreckung für einen Tag unterbrochen, nicht jedoch das Strafvollzugsverhältnis beendet. Deshalb steht ihm z. B. auch kein Anspruch (quasi als Neuzugang) auf ein zweites „Jahrespaket“ (§ 33 Abs. 1) zu, wenn er ein solches bereits vor dem Ausgang erhalten hatte (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1993, 117 = BlStV 1/1993, 3). Ein Antrag auf Gewährung von Urlaub enthält nicht zugleich das Begehren, wenigstens Ausgang zu bewilligen, falls der Urlaub nicht gewährt wird (OLG Celle BlStV 4/5/1989, 7). d) Freigang ist eine regelmäßige Beschäftigung außerhalb der Anstalt ohne Aufsicht 9 eines Vollzugsbediensteten. Es handelt sich um die weitgehendste der benannten Lockerungen des § 11. Dies verkennt z. B. § 13 Abs. 3 Satz 2 NJVollzG, demzufolge Urlaub erst angeordnet werden soll, wenn sich die oder Gefangene im Ausgang oder Freigang bewährt habe (vgl. Rdn. 32). Ihre Anordnung besteht in der Erlaubnis, einer bestimmten Beschäftigung außerhalb der Anstalt nachzugehen. Der Freigang soll sinnvolle Arbeit oder Berufs- bzw. Schulausbildung außerhalb der Anstalt ermöglichen. Dabei können Gesichtspunkte der Erprobung (zur Prognosestellung im Falle einer bedingten Entlassung § 4 Rdn. 10), der Wiedereingliederung (Gewöhnung an das Arbeitsleben in der freien Wirtschaft nach längerer Inhaftierung; zum Gegensteuerungs- und Integrationsgrundsatz § 3 Rdn. 11 ff) oder der Ausbildung eine Rolle spielen. Die Dauer des Freigangs richtet sich nach seinem Zweck. Ein länger als ein Jahr dauernder Freigang bedeutet für den Betroffenen meist eine übermäßige Belastung mit Gefahr von Kurzschlusshandlungen. Ein Gefangener, der tagsüber in der Anstalt arbeitet, dem jedoch gestattet wird, regelmäßig an bestimmten Wochentagen abends Veranstaltungen (z. B. Sport, Volkshochschulkurse) außerhalb der Anstalt zu besuchen, ist kein „Freigänger“ i. S. d. Abs. 1 Nr. 1 (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 21). Die Wahrnehmung externer Freizeitaktivitäten ist ausschließlich im Rahmen von Lockerungen nach Abs. 1 Nr. 2 oder Urlaub möglich. Anders als bei der Außenbeschäftigung kann eine anstaltsfremde Person (z. B. Firmeninhaber) zu einer „Aufsicht“ oder auch nur zur Benachrichtigung bei besonderen Anlässen (vgl. VV Nr. 3 Abs. 1) verpflichtet werden. In Niedersachsen z. B. wird hierzu eine besondere Belehrungsniederschrift verwendet. Anzustrebende Beschäftigungsart ist das sog. „freie Beschäftigungsverhältnis“ außerhalb der Anstalt (§ 39 Abs. 1 Satz 1), das als normales Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis zwischen dem Gefangenen und einem Arbeitgeber abgeschlossen wird und das ihm den normalen Tariflohn bzw. die übliche Ausbildungsvergütung eröffnet (vgl. K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 39). Weist die JVA den Gefangenen einem externen Betrieb zu anstaltsüblichen (und in der Regel für sie „lukrativen“) Bedingungen zu (§ 37 Abs. 2), ist dies ein „unechter Freigang“. Ihn hat das BVerfG mit Wirkung zum 1.1.1999 zu Recht für verfassungswidrig erklärt, sofern er nicht ausnahmsweise zur Arbeitsvermittlung unerlässlich ist (BVerfG ZfStrVo 1998, 242, 248). Zwischen der Gewährung von Freigang und der Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses ist aber zu unterscheiden. Während für die erstere Entscheidung § 11 maßgebend ist, richtet sich die letztere nach § 39 Abs. 1 Satz 1 (vgl. im Einzelnen § 39 Rdn. 2–9).
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Der Freigänger kann auch bei seinem früheren Arbeitgeber beschäftigt werden (OLG Celle aaO; AK-Lesting 2006 Rdn. 20), allerdings z. B. dann nicht, wenn die der Verurteilung zugrunde liegenden Straftaten mit dem Arbeitsplatz in Zusammenhang standen. Auch eine Beschäftigung im Unternehmen der Ehefrau ist nicht völlig ausgeschlossen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass dies zu Konfliktsituationen für sie selbst bzw. für andere zum Betrieb gehörige Mitarbeiter bei der Mitwirkung an notwendigen Überwachungspflichten führen kann (LG Wuppertal NStZ 1988, 476; zu verkürzt der Prüfungsumfang bei OLG Zweibrücken – 1 Vollz 3/89 – vom 31.8.1989: Es kommt darauf an, ob die der Verurteilung zugrunde liegende Straftat einen Bezug zum Betrieb der Ehefrau hat). Eine Freigängertätigkeit als Bezirksleiter einer Versicherungsagentur mit Büro und Telefon im eigenen Haus, aber auch mit Kundenbesuchen außer Haus erscheint problematisch. Jedenfalls wählt das LG Göttingen StV 1990, 359 den falschen Bezugspunkt, wenn es meint, die Kontrollmöglichkeiten hätten sich in derartigen Fällen am jeweiligen Berufsbild der geplanten Tätigkeit zu orientieren, da anderenfalls ein großer Teil von Berufen, die eine gewisse Mobilität erfordern, nicht ausgeübt worden könnte (vgl. auch § 39 Rdn. 6). Entscheidend ist vielmehr stets die im Hinblick auf Persönlichkeit und Zuverlässigkeit des Gefangenen für erforderlich gehaltene Kontrolldichte. Kann diese bei der konkret in Rede stehenden Tätigkeit nicht gewährleistet werden, kommt ein derartiger Arbeitsplatz in der Tat für den Freigang nicht in Betracht. Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen auch gestatten, sich außerhalb der Anstalt z. B. im eigenen Betrieb entsprechend § 39 Abs. 2 selbst zu beschäftigen (BGHSt 37, 85 = NJW 1990, 2632 = JR 1991, 167 m. Anm. Böhm = ZfStrVo 1991, 48 m. Anm. Matzke auf Vorlage OLG Celle NStZ 1989, 341 gegen OLG Hamm NStZ 1986, 428). Im Hinblick darauf, dass eine soziale Mitkontrolle des Arbeitgebers in Ermangelung eines solchen zwangsläufig ausgeschlossen ist, ist der Anstaltsleiter entgegen dem BGH nicht nur „nicht gehindert“, sondern nachgerade verpflichtet, bei der Prüfung der Zulassung einen strengen Maßstab anzulegen (so zutreffend auch OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 117). Dabei ist sowohl die Gefahr des Missbrauches der weitgehenden Lockerung zu erneuten Straftaten verantwortlich abzuschätzen (Abs. 2 i. V. m. § 2 Satz 2), als auch die behandlerische Sinnhaftigkeit der Maßnahme (§ 39 Abs. 2 i. V. m. § 2 Satz 1) unter dem Gesichtspunkt des möglichen Rückzuges in eine bequeme Nische, um sich so um die Arbeitspflicht nach § 41 Abs. 1 Satz 1 zu drücken (vgl. hierzu Böhm aaO), kritisch zu hinterfragen. Andererseits kann z. B. die Ermöglichung der Aufnahme eines Studiums (entgegen OLG Frankfurt NStZ 1983, 381 handelt es sich auch insoweit um „Freigang“, vgl. auch § 39 Rdn. 3) an einer Hochschule trotz bzw. gerade wegen des hohen Maßes an Gestaltungsfreiheit zur Verbesserung der Kriminalprognose besonders indiziert sein. Erforderlich ist deshalb stets eine Einzelfallentscheidung. Gleichfalls im Wege der Selbstbeschäftigung kann inhaftierten Müttern (und Vätern) zur ausschließlichen Versorgung der Kinder und des Haushalts Freigang gewährt werden (ebenso AKLesting 2006 Rdn. 21; vgl. hierzu auch § 39 Rdn. 15–17). Unbeschadet der konkreten Ausgestaltung führt die Zulassung zum Freigang in keinem Fall dazu, dass die JVA lediglich noch als „teilstationäre Einrichtung“ i. S. des SGB II anzusehen ist (zur Frage des Leistungsausschlusses nach dessen § 7 Abs. 4 s. Rdn. 10 a. E.). Der JVA verbleibt im Rahmen des Vollzugsplans die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Gefangenen. Dementsprechend kann der Anstaltsleiter z. B. Weisungen gem. § 14 Abs. 1 erteilen (LSG BerlinBrandenburg v. 7.11.2006 – L 29 B 804/06 AS ER, FS 2007, 184). 10 In der Regel erfolgt die Zulassung zum Freigang erst in Verbindung mit einer konkreten geeigneten Arbeitsstelle außerhalb der Anstalt. Auch eine abstrakte Erlaubnis zum Freigang ist jedoch möglich (so zutreffend BGH, Beschl. vom 14.11.1978 – 4 StR 663/78, in einem obiter dictum, abgedruckt bei Begemann 1991, 518). Dies gilt auch, wenn sich der Ge-
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fangene im geschlossenen Vollzug befindet (wie hier Arloth 2008 Rdn. 8. Die Gegenansicht (C/MD 2008 Rdn. 9 ff; Laubenthal 2008 Rdn. 527) verkennt, dass die Voraussetzungen einer Unterbringung im offenen Vollzug und des Freiganges zwar teilweise, im entscheidenden Punkt jedoch gerade nicht kongruent sind. Wenn bei einem Gefangenen besondere Vorkehrungen gegen ein Entweichen entbehrlich sind (§ 141 Abs. 2), heißt dies noch lange nicht, dass er auch in der Lage ist, den besonderen Belastungen einer ganztägigen Beschäftigung außerhalb der Anstalt standzuhalten (insoweit richtig OLG Hamm NStZ 1990, 607 = ZfStrVo 1991, 121). Umgekehrt kann ein Gefangener durchaus diesen besonderen Belastungen standhalten, aber wegen Unverträglichkeit oder als Sonderling für die Unterbringung in einer Einrichtung des offenen Vollzuges ungeeignet sein (§ 10 Rdn. 7). Dies berücksichtigt (nunmehr) auch § 12 HmbStVollzG n. F. (vgl. Rdn. 31). Der Status des abstrakten Freigängers muss in jedem Einzelfall durch eine ausdrückliche Entscheidung nach § 11 begründet werden. Bei der Ausübung des Ermessens ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich um die Anordnung einer Behandlungsmaßnahme handelt, sodass insbesondere ihre Auswirkungen auf die Motivation zur weiteren Mitarbeit an der Erreichung des Vollzugszieles im Blick behalten werden müssen. Die Zulassung ist kein Selbstzweck. Entscheidungsbedarf entsteht nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit dem Wunsch des Gefangenen, (bereits) im Stadium der Arbeitsplatzsuche einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erlangen und/oder unabhängig von der konkreten Ausübung einer Beschäftigung im Freigang Sonderurlaub wie ein Freigänger nach § 15 Abs. 4 zu erhalten. Die Entscheidung ist in jeder Phase des Vollzuges nach denselben Gesichtspunkten zu treffen. Eine Unterscheidung zwischen einer Verleihung des Status in einem früheren Zeitpunkt und dem „Sonderfall“ während der Entlassungsphase (C/MD 2008 Rdn. 11 und § 15 Rdn. 6) ist nicht sachgerecht. Auch im letztgenannten Falle muss als Vorfrage entschieden werden, ob eine abstrakte Verleihung des Freigängerstatus angebracht ist (argumentum e VV Abs. 3 zu § 15: „zugelassen ist“). Im Hinblick darauf, dass die Verleihung des abstrakten Status auf jeden Fall Vorteile bringt, die die Motivation zur Begründung eines konkreten Beschäftigungsverhältnisses verringern, gleichzeitig aber erhebliche finanzielle Auswirkungen hat (auch Sonderurlaub kostet in der Regel Geld), kann in keinem Fall die bloße Eignung ausreichend sein (a. A. C/MD 2008 § 15 Rdn. 6; wohl auch OLG Celle LS ZfStrVo 1986, 377). Diese ist zwar stets notwendige, aber nie hinreichende Voraussetzung. Zusätzlich erforderlich ist, dass die Interessenlage des Gefangenen im Einzelfall eine Angleichung seiner Stellung an diejenige eines Freigängers gebietet (OLG Zweibrücken NStZ 1987, 247). Während des Zeitraums, in dem ein Gefangener sich mit Zustimmung des Anstaltsleiters einen Arbeitsplatz als Freigänger sucht, ist die Verleihung des abstrakten Freigängerstatus grundsätzlich nicht angebracht (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 25; C/MD 2008 Rdn. 10, allerdings wiederum nur bei Unterbringung im offenen Vollzug). Sie birgt vielmehr die große (z. B. vom KG NStZ 1993, 100 verkannte) Gefahr, dass die Motivation des Gefangenen, tatsächlich ein konkretes Beschäftigungsverhältnis zu suchen, sinkt, weil er unabhängig hiervon bereits mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III (vgl. BSG ZfStrVo 1992, 134 f = BlStV 1/1992, 1) oder Sonderurlaub entsprechend § 15 Abs. 4 (vgl. VV Abs. 3 zu § 15) stellen kann. Deshalb sollte in der Regel erst, wenn der Gefangene eine konkrete Arbeitsstelle gefunden hat und diese auch aus vollzuglicher Sicht für geeignet befunden wird, eine Zulassung zum Freigang erfolgen. Nunmehr kann Sonderurlaub nach § 15 Abs. 4 gewährt werden, sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, zumal auch die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses erlischt die Zulassung (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 25; wie hier C/MD 2008 Rdn. 12 und Laubenthal 2008 Rdn. 527, allerdings vom dortigen Standpunkt konsequenterweise auch insoweit auf den im geschlossenen Vollzug untergebrachten Gefangenen beschränkt). Es empfiehlt sich,
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dies bereits als auflösende Bedingung in die (Erst-)Zulassung aufzunehmen und ergänzend darauf hinzuweisen, dass eine Neuzulassung erst dann erfolgt, wenn dem Gefangenen unverschuldet gekündigt wurde, bzw. er im Benehmen mit der JVA das Arbeitsverhältnis gelöst hat und eine neue, geeignete Arbeitsstelle gefunden ist. In den Fällen, in denen ein Gefangener überhaupt nicht nach einer konkreten Arbeitsstelle sucht (Beispiele: Krankheit, Anerkennung als Rentner, Beschäftigung als Koch oder Hausarbeiter in einer Einrichtung des offenen Vollzugs, Teilnahme an einer Ausbildungsmaßnahme im geschlossenen Vollzug), sollte in jedem Einzelfall sehr sorgfältig geprüft werden, ob die Interessenlage tatsächlich eine Gleichstellung mit einem „konkreten“ Freigänger erfordert. Die „abstrakte“ Zulassung sollte restriktiv gehandhabt werden (im Wesentlichen wie hier K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 38 und Begemann 1991, 519, der treffend darauf hinweist, dass auch in Freiheit bislang niemand aus dem Gleichheitssatz die Forderung abgeleitet hat, bei Mangel an Arbeitsplätzen sei der Lohn ohne Arbeitsleistung zu zahlen). Ist der Strafgefangene indes „abstrakt“ zugelassen, verrichtet aber weiterhin „Gefangenenarbeit“, so schließt dies für diesen Zeitraum die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung aus, nicht aber Arbeitslosigkeit i. S. von § 119 Abs. 1 SGB III (zum alten Recht BayLSG vom 15.10.1998 – L 9 AL 385/96). Etwas anderes soll gelten, wenn der Gefangene lediglich in eine „Warteliste für Freigänger“ aufgenommen worden ist (BSG vom 21.11.2002 – B 11 AL 9/02 R; zum Ganzen vgl. auch BSG vom 16.10.1990 – 11 R Ar 3/90 = BSGE 67, 269). Eine während der Strafhaft – ohne Freigängerstatus – durchlaufene Ausbildung (z. B. Erlangung der Fachhochschulreife und nachfolgendes abgeschlossenes Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften) ist – aufgrund teleologischer Reduktion des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI – keine (vormerkbare) Rentenausbildungsanrechnungszeit, weil Strafgefangene nicht „wegen der Ausbildung ohne Verschulden“ (vgl. BSG, Urteil vom 24.10.1996 – 4 RA 52/95), sondern wegen der Strafhaft gehindert sind, eine versicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.9.2008 – L 10 R 4743/07). Hinsichtlich eines Anspruchs auf Grundsicherung für Arbeitssuchende (insbesondere Unterkunft) verhindert nur ein 15 Wochenstunden überschreitendes Beschäftigungsverhältnis oder eine selbständige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II; eine Beschäftigung über die JVA mit gemeinnützigen Arbeiten oder die bloße Feststellung der Eignung zum Freigang reichen hierfür nicht aus (LSG Berlin-Brandenburg v. 7.11.2006 – L 29 B 804/06 AS ER, FS 2007, 184; vgl. auch SG Aachen, FS 2007, 186; differenzierend für den offenen Vollzug SG Düsseldorf, FS 2007, 187). 11 In der Regel werden dem Freigänger folgende Weisungen (§ 14) erteilt: Rückkehr in die Anstalt zu bestimmter Zeit (unter Berücksichtigung des Hin- und Rückweges und eines Zuschlages zur Erledigung kleinerer persönlicher Angelegenheiten); kein Einbringen von Gegenständen in die Anstalt ohne Erlaubnis (Durchsuchung erforderlich, vgl. § 84); Nüchternheit bei Rückkehr, d. h. kein – oder jedenfalls kein übermäßiger – Alkoholgenuss (Kontrolle mittels Alcomat). Vgl. auch § 39 Rdn. 10. Nicht minder wichtig sind „flankierende“ Maßnahmen. Beispiele: Besuch von Selbsthilfegruppen wie „Anonyme Alkoholiker“; Vorsprache bei Beratungsstellen oder Teilnahme an einer ambulanten Therapie; Schuldenregulierung; Schadenswiedergutmachung. – Aus organisatorischen und vollzuglichen Gründen sollten Freigänger getrennt von anderen Gefangenen untergebracht werden; möglichst in einem besonderen Gebäude außerhalb der (Haupt-)Anstalt. Insbesondere in den „neuen“ Bundesländern ist die Realität des Justizvollzuges jedoch noch weit von diesen elementaren Erfordernissen entfernt (vgl. auch § 147). – Die Verpflegung der Gefangenen im Freigang sollte nach Möglichkeit in der Anstalt oder am Arbeitsplatz erfolgen. Der Besuch von Gaststätten zu diesem Zweck ist nicht nur wegen der Nähe zum dortigen Alkoholausschank problematisch, er stellt auch keine „wirtschaftliche“ Lebensweise dar. – Grundsätzlich muss der
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Freigänger täglich in die Anstalt zurückkehren, es sei denn der Anstaltsleiter gewährt ihm Urlaub. Unter Zugrundelegung eines äußerst strengen Maßstabs kann aber im Einzelfall ausnahmsweise auch eine mehrtägige „beschäftigungsbedingte“ Abwesenheit gestattet werden (z. B. kurzer Montageaufenthalt, Fortbildungsveranstaltung, ungünstige Arbeitszeiten am Wochenende im Gaststättengewerbe usw.). Rechtsdogmatisch handelt es sich dann jedoch um die (zusätzliche) Anordnung einer sonstigen Maßnahme i. S. d. Abs. 1 (vgl. Rdn. 12). Der Hin- und Rückweg zur Arbeitsstelle sollte nach Möglichkeit zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Ausnahmsweise kann hierfür auch das eigene Fahrzeug benutzt werden (vgl. dazu OLG Hamm BlStV 1/1981, 7; OLG Frankfurt NStZ 1991, 407). Zur Nichtberücksichtigung der Haftzeiten eines Freigängers bei der Berechnung der Fahrverbotsfrist des § 44 Abs. 4 Satz 2 StGB vgl. OLG Köln NStZ-RR 2008, 213 mwN. Zur Durchsuchungsbefugnis des Anstaltsleiters bezüglich eines vor den Toren der Anstalt geparkten Pkws eines Freigängers vgl. OLG Hamm NStZ 1996, 359. – Im Hinblick auf den großen Bewegungsspielraum eines Freigängers empfiehlt es sich, dass ein besonders geeigneter Vollzugsbediensteter ständigen Kontakt zu dem Arbeitgeber bzw. Lehrer unterhält, um über die Entwicklung des Gefangenen und sein Verhalten im Freigang ständig unterrichtet zu sein (vgl. VV Nr. 3 Abs. 2). – Zur Unterscheidung des Freigangs von elektronisch überwachtem Hausarrest vgl. Krahl NStZ 1997, 457 ff, 459. – Zum Selbstbehalteines gegenüber einem minderjährigen Kind unterhaltspflichtigen Freigängers vgl. OLG Hamm v. 14.1.2004 – 11 UF 89/03 (280 Euro plus ggf. zu tragender Haftkostenbeitrag). e) Weitere Lockerungen sind – wie sich aus der gesetzlichen Formulierung „nament- 12 lich“ ergibt – möglich: z. B. Ausgang mit Weisung (§ 14 Abs. 1), sich durch eine bestimmte Person begleiten zu lassen (§ 14 Rdn. 5); Außenbeschäftigung ohne Aufsicht als Kombination von Außenbeschäftigung und Freigang; Durchführung von Bildungs- und Freizeitveranstaltungen sowie Eheseminaren außerhalb der Anstalt mit oder ohne Anwesenheit von Bediensteten; ferner Aufenthalt in einem Übergangs- oder Freigängerhaus außerhalb der Anstalt (vgl. Übersicht bei AK-Lesting 2006 Rdn. 26 ff; C/MD 2008 Rdn. 3). Sind im Rahmen des Freigangs (Rdn. 9 ff), bei zur Erreichung des Vollzugsziels besonders angezeigten Bildungs- und Freizeitmaßnahmen oder bei seelsorgerischen Veranstaltungen (z. B. Rüstzeiten, § 54 Rdn. 10) Übernachtungen außerhalb der Anstalt erforderlich, muss hierzu nicht – auch wenn eine Begleitung durch Anstaltsbedienstetete nicht stattfindet – zusätzlich Urlaub gewährt werden. Vielmehr handelt es sich um eine „weitere Lockerung“ (so zutreffend Dopslaff in der krit. Anm. zu OLG Frankfurt NStZ 1986, 189 ff, hinsichtlich der Teilnahme an notwendigen mehrtägigen Seminaren im Rahmen eines Fernstudiums mit dem Ausbildungsziel „Dolmetscher“). Weitere selbständige Lockerungsformen hat die Praxis indes bisher nicht herausgebildet (so zutreffend K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 36). 2. a) aa) Der Gefangene muss der Lockerung zustimmen, und es darf nicht zu be- 13 fürchten sein, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen zu Straftaten missbrauchen werde. Diese Voraussetzungen sind geringer als die vom Bundesrat vorgeschlagenen (nämlich die Erwartung, dass die Lockerung nicht missbraucht werde). Maßgeblicher Ansatz ist dabei nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten eine entsprechende Gefahr besteht (dieser Gesichtspunkt ist vielmehr im Rahmen des Verfahrens nach §§ 57, 57a StGB zu beantworten), sondern es kommt entscheidend darauf an, ob zu befürchten ist, der Gefangene werde gerade die Gewährung von Lockerungen missbrauchen (OLG Karlsruhe StV 2002, 34 = NStZ 2002, 528 M). Wird die Ablehnung entscheidend darauf gestützt, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht alle Zweifel an der Zuverlässigkeit des Gefangenen aufgrund seines bisherigen Ver-
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haltens im Vollzug ausgeräumt seien, werden an die Voraussetzungen für Vollzugslockerungen allzu hohe Anforderungen gestellt (OLG Hamburg 10.11.1977 – 98 (Vollz) 115/77 – vgl. auch § 2 Rdn. 19). Die Prüfung nach Abs. 2 darf nicht schematisch erfolgen; wegen des unterschiedlichen Grades der Lockerungen des Abs. 1 sind auch Flucht- und Missbrauchsgefahr eigenständig und unter Anlegung unterschiedlicher Maßstäbe zu betrachten. Insbesondere darf eine Lockerung (z. B. Ausführung) nicht unter Hinweis auf noch fehlende Aussichten bezüglich der Gewährung weitergehender Maßnahmen (z. B. Urlaub) verweigert werden (OLG Hamm StV 2000, 214; vgl. auch LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 1; OLG Celle 8.2.1979 – 3 Ws 425/78). Dazu für Urlaubsgewährung § 13 Rdn. 13. Bei einer Ausführung beurteilt sich das Tatbestandsmerkmal der Fluchtgefahr danach, ob trotz dieser Sicherungsmaßnahmen die Gefahr des Entweichens des Strafgefangenen droht, etwa weil diese in Anbetracht der Gefährlichkeit des Strafgefangenen nicht ausreichend sind oder von außenstehenden Dritten gewalttätige Befreiungsaktionen drohen (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2007, 325). Zur Verantwortbarkeit des Risikos als Voraussetzung von Lockerungen vgl. Frisch 1990, 750 ff. Der Bundesrat hatte in seiner Gesetzesinitiative vorgeschlagen, die „allgemeine Eignung“ des Gefangenen als Voraussetzung für die Gewährung von Lockerungen und Urlaub in den Tatbestand des Abs. 2 aufzunehmen (BT-Drucks. 11/3694). Von diesem Vorschlag ist aber im Gesetzgebungsverfahren zu Recht Abstand genommen worden (vgl. AK-Lesting 2006 Rdn. 51).
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bb) Bei dem Versagungsgrund der Fluchtgefahr und Missbrauchsgefahr handelt es sich nach der überkommenen Rspr. um einen unbestimmten Rechtsbegriff, wobei der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen sei (BGHSt 30, 320 = NStZ 1982, 173; vgl. statt vieler außerdem z. B. KG ZfStrVo SH 1979, 13 oder OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 91). Seit einiger Zeit (etwa 1997) wird zunehmend die Frage gestellt, ob diese Betrachtungsweise nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Option einer vorzeitigen Entlassung (vgl. dazu oben Rdn. 1 und OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 61) verfassungsrechtlich zu kurz greift. Entscheidungen über die Fortdauer von Freiheitsentzug obliegen nach dem Grundgesetz ausschließlich der Judikative (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG), konkret in Gestalt der Vollstreckungsrichter (zum Ganzen instruktiv Kruis/Wehowsky 1998, 593, 594). Gewährt der „Vollzugsrichter“ nun dem Anstaltsleiter bei dessen Entscheidung über die (Nicht-)Gewährung von Lockerungen einen „Spielraum“, dürfte die Behörde („Exekutive“) so die Entscheidung des „Vollstreckungsrichters“ über eine vorzeitige Entlassung faktisch vorherbestimmen. Die Brisanz der Problematik spiegeln Anzahl und Inhalt folgender Entscheidungen des BVerfG aus jüngster Zeit wider: Entscheidung I: BVerfG vom 22.3.1998; lebenslange Freiheitsstrafe (StV 1998, 428 = NStZ 1998, 373 m. Anm. Wolf NStZ 1998, 590 und Dessecker BewHi 1998, 406); Entscheidung II: BVerfG vom 1.4.1998; Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren (StV 1998, 436 = NStZ 1998, 430 m. Anm. Schneider NStZ 1999, 157 und Besprechung Müller/Wulf ZfStrVo 1999, 3); Entscheidung III: BVerfG vom 24.10.1999; Freiheitsstrafe von 12 Jahren (NStZ 2000, 109 m. Anm. Kröber NStZ 2002, 613; krit. dazu auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311); Entscheidung IV: BVerfG vom 11.6.2002; Freiheitsstrafe von vier Jahren (ZfStrVo 2002, 372 = NStZ 2003, 592 M); Entscheidung V: BVerfG vom 5.2.2004; Sicherungsverwahrung (NJW 2004, 739); Entscheidung VI: BVerfG vom 30.4.2009; lebenslange Freiheitsstrafe (2 BvR 2009/08. Demnach darf sich der Richter im Verfahren nach §§ 57, 57a StGB nicht einfach „damit abfinden“, dass die Vollzugsbehörde dem Gefangenen keine Lockerungen gewährt hat. Er muss vielmehr „aufklären“, wieso der Anstaltsleiter die Basis der prognostischen Beurteilung des Richters nicht entsprechend „erweitert“ hat (Entscheidung I). Ggf. muss der Rich-
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ter z. B. (nach § 454a Abs. 1 StPO) einen künftigen Entlassungszeitpunkt so festlegen, dass der JVA noch die Möglichkeit verbleibt, die Entlassung durch Lockerungen vorzubereiten (Entscheidung I). Die Vollstreckungsgerichte müssen in den Blick nehmen, dass die Vollzugsbehörden bei ihrer Entscheidung über Lockerungen auch die Verpflichtung beachten müssen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (Entscheidung II). Nur wenn das Vollstreckungsgericht im Rahmen einer sorgfältigen Aufklärung zu dem Ergebnis gelangt, die Versagung von Lockerungen beruhe auf einer „tragfähigen Begründung“, darf es deren Nichtgewährung „in vollem Umfang“ zum Nachteil des Gefangenen verwerten (Entscheidung III). Zu beachten ist dabei, dass der Erprobung eines Strafgefangenen im Rahmen von Lockerungen zwar als kriminalprognostisches „Indiz“ eine erhebliche Bedeutung zukommen kann; Lockerungen sind jedoch von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung. Ggf. kann das Vollstreckungsgericht die Behörde darauf „hinweisen“, dass Lockerungen zur Vorbereitung der bedingten Entlassung „geboten erscheinen“ (Entscheidung IV). Wegen der besonderen Bedeutung der Vollzugslockerungen für die Prognosebasis „darf“ sich das Vollstreckungsgericht „nicht damit abfinden“, dass die Behörde (einem Sicherungsverwahrten) „ohne hinreichenden Grund“ Lockerungen versagt (Entscheidungen V und VI). Durch derartige „Appelle“ wird sich an der bisherigen (insoweit in weiten Teilen „verfassungswidrigen“) Praxis des „Schwarze-Peter-Spielens“ indes kaum etwas ändern. Der Richter der StVK wird (trotz „Richterprivilegs“ im Falle des Bewährungsversagens) ohne vorherige (gutgegangene) Lockerungen den Gefangenen nicht vorzeitig entlassen. Der (wenn nicht bereits von der „Zustimmung“ einer naturgemäß eher „ängstlichen“ Aufsichtsbehörde abhängige, so doch jedenfalls als Beamter bei fehlschlagenden Lockerungen disziplinarisch, im Amtshaftpflichtsfall unter Umständen sogar regressmäßig gefährdete) Anstaltsleiter wird Lockerungen „im Zweifelsfall“ eher nicht gewähren. Der Richter der StVK wiederum (nunmehr als „Vollzugs“-, stets als Einzel-, nicht selten als Proberichter tätig) wird – „Beurteilungsspielraum“ – den Anstaltsleiter kaum zur Lockerung eines (langstrafigen) Gefangenen (oder Sicherungsverwahrten) verpflichten. Eine Änderung der Praxis ist allenfalls vorstellbar, wenn das BVerfG explizit entsprechende Einschränkungen des Beurteilungsspielraumes der Exekutive bei Lockerungsentscheidungen postuliert bzw. zumindest darstellt, dass die Festlegung des Umfanges des hinzunehmenden Restrisikos bei Lockerungen (u. a. in Abhängigkeit von der Dauer bereits verbüßter Strafe) ausschließlich richterlicher Kompetenz unterfällt (wie hier Heghmanns 1999, 647, 664). – Zur vergleichbaren Problematik im Maßregelvollzug siehe z. B. LG Paderborn R&P 2002, 124 m. Anm. Lesting. – Zum „Schweizer Modell“ der (im Idealfall eine gleichzeitige Erhöhung der Risikobereitschaft und der Richtigkeitsgewähr bewirkenden) Bildung von Fachkommissionen zur Beurteilung „gemeingefährlicher“ Straftäter siehe Ermer/Dittmann 2001, 73 ff. Unbeschadet dessen behalten die „traditionellen“ gerichtlichen Prüfungsmaßstäbe der StVK hinsichtlich der Ermittlung des bestehenden Risikos nach wie vor Gültigkeit. Insoweit hat der BGH (BGHSt 30, 320) die zuvor umstrittene Frage, ob die StVK den Versagungsgrund in vollem Umfange nachzuprüfen hat und zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet ist, auf Vorlagebeschluss des OLG Hamm NStZ 1981, 198 dahin entschieden, dass die Vollstreckungskammer bei einem auf den Versagungsgrund gestützten Bescheid der Vollzugsbehörde nur zu prüfen hat, ob die Behörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat; nur in diesem Umfang ist sie zur Sachaufklärung verpflichtet. Zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts kann z. B. die
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Anhörung eines (früheren) Sachverständigen zum Verhalten des Verurteilten nach dem möglicherweise unberechtigten Abbruch früherer Vollzugslockerungen gehören (OLG Celle StV 2000, 571 = NStZ 2000, 464 M). Eine zwischenzeitlich erfolgte Fortschreibung des Vollzugsplanes lässt den Entscheidungsbedarf hinsichtlich eines zuvor gestellten konkreten Lockerungsantrages nicht entfallen (OLG Dresden NStZ 2000, 464 M). – Zu den einem strafrechtlichen Urteil vergleichbaren Begründungsanforderungen (§ 267 StPO vgl. OLG Celle StV 1999, 554).
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cc) Die Fluchtgefahr kann grundsätzlich nicht allein durch einen hohen Strafrest begründet werden (auch nicht in Verbindung mit drohender Abschiebung: OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 351). Er kann nur Ausgangspunkt für die Erwägung sein, ob der in ihm liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Strafgefangene werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (OLG Koblenz NStZ 1999, 444 M). Ein Erfahrungssatz, wonach bei hohen Strafresten erhöhte Fluchtgefahr besteht, existiert nicht (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 12; a. A.: ein beträchtlicher Strafrest kann ausschlaggebender Grund für eine auf Fluchtgefahr gestützte Entscheidung sein, KG ZfStrVo 1990, 119 = BlStV 4/5/1990, 13). Das Gesetz bietet auch keine Grundlage für eine allgemeine Entscheidungspraxis der Vollzugsbehörde, mit der Gewährung von Vollzugslockerungen frühestens zwei Jahre vor dem voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt zu beginnen (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 314). Das Bestreiten der Schuld darf nicht ohne weiteres als Indiz für Fluchtgefahr herangezogen werden. Andernfalls liefe z. B. das Recht, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, ins Leere. Entscheidend sind die konkreten Umstände und Argumente (OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 285; vgl. auch OLG Celle NStZ 2000, 464 M und LG Konstanz StV 2001, 34). Die Prognose einer Fluchtgefahr kann sich auch aus dem Hass des Gefangenen gegen jede staatliche Ordnung im Allgemeinen und den Vollzug im Besonderen ergeben (OLG Hamm BlStV 3/1990, 3). Die Vollzugsbehörde hat stets zu erwägen, ob etwaigen Missbrauchsbefürchtungen durch die Ausgestaltung der Lockerungen Rechnung getragen werden kann (OLG Karlsruhe StV 2002, 34 = NStZ 2002, 528 M). So kann im Einzelfall Anlass zu der Prüfung bestehen, ob Fluchtgefahr bei einem Ausgang dadurch ausgeräumt werden kann, dass den Gefangenen ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Verwandter begleitet (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 11). Die Vollzugsbehörde ist berechtigt und verpflichtet, vor der Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen die Eignung von Bezugspersonen (auch von nahen Angehörigen) zu überprüfen, wobei sie aber grundsätzlich nicht berechtigt ist, die Gewährung davon abhängig zu machen, dass die Bezugsperson sich in der Anstalt vorstellt und sich ihre Eignung als Betreuungsperson attestieren lässt (OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 120; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1983, 181, vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 249). Lehnen die Angehörigen oder der Gefangene selbst eine Überprüfung ab, so müssen bestehende Zweifel zu seinen Last gehen (vgl. auch Kimpel in Böhm/Schäfer 1989, 58; § 179 Rdn. 19). Auch muss die Anstalt prüfen, ob anstelle einer als ungeeignet befundenen eine geeignete Betreuungsperson zur Verfügung steht, wobei auch deren Persönlichkeit zu würdigen ist; war die Betreuungsperson einer Straftat verdächtig, so begründet allein die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gem. § 153a StPO noch nicht deren Eignung für die Betreuung des Gefangenen (OLG Frankfurt LS BlStV 2/1982, 3). Im Rahmen der Prognose einer Fluchtgefahr können auch Unklarheiten über den Verbleib der Beute aus der Straftat berücksichtigt werden (OLG Hamburg NStZ 1990, 510 = ZfStrVo 1992, 67).
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dd) Bei der Gefahr des Missbrauchs durch Begehung von Straftaten sind gem. § 2 Satz 2 (Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten; § 2 Rdn. 17 ff) grundsätzlich alle
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Straftaten zu berücksichtigen (a. A. Meißner 1988, 144 ff: nur Straftaten mit nicht wiedergutzumachendem Schaden). So hält das BVerfG NStZ 1982, 83 auch die Gefahr „verbaler Straftaten“ für geeignet, eine Ausführung zu versagen. Allerdings kann bei Gefahr von nur geringfügigen Straftaten (z. B. Verkehrsdelikten) das Resozialisierungsinteresse an der Gewährung der Lockerung überwiegen. Die Vollzugsbehörde muss im Einzelfall das Risikoeiner nahe- und fernliegenden Gefahr der Begehung leichter oder schwerer Straftaten prüfen. Vgl. auch § 2 Rdn. 20. Wegen der Unterscheidung zu § 81 vgl. dort Rdn. 7. Einen über die konkrete Missbrauchsgefahr hinausgehenden Versagungsgrund des Schutzes der Allgemeinheit sieht das Gesetz nicht vor (OLG Celle ZfStrVo 1984, 251). Zum Missbrauch von Vollzugslockerungen zu Straftaten aufgrund empirischer Untersuchungen in Niedersachsen in den Jahren 1991/92 vgl. von Harling 1997. Bei der Prognose, die im Rahmen des § 11 Abs. 2 vorzunehmen ist (vgl. zu den hier auftretenden Problemen OLG Celle StV 1988, 349 und Frisch 1988, 359 ff), sind alle Umstände in Betracht zu ziehen und daraufhin zu überprüfen, ob sie begründete Hinweise für eine Missbrauchsgefahr geben. In diesem Zusammenhang kann auch ein (noch) nicht rechtskräftig festgestelltes strafbares Verhalten gewürdigt und gegebenenfalls berücksichtigt werden (OLG Celle ZfStrVo 1981, 125), ebenso ein gem. § 154 StPO eingestelltes Verfahren, wobei die dort erhobenen Vorwürfe dann aber gegebenenfalls weiter aufgeklärt werden müssen (OLG Celle ZfStrVo 1982, 122). Andererseits kann ein bereits vor Jahren abgeschlossenes Strafverfahren, auch wenn es zur Verurteilung wegen einer während der Haft begangenen Tat geführt hat, nicht ohne weiteres zur Begründung von Missbrauchsgefahr herangezogen werden (OLG Celle 17.7.1989 – 1 Ws 200/89 StVollz), auch nicht ein gemäß § 153 StPO eingestelltes Verfahren, da hier offenbleibt, ob der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat oder nicht (OLG Celle LS BlStV 6/1986, 14). – Die Verneinung der Gefahr des Missbrauchs der Lockerungen ist nicht der günstigen Prognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB gleichzusetzen (HansOLG Hamburg StraFo 2007, 390). Der unter Bewährung stehende vorzeitig Entlassene ist trotz Führungsaufsicht in seiner Lebensgestaltung frei und unüberwacht und außerdem in ungleich größerem Maße Anfechtungen und Tatanreizen ausgesetzt (KG vom 8.11.1999 – 5 Ws 661/99). – Zur Verpflichtung der Vollzugsbehörde, stets zu erwägen, ob etwaigen Missbrauchsbefürchtungen nicht durch entsprechende Ausgestaltung der Lockerungen Rechnung getragen werden kann, siehe oben Rdn. 15. – Eine hohe Verschuldung des Gefangenen darf nicht ohne weiteres als Indiz für Missbrauchsgefahr herangezogen werden. Entscheidend sind die konkreten Umstände (OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 285; OLG Celle NStZ 2000, 464 M). Gleiches gilt für den Umstand anhaltender Tatleugnung (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 251; OLG Celle StV 2000, 572; OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 285; ähnlich auch LG Konstanz StV 2001, 34). ee) Welche konkreten Anforderungen an die Begründung einer ablehnenden Entschei- 17 dung zu stellen sind, ist eine Frage des Einzelfalles. Je schwieriger die Frage der Fluchtoder Missbrauchsgefahr ist, desto umfassender muss die Darstellung der abzuwägenden Umstände erfolgen; der pauschale Hinweis auf ein anhängiges Ausweisungsverfahren und hohen Strafrest genügt z. B. nicht (OLG Frankfurt NStZ 1983, 93). – Vollzugslockerungen können nicht allein mit der Begründung abgelehnt werden, dass erforderliche Bindungen „nach draußen“ fehlen; allerdings kann das Fehlen von Bindungen ein Indiz für das Vorliegen einer Flucht- und Missbrauchsgefahr sein. Der Anstaltsleiter muss in jedem Falle konkrete Tatsachen darlegen, die eine Überprüfung ermöglichen, ob er zu Recht eine solche Gefahr angenommen hat (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 15). Die gebotene umfassende Darstellung und Abwägung der gem. § 11 Abs. 2 maßgeblichen Kriterien muss einschließen eine Schilderung der Persönlichkeit des Gefangenen,
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dessen Entwicklung bis zur abgeurteilten Tat, die Art und Weise und die Motive der Tatbegehung sowie die Entwicklung und das Verhalten des Gefangenen nach der Tat und während der gesamten Vollzugsdauer (OLG Hamm 19.2.2008 – 1 Vollz (Ws) 904/07, 1 Vollz (Ws) 77/08; OLG Frankfurt LS BlStV 2/1982, 3; OLG Karlsruhe 18.2.1983 – 3 Ws 16/83 –; OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 376; OLG Celle ZfStrVo 1985, 249). Lehnt die Vollzugsbehörde es ab, einem Gefangenen Urlaub oder Vollzugslockerungen zu gewähren, weil die Gefahr der Flucht oder des Missbrauchs bestehe, muss sie die Prognoseerwägungen offenlegen. Dabei muss nicht nur gesagt werden, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde gelegt wird, sondern auch, welche Folgerungen die Behörde für das voraussichtliche Verhalten des Gefangenen aus diesen Tatsachen zieht. Finden sich sowohl Umstände, die für, als auch solche, die gegen den Gefangenen sprechen, muss zwischen ihnen abgewogen werden (OLG Celle ZfStrVo 1983, 301). Vgl. auch § 2 Rdn. 13. – Bei der gerichtlichen Überprüfung der Ablehnung von Vollzugslockerungen auf Grund der Befürchtung, der Gefangene werde sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen, kommt es auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (OLG Nürnberg StV 2000, 573). Sonst könnte z. B. ein zwischen Ablehnung des Antrages seitens der JVA und Entscheidung der StVK erfolgter Fluchtversuch im Rahmen einer Ausführung bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Urlaubsantrages nicht berücksichtigt werden (so deshalb auch OLG Dresden vom 20.1.1995 – 2 Ws 537/94; ebenso – früher – OLG Frankfurt NStZ 1986, 240); a. A. (es kommt auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Ablehnung durch die JVA an): OLG Celle NStZ 1989, 198; KG ZfStrVo 1989, 374; OLG Hamm NStZ 1991, 303 und StV 1997, 32 = NStZ-RR 1997, 63; OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 53 u. Vorauflage; vgl. – auch zum „Nachschieben von Gründen“ – OLG Koblenz ZfStrVo 1982, 123 und § 115 Rdn. 4).
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b) Die VV zu § 11 (wie auch zu § 13; dort Rdn. 15 ff) stellen für die Praxis bei der Entscheidung über die Gewährung von Lockerungen wichtige Richtlinien zur Handhabung des Gesetzes dar. Eine Übersicht über die Rechtsprechung zu den VV gibt Müller-Dietz NStZ 1981, 409 ff. Zur Rechtsnatur der VV: § 4 Rdn. 15 ff; § 115 Rdn. 23. Die Vorschriften sollen eine möglichst einheitliche Praxis gewährleisten (OLG Hamburg NStZ 1981, 237; § 4 Rdn. 17). Die schematisierende Einschränkung der den Vollzugsbehörden vom Gesetzgeber aufgegebenen Einzelfallprüfung durch die Verwaltungsvorschriften kann die Gerichte jedoch nicht binden. Gerichtlichen Überprüfungen halten daher nur solche Entscheidungen der Vollzugsbehörde stand, die unter freier Abwägung der Umstände getroffen sind, die für den Einzelfall von Bedeutung sein können (§ 115 Rdn. 19 ff). Ob die Voraussetzungen für eine Vollzugslockerung gegeben sind, erfordert eine Prognose, die durch die VV nicht ersetzt werden kann. Sie geben allerdings gewichtige Hinweise darauf, in welchen Fällen die Gefahr der Flucht und des Missbrauchs besonders nahe liegt (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 11). Die VV entbinden deshalb die Vollzugsanstalt nicht, in jedem Einzelfall die Bedeutung der in den VV aufgeführten Umstände zu gewichten (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 123).
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aa) Nach VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. b) sind Strafgefangene, gegen die Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebehaft angeordnet ist, ausnahmslos von Lockerungen (mit Ausnahme der Ausführung; sie kommt auch in Betracht für einen wegen Handels mit Betäubungsmitteln zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilten ausländischen Gefangenen – bei angeordneter Abschiebehaft – zur „psychischen Stabilisierung“ vgl. OLG Frankfurt NStZ 1984, 477) ausgeschlossen. Diese Auslegungsrichtlinie interpretiert den gesetzlichen Begriff der Flucht- oder Missbrauchgefahr zutreffend. In der Tat sind diese Lockerungen mit der Untersuchungs- (und der ihr gleichstehenden Auslieferungs-)haft nicht vereinbar. Vgl.
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auch Nr. 93 UVollzO. Für eine abweichende Einzelfallregelung ist deshalb kein Raum (vgl. auch § 13 Rdn. 16). bb) Hinsichtlich der in VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. a, c und d genannten Gefangenengrup- 20 pen, die grundsätzlich von Lockerungen ausgeschlossen sein sollen, sind nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde Ausnahmen zulässig. Das bedeutet für die Rechtsprechung – und infolgedessen auch für die Praxis des Vollzuges –, dass zwar die in den VV genannten Umstände als wichtige Hinweise auf eine mögliche Flucht- oder Missbrauchgefahr angesehen, aber im Rahmen einer sorgfältigen Prüfung des jeweiligen Einzelfalles gegen andere Gesichtspunkte abgewogen werden müssen. So schließt der Umstand, dass ein Gefangener gem. § 120 GVG vom OLG im ersten Rechtszug wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist (VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. a), für sich allein die Gewährung von Vollzugslockerungen nicht aus (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 16; AK-Lesting 2006 Rdn. 49; krit. zur VV-Regelung Baumann 1987). Für den Urlaub: § 13 Rdn. 17. Ist eine vollziehbare Ausweisungsverfügung ergangen, so bietet dies zwar konkreten Anlass für die Befürchtung, dass für den betreffenden Gefangenen ein Anreiz ausgeht, sich der weiteren Strafverbüßung durch Flucht ins Ausland oder Untertauchen zu entziehen (OLG Schleswig LS BlStV 6/1981, 7). Eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr, die sich auf eine bestehende Ausweisungsverfügung (VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. c) stützt, muss sich aber mit den konkreten Lebensumständen des Gefangenen und seiner Angehörigen auseinandersetzen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 249; OLG Celle ZfStrVo 1984, 251 und NStZ 2000, 615). Fluchtgefahr bei einem Ausländer bedeutet nicht unbedingt Gefahr einer Flucht ins Ausland. Ihre Annahme ist z. B. auch nicht zu beanstanden, wenn einem Gefangenen zwar in seinem Heimatland Nachteile drohen, andererseits aber die enge Bindung zu seiner in Deutschland lebenden Familie die Gefahr des Untertauchens auf deutschem Gebiet nahe legt (OLG Nürnberg BlStV 2/1994, 2). Der Ausschluss von Vollzugslockerungen allein mit dem Hinweis, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet ist (VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. d), begegnet Bedenken (OLG Frankfurt NStZ 1993, 427 B; vgl. auch § 130 Rdn. 4). Beachte auch Rdn. 17 bei § 13. cc) Die Mitwirkung anderer Stellen, wie Vollstreckungsbehörde, zuständiges Gericht 21 oder zuständige Ausländerbehörde, regelt VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 2. Durch die zum 1.1.1994 erfolgte Änderung der VV („des Benehmens“ statt „des Einvernehmens“) wird klargestellt, dass Ausländer- und Vollzugsbehörde unterschiedlicher Auffassung sein können und letztere nicht an die Stellungnahme der Ausländerbehörde gebunden ist. In der Praxis wird dies immer wieder verkannt (vgl. z. B. LG Hamburg StV 2001, 33). Zur Frage der Abwägung der widerstreitenden Interessen der Ausländerbehörde einerseits im Falle einer angeordneten Ausweisung gem. § 10 oder Abschiebung gem. § 13 Ausländergesetz sowie der Vollzugsbehörde andererseits bei der Frage der Gewährung von Vollzugslockerungen (VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. b und c) vgl. LG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 26). Die gemäß § 11 Abs. 2 zu stellende Prognose obliegt allein der JVA (OLG Celle BlStV 3/1992, 5). Einerseits hat sie wie jede staatliche Institution Akte anderer staatlicher Stellen zu respektieren, andererseits ist sie aber nicht an die Auffassungen und Entscheidungen der Ausländerbehörde gebunden (OLG Frankfurt NStZ 1983, 93; OLG Hamm NStZ 1985, 382). „Zuständiges Gericht“ ist wegen der Vollzugsnähe die Strafvollstreckungskammer (a. A. LG Freiburg BlStV 4/1977, 10: Durch die VV können keine gerichtlichen Kompetenzen begründet werden). Die Anhörungskompetenz des Gerichts überhaupt hält OLG Frankfurt NStZ 1982, 260 für unvereinbar mit dem Gesetz. Vgl. § 13 Rdn. 18. dd) Nach VV Nr. 7 Abs. 2 sind weitere Gefangenengruppen „in der Regel“ ungeeignet, 22 zu Außenbeschäftigung, Freigang oder Ausgang zugelassen zu werden. Solche generellen Thomas Ullenbruch
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Eignungsvorstellungen sind dem Bundesgesetz fremd (Rdn. 17; anders aber § 12 HmbStVollzG a. F.; vgl. Rdn. 31). Es kann deshalb auch hier nur darum gehen, bei Vorliegen der in den VV aufgeführten Sachverhalte die Flucht- oder Missbrauchsgefahr besonders sorgfältig zu bedenken (und das Prüfungsergebnis aktenkundig zu machen: VV Nr. 7 Abs. 3). Missbrauchsgefahr nach VV Nr. 7 Abs. 2 Buchst. a kann auch durch den Versuch begründet sein, suchtfördernde, aber nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterworfene Psychopharmaka in die Anstalt einzuschmuggeln (OLG München ZfStrVo 1980, 122). Das gleiche gilt, wenn ein Gefangener kurz vor dem Zeitpunkt einer begehrten Lockerung nachgewiesenermaßen Cannabis geraucht hat (OLG Hamm NStZ 1995, 381; vgl. auch OLG Saarbrücken NStZ-RR 2001, 283). Bei konkretem Verdacht auf BtM-Missbrauch kann die Gewährung von Ausgang einem Gefangenen versagt werden, der die Abgabe von Urinproben verweigert (LG Freiburg NStZ 1988, 151; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 47; vgl. auch § 4 Rdn. 26). Zur Alkoholabhängigkeit vgl. OLG Zweibrücken StV 1992, 589; zur Suchtgefährdung insgesamt § 13 Rdn. 22, 23. Ein früherer Fluchtversuch (vgl. VV Nr. 7 Abs. 2 Buchst. b) kann nach erheblichem Zeitablauf für sich allein noch keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr rechtfertigen, vielmehr ist die bisherige Entwicklung, die der Gefangene seitdem genommen hat, sorgfältig zu prüfen (OLG Celle LS ZfStrVo 1986, 115; wie hier auch AK-Lesting 2006 Rdn. 41). Ein solcher Fluchtversuch verliert mit herannahendem Entlassungszeitpunkt an Bedeutung. Auch einer fünf Jahre zurückliegenden verspäteten Rückkehr aus einem Urlaub kann im Zusammenhang mit einer nunmehr beantragten Ausführung kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden, zumal sich der Gefangene bei einem Urlaub in einer völlig anderen Situation befindet als bei einer Ausführung (OLG Hamburg NStZ 1990, 606). Wenn die Vollzugsbehörde sich auf „konkrete amtliche Erkenntnisse“ über einen geplanten Befreiungsversuch stützt, müssen diese unter Angabe der Beweismittel im einzelnen vorgelegt werden (OLG Celle BlStV 6/1986, 8). Zu den in VV Nr. 7 Abs. 2 Buchst. c erwähnten Sachverhalten vgl. § 13 Rdn. 25, 27. Ausländische Gefangene, denen ausländerrechtliche, ihren Aufenthalt in Deutschland beendende Maßnahmen drohen, sind von der Gewährung von Vollzugslockerungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen; die Versagungsgründe der Flucht- und Missbrauchsgefahr sind abschließend. Eine mögliche aufenthaltsbeendende Maßnahme vermag für sich genommen die Eignung nicht pauschal auszuschließen (BVerfG StV 2003, 677 mwN). Die Strafhaft darf nicht in rechtswidriger Weise in Abschiebehaft umfunktioniert werden (OLG Koblenz NStZ-RR 2008, 190; OLG Stuttgart StraFo 2004, 326). Bei derartigen Gefangenen ist einerseits eine besonders sorgfältige Prüfung der Ablehnungsgründe, insbesondere der Missbrauchsgefahr geboten (VV Nr. 7 Abs. 2 Buchst. d, vgl. OLG Schleswig LS BlStV 6/1981, 7; OLG Frankfurt BlStV 2/1992, 5). Andererseits können z. B. im Inland bestehende Bindungen eines Gefangenen zu seinen Familienangehörigen, die ihn regelmäßig in der Anstalt besuchen, ein Gegenindiz für das Bestehen von Fluchtgefahr darstellen. Geboten ist deshalb stets eine (auch gründlich dokumentierte) Einzelfallprüfung (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 350 vgl. auch LG Heilbronn, StV 2004, 276). Vgl. auch die mit Wirkung vom 1.1.1994 geänderte VV Nr. 6 Abs. 1 Buchst. c): Ausschluss von Lockerungen bei vollziehbarer Ausweisungsverfügung nur bei zugleich drohender Abschiebung. Wegen Urlaubsgewährung vgl. § 13 Rdn. 17 f. Die Befürchtung, dass auf Mitgefangene ein negativer Einfluss ausgeübt wird (VV Nr. 7 Abs. 2 Buchst. e), kann allein eine Ablehnung nicht begründen (so auch AK-Lesting 2006 Rdn. 57). Die Frage kann überhaupt bloß dort akut werden, wo Lockerungen zu weniger kontrollierten Begegnungen mit anderen Gefangenen führen, z. B. bei gemeinschaftlicher Außenbeschäftigung oder einem Gruppenausgang.
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ee) Bei Gefangenen, die wegen grober Gewalttaten oder wegen Straftaten gegen die 23 sexuelle Selbstbestimmung verurteilt sind, verpflichtet VV Nr. 7 Abs. 4 die Vollzugsbehörde zu besonders gründlicher Prüfung, da bei diesen Tätern eine höhere Gefahr des Missbrauchs der Lockerung (insbesondere bei Ausgang und Freigang) zur Begehung neuer Straftaten (vgl. § 11 Abs. 2) angenommen wird (vgl. – noch weitergehend – Art. 15 BayStVollzG, Rdn. 30, und § 16 NJVollzG, Rdn. 33). In Wahrheit soll hier wohl in solchen Fällen die empfindliche Reaktion der Öffentlichkeit berücksichtigt werden. Ein terroristischer Gewalttäter kann nicht zur Abgabe einer Gewaltverzichtserklärung verpflichtet werden. Bei der Beurteilung der Entwicklung seiner Persönlichkeit kann aber aus seiner Weigerung, sich von seiner früheren Einstellung zur Gewaltanwendung zu distanzieren, ein Anhaltspunkt für die Befürchtung hergeleitet werden, dass er an den Zielsetzungen der Bewegung, zu der er gehörte, noch immer festhalten will (KG ZfStrVo 1989, 374). Besondere Umstände der Straftaten – z. B. die bedenkenlose Rücksichtslosigkeit bei der Ausführung eines Raubes – sowie weiterbestehende Kontakte zum subkulturellen Milieu sind gewichtige Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Missbrauchsgefahr (OLG Hamm BlStV 4/5/1991, 9). Einem HIV-positiven Strafgefangenen können Vollzugslockerungen versagt werden, wenn aufgrund konkreter Tatsachen angenommen werden muss, er werde andere Personen mit dem Virus infizieren (OLG Frankfurt NStZ RR 1997, 30 = NStZ 1997, 381 B; vgl. zu dieser Problematik auch Schmuck ZfStrVo 1989, 165 ff, 171; Sigel ZfStrVo 1989, 156 ff, 161; Schäfer/Buchta ZfStrVo 1995, 323). Vgl. § 13 Rdn. 29, 33. ff) Die Bereitschaft des Gefangenen, bei der Erreichung des Vollzugszieles mitzu- 24 wirken, ist gem. VV Nr. 7 Abs. 1 Satz 2 zu berücksichtigen. Soweit hiermit gemeint ist, dass die Bereitschaft des Gefangenen, sich mit seinen Taten auseinander zu setzen und seine straffreie Zukunft verantwortlich zu planen und vorzubereiten, oft geeignet ist, die einer Lockerungsgewährung normalerweise entgegenstehenden, in den VV Nr. 6 Abs. 1, Nr. 7 Abs. 2 und 4 aufgeführten Umstände – und damit eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr – zu entkräften, entspricht die Vorschrift in besonderem Maße den Leitlinien des StVollzG. Freilich vermag, weil eine derartige Mitwirkungspflicht im Gesetz gerade nicht vorgesehen ist (§ 4 Abs. 1), die fehlende Bereitschaft für sich genommen die Versagung von Vollzugslockerungen wegen Missbrauchsgefahr nicht zu begründen (überaus problematisch deshalb § 12 HmbStVollzG; vgl. dazu Rdn. 31). Sie kann nur ein Gesichtspunkt (unter vielen) sein (OLG Koblenz NStZ 1999, 444 M; vgl. auch OLG Zweibrücken StV 1992, 589 bezogen auf den Umstand des Nichtantrittes einer stationären Langzeitbehandlung einer Alkoholabhängigkeit, ohne allerdings ausreichend herauszuarbeiten, dass hierdurch die Berufung auf eine infolge dieses Umstandes möglicherweise fortbestehende Missbrauchsgefahr wegen der nach wie vor nicht gelösten Suchtproblematik keinesfalls ausgeschlossen ist. Auch bei fehlender Auseinandersetzung des Gefangenen mit der abgeurteilten Straftat dürfen Vollzugslockerungen nur aufgrund konkreter Flucht- oder Missbrauchsbefürchtungen verweigert werden, nicht aufgrund eines angenommenen allgemeinen Risikos – zutreffend deshalb OLG Schleswig 4.10.2007 – 2 Vollz Ws 392/07 (212/07); zu weitgehend dagegen OLG Hamm NStZ 2004, 227; Versagung von Vollzugslockerungen wegen mangelnder Bereitschaft zur Erörterung der abgeurteilten, aber nach wie vor geleugneten Tat). Jedenfalls muss das Verhalten während der gesamten Dauer des Vollzuges berücksichtigt werden. Als Belohnung für Wohlverhalten sind Lockerungen allerdings nicht zulässig. Vgl. auch § 4 Rdn. 9 und § 13 Rdn. 31. – Bei noch zu kurzer Beobachtungszeit in der Anstalt, in der sich der Gefangene gegenwärtig befindet, muss sich die Vollzugsbehörde auch über das frühere Vollzugsverhalten unterrichten lassen (OLG Frankfurt LS BlStV 1/1982, 4). – Auch eine schlechte Führung des Gefangenen
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im Vollzug reicht – für sich betrachtet – als Versagungsgrund nach Abs. 2 nicht aus (OLG Celle BlStV 4/5/1990, 4).
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gg) Soweit die Aufsichtsbehörde nach VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 1 oder bei anderen bestimmten Fallgestaltungen nach den Ausführungsbestimmungen einiger Länder sich generell die Zustimmung zu einer Vollzugslockerung vorbehält, enthebt dies die Vollzugsbehörde nicht der Pflicht, die Umstände des konkreten Einzelfalles abzuwägen, ihre eigene Entscheidung auch offen zu legen und ggf. mitzuteilen, ob und mit welcher Begründung eine Zustimmung versagt worden ist (wie hier AK-Lesting 2006 Rdn. 71; vgl. auch § 13 Rdn. 30 und 47. Es handelt sich dann um eine Entscheidung, die der Vollzugsbehörde – und nicht der Aufsichtsbehörde – zugerechnet wird (vgl. § 110 Rdn. 5). Eine Befugnis der Aufsichtsbehörde, eine Entscheidung im Einzelfall an sich zu ziehen, ist nur für die Fälle von Gefahr im Verzuge anerkannt (vgl. § 24 Rdn. 21). Die Ausführungsbestimmungen einiger Länder sehen bei Erstentscheidungen eine alleinige Entscheidungszuständigkeit des Anstaltsleiters (ohne Delegationsbefugnis) sowie die Zustimmung der Aufsichtsbehörde vor (vgl. § 156 Rdn. 12), darüber hinaus auch allgemein für Zulassung zum Freigang bei Überschreiten einer bestimmten Frist zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt.
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c) Der Gefangene hat keinen Rechtsanspruch auf Gewährung von Vollzugslockerungen (vgl. die gesetzliche Formulierung „kann“ in Abs. 1), auch wenn weder Flucht- noch Missbrauchsgefahr besteht, sondern nur einen Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch, der sich in erster Linie an dem Vollzugsziel der Resozialisierung und am Stand des Behandlungsprozesses zu orientieren hat. So können z. B. außerhalb der Person des Gefangenen liegende Gründe für eine ablehnende Entscheidung maßgebend sein, z. B. Fehlen eines Arbeitsplatzes zur Beschäftigung im Freigang oder auch Fehlen von Bediensteten zur Beaufsichtigung einer Ausführung, wobei allerdings organisatorische und vollzugliche Belange sehr wohl abzuwägen sind. – Für Vollzugslockerungen ist auch dann, wenn die Ausschlussgründe des § 11 Abs. 2 nicht vorliegen, grundsätzlich nur Raum, wenn und soweit der Gefangene hierdurch hinsichtlich der Erreichung des Vollzugszieles gefördert werden kann (OLG München ZfStrVo 1979, 63). Hierzu zählt auch die Aufrechterhaltung des Kontaktes mit Angehörigen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit. Diesen Zweck erfüllen Lockerungsmaßnahmen auch bei Gefangenen, die nach der Vollstreckung oder nach Absehen von der weiteren Vollstreckung (§ 456a StPO) in ihr Heimatland abgeschoben werden sollen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 350). Bei der Entscheidung über den Freigang kann die Vollzugsbehörde auch prüfen, ob für die Maßnahme überhaupt ein echtes Bedürfnis besteht. So kann z. B. bei einem Gefangenen, der eine Strafe wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung verbüßt, ein Freigang zum Zwecke einer Bäckerlehre abgelehnt werden, wenn er in diesem Beruf auch in der Anstaltsbäckerei ausgebildet werden kann (OLG Schleswig BlStV 3/1980, 7). Es ist nicht ermessensfehlerhaft, wenn einem Sexualtäter zwar Urlaub gewährt, aber Freigang versagt wird (OLG Schleswig LS BlStV 6/1983, 7). Zur Berücksichtigung auch der Strafzwecke vgl. Rdn. 3. Die Vollzugsbehörde muss ihre Entscheidungen nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. § 115 Rdn. 20) treffen. In der Regel wird der Gefangene einen entsprechenden Antrag stellen, über den in angemessener Zeit entschieden werden muss (vgl. BVerfG NStZ 1985, 283 = StV 1985, 240; zur Amtshaftung bei Säumnis § 13 Rdn. 38). Dem Behandlungsgrundsatz entsprechend ist die Vollzugsbehörde unabhängig von einem Antrag des Gefangenen gehalten, ihn durch Lockerungen zu erproben, allerdings nicht schon dann, wenn solche aus psychologischer Sicht für vertretbar gehalten werden (OLG Hamburg LS BlStV 1/1986, 4). In diesen Fällen muss die Zustimmung des Gefangenen ein-
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geholt werden. Die Anordnung einer Lockerung ist aufzuheben, wenn der Gefangene die Zustimmung zurücknimmt (VV Nr. 8). Zur Problematik von „Zwangsausführungen“ vgl. § 12 Rdn. 2. 3. VV Nr. 5 betrifft die Entscheidung über Lockerungen im Vollzug der lebenslangen 27 Freiheitsstrafe. Wegen ihrer Tragweite ist diese Entscheidung in einer Konferenz nach § 159 vorzubereiten und darüber eine Niederschrift anzufertigen; bei Ausführung unter ständiger unmittelbarer Aufsicht sowie Außenbeschäftigung ist dies nach Nr. 5 Abs. 2 VV nicht zwingend vorgeschrieben, aber wegen der Folgewirkung für weitere Lockerungen zweckmäßig. Ob diese Konferenz vor Gewährung jeder erneuten Lockerung wiederholt werden muss, kommt auf den Einzelfall an. Selbstverständlich sind auch in anderen Fällen Konferenzen erforderlich, wenn die Entscheidung über Lockerungen als „wichtig“ i. S. des § 159 anzusehen ist (so z. B. auch dann, wenn Behandlungs- und Sicherheitsgesichtspunkte besonders sorgfältig abzuwägen sind und daher mehrere Bedienstete verschiedener Funktionen an der Entscheidung beteiligt werden sollen). Dass Ausgang und Freigang im Vollzug der lebenslangen Strafe gem. VV Nr. 5 Abs. 1 Satz 3 in der Regel nur unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 (dort Rdn. 41 ff) zulässig sind, d. h. nach zehnjähriger Vollzugszeit (etwas großzügiger § 13 Abs. 4 HS. 2 NJVollzG – 8 Jahre; vgl. Rdn. 32) oder nach Überweisung in den offenen Vollzug, bedeutet eine unzulässige Beschränkung. Eine Mindestverbüßungsdauer sieht das Gesetz weder für die Gewährung von Ausgang noch für Freigang vor (OLG Frankfurt StV 1993, 599; vgl. auch LG Heilbronn ZfStrVo 1983, 301; Arloth 2008 Rdn. 19; AK-Lesting 2006 Rdn. 50; C/MD 2008 Rdn. 20 und Baumann 1987; anders Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 10). – Zur Ablehnung von Lockerungen beim Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe bei einem Strafgefangenen, der an einer Persönlichkeitsstörung mit Borderline-Syndrom leidet und keine Bereitschaft zur Mitwirkung an einer Behandlung zeigt BVerfG NStZ 2002, 222. – Zur Frage, ob einem erst fünf Jahre im Vollzug der lebenslangen Strafe befindlichen Zahnarzt Vollzugslockerungen zum Zwecke der Weiterbildung in seinem Beruf gewährt werden können, vgl. OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 308. Hängt die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes gem. § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. mit § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nur noch von einer positiven Kriminalprognose ab, darf an die Gewährung von Vollzugslockerungen kein unverhältnismäßig strenger Maßstab angelegt werden, um dem Gefangenen, soweit vertretbar, eine Bewährung zu ermöglichen und ihn auf eine Entlassung vorzubereiten. Andernfalls bleibt dem Gefangenen eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance versperrt, die Freiheit überhaupt nochmals erlangen zu können (zur umfangreichen Rspr. des BVerfG hierzu vgl. Rdn. 14). Die Totalversagung jeglicher Vollzugslockerungen, die geeignet sind, den vorgenannten Zwecken zu dienen, kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn aufgrund konkreter Umstände zu befürchten ist, dass der Verurteilte bereits die begehrten Lockerungen nutzen wird, um neue und gewichtige Straftaten zu begehen (OLG Karlsruhe StraFo 2007, 519). Maßstab für Lockerungen ist bei einem Inhaftierten, der sich bereits mehr als 10 Jahre in Sicherungsverwahrung befindet, nicht, ob er im Falle seiner Entlassung noch gefährlich ist, sondern ob gewichtige konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, er werde Lockerungen zur Flucht oder zur Begehung von Straftaten missbrauchen, so dass sich selbst ein Einstieg in ein gestuftes Lockerungsprogramm verbietet (OLG Karlsruhe 16.10.2008 – 2 Ws 253/08). Diese verfassungsrechtliche Vorgabe muss insbesondere auch bei der konkreten Ausgestaltung einer (externen therapeutischen) Behandlung und der Frage, ob zur Durchführung derselben Vollzugslockerungen gewährt werden können, beachtet werden (OLG Karlsruhe StV 2002, 528 M). – Die Versagung einer Ausführung bei lebenslanger Strafe darf nicht darauf gestützt
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werden, dass ein bereits seit elf Jahren inhaftierter Gefangener aus Gründen der Schuldschwere (§ 57a StGB) einen langjährigen Freiheitsentzug zu erwarten habe und zu befürchten sei, dass er die Lockerung allein deshalb zur Flucht missbrauchen werde (BVerfG NStZRR 1998, 121 = ZfStrVo 1998, 180; vgl. auch OLG Karlsruhe StV 2004, 557). Im Übrigen kann es trotz erst in fernerer Zukunft anstehender Entlassung erforderlich sein, bei bereits sehr langer Zeit andauerndem Vollzug durch Gewährung von Vollzugslockerungen der Hospitalisierung entgegenzuwirken, um die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten (KG FS 2008, 42).
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4. Zu den strafrechtlichen Konsequenzen der Gewährung fehlschlagender Vollzugslockerungen vertritt Rössner 1984 zutreffend die Ansicht, dass Gefangenenbefreiung nicht in Frage kommt, weil vom Behandlungswillen getragene Lockerungen den amtlichen Gewahrsam im Sinne des § 120 StGB nicht aufheben, da der Gefangene mit spezifischen Freiheitsbeschränkungen in die Gesamtorganisation Strafvollzug integriert bleibt. Nach Kusch 1985 kann sich bei einer fehlgeschlagenen Lockerung der Vollzugsbedienstete, der die Lockerung rechtswidrig gewährt hat, nach §§ 258, 258a StGB wegen Strafvereitelung im Amt strafbar machen und, wenn die Lockerung von Gefangenen zu Straftaten missbraucht wurde, wegen Beteiligung an dieser Straftat. Insoweit wird es freilich meistens am Vorsatz der Bediensteten (auch in der Form des dolus eventualis) fehlen (so auch Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 27. Aufl., München 2006, § 258a Rdn. 14a, wonach zwar die vorschriftswidrige Gewährung von Vollzugserleichterungen innerhalb der Vollzugsanstalt keine Vereitelung der Strafvollstreckung ist, wohl aber die rechtswidrige Verschaffung von Vollzugslockerungen, weil dann der Gefangene, obwohl die Vollstreckung nicht unterbrochen werde, faktisch von jeder Vollstreckung freigestellt sei). Demnach wäre auch wegen Vollstreckungsvereitelung nach § 258a StGB (oder als Außenstehender nach § 258 StGB) strafbar, wer einem Gefangenen ein Scheinarbeitsverhältnis als Freigänger verschafft (LG Berlin NStZ 1988, 132 mit zu Recht krit. Anm. Ostendorf JZ 1989, 579). Nach Schaffstein kommt eine Verantwortlichkeit von Vollzugsbediensteten schon dann in Frage, wenn sich die missbrauchte Lockerung als fahrlässige Ermöglichung der vom Gefangenen begangenen neuen Straftat darstellt und wenn sie als solche strafbar ist. Dazu ist aber zu bemerken, dass z. B. bei einem vom Gefangenen begangenen Totschlag eine Verurteilung des Bediensteten gem. § 222 StGB eine Umgehung der Straflosigkeit der fahrlässigen Beihilfe darstellen würde (a. A. K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 62, der auf die Grundsätze des „erlaubten Risikos“ abstellt).Instruktiv zu den strafrechtlichen Folgen einer rechtswidrigen Lockerungsgewährung Arloth 2008 Rdn. 20 mwN. – Zur Strafbarkeit der Klinikärzte bei Straftaten des Untergebrachten während Ausgangs BGH NJW 2004, 23 ff m. Anm. Puppe NStZ 2004, 554 ff. Zur strafrechtlichen Haftung für falsche Prognosen im Maßregelvollzug siehe auch Verrel 2001. Zur Strafbarkeit wegen Gefangenenbefreiung durch Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik trotz richterlich angeordneter weiterer Unterbringung vgl. BGH NStZ 1991, 483. Die Vorgabe, einem Gefangenen Vollzugslockerungen nur zu gewähren, wenn nicht zu befürchten ist, dass er diese zu Straftaten missbraucht (Abs. 2), stellt eine „Amtspflicht“ i. S. d. § 839 Abs. 1 BGB dar. Jedes Opfer einer Gewaltstraftat eines gelockerten Gefangenen kann „Dritter“ i. S. dieser Vorschrift sein (OLG Karlsruhe NJW 2002, 445 m. Besprechung Ullenbruch 2002 und Anm. Pollähne R&P 2002, 41 f; anders noch Vorinstanz LG Karlsruhe R & P 2001, 158 und Vorauflage; a. A. auch OLG Hamburg ZfStrVo 1996, 243 m. Anm. Kubink ZfStrVo 1996, 374, Klesczewski NStZ 1996, 103 und Volckart StV 1996, 608: Zufallsopfer sind in den Schutzbereich der in erster Linie der Allgemeinheit dienenden Vorschrift nicht einbezogen). Nicht jeder Verstoß eines leitenden Beamten der JVA oder der Aufsichtsbehörde ge-
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gen ihre Amtspflicht aus Abs. 2 ist verwerfbar, d. h. fahrlässig (LG Bielefeld RuP 2004, 111 m. Anm. Lesting. Um die Folgen fehlgeschlagener Lockerungen, die zur Resozialisierung notwendig sind, aber auch bei sorgfältiger Prüfung mitunter misslingen können, nicht den zufälligen Opfern anzulasten, fordert der WEISSE RING in diesen Fällen um Schmerzensgeld und Ersatz des materiellen Schadens erhöhte Leistungen nach dem OEG (im Einzelnen hierzu Böhm 1990; Grützner 1990). Dieser Weg hätte den Vorteil, dass die Risikobereitschaft der für die Lockerungsentscheidungen Verantwortlichen nicht wegen befürchteter Inregressnahme wichtige Resozialisierungsmaßnahmen gefährdet. Auch die Legislative sollte sich endlich bewusst werden, dass Gefährdungen nicht nur durch eine (fehlerhafte) Gewährung von Vollzugslockerungen, sondern auch durch unzureichende Resozialisierungsbemühungen der Vollzugsbehörden entstehen können (so zutr. AK-Lesting 2006 Rdn. 2; vgl. auch OLG Hamburg StV 2005, 564 und – jüngst nunmehr ausdrücklich auch – BVerfG vom 30.4.2009, 2 BvR 2009/08, Rdn. 39). Zur Verantwortung des Staates für Mord durch beurlaubte Gefangene vgl. auch EGMR NJW 2003, 3259 ff (Mastromatteo/Italien). Zur Frage der Amtshaftung für Schäden, die ein Gefangener im Rahmen einer von der JVA veranstalteten Skifreizeit einem Dritten zufügt, vgl. Kofler/Wulf ZfStrVo 1992, 358 ff.
III. Landesgesetze 1. Bayern
29 Art. 13 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 11 StVollzG. Bei der Entscheidung über die Lockerungsgewährung mit zu beachten sind in Bayern zwei weitere Vorschriften, die im StVollzG keine Entsprechung haben: Zum einen Art. 4 BayStVollzG, der folgenden Wortlaut hat: „Der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten wird durch eine sichere Unterbringung und sorgfältige Beaufsichtigung der Gefangenen, eine gründliche Prüfung vollzugsöffnender Maßnahmen sowie geeignete Behandlungsmaßnahmen gewährleistet“ (ausf. dazu vgl. § 2 Rdn. 21). Zum anderen Art. 15 BayStVollzG, der folgenden Wortlaut hat: „Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzugs eine Strafe wegen einer schwerwiegenden Straftat gegen Leib oder Leben oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit Ausnahme der §§ 180a und 181a StGB vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, ist eine Unterbringung im offenen Vollzug, eine Lockerung des Vollzugs oder eine Gewährung von Urlaub aus dem Vollzug besonders gründlich zu prüfen. Bei der Entscheidung sind auch die Feststellungen im Urteil und die im Ermittlungs- oder Strafverfahren erstatteten Gutachten zu berücksichtigen“ (ausf. dazu vgl. § 10 Rdn. 15. Vgl. auch oben Rdn. 23. Vgl. dazu auch Kommentierung Rdn. 1 f. 2. Hamburg Das HmbStVollzG wurde unlängst überarbeitet. Lockerungen sind in § 12 HmbStVollzG 30 geregelt, Lockerungen aus wichtigem Anlass in § 13 HmbStVollzG (vgl. § 35 Rdn. 9), Lockerungen aus Anlass gerichtlicher Termine in § 14 HmbStVollzG (vgl. § 36 Rdn. 7), Lockerungen zur Vorbereitung der Entlassung in § 15 HmbStVollzG (vgl. § 15 Rdn. 13), die (Vorverlegung) der Entlassung in § 17 HmbStVollzG (vgl. § 16 Rdn. 11), die Freistellung von der Haft bei Todesnähe in § 64 HmbStVollzG. § 12 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut:
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Abs. 1 Satz 1 lautet: „Den Gefangenen kann als Lockerung des Vollzuges insbesondere erlaubt werden, 1. die Anstalt für eine bestimmte Tageszeit unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht (Ausgang) zu verlassen, 2. die Anstalt für die Dauer von bis zu 24 Kalendertagen in einem Vollstreckungsjahr zu verlassen (Freistellung von der Haft), 3. außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht (Freigang) nachzugehen, wenn sie hierfür geeignet sind. Geeignet sind Gefangene, wenn nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug entziehen oder die Lockerungen zu Straftaten missbrauchen werden. § 11 Absatz 3 gilt entsprechend.“ Zur Neufassung des Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 heißt es in der Gesetzesbegründung: „ [. . .] wird für die (regelhafte) Freistellung von der Haft ein Kontingent von 24 Kalendertagen festgesetzt. Erstens entfällt damit die in den derzeit geltenden §§ 40, 41 HmbStVollzG vorgesehene Verknüpfung der Regel-Haftfreistellung mit dem Institut der Freistellung von der Arbeitspflicht. Hierdurch werden insbesondere praktische Schwierigkeiten bei der Zuweisung von Arbeit berücksichtigt. Zweitens handelt es sich um eine Erweiterung des Kontingents um zwei Tage im Jahr, da nach den derzeit geltenden §§ 40, 42 HmbStVollzG nur eine Freistellung von der Haft an elf Tagen pro Halbjahr vorgesehen ist. Auf diese Weise soll der besonderen Bedeutung von Sozialkontakten für die Erreichung des Vollzugsziels Rechnung getragen werden“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 53). Zur Neufassung des Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 heißt es in der Begründung: „ [. . .] beschränkt den Freigang nicht mehr auf den offenen Vollzug bzw. die Außenstelle der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Zwar überschneiden sich die Kriterien der Eignung für den Freigang und für die Unterbringung im offenen Vollzug. Indes erscheinen Konstellationen denkbar, in denen Gefangene – etwa wegen therapeutischer Behandlungsmaßnahmen – ungeachtet ihrer Eignung für den offenen Vollzug verbleiben und gleichzeitig die Aufnahme einer Beschäftigung im Wege des Freigangs sinnvoll und trotz der Umstände im geschlossenen Vollzug möglich ist. Dies ist selten. Grundsätzlich wird die Genehmigung von Freigang nur im offenen Vollzug in Betracht kommen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 53). Abs. 1 Satz 2 lautet wie folgt: „§ 11 Absatz 3 gilt entsprechend“ (Begutachtung) Abs. 2 lautet wie folgt: „Lockerungen können versagt werden, wenn die Gefangenen ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Der Entwurf sieht ferner davon ab, Fallgruppen zur Konkretisierung der Eignung für Lockerungen gesetzlich festzuschreiben. Die Fallgruppen werden auf der Grundlage der Regelungen des derzeit geltenden § 12 Absatz 2 Satz 1 und Satz 2 HmbStVollzG in Verbindung mit dem derzeit geltenden § 11 Absätze 5 und 7 HmbStVollzG in einer allgemeinen Verfügung von der Aufsichtsbehörde festgesetzt werden. Die Verfahrensregelung des im Vollzug der Freiheitsstrafe anzuwendenden Teils des derzeit geltenden § 12 Absatz 2 Satz 2 HmbStVollzG in Verbindung mit dem derzeit geltenden § 11 Absatz 6 HmbStVollzG wird in Absatz 1 Satz 2 beibehalten. Nach dem im derzeit geltenden § 12 HmbStVollzG nicht enthaltenen Absatz 2 ist in die Ermessensentscheidung über Vollzugslockerungen aber auch der Gesichtspunkt einzubeziehen, ob die Gefangenen ihrer Pflicht nachkommen, an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken. Sollte dies nicht der Fall sein, wird mit diesen Gefangenen zunächst innerhalb des Vollzugs weiter zu arbeiten sein, bevor Lockerungen in Betracht zu ziehen sind. Keine entscheidende Bedeutung kommt diesem Kriterium aus Gründen der Verhältnismäßigkeit allerdings dann zu, wenn es beispielsweise um Vollzugslockerungen im Hinblick auf gezielte Maß-
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Lockerungen des Vollzuges
§ 11
nahmen zur Entlassungsvorbereitung geht. Die Absätze 1 und 2 stellen klar, dass die Gefangenen keinen Anspruch auf Vollzugslockerungen haben, sondern lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Das Ermessen erstreckt sich darauf, ob Vollzugslockerungen überhaupt gewährt werden und gegebenfalls zu welchem Zeitpunkt. Insbesondere ist zu berücksichtigen, inwieweit die Vollzugslockerung dazu dient, das Vollzugsziel zu erreichen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 53). § 12 Abs 2 HmbStVollzG aF hatte folgenden Wortlaut: „Die Eignung nach Absatz 1 Satz 2 ist in der Regel anzunehmen bei Gefangenen, 1. die an der Gestaltung ihrer Behandlung oder ihrer Erziehung und an der Erfüllung des Behandlungs- oder des Erziehungsauftrages nach Maßgabe des Vollzugsplanes mitwirken, 2. die im Vollzug der Freiheitsstrafe bis zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt nicht mehr als achtzehn Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen haben oder die sich einschließlich einer vorhergehenden Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung zehn Jahre im Vollzug befunden haben und 3.1 die keine unerlaubten Betäubungsmittel konsumieren oder 3.2 bei denen die Gefahr des unerlaubten Betäubungsmittelkonsums nicht mehr besteht und die über einen Zeitraum von regelmäßig drei Monaten ihre Betäubungsmittelabstinenz nachweisen. Im übrigen gilt § 11 Absätze 5 bis 7 entsprechend“. Abs. 3 lautet: „Durch die Freistellung von der Haft wird die Strafvollstreckung nicht unterbrochen“. Abs. 4 lautet: „Die Anstaltsleitung kann den Gefangenen Weisungen für Lockerungen erteilen“. Vgl. auch Rdn. 10, 22, 24. 3. Niedersachsen Das NJVollzG behandelt auch den Hafturlaub als Lockerung des Vollzuges und fasst 31 beide Maßnahmen in § 13 zusammen, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit §§ 11 Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie 13 Abs. 1 Satz 1 StVollzG; neu hinzugefügt werden die Nennung des Vollzugsziels der Resozialisierung und die Klarstellung, dass Urlaubsjahr das Vollstreckungsjahr ist. Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Als Lockerung des Vollzuges kann zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 mit Zustimmung der oder des Gefangenen namentlich angeordnet werden, dass die oder der Gefangene 1. außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht Vollzugsbediensteter (Freigang) nachgehen darf, 2. für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht Vollzugsbediensteter (Ausgang) verlassen darf oder 3. bis zu 21 Kalendertagen im Vollstreckungsjahr beurlaubt wird.“ In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 1 übernimmt die bisherigen Bestimmungen in § 11 Abs. 1 Nr. 1 und 2 und § 13 Abs. 1 Satz 1 StVollzG über die Lockerungen des Vollzuges und den Urlaub aus der Haft. Dadurch kann zukünftig neben Außenbeschäftigung, Freigang, Ausführung und Ausgang namentlich der Urlaub aus der Haft als Lockerungsmaßnahme angeordnet werden. Der Vollzugsbehörde wird nunmehr – wie die Formulierung „zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Absatz 1“ in der Entwurfsvorschrift des Absatzes 2 verdeutlicht – die Möglichkeit eröffnet, auch die Gewährung und inhaltliche Ausgestaltung von Urlaub am Resozialisierungsziel auszurichten und
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mit der übrigen vollzuglichen Planung in Einklang zu bringen“ (LT-Drucks. 15/3565, 101; vgl. auch Rdn. 1). Abs. 2 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 11 Abs. 2 und § 13 Abs. 1 Satz 2 StVollzG; lediglich das Zustimmungserfordernis entfällt an dieser Stelle, jedoch nicht ersatzlos (s. o. Abs. 1). Abs. 3 Satz 1 hat folgenden Wortlaut: „Ausgang und Freigang sollen erst angeordnet werden, wenn hinreichende Erkenntnisse über die Gefangene oder den Gefangenen vorliegen, aufgrund derer verlässlich beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen des Absatzes 2 im Einzelfall gegeben sind; dabei sind die Vollzugsdauer und die Länge des davon bereits verbüßten Teils zu berücksichtigen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 3 Satz 1 [. . .] bestimmt, dass im geschlossenen Vollzug Ausgang und Urlaub nur angeordnet werden sollen, wenn unter Berücksichtigung der noch verbleibenden Vollzugsdauer und der bereits verbüßten Strafzeit hinreichende Erkenntnisse über das Nichtbestehen einer Flucht- und Missbrauchsgefahr vorliegen. [. . .] verzichtet – wie in § 13 Abs. 2 StVollzG bzw. Nummer 4 Abs. 2 Buchst. a der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 13 StVollzG vorgesehen – auf die Festschreibung einer Mindestvollzugsdauer bzw. einer Reststrafenregelung, um die Vollzugsbehörden bei der Gewährung von Lockerungen nicht von vornherein an Fristen zu binden. Stattdessen geht [. . .] davon aus, dass Lockerungsentscheidungen der Resozialisierung und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dann hinreichend Rechnung tragen, wenn die Vollzugsbehörde in die Lage versetzt wird, Lockerungen auf der Grundlage eines ausreichenden Beobachtungszeitraumes und einer aussagekräftigen Tatsachenermittlung zu planen bzw. zu gewähren oder zu versagen. Hierbei soll sie sich in geeigneten Fällen, namentlich bei Tötungs- und Sexualdelikten, auch – wie im niedersächsischen Justizvollzug bereits üblich – interdisziplinärer Begutachtungen bedienen [. . .]“ (LTDrucks. 15/3565, 101). Abs. 3 Satz 2 hat folgenden Wortlaut: „Urlaub soll erst angeordnet werden, wenn sich die oder der Gefangene im Ausgang oder Freigang bewährt hat“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Satz 2 sieht vor, dass Urlaub im geschlossenen Vollzug erst gewährt werden soll, wenn sich die Gefangenen in Ausgang oder Freigang bewährt haben. Diese Regelung ersetzt insoweit die sechsmonatige Regelsperrfrist nach § 13 Abs. 2 StVollzG, lässt es aber als Sollvorschrift in begründeten Fällen zu, Urlaub auch ohne eine Bewährung in Ausgang oder freigang anzuordnen“ (LT-Drucks. 15/3565, 102). Abs. 4 HS. 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 13 Abs. 3 StVollzG; neu hinzugefügt wird im Absatz 4 Halbsatz 2 eine weitere Einschränkung bezüglich zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener mit folgendem Wortlaut: „für Ausgang und Freigang gilt in der Regel eine Sperrfrist von acht Jahren“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 4 Halbsatz 1 [. . .] entspricht der Regelung des § 13 Abs. 3 StVollzG und normiert für zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene eine Mindestvollzugsdauer von zehn Jahren, bevor sie beurlaubt werden können. [. . .] geht davon aus, dass für Gefangene, die sich im offenen Vollzug befinden, eine Sperrfrist wie bisher nicht erforderlich ist“ (LT-Drucks. 15/3565, 102). Abs. 5 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 13 Abs. 4 StVollzG. Abs. 6 ist inhalts- und wortgleich mit § 13 Abs. 5 StVollzG. 32 Bei der Lockerungsgewährung zu beachten ist in Niedersachsen eine weitere Vorschrift, die im StVollzG keine Entsprechung hat. Nach § 16 NJVollzG bedarf es bei bestimmten Gefangenengruppen der vorherigen Begutachtung (vgl. § 10 Rdn. 17). Siehe auch Kommentierung oben Rdn. 1, 2, 9, 23 und 27.
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§ 12
Ausführung aus besonderen Gründen
§ 12 Ausführung aus besonderen Gründen Ein Gefangener darf auch ohne seine Zustimmung ausgeführt werden, wenn dies aus besonderen Gründen notwendig ist. VV Die VV Nummer 4 zu § 11 StVollzG und die VV zu § 35 StVollzG sind zu beachten. Schrifttum: s. bei § 11
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . II. Erläuterungen . . . . . . . 1. Keine Vollzugslockerung 2. Besondere Gründe . . . 3. Ermessen . . . . . . . . 4. Sicherungsmaßnahmen
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Rdn. 5. Neuregelung III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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I. Allgemeine Hinweise Terminologie und systematische Stellung der Vorschrift sind misslungen. Eine Locke- 1 rung des Vollzuges ohne Zustimmung des Gefangenen kommt nicht in Betracht (Rdn. 2). Als Anwendungsfall denkbar ist lediglich eine zwangsweise Vorstellung bei einem externen Facharzt (Rdn. 3). Diese sollte an anderer Stelle geregelt werden (Rdn. 6).
II. Erläuterungen 1. Eine Ausführung ohne die Zustimmung des Betroffenen stellt im Bereich der 2 §§ 11 ff einen Widerspruch in sich dar. Unter Ausführung versteht der Gesetzgeber ausdrücklich die Anordnung, dass der Gefangene für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht verlassen „darf“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt.), nicht „muss“. Das Element der Freiwilligkeit wird in § 11 Abs. 2 nochmals bekräftigt („mit Zustimmung“). Eine „Zwangsausführung“ stellt deshalb überhaupt keine Vollzugslockerung dar (a. A. C/MD 2008; wie hier Laubenthal 2003 Rdn. 532; ähnlich auch Arloth 2008 Rdn. 1). Folglich kann § 12 auch nicht als Ausnahme zu § 11 verstanden werden (so aber wohl immer noch AK-Lesting 2006 Rdn. 1). Eine Anordnung, wonach der Gefangene die Anstalt für eine bestimmte Tageszeit unter Aufsicht verlassen muss, würde sich im Übrigen als Behandlungsmaßnahme im Rahmen der §§ 7, 11 auch mit Rücksicht auf den Mitwirkungsgrundsatz des § 4 Abs. 1 von vornherein verbieten (ebenso C/MD 2008). Vgl. auch § 4 Rdn. 4, § 11 Rdn. 13, 26). Die Herausnahme der Regelung aus dem Kontext der Regellockerungen im BayStVollzG ist deshalb konsequent. Die dortige Übernahme in den Bereich der „Lockerung“ aus wichtigem Anlass (Art. 37 Abs. 4; vgl. dazu § 35 Rdn. 8) löst das Problem indes nicht. Auch hierbei handelt es sich nicht um die „systematisch richtige Stelle“ (so aber Arloth 2008 Art. 37 BayStVollzG). Zur richtigen Lokalisation siehe unten Rdn. 6. 2. Als besonderer Grund kommt ausschließlich die (seltene) Fallkonstellation in Be- 3 tracht, dass ein Gefangener aus gesundheitlichen Gründen dringend ambulant einem
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§ 12
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Arzt außerhalb der Anstalt vorgestellt werden muss (zur stationären Aufnahme s. § 65 Abs. 2), er hierzu jedoch nicht bereit ist (vgl. dazu bereits RegE, S. 52). Eine Ausführung gem. § 35 Abs. 3 Satz 1 scheidet in derartigen Fällen aus. Zwar verzichtet die Vorschrift im Unterschied zu §§ 11 Abs. 2 und 36 Abs. 2 Satz 1 auf eine ausdrückliche Erwähnung des Zustimmungserfordernisses, dieses ist jedoch bereits im Begriff der Ausführung enthalten (s. o. Rdn. 2). Zum Ermessen des Anstaltsleiters („darf“) s. Rdn. 4. – Die Wahrnehmung eines Gerichtstermins stellt keinen besonderen Grund dar (wie hier Arloth 2008 Rdn. 2). Die Gegenansicht (Laubenthal 2003 Rdn. 532; vgl. auch SA, S. 1794) übersieht, dass es insoweit eine abschließende Spezialvorschrift gibt. Gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 kommt eine Ausführung nur dann in Betracht, wenn der Gefangene selbst unter Vorlage einer Ladung die Teilnahme an einem gerichtlichen Termin beantragt oder das Gericht die Anstalt darum ersucht, ihm diese zu ermöglichen, der Gefangene dem auch Folge leisten will, obwohl Ausgang oder Urlaub nicht gewährt wird und schließlich wegen Entweichungs- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) keine überwiegenden Gründe entgegenstehen. Besteht eine entsprechende Gefahr oder will der Gefangene an dem gerichtlichen Termin nicht teilnehmen, ist eine Ausführung ausgeschlossen. Ohne Zustimmung des Gefangenen kommt eine Wahrnehmung des Termins dann nur in Form einer Vorführung gem. § 36 Abs. 2 Satz 2 in Betracht. Voraussetzung hierfür ist ein entsprechendes Ersuchen des Gerichtes unter Vorlage eines sog. Vorführungsbefehles (Einzelheiten § 36 Rdn. 2 ff).
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3. § 12 ermächtigt (oder verpflichtet) den Anstaltsleiter nicht in jedem Falle dringender medizinischer Notwendigkeit auch zur Veranlassung einer zwangsweisen Vorstellung bei einem externen Arzt. Die Anordnung stellt vielmehr eine Zwangsmaßnahme (Ortsveränderung) mit dem alleinigen Ziel der Ermöglichung einer anderen Zwangsmaßnahme (medizinische Untersuchung oder Behandlung) dar. Ihre Zulässigkeit richtet sich deshalb nach den Voraussetzungen der Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (im Einzelnen dazu § 101 Rdn. 13 ff).
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4. VV zu § 12 weist auf VV Nr. 4 zu § 11 und VV zu § 35 hin. Demnach sind Vorkehrungen zur Verhinderung einer Flucht zu treffen, z. B. in Form der Beaufsichtigung durch besonders geeignete Bedienstete oder der Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (zur Fesselung vgl. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2).
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5. Zwangsweise Vorstellungen von Gefangenen bei externen Fachärzten spielen in der vollzuglichen Praxis keine große Rolle. So wurde z. B. in der JVA Freiburg (durchschnittlich etwa 600 Strafgefangene) in den mehr als 30 Jahren seit Inkrafttreten des StVollzG nicht ein einziges Mal von der Ermächtigung gem. § 12 Gebrauch gemacht. Die Regelung ist jedoch nicht völlig überflüssig. Der einzig denkbare Anwendungsfall (Rdn. 3) sollte jedoch an der systematisch richtigen Stelle (mit-)geregelt werden, indem in die Vorschriften über Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge z. B. folgende (kursiv gedruckte) Ergänzung aufgenommen wird: „Medizinische Untersuchung und Behandlung (einschließlich der gegebenenfalls hierfür erforderlichen Vorstellung bei einem externen Facharzt) [. . .]“ (§ 101 Abs. 1 Satz 1).
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Urlaub aus der Haft
§ 13
III. Landesgesetze 7
1. Bayern Vgl. § 35 Rdn. 8 (zu Art. 37 Abs. 4 BayStVollzG). 2. Hamburg
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Im HmbStVollzG ist eine vergleichbare Regelung nicht enthalten. 3. Niedersachsen
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Vgl. § 35 Rdn. 10 (zu § 14 Abs. 4 NJVollzG).
§ 13 Urlaub aus der Haft (1) Ein Gefangener kann bis zu einundzwanzig Kalendertagen in einem Jahr aus der Haft beurlaubt werden. § 11 Abs. 2 gilt entsprechend. (2) Der Urlaub soll in der Regel erst gewährt werden, wenn der Gefangene sich mindestens sechs Monate im Strafvollzug befunden hat. (3) Ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener kann beurlaubt werden, wenn er sich einschließlich einer vorhergehenden Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung zehn Jahre im Vollzug befunden hat oder wenn er in den offenen Vollzug überwiesen ist. (4) Gefangenen, die sich für den offenen Vollzug eignen, aus besonderen Gründen aber in einer geschlossenen Anstalt untergebracht sind, kann nach den für den offenen Vollzug geltenden Vorschriften Urlaub erteilt werden. (5) Durch den Urlaub wird die Strafvollstreckung nicht unterbrochen. VV 1 Urlaub wird nur an einem Ort innerhalb des Geltungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes gewährt. 2 (1) Der Urlaub kann aufgeteilt werden. Urlaubstage sind alle Kalendertage, auf die sich der Urlaub erstreckt; der Tag, an dem der Gefangene den Urlaub antritt, wird nicht mitgerechnet. (2) Urlaubsjahr ist das Vollstreckungsjahr. Der Urlaub ist nicht in das nächste Jahr übertragbar. Dies gilt nicht, wenn der Urlaub aus Gründen, die die Vollzugsbehörde zu vertreten hat, nicht rechtzeitig gewährt werden konnte. (3) Auf jeden angefangenen Kalendermonat der voraussichtlichen Vollzugsdauer entfallen im Rahmen der Höchstdauer (§ 13 Abs. 1 StVollzG) in der Regel nicht mehr als zwei Tage Urlaub. (4) Zeiten, in denen der Gefangene die Voraussetzungen für eine Beurlaubung noch nicht erfüllt, (§ 13 Abs. 2 StVollzG), können bei der Berechnung des Urlaubs berücksichtigt werden. Für Zeiten, in denen der Gefangene für eine Beurlaubung nicht geeignet ist, soll ihm Urlaub in der Regel nicht gewährt werden. 3 (1) Vom Urlaub ausgeschlossen sind Gefangene, a) gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe vollzogen wurde oder zu vollziehen ist,
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
welche gemäß § 74a GVG von der Strafkammer oder gemäß § 120 GVG vom Oberlandesgericht im ersten Rechtszug verhängt worden ist, b) gegen die Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebungshaft angeordnet ist, c) gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes besteht und die aus der Haft abgeschoben werden sollen, d) gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine sonstige Unterbringung gerichtlich angeordnet und noch nicht vollzogen ist. (2) In den Fällen des Absatz 1 Buchstaben a, c und d sind Ausnahmen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. In den Fällen des Buchstabens a ist die Vollstreckungsbehörde, des Buchstabens d das zuständige Gericht zu hören; in den Fällen des Buchstabens c bedürfen Ausnahmen des Benehmens mit der zuständigen Ausländerbehörde. 4 (1) Urlaub darf nur gewährt werden, wenn der Gefangene für diese Maßnahme geeignet, insbesondere ein Missbrauch nicht zu befürchten ist. Bei der Entscheidung ist zu berücksichtigen, ob der Gefangene durch sein Verhalten im Vollzug die Bereitschaft gezeigt hat, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken. (2) Ungeeignet sind in der Regel namentlich Gefangene, a) die sich im geschlossenen Vollzug befinden und gegen die bis zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt noch mehr als achtzehn Monate Freiheitsstrafe zu vollziehen sind, b) die erheblich suchtgefährdet sind, c) die während des laufenden Freiheitsentzuges entwichen sind, eine Flucht versucht, einen Ausbruch unternommen oder sich an einer Gefangenenmeuterei beteiligt haben, d) die aus dem letzten Urlaub oder Ausgang nicht freiwillig zurückgekehrt sind oder bei denen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass sie während des letzten Urlaubs oder Ausgangs eine strafbare Handlung begangen haben, e) gegen die ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist. (3) Ausnahmen von Absatz 2 können zugelassen werden, wenn besondere Umstände vorliegen; die Gründe hierfür sind aktenkundig zu machen. In den Fällen des Buchstabens e ist die zuständige Behörde zu hören. (4) Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe wegen grober Gewalttätigkeiten gegen Personen, wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Handels mit Stoffen im Sinne des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vollzogen wurde oder zu vollziehen ist oder die im Vollzug in den begründeten Verdacht des Handels mit diesen Stoffen oder des Einbringens dieser Stoffe gekommen sind, bedarf die Frage, ob eine Beurlaubung zu verantworten ist, besonders gründlicher Prüfung. Dies gilt auch für Gefangene, über die Erkenntnisse vorliegen, dass sie der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. 5 (1) Der Gefangene darf in der Regel nicht in eine soziale Umgebung oder zu Personen beurlaubt werden, von denen aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu befürchten ist, dass sie seiner Eingliederung entgegenwirken. (2) Der Gefangene hat seine Urlaubsanschrift anzugeben. 6 (1) Der Gefangene tritt den Urlaub in eigener Kleidung an. (2) Reisekosten, Lebensunterhalt und andere Aufwendungen während des Urlaubs hat der Gefangene aus Mitteln des Haus- oder Eigengeldes zu tragen. Nummer 2 Abs. 1 der VV zu § 51 StVollzG gilt ent-
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Urlaub aus der Haft
§ 13
sprechend. Soweit die eigenen Mittel des Gefangenen nicht ausreichen, kann eine Beihilfe für die Urlaubszeit aus staatlichen Mitteln gewährt werden. (3) Für Art und Umfang einer Beihilfe für die Urlaubszeit gilt § 75 StVollzG entsprechend. 7 (1) Urlaub wird nur auf Antrag gewährt. Der Antrag soll einen Monat vor Urlaubsbeginn schriftlich gestellt werden. (2) Die Gründe für die Ablehnung des Antrags sind aktenkundig zu machen und dem Gefangenen bekannt zu geben. (3) Die Entscheidung über die Beurlaubung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen ist in einer Konferenz nach § 159 StVollzG vorzubereiten, wenn die Voraussetzungen für eine Urlaubsgewährung nach § 13 Abs. 3 StVollzG vorliegen. Über die Konferenz ist eine Niederschrift zu fertigen; gutachtliche Äußerungen sind aktenkundig zu machen. Die Beurlaubung bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. 8 (1) Der beurlaubte Gefangene erhält einen Urlaubsschein. In dem Urlaubsschein sind Weisungen, soweit erforderlich, aufzuführen. (2 Vor Antritt des Urlaubs ist der Gefangene namentlich über die Voraussetzungen des Widerrufs und der Rücknahme des Urlaubs sowie die Bedeutung der ihm erteilten Weisungen zu belehren. Schrifttum: s. bei § 11
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1–6 1. Bedeutung des Urlaubs . . . . . 1 2. Abgrenzung zum Sonderurlaub 2 3. Nur im Geltungsbereich des StVollzG . . . . . . . . . . . . 3 4. Keine Unterbrechung der Strafvollstreckung . . . . . . . . . . 4 5. Abgrenzung zur Strafunterbrechung . . . . . . . . . . . . 5 6. Ermessensentscheidung . . . . 6 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 7–47 1. Bemessung des Urlaubs (§ 13 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . 7–10 a) 21 Kalendertage im Jahr . . . 7 b) Vollstreckungsjahr, Übertragbarkeit . . . . . . . . . . . . 8 c) Keine Sonderregelung für geschlossenen Vollzug . . . . 9 d) Berechnung nach Verbüßungszeit (VV Nr. 2 Abs. 3) . . . . . 10 2. Voraussetzungen der Urlaubsgewährung . . . . . . . . . . . 11–40 a) allgemein . . . . . . . . . . 11–14 aa) Sechsmonatsgrenze (§ 13 Abs. 2) . . . . . . . 12 bb) Flucht- oder Missbrauchs-
Rdn. gefahr (§13 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 11 Abs. 2) . . . . cc) Abwägung der Umstände im Einzelfall . . . . . . . b) VV Nr. 3 und 4 als tatbestandsinterpretierende Richtlinien . aa) VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. b . bb) VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. a, c und d . . . . . . . . . . cc) Zustimmungserfordernisse nach VV Nr. 3 Abs. 2 dd) VV Nr. 4 Abs. 2 . . . . . . (1) Reststrafenregelung . (2) Suchtgefahr . . . . . (3) Flucht, Ausbruch . . (4) Früherer Lockerungsmissbrauch . . . . . (5) Verdacht neuer Straftaten . . . . . . . . . ee) gefährliche Gefangenengruppen (VV Nr. 4 Abs. 4) ff) Zustimmung der Aufsichtsbehörde . . . . . . gg) Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels und Verhalten im Vollzug
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Rdn.
c) Ermessensentscheidung . . . 33–40 aa) Aufteilung des Urlaubs (VV Nr. 2 Abs. 1 Satz 1) . . 34 bb) Urlaub in kriminogene Umgebung (VV Nr. 5 Abs. 1) . . . . . 35 cc) Kosten des Urlaubs (VV Nr. 6) . . . . . . . . . 36 dd) Notlage, Krankheit im Urlaub . . . . . . . . . . 37 ee) Antrag (VV Nr. 7 Abs. 1) . 38 ff) Form und Bekanntgabe einer Ablehnung (VV Nr. 7 Abs. 2) . . . . . . . . . . 39 gg) Urlaubsschein, Belehrung (VV Nr. 8) . . . . . . . . . 40 3. Sonderregelung für Gefangene
mit lebenslanger Strafe (§ 13 Abs. 3 und 4) . . . . . . . . . . . 41–47 a) allgemein . . . . . . . . . . 41 b) 10-Jahresgrenze . . . . . . . 42 c) Berücksichtigung besonders schwerer Schuld . . . . . . . 43 d) Lockerungen zur Vorbereitung 44 e) Bedeutung des § 13 Abs. 4 . . 45 f) Vorbereitung durch Konferenz (VV Nr. 7 Abs. 3 Satz 3) . . . . 46 g) Zustimmung der Aufsichtsbehörde (VV Nr. 7 Abs. 3 Satz 1) 47 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 48–50 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 48 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 49 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 50
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Urlaub ist wie die in § 11 genannten Vollzugslockerungen eine wichtige Behandlungsmaßnahme i. S. des § 7 Abs. 2 (vgl. OLG Saarbrücken ZfStrVo SH 1978, 4; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Lesting 2006 Rdn. 3). Wesentliches Charakteristikum ist, dass hier der Gefangene bei mindestens einer Übernachtung sich einige Tage und Nächte ohne ständige und unmittelbare Aufsicht außerhalb der Anstalt aufhält. § 13 betrifft den „Regelurlaub“, der grundsätzlich für alle Strafgefangenen in Frage kommt. Regelurlaub soll die aus der Isolierung in der Anstalt folgenden Gefahren für die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen und die Belastung seiner Angehörigen vermindern und dem Gefangenen die Gelegenheit geben, sowohl seine Bindungen zu festigen, als auch sich unter normalen Lebensbedingungen zu bewähren (OLG Frankfurt NJW 1977, 3448). – Der Regelurlaub stellt weder eine Belohnung für beanstandungsfreies Vollzugsverhalten noch eine besondere Maßnahme der Vollzugslockerungen (§ 11 Abs. 1) dar, sondern ist als Behandlungsmaßnahme i. S. von § 7 – als regelmäßiger Bestandteil einer (längeren) Freiheitsstrafe – zu verstehen, welche dazu dient, die Kontakte des Gefangenen mit der übrigen Gesellschaft, insbesondere mit seinen Angehörigen, aufrechtzuerhalten und ihn in die Gesellschaft zu integrieren. Zum Gegensteuerungs- und Integrationsgrundsatz § 3 Rdn. 11 ff. Diese Zwecke verleihen der Urlaubsmaßnahme ein verstärktes Gewicht, je näher das Strafende herankommt (OLG München 6.11.1979 – 1 Ws 1299/79). Zum Begriff des Urlaubs vgl. auch Dopslaff Anm. zu OLG Frankfurt NStZ 1986, 189 ff; zum neudeutschen Begriff „Freistellung von der Haft“ § 12 HmbStVollzG; vgl. § 11 Rdn. 31). Der Regelurlaub hat grundsätzlich nicht die Aufgabe, den Gesundheitszustand eines Gefangenen zu verbessern (OLG Bremen NStZ 1985, 334). Er kann kein Ersatz für eine nicht gewährte Vollstreckungsunterbrechung wegen Haftunfähigkeit sein, es sei denn, die Urlaubsgewährung wäre die einzige Möglichkeit, z. B. ein Herzinfarktrisiko für den Gefangenen spürbar und dauerhaft zu verringern (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 28 und NStZ 1981, 157; AK-Lesting 2006 Rdn. 5). Andere Fälle des Urlaubs betreffen Sonderurlaub gem. § 15 Abs. 3 (zur Vorbereitung der Entlassung), § 15 Abs. 4 (Freigänger), § 35 (aus wichtigem Anlass), § 36 (zur Wahrnehmung eines gerichtlichen Termins) und § 43 (Arbeitsurlaub), ferner bei Unterbringung in sozialtherapeutischer Anstalt (§ 124) und bei Sicherungsverwahrung (§ 134). Vom Urlaub zu unterscheiden ist die Freistellung von der Arbeitspflicht gem. § 42 (vgl. C/MD 2008 Rdn. 2).
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§ 13
2. Ob der erteilte Urlaub als Regel- oder als Sonderurlaub (§ 35) gewährt wird, ist für 2 den Gefangenen wegen der Anrechnung auf das Urlaubskontingent von 21 Tagen (§ 13 Abs. 1) von Bedeutung. Ein Bedürfnis für die Gewährung von Sonderurlaub entfällt, wenn die Angelegenheiten von dem Gefangenen auch während des Regelurlaubs wahrgenommen werden können und wenn dadurch dessen Zweck – u. a. die Aufrechterhaltung von bestimmten Kontakten zu Angehörigen oder anderen Bezugspersonen – nicht vereitelt oder beeinträchtigt wird (OLG Celle ZfStrVo 1981, 247). Eine nachträgliche Umwandlung von Regel- in Sonderurlaub kommt grundsätzlich nicht in Betracht, könnte aber ausnahmsweise dann zugelassen werden, wenn ein „wichtiger Anlass“ i. S. des § 35 während eines Regelurlaubs eingetreten ist und der Regelurlaub aus Gründen der Resozialisierung für Kontakte mit Angehörigen reserviert werden soll (LG Lüneburg 26.4.1978 – 17 StVK 125/ 78). Der Gefangene kann aber – z. B. zur Wahrnehmung von Gerichtsterminen, die keinen Anspruch auf Gewährung von Ausgang oder Urlaub begründet – dann nicht auf Regelurlaub (anstelle von Sonderurlaub) verwiesen werden, wenn dadurch dessen Zweck, der u. a. in der Aufrechterhaltung von bestimmten Kontakten zu Angehörigen und anderen Bezugspersonen besteht, vereitelt oder beeinträchtigt würde (OLG Frankfurt ZfStrVo 1980, 55). Vgl. dazu § 35 Rdn. 4. 3. Urlaub darf nur an einen Ort innerhalb des Geltungsbereichs des Strafvollzugs- 3 gesetzes gewährt werden (vgl. VV Nr. 1). Der hoheitliche Zugriff auf den Strafgefangenen muss auch während seines Urlaubs möglich sein (§§ 13 Abs. 5, 14 Abs. 1 und Abs. 2). Diesem Zugriff ist der Gefangene entzogen, wenn er sich außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes aufhält (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 18 und NStZ 1995, 208 = BlStV 6/1995, 3; vgl. auch § 11 Rdn. 1 und – für den Maßregelvollzug – OLG Hamm JR 1997, 35 m. krit. Anm. Blau). 4. § 13 Abs. 5 bestimmt, dass die Strafvollstreckung durch den Urlaub nicht unterbro- 4 chen wird. Die Strafzeit läuft während des Urlaubs weiter, unabhängig davon, ob der Gefangene den Urlaub nutzt, ob er entweicht, weitere Straftaten begeht oder gegen Weisungen verstößt. Auch die Zeit einer stationären Krankenhausbehandlung während des Urlaubs ist grundsätzlich auf die Strafzeit anzurechnen (OLG Hamm NStZ 1983, 287). Das Strafende verschiebt sich jedoch in dem Maße, in dem der Gefangene den Urlaub eigenmächtig überschreitet, anstatt rechtzeitig in die Anstalt zurückzukehren (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 55; krit. dazu Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 16). In der Praxis wird bei den über den auf das Urlaubsende folgenden Tag hinausgehenden Tagen der Abwesenheit des Gefangenen in jedem Falle von einer Änderung der Strafzeitberechnung ausgegangen. – Die Regelung in Abs. 5 bezieht sich nur auf den bestimmungsgemäß gewollten Urlaub. Bei rechtswidrig, d. h. über den Rahmen der im StVollzG enthaltenen Ermächtigung hinaus gewährtem Urlaub läuft die Strafzeit nicht weiter. Der Vollzug der Strafe wird hier in ungesetzlicher Weise verkürzt, so dass der Tatbestand der Strafvereitelung (§§ 258, 258a StGB) erfüllt ist (vgl. auch § 11 Rdn. 28). 5. Von Urlaub zu unterscheiden ist die Strafunterbrechung. Diese kann nach den Vor- 5 schriften der StVollstrO (§§ 45, 46) von der Vollstreckungsbehörde oder im Gnadenweg gewährt werden. Die Gründe für die Gewährung von Strafunterbrechung und Urlaub können identisch sein. Wenn alle nach dem StVollzG bestehenden Möglichkeiten für die Gewährung von Urlaub ausgeschöpft sind, versuchen Gefangene manchmal, ihr Ziel durch Strafunterbrechung zu erreichen. Während einer Strafunterbrechung darf sich der Verurteilte – im Gegensatz zu dem nur beurlaubten Gefangenen – auch im Ausland aufhalten. Der wesentliche Unterschied liegt ferner darin, dass die Zeit der Strafunterbrechung – Thomas Ullenbruch
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im Unterschied zu Urlaub (§ 13 Abs. 5) – nicht auf die Strafzeit angerechnet wird. Die Gnadenordnung von Schleswig-Holstein vom 3.5.1984 sieht Gewährung von Urlaub im Gnadenwege vor, und zwar durch Unterbrechung der Strafvollstreckung entsprechend § 13 Abs. 5.
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6. Urlaub kann gewährt werden. Es besteht daher kein Rechtsanspruch des Gefangenen auf Urlaub, wohl aber ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 188; C/MD 2008 Rdn. 3 mit weiteren Hinweisen), und zwar auch in angemessener Zeit (vgl. dazu unten Rdn. 38). Den Rahmen der Ermessensentscheidung bilden die gesetzlichen Bestimmungen, die bundeseinheitlichen VV sowie ergänzende Vorschriften der einzelnen Länder. Die Ermessenskompetenz der Vollzugsbehörde erstreckt sich darauf, 1. ob überhaupt Urlaub zu gewähren ist, 2. zu welchem Zeitpunkt und in welchen zeitlichen Abständen Urlaub gewährt werden soll, 3. welchen Zeitraum die jeweilige Bewilligung umfasst. Zur Ermessensausübung § 115 Rdn. 20 und unten Rdn. 33.
II. Erläuterungen 7
1. a) § 13 Abs. 1 Satz 1 regelt die Bemessung des Urlaubs. Es können bis zu 21 Kalendertage gewährt werden (weitergehend § 12 HmbStVollzG: 24 Tage; vgl. § 11 Rdn. 31). Eine Verlängerung für schwerbehinderte Gefangene entsprechend § 44 SchwbG ist nicht möglich (OLG Bremen NStZ 1985, 334). Gemäß VV Nr. 2 Abs. 3 entfallen auf jeden angefangenen Kalendermonat der voraussichtlichen Vollzugsdauer im Rahmen der Höchstdauer des § 13 Abs. 1 in der Regel nicht mehr als zwei Tage Urlaub (vgl. Rdn. 10). Im Rahmen des Vollzugsplanes sollte mit dem Gefangenen erörtert werden, von welchem ungefähren Zeitpunkt an Regelurlaub in Frage kommt. Auch sollte der Gefangene angehalten werden, den Urlaub zeitlich vernünftig zu planen und einzuteilen. Ein Urlaubstag bemisst sich nicht unbedingt auf 24 Stunden (KG ZfStrVo 1987, 374; so auch Stilz 1979, 69). Im Interesse der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt ist es erforderlich bzw. zulässig, dass der Urlaub nicht vor dem morgendlichen Aufschluss beginnt und vor dem Nachteinschluss endet (OLG Celle ZfStrVo 1979, 54 = JZ 1979, 205 mit Anm. Keller JZ 1979, 167; KG aaO; OLG Stuttgart NStZ 1989, 94; Arloth 2008 Rdn. 7) oder aus organisatorischen Gründen z. B. auf 19 Uhr festgesetzt wird (LG Lüneburg 17.8.1979 – 17 StVK 408/79; vgl. dazu Calliess ZfStrVo 1977, 197, der die Reduzierung der Urlaubszeiten aus Gründen des Behandlungsgebotes ablehnt, und AK-Lesting 2006 Rdn. 36, der für eine volle Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Urlaubszeit eintritt). Auf Vorlagebeschluss des OLG Koblenz (NStZ 1987, 93 mit Anm. Müller-Dietz) zur Frage, ob die Bemessung der Höchstdauer des Urlaubs auf 21 Kalendertage eine Höchstdauer von 21 mal 24 Stunden bedeutet, hat der BGH (NJW 1988, 1989 = NStZ 1988, 148) entschieden, dass der Urlaub nach vollen Tagen, nicht nach Bruchteilen von Tagen berechnet wird. Urlaubstage sind alle Kalendertage, auf die sich der Urlaub erstreckt; jedoch wird der Tag, in den der Urlaubsantritt fällt, nach § 187 BGB nicht mitgezählt, wohl aber der Tag des Urlaubsendes. VV Nr. 2 Abs. 1 ist entsprechend geändert worden. Der Gefangene wird am letzten Urlaubstag in der Regel vor 24 Uhr in der Anstalt eintreffen müssen (OLG Stuttgart NStZ 1989, 94 hält 20 Uhr bei Wochenend- und 19 Uhr bei längerem Urlaub für vertretbar). Die BGH-Entscheidung wirkt sich für den Gefangenen um so günstiger aus, je mehr der Urlaub zeitlich gestückelt wird (vgl. Rothfischer ZfStrVo 1988, 80 in Anm. zum BGH-Beschluss). Ermessensfehlerhaft ist es, den Gefangenen zu verpflich-
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ten, im Regelfall mindestens zwei Tage Urlaub zu nehmen, auch wenn er nur eine kurze Reisezeit benötigt (OLG Celle NStZ 1993, 149). Allerdings ist mit der Gewährung eines eintägigen Urlaubs – mit Übernachtung am Urlaubsort, andernfalls kommt nur Ausgang in Frage – ein erheblicher Verwaltungsaufwand für die Anstalt verbunden. Eine Aufteilung des Urlaubs in der Weise, dass der Gefangene am Ende eines Urlaubs nur zum Schlafen in die Anstalt zurückkehrt, um am folgenden Morgen den nächsten Urlaub anzutreten mit der Folge, dass der Tag des Beginns des zweiten Urlaubes ihm nicht angerechnet wird, kann der Anstaltsleiter ablehnen, da eine solche Aufteilung zu einer missbräuchlichen Ausweitung des Urlaubskontingentes nach Abs. 1 (21 Tage) führen würde (OLG Hamm ZfStrVo 1991, 122 = BlStV 3/1991, 2). Zur Aufteilung des Urlaubs s. auch Rdn. 34. Bei kurzer Reisedauer dürfte es auch angemessen sein, den Zeitpunkt des Urlaubsantritts erst nach Beendigung der Arbeitszeit des Gefangenen festzusetzen. Für eine Koppelung von Ausgang und Urlaub (vgl. OLG Celle NStZ 1981, 276; OLG Hamm ZfStrVo 1986, 115 und 373) im Hinblick auf eine längere Reisezeit besteht nach der jüngsten Änderung der VV keine Notwendigkeit mehr. Vgl. auch § 11 Rdn. 8. b) Als „Jahr“ i. S. d. § 13 Abs. 1 Satz 1 ist nicht mehr das Kalenderjahr, sondern das Voll- 8 streckungsjahr anzusehen(wie hier Arloth 2008 Rdn. 5); die VV Nr. 2 Abs. 2 Satz 1 sind seit 1.1.1989 entsprechend geändert. In das folgende Vollstreckungsjahr kann der Regelurlaub grundsätzlich nicht übertragen werden (OLG Koblenz NStZ 1983, 238, vgl. VV Nr. 2 Abs. 2 Satz 2). Durch diese Änderung, die mit dem Gesetz vereinbar ist (OLG Hamburg ZfStrVo 2001, 314; vgl. auch OLG Celle ZfStrVo 1992, 264 = BlStV 2/1992, 6; a. A. OLG Rostock ZfStrVo 1995, 244; AK-Lesting 2006 Rdn. 37 unter Hinweis auf die Normgenese; nach wie vor krit., die gegenteilige Auffassung aber unter Hinweis auf „vollzugspraktische Gründe der Rechtssicherheit“ ausdrücklich aufgebend C/MD 2008 Rdn. 22a), wird die Praxis der Schwierigkeiten enthoben, die dadurch auftreten können, dass Gefangene, die erst in der zweiten Hälfte des Kalenderjahres ihre Strafe antreten, hinsichtlich der in Nr. 2 Abs. 4 Satz 1 VV eingeräumten Möglichkeit der Urlaubsberechnung wegen des Ablaufs des Kalenderjahres und der Nichtübertragbarkeit des Urlaubs „schlechter“ gestellt werden als Gefangene, die während der ersten Hälfte eines Kalenderjahres ihre Strafe antreten (a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 38: die Neuregelung führe zu einer Verringerung des Urlaubs). Vom Grundsatz der Nichtübertragung ist jedoch eine Ausnahme geboten, wenn ein Urlaubsantrag des Gefangenen rechtsfehlerhaft abgelehnt worden ist und der Urlaub nur aus diesem Grunde im laufenden Urlaubsjahr nicht mehr gewährt werden kann (so die zum 1.1.1994 geänderte VV Nr. 2 Abs. 2 Satz 3). Urlaub „im Vorgriff“ ist dagegen in keinem Falle zulässig. Sollte ein solcher Urlaub dennoch gewährt worden sein, darf dieser Fehler nicht durch Anrechnung auf das Urlaubskontingent des nächsten Jahres ausgeglichen werden (OLG Celle BlStV 2/1992, 6). Bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Urlaubsgewährung überhaupt sollten diese 21 Tage auch ausgeschöpft werden; die Vollzugsbehörde ist allerdings nicht dazu verpflichtet (OLG Celle ZfStrVo 1979, 54; OLG Hamm NStZ 1988, 331: C/MD 2008 Rdn. 21). Lassen es der Stand des Behandlungsprozesses und die Persönlichkeitsentwicklung des Gefangenen im Zeitpunkt der Entscheidung und im Hinblick auf das Vollzugsziel nicht angezeigt erscheinen, so wird die zulässige Höchstdauer von 21 Urlaubstagen im laufenden Jahr nicht gewährt (OLG Nürnberg NStZ 1984, 92). c) Mit dem Gesetz nicht vereinbar ist es, nur Gefangenen des offenen Vollzuges (§ 141 9 Rdn. 18) 21 Tage Urlaub zu gewähren. § 13 Abs. 1 betrifft vielmehr gerade die Gefangenen im geschlossenen Vollzug. Nach OLG Hamm ZfStrVo 1982, 50 = NStZ 1982, 135 und BlStV 4/5/1988, 6 soll dagegen der Gesetzgeber davon ausgegangen sein (vgl. § 13 Abs. 4), dass ein Urlaubsreservoir von 21 Tagen grundsätzlich zunächst nur den Gefangenen im
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offenen Vollzug zuzubilligen sei. Dies entspreche auch dem Grundgedanken eines wirksamen Behandlungsvollzuges, der eine unterschiedliche Handhabung der Urlaubsbestimmungen im geschlossenen Vollzug einerseits und im offenen Vollzug andererseits gebiete. OLG Hamm aaO hält daher die RV des JM NRW vom 9.4.1985, nach der ein Gefangener im geschlossenen Vollzug im Jahr nur bis zu zwölf Tagen Urlaub erhalten kann, für eine das Ermessen des Anstaltsleiters teilweise bindende Richtlinie, die mit dem Gesetz vereinbar sei. Diese Auffassung verkennt, dass der der Vollzugsbehörde vom Gesetz eingeräumte Ermessensspielraum dazu dient, eine individuelle, auf den Stand des Behandlungsprozesses abgestimmte Maßnahme zu treffen. Auch ist zu berücksichtigen, dass es aus vollzugspraktischen Gründen bisher noch nicht möglich ist, etwa alle zunächst im geschlossenen Vollzug untergebrachten Gefangenen von einem bestimmten Zeitpunkt an, d. h. wenn sie für den offenen Vollzug geeignet sind, im offenen Vollzug unterzubringen (wegen fehlender Plätze). Die oben angegebene Regelung stellt jedenfalls für alle Gefangenen im geschlossenen Vollzug eine unzulässige Einschränkung des Gesetzes dar (ebenso Arloth 2008 Rdn. 8, AKLesting 2006 Rdn. 31 und C/MD 2008 Rdn. 21; Dopslaff Anm. zu OLG Hamm NStZ 1982, 261; a. A. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 11). Das BVerfG NStZ 1983, 478 hält es unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG allerdings für unbedenklich, dass die Urlaubspraxis einzelner Bundesländer – wie in diesem Falle – voneinander abweicht, „soweit das Strafvollzugsgesetz dies zulässt“. – LG Hamburg ZfStrVo 1978, 2 hält es für zulässig, dass durch landesrechtliche Regelung Gefangene im offenen Vollzug 21 Tage und im geschlossenen Vollzug 15 Tage Urlaub erhalten, letztere darüber hinaus zusätzlich jeweils einen Tag Urlaub, wenn sie an zwei aufeinanderfolgenden Kalendermonaten keinen Besuch erhalten haben. Auch durch diese Regelung werden Gefangene des geschlossenen Vollzuges unter einem vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Kriterium (Besuchsempfang) allgemein beschränkt. – Ein zusätzlicher Urlaub über die 21-Tagesgrenze hinaus als Ausgleich für fehlenden Besuch ist nicht möglich (LG Lüneburg 19.2.1981 – 17 StVK 8/81). Für die Urlaubsvorschriften im offenen Vollzug vgl. auch Rdn. 45.
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d) Ergänzend bestimmen die mit Wirkung vom 1.1.1994 geänderten VV (Nr. 2 Abs. 3), dass auf jeden angefangenen Kalendermonat der voraussichtlichen Vollzugsdauer in der Regel nicht mehr als zwei Tage Urlaub entfallen. Die zuvor geltende VV stellte auf die Verbüßungszeit ab. So erhält z. B. ein Gefangener, der eine Freiheitsstrafe von acht Monaten vom 5.9.1997 bis 4.5.1998 verbüßt, höchstens 18 Tage Urlaub („auf jeden angefangenen Kalendermonat nicht mehr als 2 Tage“), während ihm nach der früheren Fassung der VV nur 14 Tage („auf jeden vollen Monat der Strafverbüßung nicht mehr als 2 Tage“) zugebilligt wurden. Auch die neue Regelung steht mit dem Gesetz nicht in Einklang, da sie eine unzulässige Urlaubsverkürzungsbestimmung darstellt (vgl. OLG Hamm NStZ 1981, 455; NStZ 1988, 331 und OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 246; C/MD 2008 Rdn. 23; nach wie vor unklar Arloth 2008 Rdn. 6).
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2. a) Urlaub wird in der Regel erst nach einer bestimmten Beobachtungszeit und nur dann gewährt, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder den Urlaub zu Straftaten missbrauchen werde.
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aa) Gem. § 13 Abs. 2 soll Urlaub in der Regel erst gewährt werden, wenn der Gefangene sich mindestens sechs Monate im Strafvollzug befunden hat. Diese Vorschrift dient der Konkretisierung des der Vollzugsbehörde zustehenden Spielraums bei der Ausübung des Ermessens (C/MD 2008 Rdn. 23; vgl. auch Rdn. 33). Die Vollzugsbehörde soll vor der Urlaubsgewährung Gelegenheit haben, den Gefangenen kennen zu lernen. Die Sechs-
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Monatsgrenze kann aus Behandlungsgründen in einzelnen Fällen unter- oder überschritten werden. Nach OLG Frankfurt LS BlStV 6/1983, 7 müssen bei Urlaubsgewährung vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist besondere Gründe vorliegen, die eine vorzeitige Beurlaubung dringend geboten erscheinen lassen. Der Regelurlaub von 21 Tagen (§ 13 Abs. 1 Satz 1) kann nicht um die der 6monatigen Wartezeit entsprechenden Tage gekürzt werden. § 13 Abs. 2 macht von dem Höchsturlaub von 21 Tagen keine Ausnahme, sondern betrifft nur die Frage, ab wann der sich aus § 13 Abs. 1 ergebende Urlaub gewährt werden kann. Gemäß VV Nr. 2 Abs. 4 Satz 1 (gültige Neufassung ab 1.9.1982) können Zeiten, in denen der Gefangene die Voraussetzungen für eine Beurlaubung noch nicht erfüllt, bei der Berechnung des Urlaubs berücksichtigt werden. Die frühere Fassung der VV betrachtete die Regelung des § 13 Abs. 2 fälschlicherweise nicht als Wartezeit, sondern als Urlaubsverkürzungsbestimmung (vgl. 2. Aufl. Rdn. 7 zu § 13). Ein am 1.1. eines Kalenderjahres aufgenommener Gefangener darf demnach nach Ablauf der 6-Monatsfrist des § 13 Abs. 2 – Urlaubsfähigkeit vorausgesetzt – im zweiten Halbjahr 21 Tage Urlaub erhalten (vgl. auch AK-Lesting 2006 Rdn. 40; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 11; Meißner 1988, 107 ff). Eignet sich der Gefangene während eines gewissen Zeitraums im Vollstreckungsjahr nicht für die Gewährung von Urlaub, so ist es unzulässig, die Höchstzahl der 21 Urlaubstage auf diesen Zeitraum rechnerisch umzulegen mit der Folge, dass sich die Höchstdauer des Urlaubs automatisch verkürzt (OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 377; OLG Hamm NStZ 1988, 331; OLG Rostock ZfStrVo 1995, 244; ebenso C/MD 2008 Rdn. 23, im Widerspruch dazu LG Neubrandenburg 16.12.1992 – V StVK 57/93; Bedenken auch bei Arloth 2008 Rdn. 10). Zwar bestimmt VV Nr. 2 Abs. 4 Satz 2 nach wie vor, dass für Zeiten, in denen der Gefangene für eine Beurlaubung nicht geeignet ist (vgl. VV Nr. 4), ihm Urlaub in der Regel nicht gewährt werden soll (so auch LG Krefeld LS NStZ 1982, 303). Mit Recht hält OLG Rostock aaO diese Vorschrift jedoch für nicht mit § 13 in Einklang stehend, da sie sich faktisch wie eine in § 103 nicht vorgesehene Urlaubssperre auswirkt. Im Einzelfall kann ein Urlaub aus objektiven Behandlungsgründen gerade dann sinnvoll sein, wenn dem Gefangenen zuvor während eines bestimmten Zeitraumes Vollzugslockerungen versagt werden mussten. Wird die Höchstzahl der Urlaubstage auf den Zeitraum der Nichteignung rechnerisch umgelegt und somit das Urlaubskontingent von 21 Tagen für das Vollstreckungsjahr als verbraucht angesehen, so bedeutet das eine vom Gesetz nicht gedeckte und deshalb unzulässige Einschränkung des Ermessens der Vollzugsbehörde. Erlittene Untersuchungshaft ist kein Strafvollzug i. S. von § 13 Abs. 2 (OLG Hamm LS BlStV 3/1984, 4). Ist sie aber unmittelbar in den Strafvollzug übergegangen und in derselben Anstalt verbüßt worden, so kann es angemessen sein, von der 6-Monatsgrenze abzuweichen und Urlaub schon dann zu gewähren, wenn Untersuchungs- und Strafhaft zusammen länger als sechs Monate gedauert haben (vgl. auch AK-Lesting 2006 Rdn. 39). Der Entwurf des Bundesrates zur Änderung des StVollzG (BR-Drucks. 270/88) sah vor, die Sechsmonatsfrist nur auf Gefangene des geschlossenen Vollzuges anzuwenden, damit mit der Unterbringung eines Gefangenen im offenen Vollzug die Möglichkeit der sofortigen Beurlaubung gegeben sein sollte. Nachgerade unsinnig ist die Vorgabe in § 13 Abs. 3 Satz 2 NJVollzG, derzufolge Urlaub erst gewährt werden soll, wenn sich die oder der Gefangene im Ausgang oder Freigang bewährt hat (vgl. § 11 Rdn. 9 und 32). bb) Gem. § 13 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 11 Abs. 2 darf Urlaub nicht gewährt werden, wenn 13 zu befürchten ist, dass sich der Gefangene dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder den Urlaub zu Straftaten missbrauchen werde (vgl. § 11 Rdn. 13 ff). Diese Vorschrift entspricht dem Grundsatz des § 2 Satz 2, wonach der Vollzug auch dem Schutz der Allgemein-
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heit vor weiteren Straftaten (§ 2 Rdn. 17 ff) zu dienen hat. Die Beurlaubung eines Gefangenen bedarf daher besonders gründlicher vorheriger Prüfung, wobei nicht allein der Zweck der Resozialisierung und Behandlung (§ 2 Satz 1) eine Rolle spielen kann. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit Vollzugsbediensteter und zur Amtshaftung wegen rechtswidriger Gewährung von Urlaub vgl. § 11 Rdn. 28. Nur wenn positiv festgestellt ist, dass Flucht- oder Missbrauchsbefürchtung nicht besteht, darf die Anstalt prüfen, ob Urlaub gewährt werden kann. Eine Ermessensentscheidung ist demnach ausgeschlossen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gem. § 13 Abs. 1 Satz 2, § 11 Abs. 2 wegen Fluchtgefahr oder Gefahr des Missbrauchs des Urlaubs zu Straftaten nicht gegeben sind. Zur Prognosestellung bei der Prüfung der Urlaubsvoraussetzungen heißt es – auch heute noch zutreffend – in der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 13 (BT-Drucks. 7/918, 52 ff): „Nach den gegenwärtigen kriminologischen Kenntnissen lässt sich nicht sicherstellen, dass die Voraussetzung, der Gefangene werde den Urlaub nicht missbrauchen, sich in jedem Falle hinreichend sicher beantworten lässt. Auch das Vollstreckungsgericht, das gegebenenfalls auf Antrag des Gefangenen über einen abgelehnten Urlaubsantrag zu entscheiden hätte, könnte selbst mit Hilfe von Sachverständigen diese Frage nicht immer hinreichend klären.“ – Die Vollzugsbehörde ist rechtlich nicht gehindert, ihrer Entscheidung über einen Urlaubsantrag das Gutachten eines Sachverständigen zugrunde zu legen, das von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren nach § 57 StGB eingeholt worden war. Da sowohl die Entscheidung über die bedingte Entlassung als auch die Entscheidung über die Gewährung von Urlaub die Sozialprognose zum Gegenstand haben, sind die Erhebungen der Strafvollstreckungskammer im Vollstreckungsverfahren für die Vollzugsbehörde verwertbar (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 120). Die Vollzugsbehörde braucht aber die uneingeschränkt günstige Prognose eines Sachverständigen nicht in vollem Umfang zu übernehmen, da Kriminalprognosen nur ausnahmsweise ganz sicher sein können (OLG Celle BlStV 6/1986, 9 = StV 1988, 349 und Frisch 1988, 359 ff). Die Beurlaubung kann auch von einer vorherigen Erprobung im offenen Vollzug abhängig gemacht werden, z. B. bei einem Gefangenen, der schwere Delikte begangen, seine Alkoholproblematik nicht aufgearbeitet und bei vorherigen Beurlaubungen erheblich versagt hat (OLG Hamm ZfStrVo 1984, 113). Ebenso können Ausführungen und Ausgänge der Erprobung dienen (OLG Celle BlStV 6/1986, 9 und StV 1988, 349; KG ZfStrVo 1989, 374). Die Fluchtgefahr für einen Urlaub wird oft anders zu beurteilen sein als für einen Ausgang oder eine Ausführung. Kann nicht festgestellt werden, dass Flucht- oder Missbrauchsbefürchtung nicht besteht, darf einem Gefangenen auch zur Ausübung des passiven Wahlrechts kein Urlaub gewährt werden, vgl. BVerfG GA 1982, 37 = NStZ 1982, 83 = StV 1982, 123; § 13 Abs. 1 Satz 2, § 11 Abs. 2 schränken zwar den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs.1 GG) bei der Ausübung des passiven Wahlrechts (Art. 38 Abs. 2 GG) dadurch ein, dass der Strafgefangene praktisch daran gehindert wird, sich in gleicher Weise wie andere Wahlbewerber um eine Kandidatur für den Bundestag, wie durch Teilnahme an Wahlkampfveranstaltungen, zu kümmern. Diese Einschränkung ist aber durch einen dem passiven Wahlrecht gleichgewichtigen gemeinschaftsbezogenen Grund gerechtfertigt, der in der Sicherung des staatlichen Vollzugsbedürfnisses und in der Verhinderung weiterer Straftaten und damit im Schutz der Allgemeinheit besteht. Art. 48 Abs. 1 GG (Urlaub zur Vorbereitung der Wahl) gilt nicht für Strafgefangene. Art. 48 Abs. 2 GG (Verbot der Verhinderung der Übernahme eines Abgeordnetenmandats) scheidet als Prüfungsmaßstab der in § 11 Abs. 2 normierten Beschränkungen aus (vgl. auch OLG Celle ZfStrVo 1981, 125 betreffend Kandidatur für den Landtag). – Zur Ausübung des aktiven Wahlrechts besteht für den Gefangenen die Möglichkeit der Briefwahl. Vgl. § 73 Rdn. 3.
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cc) Gerichtlichen Überprüfungen halten nur solche Entscheidungen stand, die unter 14 freier Abwägung der Umstände getroffen worden sind, die für den Einzelfall von Bedeutung sein können (OLG Koblenz aaO; OLG Celle JR 1978, 258; OLG Frankfurt NJW 1978, 334; § 11 Rdn. 17). b) Ähnlich wie zu § 11 (s. dort Rdn. 18) enthalten die VV Nr. 3 und 4 zu § 13 Aus- 15 legungsrichtlinien zur Feststellung, ob Flucht oder Missbrauch zu befürchten ist (§ 13 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 11 Abs. 2). Nur wenn diese Befürchtung nicht vorliegt, darf Urlaub gewährt werden. Die VV stellen keine Verwaltungserschwernisse dar, die die gesetzlichen Voraussetzungen für die Urlaubsgewährung verschärfen, sondern sind nur Hinweise und Hilfen für die Anstalten dafür, was in der Regel bei der Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen des Urlaubs (§ 11 Abs. 2 i. V. m. § 13 Abs. 1 Satz 2) nicht übersehen werden darf (OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 122 und NStZ 1981, 237). Dementsprechend entbinden die VV nicht von der Verpflichtung, jeweils die Besonderheiten des Einzelfalles in die Prüfung einzubeziehen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 122). Die Vollzugsbehörde darf den Urlaub nicht allein mit dem formelhaften Hinweis auf einen in den VV genannten Umstand ablehnen (OLG Frankfurt NStZ 1983, 93). Soweit in den VV bestimmte Gefangenengruppen vom Urlaub ausgeschlossen oder in der Regel als hierfür ungeeignet bezeichnet werden, erscheint dies bedenklich. Ein Ausschluss käme nur in Betracht, wenn bei diesen Gruppen in jedem Einzelfall begriffsnotwendig Flucht- oder Missbrauchsgefahr gegeben wäre. Das trifft aber nur für die unter VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. b bezeichnete Gruppe zu (Rdn. 16). Eine an generalisierende Umstände anknüpfende regelmäßige Nichteignung, die zur Annahme von Flucht- oder Missbrauchsgefahr zwingt, wenn nicht im Einzelfall besondere Ausnahmelagen gegeben sind, widerspricht dem Gesetz, das den Begriff der Eignung vermeidet (enger § 12 HmbStVollzG a. F.; vgl § 11 Rdn. 31). Angemessen ist allein die Formulierung in VV Nr. 4 Abs. 4, wonach das Vorliegen bestimmter Umstände eine besonders sorgfältige Prüfung von Flucht- oder Missbrauchsgefahr verlangt, die Anhörung anderer Behörden vorschreibt, eine bestimmte Verfahrensart (Konferenz, besondere Begründung) anordnet oder die Zustimmung der Aufsichtsbehörde voraussetzt. So gilt auch für die einen Ausschluss vom Urlaub nach VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. a, c und d sowie die generelle Nichteignung zum Urlaub nach VV Nr. 4 Abs. 2 aufgeführten Umstände, dass es ausreicht, allerdings auch geboten ist, sie zum Anlass zu nehmen, das Nichtvorliegen von Flucht- oder Missbrauchsgefahr besonders sorgfältig zu prüfen, wobei die unterschiedliche Fassung in den VV als Hinweis auf die besondere Gewichtung der verschiedenen Sachverhalte angesehen werden kann. Jeweils bedarf es einer gründlichen Abwägung zwischen diesen Vermutungen einerseits und den sich aus der Person des Gefangenen, seinem Verhalten vor der Inhaftierung, seiner Einstellung zur Tat und seiner Bereitschaft zur Mitarbeit im Vollzug ergebenden Argumenten andererseits, wobei das prognostische Schwergewicht auf der Entwicklung im Vollzuge liegen muss (OLG Celle 5.12.1977 – 3 Ws 372/77; Franke ZfStrVo 1978, 187, 190; zur Gefahr der Benachteiligung resozialisierungsbedürftiger und „schwieriger“ gegenüber sozial integrierten Gefangenen vgl. Heghmanns 1998). Bei jeder Beurlaubung ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung des beantragten Urlaubs vorliegen, wobei zu berücksichtigen ist, dass jeder dazu abgegebene Befund, z. B. Gutachten, grundsätzlich nur für eine gewisse Zeit abgegeben werden kann (OLG Hamm NStZ 1987, 478). Wenn bereits bei Beantragung eines ersten Urlaubs feststeht, dass eine Missbrauchsgefahr zwar nicht bei erster, jedoch bei wiederholter Beurlaubung erkennbar ist, so ist ein Gefangener als derzeit zur Beurlaubung ungeeignet anzusehen; es kommt auch eine einmalige Beurlaubung nicht in Betracht (OLG Hamm aaO; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 21).
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aa) Nach VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. b) sind Gefangene, gegen die Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebehaft angeordnet ist, immer und ausnahmslos vom Urlaub ausgeschlossen, weil der Zweck dieser Anordnungen durch eine Beurlaubung stets vereitelt wird. Deshalb ist hier in der Regel vom Vorliegen einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr auszugehen, ohne dass eine Prüfung der Besonderheiten des Einzelfalles erforderlich ist (OLG Bremen ZfStrVo SH 1977, 2; OLG Frankfurt NStZ 1984, 45 ebenso Arloth 2008 Rdn. 18; a. A. für Abschiebehaft C/MD 2008 Rdn. 18). Auch wenn Gericht und Staatsanwaltschaft trotz (hier: wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten während einer Vollzugslockerung angeordneter) Untersuchungshaft keine Bedenken gegen die Gewährung von Urlaub aus der Strafhaft haben, kommt eine Beurlaubung nicht in Betracht (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1985, 310). Bei einer solchen Sachlage könnte aber die angeordnete Untersuchungshaft aufgehoben oder doch der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden. Danach (aber eben erst dann) wäre die Gewährung von Urlaub zulässig. Die Zielsetzung des § 13 AuslG steht der des § 13 StVollzG unvereinbar gegenüber: Es ist sinnlos, einen Gefangenen durch Vollzugslockerungen oder Urlaub auf ein Leben in einem Lebensraum vorzubereiten, aus welchem ihn eine andere staatliche Behörde nach Beendigung der Strafvollstreckung unverzüglich entfernen wird (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 7 und ZfStrVo SH 1979, 26). Ist jedoch im konkreten Einzelfall ersichtlich, dass Erfolgsaussichten für die Aufhebung der Abschiebehaft bestehen, muss dem Gefangenen vor einer endgültigen Entscheidung über den Urlaubsantrag Gelegenheit gegeben werden, eine Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Aufhebung der Abschiebehaft herbeizuführen (OLG Frankfurt NStZ 1984, 45).
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bb) Soweit VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. a), c) und d) weitere Gruppen von Gefangenen vom Urlaub ausschließt – allerdings insoweit Ausnahmen nach VV Nr. 3 Abs. 2 zulässt – ist zu bemerken, dass das Gesetz selbst solche Ausschließungstatbestände nicht vorsieht, die VV allerdings gewichtige Hinweise darauf geben, in welchen Fällen die Gefahr der Flucht oder des Missbrauchs besonders nahe liegt (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 17). Die VV können nicht von einer Prüfung der einzelnen Fälle entbinden. So würde z. B. ein allgemeiner Ausschluss von politisch motivierten Tätern vom Urlaub – wie in den VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. a vorgesehen – mit dem Gesetz unvereinbar sein, zumal dieses eine Anknüpfung an die Tat nicht kennt (vgl. AK-Lesting 2006 Rdn. 17). Die vollziehbare Ausweisungsverfügung in Verbindung mit einer drohenden Abschiebung (vgl. die mit Wirkung vom 1.1.1994 geänderte VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. c) bietet konkreten Anlass für die Befürchtung, dass für den ausländischen Gefangenen bei Gewährung von Urlaub oder Vollzugslockerungen der Anreiz ausgeht, sich der weiteren Strafverbüßung durch Flucht zu entziehen. Eine Fluchtgefahr ist aber dann zu verneinen, wenn gewichtige konkrete Anhaltspunkte (z. B. starke familiäre Bindungen des Gefangenen in der Bundesrepublik) gegen sie sprechen (dazu auch OLG Celle ZfStrVo 1983, 300; OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 249, ZfStrVo 1991, 372 und BlStV 2/1992, 5; OLG Hamm NStZ 1985, 382). Für die Begründung einer Ausnahme, die gem. der mit Wirkung vom 1.1.1994 geänderten VV Nr. 3 Abs. 2 Satz 2 im Benehmen (statt zuvor: Einvernehmen) mit der zuständigen Ausländerbehörde zulässig ist, reichen allgemeine Gesichtspunkte, wie ein positives Persönlichkeitsbild, gutes Vollzugsverhalten und die Beteuerung des Gefangenen, er wolle nicht fliehen, allein nicht aus (OLG Schleswig LS BlStV 6/1981, 7; a. A. LG Hannover NStZ 1981, 367: konkrete Angaben für Missbrauchsbefürchtung notwendig). Besteht eine vollziehbare Ausweisungsverfügung und befürwortet die Ausländerbehörde Urlaub oder Vollzugslockerungen nicht, so wird dies in vielen Fällen zur Annahme der Fluchtgefahr führen; ob das so ist, ergibt sich aber immer erst aufgrund einer Abwägung der wesentlichen Kriterien, d. h. auch
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der Umstände, die zugunsten des Gefangenen sprechen könnten (OLG Celle ZfStrVo 1983, 301). Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungsgrundsatz, dass bei Ausländern bei Vorliegen einer rechtskräftigen und unbefristeten Ausweisungsverfügung generell Fluchtgefahr gegeben ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 249 und BlStV 2/1992, 5). Gem. VV Nr. 3 Abs. 1 Buchst. d ist Urlaub bei Gefangenen ausgeschlossen, gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine sonstige Unterbringung gerichtlich angeordnet und noch nicht vollzogen ist. Insbesondere dem Ziel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Schutz der Allgemeinheit, § 129 Satz 1) könnte eine Beurlaubung widersprechen, so dass hier besondere Prüfung geboten ist (vgl. OLG Frankfurt BlStV 2/1992, 6). Andererseits gelten gem. § 130 die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe entsprechend und damit auch § 13. Zum (verfassungsrechtlich relevanten) Zusammenhang zwischen der (Nicht-)Gewährung von Lockerungen und der Chance auf eine (vorzeitige) Entlassung ausführlich § 11 Rdn. 14. Zum Ganzen s. auch § 130 Rdn. 4 ff. Seit dem 28.8.2002 hat der Gesetzgeber mit dem (neuen) § 66a StGB dem Tatrichter die Möglichkeit gegeben, unter bestimmten Voraussetzungen die Anordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung lediglich vorzubehalten (BGBl. I 2002, 3344). Auch wenn die VV (noch) nicht um diese Variante ergänzt worden sind, dürfte die Erwartung des Gesetzgebers, der Anstalts- bzw. Vollzugsleiter werde während dieses Zeitraumes keine Lockerungen gewähren (BT-Drucks. 14/8586, 6) weitgehend realistisch sein (vgl. nur Arloth 2008 Rdn. 20). Die Wahrscheinlichkeit der anschließenden Anordnung der Maßregel wäre so quasi programmiert. cc) VV Nr. 3 Abs. 2 lässt Ausnahmen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde nach An- 18 hörung des zuständigen Gerichts zu, wobei die Ausnahmeregelung nicht zu einem im Gesetz nicht vorgesehenen Versagungsgrund umgewandelt werden darf (OLG Celle BlStV 3/1992, 5). Die Zustimmung dient einer gleichmäßigen Handhabung der Urlaubsgewährung und ist daher sachgerecht (OLG Hamburg NStZ 1981, 237 und 486). Die Anhörungskompetenz des Gerichts hält OLG Frankfurt (NStZ 1982, 260) aber für unvereinbar mit dem Gesetz. S. auch bei § 11 Rdn. 21; § 115 Rdn. 23. Zum Benehmen mit der zuständigen Ausländerbehörde vgl. Rdn. 17. dd) VV Nr. 4 Abs. 2 nennt fünf Gruppen von Gefangenen, die für den Urlaub wegen ver- 19 muteter Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Regel ungeeignet sein sollen (vgl. zu dieser fragwürdigen Formulierung und ihrer rechtlichen Bedeutung Rdn. 15). (1) Die in den VV Nr. 4 Abs. 2 Buchst. a enthaltene Reststrafenregelung ist besonders 20 problematisch. Nach den Erfahrungen der Praxis spielen vielmehr andere Umstände eine Rolle, wie Persönlichkeit des Gefangenen, Zuverlässigkeit, Lebensweise draußen, Beeinflussbarkeit, Neigung zum Alkohol, Verhältnis zur Bezugsperson, Verbindung zur Familie oder zur Freundin, Verhältnis zu Vollzugsbediensteten wie auch zu Mitgefangenen. Auch kommt es gerade bei längerstrafigen Gefangenen darauf an, dass das Betreuungspersonal die mit einer Beurlaubung zusammenhängenden persönlichen Probleme mit dem Inhaftierten erörtert. Dazu gehört allerdings, dass der Gefangene zu den zuständigen Bediensteten Vertrauen hat und seine persönlichen Verhältnisse offen darlegt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch Gefangene mit kurzem Strafrest den Urlaub zur Flucht missbrauchen. Dabei ist zu beobachten, dass der Gefangene vom ersten oder zweiten Urlaub noch pünktlich zurückkehrt und erst später enttäuscht. Umso wichtiger ist es, die Flucht- und Missbrauchsgefahr nicht nur einmal, d. h. vor Gewährung des ersten Regelurlaubs zu prüfen, sondern erneut vor Erteilung jedes weiteren Urlaubs. Thomas Ullenbruch
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Nicht immer handelt es sich bei längerstrafigen Gefangenen um solche, die sich als besonders gefährlich für den Rechtsfrieden erwiesen haben und bei denen daher angenommen werden kann, dass eine lange Einwirkung des Vollzuges erforderlich ist, um sie so zu beeindrucken, dass verantwortet werden kann, sie vorübergehend aus der geschlossenen Anstalt zu entlassen. Hat ein Urlaub begehrender Gefangener die Hälfte einer 15 -jährigen Freiheitsstrafe verbüßt, so kann der verbleibende Strafrest überhaupt nur dann als erheblich gelten, wenn eine vorzeitige Entlassung nach Ablauf von zwei Dritteln der Strafe nicht in Betracht kommt, wobei die Wahrscheinlichkeit einer Aussetzung vom Anstaltsleiter eigenverantwortlich zu prüfen ist (OLG Hamm BlStV 6/1985, 13). – Eine im RegE zunächst vorgesehene Begrenzung des Urlaubs nach Länge der Reststrafe ist vom SA gestrichen worden, denn die Vorstellung, dass Gefangene mit einem großen Strafrest stärker zur Flucht neigen als solche mit einem geringeren, hatte sich in der Praxis nicht bestätigt (vgl. BT-Drucks. 7/918, 77 und 7/3998, 11). Aus der Länge des Strafrestes allein kann daher gerade nicht hergeleitet werden, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten missbrauchen werde (OLG Karlsruhe MDR 1981, 252; OLG Frankfurt NJW 1978, 334 und ZfStrVo 1983, 249; OLG Celle NdsRpfl. 1977, 217; Frellesen NJW 1977, 2052; vgl. auch AK-Lesting 2006 Rdn. 19). Dazu § 11 Rdn. 15 und § 4 Rdn. 16. 21 Rspr. und Lehre stimmen darin überein, dass die Reststrafenregelung in den VV für die Beurteilung der Eignungsfrage im Hinblick auf § 11 Abs. 2 lediglich eine Entscheidungshilfe enthält, die dem Anstaltsleiter im Interesse einer Gleichmäßigkeit in der Handhabung von Beurlaubungen und als Hinweis auf Fälle stets zu beachtender Missbrauchsgefahr, die möglicherweise bei längerem Strafrest hoch sein kann, in die Hand gegeben worden ist. Es ist daher fehlerhaft, die Versagung von Regelurlaub allein schematisch auf diese Reststrafenregelung zu stützen. Insofern darf sich der Anstaltsleiter auch nicht mit der allgemeinen Wendung begnügen, besondere Umstände, die eine Durchbrechung der Reststrafenregelung rechtfertigen können, seien nicht ersichtlich. Vielmehr muss die Entscheidung erkennen lassen, dass alle für die Urlaubsgewährung oder -versagung nach §§ 13, 11 Abs. 2 wesentlich erscheinenden Umstände des Einzelfalles erkannt und gegeneinander abgewogen wurden (OLG München ZfStrVo SH 1979, 25 mwN; KG ZfStrVo SH 1979, 23). Wenn bereits längere Untersuchungshaft und ein nicht unerheblicher Teil der Strafhaft verbüßt sind, bedarf die Annahme der Fluchtgefahr besonderer Begründung (OLG Hamm LS BlStV 3/1984, 4).
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(2) Bei erheblich suchtgefährdeten (zu diesem Begriff vgl. C/MD 2008 Rdn. 12: „zu undifferenziert“) Gefangenen kann Flucht- oder Missbrauchsgefahr oft nicht ausgeschlossen werden (VV Nr. 4 Abs. 2 Buchst. b). Das gilt insbesondere für drogenabhängige Gefangene (zur Anzahl Drogenabhängiger im Vollzug § 141 Rdn. 12). – War ein Gefangener zur Zeit seiner Verhaftung heroinsüchtig, so begegnet die hieran anknüpfende Prognose wahrscheinlichen Missbrauchs eines Urlaubs keinen rechtlichen Bedenken; solche Gefangene sind auch nach längerer Inhaftierung noch als erheblich suchtgefährdet anzusehen und scheiden für Vollzugslockerungen generell aus (OLG München ZfStrVo 1981, 57). Bei diesen Gefangenen besteht darüber hinaus die Gefahr des Einschmuggelns von Drogen in die Anstalt, was auch bei gründlichen Kontrollen kaum zu verhindern ist. Für die Annahme einer Missbrauchsgefahr wegen „Drogengefährdung“ bedarf es konkreter Feststellungen, etwa über den Zeitraum, die Intensität und das gegenwärtige Fortbestehen einer eventuellen Drogenabhängigkeit (OLG Frankfurt BlStV 2/1992, 5). Bei konkretem Verdacht auf Drogenmissbrauch kann die Gewährung von Urlaub unter die Bedingung gestellt werden, dass sich der Gefangene zuvor einer Urinkontrolle unterzieht und das Ergebnis „negativ“ ist, d. h.
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keine relevanten BtM-Rückstände nachgewiesen werden. Kommt der Gefangene der Aufforderung, sich einer Urinkontrolle zu unterziehen, nicht nach, kann diese nicht etwa zwangsweise durchgesetzt werden. Die Anstalt wird vielmehr ihre Urlaubsentscheidung überprüfen – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Gefangene die Gelegenheit, eine bestehende Befürchtung durch eine ihm zumutbare Handlung zu entkräften, nicht wahrgenommen hat (Bühring ZfStrVo 1994, 271 ff sowie § 4 Rdn. 26 und § 82 Rdn. 4). Zur Problematik eines sich nach dem EMIT-Urintest ergebenden positiven Cannabis-Befundes vgl. OLG Zweibrücken StV 1986, 113 m. Anm. Kreuzer StV 1986, 129 ff; zu den Erfordernissen des Ausschlusses von Verwechslungsgefahren mit anderen Urinproben in der besonderen Sphäre der JVA OLG Saarbrücken NStZ-RR 2001, 283. Zur Frage der Beurlaubung von Drogenabhängigen vgl. Apitzsch ZfStrVo 1980, 95, 100. Auch bei alkoholgefährdeten Strafgefangenen ist Vorsicht geboten, da es bei ihnen – 23 nicht zuletzt wegen des Nachholbedarfs durch Entzug bei längerer Inhaftierung – infolge übermäßigen Alkoholgenusses leicht zu unkontrollierten Handlungen bzw. neuen Straftaten kommen kann (vgl. LG Lüneburg 5.12.1980 – 17 StVK 580/80). Da eine große Zahl der Strafgefangenen die zugrunde liegenden Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen hat, ist hier eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalles geboten, um schematische Urlaubsablehnungen unter Hinweis auf die VV zu vermeiden. Der Urlaub kann auch gerade bei diesen Gefangenen dazu dienen, den Umgang mit dem Alkohol in Vorbereitung auf die Entlassung wieder zu lernen. Andererseits sollte der Gefangene seitens der Anstalt nicht unnötig zum Alkoholgenuss draußen motiviert werden, z. B. durch Beurlaubung zu Sylvester oder in der Karnevalszeit, wobei es allerdings auch hier auf den Einzelfall ankommt (vgl. LG Hannover 13.5.1980 – 53 StVK 27/80; „Der Weg“ 1980, 29). Der Nichtantritt einer stationären Langzeitbehandlung ist für sich genommen kein Umstand, der die Versagung von Lockerungen begründet (OLG Zweibrücken StV 1992, 589), eine deshalb fortbestehende Alkoholabhängigkeit kann jedoch zur Bejahung der Missbrauchsgefahr führen. Zur Anordnung einer Blutalkoholkontrolle bei Alkoholmissbrauch vgl. LG Wuppertal LS BlStV 6/1988, 4. Zur Alkoholabhängigkeit vgl. auch § 11 Rdn. 22. Zu möglichen Weisungen § 14 Rdn. 4, zum Widerruf § 14 Rdn. 14, 15. (3) Bei Gefangenen, die während des laufenden Freiheitsentzuges entwichen sind, 24 einen Fluchtversuch oder Ausbruch unternommen oder sich an einer Gefangenenmeuterei beteiligt haben (VV Nr. 4 Abs. 2 Buchst. c), kommt es auf die Umstände der Vorfälle und auf die seitdem verstrichene Zeit an. Man kann nicht davon ausgehen, dass ein einmal entwichener Gefangener in jedem Falle einen Urlaub dazu missbrauchen wird, sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe zu entziehen. (4) Die nicht freiwillige Rückkehr (VV Nr. 4 Abs. 2 Buchstabe d) ist zu unterscheiden 25 von der Verspätung und löst regelmäßig Fahndungsmaßnahmen aus, die dann zur Verhaftung des Gefangenen führen. Sie ist als ein erheblicher Vertrauensmissbrauch gegenüber der Anstalt anzusehen. Der Gefangene verletzt damit eine Pflicht, die ihm durch das Gesetz oder aufgrund des Gesetzes auferlegt worden ist, so dass die Voraussetzungen für die disziplinarrechtliche Ahndung des Pflichtverstoßes nach § 102 Abs. 1 gegeben sind (OLG München ZfStrVo 1979, 63; OLG Celle NStZ 1983, 299 mit Anm. Dertinger NStZ 1984, 192; OLG Celle LS ZfStrVo 1984, 191). – Zumindest in den Fällen, in denen die Urlaubsüberschreitung länger dauert und der Gefangene erst nach polizeilicher Festnahme in die Anstalt zurückgekehrt ist, muss sein Verhalten als eine schwere Verfehlung gegen die ihm obliegenden Pflichten gewertet werden, die zur Verhängung von Arrest jedenfalls dann berechtigt, wenn eine vorherige Belehrung über die Möglichkeit erfolgt ist (OLG Schleswig 25.4.1978 – 2 VAs 2/78). Eine besondere Pflicht i. S. des § 102 StVollzG, während des Urlaubs oder anderer
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Lockerungen außerhalb der JVA keine mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen, besteht hingegen nicht (a. A. OLG Nürnberg ZfStrVo 1984, 377 m. krit. Anm. Skirl; wie hier Skirl ZfStrVo 1983, 147 ff und Meißner 1988, 94). Eine entsprechende Unterlassungsweisung (dazu § 14 Rdn. 5) ist deshalb genauso unzulässig wie die Anordnung einer Disziplinarmaßnahme wegen Verstoßes gegen dieselbe (dazu § 102 Rdn. 15). Vgl. auch § 4 Rdn. 11; § 102 Rdn. 17 f. Durch die Nichtrückkehr aus dem Urlaub erhöht ein Gefangener nach Ansicht des LG Dortmund (BlStV 2/1993, 4) ein durch die Unterlassung des Einschließens persönlicher Gegenstände in seinem Spind bereits bei Urlaubsantritt geschaffenes Verlustrisiko um ein Vielfaches. Richtig ist, dass im Falle einer Nichtrückkehr davon auszugehen ist, dass die Habe zusammengepackt wird und hierbei die Gefahr des Verlustes nicht eindeutig zuzuordnender Gegenstände besteht. Ob die Realisierung dieses Risikos jedoch in jedem Falle in Form eines mit 100 Prozent zu bemessenden Mitverschuldens dem Nichtrückkehrer zugerechnet werden kann (so LG Dortmund aaO), mit der Folge des Ausschlusses jeglicher Amtshaftung, erscheint fraglich. 26 Zusätzlich zu diesen, den Gefangenen in der Vollzugsanstalt treffenden Folgen seines Fehlverhaltens wird auch sorgfältig geprüft werden müssen, ob und wann wieder ein Urlaub gewährt werden kann. Durch die verspätete Rückkehr vom Urlaub wird – ebenso wie durch eine Entweichung – das bestehende Strafvollzugsverhältnis nicht beendet, sondern fortgesetzt mit der Folge, dass bisher begründete Rechte und Pflichten bestehen bleiben, also keine neuen Ansprüche (z. B. auf Empfang eines „Jahrespaketes“) begründet werden (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1993, 117 = BlStV 1/1993, 3), aber auch nicht die regelmäßige Sperrfrist von sechs Monaten (§ 13 Abs. 2) eintritt. Eine im Voraus festgelegte Urlaubsverweigerung (Urlaubssperre) ist rechtswidrig (ähnl. Arloth 2008 Rdn. 25); eine sachgerechte und fehlerfreie Ermessensausübung im Rahmen einer Urlaubsentscheidung ist nur in dem Zeitpunkt möglich, in dem über die Urlaubsgewährung konkret zu entscheiden ist und alle denkbaren sachlichen Gesichtspunkte übersehen und mit in die Ermessensentscheidung einbezogen werden können (OLG Bremen NStZ 1982, 84). Eine Urlaubssperre ist auch deshalb unzulässig, weil eine solche Maßnahme keine zulässige Disziplinarmaßnahme i. S. des § 103 Abs. 1 ist (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 15; OLG Celle LS in ZfStrVo 1985, 374; AK-Lesting 2006 Rdn. 27). Andererseits ist es für die Anstalt im Einzelfall nicht einfach, nach Überziehung eines Urlaubs den Zeitpunkt für eine erneute Urlaubsfähigkeit zu begründen. Für die Praxis wäre es daher i. S. einer Gleichbehandlung der Gefangenen schon hilfreich, wenn das Gesetz „Urlaubssperren“ – je nach Dauer und Häufigkeit der Überziehung – zuließe. LG Darmstadt (ZfStrVo 1983, 302) sieht keinen Ermessensfehler darin, dass der Anstaltsleiter eine erneute Urlaubsgewährung nach einem erheblichen Urlaubsmissbrauch (z. B. Nichtrückkehr von Tagesausgang für die Dauer von mehreren Monaten) und einem Ausbruchsversuch von einem Zeitablauf von sechs Monaten seit dem letzten Missbrauch abhängig macht. Liegen Fälle der nicht freiwilligen Rückkehr vom Urlaub oder Ausgang oder des Verdachts der Begehung einer strafbaren Handlung während des letzten Urlaubs oder Ausgangs längere Zeit (z. B. mehr als ein Jahr) zurück, bedarf es einer besonderen Begründung, weshalb sie trotz anderer, positiver Umstände die Ablehnung eines Urlaubsantrages rechtfertigen können (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 3; LG Frankfurt NStZ 1984, 190; OLG Saarbrücken BlStV 6/1985, 25). Andererseits wird der Zeitablauf allein in der Regel noch nicht als besonderer Umstand im Sinne der VV Nr. 4 Abs. 3 anzusehen sein; vielmehr müssen Anhaltspunkte für eine wesentliche Wandlung des Gefangenen nach einem eindeutigen Missbrauch des letzten Urlaubs zur Begehung von Straftaten vorliegen (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 372; hierzu krit. AKLesting 2006 Rdn. 26).
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(5) Bei dem Verdacht neuer Straftaten (VV Nr. 4 Abs. 2 Buchst. e) – das folgende gilt 27 aber auch für den Verdacht von während des Urlaubs oder des Ausgangs begangener Straftaten (Rdn. 25) – kommt es auf die Art des Delikts an, so z. B. ob es sich um eine einschlägige Tat handelt. Wird eine Urlaubsablehnung auf diesen Verdacht gestützt, muss der Gefangene ausreichend Gelegenheit erhalten, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen, welcher eine konkrete Darlegung der Tat voraussetzt (OLG Frankfurt 9.9.1982 – 3 Ws 646/82 –). – Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Falles ist zu prüfen, ob das anhängige Verfahren tatsächlich Einfluss auf die Gefahr der Flucht und des Missbrauchs des Urlaubs hat (OLG Celle 29.8.1978 – 3 Ws 22/78; OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 376). Nach OLG Hamm NStZ 1984, 143 ergibt sich eine Fluchtgefahr im Sinne von § 13 Abs. 2 nicht allein daraus, dass in einem weiteren Verfahren eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten – bislang nicht rechtskräftig – verhängt worden ist. Solange ein Ermittlungsverfahren oder Strafverfahren noch anhängig und nicht etwa gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden ist, obliegt der Vollzugsbehörde bei ihrer Entscheidung über einen Urlaubsantrag keine eigene Nachprüfung des Tatverdachts, es sei denn, dass offenkundige Zweifel bestehen (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 5). – Der Verdacht, Straftaten begangen zu haben, darf dem Gefangenen auch dann entgegengehalten werden, wenn das eingeleitete Strafverfahren gem. § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist, wobei die seinerzeit erhobenen Vorwürfe von der Anstaltsleitung weiter aufgeklärt werden müssen unter Beachtung des rechtlichen Gehörs (OLG Celle ZfStrVo 1982, 123; a. A. LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 5). – Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention steht einer Berücksichtigung eines anhängigen Verfahrens bei der Entscheidung über einen Urlaubsantrag durch die Vollzugsbehörde nicht entgegen; diese darf daher solche Vorgänge, die zur Untersuchung wegen des Verdachts einer Straftat zu einem Strafverfahren geführt haben, ihrer Entscheidung über einen Urlaubsantrag noch vor rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens zugrunde legen, sofern sie sich mit ihnen hinreichend auseinandersetzt (BVerfG GA 1982, 37; OLG Nürnberg NStZ 1998, 215; LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 4). Auch die Begehung von Ordnungswidrigkeiten während einer Vollzugslockerung kann eine Missbrauchsgefahr begründen, aber nicht deshalb, weil die Gefahr besteht, der Gefangene werde in der Freiheit Ordnungswidrigkeiten begehen, sondern deshalb, weil aus dem Verhalten des Gefangenen eine (echte) Missbrauchsgefahr erwächst (vgl. LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 3). Ist ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig, 28 ist die zuständige Behörde nur zu hören (VV Nr. 4 Abs. 3 Satz 2), braucht also nicht (wie in der mit Wirkung vom 1.1.1994 geänderten VV Nr. 3 Abs. 2) zuzustimmen (vgl. auch Rdn. 18). Der bloße Hinweis auf eine bestehende Ausweisungsverfügung gegen einen ausländischen Gefangenen reicht für die Begründung einer Urlaubsablehnung nicht aus (OLG Frankfurt BlStV 4/5/1981, 10). Das Entsprechende gilt für Gefangene, gegen die ein Ausweisungsverfahren anhängig (vgl. VV Nr. 4 Abs. 2 Buchst. e), d. h. die Ausweisung erst beabsichtigt ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 122; ZfStrVo 1991, 372 und LS ZfStrVo 1994, 383). – Vgl. auch § 11 Rdn. 22. ee) Bei Gefangenen, bei denen während des laufenden Freiheitsentzuges wegen grober 29 Gewalttätigkeiten oder wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine Strafe vollzogen wurde oder noch zu vollziehen ist, bedarf die Frage einer Beurlaubung besonders gründlicher Prüfung, weil eine erhöhte Gefahr des Missbrauchs zu neuen Straftaten, insbesondere bei Triebtätern, besteht (vgl. VV Nr. 4 Abs. 4; vgl. auch Art 15 BayStVollzG – § 11 Rdn. 23 und 30 – und § 16 NJVollzG – § 11 Rdn. 23 und 33). Die Ur-
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laubsgewährung kann hier von einer Androcur-Behandlung abhängig gemacht werden (LG Lüneburg 11.9.1981 – 17 StVK 444/81). Wird ein Gefangener seit einem Jahr auf freiwilliger Grundlage mit Androcur behandelt, so hat die Vollzugsbehörde die Auswirkungen dieser Behandlung bei der Prüfung, ob Vollzugslockerungen gewährt werden können, mit zu berücksichtigen; notfalls muss sie das Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen einholen (OLG Celle ZfStrVo 1985, 243; OLG Hamm NStZ 1992, 149). Eine besonders sorgfältige Prüfung der Flucht- oder Missbrauchsgefahr ist auch bei Gefangenen angebracht, die wegen Handels mit Stoffen i. S. d. BtMG verurteilt sind oder die im Vollzug in den begründeten Verdacht des Handels mit derartigen Stoffen oder deren Einbringens gekommen sind; darüber hinaus auch bei Gefangenen, die vermutlich der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Der Zunahme solcher Gefangenengruppen trägt die zum 1.1.1994 in Kraft getretene Änderung der VV Nr. 4 Abs. 4 Rechnung. Selbstverständlich dürfen auch diese Gefangenen nicht generell und für die ganze Strafdauer vom Urlaub ausgeschlossen werden. Die Öffentlichkeit erwartet aber mit Recht, dass seitens der Behörden alles getan wird, um erneute einschlägige Straffälligkeit zu verhindern. Deshalb sind auch bei Gefangenen, die schwerwiegende Gewaltstraftaten begangen haben (z. B. Raub oder räuberische Erpressung) und die durch die bedenkenlose Rücksichtslosigkeit der Ausführung (z. B. Einsatz einer Schusswaffe) ihre Gefährlichkeit gezeigt haben, strenge Maßstäbe bei der Beurteilung der Missbrauchsgefahr anzulegen (OLG Hamm BlStV 4/5/1991, 9). In Einzelfällen wird ein Sachverständigengutachten zur Frage der Verantwortbarkeit eines Urlaubs eingeholt werden müssen. Der Anstaltsleiter kann aber bei eigener Sachkenntnis evtl. auch ohne Sachverständigen z. B. die Suchtgefährdung eines Heroinabhängigen beurteilen (OLG Bamberg LS BlStV 4/5/1983, 6).
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ff) In Ausführungsvorschriften der Länder ist in diesen Fällen teilweise die Zustimmung der Aufsichtsbehörde vorgesehen, die damit die Verantwortung für die Entscheidung mitträgt. Bei der Verweigerung der Zustimmung handelt es sich um eine innerdienstliche Weisung, so dass im Außenverhältnis gegenüber dem Gefangenen nur der Anstaltsleiter rechtswirksam über das Urlaubsgesuch entscheidet (OLG Frankfurt BlStV 6/1985, 19; LG Wiesbaden LS BlStV 6/1983, 7). Bewilligt der Anstaltsleiter Urlaub ohne die erforderliche Zustimmung der Aufsichtsbehörde, ist seine Entscheidung dennoch rechtmäßig, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung vorliegen (OLG Stuttgart ZfStrVo 1985, 249; OLG Frankfurt BlStV 6/1985, 19). – Beachte auch § 11 Rdn. 25 und § 13 Rdn. 47.
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gg) Die in VV Nr. 4 Abs. 1 Satz 2 bei der Urlaubsentscheidung vorgesehene Berücksichtigung der Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugszieles entspricht nicht ganz § 4 Abs. 1. Dort ist zwar von Mitwirkung die Rede, aber nicht von einer Pflicht zur Mitwirkung durch den Gefangenen. Möglicherweise soll durch einen Urlaub die Bereitschaft zur Mitwirkung erst geweckt oder gefördert werden (zur weitergehenden Regelung in § 12 HmbStVollzG vgl. § 11 Rdn. 24, 31). – Der Urlaub ist nicht als Belohnung für hausordnungsgemäßes Verhalten im Vollzuge aufzufassen. Allerdings kann disziplinwidriges Verhalten (z. B. Beleidigung, Alkohol- oder Drogenmissbrauch) mit bei der Entscheidung über Urlaubsgewährung herangezogen werden, sofern mit solchem Verhalten auch außerhalb der Anstalt zu rechnen ist (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 21). Vorrangige Richtschnur für die Geeignetheit für einen Urlaub ist aber der Gesichtspunkt, dass erprobt werden soll, ob der Gefangene unter den Bedingungen des Lebens in Freiheit sich straffrei führen kann (OLG Saarbrücken ZfStrVo SH 1978, 4). Wer Resozialisierungsbemühungen der Anstalt durch destruktives Verhalten im Vollzug vereitelt und darüber hinaus noch durch Herstellen einer falschen Abschrift eines behördlichen Schreibens das über das Urlaubsbegehren entschei-
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dende Gericht zu täuschen versucht, ist nicht urlaubsgeeignet (OLG Hamm BlStV 4/5/1981, 14). Vgl. auch § 4 Rdn. 9 ff und § 11 Rdn. 24. Das Verhalten eines Gefangenen im Vollzuge ist in der Regel an seinem Gesamtverhal- 32 ten vor der Inhaftierung zu messen, um Entwicklungstendenzen erkennen zu können. Die bloße Anpassung an Haftbedingungen besagt erfahrungsgemäß nichts über die Fähigkeit, in der Freiheit unvermeidlichen Belastungen und Versuchungen standhalten zu könne. Verfasst ein Gefangener ständig Antrags- und Rechtsmittelschriften, Petitionen usw., die von schärfster Aggressivität in Wort und Schrift getragen sind, rechtfertigt dieses Verhalten für sich allein noch keine Urlaubsablehnung. Allerdings kann ein abgrundtiefes Hassgefühl gegen jede staatliche Ordnung im allgemeinen und den Vollzug im besonderen auf eine Fluchtgefahr hinweisen, die durch die bloße Hoffnung, die bestehende Antihaltung könne durch Gewährung von Urlaub abgebaut werden, nicht relativiert wird (OLG Hamm BlStV 3/1990, 3). Im übrigen darf sich die Vollzugsbehörde nicht darauf beschränken, nur das Verhalten zu berücksichtigen, das der Gefangene in der zuletzt für ihn zuständigen Anstalt gezeigt hat; evtl. müssen die Auskünfte anderer Anstalten, in denen sich der Gefangene vor seiner Verlegung befand, eingeholt werden (OLG Frankfurt LS BlStV 1/1982, 4). § 2 Rdn. 13, § 4 Rdn. 2 ff. Häufige gegen den Gefangenen verhängte Disziplinarmaßnahmen oder dessen beleidigendes und disziplinwidriges Verhalten können nur im Zusammenhang mit allen anderen für die Entscheidung über einen Urlaubsantrag maßgebenden Umständen sinnvoll gewürdigt werden (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1978, 182; C/MD 2008 Rdn. 17; krit. AK-Lesting 2006 Rdn. 27). Eine Disziplinarmaßnahme bedingt nicht auch automatisch als Nebenfolge für einen bestimmten Zeitraum eine Urlaubssperre (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 15 und ZfStrVo SH 1978, 4). § 103 Rdn. 1 und hier Rdn. 26. Bei der Frage der Eignung für den Regelurlaub kann auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Gefangene aus einem früheren Urlaub angetrunken in die Anstalt zurückgekehrt ist (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 16) oder Psychopharmaka eingeschmuggelt hat (vgl. LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 15); § 103 Rdn. 4. Auch schwerwiegende Verstöße gegen die Anstaltsordnung stehen nicht schlechthin auf Dauer einer neuerlichen Urlaubsgewährung entgegen. Liegt das Fehlverhalten des Gefangenen bereits längere Zeit zurück, bedarf es in der Regel der Prüfung, ob und aus welchen Gründen die Missbrauchsgefahr weiterhin andauert (OLG München 6.11.1979 – 1 Ws 1299/79). c) Bei der Entscheidung, ob Urlaub zu gewähren ist, handelt es sich um eine Ermes- 33 sensentscheidung. Dem Gefangenen steht, wie sich aus Wortlaut, Sinn und Entstehungsgeschichte des § 13 ergibt, kein Rechtsanspruch auf die Gewährung von Urlaub zu, auch wenn bei ihm weder Flucht- noch Missbrauchsgefahr vorliegen und auch wenn die vom Gesetz vorgeschriebenen zeitlichen Voraussetzungen (§ 13 Abs. 2 und 3) erfüllt sind (OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 9). – Zu Besonderheiten bei der Verknüpfung einer vorzeitigen Entlassung und der vorherigen Lockerungsgewährung und -bewährung vgl. § 11 Rdn. 14 und 27. – Zum einstweiligen Rechtsschutz § 114 Rdn. 5. Wenn die Urlaubsvoraussetzungen vorliegen, „kann“ Urlaub gewährt werden. Der Vollzugsbehörde ist in diesem Fall Ermessen eingeräumt. Ihre Entscheidung darf vom Gericht gem. § 115 Abs. 5 nur auf Ermessensfehler nachgeprüft werden. Das Gericht darf aber nicht prüfen, ob eine andere Entscheidung zweckmäßiger gewesen wäre. Es darf also nicht selbst Ermessen ausüben. Die in § 2 Satz 2 genannte Aufgabe des Vollzuges ist nicht nur bei der Feststellung der Urlaubsmindestvoraussetzungen, sondern darüber hinaus auch bei der Ermessensaus-
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übung von Bedeutung. Wenn die Umstände, die eine Missbrauchsgefahr indizieren, im Einzelfall nicht ausreichen, um eine Urlaubsablehnung nach § 13 Abs. 1 Satz 2, § 11 Abs. 2 zu begründen, so können sie doch noch konkret genug sein, um bei der Ermessensausübung mit berücksichtigt zu werden (Stilz 1979, 68). Die VV Nr. 3 Abs. 2, Nr. 4 Abs. 2 und 4 haben jetzt (sog. „Doppelfunktion“) den Charakter von Richtlinien zur Ausübung des Ermessens. Bei der Ermessensprüfung kann sich ergeben, dass (erst) bei regelmäßiger Beurlaubung in kürzeren Abständen die Gefahr besteht, der Gefangene werde den damit verbundenen Versuchungen nicht gewachsen sein (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 188). Wenn bei einem HIVpositiven Gefangenen aufgrund konkreter Tatsachen die Gefahr besteht, er werde andere Personen infizieren, kann die Gewährung von Urlaub davon abhängig gemacht werden, dass er seine(n) Intimpartner(in) über die bei ihm bestehende HIV-Infektion informiert (OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 30). Der gleichmäßigen Ausübung des Ermessens und der zweckmäßigen Organisation dienen die VV Nr. 2 Abs. 1 Satz 1, Nr. 5, Nr. 6, Nr. 7 Abs. 1 und 2, Nr. 8.
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aa) Gem. VV Nr. 2 Abs. 1 sollte die Aufteilung des Urlaubs mit dem Gefangenen bei Beginn der „Urlaubsfähigkeit“ möglichst ein Jahr im voraus besprochen werden. In der Regel sollten nicht mehr als sieben Tage Urlaub zusammenhängend gewährt werden. Durch Gewährung von zu langem Urlaub könnte der Gefangene überfordert werden. Die Missbrauchsgefahr kann bei wachsender Dauer des Urlaubs steigen, z. B. wenn die Bezugsperson nicht über so lange Zeit für den Gefangenen zur Verfügung stehen kann. In besonderen Fällen, z. B. bei Besuch von Angehörigen aus dem Ausland, notwendiger Mithilfe des Gefangenen bei der Ernte, ist ein zusammenhängender Urlaub von 21 Tagen vertretbar. Bei einer zu starken „Stückelung“ sind auch lange Reisewege und die dem Gefangenen entstehenden Kosten zu berücksichtigen (vgl. AK-Lesting 2006 Rdn. 30). Andererseits kann es dem Gefangenen grundsätzlich nicht verwehrt werden, nur einen Tag Urlaub zu nehmen (OLG Celle NStZ 1993, 149; s. auch Rdn. 7). Die in Ausführungsvorschriften einiger Bundesländer enthaltenen komplizierten Regelungen über die Aufteilung des Urlaubs oder „Urlaubssperren“ (z. B. erneuter Urlaub nicht vor Ablauf von drei Monaten) stellen für den Gefangenen eine zu große Beschränkung seiner Selbständigkeit dar und verursachen erheblichen Verwaltungsaufwand. So sollte die Einteilung des 21tägigen Urlaubs – wie sich aus Sinn und Zweck der Maßnahme ergibt – dem Gefangenen zwar nicht im Einzelnen vorgeschrieben werden. Wenn für ihn aber keine Gründe bestehen, den Urlaub zu genau bestimmten Terminen zu wählen, sollte die Anstalt darauf hinwirken, dass auch vollzugsorganisatorische Gesichtspunkte bei der Festsetzung der Urlaubszeiten berücksichtigt werden, z. B. die Auftragslage in einem Anstaltsbetrieb, in dem der betreffende Gefangene beschäftigt ist. Auch kann erwartet werden, dass der an einem Lehrgang teilnehmende Gefangene in seinem eigenen Interesse den Urlaub möglichst während der Ferien wählt.
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bb) Der Gefangene darf nicht in eine seiner Eingliederung entgegenwirkende Umgebung beurlaubt werden (vgl. VV Nr. 5 Abs. 1). Dazu können entsprechende Weisungen (§ 14) erteilt werden. Allerdings ist es schwierig, den Gefangenen daran zu hindern, in sein soziales Milieu zurückzukehren (vgl. AK-Lesting 2006 Rdn. 56). Auch sollte der Gefangene nicht gleichzeitig mit einem Mittäter beurlaubt werden und auch nicht dann, wenn dieser noch flüchtig ist. – Wichtig ist, dass der Gefangene seine Urlaubsanschrift angibt (VV Nr. 5 Abs. 2), denn die Anstalt muss wissen, wo er sich während des Urlaubs aufhält.
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cc) Der Gefangene muss die ihm während des Urlaubs entstehenden Kosten aus Mitteln des Haus- und Eigengeldes tragen (vgl. VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 2). Ihm ist weder nach dem
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Strafvollzugsgesetz noch nach einem anderen Gesetz ein Anspruch auf Gewährung einer Urlaubsbeihilfe aus Haushaltsmitteln eingeräumt (OLG Nürnberg ZfStrVo 1981, 57; ebenso Arloth 2008 Rdn. 28; anders AK-Lesting 2006 Rdn. 55; C/MD 2008 Rdn. 20: Urlaub ist Behandlungsmaßnahme und daher auch grundsätzlich aus Vollzugsmitteln zu bestreiten). Bei Urlaub zur Entlassungsvorbereitung bejaht OLG Hamm (NStZ 1984, 45) einen Anspruch auf Beihilfe, sofern die Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 vorliegen. – Der Anstaltsleiter kann die Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes (§ 51 Rdn. 14) gestatten, sofern dieses bei der Entlassung gleichwohl in angemessener Höhe zur Verfügung steht (VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. VV Nr. 2 Abs. 1 zu § 51). Nur soweit die eigenen Mittel des Gefangenen nicht ausreichen, kann ihm eine Beihilfe aus staatlichen Mitteln (Reisekosten, Bekleidungshilfe) gewährt werden (VV Nr. 6 Abs. 2 Satz 3). Er hat dann einen Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch bei Zuteilung der öffentlichen Mittel (KG StV 2007, 313; OLG Nürnberg ZfStrVo 1981, 57), wobei für Art und Umfang der Beihilfe § 75 entsprechend gilt (vgl. die 1982 neu gefasste VV Nr. 6 Abs. 3). Die Gewährung von Urlaubsbeihilfe setzt Bedürftigkeit voraus, wobei nicht nur Haus- und Eigengeld, sondern die Einkommens- und Vermögensverhältnisse insgesamt zu berücksichtigen sind (OLG Hamm NStZ 1990, 55), aber auch, ob der Gefangene mit seinem Geld sorgsam gewirtschaftet und seine Arbeitspflicht erfüllt hat (OLG Hamm BlStV 3/1990, 2). Der Umstand, dass der Gefangene in Kenntnis eines bevorstehenden Urlaubes sein gesamtes Taschengeld beim Einkauf ausgegeben hat, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er mit seinem Geld nicht sorgsam gewirtschaftet hat (OLG Hamm NStZ 1991, 254 = ZfStrVo 1993, 55). Grundsätzlich sollte der Gefangene aber angehalten werden, selbst dafür zu sorgen, dass er seinen Urlaub mit eigenen Mitteln bestreiten kann. dd) Gerät der Gefangene während des Urlaubs unvorhersehbar – verschuldet oder un- 37 verschuldet – in eine Notlage, muss er zumindest dann, wenn die Notlage gerade nicht am Ort einer Vollzugsanstalt eintritt, die Hilfe des Sozialamts in Anspruch nehmen (z. B. Reisekosten bis zur nächsten Anstalt). Grundsätzlich ist aber die Gewährung des Lebensunterhaltes von Gefangenen auch während des Urlaubs, wenn dadurch die Strafvollstreckung nicht unterbrochen wird (§ 13 Abs. 5), Angelegenheit der Justizverwaltung. – Im Falle der Erkrankung hat der Gefangene gem. § 60 gegen die Vollzugsbehörde nur einen Anspruch auf ärztliche Behandlung und Pflege in der für ihn zuständigen Anstalt (vgl. auch VV zu § 60: In der nächstgelegenen Anstalt kann ambulante Krankenpflege gewährt werden, wenn Rückkehr in die zuständige Anstalt nicht zumutbar ist). Bei notwendiger Behandlung außerhalb der Vollzugsanstalt müssen die entstehenden Kosten im Rahmen der Krankenhilfe gemäß §§ 47 f SGB XII übernommen werden, soweit die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe vorliegen. Zur Krankenhausbehandlung im Urlaub vgl. Meißner 1988, 198 ff. Zur Kostentragungspflicht, wenn sich ein Gefangener nach Urlaubsende statt in die Justizvollzugsanstalt eigenmächtig in eine psychiatrische Klinik begibt vgl. BVerwG NJW 1995, 3266. ee) Urlaub wird nur auf Antrag gewährt (VV Nr. 7 Abs. 1 Satz 1). Das kann durch den 38 Gefangenen selbst, durch seine Angehörigen, aber auch aus vollzugspädagogischen Gründen durch einen mit der Betreuung des Gefangenen befassten Bediensteten, Vollzugshelfer oder Angehörigen erfolgen (vgl. C/MD 2008 Rdn. 19). – Die VGO sieht in Nr. 46 Abs. 1 für den Urlaubsantrag und dessen Bearbeitung einen besonderen Vordruck vor. Die in VV Nr. 7 Abs. 1 Satz 2 bezeichnete Monatsfrist soll der Anstalt genügend Zeit für eine Prüfung des Urlaubsgesuches geben, insbesondere bei erstmaligem Gesuch. Zweckmäßig ist es, dass der zuständige Bedienstete zu gegebener Zeit bereits vor Antragstellung mit dem Gefangenen die Urlaubsfrage, die für jeden Insassen von zentraler Bedeutung ist,
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ausführlich erörtert, um ihm Enttäuschungen bei Urlaubsablehnungen möglichst zu ersparen. Der Gefangene hat einen Anspruch darauf, dass sein Antrag auf Urlaub in angemessener Zeit beschieden wird. Zeitliche Maßstäbe lassen sich aus der Regelung in § 113 (3-Monats-Frist) entnehmen (BVerfG NStZ 1985, 283 = StV 1985, 240). Wird über den Urlaubsantrag bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung ohne sachlichen Grund erst Monate später entschieden, kann dies einen Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB), der auf Schmerzensgeld (§ 847 BGB) gerichtet ist, begründen (LG Hamburg ZfStrVo 1995, 245: 50 Mark pro nicht rechtzeitig bewilligtem Urlaubstag). Zu den Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, dass die JVA spätestens nach Ablauf eines Monats damit zu beginnen hat, dem Antragsteller Lockerungen zu gewähren LG Lübeck ZfStrVo 2003, 382.
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ff) Gem. VV Nr. 7 Abs. 2 sind die Gründe für die Ablehnung des Urlaubs aktenkundig zu machen und dem Gefangenen bekannt zu geben. Es genügt mündliche Bekanntgabe (OLG Hamm NStZ 1983, 237 m. Anm. Wendisch NStZ 1983, 478; wie hier Arloth 2008 Rdn. 29; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 57). Allerdings empfiehlt es sich, den ablehnenden Bescheid schriftlich zu erteilen, insbesondere im Hinblick auf ein Verfahren gemäß §§ 109 ff. Eine Bezugnahme auf dem Gefangenen bereits früher mitgeteilte Ablehnungsgründe ist zulässig (OLG Hamm NStZ 1989, 444; vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 19 und AK-Lesting 2006 Rdn. 57, die eine Schriftform des Bescheides für zwingend notwendig erachten). Bei jeder Entscheidung sollte gleichzeitig eine Rechtsbehelfsbelehrung erteilt werden (vgl. auch AK-Lesting 2006 Rdn. 57). Zum Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung vgl. § 112 Rdn. 9. – Ein Nachschieben von Gründen durch die JVA im Laufe des Verfahrens nach § 109 ff ist unzulässig, wenn sich hierdurch der Charakter der ursprünglichen Entscheidung ändern würde (z. B. bei einer „Umstellung“ von Abs. 2 auf Abs. 1 – „Ermessen“ statt „Fluchtgefahr“, vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 285. Der Antrag auf Gewährung von Regelurlaub erledigt sich im allgemeinen nicht schon dadurch, dass die für den Urlaub konkret gewünschte Zeit verstrichen ist (§ 115 Rdn. 17); wenn der Antrag nicht deutlich etwas anderes ergibt, ist vielmehr davon auszugehen, dass es dem Gefangenen in erster Linie darauf ankommt, überhaupt Urlaub zu erhalten (OLG Celle ZfStrVo 1981, 57). Beachte auch § 113 Rdn. 6.
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gg) Der Gefangene erhält einen Urlaubsschein (VV Nr. 8 Abs. 1). Dabei handelt es sich um das in der VGO Nr. 46 Abs. 2 vorgesehene Formular. Aus dem Urlaubsschein muss sich eindeutig der Zeitpunkt, zu dem der Gefangene die Anstalt verlassen darf und zu dem er in die Anstalt zurückkehren muss, ergeben. Auch sind etwaige Weisungen anzugeben (Nr. 8 Abs. 1 Satz 2). – Wird der Urlaub telefonisch seitens der Anstalt verlängert, ist zu berücksichtigen, dass der Urlaubsschein dann bezüglich der Rückkehrzeit unrichtig wird. – Der Urlaubsschein ist ein wichtiges Ausweispapier für den Gefangenen. Die Aushändigung des Personalausweises oder anderer Dokumente (z. B. Fahrerlaubnis) sollte nur bei besonderem Bedarf erfolgen, um Missbrauch oder Verlust dieser Papiere zu verhindern. Die in VV Nr. 8 Abs. 2 erforderliche Belehrung des Gefangenen vor Antritt des Urlaubs sollte sich auch darauf erstrecken, welche Folgen eine verspätete oder nicht freiwillige Rückkehr für ihn haben können.
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3. a) Nach § 13 Abs. 3 können zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene nach zehn Jahren (enger Art. 14 Abs. 3 BayStVollzG: 12 Jahre; vgl. Rdn. 48 beurlaubt werden, wenn sie sich im geschlossenen Vollzug befinden; d. h. die Sperrfrist gilt nicht für in den offenen Vollzug verlegte Verurteilte (OLG Frankfurt StV 1993, 599; Arloth 1988, 418). Diese Gefangenen dürfen nicht stärker von der Außenwelt isoliert werden, als es für den
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Freiheitsentzug und die Behandlung notwendig ist. Grundsätzlich können daher in diesen Fällen keine anderen Gesichtspunkte gelten als für den Urlaub im Vollzug der zeitigen Freiheitsstrafe (C/MD 2008 Rdn. 24). Vgl. dazu die grundlegende Entscheidung des BVerfG NJW 1977, 1525, 1528: „Das Gesetz geht davon aus, dass auch der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe den Gefangenen nicht stärker isolieren darf, als es für den Vollzug der Freiheitsstrafe und die Behandlung des Gefangenen erforderlich ist [. . .]“. Abgesehen von der Urlaubsregelung in § 13 Abs. 3 enthält das Strafvollzugsgesetz keine Sonderregelung, welche die zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten von den gesetzlichen Ansprüchen oder Leistungspflichten der Vollzugsbehörden ausschließt. Zur Aufklärungs- und Begründungspflicht bei Urlaubsablehnung nach 12jähriger Inhaftierung vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1997, 63. Ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener hat auch dann keinen Anspruch auf Urlaub, wenn er sich bereits sehr lange (z. B. über 18 Jahre) in Haft befindet (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 28). Der bloße Hinweis darauf, dass die bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen bestehende Ungewissheit über den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt die Gefahr einer Nichtrückkehr beträchtlich erhöht, genügt zur Begründung der Urlaubsablehnung nicht. Denn dieser Umstand liegt bei allen zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen vor und würde damit jeder Beurlaubung entgegenstehen (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 8; vgl. auch § 11 Rdn. 27). Es bedarf vielmehr einer Gesamtabwägung aller für und gegen den Gefangenen sprechenden Umstände (OLG Schleswig-Holstein ZfStrVo 2003, 249). – Zur Verknüpfung der vorzeitigen Entlassung mit der vorangegangenen Bewährung in Vollzugslockerungen vgl. § 11 Rdn. 14 und 27. – Zur Frage der Haftunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit bei lebenslanger Strafe vgl. OLG Hamburg NStZ 1982, 264. b) § 13 Abs. 3 setzt nicht voraus, dass sich ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verur- 42 teilter und im geschlossenen Vollzug befindlicher Gefangener zehn Jahre lang ununterbrochen innerhalb ein und derselben Vollzugsanstalt befunden haben muss. Es genügt, wenn der Gefangene wegen derselben Sache mehr als zehn Jahre mit oder ohne Unterbrechung in (Untersuchungs- und Straf-)Haft gewesen ist (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 8; OLG Hamburg NStZ 1982, 303; OLG Hamm LS ZfStrVo 1983, 381; OLG Nürnberg BlStV 1/1988, 5). c) Die Vollzugsbehörde darf bei ihrer Entscheidung über Urlaubsgewährung unter 43 engen Voraussetzungen auch Gesichtspunkte der Schwere der Schuld und der Generalprävention (mit)berücksichtigen. Allgemein zum Streitstand hierzu sowie zur Berücksichtigung bei Vollzugslockerungen von Gefangenen mit einer zeitigen Freiheitsstrafe § 11 Rdn. 3 und § 2 Rdn. 6. Für die Beurlaubung eines zu einer lebenslangen Strafe Verurteilten gilt, dass je länger die Zehnjahresfrist (Abs. 3) überschritten ist, desto sorgfältiger und genauer die Prognose über die voraussichtliche Haftdauer sein muss, um die Ablehnung eines Urlaubsantrages auch wegen der Schwere der Schuld mit zu tragen (OLG Nürnberg BlStV 1/1988, 5). Auch darf seine Chance zu einem zwar noch ungewissen Zeitpunkt entlassen zu werden, nicht dadurch zunichte gemacht werden, dass er infolge des langen Haftvollzuges die tatsächliche Fähigkeit zum Leben in Freiheit verliert. Diese Fähigkeit zu erhalten, kann auch die Beurlaubung des Verurteilten dienen. Insofern können sowohl lange Dauer des Freiheitsentzuges – die möglicherweise zu schwerwiegenden und persönlichkeitsverändernden Schäden führen kann – als auch relativ fortgeschrittenes und hohes Alter des Verurteilten von Bedeutung sein (BVerfG NStZ 1983, 476; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 9; OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 28 und ZfStrVo 1984, 117; OLG Hamm LS NStZ 1981, 495); vgl. auch Hartwig 1995, der die Schuldschwere eher als formales Kriterium und den Schwerpunkt bei generalpräventiven Erwägungen sieht. Zur Versagung von Voll-
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zugslockerungen aus Gründen der Schuldschwere (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) vgl. BVerfG ZfStrVo 1998, 180 = NStZ-RR 1998, 121.
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d) Eine allgemeine Praxis, die Beurlaubung von zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen von beanstandungsfreiem Verlauf vorbereitender Ausführungen und Tagesausgänge abhängig zu machen, ist ermessensfehlerhaft. Das schließt aber nicht aus, dass im Einzelfall eine solche Vorbereitung zur Erreichung des Vollzugszieles (§ 2 Satz 1), insbesondere aber zur Verhinderung eines Missbrauchs dieser Vollzugslockerungen, durchaus sachgemäß sein kann (OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 53; OLG Celle StV 1988, 349). Wenn Zweifel hinsichtlich der Flucht- und Missbrauchsgefahr bestehen, ist zur Gewährung von Urlaub auch eine Erprobung durch Ausführung und Ausgang denkbar (KG ZfStrVo 1989, 375). Zur Verpflichtung der Vollzugsbehörde, in Erfüllung des Resozialisierungsauftrags einen bereits 23 Jahre inhaftierten Gefangenen in eine andere Anstalt in der Nähe seiner Angehörigen zu verlegen, damit diese ihn bei Vollzugslockerungen stützen können vgl. BVerfG NJW 1998, 1133. Die Vollzugsbehörde kann im Rahmen der Prüfung des Urlaubsantrages vom Gefangenen verlangen, dass er sich einer psychiatrischen Begutachtung unterzieht, und zwar auch dann, wenn bereits ein befürwortendes Gutachten eines Sachverständigen einer anderen Fachrichtung vorliegt (OLG Hamm ZfStrVo 1991, 374 = NStZ 1992, 149 m. zust. Anm. Begemann).
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e) § 13 Abs. 4 ist missverständlich und könnte zu der Ansicht führen, dass die Länder in „für den offenen Vollzug geltenden Vorschriften“ ermächtigt werden, für Gefangene im offenen Vollzug andere Urlaubsmöglichkeiten festzusetzen als für Gefangene im geschlossenen Vollzug (so AK-Lesting 2006 Rdn. 51–53; C/MD 2008 Rdn. 21; wie hier dagegen Arloth 2008 Rdn. 33). Die Beschränkung der Urlaubsdauer auf 21 Kalendertage im Jahr gem. § 13 Abs. 1 gilt vielmehr für alle Strafgefangene (Rdn. 9). Wenn der Gesetzgeber für den offenen Vollzug generell andere Urlaubsvorschriften als für den geschlossenen Vollzug für nötig gehalten hätte, hätte er sie in das StVollzG übernommen (so auch OLG Celle NStZ 1981, 367). Auch besteht kein Bedürfnis, den Gefangenen im offenen Vollzug von der Beschränkung auf 21 Tage Urlaub im Jahr auszunehmen. Abs. 4 beschränkt sich vielmehr in seiner Bedeutung nur auf Abs. 3 (vgl. SA BT-Drucks. 7/918, 15) und hätte daher zweckmäßigerweise in den Abs. 3 eingearbeitet werden müssen (OLG Celle aaO). Ein zu lebenslanger Strafe Verurteilter, der sich für den offenen Vollzug eignet (§ 10 Rdn. 6 ff), aber aus besonderen Gründen in einer geschlossenen Anstalt untergebracht ist, kann demnach gem. § 13 Abs. 4 beurlaubt werden, auch wenn er sich noch nicht zehn Jahre im Vollzug befindet (OLG Hamburg NStZ 1981, 276; Meißner 1988, 171). – Die Eignung für den offenen Vollzug ergibt sich aus § 10. Die „besonderen Gründe“ sind solche, die nicht in der Person des Gefangenen liegen, nämlich nach § 201 Nr. 1 die räumlichen, personellen und organisatorischen Anstaltsverhältnisse (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 33). Die Erweiterung der Urlaubsmöglichkeit in Abs. 4 hängt indes nicht von baulichen oder sonstigen organisatorischen Beschränkungen ab. Sie ist vielmehr inhaltlich verknüpft mit einem subjektiven Element, nämlich der Erwartung, dass der Gefangene die Lockerung nicht missbrauchen werde. Das wichtigste Anzeichen dafür ist seine grundsätzliche Eignung für den offenen Vollzug. Maßstab hierfür ist § 10. Dem steht nicht entgegen, dass der Gefangene z. B. deshalb im geschlossenen Vollzug bleibt, weil seine Behandlung dort aufgrund des Vorhandenseins eines ihm vertrauten Therapeuten einen besseren Erfolg verspricht. „Besondere Gründe“ können deshalb auch in der Person des Gefangenen liegen (KG NStZ 2002, 528 M = StV 2002, 36. Anm. Heischel; C/MD 2008 Rdn. 29; AK-Lesting 2006 Rdn. 46; anders noch Vorauflage). Nicht erforderlich ist, dass die JVA bereits einen positiven Entschluss zur Verlegung des Gefangenen in den offenen Vollzug gefasst hat (OLG Hamburg NStZ 1981, 276). – Der Entwurf des Bundesrates
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Urlaub aus der Haft
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vom 8.12.1988 zur Änderung des StVollzG (BR-Drucks. 270/88) sah vor, § 13 Abs. 4 zu streichen, da die Vorschrift nur Bedeutung hätte, wenn für die Gewährung von Urlaub im offenen und geschlossenen Vollzug unterschiedliche Regelungen gelten. Bisher hat jedenfalls noch keine Landesjustizverwaltung Vorschriften erlassen, nach denen im offenen Vollzug über die Kontingentierung nach Abs. 1 Satz 1 hinausgehende Regelurlaubstage gewährt werden dürfen. f) Nach VV Nr. 7 Abs. 3 ist die Entscheidung über die Beurlaubung des zu lebenslanger 46 Freiheitsstrafe Verurteilten in einer Konferenz gem. § 159 vorzubereiten und darüber eine Niederschrift zu fertigen. Hier handelt es sich um eine wichtige vollzugliche Entscheidung. Auch in anderen Fällen – vgl. VV Nr. 4 Abs. 4 – dürfte eine solche Konferenz zweckmäßig sein. g) Die Beurlaubung bedarf nach VV Nr. 7 Abs. 3 Satz 3 der Zustimmung der Auf- 47 sichtsbehörde. Hierbei handelt es sich um keinen gesetzlichen Vorbehalt, so dass die Vollzugsbehörde eine ablehnende Entscheidung nicht auf das bloße Fehlen der Zustimmung stützen darf. Der Vorbehalt widerspricht jedoch auch nicht dem Gesetz (KG NStZ 2002, 528 M = StV 2002, 36 m. insoweit krit. Anm. Heischel; wie hier Arloth 2008 Rdn. 30; insoweit gleichermaßen zweifelnd C/MD 2008 Rdn. 28 und AK-Lesting 2006 Rdn. 59 mit dem ernstzunehmenden Hinweis auf den Abstand der Aufsichtsbehörde vom Vollzugsgeschehen und die Gefahr einer Blickverengung auf die strafrechtliche Biographie). Richtig verstanden statuiert die VV Nr. 7 Abs. 3 Satz 3 jedoch lediglich eine Verpflichtung des Anstaltsleiters, vor dem endgültigen Abschluss des Meinungsbildungsprozesses der Aufsichtsbehörde zu berichten und ihr Gelegenheit zu geben, im Falle von Bedenken die Angelegenheit zunächst nochmals mit der Anstalt zu erörtern, ggf. jedoch auch von ihrem Weisungsrecht Gebrauch zu machen (wie hier Begemann NStZ 1992, 151; vgl. auch OLG Frankfurt BlStV 2/1982, 3; OLG Hamm NStZ 1992, 149 = ZfStrVo 1991, 374). Die Aufsichtsbehörde kann zwar eine eigenständige Beurteilung der Flucht- und Missbrauchsgefahr gem. § 11 Abs. 2 vornehmen (OLG Hamburg NStZ 1981, 237 mit abl. Anm. Meier NStZ 1981, 406) und ist auch nicht an die Ermessenserwägungen der Vollzugsanstalt gebunden (OLG Hamburg ZfStrVo 1978, 185). Will sie jedoch dem Vorschlag der Anstalt ihre Zustimmung versagen, muss sie sorgfältig darlegen, welche Gründe sie zu ihrer abweichenden Einschätzung veranlasst haben. Mit dem bloßen Hinweis darauf, dass die bestehende Ungewissheit über den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt die Gefahr einer Nichtrückkehr beträchtlich erhöht, erfüllt sie diese Begründungspflicht z. B. nicht (OLG Hamburg aaO). Zu den Anforderungen an die Begründung einer ablehnenden Urlaubsentscheidung bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach zwölf Jahren Haft vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1997, 63. Auch darf die Bearbeitung nicht unnötig verzögert werden (KG NStZ 2002, 528 M = StV 2002. 36 m. Anm. Heischel; vgl. dazu auch BVerfG NStZ 1985, 283; zur Amtshaftung wegen Säumnis Rdn. 38). In jedem Falle bleibt es bei der für die Entscheidung über Vollzugslockerungen und Urlaub gesetzlich begründeten Zuständigkeit des Anstaltsleiters. Das Votum der Aufsichtsbehörde wie auch eine etwaige Weisung wirken zunächst nur intern. Außenwirkung, d. h. Relevanz gegenüber dem Gefangenen und dem Gericht, erlangen sie erst dadurch, dass der Anstaltsleiter sie (einschließlich der ihr zugrundeliegenden sachlichen Erwägungen) in eine eigene Entscheidung umsetzt (wie hier Begemann aaO). Vgl. auch Rdn. 30 und § 11 Rdn. 25.
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§ 13
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 14 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 13 Abs. 1 StVollzG; neu hinzugefügt wird lediglich die Klarstellung, dass Urlaubsjahr das Vollstreckungsjahr ist. Abs. 2 ist inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 13 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 orientiert sich weitgehend an § 13 Abs. 3 und Abs. 4 StVollzG, verlängert allerdings die Mindestverbüßungsdauer und hat folgenden Wortlaut: „Zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene können beurlaubt werden, wenn sie sich einschließlich einer vorhergehenden Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung zwölf Jahre im Vollzug befunden haben oder wenn sie in den offenen Vollzug überwiesen oder hierfür geeignet sind“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „In Abs. 3 wird die Mindestverbüßungsdauer [. . .] gegenüber § 13 Abs. 3 StVollzG um zwei Jahre verlängert, da nach den Erfahrungen der Praxis die Gewährung von Urlaub lange vor dem Erreichen des theoretischen vorzeitigen Entlassungszeitpunktes nicht verantwortet werden kann. Der Gedanke der Regelung des § 13 Abs. 4 StVollzG wurde an systematisch richtiger Stelle in Abs. 3 übernommen. Zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte, die sich für den offenen Vollzug eignen, aber aus besonderen Gründen in einer geschlossenen Anstalt untergebracht sind, können beurlaubt werden, auch wenn sie sich noch nicht zwölf Jahre im Vollzug befinden“ (LTDrucks. 15/8101, 54). Vgl. auch Kommentierung Rdn. 41. Abs. 4 ist weitgehend inhaltsgleich mit § 15 Abs. 4 StVollzG, hat aber folgenden (sehr unterschiedlichen) Wortlaut: „Gefangenen, die zum Freigang (Art. 13 Abs. 1 Nr. 1) zugelassen oder hierfür geeignet sind, kann innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung weiterer Urlaub bis zu sechs Tagen im Monat gewährt werden. Art. 17 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung“. Abs. 5 ist inhalts- und wortgleich mit § 13 Abs. 5 StVollzG. Vgl. auch Art. 4 BayStVollzG – Schutz der Allgemeinheit (dazu § 2 Rdn. 21, § 11 Rdn. 30) und Art. 15 BayStVollzG – Besondere Vorschriften für Gewalt- und Sexualstraftäter (dazu § 10 Rdn. 15, § 11 Rdn. 30). 2. Hamburg
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Vgl. § 11 Rdn. 31. Siehe auch Kommentierung Rdn. 15. 3. Niedersachsen
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Siehe Kommentierung Rdn. 12 sowie § 11 Rdn. 32 f.
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Weisungen, Aufhebung von Lockerungen und Urlaub
§ 14
§ 14 Weisungen, Aufhebung von Lockerungen und Urlaub (1) Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen für Lockerungen und Urlaub Weisungen erteilen. (2) Er kann Lockerungen und Urlaub widerrufen, wenn 1. er auf Grund nachträglich eingetretener Umstände berechtigt wäre, die Maßnahmen zu versagen, 2. der Gefangene die Maßnahmen missbraucht oder 3. der Gefangene Weisungen nicht nachkommt. Er kann Lockerungen und Urlaub mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen, wenn die Voraussetzungen für ihre Bewilligung nicht vorgelegen haben. VV 1 (1) Für Lockerungen und Urlaub werden die nach den Umständen des Einzelfalles erforderlichen Weisungen erteilt. (2) Der Gefangene kann namentlich angewiesen werden, a) Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt oder bestimmte Verrichtungen außerhalb der Anstalt beziehen, b) sich zu festgesetzten Zeiten bei einer bestimmten Stelle oder Person zu melden, c) mit bestimmten Personen oder mit Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu verkehren, d) bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen, zu benutzen oder verwahren zu lassen, e) alkoholische oder andere berauschende Getränke und Stoffe sowie bestimmte Lokale oder Bezirke zu meiden. 2 (1) Für das Vorliegen der in § 14 Abs. 2 StVollzG genannten Voraussetzungen müssen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gegeben sein. (2) Widerruf und Rücknahme werden wirksam, wenn die Entscheidung dem Gefangenen mündlich, fernmündlich oder schriftlich bekannt gemacht oder unter der Urlaubsanschrift zugegangen ist. Dem Gefangenen ist Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ist dies vor der Entscheidung über den Widerruf oder die Rücknahme nicht möglich oder untunlich, so ist die Anhörung nach Wegfall des Hindernisses unverzüglich nachzuholen. (3) Die Gründe für den Widerruf und die Rücknahme sind aktenkundig zu machen und dem Gefangenen auf Verlangen bekannt zu geben. (4) Fahndungsmaßnahmen können bereits vor der Wirksamkeit des Widerrufs oder der Rücknahme eingeleitet und durchgeführt werden. Schrifttum: s. bei § 11
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–25 1. Weisungen (Abs. 1) . . . . . . . 2–8 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . 3 b) Beispiele . . . . . . . . . . . 4–6 aa) VV . . . . . . . . . . . . 4 bb) Sonstige . . . . . . . . . 5 cc) Freigang . . . . . . . . . 6 c) Form . . . . . . . . . . . . 7 d) Weisungsverstoß . . . . . . 8 2. Widerruf und Rücknahme (Abs. 2) 9–25 a) Begünstigende (Justiz-) Verwaltungsakte . . . . . . . 10 b) Vertrauensschutz . . . . . . 11 c) Widerruf (Satz 1) . . . . . . . 12–16 aa) „Neue“ Umstände (Nr. 1) 13 bb) Missbrauch der Maßnahme (Nr. 2) . . . . . . . . . . 14
Rdn. cc) Weisungsverstoß (Nr. 3) dd) Wirkung für die Zukunft d) Rücknahme (Satz 2) . . . . aa) Rechtswidriger (Justiz-)Verwaltungsakt . . . . bb) „Neue“ Umstände . . . cc) Wirkung für die Zukunft e) Wirksamwerden . . . . . . f) „Analoge“ Anwendung . . aa) Rechtsgrundlagen . . . bb) Wichtige Fallgruppen . cc) Gesetzliche Klarstellung III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
.
15 16 . 17–20 . . . . . . . . . . . .
18 19 20 21 22–25 23 24 25 26 27–29 27 28 29
I. Allgemeine Hinweise 1
Vollzugslockerungen und Urlaub sind keine „Vergünstigungen“, sondern Behandlungsmaßnahmen. Um im Einzelfall zur Erreichung des Vollzugszieles (§ 2 Rdn. 12 ff) beitragen zu können, müssen sie mitunter genau strukturiert werden. Dieser Notwendigkeit wird durch die Möglichkeit, Weisungen zu erteilen, Rechnung getragen. Außerdem sind in Grenzfällen der Flucht- und Missbrauchsprognose (§ 11 Abs. 2) zu Gunsten des Gefangenen denkbare Weisungen zu berücksichtigen, sofern hierdurch typische Gefahrenquellen reduziert werden können (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 81). Der Widerruf und die Rücknahme von Lockerungen und Urlaub sollen den Beginn oder die Fortführung von Behandlungsmaßnahmen, die inzwischen als ungeeignet oder gefährlich erscheinen, verhindern.
II. Erläuterungen 2
1. Gem. § 14 Abs. 1 kann der Anstaltsleiter dem Gefangenen für Lockerungen und Urlaub Weisungen erteilen. Die Ermächtigung zeigt, dass der Gefangene während der Maßnahmen zwar in gewissen Grenzen seine Freiheit wiedererlangt, im übrigen jedoch weiterhin besonderen, in der Freiheitsstrafe begründeten Einschränkungen unterliegt (BTDrucks. 7/918, 53; vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1978, 18). Unter Weisungen sind Verhaltensanordnungen zu verstehen (C/MD 2008 Rdn. 1). Zu den Konsequenzen eines Verstoßes s. Rdn. 8, 15. Die Verbindung der Anordnung eines Urlaubes oder einer Lockerung mit einer Auflage, d. h. einer selbständig erzwingbaren hoheitlichen Anordnung, ist nicht zulässig.
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a) Den zulässigen Inhalt von Weisungen hat der Gesetzgeber (im Unterschied etwa zu § 56c StGB) nicht im einzelnen bestimmt. Auch die VV (Nr. 1 Abs. 2) bringen lediglich Beispiele dafür, welche Weisungen erteilt werden können. Sie orientieren sich weitgehend an den in § 56c Abs. 2 Nr. 1 bis 4 StGB genannten Weisungen, sind jedoch nicht abschließend. Ob überhaupt eine – und wenn ja, welche – Weisung erteilt wird, steht im Ermessen des Anstaltsleiters. Der Gefangene hat lediglich einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung die-
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Weisungen, Aufhebung von Lockerungen und Urlaub
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ses Ermessens. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass ausschließlicher Sinn und Zweck der Erteilung von Weisungen die weitmöglichste Erreichung des Vollzugszieles unter Vermeidung damit verbundener Konflikte und Risiken für die Allgemeinheit ist. Eine Weisung, die nicht entsprechend sinnvoll ist, ist nicht zulässig. Die Erteilung einer Weisung kommt des weiteren nur in Betracht, wenn sie erforderlich ist (VV Nr. 1 Abs. 1). Insoweit ist vor allem zu bedenken, dass Weisungen im Widerspruch zum Ziel der Selbständigkeit und Eigenverantwortung stehen (AK-Lesting 2006 Rdn. 2). Dieser Gesichtspunkt, der für einen restriktiven Gebrauch von Weisungen spricht, erfordert vor allem eine Berücksichtigung des aktuellen Entwicklungsstandes. Die Weisung muss überdies einzelfall- (VV Nr. 1 Abs. 1) und realitätsbezogen sein. b) aa) Häufig werden Gefangenen bei Lockerungen und Urlaub Weisungen erteilt, die 4 sich auf den Aufenthalt oder bestimmte Verrichtungen außerhalb der Anstalt beziehen (VV Nr. 1 Abs. 2 Buchst. a), z. B. Besuch von Angehörigen oder Bekannten an einem bestimmten Ort oder Besuchsausgang am Ort der Anstalt. Möglich ist auch, den Gefangenen anzuweisen, sich an einem bestimmten Ort nicht aufzuhalten (z. B. am Tatort des von ihm begangenen Mordes aus Rücksicht auf das Empfinden der dort wohnenden Bevölkerung). – Zur Verhinderung der Gefahr, dass sich der Gefangene während eines Urlaubes durch Flucht der weiteren Vollstreckung entzieht, kann ihm aufgegeben werden, sich bei einer bestimmten Stelle, z. B. der Polizei, zu melden (VV Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b). – Die Weisung, während Lockerungen oder Urlaub mit bestimmten Personen nicht in Kontakt zu treten (VV Nr. 1 Abs. 2 Buchst. c) ist unter dem Gesichtspunkt der Realitätsbezogenheit (Rdn. 3) in aller Regel fragwürdig. Sie ist lediglich im Einzelfall denkbar, wenn die betreffenden Personen von Beginn an in die Planung der Maßnahme mit einbezogen werden können, wie z. B. eine geschiedene Ehefrau, die zu Recht einen Kontakt mit dem Gefangenen fürchtet (AK-Lesting 2006 Rdn. 5), oder auch Opfer von Straftaten (z. B. eigene Kinder des Gefangenen, die von ihm sexuell missbraucht wurden). – Die Weisung, bestimmte Gegenstände (z. B. „Einbruchswerkzeuge“; Arloth 2008 Rdn. 2) nicht bei sich zu führen (VV Nr. 1 Abs. 2 Buchst. d), spielt in der Praxis so gut wie keine Rolle, so dass auf die gesonderte Aufzählung dieser Möglichkeit im Rahmen einer Überarbeitung der VV ohne weiteres verzichtet werden könnte. – Der Prozentsatz suchtmittelgefährdeter Gefangener ist hoch. Die Möglichkeit der Weisung, alkoholische oder andere berauschende Getränke und Stoffe zu meiden (VV Nr. 1 Abs. 2 Buchst e), trägt dem Rechnung. Die Vollzugspraxis macht hiervon jedoch häufig zu undifferenziert Gebrauch, indem z. B. in jeden Urlaubsschein als sog. „übliche“ Weisung (örtlich bereits per Stempel) ein Alkoholverbot (selten jedoch ergänzend bezogen auch auf BtM) für den gesamten Zeitraum der Maßnahme aufgenommen wird. Bei Gefangenen, die keinerlei Suchtproblematik aufweisen, verstößt eine derartige Weisung gegen sämtliche Vorgaben (Rdn. 3); bei Gefangenen mit entsprechender Problematik ist sie nach Einzelfallprüfung zwar denkbar, stets jedoch sorgfältig dahingehend zu hinterfragen, ob nicht ein ausdrücklicher und aktenkundiger Hinweis auf die Möglichkeit eines Widerrufes wegen Missbrauchs der Maßnahme (Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, dazu Rdn. 14) eine vergleichbare Warnfunktion erfüllt, unter dem Gesichtspunkt der Realitätsbezogenheit (Kontrollierbarkeit bzw. Kontrollbereitschaft) aber vorzugswürdig ist. In der Regel bereits aus Gründen der Sicherheit der Anstalt sinnvoll und auch ausreichend kontrollierbar ist hingegen die Weisung, von Ausgang, Urlaub oder Freigang nüchtern in die Anstalt zurückzukehren. bb) Im Falle eines Ausgangs kann dem Gefangenen die Weisung erteilt werden, sich 5 von einer bestimmten Person (Angehöriger, Bekannter, ehrenamtlicher Betreuer) begleiten zu lassen. – Als Weisung kann auch ein Verbot in Betracht kommen, während Lockerungen oder Urlaub ein Kraftfahrzeug zu führen. Unzulässig ist jedoch eine generelle Un-
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tersagung unter Hinweis auf die Vermutung einer angeblich gefangenenspezifisch erhöhten Gefährdung des Straßenverkehrs, die lediglich in begründeten Ausnahmefällen widerlegbar sein soll (so aber OLG Stuttgart NStZ 1983, 573 = ZfStrVo 1983, 303; zumindest für den Bereich des offenen Vollzuges wie hier OLG Frankfurt NStZ 1991, 407). Eine fehlerfreie Ermessensentscheidung setzt vielmehr stets eine Einzelfallprüfung voraus (VV Nr. 1 Abs. 1), in die alle für den betroffenen Gefangenen maßgeblichen Aspekte einzubeziehen sind (C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Lesting 2006 Rdn. 3). Der Anstaltsleiter ist hierdurch nicht überfordert (a. A. OLG Stuttgart aaO). Für ihn spricht vielmehr seinerseits die Vermutung, dass er in der Lage ist, die aus dem gesetzlichen Behandlungsauftrag folgende Verpflichtung auch zu erfüllen. – Die Weisung, während eines Urlaubes keine Straftaten zu begehen, erscheint unter keinen denkbaren Umständen zulässig (a. A. OLG Nürnberg ZfStrVo 1984, 377 m. abl. Anm. Skirl). Zum einen würde eine entsprechende ernsthafte Befürchtung bereits im Rahmen der Vorfrage der Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) zu einer Verneinung der Urlaubs- oder Lockerungseignung führen, zum anderen wäre eine derartige Weisung aufgrund mangelnder Kontrollierbarkeit nicht ausreichend realitätsbezogen (Rdn. 3). Ob sie auch aufgrund der nicht bestehenden Verpflichtung des Gefangenen, an der Realisierung des Vollzugszieles mitzuwirken (allg. dazu § 4 Rdn. 1 ff), ausgeschlossen ist (so C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Lesting 2006 Rdn. 5), kann deshalb dahinstehen. Die Überlegung, eine derartige Weisung sei deshalb nicht überflüssig, weil (nur) so bei einem Verstoß Disziplinarmaßnahmen ermöglicht würden (Arloth 2008 Rdn. 2) geht gleichfalls fehl. Die Begehung einer neuen Straftat führt in aller Regel zu einer weiteren Strafe nach dem StGB und zu einem Widerruf von Lockerungen und ggf. Urlaub nach dem StVollzG, so dass nicht ersichtlich ist, worin dann noch ein „disziplinarischer Überhang“ zu sehen sein sollte.
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cc) Eine gewichtige Rolle spielen Weisungen beim Freigang. Das besondere Verhältnis zwischen Anstalt und Gefangenem – beruhend auf der Erlaubnis zu einem sich auf einen längeren Zeitraum erstreckenden Aufenthalt außerhalb der Anstalt mit Verpflichtung zu täglicher Rückkehr – wirft eine Fülle von Einzelfragen auf, die geregelt werden müssen (Zeiten zum Verlassen und Rückkehr in die Anstalt, Verkehrsmittel zum Erreichen des Arbeitsplatzes, Aufenthalt außerhalb der Arbeitsstelle, Verpflegung, Einbringung von Sachen in die Anstalt, Verwendung von Taschengeld oder Arbeitslohn, Verbot der Inempfangnahme von Geldern vom Arbeitgeber ohne vorherige Zustimmung durch die Vollzugsbehörde). Für den Freigang s. überdies § 11 Rdn. 9–11; § 39 Rdn. 10, für das freie Beschäftigungsverhältnis § 39 Rdn. 11 ff.
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c) Die Form der Erteilung der Weisungen ist grundsätzlich nicht vorgeschrieben. Lediglich in VV Nr. 8 Abs. 1 Satz 2 zu § 13 ist bestimmt, dass die erforderlichen Weisungen in den Urlaubsschein aufzunehmen sind. Wegen möglicher Folgen bei Nichtbeachtung der Weisungen (hierzu Rdn. 8, 15) ist Schriftform jedoch auch bei allen Lockerungen zweckmäßig (ebenso AK-Lesting 2006 Rdn. 6).
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d) Bei einem Weisungsverstoß kann der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub widerrufen (Abs. 2 Nr. 3, im einzelnen Rdn. 15). Es kommt jedoch auch die Anordnung einer Disziplinarmaßnahme in Betracht, weil auch durch Weisungen Pflichten auferlegt werden können, wie z. B. die, pünktlich in die Anstalt zurückzukehren (s. auch § 102 Rdn. 6; wie hier Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 6).
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2. Gemäß § 14 Abs. 2 kann der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen oder zurücknehmen. Die Regelung ist abschließend. Korrekturen aus anderen Gründen (z. B. rechtspolitischer Strategiewandel in Hessen) sind nicht zulässig (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 252; Arloth 2008 Rdn. 5; K/S-Schöch 2002 § 7
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Rdn. 81). Unter Lockerungen sind ausschließlich solche mit Außenwirkung i. S. d. § 11 Abs. 1 (vgl. § 11 Rdn. 6 ff) zu verstehen. Eine unmittelbare Anwendung von § 14 Abs. 2 kommt deshalb nur in diesen Fällen sowie aufgrund gesetzesinterner Verweisungsvorschriften (§§ 15 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2, 35 Abs. 1 Satz 2, 36 Abs. 1 Satz 2, 39 Abs. 1 Satz 2) in Betracht, nicht jedoch z. B. bei einer Rückverlegung aus dem offenen Vollzug (so aber OLG Hamm ZfStrVo 1984, 248) oder der Aufhebung der Gestattung einer Selbstbeschäftigung (so aber OLG Bremen ZfStrVo SH 1979, 57). Zur analogen (Nicht-)Anwendbarkeit von § 14 Abs. 2 s. Rdn. 23 ff. a) Bei Gewährung von Lockerungen und Urlaub handelt es sich um begünstigende 10 (Justiz-) Verwaltungsakte (vgl. § 35 VwVfG). Die Regelungen des Abs. 2, der hinsichtlich der Voraussetzungen einer Aufhebung danach unterscheidet, ob die Anordnung rechtmäßig (Widerruf) oder rechtswidrig (Rücknahme) war, decken sich insoweit mit allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen, die sich weitgehend ähnlich auch in den §§ 48, 49 VwVfG niedergeschlagen haben (OLG Celle NStZ 1984, 430). In Zweifelsfällen und bei Auslegungsfragen sind die erwähnten Grundsätze auch ansonsten ergänzend heranzuziehen, sofern im StVollzG keine abweichenden Regelungen getroffen worden sind (OLG Hamm NStZ 1986, 143 = ZfStrVo 1986, 117; OLG Celle BlStV 4/5/1990, 6 und NStZ 1984, 430; Arloth 2008 Rdn. 5). Für Lockerungen und Urlaub gemäß §§ 11, 13 bedeutet dies u. a., dass anordnende (Justiz-)Verwaltungsakte ohne entgegenstehende Anhaltspunkte sog. „Dauerwirkung“ entfalten. Abgesehen vom Freigang bedürfen sie zwar jeweils einer Einzelanordnung, beruhen – bei sonst unverändertem Antragsinhalt hinsichtlich Dauer, sozialem Umfeld usw. der Lockerungsmaßnahme – in der Regel jedoch auf einer einzigen Grundsatzentscheidung, nämlich der Zuerkennung der (Regel-)Ausgangs- oder Urlaubseignung (so wohl auch C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. indes Arloth 2008 Rdn. 4: „die erneute Gewährung ist an §§ 11, 13 zu messen, nicht an § 14 Abs. 2“ a. A. wohl auch LG Hamburg StraFo 2004, 253). Aufgrund des inzidenten Entzuges dieser Rechtsposition stellt die Nichtgewährung einer Folgemaßnahme keine bloße Ablehnung einer zukunftsorientierten Einzelmaßnahme dar, sondern gleichzeitig die Aufhebung des zugrundeliegenden begünstigenden Verwaltungsaktes (wie hier Skirl in Anm. zu OLG Hamm NStZ 1995, 359). b) VV Nr. 2 Abs. 1 bestimmt, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vor- 11 liegen der in § 14 Abs. 2 genannten Voraussetzungen gegeben sein müssen. Die Tatsachen, auf die die Aufhebung gestützt wird, müssen hinreichend substantiiert und belegbar sein (OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 168). Zur Durchsuchungsbefugnis des Anstaltsleiters bezüglich eines vor den Toren der Anstalt geparkten Pkws eines Freigängers zur umfassenden Ermittlung des Sachverhaltes vor einer Entscheidung über einen Widerruf der angeordneten Lockerungen gemäß Abs. 2 Nr. 2 vgl. OLG Hamm NStZ 1996, 359. Die Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Anstaltsleiters. Auch wenn sämtliche Voraussetzungen vorliegen, ist eine Aufhebung keinesfalls zwingend („kann“). Umgekehrt kommen Widerruf und Rücknahme nur in Betracht, wenn eine sorgfältige (und auch entsprechend dokumentierte) Abwägung ergibt, dass gewichtige Belange des Allgemeinwohls dem privaten Interesse des Gefangenen am Fortbestand der Maßnahme vorgehen. Im Hintergrund stehen dabei zwei sich widerstreitende Grundsätze: zum einen das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, zum anderen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot des Vertrauensschutzes. Im Falle einer von Anfang an rechtswidrigen Anordnung ist die Gesetzmäßigkeit verstärkt tangiert, so dass eine Rücknahme im Vergleich zum Widerruf unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist. Bei nicht hinreichender Beachtung des Vertrauensschutzes wird jedoch in jedem Falle das Grundrecht des Bürgers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Das BVerfG hat 1993 erstmals klargestellt,
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dass auch einem Strafgefangenen der Vertrauensschutz nicht grundsätzlich verschlossen ist (NStZ 1993, 300 = StV 1993, 319) und diese Aussage zwischenzeitlich wiederholt durch den Hinweis bekräftigt, dass im Hinblick auf das Vollzugsziel zu dessen Gunsten zusätzlich zu berücksichtigen sei, dass er gerade angesichts der Vielzahl vollzugsbedingter Beschränkungen auf den Fortbestand einer ihm von der Anstalt einmal eingeräumten Rechtsposition in besonderem Maße vertraut, solange auch er mit dem ihm dadurch entgegengebrachten Vertrauen verantwortungsvoll umgegangen ist und in seiner Person keine Ausschlussgründe verwirklicht hat (BVerfG NStZ 1994, 100 = StV 1994, 147 und ZfStrVo 1995, 50 = StV 1994, 432). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliche einmal erworbene Rechtsposition ungeachtet der wirklichen Rechtslage Bestand haben muss; es nötigt aber zu der an den Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit ausgerichteten, auf den konkreten Einzelfall bezogenen Abwägung der Interessen der Allgemeinheit gegen das Interesse des Strafgefangenen am Fortbestand der ihn begünstigenden Rechtslage im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung (zum Ganzen vgl. auch die Übersicht bei Kruis/Cassardt NStZ 1995, 521, 522 ff sowie Rotthaus ZfStrVo 1996, 3, 5 ff).
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c) § 14 Abs. 2 Satz 1 bezieht sich ausschließlich auf rechtmäßige begünstigende (Justiz-) Verwaltungsakte (dazu Rdn. 10). Insoweit gilt der Grundsatz der Unwiderrufbarkeit, der nur bei Vorliegen bestimmter Ausnahmen durchbrochen werden darf. Abs. 2 Satz 1 stellt (wie §§ 70 Abs. 3 StVollzG und 49 VwVfG) eine solche Ausnahme dar. Die Widerrufsgründe der Nr. 1 bis 3 sind bewusst weit gefasst. Das Bewusstsein, eine Anordnung erforderlichenfalls auch wieder korrigieren zu können, soll den Anstaltsleiter ermutigen, den durch die vergleichsweise geringen Mindestanforderungen für die Gewährung von Lockerungen und Urlaub eingeräumten Handlungsspielraum im Hinblick auf das Vollzugsziel auch zu nutzen (SA S. 11; s. auch C/MD 2008 Rdn. 2). Andererseits genießt der Gefangene einen hohen Vertrauensschutz (Rdn. 11). Wird der Widerruf auf Antrag des Gefangenen im Hauptsacheverfahren für rechtswidrig erklärt, steht ihm unter Umständen auch ein Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB), der auf Schmerzensgeld (§ 847 BGB) gerichtet ist, zu (vgl. HansOLG Hamburg NVwZ-RR 2004, 634). Nr. 1 bis 3 regeln abschließend, unter welchen Voraussetzungen der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub widerrufen kann (C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Lesting 2006 Rdn. 12). OLG Hamm NStZ 1989, 390 verwechselt Widerruf und Rücknahme, wenn es meint, für den Fall offensichtlicher Fehlentscheidungen zum Schutze berechtigter Belange der Allgemeinheit einen weiteren Widerrufsgrund zulassen zu müssen (s. dazu auch Rdn. 13, 19).
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aa) Gem. Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 kann der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub widerrufen, wenn er aufgrund nachträglich eingetretener Umstände berechtigt wäre, die Maßnahmen zu versagen. Hierbei handelt es sich um die umfassendste Widerrufsmöglichkeit (C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Lesting 2006 Rdn. 15). Ermessensfehlerfrei ist z. B. der Widerruf einer Ausführung eines Sicherungsverwahrten in eine Zahnklinik (§ 35 Abs. 3 Satz 1) nach Wegfall des medizinischen Grundes aufgrund neuer ärztlicher Befunde, da eine gleichwohl durchgeführte Lockerung dem öffentlichen Interesse (Rdn. 11) erheblich widerspräche (OLG Karlsruhe MDR 1993, 1114 = ZfStrVo 1994, 177 entgegen LG Freiburg als Vorinstanz; s. auch § 35 Rdn. 3, 7). Zum Widerruf sämtlicher Lockerungen bei einem Gefangenen aus rechtsextremistischem Umfeld, in dessen Haftraum eine Anstecknadel mit Hakenkreuz gefunden wurde, vgl. OLG Thüringen ZfStrVo 1996, 311 = BlStV 2/1996, 2; zur „Streichung“ von Außenlockerungen nach opiatpositiver Urinkontrolle vgl. OLG Saarbrücken NStZ-RR 2001, 283. Zur ausnahmsweisen Verwertbarkeit im Rahmen der Durchsuchung einer außerhalb der JVA privat vorgehaltenen Wohnung gewonnener Erkenntnisse LG Koblenz NStZ 2004, 231 (vgl. auch § 84 Rdn. 3).
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Die Begehung einer erneuten strafbaren Handlung während einer Lockerung oder eines Urlaubs stellt einen Missbrauch der Maßnahme dar. Räumt der Gefangene die Straftat ein, kann der Anstaltsleiter die Maßnahmen entsprechend Nr. 2 widerrufen (Einzelheiten s. Rdn. 14). Bestreitet der Gefangene einen entsprechenden Vorwurf, kommt lediglich ein Widerruf entsprechend Nr. 1 in Betracht. Die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Unschuldsvermutung steht der Berücksichtigung noch nicht rechtskräftig abgeurteilter strafbarer Handlungen bei lockerungs- und urlaubsbezogenen Anordnungen nicht grundsätzlich entgegen (vgl. dazu auch BVerfG GA 1982, 37 mit „vorgezogener“ Anm. Jekewitz GA 1981, 433). Der bloße Verdacht einer erneuten strafbaren Handlung vermag im Hinblick auf die gegeneinander abzuwägenden Belange (Rdn. 11) jedoch einen endgültigen Widerruf auch dann nicht zu begründen, wenn er auf konkreten Anhaltspunkten beruht (a. A. KG LS NStZ 1989, 358 = ZfStrVo 1989, 116; zu weitgehend auch Arloth 2008 Rdn. 8; zur insoweit vergleichbaren Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug s. auch Rdn. 24 unter „offener Vollzug“). In Betracht kommt lediglich eine vorläufige Aufhebung der Lockerung oder des Urlaubes bis zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Frage der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Verneint die Staatsanwaltschaft zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat (§ 152 Abs. 2 StPO), ist der Gefangene unverzüglich in den alten Stand zu versetzen. Wird ein Verfahren eingeleitet, entscheidet der Anstaltsleiter endgültig über die Frage eines Widerrufes – ggf. auf der Grundlage einer hierzu angeforderten dienstlichen Äußerung des ermittelnden Staatsanwaltes zu Gegenstand des Verfahrens (Sachverhalt im Groben, Tatzeit, Tatort, Schaden), Verfahrensstand (Dauer der Ermittlungen, Zeitpunkt des voraussichtlichen Abschlusses, Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung), Kenntnis des Gefangenen von den gegen ihn laufenden Ermittlungen (LG Trier StV 2006, 537; zu einem erweiterten Fragenkatalog vgl. OLG Stuttgart NStZ 1986, 45; beide Entscheidungen zur insoweit vergleichbaren Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug). Zum Erfordernis vollständiger Ermittlung des Sachverhalts bei einem anhängigen Ermittlungsverfahren vor Widerruf von Vollzugslockerungen vgl. OLG Nürnberg NStZ 1998, 215. Der Umstand muss insofern „neu“ sein, als er erst nach der Anordnung der Maßnahme eingetreten ist. Darauf, ob er bereits vor oder erst nach Beginn der Lockerung oder des Urlaubes gegeben war, kommt es hingegen nicht an (BT-Drucks. 7/3998, 11). Die notfalls gegebene Korrekturmöglichkeit sollte den Anstaltsleiter in der Regel zu einer möglichst langfristigen Planung ermutigen (s. dazu auch C/MD 2008 Rdn. 3). Keinen Umstand i. S. d. Nr. 1 stellt eine zwischenzeitlich geänderte Beurteilung der Zweckmäßigkeit einer rechtmäßig erteilten Maßnahme dar (im Ergebnis wie hier AK-Lesting 2006 Rdn. 15). Auch eine lediglich zwischenzeitlich andere rechtliche Bewertung eines bereits früher bekannten Sachverhaltes bildet keinen nachträglich eingetretenen Umstand i. S. d. Vorschrift (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 8). Deshalb kommt z. B. der Widerruf einer Außenarbeitsgenehmigung aufgrund einer mehr als eineinhalb Jahre zurückliegenden Nichtrückkehr aus einer Haftunterbrechung nicht in Betracht (im Ergebnis wie hier OLG Hamm NStZ 1989, 390, das allerdings Widerruf und Rücknahme verwechselt und deshalb unzutreffenderweise für den Fall einer offensichtlichen Fehlentscheidung ausnahmsweise einen Widerruf für möglich hält; vgl. zum Ganzen auch die Argumentation des OLG Karlsruhe ZfStrVo 1990, 376 zur Weitergeltung der Erlaubnis zur Benutzung eines Radiorecorders mit Quarzuhr nach Verlegung in eine andere Anstalt trotz nunmehr für relevant gehaltener früherer Verurteilungen wegen Verletzung bestimmter Straftatbestände). Zu prüfen bleibt allerdings, ob die Maßnahme nicht von Anfang an rechtswidrig war und deshalb eine Rücknahme nach Abs. 2 Satz 2 in Betracht kommt. Gleiches gilt für einen Umstand, der zum Zeitpunkt der Anordnung bereits gegeben, dem Anstaltsleiter jedoch nicht bekannt war. Ein derartiger Umstand kann zwar nachträglich noch bekannt werden. Dieses Bekanntwerden kann jedoch nicht seinerseits
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einen nachträglich eingetretenen Umstand i. S. d. Nr. 1 darstellen. Deshalb kommt z. B. aufgrund eines bereits zum Anordnungszeitpunkt anhängigen Ermittlungsverfahrens kein Widerruf, sondern allenfalls eine Rücknahme in Betracht (vgl. auch OLG Stuttgart NStZ 1986, 45, das allerdings unklar lässt, welche Aufhebungsvariante überhaupt geprüft wird), sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind (dazu Rdn. 17 ff). Die nachträglich eingetretenen Umstände müssen jedoch stets so bedeutsam sein, dass sie der ursprünglichen, dem Gefangenen günstigen Entscheidung die Grundlage entziehen. Deshalb vermag z. B. die ethische Missbilligung und Verärgerung eines Anstaltsleiters darüber, dass ein Gefangener einen Antrag auf Fahr- und Zehrgeld nach Zulassung zu gemeinnütziger Tätigkeit außerhalb der Anstalt stellt, den Widerruf der Lockerungsmaßnahme nicht zu begründen. Gleiches gilt für den Umstand wiederholten verspäteten Verlassens der Anstalt aufgrund dort vom Gefangenen für vordringlich erachteter Tätigkeiten, zumal wenn dieser trotz Kenntnis der Anstalt zuvor nicht einmal ermahnt worden war (KG StV 2007, 313). Die nachträglich eingetretenen Umstände müssen nicht in der Person des Gefangenen liegen. Sie können auch außerhalb seiner Einflussmöglichkeit stehen (C/MD 2008 Rdn. 3). Das BVerfG hat in anderem Zusammenhang (Einziehung einer Tagesdecke im Rahmen allgemein verschärfter Sicherheitsmaßnahmen in der Folge einer Geiselnahme) ausdrücklich festgestellt, dass der Entzug einer einmal erworbenen Rechtsposition keineswegs allein durch ihren Missbrauch, sondern auch wegen außerhalb der Person des Rechtsträgers liegender Umstände gerechtfertigt sein kann (BVerfG ZfStrVo 1995, 50 = StV 1994, 432, vgl. auch Rdn. 11). Unbedingt erforderlich ist jedoch eine einzelfallbezogene Abwägung aller berührten Interessen (ebenso Skirl in Anm. zu OLG Hamm NStZ 1995, 359). Zur Berücksichtigung außerhalb der Person des betroffenen Gefangenen liegender Umstände vgl. auch KG ZfStrVo 1985, 251 (Einschränkung zusätzlicher Besuchsmöglichkeiten) und OLG Hamm NStZ 1987, 248 = ZfStrVo 1987, 375 (Beschränkung des Bezugs von Zeitungen) sowie Beispiel (Einzelheiten dazu Rdn. 24, 26).
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bb) Gem. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 kann der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub widerrufen, wenn der Gefangene die Maßnahmen missbraucht. Nr. 2 stellt einen Spezialfall von Nr. 1 dar (C/MD 2008 Rdn. 4). Voraussetzung ist, dass der Gefangene die Maßnahme missbraucht, d. h. der Missbrauch muss während der Lockerung oder des Urlaubs geschehen. Ein Anlass, der außerhalb der Maßnahme (z. B. des Ausgangs) liegt, berechtigt nicht zum Widerruf nach Nr. 2, möglicherweise jedoch nach Nr. 1 (unscharf insoweit C/MD 2008 Rdn. 4). Im Gegensatz zu § 11 Abs. 2 ist der Missbrauchsbegriff in Nr. 2 nicht auf Begehung neuer Straftaten oder Flucht beschränkt. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift bewusst extensiv gefasst (C/MD 2008 Rdn. 4). Hiergegen vereinzelt vorgebrachte Bedenken rechtsdogmatischer Art (insbesondere AK-Lesting 2006 Rdn. 16) überzeugen nicht. Die Korrekturmöglichkeit ist zur Ermutigung des Anstaltsleiters, gegebene Handlungsspielräume auch zu nutzen, sinnvoll (Rdn. 12). Als Widerrufsgrund nach Nr. 2 kommt z. B. die Beteiligung an einer Schlägerei in Betracht. Im Falle übermäßigen Alkoholgenusses ist zunächst zu prüfen, ob der Gefangene insoweit nicht gegen eine Weisung verstoßen hat (zu deren in der Praxis häufig zu undifferenzierten Erteilung s. Rdn. 4). Ist dies der Fall, kommt nur ein Widerruf entsprechend Nr. 3 in Betracht. Hat der Anstaltsleiter keine entsprechende Weisung erteilt, sind die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Zu undifferenziert ist deshalb die Empfehlung von AK-Lesting 2006 Rdn. 16, generell präventiv mit Weisungen, statt repressiv mit einem Widerruf zu reagieren, wenn ein Gefangener öfters betrunken in die Anstalt zurückkehrt. Entgegen C/MD 2008 Rdn. 4 kann z. B. bei einem Sexualstraftäter die Anordnung von Lockerungen oder Urlaub auch bereits dann widerrufen werden müssen, wenn
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dieser lediglich einmal betrunken in die Anstalt zurückkehrt (wie hier jetzt auch Arloth 2008 Rdn. 9). Andererseits ist im Rahmen der Ermessensentscheidung zu Gunsten des Gefangenen zu berücksichtigen, wenn er trotz Alkoholisierung rechtzeitig in die Anstalt zurückgekehrt ist und es zu keinen weiteren Auffälligkeiten wie z. B. Schlägereien gekommen ist. – Die Begehung einer erneuten strafbaren Handlung stellt unzweifelhaft einen Missbrauch der Maßnahme i. S. d. Nr. 2 dar. Dies gilt auch, wenn der Gefangene die Lockerung oder den Urlaub dazu nutzt, eine erst für die Zeit nach der Entlassung vorgesehene Straftat vorzubereiten (C/MD 2008 Rdn. 4). Der bloße Verdacht der Begehung einer erneuten strafbaren Handlung kann auch dann einem festgestellten Missbrauch nicht gleichgesetzt werden, wenn er auf konkreten Anhaltspunkten beruht. Möglicherweise handelt es sich jedoch um einen nachträglich eingetretenen Umstand i. S. d. Nr. 1 (vgl. Rdn. 13). cc) Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 kann der Anstaltsleiter Lockerungen und Urlaub 15 widerrufen, wenn der Gefangene Weisungen nicht nachkommt. Die erteilte Weisung muss zulässig sein (dazu Rdn. 3 ff). Auch muss der Weisungsverstoß nachgewiesen werden. Zur weitestmöglichen Objektivierung empfiehlt sich deshalb z. B. im Falle von Auffälligkeiten bei der Rückkehr von Lockerungen oder Urlaub unbedingt das Angebot, einen entsprechenden Verdacht dadurch zu entkräften, dass sich der Gefangene freiwillig einer sofortigen Atem- oder Urinkontrolle unterzieht. Ein Verschulden ist hingegen nicht erforderlich (ebenso Arloth 2008 Rdn. 10 und C/MD 2008 Rdn. 5). Entgegen dem RegE hat der Gesetzgeber auf einen Nachweis verzichtet, weil dies dem Anstaltsleiter eine kaum zu erfüllende Beweislast auferlegt hätte (C/MD 2008 Rdn. 5 unter Hinweis auf BT-Drucks. 7/3998, 11). Dies kommt zwar den Bedürfnissen der Praxis entgegen, ist jedoch rechtsstaatlich nur hinnehmbar, wenn die Tatsache eines nicht geführten Beweises im Rahmen des Ermessens hinreichend berücksichtigt wird (wie hier AK-Lesting 2006 Rdn. 17). Zumindest im Falle eines erstmaligen Weisungsverstoßes sollte der Anstaltsleiter von einem Widerruf absehen, sofern dies irgend vertretbar erscheint. In jedem Falle sind bei einem Widerruf nach Nr. 3 die Zweckbestimmung der erteilten Weisung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rdn. 11) zu beachten (OLG Frankfurt vom 12.4.1984 – Ws 330/84 (StVollz); OLG Celle vom 4.3.1985 – 3 Ws 495/84 (StrVollz); ebenso Arloth 2008 Rdn. 10). In der Praxis wird dem Gefangenen häufig bereits bei Eröffnung des Widerrufes eine erneute Prüfung der Lockerungs- oder Urlaubseignung nach einer gewissen (z. B. dreimonatigen) Beobachtungszeit in Aussicht gestellt. Dies ist im Unterschied zu einer „Lockerungssperre“ (unzulässige faktische Disziplinarmaßnahme, vgl. § 103 Rdn. 1) rechtlich unbedenklich und dient der aus Behandlungsgründen indizierten Klarheit und Planbarkeit das weiteren Vollzugsverlaufes. dd) Auch der Widerruf hat nur Wirkung für die Zukunft. Im Unterschied zur Rück- 16 nahme (Abs. 2 Satz 2) bedurfte es insoweit keines ausdrücklichen Zusatzes im Gesetzestext, weil damit nur eine Rechtsfolge hervorgerufen worden wäre, die nach den ergänzend heranzuziehenden Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts (Rdn. 10) ohnehin im Begriff des Widerrufes schon enthalten ist. Die bis zum Wirksamwerden der Widerrufserklärung (vgl. Rdn. 21) verbrachte Urlaubszeit ist dem Gefangenen in vollem Umfang als verbüßte Strafzeit anzurechnen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 55). Zu den vollstreckungsrechtlichen Konsequenzen s. auch Rdn. 20. d) Abs. 2 Satz 2 bezieht sich ausschließlich auf rechtswidrige begünstigende (Justiz-) 17 Verwaltungsakte (Rdn. 10). Die Vorschrift entspricht weitgehend § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Wie dort gilt der Grundsatz der freien Rücknehmbarkeit, der sich aus dem Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ableitet, nur eingeschränkt. Im Rahmen des Ermessens („kann“; vgl. Rdn. 11) sind vielmehr die betroffenen öffentlichen Interessen (hier: FluchtThomas Ullenbruch
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und Missbrauchsgefahr i. S. d. § 11 Abs. 2) und das private Interesse des Gefangenen am Fortbestand der Maßnahme sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Insoweit ist gerade bei Gefangenen dem Vertrauensschutz ein hoher Rang einzuräumen (im einzelnen dazu Rdn. 11).
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aa) Eine Rücknahme von Lockerungen und Urlaub nach Satz 2 kommt nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen für ihre Bewilligung nicht vorgelegen haben, die Anordnung mithin rechtswidrig war. Entscheidend ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme (OLG Celle BlStV 4/5/1990, 6 unter Hinweis auf BVerwGE 13, 28, 31; KG StV 2001, 35). Stellen sich später ihr entgegenstehende Tatsachen heraus, die schon zum Zeitpunkt der Entscheidung vorgelegen haben, vom Anstaltsleiter jedoch infolge Unkenntnis nicht berücksichtigt wurden, ist die Anordnung rechtswidrig. Hat der Anstaltsleiter bei der Entscheidung von seinem Ermessen in zulässiger Weise Gebrauch gemacht und kommt lediglich bei einer späteren erneuten Würdigung des in tatsächlicher Hinsicht unveränderten Sachverhalts zu einer anderen, gleichfalls vertretbaren, nunmehr jedoch z. B. für zweckmäßiger erachteten Entscheidung, bleibt die ursprüngliche Anordnung rechtmäßig (Beispiel: Ausführung eines langstrafigen Gefangenen gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 zu seinen drei Töchtern zur Besprechung von Erziehungsproblemen mit der Pflegemutter einmal vierteljährlich; vgl. KG StV 1982, 372, das allerdings dem Versuch der Vollzugsbehörden, die vorliegend irrelevante Frage zu stellen, ob die Erörterung von Erziehungsfragen auch ein wichtiger Anlass i. S. d. § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 ist, nicht konsequent genug entgegentritt). Sie kann deshalb nicht mehr zurückgenommen, sondern nur unter den (erschwerten) Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 1 widerrufen werden (OLG Celle NStZ 1984, 430 und BlStV 4/5/1990, 61; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 252; vgl. dazu auch Rdn. 13). Der bloße Verstoß gegen die VV oder Verwaltungsvorschriften der Länder vermag die Rechtswidrigkeit einer mit den §§ 11 ff in Einklang stehenden Anordnung nicht zu begründen. Derartige Vorschriften stellen keine Rechtssätze, sondern lediglich verwaltungsintern verbindliche Vorgaben dar (vgl. OLG Stuttgart ZfStrVo 1985, 249 – Zustimmungsvorbehalt der Aufsichtsbehörde; wie hier auch Arloth 2008 Rdn. 11).
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bb) Eine Rücknahme von Lockerungen und Urlaub kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn dem Anstaltsleiter erst nach der Anordnung Umstände bekannt werden („neue“ Tatsachen), die bei Kenntnis zwingend zu einer Ablehnung geführt hätten. Ausnahmsweise ist eine Aufhebung jedoch auch dann möglich, wenn eine die Rechtswidrigkeit des (Justiz-)Verwaltungsaktes verursachende Tatsache dem Anstaltsleiter bereits zum Entscheidungszeitpunkt bekannt war (ebenso Arloth 2008 Rdn. 11; a. A. OLG Celle NStZ 1984, 430). Aus Gründen des Vertrauensschutzes (Rdn. 11) ist ein strenger Maßstab anzulegen. Eine Rücknahme kommt deshalb nur bei offensichtlichen Fehlentscheidungen in Betracht (wie hier OLG Hamm NStZ 1989, 390 = ZfStrVo 1984, 248, und – allerdings nur andeutungsweise in einem obiter dictum – KG NStZ 1997, 207 und nochmals KG StV 2007, 313; vgl. auch Rdn. 24 unter „offener Vollzug“) bzw. unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar war (KG StV 2001, 35; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 252; Arloth 2008 Rdn. 11). Dies jedoch nur, wenn die Aufrechterhaltung der Anordnung im Einzelfall berechtigte Sicherheitsbedürfnisse (§ 2 Satz 2) missachten würde (a. A. C/MD 2008 Rdn. 6). Im Unterschied etwa zur begrenzten Hinnehmbarkeit eines bauplanungsrechtswidrigen Zustandes ist im Bereich des Strafvollzuges das unbedingte Festhalten einer Behörde an rechtswidrigen Entscheidungen im Hinblick auf die betroffenen öffentlichen Interessen nicht vertretbar. Umgekehrt wird die Feststellung einer Fehlentscheidung mit einer derart weitreichenden Gefährdungslage für die Allgemeinheit seitens der Aufsichtsbehörde zu einer sorgfältigen dienstrechtlichen Prüfung bis hin zu einer möglichen Ablösung des Anstaltsleiters führen. Nicht ausreichend für eine Rücknahme sind ein bloßer Widerspruch zu Sinn und Ziel-
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setzung des Behandlungsvollzuges (§ 2 Satz 1; a. A. OLG Hamm NStZ 1986, 47; vgl. auch Rdn. 24 unter „Überbrückungsgeld“), die Berufung auf das angebliche Nichtbestehen eines entgegenstehenden rechtlich schützenswerten Interesses (Zirkelschluss; a. A. OLG Hamm LS ZfStrVo 1988, 310 und C/MD 2008 Rdn. 6; unklar BVerfG NJW 1993, 3191 = NStZ 1993, 300 = StV 1993, 319; vgl. auch Rdn. 24 unter „Einweisung“ und „offener Vollzug“) oder das Lockerungs- oder Urlaubsversagen anderer Inhaftierter (s. dazu Beispiel Rdn. 26). cc) Lockerungen und Urlaub können nur mit Wirkung für die Zukunft zurückge- 20 nommen werden. Abs. 2 Satz 2 unterscheidet sich insoweit von § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, demzufolge ein rechtswidriger Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Das StVollzG trägt damit dem Gebot des Vertrauensschutzes (Rdn. 11) Rechnung. Der Gefangene soll weitestmöglich vor nachteiligen Auswirkungen eventueller Irrtümer des Anstaltsleiters geschützt werden (C/MD 2008 Rdn. 6). Bei Wirksamwerden der Entscheidung (hierzu Rdn. 21) bereits verbrachter Urlaub wird deshalb entsprechend § 13 Abs. 5 auf die Strafzeit angerechnet (vgl. § 13 Rdn. 4). e) Nach VV Nr. 2 Abs. 2 Satz 1 werden Widerruf und Rücknahme erst wirksam, wenn 21 die Entscheidung dem Gefangenen bekanntgemacht worden ist. – In dem gem. Nr. 46 Abs. 1 VGO zu verwendenden Vordruck für einen Urlaubsantrag erklärt der Gefangene ausdrücklich, dass ihm die in § 14 Abs. 2 bezeichneten Möglichkeiten des Widerrufs und der Rücknahme des Urlaubs bekannt sind. Entfernt sich der Gefangene entgegen einer Weisung der Anstalt von seinem Urlaubsort und wird ihm der Widerruf unter seiner Urlaubsanschrift mitgeteilt, so muss er sich nicht in jedem Falle nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als sei ihm der Widerruf zugegangen. Auf fehlende Bekanntgabe kann er sich aber nicht berufen, wenn er auf andere Weise hinreichende zuverlässige Kenntnis vom Widerruf erlangt hat oder hätte erlangen können, weil sich ihm unter den obwaltenden Umständen des Einzelfalles die Annahme aufdrängen musste, dass ein Widerruf ergangen sei, und es ihm auch möglich und zumutbar war, sich hierüber Gewissheit zu verschaffen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 55; wie hier Arloth 2008 Rdn. 12 und C/MD 2008 Rdn. 7; anders Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2: Das „Sich-dem-Vollzug-Entziehen“ unterbricht Vollzug und Vollstreckung von selbst ohne Widerruf). VV Nr. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 bestimmen, dass der Gefangene vor der Entscheidung über den Widerruf oder die Rücknahme (ggf. unverzüglich danach) zu hören ist. Die Gründe für die Entscheidung sind aktenkundig zu machen (VV Nr. 2 Abs. 3) und sollten dem Gefangenen mit Rechtsbehelfsbelehrung bei der Anhörung mitgeteilt werden. Die Notwendigkeit der Anhörung gründet sich sowohl auf den Vertrauensgrundsatz als auch auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (KG StV 2007, 313). Die mündliche Bekanntgabe reicht aus (wie hier Arloth 2008 Rdn. 12; enger AK-Lesting 2006 Rdn. 20: nur ausnahmsweise). Im Interesse einer raschen Wiederergreifung des Gefangenen nach einer Flucht oder bei unbekanntem Aufenthalt können Fahndungsmaßnahmen gem. VV Nr. 2 Abs. 4 bereits vor Wirksamkeit des Widerrufs oder der Rücknahme (vgl. Abs. 2 Satz 1) eingeleitet und durchgeführt werden. f) Das StVollzG enthält über Zulässigkeit und Voraussetzungen des Widerrufes und 22 der Rücknahme von Vollzugsmaßnahmen ausdrückliche Regelungen nur hinsichtlich offenem Vollzug, Lockerungen und Urlaub (§§ 10 Abs. 2 Satz 2 2. Alt, 14 Abs. 2, 15 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2, 35 Abs. 1 Satz 2, 36 Abs. 1 Satz 2, 39 Abs. 1 Satz 2) sowie der Erlaubnis zum Besitz von Gegenständen zur Fortbildung oder Freizeitbeschäftigung (§ 70 Abs. 3). In der Praxis des Strafvollzuges spielt die Aufhebung getroffener Anordnungen jedoch auch in zahlreichen anderen Bereichen eine große Rolle. Thomas Ullenbruch
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aa) Nach der geltenden Rechtslage können sonstige Anordnungen allenfalls analog §§ 48, 49 VwVfG (genauer: den gem. § 1 Abs. 3 VwVfG vorrangigen, jedoch weitgehend wörtlich übereinstimmenden Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder) widerrufen oder zurückgenommen werden. Eine analoge Anwendung von § 14 Abs. 2 StVollzG ist nicht zulässig (im Ergebnis wie hier OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55 und wohl auch OLG Celle NStZ 2000, 465 M; a. A. die ganz überwiegende Rspr. – zuletzt OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 112; vgl. auch KG NStZ 2004, 51 und Rdn. 24 –, die von AK-Lesting 2006 Rdn. 8 ff eher „begrüßt“ wird; Arloth 2008 Rdn. 5: „Die Analogie zu § 14 Abs. 2 dürfte am naheliegendsten sein.“; das Spannungsverhältnis zwischen „planwidriger Gesetzeslücke“ und „Analogie zu Ungunsten“ verkennend auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 82; insoweit undeutlich C/MD 2008 Rdn. 2, denen zufolge jedoch einer entsprechenden Tendenz zumindest „entgegengetreten“ werden müsse; noch unentschieden wohl Arloth 2008 Rdn. 5). Der Gesetzgeber hielt die Aufhebbarkeit von begünstigenden Verwaltungsakten, die aufgrund des StVollzG erlassen werden, offenbar für so selbstverständlich, dass sie als allgemeines Prinzip keiner konstitutiven Regelung bedurfte (a. A. Perwein 1996, 19, der meint, der Gesetzgeber habe „den Wald vor lauter Bäumen übersehen“ und eine § 14 Abs. 2 entsprechende Regelung für andere Fälle schlicht „vergessen“). § 14 Abs. 2 dient dann lediglich der (beruhigenden) Klarstellung, dass die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze hinsichtlich der Aufhebbarkeit getroffener Anordnungen auch für den (sensiblen) Bereich der Lockerungen und des Urlaubs entsprechend anwendbar sind. Gegen die Auffassung, die entsprechende Anwendung der §§ 48, 49 VwVfG sei zusätzlich unter den einschränkenden Vorbehalt des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zu stellen (so Kösling 1991, 235; vgl. auch § 4 Rdn. 27) kann geltend gemacht werden, dass sich die letztgenannte Vorschrift nur auf die Auferlegung zusätzlicher Beschränkungen der Freiheit eines Gefangenen durch die spezifische Ausgestaltung des Vollzuges bezieht und nicht verbietet, dass allgemeine Verwaltungsgrundsätze in gleicher Weise bei einem Gefangenen wie bei einem Bürger in Freiheit angewandt werden.
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bb) Rspr. und Literatur haben sich bislang im wesentlichen mit folgenden Fallgruppen befasst: Arbeit/Ausbildung: Ablösung von der Vertrauensposition des „Hausfrisörs“, weil er der Anstalt von der Fluchtabsicht eines ihm namentlich bekannten Mitgefangenen keine Kenntnis gab (zutr. unter Hinweis auf Sicherheitsgründe zulässig nach OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 372, das als mögliche Rechtsgrundlage neben § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG analog aber – so unnötig wie unzutreffend – § 14 Abs. 2 bemüht). – Ablösung von der Tätigkeit eines Einkaufshelfers bei in der JVA durchgeführten Basarverkäufen wegen Veranlassung eines Mitarbeiters eines externen Kaufmanns zur Bestellung von „Kartoffeln im Netz“ nach den „zu §§ 49 VwVfG, 14 Abs. 2 entwickelten Grundsätzen“ ohne vorherige Abmahnung unverhältnismäßig (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 302). Hat der Beamte seiner Entscheidung darüber hinaus eine unzutreffende Rechtsauffassung – wenn der externe Mitarbeiter dem resoluten Insassen, der sich als „Chef aufspielt“, nichts entgegenzusetzen hat, darf der Gefangene ohne jegliche vorangegangene Abmahnung sogleich abgelöst werden – zugrundegelegt, die nicht aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen wurde, steht dem Gefangenen aufgrund der vorwerfbaren Amtspflichtverletzung ein Anspruch auf Ersatz des ihm entgangenen Verdienstes zu (OLG Karlsruhe StV 2008, 90). – Ausschluss von der weiteren Teilnahme z. B. am Lehrgang für Energieanlagenelektroniker (§ 37 Abs. 3) analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG möglich, wenn sich Gefangener als für die Maßnahme ungeeignet erweist (Rotthaus in Anm. zu OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 256) oder sein weiterer Verbleib in der Anstalt deren Sicherheitsinteressen derart beeinträchtigen würde, dass dies bei einer Abwägung mit den privaten Belangen des Gefangenen als überwiegend betrachtet werden muss. Ob der Fund eines gefälschten Siegelstempels zur Verplombung
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von Radiogeräten dafür ausreicht (so im Ergebnis OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55) erscheint allerdings zweifelhaft (s. dazu auch unter „Verlegung“). Ablösung von Malerlehre hingegen möglich, wenn – z. B. nach Fluchtversuch – Verpflichtung zum Schutz der Allgemeinheit (§ 2 Satz 2) Interesse des Gefangenen an Fortsetzung des Lehrverhältnisses überwiegt (OLG Hamm ZfStrVo 1986, 120 für Bereich des Jugendstrafvollzuges, allerdings unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23). S. auch unter „Schulunterricht“ und „Verlegung“. – Die Leistungszulage darf nach der Erhöhung des Grundlohns von 5 % auf 9 % der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV auch bei gleichbleibender Arbeitsleistung gekürzt werden, wenn die Zulage zuvor als genereller Ausgleich des geringen Grundlohns gewährt worden ist (KG NStZ 2002, 336, allerdings unzutreffenderweise unter analoger Heranziehung des § 14 Abs. 2). – Besuch: Verringerung sog. „Gemeinschaftssprechstunden“ (Besucher und Gefangene treffen sich auf Flur der Station) als (Teil-)Widerruf über das gesetzliche Mindestmaß hinausgehender Besuchsmöglichkeiten (§ 24 Abs. 1) analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG möglich. – Verkürzung der Besuchszeiten (und des hiermit reduzierten Automateneinkaufs) im Zuge der Umsetzung der (landesweiten – hier: Niedersachsen) Einführung eines sog. „Einheitlichen Vollzugskonzeptes“ nach den „Grundsätzen der §§ 49 VwVfG, 14 Abs. 2“ (wohl) möglich (OLG Celle NStZ 2006, 582). – Widerruf der Erlaubnis unüberwachter Langzeitbesuche durch die Mutter des Gefangenen in Begleitung von dessen Verlobten grundsätzlich möglich, jedoch nur ermessensfehlerfrei bei Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligter sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der u. U. eine vorherige Abmahnung gebietet (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 154, allerdings unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 Nr. 2 – dazu Rdn. 23). – Auch außerhalb der Person des Gefangenen liegende Gründe (hierzu Rdn. 13), wie Zunahme der Zahl der Haftplätze und Besucher sowie Fehlen von Aufsichtspersonal, dürfen berücksichtigt werden (KG ZfStrVo 1985, 251, allerdings unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23; kritisch aber unklar C/MD 2008 Rdn. 2). – Die allgemein erteilte Erlaubnis, anlässlich von Besuchen Gegenstände aus Einkaufsautomaten zu ziehen, darf angesichts der Selbstbindung der JVA nur nach den Grundsätzen über den Widerruf und die Rücknahme rückgängig gemacht werden. Ein für die Dauer des Entzuges der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs (§ 103 Abs. 1 Nr. 2) ausgesprochener Widerruf stellt deshalb eine unzulässige Disziplinarmaßnahme dar (KG NStZ 2002, 613). – Einschluss: Vorverlegung des in der Hausordnung geregelten Abendeinschlusses aus Gründen des Abbaues von Überstunden infolge Personalmangels als Widerruf eines Vollzugsverwaltungsaktes mit Dauerwirkung möglich (KG ZfStrVo 1998, 310), allerdings unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 und sehr weitgehend – von 22 Uhr auf 18 Uhr; Verkürzung der Aufschlusszeiten im Zuge der Umsetzung der (landesweiten – hier: Niedersachsen) Einführung eines sog. „EinheitlichenVollzugskonzeptes“ nach den „Grundsätzen der §§ 49 VwVfG, 14 Abs. 2“ möglich (OLG Celle NStZ 2006, 582) – Einweisung: Rücknahme unter Hinweis auf von Anfang gegebene örtliche Unzuständigkeit der Anstalt nicht zulässig, da hierdurch keine Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit beeinträchtigt werden (s. Rdn. 19). BVerfG NJW 1993, 3191 = NStZ 1993, 300 = StV 1993, 319 differenziert dogmatisch nicht zwischen Widerruf und Rücknahme und räumt vermutlich deshalb nicht konsequent genug dem Vertrauensschutz des Gefangenen nur dann Vorrang ein, wenn dieser in Kenntnis der Behörde in die unzuständige Anstalt eingewiesen worden ist und dort bereits längere Zeit die gegen ihn verhängten Strafe verbüßt hat (zum Vertrauensschutz insgesamt Rdn. 11). S. auch unter „Verlegung“. – Fernsehgerät: Widerruf der Erteilung einer Fernsehgenehmigung analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG grundsätzlich möglich. Urlaubsüberschreitung ist jedoch kein neuer Umstand (a. A. OLG Hamm NStZ 1986, 143 = ZfStrVo 1986, 117, weil nun die Aufrechterhaltung der Genehmigung als zur Erreichung des Vollzugszieles nicht mehr förder-
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lich erachtet werden könne; kritisch aber unklar C/MD 2008 Rdn. 2). Zur Abgrenzung von Rücknahme und Widerruf der Einzelfernseherlaubnis vgl. auch OLG Celle BlStV 4/5/1990, 16. – Gemeinschaftsarbeit: Einschränkung (§ 17 Abs. 3 Nr. 3) analog § 49 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG auch nachträglich möglich, z. B. wenn zur Abwehr der Fluchtgefahr bei einer terroristischen Gewalttäterin erforderlich (vgl. OLG Frankfurt LS GA 1981, 173). – Offener Vollzug: § 10 Abs. 2 Satz 2 regelt die Gründe für eine Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug nicht abschließend. Die Gegenansicht (OLG Dresden StV 2006, 258; SchleswigHolsteinisches OLG vom 25.10.2005 – 2 Vollz Ws 398/05 (266/05); C/MD 2008 § 10 Rdn. 10 und § 14 Rdn. 2, 6; offengelassen hingegen z. B. von OLG Koblenz vom 4.7.2007 – 1 Ws (273/07)), die sich teilweise auf die systematische Stellung im Gesetz, teilweise auf den Wortlaut der Vorschrift beruft oder auch eine Gesetzeslücke lediglich für den Fall einer Aufhebung der Entscheidung noch vor der tatsächlichen Durchführung der Verlegung bejaht, verkennt, dass § 10 Abs. 2 Satz 2 nur bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ein Gefangener auch dann in den geschlossenen Vollzug verlegt werden kann, wenn er die in § 10 Abs. 1 genannten Voraussetzungen erfüllt (KG NStZ 1993, 100). Rücknahme der Unterbringung im offenen Vollzug analog § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist deshalb auch möglich, wenn bei Beachtung eines gewissen Vertrauensschutzes Sicherheitsbelange (§ 2 Satz 2) die Verlegung in eine stärker gesicherte Vollzugseinrichtung unbedingt erforderlich machen (im Ergebnis wie hier OLG Hamm ZfStrVo 1987, 371, allerdings unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 Satz 2 – dazu Rdn. 23 – und zu weitgehend, als es auch die Berufung auf allgemeine Vollzugsgrundsätze nach den §§ 2, 3 zulässt – dazu Rdn. 19), auch dann, wenn keine neuen Tatsachen bekannt geworden sind, sofern es sich um eine offensichtliche Fehlentscheidung handelt und der Fortbestand der Unterbringung im offenen Vollzug im Einzelfall berechtigte Sicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit (§ 2 Satz 2; s. auch Rdn. 19) missachten würde (KG vom 19.1.2005 – 5 Ws 412/04; OLG Hamm NStZ 1989, 390; ebenso bereits OLG Hamm ZfStrVo 1984, 248, allerdings wiederum, diesmal sogar zweifach unzutreffenderweise, unter Bezug auf § 14 Abs. 2 Satz 2 – vgl. Rdn. 9, 23; kritisch aber unklar C/MD 2008 Rdn. 2, 6). Rücknahme einer Verlegung in eine (nach dem Vollstreckungsplan unzuständige) Einrichtung des offenen Vollzuges unter gleichzeitiger Anordnung der Verlegung in die zuständige Anstalt gem. § 48 VwVfG ist unter bloßem Hinweis auf den Vollstreckungsplan nicht möglich (a. A. OLG Hamm LS ZfStrVo 1988, 310). Die Tatsache ist nicht „neu“, die Aufrechterhaltung der Anordnung missachtet keine berechtigten Sicherheitsbedürfnisse, der Hinweis, bei OLG Hamm aaO, „auf die subjektive Bewertung verschiedener Anstalten gleicher Kategorie beim Betroffenen oder sonst im Kreise der Gefangenen“ könnte es nicht ankommen, ist nicht nur inhaltlich zweifelhaft, die Suche nach fehlenden rechtlich schützenswerten Interessen stellt überdies einen Zirkelschluss dar (vgl. Rdn. 19). Zeigt sich nach der Entscheidung über die Unterbringung, dass der Gefangene den Eignungskriterien des § 10 Abs. 1 nicht mehr entspricht, kommt ein Widerruf analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG in Betracht (KG NStZ 2007, 224; ebenso bereits KG 1997, 207 und KG NStZ 1993, 100, allerdings sämtlich unzutreffenderweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23 – und die letztgenannte Entscheidung ohne ausreichende Differenzierung zwischen Widerruf und Rücknahme). Allein die veränderte Wertung von Umständen, die im Zeitpunkt der Erstellung des Vollzugsplanes schon vorgelegen und der Vollzugsbehörde bekannt gewesen sind, reicht nicht aus (KG NStZ 2007, 224). Zum Fall eines auf konkreten Anhaltspunkten beruhenden Verdachtes einer erneuten strafbaren Handlung vgl. KG NStZ 2007, 224; ähnlich bereits KG LS NStZ 1989, 358, allerdings unzutreffend unter Bezug auf § 14 Abs. 2 Satz 2 – dazu Rdn. 23. Zur gebotenen Zurückhaltung bei der Prüfung einer Rückverlegung aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen Vorwürfen, die allein auf zivilrechtliche Streitigkeiten zurückgehen (z. B. Betrugsanzeige des Käufers bei gescheiter-
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tem Ebay-Vertrag vgl. OLG Dresden StV 2006, 258). Der Anstaltsleiter darf/muss Ermittlungen z. B. in Gestalt der Anhörung von Zeugen dem Staatsanwalt überlassen, sich indes in angemessenen Zeitabständen über das Fortbestehen des Verdachts vergewissern (KG NStZ 2003, 391). Wird gegen einen Gefangenen ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl erlassen und daraufhin Überhaft notiert, soll die Eignung für den offenen Vollzug zwingend entfallen; der Haftbefehl soll zu einer Reduzierung des den Vollzugsbehörden zustehenden Beurteilungsspielraums auf Null führen, selbst dann, wenn der Haftrichter ausdrücklich und nachvollziehbar eine uneingeschränkte – und damit auch den offenen Vollzug umfassende – Zustimmung zum Verbleib des Gefangenen in einer entsprechenden Einrichtung erteilt hat (so zweifelhaft KG NStZ 2006, 695). – Die auf einen positiven Morphinbefund im Urin eines Gefangenen gestützte Anordnung auf Herausnahme aus dem offenen Vollzug ist nicht gerechtfertigt, wenn dessen Einlassung, er habe oft mohnhaltiges Gebäck verzehrt, nicht zu widerlegen ist und keine anderen Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum vorliegen. Nach dem (legalen) Konsum von Mohn (Mohnbrötchen, Mohnkuchen) ist im Urin stets auch Morphin nachzuweisen (LG Siegen LS ZfStrVo 2002, 368). – Wird ein Verurteilter, der sich auf freiem Fuß befindet, von der Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft) zum Strafantritt im offenen Vollzug geladen, so kann die Vollzugsbehörde (JVA), die in Wahrnehmung des ihr nach § 10 zustehenden Beurteilungsspielraums die Eignung des Verurteilten für diese Vollzugsform verneint, die Aufnahme in den offenen Vollzug ablehnen. Sie ist dabei nicht an die Widerrufsgründe des § 14 Abs. 2 gebunden (OLG Frankfurt, ZfStrVo 2001, 52 unter Aufgabe seiner früheren Rspr. NStZ 1994, 301 m. abl. Anm. Preusker). – Räucherstäbchen: Kein Recht auf Herleitung eines Anspruches auf erneute Aushändigung daraus, dass ihm der Besitz daran in der Vergangenheit gestattet war, da der Besitz vor allem dazu geeignet sei, Gerüche von Drogen (wie z. B. Cannabis und Alkohol) zu überdecken – so zu weitgehend OLG Brandenburg 15.10.2008 – 1 Ws (Vollz/164/08) mit dem schlichten „Argument“, der Bestandsschutz „könne“ nicht weiter reichen als die Aufrechterhaltung der Sicherheit „und Ordnung“ in einer JVA). – Schulunterricht: Herausnahme aus einem Hauptschulkurs (§ 38 Abs. 1) analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG möglich, wenn sich Gefangener als für die Maßnahme ungeeignet erweist. Die bloße Tatsache, dass gegen ihn ein Auslieferungsverfahren anhängig ist, reicht dafür nicht aus (OLG Frankfurt NStZ 1981, 116, allerdings ohne ausreichend zwischen Rücknahme und Widerruf zu differenzieren). Siehe auch unter „Berufsausbildung“ und „Verlegung“. – Selbstbeschäftigung: Rücknahme der Gestattung (§ 39 Abs. 2) analog § 48 Abs. 1 VwVfG ohne Vorliegen neuer Tatsachen (dazu Rdn. 19) nur möglich, wenn hierdurch eröffneter Verkehr mit der Außenwelt nicht anderweitig kontrollierbar ist und eine schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit darstellen würde (vgl. auch OLG Bremen ZfStrVo 1979, 57, das die Selbstbeschäftigung unzutreffenderweise als „Lockerung“ einstuft – dazu Rdn. 9 – und Rücknahme nach § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23 – aus bloßen Gründen der Flexibilität des therapeutischen Ermessens erlaubt). – Telefonate: Einzel- und Dauergestattungen (§ 32 Satz 1) sind nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG analog aufhebbar (zur Abwägung bei drastischer Einschränkung jahrelang bestehender Telefonmöglichkeiten mittels Hausverfügung vgl. OLG Frankfurt NStZ 2001, 669 m. Anm. Münster/Schneider; zu weiteren Fallkonstellationen Perwein 1996, der allerdings unzutreffenderweise § 14 Abs. 2 analog anwendet – dazu Rdn. 23). – Therapie: s. „Vollzugsplan“. – Überbrückungsgeld: Die Festsetzung eines über den von der Landesjustizverwaltung vorgeschriebenen Sätzen liegenden Betrages des zu bildenden Überbrückungsgeldes (VV Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 zu § 51) kann lediglich unter den Voraussetzungen des § 49 VwVfG widerrufen werden. Eine Rücknahme analog § 48 VwVfG ist ausgeschlossen. Dies gilt auch bei offensichtlichen Fehlentscheidungen (a. A. OLG Hamm NStZ 1986, 47: DM 3500 statt DM 712 aufgrund eines mutmaßlich zur Pfändungsabwehr gestellten An-
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trags). Ließe man für die Aufhebung begünstigender Justizverwaltungsakte auch ohne das Bekanntwerden neuer Tatsachen die bloße Berufung auf eine Unvereinbarkeit deren Fortbestandes mit dem Vollzugsziel ausreichend sein, würde der Vertrauensschutz im Bereich des Strafvollzuges weitgehend ins Leere gehen (dazu Rdn. 19). – Verlegung: Verlegung in eine andere Anstalt aus Gründen der Berufsausbildung oder des Schulunterrichtes (§§ 8 Abs. 1 Nr. 1, 37, 38, 39) kann analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG widerrufen werden, wenn sich nachträglich ergibt, dass der Gefangene die fachlichen Voraussetzungen nicht erfüllt oder die Sicherheit der „neuen“ Anstalt gefährdet (vgl. OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55 mit Anm. Rotthaus ZfStrVo 1983, 256). Die Verlegungsgründe sind in den §§ 8 und 85 nicht abschließend geregelt (a. A. C/MD 2008 § 8 Rdn. 2). Eine (Rück-)Verlegung ist deshalb auch möglich, wenn die „Heimatanstalt“ die von Anfang an nach dem Vollstreckungsplan zuständige Anstalt oder zu seiner sicheren Unterbringung nicht besser geeignet ist (letztgenannte Fallgestaltung übersehen von Rotthaus aaO). Bei höherem Sicherheitsgrad besteht hingegen keine Gesetzeslücke, da dieser Sonderfall in § 85 geregelt ist (insoweit zutreffend Rotthaus aaO, übersehen von OLG Zweibrücken aaO, das ausschließlich § 8 prüft). S. auch unter „Berufsausbildung“ und „Schulunterricht“ sowie „Einweisung“. – Vollzugsplan: Rücknahme und Widerruf sämtlicher Maßnahmen (ausgenommen Lockerungen und Urlaub), die in den Vollzugsplan (§ 7) aufgenommen worden sind, sind ausschließlich analog §§ 48, 49 VwVfG möglich (OLG Celle LS ZfStrVo 1989, 116, allerdings unzutreffenderweise unter Hinweis auf § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23). Zur Anordnung der vorzeitigen Beendigung der Therapie durch einen Psychologen (§ 7 Abs. 2 Nr. 6) vgl. KG ZfStrVo 1986, 121, allerdings gleichfalls fälschlicherweise unter Bezug auf § 14 Abs. 2 – dazu Rdn. 23. – Zeitungen/Zeitschriften: Der Bezug (§ 68 Abs. 1) kann analog § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nachträglich beschränkt werden auch aufgrund außerhalb der Person des Gefangenen liegender Umstände (s. dazu auch Rdn. 13) wie z. B. geänderter räumlicher und persönlicher Verhältnisse, sofern diese die Reduzierung erfordern, der verbleibende Umfang immer noch angemessen ist und z. B. Kündigungsfristen beachtet werden (vgl. OLG Hamm NStZ 1987, 248 = ZfStrVo 1987, 375, das allerdings nicht sorgfältig zwischen Widerruf und Rücknahme differenziert und überdies unzutreffend § 14 Abs. 2 heranzieht – dazu Rdn. 23; kritisch aber unklar hierzu C/MD 2008 Rdn. 2).
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cc) Nach einem Entwurf des Bundesrates vom 23.9.1988 zur Änderung des StVollzG (BT-Drucks. 270/88, 3 und 18, vgl. auch BT-Drucks. 11/3694, 3 und 16) sollten durch Einfügung der Worte „und andere begünstigende Maßnahmen“ hinter dem Wort „Urlaub“ in § 14 auch für diese Maßnahmen die Widerrufs- und Rücknahmegründe der Vorschrift gelten. Der Entwurf wurde zwar nicht geltendes Recht, entgegen Dünkel (1990, 105 ff, 107) besteht jedoch nach wie vor Handlungsbedarf. Der moderne Gesetzgeber sollte der Bedeutung des Vertrauensschutzes gerade auch für den Bereich des Strafvollzuges (zum Ganzen Rdn. 11) durch die Schaffung einer eigenständigen Vorschrift, die Widerruf und Rücknahme aller die Rechtsstellung der Gefangenen verbessernden Maßnahmen einheitlich regelt, Rechnung tragen (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 5: „eine Klarstellung durch den Gesetzgeber wäre wünschenswert“). Dadurch würde der gesamte rechtsstaatlich sensible Bereich dem Zugriff wie auch immer begründeter Analogien (Rdn. 23 f) entzogen, ohne dass dem in der Tat verhängnisvollen Eindruck Vorschub geleistet würde, es handele sich bei Vollzugslockerungen und Urlaub um „Vergünstigungen“ (insoweit Bedenken bei Dünkel aaO; vgl. auch Kösling 1991, 235).
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III. Beispiel Das LG A. verurteilte den einschlägig vorbestraften B. wegen Vergewaltigung in zwei 26 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Daneben ordnete es die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Nach Verbüßung der Strafe in der JVA C. befindet sich B. seit dem 27. Oktober 1993 zum Vollzug der Maßregel in der JVA D. Seit Februar 1997 erhält er monatliche Ausgänge in Begleitung seines Bruders, seit Juni 1997 Urlaub zu dessen Familie. Zum 1. September 1997 sind die Verlegung in den offenen Vollzug und bei Vorliegen einer geeigneten Arbeitsstelle die Zulassung zum Freigang vorgesehen. Sämtliche Lockerungen und Urlaube sind bislang ohne Beanstandungen verlaufen. Am 3.8.1997 missbraucht der gleichfalls in der JVA D. untergebrachte Sicherungsverwahrte E. im Rahmen eines Ausganges ein 9 jähriges Mädchen sexuell und tötet es anschließend. Die Öffentlichkeit erinnert sich daran, dass vor weniger als drei Jahren bereits einmal ein Inhaftierter der JVA D. während eines Hafturlaubes eine ähnlich schwere Straftat begangen hat. An den Stammtischen wird lautstark – bezogen auf alle Sexualstraftäter – „Rübe ab“ gefordert. Nicht nur die örtliche Presse diskutiert – je nach Zielgruppe mehr oder weniger seriös – über angeblich zunehmende „Auswüchse der Resozialisierung“ und sorgt sich unter fetten Schlagzeilen, ob die Allgemeinheit durch „die Verantwortlichen in Politik und Behörden“ noch ausreichend geschützt werde. Der Justizminister, der bereits Auswirkungen auf die im Januar 1998 anstehenden Landtagswahlen fürchtet, stellt behördenintern zahlreiche Fragen. Der von allen Seiten unter Druck stehende Anstaltsleiter verhängt am 9.8.1997 bezüglich sämtlicher in der JVA D. untergebrachten Sicherungsverwahrten eine generelle Lockerungs- und Urlaubssperre. Zur Begründung weist er darauf hin, er müsse „aus gegebenem Anlass in eine umfassende interne Überprüfung sämtlicher, den „Gewahrsam“ über die Verwahrten betreffende Entscheidungen eintreten. Deshalb werde er – „nach Rücksprache mit der Aufsichtsbehörde“ – bei einem namhaften Psychiater ein externes Gutachten in Auftrag geben, in dem das gesamte Konzept der Lockerungen überprüft werden solle. Aufgrund der erhofften neuen Erkenntnisse werde er sodann – unter Vermeidung eines vorherigen schrittweisen Wiedereinsteigens in Lockerungen für einzelne Untergebrachte – „voraussichtlich in spätestens vier Monaten“ – über die erneute Gewährung von Lockerungen unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalles entscheiden. B., der zusammen mit zwölf weiteren Verwahrten von der generellen Sperre betroffen ist, stellt im Wege des Eilrechtsschutzes bei der zuständigen StVK Antrag auf sofortige Aussetzung des Vollzuges der angefochtenen Maßnahme (§ 114 Abs. 2 Satz 1). Das Versagen anderer Inhaftierter bzw. Untergebrachter bei Lockerungen und Urlaub stellt keinen nachträglich eingetretenen Umstand i. S. d. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 dar. Ein Widerruf nach dieser Vorschrift kommt deshalb nicht in Betracht (vgl. Rdn. 13). Ergibt eine Prüfung des Missbrauchs des Sicherungsverwahrten E., dass dessen Versagen bereits bei Anordnung der Maßnahme i. S. d. §§ 11 Abs. 2, 13 „zu befürchten“, diese mithin rechtswidrig war, kann bzw. muss der Anstaltsleiter allerdings prüfen, ob in seinem Verantwortungsbereich weitere rechtswidrige Anordnungen bestehen und ob diese auf Grund der Verpflichtung zum Schutz der Allgemeinheit ggf. zurückzunehmen sind, auch wenn sämtliche Tatsachen bereits früher bekannt waren (Rdn. 19). Andererseits ist im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Vertrauensschutzes (Rdn. 11) insoweit eine sorgfältig abwägende Einzelfallentscheidung erforderlich (a. A. OLG Hamm NStZ 1995, 358, das in einem vergleichbaren Fall eine generelle Ausgangssperre für das gesamte Westfälische Zentrum für forensische Psychiatrie für zulässig hielt; wie hier Skirl in Anm. zu OLG Hamm aaO). Eine „Sperre“ für eine Vielzahl von Inhaftierten ohne Einzelfallbezug kann im Extremfall allenfalls als vorläufige Maßnahme für wenige Tage in Betracht kommen (a. A. OLG Hamm aaO,
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das nicht einmal nach annähernd vier Monaten auf endgültige Entscheidungen drängte). Die StVK wird deshalb ggf. fernmündlich den Anstaltsleiter befragen, ob die Aufhebung der Lockerungen und des Urlaubs bezüglich des Sicherungsverwahrten B. als vorläufige Rücknahme zu verstehen ist. Bestätigt der Anstaltsleiter dies, wird sie Gelegenheit geben, die Rechtswidrigkeit der aufgehobenen Anordnungen binnen einer Woche sorgfältig zu begründen und sodann, nachdem auch dem Antragsteller hierzu nochmals rechtliches Gehör gewährt worden ist, unverzüglich entscheiden, ob die Rücknahmeentscheidung im Wege des Eilrechtsschutzes auszusetzen ist.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 16 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 14 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 92 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Die Anstaltsleitung kann Maßnahmen zur Regelung allgemeiner Angelegenheiten der baulichen, personellen, organisatorischen und konzeptionellen Gestaltung des Vollzuges anordnen oder mit Wirkung für die Zukunft ändern, wenn neue strukturelle oder organisatorische Entwicklungen des Vollzuges, neue Anforderungen an die (instrumentelle, administrative oder soziale) Anstaltssicherheit oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse dies aus Gründen der Behandlung, der Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt erforderlich machen“. Abs. 2 lautet: „Die Anstaltsleitung kann rechtmäßige Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiete des Strafvollzuges ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, wenn 1. sie auf Grund nachträglich eingetretener oder bekannt gewordener Umstände berechtigt wäre, die Maßnahme zu versagen, 2. sie auf Grund einer geänderten Rechtsvorschrift berechtigt wäre, die Maßnahme zu versagen und ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde, 3. die Gefangenen die Maßnahme missbrauchen oder 4. die Gefangenen Weisungen nach § 12 Absatz 4 nicht nachkommen“. Abs. 3 lautet: „Die Anstaltsleitung kann Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiete des Strafvollzuges ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen, wenn die Voraussetzungen für ihre Bewilligung nicht vorgelegen haben“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Bestimmung entspricht dem im Vollzug der Freiheitsstrafe anzuwendenden Teil des derzeit geltenden § 93 HmbStVollzG“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 60). In der dortigen Begründung heißt es dazu: „Die Vorschrift unterscheidet zwischen Maßnahmen zur Regelung allgemeiner Angelegenheiten (Absatz 1) und Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten (Absätze 2 und 3), jeweils auf dem Gebiete des Strafvollzuges. Die Vorschrift folgt in Absatz 1 einem dringenden Bedürfnis der Praxis nach einer pragmatischen Regelung. [. . .] Die Vorschrift folgt in den Absätzen 2 und 3 ebenfalls einer dringenden Empfehlung der vollzuglichen Praxis, aus Gründen der Rechtssicherheit und der Transparenz für alle Beteiligten eine allgemeine Widerrufs- und Rücknahmeregelung für Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges zu formulieren [. . .]“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 48 f).
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Entlassungsvorbereitung
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3. Niedersachsen
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§ 15 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 14 StVollzG.
§ 15 Entlassungsvorbereitung (1) Um die Entlassung vorzubereiten, soll der Vollzug gelockert werden (§ 11). (2) Der Gefangene kann in eine offene Anstalt oder Abteilung (§ 10) verlegt werden, wenn dies der Vorbereitung der Entlassung dient. (3) Innerhalb von drei Monaten vor der Entlassung kann zu deren Vorbereitung Sonderurlaub bis zu einer Woche gewährt werden. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (4) Freigängern (§ 11 Abs. 1 Nr. 1) kann innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung Sonderurlaub bis zu sechs Tagen im Monat gewährt werden. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung. VV (1) Die Entlassungsvorbereitungen sind auf den Zeitpunkt der voraussichtlichen Entlassung in die Freiheit abzustellen. (2) Sonderurlaub im Sinne des § 15 Abs. 3 StVollzG kann auch im Wiederholungsfall nur bis zu einer Gesamtdauer von einer Woche gewährt werden. Dies gilt auch, wenn die Entlassung zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt, als bei der Bewilligung des Urlaubes angenommen wurde. (3) Sonderurlaub nach § 15 Abs. 4 StVollzG kann auch einem Gefangenen gewährt werden, der zum Freigang zugelassen ist, ohne ihn auszuüben. Schrifttum: s. bei § 11
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . Beginn der Phase „Entlassungsvorbereitung“ . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Abs. 1: Lockerungen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . 2. Verlegung in den offenen Vollzug 3. Entlassungsurlaub . . . . . . . a) für Gefangene, die nicht Freigänger sind . . . . . . . . . .
1–3 4–11 4 5 6–11
Rdn. b) für Gefangene im Freigang . . 8–9 c) keine Kombination der Urlaubsmöglichkeiten . . . . 10 d) entsprechend geltende Bestimmungen . . . . . . . . . . . 11 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 12–14 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 13 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 14
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I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift bestimmt, dass die Vollzugsbehörden die Entlassung von Gefangenen 1 durch die Anordnung von Vollzugslockerungen, die Verlegung in eine offene Anstalt oder Abteilung oder die Gewährung von Sonderurlaub vorbereiten sollen. Wird ein Vollzugsplan
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
erstellt (§ 7 Rdn. 1), muss er Angaben über die notwendigen Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung enthalten (§ 7 Abs. 2 Nr. 8). Zum Integrationsgrundsatz § 3 Rdn. 13. Die Entlassungsvorbereitung ist eine der entscheidenden Phasen des Vollzuges, weil sie dem Gefangenen die Möglichkeit gibt, Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Aktivität zurückzuerlangen, soziales Verhalten einzuüben und den richtigen Umgang mit der Freiheit zu erlernen (vgl. AK-Lesting 2006 Rdn. 2). Zur Befähigung, ein Leben in sozialer Verantwortung zu führen § 2 Rdn. 13. Die Vorbereitung des Übergangs in das normale Leben muss möglichst frühzeitig einset2 zen; es ist dabei auf den Zeitpunkt der voraussichtlichen Entlassung in die Freiheit abzustellen (VV Abs. 1); d. h. dass die JVA ggf. eine Strafrestaussetzung im Wege der „Prognose einer Prognose“ zugrundelegen muss (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 1). Angesichts der nach wie vor beachtlichen Quote der Strafaussetzungen zur Bewährung gem. § 57 StGB (vgl. § 74 Rdn. 18) wird häufig davon ausgegangen werden können, dass der Gefangene nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe mit seiner Entlassung rechnen kann. Unter Berücksichtigung der besonderen Lage jedes einzelnen Falles ist ggf. auch auf einen Zeitpunkt vor oder nach diesem Termin abzustellen. Der Anstaltsleiter muss und darf sich dabei mit einer nur überschlägigen und knapp, wenn auch konkret nachprüfbar begründeten Prognose begnügen (Stilz ZfStrVo 1979, 67, 68 m. w. N.). Zur Legal-, Sozial- und Behandlungsprognose § 6 Rdn. 6. Beachte auch § 4 Rdn. 10. Lehnt die Strafvollstreckungskammer eine Aussetzung des Strafrestes ab, hat der An3 staltsleiter jedoch nach Meinung des OLG Koblenz (ZfStrVo SH 1977, 17, 18; dem folgend C/MD 2008 Rdn. 1 und – wenngleich etwas „relativierend“ – Arloth 2008 Rdn. 1) bei der Berechnung der Neunmonatsfrist im Rahmen des Abs. 4 vom Zeitpunkt der endgültigen Strafverbüßung auszugehen. Diese Rechtsauffassung begegnet Bedenken (so auch Stilz ZfStrVo 1979, 67, 68 ). Der Gefangene ist nicht gehindert, die Frage, ob ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wiederholt prüfen zu lassen. Zudem wird die Strafvollstreckungskammer vor allem bei Gefangenen, die längere Freiheitsstrafen verbüßen müssen, lediglich feststellen können, dass bei dem Betroffenen eine Strafaussetzung zur Bewährung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Prüfung noch nicht verantwortet werden könne; spätere positive Entscheidungen sind möglich und werden auch nicht selten getroffen (ähnlich AKLesting 2006 Rdn. 5). § 15 nennt lediglich einen Teil derjenigen Maßnahmen, die zur Vorbereitung der Entlassung getroffen werden können. Die Vorschrift ist daher im Zusammenhang mit zahlreichen weiteren Behandlungsmaßnahmen zu lesen, die auf die Vorbereitung der Entlassung ausgerichtet sind – z. B. die Vorschriften über die Zuweisung der Arbeit (§ 37), über das Überbrückungsgeld (§ 51), über die ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung (§ 63) und die soziale Hilfe zur Entlassung (§ 74) –.
II. Erläuterungen 4
1. Nach Abs. 1 soll der Vollzug gelockert werden, um die Entlassung vorzubereiten. Es können die in § 11 genannten Lockerungen des Vollzuges (Außenbeschäftigung, Freigang, Ausführung und Ausgang) angeordnet werden. Die Bestimmung ist als Sollvorschrift ausgestaltet, d. h., der Gefangene hat keinen Rechtsanspruch auf Lockerungen zur Entlassungsvorbereitung. Gleichwohl sind an die Ablehnung von zu diesem Zweck beantragten Lockerungen strengere Maßstäbe als bei der Prüfung von Lockerungen im Rahmen des § 11 anzulegen; die Anordnung von Lockerungen darf nicht aus Gründen der Vollzugsorganisation, wie z. B. fehlende vollzugsinterne Planungen und Kapazitäten für Lockerungen, unterbleiben (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Lesting 2006 Rdn. 6 f). Ist ein Miss-
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brauch durch den Gefangenen nicht zu befürchten (§ 11 Abs. 2), dürfen Lockerungen nur in besonderen Ausnahmefällen versagt werden. Andererseits gibt die Sollvorschrift dem Anstaltsleiter die Möglichkeit, im Einzelfall aus übergeordneten Gesichtspunkten (z. B. Abschluss einer Berufsausbildung) von der Anordnung von Außenbeschäftigung oder Freigang abzusehen. 2. Abs. 2 bestimmt, dass der Gefangene in eine offene Anstalt oder Abteilung verlegt 5 werden kann, wenn dies der Vorbereitung der Entlassung dient. Im Gegensatz zur Sollvorschrift des § 10 handelt es sich hier um eine Kann-Vorschrift, da gerade in der Endphase des Vollzuges aus Behandlungsgründen eine Verlegung in eine offene Anstalt oder Abteilung unzweckmäßig sein kann. Gegenüber den Vorteilen, die der offene Vollzug für die Behandlung des Gefangenen und den Gefangenen selbst mit sich bringt (§ 10 Rdn. 1), ist z. B. abzuwägen, ob es sinnvoll ist, diejenigen Bindungen an das Behandlungspersonal, die bei der bisherigen Behandlung in der geschlossenen Anstalt entstanden sind, abzulösen (BTDrucks. 7/918, 54). In der Regel wird freilich oft eine Ablösung der Bindungen und Übertragung auf ehrenamtliche Vollzugshelfer, Mitarbeiter von Beratungsstellen und Bewährungshelfer gerechtfertigt sein, da durch die bevorstehende Entlassung ohnehin eine Trennung stattfindet (AK-Lesting 2006 Rdn. 9). Auch noch nicht abgeschlossene Lehrgänge der beruflichen und schulischen Bildung oder andere besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen (vgl. § 7 Abs. 2 Nrn. 4–6) können Anlass geben, von einer Verlegung des Gefangenen abzusehen. Verbleibt der Gefangene in der geschlossenen Anstalt, sollen jedoch Lockerungen nach Abs. 1 angeordnet werden (C/MD 2008 Rdn. 3). 3. Von besonderer Bedeutung für die von dem Gefangenen vorzunehmenden Entlas- 6 sungsvorbereitungen ist die Möglichkeit der Gewährung von Sonderurlaub, wobei der Gesetzgeber hinsichtlich des möglichen Umfangs des Sonderurlaubs zwischen Freigängern und solchen Gefangenen, die diesen Status nicht besitzen, unterscheidet. Gefangenen, die keine Freigänger sind, kann innerhalb von drei Monaten vor der Entlassung zu deren Vorbereitung Sonderurlaub bis zu einer Woche gewährt werden (Abs. 3), Freigängern kann innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung Sonderurlaub bis zu 6 Tagen im Monat gewährt werden (Abs. 4). Sonderurlaub darf nur gewährt werden, wenn die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 (Rdn. 11; vgl. dazu auch § 11 Rdn. 13 ff) vorliegen. Zum Sonderurlaub für Insassen einer sozialtherapeutischen Anstalt, § 124 Rdn. 1; bei Sicherungsverwahrung § 134 Rdn. 1. a) Die Beurlaubungsmöglichkeit von Gefangenen, die keine Freigänger sind, ist auf 7 eine Woche beschränkt. Die Gesamtdauer von einer Woche darf auch im Wiederholungsfall nicht überschritten werden (VV Abs. 2 Satz 1). Dies darf nicht dahingehend interpretiert werden, dass der Sonderurlaub nach Abs. 3 wiederholt (= 2–1 Woche) gewährt werden kann; für eine derartige Handhabung würde es an der gesetzlichen Ermächtigung fehlen. Der Urlaub kann lediglich in mehrere Abschnitte aufgeteilt werden; insoweit würde dann „wiederholt“ Urlaub gewährt. Die Gesamtdauer von einer Woche darf auch dann nicht überschritten werden, wenn die Entlassung zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt, als bei der Bewilligung des Urlaubs angenommen wurde (VV Abs. 2 Satz 2). Die gesetzliche Regelung ist angesichts der großen Bedeutung, die der umfassenden Vorbereitung der Entlassung zukommt, zu eng ausgefallen (ähnlich AK-Lesting 2006 Rdn. 11). Gerade für den Fall, dass die Entlassung zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt, als bei der Bewilligung des Urlaubs angenommen wurde, hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen sollen, erneut Sonderurlaub zur Entlassungsvorbereitung bis zu einer Gesamtdauer von einer Woche gewähren zu können. Thomas Ullenbruch
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Der Sonderurlaub nach Abs. 3 muss der Vorbereitung der Entlassung dienen und kommt danach insbesondere für persönliche Vorsprachen in Betracht, die der Beschaffung von Unterkunft und Arbeit nach der Entlassung dienen sollen (sog. Entlassungsvorbereitung im engeren Sinn; vgl. dazu OLG Hamm ZfStrVo 1981, 189, 191).
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b) Freigänger können dagegen vor ihrer Entlassung bis zu 54 Tage Sonderurlaub (neun Monate lang jeweils sechs Tage) erhalten. Abzustellen ist auch hier auf den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt (VV Abs. 1). Als Freigänger gilt nicht nur derjenige Gefangene, der tatsächlich Arbeit außerhalb der Anstalt verrichtet (§ 11), sondern gemäß VV Abs. 3 auch derjenige Gefangene, der lediglich zum Freigang zugelassen ist, ohne ihn auszuüben. Zu weitgehend ist allerdings die vom OLG Hamm in NStZ 1990, 607 m. w. N. vertretene Auffassung, es genüge für die Gewährung von Sonderurlaub nach § 15 Abs. 4 die bloße Freigängereignung des Gefangenen (vgl. Begemann NStZ 1991, 517). Zuzustimmen ist dem OLG Hamm jedoch darin, dass auch Gefangene des geschlossenen Vollzuges den Freigängerurlaub erhalten können, sofern sie die Voraussetzungen der §§ 11 Abs. 2 und 15 Abs. 4 erfüllen. Zum Freigang zugelassen werden im Sinne der VV Abs. 3 kann auch derjenige Gefangene, der an sich als vertrauenswürdig für den Freigang erachtet wird, jedoch nicht aus in ihm, sondern im Strafvollzug liegenden Gründen (z. B. Mangel an Arbeitsplätzen außerhalb der Anstalt) einer Außenbeschäftigung nicht oder nicht mehr nachgehen kann. Denkbar sind aber auch Fälle, in denen der Gefangene aus in ihm liegenden Gründen (z. B. fehlende gesundheitliche Eignung) nicht außerhalb der Anstalt beschäftigt werden kann. Auch hier kann Sonderurlaub gemäß Abs. 4 gewährt werden. Die Möglichkeit, Freigängern einen Sonderurlaub nach § 15 Abs. 4 zu gewähren, war im Regierungsentwurf des Strafvollzugsgesetzes ursprünglich nicht vorgesehen; sie ist erst auf Antrag des Bundesrats in das Gesetz eingefügt worden, weil in ihr ein wesentliches Mittel der Erprobung für die Zuverlässigkeit eines Gefangenen und für die Einübung des Umgangs mit der Freiheit gesehen wurde (sog. Entlassungsvorbereitung im weiteren Sinn; vgl. dazu OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 19 sowie OLG Hamm ZfStrVo 1981, 189, 191). Aus dieser Sonderregelung für Freigänger folgt indessen nicht, dass jeder Freigänger einen Anspruch auf eine pauschale Bewilligung von Sonderurlaub von sechs Tagen im Monat hat, sofern er die zeitlichen und sonstigen Voraussetzungen erfüllt. Da es sich um eine Kann-Vorschrift handelt, ist es dem Anstaltsleiter nicht verwehrt, zwischen Freigängern, die sich nach längerem Strafvollzug im Übergangshaus befinden (für diesen Personenkreis hatte der Bundesrat die Aufnahme der Bestimmung in den Gesetzestext beantragt), und solchen Gefangenen zu unterscheiden, die lediglich eine kürzere Freiheitsstrafe zu verbüßen haben. Sofern die Gefangenen mit kürzerer Freiheitsstrafe von Beginn der Strafzeit an als Freigänger eingesetzt sind, kann es gerechtfertigt sein, diesem Personenkreis nicht sofort zum frühestmöglichen Zeitpunkt, sondern erst allmählich Sonderurlaub gem. Abs. 4 zu gewähren und auch nicht, jedenfalls nicht sofort, die Höchstdauer von sechs Tagen je Monat auszuschöpfen. Auch ist es dem Anstaltsleiter nicht verwehrt, im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens bewilligten Ausgang, bewilligten Sonderurlaub nach § 35 und ggf. auch bewilligten Regelurlaub nach § 13 zu berücksichtigen (OLG Hamm ZfStrVo 1981, 189, 192). 9 Beantragt ein Freigänger die Bewilligung von Sonderurlaub, besteht für ihn keine Pflicht zum Vorbringen „resozialisierungsträchtiger“ oder anderer Urlaubsgründe; der Gefangene braucht kein Erfordernis für Sonderurlaub nachzuweisen. Das bedeutet, dass ein besonderer Zweck der Entlassungsvorbereitung, also ein der Gestaltung der Lebens- und Berufsbedingungen des Gefangenen nach der Entlassung unmittelbar dienender Anlass, anders als bei § 15 Abs. 3, nicht gegeben zu sein braucht (OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 19;
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OLG Celle ZfStrVo 1979, 186; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Lesting 2006 Rdn. 14). Gleichwohl machen Entstehungsgeschichte („wesentliches Mittel der Erprobung für die Zuverlässigkeit des Gefangenen und für die Einübung des Umgangs mit der Freiheit“ – vgl. OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 19 –) und Platzierung dieser Urlaubsmöglichkeit in § 15, der sich mit Möglichkeiten der Entlassungsvorbereitung beschäftigt, deutlich, dass auch der Sonderurlaub nach Abs. 4 – wenn auch „in einem weiteren Sinn“ (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1981, 189, 191) – der Vorbereitung der Entlassung dient (a. A. C/MD 2008 Rdn. 5). c) Nach Abs. 4 Satz 3 findet Abs. 3 Satz 1 keine Anwendung; es ist deshalb ausgeschlos- 10 sen, beide Möglichkeiten der Gewährung von Sonderurlaub nebeneinander in Anspruch zu nehmen. Der Freigänger muss auch die sog. Entlassungsvorbereitung im engeren Sinn (vgl. Rdn. 7) in dem ihm gemäß Abs. 4 gewährten Sonderurlaub abwickeln. d) Nach Satz 2 von Abs. 3 und Abs. 4 gelten für die Gewährung von Sonderurlaub §§ 11 11 Abs. 2, 13 Abs. 5 und § 14 entsprechend. Sonderurlaub darf demnach nur gewährt werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder den Urlaub zu Straftaten missbrauchen wird (§ 11 Abs. 2). Beim Freigänger dürfte allerdings in der Regel eine eingehende Prüfung verzichtbar sein (so C/MD 2008 Rdn. 8). Zu beachten ist jedoch, dass es hinsichtlich des Gefährdungsgrades und somit der Missbrauchsgefahr einen Unterschied machen dürfte, ob ein Gefangener nur tagsüber die Anstalt verlässt (Freigang) oder sich über Nacht und oftmals für mehrere Tage außerhalb der Anstalt aufhält (Urlaub). Noch deutlicher wird das Problem bei einem Gefangenen, der zwar zum Freigang zugelassen ist und damit Sonderurlaub gem. Abs. 4 erhalten kann (vgl. Rdn. 8), jedoch einer Außenbeschäftigung nicht oder nicht mehr nachgehen kann. Dem Gefangenen, der Sonderurlaub erhält, können Weisungen erteilt werden; auch kann der Urlaub zurückgenommen oder widerrufen werden (§ 14). Der Sonderurlaub unterbricht die Strafvollstreckung nicht (§ 13 Abs. 5).
III. Landesgesetze 1. Bayern
12 Art. 17 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 15 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 15 Abs. 2 StVollzG, ersetzt aber die Formulierung „offene Anstalt oder Abteilung“ durch „Einrichtung des offenen Vollzugs“. Abs. 3 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 15 Abs. 3 StVollzG. § 15 Abs. 4 entfällt (an dieser Stelle), aber nicht ersatzlos (vgl. Art. 14 Abs. 4 BayStVollzG) 2. Hamburg
13 § 15 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 15 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 Nr. 1 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 15 Abs. 3 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 (ausgelassene Sonderregelung für Sicherungsverwahrung und sozialtherapeutische Einrichtung). Abs. 3 und Abs. 4 sind inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 15 Abs. 2 StVollzG. Abs. 5 (ausgelassene Sonderregelung für Sicherungsverwahrung und sozialtherapeutische Einrichtung). In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] In Absatz 3 wird zudem die Möglichkeit einer besonderen Entlassungshaftfreistellung für Freigängerinnen und Freigänger vorThomas Ullenbruch
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gesehen. Freigängerinnen und Freigängern kann danach innerhalb von neun Monaten vor der – voraussichtlichen – Entlassung weitere Freistellung von der Haft bis zu sechs Tagen im Monat gewährt werden. Im Gegensatz zur Entlassungshaftfreistellung nach Absatz 2 Nummer 1, für die es konkreter Vorhaben zur Entlassungsvorbereitung – wie beispielsweise einer Wohnungsbesichtigung oder –renovierung, eines Vorstellungsgesprächs beim Arbeitgeber oder eines Behördentermins – bedarf, ist die Entlassungshaftfreistellung für Freigängerinnen und Freigänger nicht an konkrete Entlassungsvorbereitungen geknüpft“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 54). In der Begründung zur nunmehr überarbeiteten Fassung hatte es demgegenüber noch geheißen: „Eine § 15 Absatz 4 StVollzG entsprechende Möglichkeit, Freigänger (§ 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4) innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung bis zu sechs Tage im Monat von der Haft freistellen zu können, wird jedoch nicht übernommen. Ein entsprechender behandlerischer [. . .] Bedarf wird nicht gesehen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/ 6490, 37). 3. Niedersachsen
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§ 17 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 15 StVollzG.
§ 16 Entlassungszeitpunkt (1) Der Gefangene soll am letzten Tag seiner Strafzeit möglichst frühzeitig, jedenfalls noch am Vormittag entlassen werden. (2) Fällt das Strafende auf einen Sonnabend oder Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag, den ersten Werktag nach Ostern oder Pfingsten oder in die Zeit vom 22. Dezember bis zum 2. Januar, so kann der Gefangene an dem diesem Tag oder Zeitraum vorhergehenden Werktag entlassen werden, wenn dies nach der Länge der Strafzeit vertretbar ist und fürsorgerische Gründe nicht entgegenstehen. (3) Der Entlassungszeitpunkt kann bis zu zwei Tagen vorverlegt werden, wenn dringende Gründe dafür vorliegen, dass der Gefangene zu seiner Eingliederung hierauf angewiesen ist. VV (1) § 16 StVollzG gilt auch, wenn a) der Gefangene aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung oder aufgrund einer Gnadenmaßnahme vorzeitig zu entlassen ist, b) eine Strafe oder Ersatzfreiheitsstrafe infolge der Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts überhaupt nicht vollzogen wird, c) Freistellung von der Arbeit (§ 43 Abs. 6 Satz 1 StVollzG) auf den Entlassungszeitpunkt nach § 43 Abs. 9 StVollzG vorrangig angerechnet wird. (2) Soweit es auf die Länge der Strafzeit ankommt, ist die Vorverlegung der Entlassung vertretbar, wenn sich der Gefangene zum Zeitpunkt der beabsichtigten Entlassung wenigstens einen Monat ununterbrochen im Vollzug befindet. Schrifttum: s. bei § 11
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise Rechtsnatur der Vorschrift II. Erläuterungen . . . . . . 1. Abs. 1 . . . . . . . . . 2. Abs. 2 . . . . . . . . . 3. Abs. 3 . . . . . . . . .
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1–3 4–8 4 5 6–7
Rdn. 4. Geltungsbereich III. Beispiel . . . . . . IV. Landesgesetze . . 1. Bayern . . . . . 2. Hamburg . . . 3. Niedersachsen
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. 8 . 9 . 10–12 . 10 . 11 . 12
I. Allgemeine Hinweise Die Vollstreckungsbehörde (§ 451 Abs. 1 StPO; § 4 StVollstrO) ist für die Berechnung der 1 Strafzeit verantwortlich. Sie überprüft die vorläufige Berechnung der Anstalt. Die Strafe endet, wenn sie länger als eine Woche dauert, am Tagesende (24 Uhr) des letzten Tages der Strafe. § 16 ordnet in Abs. 1 dagegen an, dass die Entlassung des Gefangenen am letzten Tag der Haft vor 24 Uhr erfolgt. Damit wird die schon längst herrschende Praxis bestätigt. Es handelt sich nicht um vorzeitige Entlassung; denn nach § 37 Abs. 2 Satz 3 StVollstrO gilt zugunsten des Gefangenen ein im Laufe eines Tages eingetretenes Ereignis als um 24 Uhr an diesem Tage geschehen. Abs. 2 und Abs. 3 des § 16 geben der Vollzugsbehörde aber darüber hinaus die Möglich- 2 keit, den Gefangenen schon einige Tage vor dem berechneten Endtage zu entlassen. Durch diese Entscheidung, die auch zulässig ist, wenn eine (kurze) Ersatzfreiheitsstrafe zu vollziehen ist, wird die Strafe verkürzt, d. h. es tritt ein Erlass der restlichen Tage der Strafe mit der Entlassung ein; aus Gründen der Resozialisierung verzichtet der Staat auf einen Teil des Strafanspruchs (a. A. KG NStZ 2004, 228; Arloth 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 674). Die Strafe gilt gleichwohl als in ihrem ursprünglich berechneten Umfang verbüßt (insoweit zustimmend Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. noch LR-Schäfer 2006 § 451 StPO Rdn. 61; BGH NJW 1982, 2390; KG NStZ 2004, 112; a. A. wohl Arloth 2008 Rdn. 3). Die Entscheidung der Vollzugsbehörde nach § 16 ist keine Entscheidung im Gnaden- 3 wege, sondern eine die Strafvollstreckung unmittelbar betreffende Vollzugsmaßnahme. Sie ist durch das Vollstreckungsgericht auf Ermessensmissbräuche nachprüfbar.
II. Erläuterungen 1. Die Vorschrift verfolgt in Abs. 1 das Ziel, die Entlassung eines Gefangenen am letz- 4 ten Tage seiner Strafzeit so rechtzeitig vornehmen zu lassen, dass der Betroffene die Möglichkeit erhält, noch am Entlassungstag die wichtigsten Angelegenheiten zu erledigen; hierzu zählt auch die Möglichkeit, noch Behörden aufzusuchen (vgl. dazu insbesondere § 75 i. V. m. VV Nr. 3 zu § 75). Die Entlassung soll auf jeden Fall noch am Vormittag erfolgen. Im Einzelfall (z. B. bei weiter Reise) wird die Entlassung schon vor Dienstbeginn der Verwaltung stattfinden können; dazu müssen jedoch alle Entlassungsvorkehrungen seitens der Anstalt bereits am Vortage getroffen worden sein (ähnlich AK-Lesting 2006 Rdn. 2). Zum Integrationsgrundsatz § 3 Rdn. 13. 2. Die Entlassung kann jedoch auch schon vor dem ursprünglich vorgemerkten 5 Entlassungstag erfolgen. Nach Abs. 2 kann der Gefangene, dessen Strafende auf einen Sonnabend oder Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag, den ersten Werktag nach Ostern oder Pfingsten oder in die Zeit vom 22. Dezember bis 2. Januar (gleichermaßen weitergehend Art. 18 Abs. 2 BayStVollzG und § 17 Abs. 2 HmbStVollzG; vgl. insoweit Rdn. 10 f) fällt, bereits an dem diesem Tag oder Zeitraum vorhergehenden Werktag entlassen werden. ErforThomas Ullenbruch
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derlich ist, dass dies nach der Länge der Strafzeit vertretbar ist; gemäß VV Abs. 2 ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn sich der Gefangene zum Zeitpunkt der beabsichtigten Entlassung wenigstens einen Monat ununterbrochen im Vollzug befindet. Zudem dürfen einer Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes fürsorgerische Gründe nicht entgegenstehen (wenn z. B. trotz intensiver Bemühungen die Wohnungsfrage noch nicht geklärt ist, oder der alleinstehende und mittellose Gefangene erst ab Anfang Januar eine Arbeitsstelle hat und nicht weiß, wie er seinen Lebensunterhalt über die Feiertage bestreiten soll). In der Praxis bedeutsam ist z. B. auch die Notwendigkeit eines nahtlosen Übergangs aus der Haft in eine vorbereitete Betreuungsmaßnahme, z. B. eine stationäre Drogentherapie Arloth 2008 Rdn. 6).
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3. Nach Abs. 3 kann der Entlassungszeitpunkt um bis zu zwei Tage vorverlegt werden, wenn dringende Gründe dafür vorliegen, dass der Gefangene zu seiner Eingliederung hierauf angewiesen ist (§ 3 Rdn. 13). Die Vorschrift muss eng ausgelegt werden. Dringende Gründe, die eine über die Abs. 1 und 2 hinausgehende Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes erforderlich werden lassen, wird es selten geben (Beispiel 1: Beginn einer turnusmäßig stattfindenden Ausbildungsmaßnahme (Arloth 2008 Rdn. 7); Beispiel 2: ein Gefangener soll am dritten Tage eines Monats entlassen werden; der Arbeitgeber ist jedoch zur Einstellung des Betroffenen nur dann bereit, wenn er bereits am Ersten des Monats die Arbeit aufnimmt). 7 Abs. 3 ist den Regelungen in den Abs. 1 und 2 nachgeordnet. Fällt z. B. erst durch die Anwendung des Abs. 3 der Entlassungszeitpunkt auf einen der in Abs. 2 genannten Tage oder in den dort genannten Zeitraum, so ist für eine vorzeitige Entlassung nach Abs. 2 kein Raum. Die vorzeitige Entlassung nach Abs. 3 steht einer Vollverbüßung i. S. v. § 68f Abs. 1 StGB gleich, da lediglich der Entlassungszeitpunkt vorverlegt wird (KG NStZ 2004, 228). D. h. dass die Länder aufgrund der ihnen nunmehr zustehenden Gesetzgebungskompetenz auch insoweit eigene Regelungen erlassen dürfen (so zutreffend bereits erkannt von Arloth 2008 Rdn. 3). – Beruht die vorzeitige Entlassung auf einer sog. „Weihnachtsamnestie“, steht dies dem Eintritt von Führungsaufsicht gleichfalls nicht entgegen (so zutreffend OLG Celle StraFo 2008, 262 mit Nachweisen auch zur Gegenposition). Etwas anderes gilt bei der Berechnung des Vorfreiheitsentzuges i. S. d. § 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Entgegen der Rspr. (BGH NJW 1982, 2390) ist eine etwaige Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes im dortigen Zusammenhang zu beachten. Der Vorwurf der Rückfälligkeit trotz der Warnfunktion vorangegangener Strafhaft knüpft wesentlich an die Dauer der tatsächlich erlittenen Freiheitsentziehung an (ausführlich dazu MünchKommStGB-Ullenbruch 2008 § 66 Rdn. 92).
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4. § 16 gilt auch, wenn der Gefangene aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung oder aufgrund einer Gnadenmaßnahme vorzeitig zu entlassen ist, oder eine Strafe oder Ersatzfreiheitsstrafe infolge der Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes überhaupt nicht vollzogen wird (VV Abs. 1). Die Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts nach § 16 steht aber nur im Ermessen der Anstalt. Deshalb hat die Vorverlegung auf Grund der Anrechnung einer Freistellung nach § 43 Abs. 9 Vorrang (VV Abs. 1 Buchst. c); ausführlich dazu Arloth 2008 Rdn. 2). – Unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung und Gerechtigkeit problematisch erscheinen über die gesetzlichen Regelungen in Abs. 2 und Abs. 3 hinausgehende (eher fiskalisch als religiös motivierte) Verwaltungsanordnungen wie z. B. die sog. „Weihnachtsamnestien“, teilweise schon Anfang Dezember oder gar im November (im Ergebnis gleichfalls skeptisch Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Lesting 2008 Rdn. 4). – Zu Besonderheiten bei Ersatzfreiheitsstrafen vgl. Friederich ZfStrVo 1994, 14 ff.
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III. Beispiel Nach Meinung des LG Regensburg (ZfStrVo SH 1979, 18) soll die Vollzugsbehörde bei 9 der Entscheidung über einen Antrag auf Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes gemäß Abs. 2 bei der Ausübung ihres Ermessens auch das Verhalten des Gefangenen im Vollzug und insbesondere die von ihm gezeigte Bereitschaft, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuarbeiten, würdigen können. Im vorliegenden Fall war der ursprüngliche Entlassungstag ein Werktag. Durch Entweichung und Nichtrückkehr vom Ausgang hatte sich das Strafende verschoben; der Entlassungstag war nunmehr ein Sonntag. Das Gericht hielt die Ablehnung der Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes auf den Samstag für rechtens, obwohl der Gefangene vorgetragen hatte, Wohnung und Arbeit seien noch nicht gesichert. Nach Auffassung des Gerichts dürfe es ein Gefangener nicht in der Hand haben, sein Strafende selbst durch negatives Verhalten vorzuverlegen. Diese Rechtsauffassung begegnet Bedenken, weil sie der Zweckbestimmung des § 16 zuwiderläuft und dem Betroffenen das Argument in die Hand gibt, seine erneute Straffälligkeit sei durch die negative Entscheidung der Vollzugsbehörde bedingt gewesen (a. A. Arloth 2008 Rdn. 4).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 18 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: 10 Abs. 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 16 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 16 Abs. 2 StVollzG; neu ist die Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereiches, indem die Worte „bis zum 2. Januar“ durch „bis zum 6. Januar“ ersetzt werden. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „In Abs. 2 wurde der zeitliche Anwendungsbereich der Vorschrift aus vollzugspraktischen Gründen um vier Tage ausgedehnt. Danach können beispielsweise Gefangene, bei denen das Strafende auf den 6. Januar fällt, am 21. Dezember des Vorjahres entlassen werden. Eine Entlassung vor dem ursprünglich vorgemerkten Entlassungstag kommt nur dann in Betracht, wenn dies nach der Länge der Strafzeit vertretbar ist und fürsorgerische Gründe nicht entgegenstehen. Entsprechend der Regelung in Abs. 2 der VV zu § 16 StVollzG wird eine Vorverlegung der Entlassung erst dann vertretbar sein, wenn sich der oder die Gefangene zum Zeitpunkt der beabsichtigten Entlassung wenigstens einen Monat ununterbrochen im Vollzug befunden hat“ (LT-Drucks. 15/ 8101, 55). 2. Hamburg
11 Art. 17 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 16 Abs. 1 StVollzG. Abs. 1 Satz 2 lautet wie folgt: „Dies gilt auch, wenn sie auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung oder auf Grund eines Gnadenerweises vorzeitig zu entlassen sind.“ In der entsprechend der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 54) ergänzend heranzuziehenden Begründung zu Art. 17 HmbStVollzG a. F. hieß es hierzu: „Absatz 1 Satz 2 stellt entsprechend VV Nummer 1 Buchstabe a) zu § 16 StVollzG klar, dass Satz 1 auch gilt, wenn die Gefangenen auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung oder auf Grund eines Gnadenerweises vorzeitig zu entlassen sind“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 37). Thomas Ullenbruch
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Abs. 2 ist weitgehend inhaltsgleich mit § 16 Abs. 2 StVollzG mit zwei Ausnahmen: Zum einen wird die Formulierung „vom 22. Dezember bis zum 6. Januar“ ersetzt durch „vom 22. Dezember bis zum 6. Januar “; zum anderen heißt es statt „wenn dies nach der Länge der Strafzeit vertretbar ist“ hier „wenn sie sich zum Zeitpunkt der beabsichtigten Entlassung mindestens einen Monat ununterbrochen im Vollzug befinden“. In der – wiederum ergänzend heranzuziehenden – Gesetzesbegründung der a. F. des HmbStVollzG hieß es hierzu: „Auch Absatz 2 entspricht im Wesentlichen § 16 Absatz 2 StVollzG. Lediglich der mit dem 22. Dezember eines Jahres beginnende Zeitrahmen für die Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes wird in Übereinstimmung mit den Entwürfen anderer Bundesländer aus pragmatischen Gründen vom 2. Januar eines Jahres auf den 6. Januar eines Jahres erweitert. Soweit es nach § 16 Absatz 2 3. Halbsatz StVollzG auf die Länge der Strafzeit ankommt, greift Absatz 2 3. Halbsatz die in VV Nummer 2 zu § 16 geregelte Konkretisierung auf. Hiernach kann die Entlassung vorverlegt werden, wenn die Gefangenen sich zum Zeitpunkt der beabsichtigten Entlassung mindestens einen Monat ununterbrochen im Vollzug befinden“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 37). Abs. 3 ist weitgehend inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 16 Abs. 3 StVollzG – außer, dass die Worte „dringende Gründe dafür vorliegen, dass“ ersatzlos gestrichen werden. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] wurde indes die Schwelle für eine Vorverlegung der Entlassung aus Eingliederungsgründen herabgesenkt. Nach dem Entwurf kann die Entlassung vorverlegt werden, wenn die Gefangenen zu ihrer Eingliederung darauf angewiesen sind. Hierfür müssen nachvollziehbare Gründe vorliegen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 54). Abs. 4 lautet wie folgt: „Absätze 2 und 3 gelten auch nach einer Anrechnung der Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt (§ 40 Absatz 5 Satz 1) oder wenn eine Strafe oder Ersatzfreiheitsstrafe infolge der Vorverlegung überhaupt nicht vollzogen wird“. In der ergänzend heranzuziehenden Begründung zu § 17 HmbStVollzG aF heißt es hierzu: „Absatz 4 greift die Regelungen in VV Nummer 1 Buchstaben b) und c) auf und integriert sie aus pragmatischen Gründen in das Gesetz“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 37). Abs. 5 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 75 Abs. 1 StVollzG. 3. Niedersachsen
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§ 18 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 16 StVollzG.
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Thomas Ullenbruch
§ 17
Unterbringung während der Arbeit und Freizeit
DRITTER TITEL
Unterbringung und Ernährung des Gefangenen § 17 Unterbringung während der Arbeit und Freizeit (1) Die Gefangenen arbeiten gemeinsam. Dasselbe gilt für Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung sowie arbeitstherapeutische und sonstige Beschäftigung während der Arbeitszeit. (2) Während der Freizeit können die Gefangenen sich in der Gemeinschaft mit den anderen aufhalten. Für die Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen kann der Anstaltsleiter mit Rücksicht auf die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt besondere Regelungen treffen. (3) Die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit kann eingeschränkt werden, 1. wenn ein schädlicher Einfluss auf andere Gefangene zu befürchten ist, 2. wenn der Gefangene nach § 6 untersucht wird, aber nicht länger als zwei Monate, 3. wenn es die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erfordert oder 4. wenn der Gefangene zustimmt. Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise Einzelunterbringung und Gemeinschaft bei Arbeit und Freizeit . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Unterbringung bei der Arbeit . 2. Unterbringung bei der Freizeit 3. Einschränkungen der gemeinsamen Unterbringung . . . . .
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1–2 3–6 3 4
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5–6
Rdn. III. Beispiel . . . . . IV. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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7 8–10 8 9 10
I. Allgemeine Hinweise 1. Die Gefangenen sollen die tägliche Arbeitszeit in Gemeinschaft verbringen und frei 1 entscheiden können, ob sie ihre Freizeit ganz oder teilweise in Gemeinschaft mit anderen verleben oder für sich allein bleiben. Das Vollzugsziel (§ 2 Rdn. 12 ff) kann nur erreicht werden, wenn der Gefangene lernt, mit anderen zusammenzuarbeiten und erträglich zusammenzuleben. Das Einzelhaftsystem des vorigen Jahrhunderts (pennsylvanisches System), das darauf bedacht war, die schlechten Einflüsse, die Gefangene aufeinander haben können, durch konsequente Trennung zu verhindern, hat sowohl die für sich allein gelassenen Gefangenen unzumutbar belastet als sie auch lebensuntüchtig gemacht („Einzelhaft macht schwächer“, Radbruch ZfStrVo 1952/53, 140, 151); siehe dazu Böhm 2003 Rdn. 62, 217. Vgl. auch Laubenthal 2008 Rdn. 101 f; Schwind in: Schwind/Blau 1 ff. 2. Da viele Gefangene ein vernünftiges Miteinander bei Arbeit, Freizeit und Sport we- 2 gen ihrer Sozialisationsmängel nicht zu leisten vermögen und weil bei den vielen schwieri-
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§ 17
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
gen Persönlichkeiten auch eine gegenseitige schlechte Beeinflussung nicht ausgeschlossen werden kann, Gemeinschaft gelernt werden muss, ist Aufsicht, Beobachtung und Beratung sicherzustellen (Busch ZfStrVo 1977, 63, 67). Deshalb sollen die Arbeitsgruppen, die Wohngruppen (§ 7 Rdn. 12; § 143 Rdn. 3) und die Freizeitgruppen (§ 67 Rdn. 21) nicht zu groß sein. Und die Entwicklung der Beziehungen der Gefangenen zueinander muss beobachtet und mit den Insassen besprochen werden. Dem entsprechen die Arbeitsbedingungen in den sozialtherapeutischen Anstalten (§ 9 Rdn. 5) mit ihren am Modell der problemlösenden Gemeinschaft (dazu Laubenthal 2008 Rdn. 161 ff) orientierten Wohn- und Kommunikationsstrukturen. Auch im Normalvollzug wird in einigen Anstalten in vergleichbarer Weise gearbeitet, wobei offen bleibt, ob das erwähnte Modell für alle Gefangenen geeignet erscheint (§ 143 Rdn. 3; Walter 1999 Rdn. 284). Während Arbeit, Ausbildung und sonstige Beschäftigung während der Arbeitszeit gemeinschaftlich stattfinden, erlaubt § 201 Nr. 2 für die Anstalten, mit deren Bau vor dem 1.1.1977 begonnen wurde, eine weitreichende Einschränkung hinsichtlich gemeinschaftlicher Unterbringung während der Freizeit.
II. Erläuterungen 3
1. Die Gefangenen arbeiten gemeinsam. Ob dies dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1; § 3 Rdn. 3 ff) entspricht (C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 121) erscheint fraglich. Es gibt – im Zeitalter moderner Kommunikationstechniken noch zunehmend – zahlreiche Arbeitsplätze, bei denen nicht gemeinsam gewirkt wird. Eher ist wohl ein soziales Training (§ 67 Rdn. 24) Leitbild dieser Regelung (ebenso C/MD 2008 Rdn. 1). Schreckbild stellt die früher weit verbreitete, meistens auch auf langweilige und primitive Heimarbeit zugeschnittene Zellenarbeit, mit der sich der Insasse während der Arbeitszeit in seinem Haftraum allein beschäftigen musste. Nicht nur die Arbeit im engeren Sinn findet nach Abs. 1 in Gemeinschaft statt, sondern auch die anstelle von Arbeit und in der Arbeitszeit stattfindenden Beschäftigungen (C/MD 2008 Rdn. 3). In der Aufzählung bleibt allerdings der Unterricht (§ 38) ausgespart. In der Tat sollte die Möglichkeit des bei besonders schulisch Vernachlässigten jedenfalls zeitweilig nötigen Einzelunterrichts und der Wechsel von alleinigem Studium im Haftraum und gemeinsamer Arbeit in der Gruppe während des Schultages offen gelassen werden. Die Selbstbeschäftigung nach § 39, soweit sie nicht im Wege des Freigangs stattfindet, kann überwiegend nur allein im Haftraum geleistet werden. Und ebenso gibt es in der Anstalt Arbeitsstellen, an denen der Insasse meistens allein arbeitet (z. B. in der Waschküche, in der Heizung oder der Bücherei – überhaupt bei den begehrten Hausarbeitertätigkeiten). Diese Art von Arbeit, aber auch Zellenarbeit alter Art, ist unter der Voraussetzung zulässig, dass der Gefangene zustimmt (Abs. 3 Nr. 4). Die Zustimmung darf der Inhaftierte ohne Angabe von Gründen jederzeit widerrufen (OLG Hamm NStZ 1990, 206). Zur Arbeit in ihrem Haftraum sind die Gefangenen verpflichtet, deren gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit aus den in Abs. 4 Nr. 1–3 genannten Gründen eingeschränkt ist (LG Stuttgart ZfStrVo 1990, 304; OLG Hamm NStZ 1990, 206). Der Gefangene hat aber keinen Anspruch darauf, dass ihm eine Einzelarbeit zugewiesen wird.
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2. Die Dauer der täglichen Freizeit ergibt sich aus der Hausordnung (§ 161 Abs. 2 Nr. 2 – zur Rechtsnatur § 161 Rdn. 2, 4). Sie ist nicht nur die Zeit, in der in der Anstalt gemeinschaftliche Veranstaltungen angeboten werden, sondern z. B. die meiste Tageszeit an Wochenenden. Nicht in allen Anstalten ist es möglich, den Insassen für die ganze Freizeit die freie Wahl einzuräumen, entweder in Gemeinschaft zu leben oder allein im Haftraum zu sein. Das setzt regelmäßig die Aufgliederung der Anstalt in abtrennbare, selbständige
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Unterbringung während der Arbeit und Freizeit
§ 17
Wohngruppen (§ 7 Rdn. 12; § 143 Rdn. 3) voraus, für deren Betreuung genug Personal zur Verfügung stehen müsste (§ 143, § 201 Abs. 4; s. auch Rdn. 2). Auch wo diese Voraussetzungen erfüllt sind, beschränkt sich das Recht auf Gemeinsamkeit häufig auf die Mitglieder der Wohngruppen bzw. die Teilnehmer an den darüber hinaus angebotenen Kursen und Veranstaltungen. Nur in diesem organisatorischen Rahmen kann sich der Gefangene seinen Umgang aussuchen. Die gesamte Anstalt nach innen zu öffnen, kann wegen der subkulturellen Einflüsse (§ 3 Rdn. 12) der Gefangenen aufeinander nicht befürwortet werden (ebenso Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. auch Dünkel/Kunkat NK 2/1997, 24, 29). Wenn (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 7 vor § 17; § 17 Rdn. 3, 5) darauf hingewiesen wird, dass es erfolgreiche Beispiele der Öffnung ganzer Anstalten nach innen ohne Aufgliederungen in Wohngruppen und stärkeren Personaleinsatz gebe, und dass die Gefangenensubkultur dem Selbstschutz diene und einen repressionsfreien Anstaltsbetrieb gewährleiste, so widersprechen dem die derzeit im geschlossenen (und teilweise auch im offenen) Vollzug vorgefundenen Verhältnisse. Auf der subkulturellen Ebene sind körperliche und sexuelle Angriffe, das Unterdrücken anderer Mitinhaftierter, Nötigungen und Erpressungen fast alltäglich (Böhm 2003 Rdn. 175; Laubenthal 2008 Rdn. 213 ff; Preusker ZfStrVo 2003, 230 f). Es ist rechtswidrig (und der Erreichung des Vollzugsziels abträglich) durch organisatorische Maßnahmen, wie es eine weitgehende Öffnung der Anstalt nach innen bei fehlenden Kontrollmöglichkeiten darstellt, Gefangene noch vermehrt solchen entwürdigenden Situationen auszusetzen. Deshalb ist es auch richtig, den Gefangenen keinen Anspruch auf solche bedenkliche Ermöglichung von Gemeinsamkeit einzuräumen (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 122). Solange die baulichen und personellen Voraussetzungen (selbständige Wohngruppen) für ein gemeinschaftliches Verbringen der gesamten Freizeit nicht geschaffen sind, ist es notwendig und ausreichend, jeweils für bestimmte Zeiten am Tage und an Wochenenden den Gefangenen die Möglichkeit zu geben, an Gemeinschaftsveranstaltungen in der Freizeit teilzunehmen und die Freizeit mit (einigen) anderen Insassen zu verbringen (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 122; ZfStrVo 1995, 243). Auch der sog. Umschluss – zwei oder mehr Insassen werden auf ihren Wunsch für einige Zeit in den Haftraum eines von ihnen eingeschlossen – ermöglicht Freizeit in Gemeinschaft. § 17 Abs. 2 gibt dem Insassen keinen Anspruch darauf, seine ganze Freizeit – oder auch nur deren überwiegenden Teil – mit anderen gemeinsam zu verbringen. Er hat nur das Recht auf gemeinsame Freizeit überhaupt (Laubenthal 2008 Rdn. 379), wobei für ein möglichst umfassendes Angebot an Veranstaltungen ebenso wie für großzügig bemessenen Zeitraum für nicht organisierte gemeinsame Freizeit zu sorgen ist. Beide Möglichkeiten gemeinschaftlicher Freizeit sind einzuräumen. Die Vollzugsbehörde hat insoweit einen Ermessensspielraum (OLG Frankfurt BlStV 2/1981, 7; OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 243; OLG Dresden NStZ 2001, 40 M). Sie kann auch, wie sich aus Abs. 2 Satz 2 ergibt, aus wichtigen Gründen vorübergehend oder auf Dauer die Zeiten für die gemeinsame Freizeit wieder einschränken (etwa um Überstunden der Bediensteten abzubauen: KG ZfStrVo 1998, 310 ff). Der Gefangene ist nicht verpflichtet, seine Freizeit mit anderen Gefangenen zu verbringen. Er darf sich, selbst wenn das aus Gründen der Behandlung vielleicht unerwünscht ist, in der gesamten Freizeit allein in seinem Haftraum aufhalten. 3. Abs. 3 erlaubt die Einschränkung der gemeinschaftlichen Unterbringung 5 während der Arbeits- und Freizeit. Die hierfür im Gesetz formulierten Anordnungsvoraussetzungen unterliegen als unbestimmte Rechtsbegriffe der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung (OLG Bremen ZfStrVo 1985, 178f; AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 5; vgl. auch § 115 Rdn. 21). a) Erlaubt ist nur eine Einschränkung. Das bedeutet, dass bei Abs. 3 die Qualität der – an strengere Voraussetzungen geknüpften – Einzelhaft (§ 89) nicht erreicht wird. Die Ein-
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schränkung ist auch gegen die Disziplinarmaßnahmen nach § 103 Abs. 1 Nr. 4 und 5 abzugrenzen (§ 103 Rdn. 4). Die Einzelhaft (§ 89) ist die unausgesetzte Trennung eines Insassen von seinen Mitgefangenen, die allenfalls durch Teilnahme am Gottesdienst und der täglichen Freistunde unterbrochen wird (§ 89 Rdn. 1). Die Einschränkung gem. Abs. 3 muss dem Insassen also mehr an Kommunikation erlauben (Beschränkung nur auf Arbeitszeit oder Freizeit; Freizeit allein bis auf eine Stunde Umschluss am Tag oder bis auf Teilnahme am Sport oder an einem bestimmten Fortbildungs- oder Freizeitkurs: OLG Frankfurt 1979, 121 f; LG Hamburg NStZ 1981, 214 F). Auch die Zeit der Behandlungsuntersuchung nach § 6, die Einschränkungen nach Abs. 3 bis zu zwei Monaten gestattet (dieser Zeitraum ist lang bemessen, zwei bis vier Wochen genügen in der Regel, vgl. auch § 6 Rdn. 10), darf nicht zur Einzelhaft verkümmern, sondern muss wenigstens etwas an gemeinsamer Arbeit oder Freizeit bereithalten.
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b) Ein Unterschied zu den Disziplinarmaßnahmen nach § 103 Abs. 1 Ziff. 4 und 5 besteht vor allem im Anlass. Die Disziplinarmaßnahmen können den Insassen auch treffen, wenn er keinen schädlichen Einfluss auf andere ausübt. Sie sind Antwort auf eine schuldhafte Pflichtverletzung (§ 102 Rdn. 4 ff). Dagegen ist die Einschränkung nach Abs. 3 Nr. 1 zulässig, wenn befürchtet werden muss, dass der Gefangene einen schädlichen Einfluss auf andere ausübt. Schädlicher Einfluss bedeutet hier sowohl krimineller Einfluss, der sich gegen die Erreichung des Vollzugszieles richtet, als auch Einfluss, der andere Insassen schädigt (Streitereien, Schlägereien oder sexuelle Belästigungen provoziert) (C/MD 2008 Rdn. 5; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2; s. auch § 25 Rdn. 8). Zum schädlichen Einfluss zu rechnen ist etwa auch die gegenseitige Unterstützung beim Hungerstreik. Die bloße Tatsache, dass ein Gefangener ein unbelehrbarer Überzeugungstäter ist und deshalb schädlichen Einfluss auf andere ausüben könnte, genügt noch nicht (OLG Hamburg ZfStrVo 1983, 187; vgl. aber OLG Hamm ZfStrVo 1995, 181). Ausreichend ist ein begründeter Verdacht schädlichen Einflusses (etwa des Besitzes oder Konsums von Drogen). Die Rechtmäßigkeit der Einschränkung der gemeinschaftlichen Unterbringung wird nicht davon berührt, ob sich die Befürchtung später bestätigt (OLG Zweibrücken NStZ 1994, 102). Ein Ausschluss von gemeinsamer Arbeit und/oder Freizeit ist auch zulässig, wenn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) es erforderlich machen. Dies betrifft etwa grobe Störungen bei gemeinsamen Veranstaltungen, bei der Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Bedienstete oder gefährlicher Unbeherrschtheit beim Gemeinschaftssport, sowie zur Sicherung vor Entweichungen (OLG Celle ZfStrVo 1986, 377; Versagung von Umschluss wegen Ausbruchsversuchs: OLG Celle ZfStrVo 1986, 123, 124). Der schuldlos in eine Schlägerei mit Mitgefangenen Verwickelte gefährdet in der Regel die Ordnung der Anstalt nicht (OLG Bremen Beschl. vom 21.9.1995 – Ws 12/95). Schuldhaftes Verhalten verlangt Abs. 3 Nr. 3 nicht. Auch eine veränderte Belegungssituation, Personalmangel oder Umbauten können die Einschränkung gemeinsamer Unterbringung aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung erfordern. Es ist auch zulässig, die Ausschlussgründe des Abs. 3 mit den räumlichen und personellen Verhältnissen nach § 201 Nr. 2 zu kombinieren; beispielsweise wenn die Gefahr des Missbrauchs einer Freizeitveranstaltung zur Flucht auch deshalb besteht, weil dort nur wenig Aufsichtspersonal eingesetzt werden kann. Auch über längere Zeit sind Einschränkungen von gemeinschaftlicher Arbeit und Freizeit in einer Anstalt zulässig, wenn es nötig ist, den dort bestehenden Drogenmarkt auszutrocknen (LG Hamburg NStZ 1981, 214 F). Die Einschränkungen nach Nr. 1 und 3 bleiben zeitlich nur so lange zulässig, wie die jeweiligen Befürchtungen begründet sind. Eine Einschränkung i. S. v. Abs. 3 liegt nicht vor, wenn dem Gefangenen gemeinschaftliche Arbeit und Freizeit nur unter der Bedingung gestattet wird, dass er Anstaltskleidung trägt (OLG Bremen ZfStrVo 1985, 178 f). Wird ein Gefangener nach Abs. 3 von der gemein-
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schaftlichen Unterbringung während der Arbeitszeit ausgeschlossen, ist er zur Zellenarbeit verpflichtet (LG Stuttgart ZfStrVo 1990, 304; Laubenthal 2008 Rdn. 378). Kann die Anstalt den Gefangenen in seinem Einzelhaftraum nicht mit Arbeit versorgen und hat der Gefangene (im Falle eines Verdachts, der sich nicht erweisen lässt) seine Ablösung von der gemeinschaftlichen Arbeit nicht verschuldet, steht ihm Anspruch auf Taschengeld zu (OLG Zweibrücken NStZ 1994, 102).
III. Beispiel X ist verärgert, weil sein Antrag auf Gewährung einer Vollzugslockerung abgelehnt 7 wurde. Er verweigert die ihm zugewiesene Pflichtarbeit. Nachdem die Disziplinarmaßnahme, die aus diesem Grund gegen ihn verhängt wurde, vollzogen ist, verweigert er die Arbeit erneut. Wieder wird eine Disziplinarmaßnahme (Arrest) verhängt und vollzogen. Nachdem er nun noch weiter die Arbeit verweigert, verlegt ihn der Anstaltsleiter in eine besondere Abteilung der Anstalt. In dieser Abteilung befinden sich nur sog. hartnäckige Arbeitsverweigerer. Sie sind in Einzelhafträumen untergebracht und dürfen Freizeitveranstaltungen nicht besuchen. Es ist ihnen nicht gestattet, auf dem anstaltseigenen Sportplatz Sport zu treiben; sie haben auch keinen Umschluss. Nur zur gemeinsamen Freistunde verlassen sie ihre Hafträume. Der Anstaltsleiter begründet diese Maßnahme mit § 17 Abs. 3 Nr. 1 und 3. Die Arbeitsverweigerer übten auf die anderen Insassen einen schlechten Einfluss aus. Es sei auch nötig, durch diese Maßnahme auf die Arbeitsverweigerer selber einzuwirken. Arbeitsverweigerer würden erfahrungsgemäß häufiger rückfällig. Die Maßnahme ist unzulässig. Befürchtungen, jemand könnte als schlechtes Beispiel wirken, sind viel zu allgemein. Als Antwort auf schuldhafte Pflichtverletzungen kommen Disziplinarmaßnahmen in Betracht (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 250; ähnlich LG Hamburg ZfStrVo 2001, 50 ff; Rdn. 6; vgl. auch Laubenthal 2008 Rdn. 378). Eine Einschränkung der gemeinsamen Unterbringung darf nicht zu einer Umgehung der Voraussetzungen für die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen gem. §§ 102 ff führen. Die vom Anstaltsleiter angeordnete Unterbringung in der Abteilung für Arbeitsverweigerer wäre zudem deshalb unzulässig, weil es sich nicht mehr um eine Einschränkung nach § 17 Abs. 3, sondern um strenge Einzelhaft nach § 89 handelt und deren Voraussetzungen nicht vorliegen (Rdn. 5).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 19 Abs. 1 BayStVollzG ist wortlautidentisch mit § 17 Abs. 1 StVollzG. Gleiches gilt, 8 abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzierung in Satz 2, für Abs. 2 der bayerischen Norm. Abs. 3 der landesrechtlichen Vorschrift entspricht, bis auf die geänderte Verweisung in Nr. 2 auf Art. 8 BayStVollzG, weitgehend dem Wortlaut der bundesrechtlichen Regelung. 2. Hamburg § 19 Abs. 1 HmbStVollzG lautet nunmehr: „Die Gefangenen arbeiten in der Gemein- 9 schaft mit anderen, soweit dies mit Rücksicht auf die Anforderungen der verfügbaren Arbeitsplätze möglich ist. Dasselbe gilt für Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung sowie arbeitstherapeutische und sonstige Beschäftigung während der Arbeitszeit“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Soweit Absatz 1 die Arbeit in der Gemeinschaft mit anderen von den Anforderungen der verfügbaren Arbeitsplätze abhängig macht,
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
soll der Entwicklung in der freien Wirtschaft Rechnung getragen werden, die inzwischen, insbesondere unter dem Einfluss neuer Technologien, zunehmend Einzelarbeitsplätze kennt. Der Vollzug soll in der Lage sein, auf diese Entwicklung reagieren und auch solche Arbeitsplätze einrichten zu dürfen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 37). Abs. 2 und 3 der Vorschrift entsprechen weitgehend, abgesehen von der Abfassung im Plural sowie der geänderten Reihenfolge in Abs. 3, der bundesrechtlichen Regelung. 3. Niedersachsen
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§ 19 Abs. 1 NJVollzG entspricht in weiten Teilen § 17 StVollzG. Abs. 2 der landesrechtlichen Vorschrift korrespondiert, abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzierung, mit § 17 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. § 17 Abs. 2 Satz 2 StVollzG wurde indessen vom Landesgesetzgeber nicht übernommen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Im Übrigen ist der dortige Satz 2 entfallen, weil der Regelungsgehalt zukünftig auch durch eine Verwaltungsvorschrift erfasst werden kann“ LT-Drucks. 15/3565, 108. Abs. 3 der niedersächsischen Bestimmung entspricht weitgehend § 17 Abs. 3 Nr. 1–3 StVollzG; allerdings ist Nr. 4 der bundesrechtlichen Norm entfallen. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Der Einschränkungsgrund des § 17 Abs. 3 Nr. 4 StVollzG ist entbehrlich“ LT-Drucks. 15/3565, 108.
§ 18 Unterbringung während der Ruhezeit (1) Gefangene werden während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen untergebracht. Eine gemeinsame Unterbringung ist zulässig, sofern ein Gefangener hilfsbedürftig ist oder eine Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen besteht. (2) Im offenen Vollzug dürfen Gefangene mit ihrer Zustimmung während der Ruhezeit gemeinsam untergebracht werden, wenn eine schädliche Beeinflussung nicht zu befürchten ist. Im geschlossenen Vollzug ist eine gemeinschaftliche Unterbringung zur Ruhezeit außer in den Fällen des Absatzes 1 nur vorübergehend und aus zwingenden Gründen zulässig.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Nächtliche Einzelunterbringung als wichtiger Grundsatz . . . . 2. Der Grundsatz wird nicht zureichend verwirklicht . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Einzelunterbringung gilt für die Ruhezeit . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahme von der Einzelunterbringung für kranke und depressive Gefangene . . . . . . . . .
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Rdn.
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1–2
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3. Belegung von Gemeinschaftshafträumen . . . . . . . . . . . . 5 4. Entschädigung bei Gemeinschaftsunterbringung . . . . . . . . . . 6 5. Nächtliche Unterbringung im offenen Vollzug . . . . . . . . . . 7 6. Ausnahmen nach Absatz 2 Satz 2 . 8 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 9–11 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 10 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . . 11
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Unterbringung während der Ruhezeit
§ 18
I. Allgemeine Hinweise 1. Jeder Gefangene ist während der Ruhezeit prinzipiell in einem gesonderten Haf- 1 traum unterzubringen. Er muss einen Rest von Privatsphäre behalten, eine Rückzugsmöglichkeit haben, in der seine Intimsphäre gewahrt wird. Das entspricht der Achtung der Persönlichkeit und schafft Voraussetzungen für die Erreichung des Vollzugsziels (OLG Celle ZfStrVo 1999, 57 f; AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 1; § 2 Rdn. 12 ff; C/MD 2008 Rdn. 1), denn die Einzelunterbringung dient zugleich dem Schutz vor subkulturellen Einflüssen (Laubenthal 2008 Rdn. 380). Die gesonderte Unterbringung der Inhaftierten während der Ruhezeit ist die notwendige Ergänzung der (überwachten und begleiteten) Gemeinschaft bei der Arbeit und der Freizeit (Busch ZfStrVo 1977, 63, 67). Sie entspricht auch den EuStVollGrds 2006, die in Nr. 18.5 vorschreiben, dass Gefangene i.d.R. bei Nacht in Einzelhafträumen unterzubringen sind. Die Vollzugsbehörde hat zu beachten, dass die Unterbringung keine besondere Übelszufügung bedeuten darf (so bereits BT-Drucks. 7/918, 93). Ihrem Ermessen werden vor allem Grenzen gezogen durch das Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das Verbot unmenschlicher Behandlung, Art. 3 EMRK (BVerfG ZfStrVo 2002, 176; ZfStrVo 2002, 178; Beschl. v. 13.11.2007 – 2 BvR 2201/05; OLG Zweibrücken NStZ 1982, 221; OLG Hamm NStZ 1992, 352; OLG Celle StV 2004, 84; OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 613; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 304; OLG Naumburg NJW 2005, 514; KG, StraFo 2007, 521; LG Gießen NStZ 2003, 624; LG Hannover StV 2003, 568; LG Oldenburg StV 2004, 610; LG Halle StV 2005, 342). Das Verbot einer unmenschlichen Behandlung ist gerade auch bei einer gemeinschaftlichen Unterbringung mehrerer Gefangener in einem Haftraum zu beachten und setzt insoweit dem Ermessen der Vollzugsbehörde Grenzen (BVerfG ZfStrVo 2002, 176; ZfStrVo 2002, 178; Beschl. v. 13.11.2007 – 2 BvR 2201/05; siehe auch Kretschmer NStZ 2005, 253 f; Theile StV 2002, 670 ff; Ullenbruch NStZ 1999, 430). Eine bloße gemeinsame Unterbringung ohne Vorliegen der gesetzlich normierten Ausnahmekriterien vom Prinzip der Einzelhaft kann ohne Hinzutreten erschwerender, den Gefangenen benachteiligender Umstände noch nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen werden (BGH NStZ 2007, 172). Wann eine Verletzung der Menschenwürde durch Unterschreiten etwa einer bestimmten Haftraummindestgröße infolge Mehrfachbelegung vorliegt, ist bislang nicht eindeutig geklärt (dazu eingehend Nitsch Die Unterbringung von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, 2006, 114 ff). So hat z. B. das OLG Frankfurt festgestellt, „dass eine solche Verletzung jedenfalls vorliegt, wenn – kumulativ – der Haftraum mit einer nicht abgetrennten oder nicht gesondert entlüfteten Toilette ausgestattet ist, und ein gewisses Mindestmaß für jeden Gefangenen an Luftraum (16 m3) oder Bodenfläche (6 bzw. 7 m2) unterschritten ist“ (OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 156; s. auch OLG Frankfurt NJW 2003, 2845). Nach dem OLG Karlsruhe verstößt „die dauerhafte Unterbringung zweier Strafgefangener in einem gemeinsamen Haftraum nicht gegen die Menschenwürde, wenn dieser über eine Größe von 9 m2 verfügt und mit einer räumlich abgetrennten und durch eine Tür verschließbaren Nasszelle mit Toilette und Waschbecken von 1,3 m2 Grundfläche ausgestattet ist“ (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 224). Für das OLG Hamm verletzt „die gemeinsame Unterbringung zweier Gefangener in einem nur 8,8 m2 großen Haftraum mit freistehender, nur mit einer beweglichen Schamwand verdeckten und nicht gesondert entlüfteten Toilette die Menschenwürdegarantie und das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“ (OLG Hamm StV 2006, 152). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hinsichtlich der Verletzung des Verbotes von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe gem. Art. 3 EMRK in Überbelegungsfällen die Möglichkeit einer Kompensation geringer Haftraumgröße durch die dem GefangeAlexander Böhm/Klaus Laubenthal
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nen innerhalb des Vollzugs zustehende Bewegungsfreiheit anerkannt (EGMR Urteil v. 12.7. 2007 – 20877/04). Kann wegen Überbelegung der Anstalt nicht jedem Gefangenen ein Einzelhaftraum zur Verfügung gestellt werden, hat die Anstaltsleitung ihr Organisationsermessen pflichtgemäß auszuüben. Sie muss ihre Auswahlentscheidung für die einzeln oder gemeinsam unterzubringenden Inhaftierten nachvollziehbar und unter Beachtung von mit dem jeweiligen Strafvollzugsgesetz zu vereinbarenden Kriterien treffen. Das sind neben ggf. vorrangig zu beachtenden Einzelfallaspekten vor allem das vollzugliche Sozialisationsziel, der Gegensteuerungsgrundsatz sowie Gesichtspunkte der Sicherheit und Ordnung. Hinzu kommen das Gleichbehandlungsprinzip sowie die Berücksichtigung der jeweiligen Strafdauer (OLG Celle StV 2006, 151).
2
2. Das Einzelhaftprinzip als gesetzliche Forderung für die Ruhezeit ist nicht eingelöst. Für die vor dem 1.1.1977 bestehenden oder im Bau befindlichen Anstalten gestattet § 201 Ziff. 3 eine zeitlich unbeschränkte Abweichung „solange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“. Obwohl der Grundsatz einer Einzelunterbringung von Strafgefangenen bei Nacht zu den wesentlichen Voraussetzungen eines modernen Behandlungsvollzugs zählt, stellt die Unterbringung in Gemeinschaftszellen in Deutschland keineswegs die Ausnahme dar. Von den am 30.11.2007 belegungsfähigen 80 708 Haftplätzen waren 27 684 (34,3 %) für eine gemeinsame Unterbringung vorgesehen. Gemeinsam untergebracht waren jedoch zu diesem Zeitpunkt 35 111 Gefangene (Statistisches Bundesamt Bestand der Gefangenen und Verurteilten in den deutschen Justizvollzugsanstalten, 2008).
II. Erläuterungen 3
1. Die Einzelunterbringung bezieht sich auf die Ruhezeit, die in der Hausordnung (§ 161 Abs. 2 Nr. 2; Rechtsnatur: § 161 Rdn. 2, 4) festgelegt wird und nicht nur die Zeit der Nachtruhe umfassen muss (ebenso: C/MD 2008 Rdn. 1). So kann z. B. die Ruhezeit von 20.00 Uhr bis 7.00 Uhr, die Zeit der Nachtruhe von 22.00 bis 6.00 Uhr festgelegt sein. Ruhezeit bedeutet deshalb nicht lautloses Stillschweigen (anders Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Schon gar nicht muss in der Zeit der Nachtruhe das Licht im Haftraum ausgeschaltet sein (OLG Celle NStZ 1981, 238). Einzelunterbringung bedeutet auch nicht unbedingt Einschluss, d. h. es sind Anstalten oder Abteilungen in Anstalten denkbar, in denen die Hafträume nicht verschlossen werden (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 2). Die Einzelunterbringung im geschlossenen Vollzug erfolgt aus den in Rdn. 1 genannten Gründen unabhängig von den Wünschen der Insassen (Böhm 2003 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3). Von einer Einschränkung dieses Grundsatzes (bei Zustimmung der Gefangenen und Ausschluss von Gefährdungen: Ullenbruch NStZ 1999, 431) ist abzuraten (Rösch BlStV 2/1999, 1, 2; vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 1). Vgl. aber Rdn. 2. In Anstalten, in denen die Gemeinschaftshaft bei der Arbeit und die Möglichkeit der Gemeinschaft in der Freizeit gem. § 17 verwirklicht sind, wird gemeinschaftliche Unterbringung während der Ruhezeit weniger gewünscht (Böhm 2003 Rdn. 194).
4
2. Eine Ausnahme von der Einzelunterbringung im geschlossenen Vollzug sieht das Gesetz in Abs. 1 Satz 2 vor, wenn ein Gefangener so hilfsbedürftig ist, dass er in der Ruhezeit nicht allein gelassen werden kann (erhebliche körperliche Behinderung, unter überraschend auftretenden Anfällen leidend) oder wenn eine konkrete Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen besteht (Selbstmord- oder Selbstbeschädigungsgefahr). Diese Ausnahme entspricht derjenigen für Untersuchungsgefangene in § 119 Abs. 2 Satz 3 StPO. Bei richtiger Auslegung von Abs. 1 Satz 2 handelt es sich um eine Sonderregelung für Kran-
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Unterbringung während der Ruhezeit
§ 18
kenabteilungen der Vollzugsanstalten und für Vollzugskrankenhäuser. Denn der genannte Personenkreis ist fachkundig zu betreuen und zu versorgen. Das gilt besonders für selbstmordgefährdete Insassen, deren „Behandlung“ durch Gemeinschaftshaft in der Ruhezeit mehr als fragwürdig erscheint (Böhm 2003 Rdn. 191; Stuth BlStV 2/1981, 9; ähnlich wohl C/MD 2008 Rdn. 3). Jedenfalls widerspricht es der Bedeutung des § 18 Abs. 1 Satz 1 als eines wichtigen Rechtes des Gefangenen, ihn zur gemeinschaftlichen Unterbringung in der Ruhezeit mit einem oder mehreren Hilfsbedürftigen oder Gefährdeten zu zwingen. Nur diese dürfen gegen ihren Willen in Gemeinschaftshaft verlegt werden. Wer mit ihnen die Gemeinschaft teilt und damit ggf. eine gewisse Verantwortung übernimmt, muss dazu – notfalls durch Gespräche motiviert – bereit sein (ähnlich AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 5. Allgemein zur Rechtsstellung des Gefangenen § 4 Rdn. 13 ff. 3. Solange die Übergangsregelung des § 201 Nr. 3 eine gemeinschaftliche Unterbrin- 5 gung in der Ruhezeit zulässt, gehört es zu den schwierigsten und angesichts der durch unüberwachbare nächtliche Gemeinschaft sowohl dem Vollzugsziel im Einzelfall als auch Sicherheit und Ordnung der Vollzugsanstalt (§ 81 Rdn. 7) drohenden Gefahren wichtigsten vollzuglichen Entscheidungen, welche Gefangenen und in welcher Zusammensetzung nachts gemeinschaftlich untergebracht werden. Auch hier (§ 2 Rdn. 10) muss das Vollzugsziel bedacht werden. Entscheidend ist zum einen, welche Folgen die gemeinschaftliche Unterbringung in ihrer konkreten Zusammensetzung für die (Re-)Sozialisierung der betreffenden Insassen hat. Bei den nicht zu resozialisierenden Insassen ist der Gegensteuerungsgrundsatz (§ 3 Abs. 2; § 3 Rdn. 11 ff) vorrangig zu bedenken. Zudem sind weitere vollzugliche Überlegungen (Sicherheit und Ordnung) anzustellen. Für die ausnahmsweise gemeinschaftlich unterzubringenden Gefangenen sind als gewaltpräventive Vorkehrungen das Einverständnis der betroffenen Inhaftierten sowie eine gründliche Verträglichkeitsprüfung durch Vollzugsbedienstete unerlässlich. Die Verträglichkeitsprüfung wird am kompetentesten im Aufnahmeverfahren durchgeführt. Als vorläufige Maßnahme erfolgt sie im Falle der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung auch bei der Einlieferung eines Gefangenen in die Anstalt durch erfahrene Kräfte des Allgemeinen Vollzugsdienstes. Gewaltpräventive Aspekte haben bei der Entscheidungsfindung ein besonderes Gewicht. Unter Beteiligung der Fachdienste, namentlich der Psychologen und Psychiater, sind die Anamnese und die Diagnose zu erstellen. Die Dokumentation hierüber hat jederzeit aktuell zu sein und zur Verfügung zu stehen. Sie muss eindeutig erkennen lassen, mit wem und mit wem nicht der Gefangene zusammengelegt werden kann, und sei es in allgemeiner, aber nachvollziehbarer Form. Wo es irgend geht, sollte der entschiedene Wunsch eines Insassen, in der Ruhezeit allein untergebracht zu sein, berücksichtigt werden. 4. Die gemeinschaftliche Unterbringung muss auch in den Fällen, in denen sie zulässig 6 ist (Rdn. 5, 7, 8), in dafür geeigneten und zumutbaren Räumen erfolgen. Ob Einzelhafträume mit zwei Gefangenen belegt werden dürfen, hängt im Übrigen von ihrer Größe (Luftraum) ab (s. auch Rdn. 1, § 144 Rdn. 3; § 152 Rdn. 12). Eine Menschenrechtsverletzung wegen Mehrfachunterbringung von Strafgefangenen in einem Haftraum begründet nicht zwangsläufig eine Wiedergutmachung durch Geldentschädigung im Rahmen eines Amtshaftungsanspruchs gem. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG (BGH NJW 2005, 58 ff; dazu Gazeas HRRS 5/2005, 172 ff; Nitsch Die Unterbringung von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, 2006, 219 ff; Unterreitmeier NJW 2005, 475 ff; DVBl. 2005, 1235 ff). Bereits die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der gemeinschaftlichen Unterbringung im strafvollzugsrechtlichen Verfahren kann im Einzelfall eine ausreichend gerechte Entschädigung darstellen, so dass eine weiter gehende Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nicht mehr geboten erscheint (BGH NJW 2005, 59).
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§ 18
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
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5. Im offenen Vollzug (§ 141 Abs. 2) dürfen die Gefangenen gem. Abs. 2 Satz 1 mit ihrer Zustimmung gemeinschaftlich in der Ruhezeit untergebracht werden, wenn eine schädliche Beeinflussung nicht zu befürchten ist (§ 17 Rdn. 6). Die gegenüber dem geschlossenen Vollzug andere Regelung ist aus fiskalischen Gründen, und um die Ausweitung des offenen Vollzugs nicht zu verhindern, ergangen (C/MD 2008 Rdn. 6). Sie ist hier aber auch sachlich eher zu vertreten. Im offenen Vollzug ist es meist möglich, auf den Nachtverschluss zu verzichten. Daher befinden sich Wasch- und Toilettenräume in den offenen Einrichtungen häufig nicht unmittelbar im Haftraum. Die Sicherheitsgefährdung durch die Insassen ist (§ 10 Abs. 1) geringer. Bei ihrer Auswahl soll auch bedacht sein, dass sie keinen schlechten Einfluss auf andere Gefangene ausüben (VV Nr. 2 Abs. 1 Buchst. e zu § 10; § 10 Rdn. 9 ff). Die freiere Lebensgestaltung im offenen Vollzug wirkt zudem den subkulturellen Strukturen der Gefängnisgesellschaft entgegen, ebenso die meist bereits in greifbare Nähe gerückte Entlassung. Wegen der Gewährleistung einer Privatsphäre und einer Rückzugsmöglichkeit ist jedoch auch im offenen Vollzug für alle Insassen die nächtliche Einzelunterbringung anzustreben (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 6). In nicht unter die Übergangsregelung des § 201 Nr. 3 fallenden Anstalten hat der Gefangene, der einer gemeinschaftlichen Unterbringung nicht zustimmt, Anspruch auf einen Einzelhaftraum. Er darf nicht, weil er diesen Anspruch geltend macht, von der Verlegung in den offenen Vollzug ausgeschlossen oder zurückgestellt werden (KG ZfStrVo 2003, 176).
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6. § 18 Abs. 2 Satz 2 erlaubt im geschlossenen Vollzug die gemeinschaftliche Unterbringung zur Ruhezeit nur vorübergehend und aus zwingenden Gründen über die in Abs. 1 Satz 2 geregelten Fälle hinaus. Gegenwärtig ist diese Vorschrift nur für die (neuen) Anstalten von Bedeutung, für die § 201 Nr. 3 nicht gilt. Es ist an vorübergehende Notlagen (plötzlich durch notwendig gewordene Schließung einer anderen Anstalt z. B. entstandene Überbelegung, Ausfall der Heizung in einem Teil der Anstalt) gedacht. Dagegen ist die anhaltende allgemeine Überbelegung kein zwingender Grund (OLG Celle NStZ 1999, 216 mit Anm. Ullenbruch; StV 2003, 567 mit Anm. Lesting; LG Kassel ZfStrVo 2001, 119). Für die Auswahl der Insassen, die vorübergehend zur Ruhezeit gemeinschaftlich untergebracht werden müssen, gilt das zu Rdn. 5 Gesagte. Auch Notlagen rechtfertigen nicht eine mit der Menschenwürde unvereinbare Unterbringung (BVerfG ZfStrVo 2002, 176, 177). Nicht „nur vorübergehend“ führt die Überbelegung auch in Anstalten und – diesen gleichzustellenden (KG NStZ-RR 1998, 191; § 201 Rdn. 2) – Anstaltsteilen, die nach dem 1.1.1977 errichtet worden sind, zur Doppelbelegung von Einzelhafträumen und zur Mehrfachbelegung von eigentlich zur Freizeitgestaltung bestimmten Räumlichkeiten. Die Gefangenen können zwar ihre Einzelunterbringung gerichtlich durchsetzen (OLG Celle ZfstrVo 1999, 57; NStZ-RR 2003, 316). Sie nehmen die Mehrfachbelegung aber überwiegend hin, zumal die Einzelunterbringung bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit mangels Beschäftigungsmöglichkeiten und zunehmender Beschränkung gemeinschaftlicher Freizeit (vgl. § 67 Rdn. 2) für viele belastend ist. Diese „Vollzugsgestaltung“ (vgl. dazu auch § 145 Rdn. 5; § 146 Rdn. 8) verdrängt aber („normative Kraft des Faktischen“) die gesetzliche Regelung und bleibt im Hinblick auf die Erreichung des Vollzugsziels kontraproduktiv.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 20 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG ist weitgehend wortlautidentisch mit der bundesrechtlichen Regelung. Abs. 1 Satz 2 lautet: „Mit ihrer Zustimmung können Gefangene auch während der Ruhezeit gemeinsam untergebracht werden, wenn eine schädliche Beein-
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Unterbringung während der Ruhezeit
§ 18
flussung nicht zu befürchten ist“. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „[. . .] Eine gemeinsame Unterbringung ist möglich, wenn die Gefangenen dies wünschen und eine schädliche Beeinflussung nicht zu befürchten ist. Informelle Befragungen lassen den Schluss zu, dass bis zu 20 % der Gefangenen einer gemeinschaftlichen Unterbringung den Vorzug geben“ (LT-Drucks. 15/8101, 55). Abs. 2 der bayerischen Norm bestimmt: „Auch ohne ihre Zustimmung ist eine gemeinsame Unterbringung zulässig, sofern ein Gefangener oder eine Gefangene hilfsbedürftig ist oder eine Gefahr für Leben oder Gesundheit eines oder einer Gefangenen besteht oder die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „In Abs. 2 wird die bisherige Regelung bestätigt, wonach ohne Zustimmung der Gefangenen eine gemeinsame Unterbringung zulässig ist, sofern ein Gefangener oder eine Gefangene hilfsbedürftig ist oder eine Gefahr für Leben oder Gesundheit eines oder einer Gefangenen besteht. Darüber hinaus wird eine gemeinschaftliche Unterbringung für zulässig erklärt, soweit die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“ (LT-Drucks. 15/8101, 55). Art. 20 Abs. 3 BayStVollzG lautet: „Eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Gefangenen ist nicht zulässig“. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Abs. 3, wonach eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Gefangenen nicht zulässig ist, entspricht der bewährten Regelung in § 201 Nr. 3 Satz 2 StVollzG“ (LT-Drucks. 15/8101, 55). 2. Hamburg § 20 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen werden während der Ruhezeit allein in 10 ihren Hafträumen untergebracht. Sie können auch während der Ruhezeit gemeinsam untergebracht werden, wenn 1. Gefangene hilfsbedürftig sind oder eine Gefahr für Leben oder Gesundheit von Gefangenen besteht und bei einer gemeinsamen Unterbringung mit nicht hilfsbedürftigen oder gefährdeten Gefangenen diese zugestimmt haben, 2. im offenen Vollzug die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“. Inhaltliche Abweichungen von der bundesrechtlichen Regelung enthält dabei insbesondere § 20 Satz 2 Nr. 2 HmbStvollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 soll es der Zustimmung der Gefangenen darüber hinaus auch dann nicht bedürfen, wenn die räumlichen Verhältnisse der Anstalt eine gemeinsame Unterbringung während der Ruhezeit erforderlich machen, etwa weil die Anstalt überwiegend über Gemeinschaftshaftplätze verfügt und eine Einzelunterbringung deshalb nur im Ausnahmefall möglich ist. Der für die gemeinsame Unterbringung vertretbare Rahmen dürfte entsprechend § 201 Nummer 3 Satz 2 StVollzG bei bis zu acht Personen liegen. Durch diese Neuregelung wird der durch § 201 Nummer 3 Satz 1 StVollzG bewirkte Wertungswiderspruch, dass eine gemeinschaftliche Unterbringung in Anstalten, die nach dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes errichtet wurden, unter strengeren Voraussetzungen als in den vor 1977 errichteten Anstalten zulässig ist, aufgelöst“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 37 f). 3. Niedersachsen § 20 Abs. 1 NJVollzG entspricht, abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzie- 11 rung, weitgehend Abs. 1 der bundesrechtlichen Vorschrift. Entfallen ist allerdings die Alternative der Hilfsbedürftigkeit; diese findet sich in Abs. 2 der Norm. Abs. 2 von § 20 NJVollzG lautet: „Ohne Zustimmung der betroffenen Gefangenen ist eine gemeinsame Unterbringung nur zulässig, sofern eine oder einer von ihnen hilfsbedürftig ist, für eine oder einen von ihnen eine Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht oder die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“.
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§ 19
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt: „Absatz 2 übernimmt zum einen die bisherige Regelung des § 18 Abs. 1 Satz 1 StVollzG, wonach ohne Zustimmung eine gemeinschaftliche Unterbringung zulässig ist, wenn Gefangene hilfsbedürftig sind oder eine Gefahr für Leben und Gesundheit besteht. Zum anderen – und über den Anwendungsbereich des § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG hinaus – ist nach der Entwurfsvorschrift eine gemeinsame Unterbringung ungeachtet des Errichtungszeitpunktes der Anstalt zulässig, sofern deren räumliche Verhältnisse dies erfordern“ (LT-Drucks. 15/3565, 108).
§ 19 Ausstattung des Haftraumes durch den Gefangenen und sein persönlicher Besitz (1) Der Gefangene darf seinen Haftraum in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausstatten. Lichtbilder nahestehender Personen und Erinnerungsstücke von persönlichem Wert werden ihm belassen. (2) Vorkehrungen und Gegenstände, die die Übersichtlichkeit des Haftraumes behindern oder in anderer Weise Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden, können ausgeschlossen werden.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Bedeutung der Vorschrift für die Resozialisierung . . . . . . . 2. Keine abschließende Regelung II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Begrenzte Möglichkeit zur Ausstattung der Räume . . . . . . 2. Angemessener Umfang . . . . 3. Ausschluss gefährlicher Gegenstände . . . . . . . . . . . . .
.
1–2
. . .
1 2 3–7
. .
3 4
.
5
Rdn. 4. Beschränkungen zugunsten der Übersichtlichkeit . . . . . . . 5. Ausübung des Ermessens . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. . . . . .
6 7 8–10 8 9 10
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Zu den die Haftdeprivationen (dazu Laubenthal 2008 Rdn. 201 ff; Walter 1999 Rdn. 268; Weis in: Schwind/Blau 239, 245) bedingenden Faktoren des Geschehens in den Justizvollzugsanstalten zählt der Entzug materieller Güter. Zwar kann der Besitzverlust in der Strafhaft durch die Gesamtheit der Regelungen über den Besitz von Gegenständen nicht aufgefangen werden. Dennoch ist den Haftdeprivationen und der damit verbundenen Akkulturation an die devianten Verhaltensweisen der Insassensubkulturen weitmöglichst entgegenzuwirken. Dies ist zur Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 Rdn. 12 ff) und in Beachtung des Gegensteuerungsgrundsatzes gem. § 3 Abs. 2 (§ 3 Rdn. 11 f) erforderlich. Zudem entspricht die Ermöglichung der Ausstattung des Haftraums mit eigenen Sachen durch den Gefangenen den allgemeinen Lebensverhältnissen (C/MD 2008 Rdn. 2; OLG Celle ZfStrVo 1983, 181), so dass der Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1; vgl. § 3 Rdn. 3 ff) durch § 19 bestätigt wird (vgl. auch Köhne StraFo 2002, 351 f). Der Inhaftierte darf deshalb seinen Haft-
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Ausstattung des Haftraumes durch den Gefangenen und sein persönlicher Besitz
§ 19
raum als einen Rest von Privatsphäre (OLG Celle ZfStrVo 1994, 174; OLG Saarbrücken NStZ 1993, 207) zur Verwirklichung eines gewissen allgemeinen Lebenskomforts mit eigenen Gegenständen ausstatten. 2. § 19 regelt den Besitz eigener Sachen nicht abschließend. Dem Gefangenen kann 2 der Besitz eigener Kleidung gestattet werden (§ 20 Abs. 2 Satz 2). Er hat ein Recht auf den Besitz religiöser Schriften und Gegenstände (§ 53 Abs. 2 und 3), darf nach § 68 Zeitungen und Zeitschriften beziehen, ein Rundfunk- und ein Fernsehgerät nach § 69 im Haftraum nutzen, Gegenstände zur Freizeitgestaltung gem. § 70 (Rdn. 2, 8 und 9 – allgemein zur Abgrenzung: Laubenthal 2008 Rdn. 617) besitzen und im Rahmen des § 22 durch Vermittlung der Anstalt Sachen einkaufen. Nach § 33 ist es ihm gestattet, Gegenstände in Paketen zu empfangen. Prozessakten, die der Insasse zu seiner Verteidigung benötigt und die weder unter § 19 noch unter § 70 zu subsumieren sind, darf er in seinem Haftraum aufbewahren (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 370). Der Strafgefangene darf aber – von einer möglichen geringfügigen Ausnahme (§ 83 Abs. 1 Satz 2) abgesehen – nur Sachen in Gewahrsam haben, deren Besitz ihm von der Vollzugsbehörde ausdrücklich erlaubt wurde (§ 83 Abs. 1 Satz 1). Hat er einen Gegenstand durch ein unerlaubtes Geschäft von einem Mitgefangenen erworben, so kann ihm die Ausstattung seines Haftraums mit diesem untersagt werden, auch wenn die Sache angemessen im Sinne der Norm ist (Radiowecker: OLG Hamm ZfStrVo 2002, 309, 310). Einzelheiten vgl. unter den jeweiligen Vorschriften.
II. Erläuterungen 1. Der Haftraum des Gefangenen ist gem. § 18 Abs. 1 Satz 1 der Raum, der dem Gefan- 3 genen zum alleinigen Gebrauch zur Verfügung steht (OLG Celle NStZ 1983, 190). Nicht zum Haftraum gehört die Außenseite der Zellentür (KG BlStV 3/1984, 4). Die Vollzugsbehörde stellt ihn wohnlich ausgestaltet, also vollständig möbliert, zur Verfügung (§ 144 Abs. 1 Satz 1; s. § 144 Rdn. 2). Da die Hafträume nicht besonders groß sind (§ 144 Rdn. 3), ist für weitere Einrichtungsgegenstände kaum Platz. In Betracht kommen ggf. ein zusätzlicher kleiner Tisch, ein Bücherregal oder ein bequemer Stuhl. Unter Ausstattung versteht man auch das Anbringen von Vorhängen und Gardinen (nach Ansicht von OLG Hamm ZfStrVo 1985, 128; NStZ 1995, 381 B kann, dies aus Gründen der Sicherheit und Sauberkeit bei männlichen Gefangenen allgemein untersagt werden – zweifelhaft) und Wandschmuck (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 2). § 19 findet auch Anwendung, wenn zwei oder mehr Gefangenen für die Ruhezeit ein gemeinschaftlicher Haftraum zugewiesen wird (§ 18 Rdn. 2). Nicht zum Regelungsbereich des § 19 gehört der Austausch der von der Vollzugsbehörde zur wohnlichen Ausgestaltung des Haftraums zur Verfügung gestellten Gegenstände gegen eigene Sachen des Gefangenen (ebenso Arloth 2008 Rdn. 9). Von einem Teil der Rechtsprechung wird dagegen der Austausch der von der Vollzugsbehörde gestellten Bettwäsche gegen eigene nach § 19 behandelt (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 54; OLG Zweibrücken ZfStrVo 2003, 250; zu Recht zweifelnd OLG Nürnberg BlStV 4–5/2002, 3, 4), was auch deshalb fraglich erscheint, weil eigene Bettwäsche nach dem Gesetz (§§ 132, 169, 173) nur besonderen aus Rechtsgründen privilegierten Gefangenengruppen allgemein gestattet ist (Hierzu § 2 Rdn. 4). Es ist allerdings bei Vorliegen besonderer Gründe zulässig, Freiheitsstrafe verbüßenden Gefangenen die Benutzung eigener Bettwäsche zu gestatten und – angebracht vor allem bei Gefangenen mit langen Strafen – den Austausch eines beweglichen anstaltseigenen Möbelstücks gegen ein entsprechendes eigenes zu erlauben. Wo es der Bauweise entspricht, kann auch das Tapezieren der Wände erlaubt werden.
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§ 19
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Bei Durchführung des Wohngruppenvollzugs wird einer bestimmten Gefangenengruppe weiterer Haftraum (Freizeitraum, Fernsehraum, Teeküche) zur gemeinsamen Benutzung zugewiesen. Schon wegen der unterschiedlichen Interessen kann hier § 19 Abs. 1 nicht – auch nicht entsprechend – angewendet werden. Das schließt nicht aus, dass den Gefangenen erlaubt wird, die Gemeinschaftsräume mit eigenen Sachen auszustatten (OLG Celle ZfStrVo 1983, 187). Trotz auf der Hand liegender Schwierigkeiten ist es in geeigneten Fällen angebracht, im Miteigentum mehrerer, in der Wohngruppe lebender Gefangener stehende Gegenstände (Gefrierschrank: vgl. OLG Hamm JR 1994, 210 mit Anm. Böhm) zu gestatten. Derartige Entscheidungen liegen im pflichtgemäßen Ermessen des Anstaltsleiters, das sich an den Vollzugsgrundsätzen und den Erfordernissen von Sicherheit und Ordnung orientiert.
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2. Neben den Lichtbildern nahestehender (nicht nur Verwandter und Verschwägerter: C/MD 2008 Rdn. 3) Personen und Erinnerungsstücken von persönlichem Wert hat die Rechtsprechung zahlreiche Arten von Gegenständen einfachen Wohnkomforts für unbedenklich erachtet: z. B. Stoffdecke zum Abdecken des Bettes am Tag (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 85), Leselampe (OLG Celle NStZ 1981, 238; OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 53; OLG Stuttgart NStZ 1988, 574, das sogar ein Recht auf Verlegung in einen Haftraum mit Steckdose gewähren will), Gurkenschneider, Schneebesen und Haarsieb zur Herrichtung zusätzlich eingekaufter Nahrungsmittel (OLG Frankfurt 3.5.1978 – 3 Ws 143/78), verschließbarer Aktenkoffer, wenn die Vollzugsbehörde den Zweitschlüssel erhält (OLG Celle ZfStrVo 1991, 123f), elektrische Kaffeemaschine (OLG Hamm ZfStrVo 1990, 304), Bildhalter (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1995, 374), Blumentöpfe mit entsprechenden Pflanzen (KG BlStV 1/1982, 5). Der angemessene Umfang i. S. von Abs. 1 Satz 1 richtet sich nach Art, Größe und Einrichtung des Haftraums. Auch die Haftdauer spielt eine Rolle. Je länger der Gefangene in dem ihm zur Verfügung gestellten Haftraum wird leben müssen, desto mehr erscheint eine persönliche Ausstattung als angemessen (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 2). Erforderlich ist jeweils eine Einzelfallprüfung unter Beachtung der Vollzugsgrundsätze und des Umstandes, dass in der Art der Unterbringung kein zusätzliches Strafübel liegen soll (Laubenthal 2008 Rdn. 383). Ist der Haftraum mit mehreren Gefangenen belegt, so sind im Rahmen der Angemessenheit auch zu prüfen, ob der beantragte Gegenstand den anderen Insassen des Mehrpersonenhaftraums zuzumuten ist oder ihre Ansprüche auf den Besitz eigener Sachen behindert. Ist nach diesen Überlegungen die Genehmigung eines Gegenstandes möglich, so darf die Aushändigung nicht deshalb versagt werden, weil der Gefangene den Gegenstand nach Auffassung der Vollzugsbehörde nicht (dringend) benötigt (OLG Celle BlStV 3/1992, 6). Der Erwerb von Gegenständen, mit denen der Gefangene seinen Haftraum ausstatten darf, muss ihm ermöglicht werden (OLG Zweibrücken NStZ 1986, 477 – zusätzliche Tasse). Bei Zulassung mehrer elektrischer Geräte ist die Beteiligung des Gefangenen an den Stromkosten, die über den Grundbedarf hinausgehen, zulässig (OLG Celle NdsRpfl. 2004, 218). Die Genehmigung erfolgt nur für einen bestimmten Haftraum und – bei einem Einzelhaftraum – unter der (stillschweigenden) Voraussetzung, dass dieser nicht mit mehreren Insassen belegt werden muss. Wurde einem Gefangenen ein bestimmter Gegenstand bewilligt, so muss bei einer Verlegung in eine Anstalt gleicher Sicherheitsstufe und erst recht bei einer Umsetzung in einen anderen Haftraum innerhalb derselben Anstalt das Gebot des Vertrauensschutzes beachtet werden (BVerfG ZfStrVo 1995, 50; OLG Hamm NStZ 1990, 151; vgl. § 14 Rdn. 11). Verbleibt der Gefangene in seinem Haftraum und ändert sich nichts an dessen Belegung, so kann der bewilligte Gegenstand nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 dem Gefangenen wieder entzogen werden (OLG Zweibrücken NStZ 1994,
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Ausstattung des Haftraumes durch den Gefangenen und sein persönlicher Besitz
§ 19
151; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2001, 312; vgl. § 4 Rdn. 27). Diese Grundsätze gelten auch für den Entzug anstaltseigener Gegenstände zur Haftraumausstattung für die aber – die Vorschrift bezieht sich auf eigene Sachen – § 19 nicht anwendbar ist (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2001, 312). 3. Nach Abs. 2 können Gegenstände und Vorrichtungen ausgeschlossen werden, wel- 5 che die Sicherheit und Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) gefährden. Das gilt nach der Rspr. etwa für elektrische Geräte, die Brand- oder Verletzungsgefahr begründen (Tauchsieder, Höhensonne, Haartrockner: OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 186; OLG München NStZ 1981, 214 F) oder das Stromnetz überlasten könnten (LG Freiburg BlStV 4–5/1994, 2: Kühlschrank; OLG Hamm ZfStrVo 1990, 304: Kaffeemaschine; OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 53: Leselampe) oder für Gegenstände, die als Waffen oder Fluchtmittel verwendet werden können (Textilien mit Gummizügen: OLG Zweibrücken ZfStrVo 2004, 315). Es wird als zulässig erachtet, die Vogelhaltung (hier Wellensittich) nur wenigen langstrafigen Insassen zu gestatten, weil die Tiere regelmäßig tierärztlich überprüft werden müssen und die Ordnung der Anstalt gefährdet wäre, wenn unbeschränkt viele Gefangene Vögel halten dürften (OLG Stuttgart ZfStrVo 1980, 250; OLG Frankfurt NStZ 1984, 239). Selbst ein ausnahmsloses Verbot von Vogelhaltung soll zulässig sein: OLG Koblenz ZfStrVo 1983, 315; OLG Dresden 2 Ws 401/99 Beschl. 4.11.1999; großzügiger – Wellensittich einem zu lebenslanger Haft Verurteilten gestattet –: OLG Saarbrücken ZfStrVo 1994, 51; OLG Karlsruhe, ZfStrVo 2002, 373 ff; allgemein zu der in den Anstalten sehr unterschiedlichen Handhabung der Erlaubnis, Tiere zu halten: Schwind FS für Seebode, 2008, 551 ff; Vogelsang ZfStrVo 1994, 67; § 70 Rdn. 7 ff. Angemessener Umfang, Übersichtlichkeit, Gefährdung von Sicherheit und Ordnung i. S. von § 19 sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die voller gerichtlicher Nachprüfung unterliegen (OLG Celle NStZ 1983, 180; OLG Hamm NStZ 1990, 151; OLG Koblenz NStZ 1990, 360; OLG Karlsruhe, NStZ 2002, 612; OLG Zweibrücken ZfStrVo 2003, 250; Laubenthal 2008 Rdn. 387; vgl. auch § 115 Rdn. 21 ff). 4. Nach Abs. 2 können Gegenstände, die an sich angemessen wären, ausgeschlossen wer- 6 den, wenn sie die Übersichtlichkeit des Haftraums behindern, vor allem die im geschlossenen Vollzug gem. VV Nr. 1 Abs. 1 zu § 84 in kurzen Zeitabständen vorgeschriebene Durchsuchung erschweren (dazu KG NStZ-RR 2005, 281). Die Rechtsprechung trennt nicht immer scharf und behandelt dieses Tatbestandsmerkmal im Rahmen der Sicherheitsgefährdung. So hat das OLG Koblenz (ZfStrVo SH 1979, 85) eine gefütterte Tagesdecke für bedenklich gehalten, ebenso wie das LG Lüneburg (5.8.1982 – 17 StVK 386/82) den Besitz eines Lederkissens, weil diese Gegenstände Versteckmöglichkeiten bieten. Das KG (Rdn. 4) meint, dass auch Blumentöpfe bei bestimmten Gefangenengruppen – etwa ehemaligen Drogenabhängigen – ausgeschlossen werden könnten (vgl. auch § 81 Rdn. 10). Die Ausstattung des Haftraumes mit einem Teppichboden oder die Genehmigung eines eigenen Kopfkissens können wegen der dadurch geschaffenen zusätzlichen Versteckmöglichkeiten untersagt werden (KG BlStV 6/1981, 7; OLG Hamm NStZ 1995, 381 B). Dagegen behindern 20 Bücher, 5 Leitzordner und 5 Schnellhefter die Übersichtlichkeit nicht und gestatten, zumal wenn ein regelmäßiger Austausch möglich ist, in angemessenem Rahmen wissenschaftliche Arbeit des Gefangenen (OLG Koblenz NStZ 1981, 214 F). Vgl. auch § 70 Rdn. 5. Es geht bei der Übersichtlichkeit einmal um Gegenstände, die – wie Vorhänge – die Sicht auf das Fenster verstellen, dessen Vergitterung regelmäßig geprüft werden muss (wozu aber nicht ein Blick von der Tür her genügt, weswegen Vorhänge aus diesem Grunde kaum abgelehnt werden dürften, s. Rdn. 3), vor allem aber um die Gesamtmenge dessen, was der Gefangene in seinem Haftraum aufbewahrt. Deshalb sind alle zur Ausgestaltung des Haftraums von der Vollzugsbehörde bereitgestellten Einrichtungsgegenstände und alle dem Gefangenen zu-
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§ 19
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
stehenden Sachen (Rdn. 2) bei dieser Prüfung zu berücksichtigen. Es muss dem Gefangenen dann, wenn die Übersichtlichkeit des Haftraums behindert ist, nicht ein bestimmter (sonst angemessener und nicht Sicherheit oder Ordnung gefährdender Gegenstand) verwehrt werden, vielmehr darf der Gefangene diesen nur in seinem Haftraum haben, wenn er einen anderen dafür aus dem Haftraum entfernt. Deshalb ist ein in Rheinland-Pfalz entwickeltes System besonders sachdienlich: Unter Zugrundelegung des für eine gründliche Haftraumdurchsuchung erforderlichen Zeitaufwandes ist für jeden Gegenstand ein Punktwert errechnet. Jeder Gefangene darf in seinem Haftraum Sachen bis zur Erreichung einer für jeden gleich hoch festgesetzten Punktsumme (die einem Kontrollaufwand von vier Stunden entspricht) im Besitz haben (OLG Koblenz NStZ 2003, 592 M; ZfStrVo 2004, 311, 312; vgl. auch Arloth 2008 § 70 Rdn. 2). So kann er auf einer nachvollziehbaren Grundlage entscheiden, welche eigenen Gegenstände er in diesem Rahmen im Haftraum nutzen möchte. Wird ihm Gelegenheit gegeben, nach Bedarf den einen Gegenstand gegen den anderen auszutauschen, darf die Anstalt regelmäßig so verfahren (OLG Zweibrücken, ZfStrVo 2001, 308 f; Böhm 2003 Rdn. 197). Nur ausnahmsweise, etwa bei Behinderten, oder hinsichtlich zur Verteidigung benötigter Akten (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 379) wird dem Gefangenen mehr Besitz im Haftraum zugestanden.
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5. Die Vollzugsbehörde kann bei Behinderung der Übersichtlichkeit und wegen Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Gegenstände ausschließen. Im Rahmen der Ermessensausübung vermag ausnahmsweise eine Rolle zu spielen, ob der Insasse den Gegenstand auch benötigt (OLG Celle NStZ 1983, 190, 191). Es ist zulässig, Gegenstände, die schwer kontrollierbare Versteckmöglichkeiten bieten, in Anstalten allgemein auszuschließen (C/MD 2008 Rdn. 5) oder Wertgrenzen (z. B. für Uhren: OLG München BlStV 4–5/1990, 13; eine niedrigere Wertgrenze für die Ersatzbeschaffung widerspricht möglicherweise dem Gleichheitssatz: BVerfG StV 2001, 38, 39) festzusetzen. Bei der Ausübung des in jedem Einzelfall eröffneten Ermessens (vgl. hierzu OLG Celle NStZ 1981, 238; OLG Stuttgart ZfStrVo 1980, 55; OLG Koblenz NStZ 1990, 151; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 373) sollte auch bedacht werden, dass der Gefangene seine eigenen Sachen eher pflegt und schont und sich in einem teilweise selbst ausgestatteten Haftraum wohler fühlt. Das wird in vielen Fällen mehr zu Sicherheit und Ordnung beitragen als eine sterile Übersichtlichkeit. Zur Ermessensausübung durch die Behörde § 115 Rdn. 20.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 21 BayStVollzG entspricht, abgesehen von der Benennung der Gefangenen in Abs. 1 Satz 1 im Plural, dem Wortlaut der bundesrechtlichen Regelung. 2. Hamburg
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§ 22 Abs. 1 und 2 HmbStVollzG entsprechen, abgesehen von der Abfassung im Plural, § 19 Abs. 1 und 2. § 22 Abs. 3 HmbStVollzG lautet: „Die Anstaltsleitung kann besondere Regelungen zum angemessenen Umfang der Haftraumausstattung und zu Art und Umfang der Vorkehrungen und Gegenstände nach Absatz 2, insbesondere zu Wertgrenzen für Armbanduhren, Schmuckgegenstände und Elektrogeräte, treffen“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Ermächtigung soll mit Blick auf Absatz 2 eine flexible Handhabung ermöglichen, die den jeweiligen Anstaltsverhältnissen Rechnung trägt. Die Regelung entlässt die Anstalt gleichwohl nicht aus der Pflicht, den Ge-
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Kleidung
§ 20
fangenen unter Berücksichtigung des Angleichungsgrundsatzes eine angemessene persönliche Sphäre zuzugestehen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 38). 3. Niedersachsen In Abweichung von Wortlaut und Inhalt der bundesrechtlichen Regelung lautet § 21 10 NJVollzG: „Die oder der Gefangene darf ihren oder seinen Haftraum mit Erlaubnis in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausstatten. Die Erlaubnis kann versagt oder widerrufen werden, soweit Sachen die Übersichtlichkeit des Haftraumes oder in anderer Weise die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt beeinträchtigen“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Satz 1 fügt der bisherigen Regelung des § 19 Abs. 1 Satz 1 StVollzG im Hinblick auf die in Satz 2 neu eingeführte Versagungs- und Widerrufsregelung das Wort ,Erlaubnis‘ hinzu. Das Recht der Gefangenen, ihre Hafträume in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen auszustatten, bleibt hierdurch unberührt. Die in § 19 Abs. 1 Satz 2 StVollzG genannten Lichtbilder nahe stehender Personen und Erinnerungsstücke von persönlichem Wert unterfallen auch der Regelung des Satzes 1. Der besonderen Bedeutung dieser Sachen für die Gefangenen kann im Rahmen der Zulassung nach Satz 1 hinreichend Rechnung getragen werden, ohne dass dies in der Vorschrift besonders zum Ausdruck gebracht werden müsste. Die Versagung und – in Satz 2 neu eingefügt – der Widerruf der Erlaubnis knüpfen, sprachlich angepasst, an den Ausschlusstatbestand des § 19 Abs. 2 StVollzG an. Eine materielle Änderung ist hiermit nicht bezweckt“ (LT-Drucks. 15/3565, 109 f).
§ 20 Kleidung (1) Der Gefangene trägt Anstaltskleidung. Für die Freizeit erhält er eine besondere Oberbekleidung. (2) Der Anstaltsleiter gestattet dem Gefangenen, bei einer Ausführung eigene Kleider zu tragen, wenn zu erwarten ist, dass er nicht entweichen wird. Er kann dies auch sonst gestatten, sofern der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt.
I. Allgemeine Hinweise Die meisten Gefangenen empfinden die Abnahme der eigenen Kleidung und die Ein- 1 kleidung in eine einheitliche Anstaltskleidung (ebenso wie die Abnahme des sonstigen Besitzes) als Selbstwertkränkung und Deprivation (vgl. auch BVerfG NStZ 2000, 166; Köhne ZRP 2003, 60). Erschwerend fällt mancherorts noch ins Gewicht, dass der Gefangene nicht einmal für seine Haftzeit „eigene“ Gefangenenkleidung, sondern nach jedem Wäschetausch eine andere, gewaschene und gereinigte Garnitur, die zuvor ein anderer Insasse getragen hat, erhält. So gehört es zu den Reformforderungen, den Insassen das Tragen ihrer eigenen Kleidung zu gestatten (§ 124 AE-StVollzG; vgl. Baumann in: Baumann (Hrsg.), Reform des Strafvollzuges, München 1974, 101, 110; vgl. ebenso § 22 NJVollzG, dazu Rdn. 6). Das Festhalten an der Anstaltskleidung rechtfertigen Sicherheitsbedürfnisse (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1), was angesichts des Umstandes, dass der Untersuchungsgefangene seine Privatkleidung tragen darf (Nr. 52 UHaftVollzO), nicht unproblematisch erscheint (Böhm 2003 Rdn. 225; krit. hierzu Arloth 2008 Rdn. 1).
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§ 20
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II. Erläuterungen 2
1. Der Gefangene wird mit, der Jahreszeit (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1) und der von ihm verrichteten Arbeit angemessener, Arbeits-, Freizeit- und Sportbekleidung vollständig ausgestattet. Die Anstalt sorgt für den regelmäßigen Tausch und die Reinigung auf Staatskosten. Zur Anstaltskleidung gehört auch Unterwäsche, wobei dem Gefangenen ein täglicher Wäschewechsel zu ermöglichen ist (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 1). Daher genügen vier Garnituren Unterwäsche pro Woche hygienischen Anforderungen nicht (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 1; a. A. OLG Hamm ZfStrVo 1993, 374; Arloth 2008 Rdn. 2). Besondere Oberbekleidung für die Freizeit i. S. d. Abs. 1 Satz 2 bedeutet eine normaler Freizeitbekleidung entsprechende Hose, Jacke oder Pullover, Schuhe und Hemd. Es genügt nicht, eine zweite Garnitur Arbeitskleidung, wie z. B. ein Blaumann (Arloth 2008 Rdn. 2). Auch diese Auslegung der Bestimmung folgt in erster Linie aus dem Vollzugsziel, § 2 Satz 1, dem Gegensteuerungsgrundsatz, § 3 Abs. 2 und dem Angleichungsgrundsatz, § 3 Abs. 1 (OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 20, 21; LG Hamburg NStZ 1990, 255; C/MD 2008 Rdn. 1). 3 Wenn keine Entweichungsgefahr besteht, muss dem Gefangenen gem. Abs. 2 bei einer Ausführung das Tragen eigener Kleidung gestattet werden. Ermessensentscheidungen sind hier ausgeschlossen (LG Koblenz ZfStrVo SH 1978, 21; OLG Koblenz Beschl. vom 18.1.1995 – 2 Ws 880/94; C/MD 2008 Rdn. 3; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Dem Gefangenen soll die Belastung erspart werden, in der Öffentlichkeit als Strafgefangener erkannt und bloßgestellt zu werden. Dies gilt auch für eine Ausführung nach § 35 Abs. 3 Satz 1 und für die Vorführung zu einem Gericht oder einer Behörde außerhalb der Anstalt (OLG Karlsruhe NStZ 1996, 302; vgl. auch BVerfG NStZ 2000, 166). Auch wenn befürchtet werden muss, dass der Insasse Urlaub oder Ausgang dazu missbraucht, sich der weiteren Strafvollstreckung zu entziehen, muss bei einer Ausführung dieses Gefangenen – also in Begleitung eines Vollzugsbediensteten – nicht unbedingt mit einer Entweichung gerechnet werden. Vielmehr ist zu prüfen, ob eine derartige Gefahr unter diesen Umständen überhaupt besteht und sie ggf. nicht durch andere Maßnahmen als das Verbot, eigene Kleidung zu tragen, ausgeschlossen zu werden vermag (OLG Frankfurt 23.5.1978 – 3 Ws 147/78; OLG Koblenz aaO).
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3. Auch innerhalb der Vollzugsanstalt kann der Anstaltsleiter dem Gefangenen gem. Abs. 2 Satz 2 das Tragen eigener Kleidung gestatten, wenn dieser für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten, d. h. ohne Inanspruchnahme von Anstaltsmitteln, sorgt. Der Erlaubnis, eigene Wäsche zu tragen, steht deshalb nicht entgegen, dass sie von Dritten bezahlt wird (BVerfG NStZ-RR 1997, 59). Die Bedeutung des Besitzes eigener Sachen für die Erreichung des Vollzugsziels sowie für die Verhinderung von schädlichen Einflüssen des Vollzugs ist bei der Entscheidung über die Erteilung der Genehmigung, etwa im offenen Vollzug, in bestimmten Anstalten oder Abteilungen, allgemein für die Freizeitgestaltung, beim Besuch, zu berücksichtigen (s. auch AK-Kellermann/Köhne 2006, Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 1; einschränkend im Hinblick auf § 20 Abs. 1 Satz 1 OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 56). Ist die Benutzung eigener Kleidungsstücke gestattet, so schließt dies die Gewährung von Sozialhilfe für deren Beschaffung aus, da der Gefangene in jedem Fall mit Anstaltskleidung versorgt ist (VGH München NStZ-RR 1999, 380, 381). Darf der Inhaftierte eigene Kleidung im Haftraum tragen, kann ihm aufgegeben werden, zur gemeinsamen Arbeit und Freizeit Anstaltskleidung zu tragen (OLG Bremen ZfStrVo 1985, 178; Arloth 2008 Rdn. 4). Die Vollzugsanstalt sollte, wo immer es möglich ist, Gelegenheiten für die Insassen schaffen, Reinigung und Instandhaltung eigener Kleidung selbstverantwortlich zu leisten, etwa durch Anschaffung und Aufstellung von Waschmaschinen, deren Benutzung gegen geringe Gebühr oder kostenlos gestattet wird (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 4). In einer
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Kleidung
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Anstalt hohen Sicherheitsgrades kann die Überlassung privater Turnkleidung untersagt werden, wenn solche aus Anstaltsbeständen zur Verfügung gestellt wird (OLG Hamm NStZ 1992, 559). Die Gestattung nach Abs. 2 Satz 2 hängt von den dargestellten Möglichkeiten ab und liegt im Vollzugsziel und § 3 zu orientierenden Ermessen des Anstaltsleiters. Je nach den Möglichkeiten in der Anstalt sind organisatorische Bedingungen für die Gestattung (z. B. Einnähen eines Namensschildes, regelmäßige Abgabe in einem Wäschenetz zur Reinigung in der Anstaltswäscherei, Verzicht auf Ansprüche gegen die Anstalt wegen Verlust oder Beschädigung durch Fahrlässigkeit, sofern die Reinigung kostenlos erfolgt) zulässig (OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 56). 4. Begehrt der Gefangene Ausstattung mit Anstaltskleidung oder das Tragen eigener 5 Kleidung nach Abs. 2 Satz 1, so ist der Verpflichtungsantrag nach § 109 Abs. 1 Satz 2 statthaft. Weil eine über die Ausführung hinausgehende Gestattung zum Tragen eigener Kleidung eine Ermessensentscheidung des Anstaltsleiters darstellt, steht dem Inhaftierten insoweit lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, § 115 Abs. 5 (KG NStZ 2006, 583).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 22 Abs. 1 BayStVollzG entspricht bis auf die Abfassung im Plural dem Wortlaut des 6 § 20 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 1 Satz 2 der bundesrechtlichen Regelung wurde vom bayerischen Gesetzgeber indes nicht übernommen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „[. . .] die Regelung zur Freizeitoberbekleidung des § 20 Abs. 1 StVollzG wurde nicht übernommen, da in der Praxis dafür kein Bedürfnis besteht“. (LT-Drucks. 15/8101, 55 f). Abs. 2 Satz 1 und 2 der bayerischen Norm entsprechen bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung sowie die Abfassung im Plural § 20 Abs. 2 StVollzG. 2. Hamburg § 23 HmbStVollzG lautet: „(1) Die Gefangenen dürfen eigene Kleidung tragen, wenn sie 7 für Reinigung und Instandsetzung auf eigene Kosten sorgen. § 22 Absatz 2 gilt entsprechend. (2) Die Anstaltsleitung kann das Tragen von Anstaltskleidung allgemein oder im Einzelfall anordnen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist.“ Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Die Regelung trägt der bereits bestehenden Vollzugswirklichkeit in Hamburg Rechnung und ist Ausfluss der Gestaltungsprinzipien des § 4. [. . .] Gründe der Sicherheit [i. S. d. Abs. 2] können es etwa erfordern, Gefangene von anderen in der Anstalt befindlichen Personen sofort unterscheiden zu können. Gründe der Ordnung können beispielsweise vorliegen, wenn bei jungen Gefangenen die Entwicklung subkultureller Tendenzen zu befürchten ist“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 38 f). 3. Niedersachsen In Abweichung von § 20 StVollzG lautet § 22 NJVollzG: „(1) Die oder der Gefangene 8 trägt eigene Kleidung, wenn sie oder er für Reinigung und Instandsetzung auf eigene Kosten sorgt; anderenfalls trägt sie oder er Anstaltskleidung. (2) Die Vollzugsbehörde kann das Tragen von Anstaltskleidung allgemein oder im Einzelfall anordnen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist“.
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Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Die Vorschrift kehrt das bisherige RegelAusnahme-Verhältnis für die Zulassung von Anstalts- und Privatkleidung um. Während § 20 Abs. 1 StVollzG das Tragen von Anstaltskleidung als Regel ansieht, tragen Gefangene nach der für Absatz 1 vorgesehenen Regelung regelmäßig Privatkleidung, soweit sie für Reinigung und Instandsetzung auf eigene Kosten sorgen. Dies entspricht der Vollzugswirklichkeit in Niedersachsen und der dem Entwurf zu Grunde liegenden Vollzugskonzeption, wonach die Eigenverantwortung der Gefangenen zu fördern ist. Soweit in Satz 1 der regelmäßige Wechsel der Kleidung keine Erwähnung mehr findet (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 2 StVollzG), ist dies unschädlich, weil den Belangen der Hygiene und Gesundheitsfürsorge auch durch (regelmäßige) Reinigung hinreichend Rechnung getragen werden kann. Absatz 1 erfasst auch den Fall einer Ausführung oder Vorführung. Der Entwurf verzichtet daher darauf, die Regelung des § 20 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zu übernehmen. Absatz 2 bestimmt, dass das Tragen von Anstaltskleidung aus Gründen der Sicherheit und Ordnung allgemein oder im Einzelfall angeordnet werden kann. Eine allgemeine Anordnung kommt z. B. in Anstalten oder Abteilungen hohen Sicherheitsgrades in Betracht. Das Tragen von Anstaltskleidung kann im Einzelfall auch – in Abweichung von der Regel des Absatzes 1 – bei einer Ausführung angeordnet werden, sofern von den Gefangenen die Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus überwiegenden Sicherheitsgründen hingenommen werden muss (vgl. BVerfG, Beschl. vom 3. November 1999 – 2 BvR 2039/99 – NJW 2000, 1400 = juris)“ (LT-Drucks. 15/3565, 110).
§ 21 Anstaltsverpflegung Zusammensetzung und Nährwert der Anstaltsverpflegung werden ärztlich überwacht. Auf ärztliche Anordnung wird besondere Verpflegung gewährt. Dem Gefangenen ist zu ermöglichen, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen. VV 1 (1) Der Gefangene erhält Anstaltsverpflegung, soweit nicht anderes bestimmt ist. Die Verpflegung ist für alle Gefangenen gleich, wenn nicht der Anstaltsarzt aus gesundheitlichen Gründen anderes verordnet hat oder mit Rücksicht auf religiöse Speisegebote eine andere Verpflegung angebracht ist. (2) Die Anstaltsverpflegung soll eine vollwertige Ernährung der Gefangenen nach den Erkenntnissen der modernen Ernährungslehre gewährleisten. (3) Unterliegt ein Gefangener religiösen Speisegeboten, sollen auf seinen Antrag Bestandteile der Anstaltsverpflegung, die er nicht verzehren darf, gegen andere Nahrungsmittel ausgetauscht werden. 2 Während der hohen Glaubensfeste anderer als christlicher Religionsgemeinschaften, bei denen besondere Speisegebote zu beachten sind, können die betreffenden Gefangenen auf ihren Antrag und auf ihre Kosten auch von Glaubensgenossen verpflegt werden, sofern wichtige Belange des Vollzuges nicht entgegenstehen. Schrifttum: Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (Hrsg.) Evidenzbasierte Leitlinie: Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten. Bonn 2006. Köhne Eigene Ernährung im Strafvollzug, in: NStZ 2004, 607–609; Köhne Reform der Regelung der Verpflegung von
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§ 21
Anstaltsverpflegung
Strafgefangenen, in: StraFo 2007, 49–51; Schriever Essen als Strafe, in: NStZ 2005, 195-197; Urban/Mildner Der Leiter der Wirtschaftverwaltung, in: Schwind/Blau 1988, 125–132; Zettel Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung, in: Schwind/Blau 1988, 193–208.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Verpflegung des Gefangenen . 2. Bedeutung der Ernährung . . 3. Aufgaben des Anstaltsarztes . 4. Religiöse Speisevorschriften . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Qualität der Ernährung des Gefangenen und anstaltsärztliche Überwachung der Verpflegung . . . . . . . . . . . . . 2. Verordnung von Krankenkost . 3. Abweichungen von der Normal-
. . . . . .
. .
1–8 1–4 5 6–7 8 9–15
9–11 12
Rdn. kost aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen . . . 4. Küchenhygiene . . . . . . . III. Beispiele . . . . . . . . . . . . 1. Klage über die Anstaltsverpflegung . . . . . . . . . . 2. Der Gefangene begehrt Kostaustausch . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . 13–14 . . 15 . . 16–21 . . 16–20 . . . . .
. 21 . 22–24 . 22 . 23 . 24
I. Allgemeine Hinweise 1. Das Essen ist nicht nur im Gefängnis, sondern in allen abgeschlossenen Einheiten 1 mit Gemeinschaftsverpflegung von besonderer Wichtigkeit. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, den Gefangenen voll zu verpflegen (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1). Der Gesetzgeber geht dabei davon aus, dass im Normalfall die ausschließliche Verantwortung für die Verpflegung der Gefangenen bei der Vollzugsanstalt liegt. Die ausgegebene Anstaltsverpflegung ist so lange Eigentum der Justizbehörde, bis der Gefangene sie bestimmungsgemäß verbraucht. Er hat keinen Anspruch auf Vergabe der Verpflegung zur Versendung an anstaltsfremde Personen, z. B. seine Familie (KG NStZ 1989, 550). Die Verpflegung der Gefangenen darf auf keinen Fall ein zusätzliches Strafübel darstel- 2 len, insofern ist eine Angleichung an die Verhältnisse in der Freiheit vorgesehen (vgl. RE, BT-Drucks. 7/918, 55). Den Gefangenen generell Selbstverpflegung zu gestatten, da diese mit ihrem Hausgeld oder Taschengeld auch Lebens- und Genussmittel erwerben sowie Pakete mit Nahrungsmitteln und Genussmitteln von außerhalb empfangen können (vgl. aber zur Regelung in Bayern und Niedersachsen bei § 33) und es letztendlich im Einzelfall gestattet werden kann (so Köhne NStZ 2004, 607 ff), bleibt ausgeschlossen. Das System der Anstaltsverpflegung ist hinreichend leistungsfähig und zu einer angemessenen Versorgung der Gefangenen geeignet. Insbesondere unter den Aspekten Sicherheit und Ordnung, aber auch bezogen auf eine mögliche wirtschaftliche Mehrbelastung erscheint eine Selbstverpflegung nicht praktikabel (Schriever NStZ 2005, 195 ff). Untersuchungsgefangene, die ein Recht auf Selbstverpflegung haben (Nr. 50 Abs. 2 UVollzO), nehmen dies wegen der entstehenden Kosten selten in Anspruch. Die Menge und Zusammensetzung muss sich nach einem durchschnittlichen Bedarf 3 richten. Die gesetzlichen Vorschriften enthalten sich qualitativer Aussagen und weichen damit von § 23 Abs. 1 Satz 2 des ursprünglichen Kommissionsentwurfs ab. Da die Vollzugsbehörde jedoch eine vollwertige Ernährung gewährleisten muss, bleibt das Prinzip gewahrt (C/MD 2008 Rdn. 2). Die Anstalten sind gehalten, auf Qualitätskontrollen seitens der Lieferfirmen zu achten. Gängig ist die EU-Richtlinie HACCP (hazard analysis and critical control points). Aus den Verpflegungsordnungen der einzelnen Bundesländer ergibt sich, welche Lebensmittel nach Art und Menge zur Herstellung der Speisen verwendet werden können. Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
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Gerichtliche Entscheidungen über Menge und Qualität der Speisen werden selten herbeigeführt. Zettel (1988, 199) gibt allerdings zu bedenken, dass die Gefangenen in der ärztlichen Sprechstunde häufig über die Eintönigkeit der Kost klagen und auch Wünsche nach Kostveränderungen oder Kostvermehrung vorbringen, was ca. 10 % der Sprechstundenzeit ausfüllt. Die Meinung aus den 1980er Jahren, dass Anstaltskost minderwertig sei, ist heute nicht mehr zutreffend. Im Gefängnis gesundheitlich belastend ist eher der von vielen Gefangenen betriebene Nikotin- und Kaffeekonsum. Der Gefangene hat keinen Anspruch auf ein Zertifikat über die Unbedenklichkeit eines Nahrungsmittels. Das allgemeine Lebensrisiko (bspw. durch die BSE-Gefahr) hat er hinzunehmen (OLG Hamm NStZ 1995, 616).
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2. Ernährung ist für den Menschen wie für alle lebenden Organismen nötig. Die Stoffwechselvorgänge des Organismus sind nur möglich nach Zufuhr ausreichender Betriebsstoffe, die von den drei Hauptnahrungsgrundstoffen Eiweiß, Fett und Kohlehydraten geliefert werden. Nicht allein die Kalorienzahl entscheidet über die Hochwertigkeit einer Ernährung. Vitamine, Ballaststoffe, Mineralsalze und ausreichend Flüssigkeit sind unverzichtbar. Gefangene haben ebenso wie alle anderen Bürger (vgl. §§ 37–41 IfSG, §§ 1, 2 TrinkwV sowie die Richtlinie 98/83/EG des Rates vom 3. November 1998 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch) einen Anspruch auf sauberes Trinkwasser (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1994, 52).
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3. Dem Arzt fallen im Hinblick auf die Anstaltsverpflegung mehrere wichtige Aufgaben zu: Hinsichtlich der Zusammensetzung und des Nährwertes der Kost übt er eine Überwachungsfunktion aus. Aus gesundheitlichen Gründen kann er eine Diät verordnen. Im Hinblick auf die allgemeine Hygiene achtet er auf alle Umstände, die bei der Zubereitung der Verpflegung und der damit befassten Personen wichtig sind. VV Nr. 1 zu § 56 weist darauf hin, dass für die Anstalten die allgemeinen Vorschriften der gesundheitsbehördlichen Überwachung gelten. Hier greift seit 2001 das IfSG. Neben der Meldepflicht für die Anstaltsleitung bei bestimmten Erkrankungen gem. § 8 Abs. 1 IfSG regelt es zudem, dass die Justizvollzugsanstalten in Hygieneplänen innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Infektionshygiene festzulegen haben, § 36 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Der Anstaltsarzt ist zwar auf Grund justizvollzuglicher Regelungen weiter für die Hygiene zuständig, die Justizvollzugsanstalten unterliegen aber der infektionshygienischen Überwachung durch das zuständige Gesundheitsamt, § 36 Abs. 1 Satz 2 IfSG. 7 In den Justizvollzugsanstalten entstehen bei der Zubereitung der einzelnen Krankenkostformen mitunter Schwierigkeiten. Sollte es der JVA-Küche unmöglich sein, bestimmte Kostformen zuzubereiten, ist der Rückgriff auf externe Küchen denkbar.
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4. § 21 Satz 3 StVollzG erlaubt es dem Gefangenen, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen. Damit wird ihm ein Recht auf Selbstverpflegung zugebilligt, wenn religiöse Gründe dies nahelegen. Die Anstalt muss auch grundsätzlich bemüht sein, den Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme, wenn er religiösen Vorschriften unterliegt, zu beachten (OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 111). Die Anerkennung einer Religionszugehörigkeit (z. B. Islam) darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass sich ein Strafgefangener an einen bestimmten Religionsbeauftragten wendet und dieser eine entsprechende Bescheinigung ausstellt (OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 241). Außerhalb religiöser Gesichtspunkte ist die Gewährung von Selbstverpflegung eine Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde.
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Anstaltsverpflegung
§ 21
II. Erläuterungen 1. Bei der Überwachung des Nährwertes und der Zusammensetzung der Verpflegung 9 hat der Anstaltsarzt davon auszugehen, dass die Erkenntnisse der modernen Ernährungslehre von der Justizvollzugsanstalt und deren Wirtschaftsverwaltung beachtet werden (VV Nr. 1 Abs. 2; vgl. auch Urban/Mildner 1988, 128). Danach ist die Vollzugsbehörde gehalten, für eine abwechslungsreiche und vollwertige, Ernährung zu sorgen. Der Brennwertgehalt der normalen Gefangenenkost schwankt in der Regel zwischen 2.900 und 3.200 Kilokalorien (11.600–12.800 Kilojoule), dies entspricht etwa den Anforderungen an eine normale Ernährung bei Leistung mittelschwerer Arbeit. Führt der Gefangene Schweroder Schwerstarbeit aus, so entsteht ein Mehrbedarf an Nahrung, dem von der Behörde entsprochen wird, sofern medizinische Bedenken nicht entgegenstehen. Die Regelung des Nahrungsmehrbedarfes wird durch Kostzulagen erreicht, sie ermöglichen eine stufenweise Erhöhung der Grundnahrungsmenge und erfassen den Bereich von 3.100 bis 4.700 Kilokalorien. Im Übrigen ist für die Nährwertberechnung die Nährwerttabelle der Deutschen Gesell- 10 schaft für Ernährung (vgl. Urban/Mildner 1988, 128) heranzuziehen, die von den Bruttowerten der Lebensmittel ausgeht. Davon sind die durch Lagerung, Zubereitung, Verteilung der Speisen und die durch nicht resorbierbare Nahrungsbestandteile entstehenden Verluste abzusetzen; ein Verlustabzug von 20 % ist angebracht. Der Anstaltsarzt hat sich durch die Vornahme von Kostproben und Kontrollen des Speiseplans zu überzeugen, dass die Justizvollzugsanstalt den an sie gestellten Anforderungen nachkommt. Soweit die Justizvollzugsanstalten Wohngruppenvollzug eingerichtet haben, sind die 11 Gefangenen in der Lage, sich in den dort vorhandenen Küchen zusätzlich zur Anstaltsverpflegung selbst Mahlzeiten mit Lebensmitteln zuzubereiten. 2. Aus gesundheitlichen Gründen kann der Arzt von der normalen Kost abweichen 12 (VV Nr. 1 Abs. 1). Hierbei kann er zumeist auf länderunterschiedliche, genormte Krankenkostformen zurückgreifen. Weitere Möglichkeiten, von der regulären Kost abzuweichen, finden sich in den besonderen Krankeneinrichtungen des Vollzuges. Die Möglichkeit, einzelne, für den Gefangenen nicht oder schwer bekömmliche Nahrungsmittel gegen leichter bekömmliche auszutauschen, sollte vom Vollzug und nicht vom Arzt geregelt werden. Der Arzt kann einem zusätzlichen Nahrungsbedarf in besonderer Weise entsprechen (z. B. Zulagen bei Untergewicht oder chronisch konsumierenden Erkrankungen). In Einzelfällen ist auch die Verordnung von Sonderkost möglich, deren Bestandteile genau spezifiziert werden müssen. Besonderen Zubereitungsformen wird in Sonderfällen Rechnung getragen, z. B. passierte Kost oder Breikost bei Zahnbehandlungen, flüssige Kost bei Kieferverletzungen; sie sind jedoch vorübergehender Natur und werden nach Behebung der gesundheitlichen Störungen abgesetzt. Die Diabetes-Diät – als häufigste Sonderkostform – ist oft Gegenstand von Konflikten. Dies ist nicht nötig, da bei der Zubereitung nur wenige Regeln zu beachten sind. Im Alltag, auch im Strafvollzug, muss der zumeist geschulte Diabetiker selbstständig beurteilen, wieviel er essen darf. Die Mengen können von Tag zu Tag schwanken. Das richtet sich z. B. nach körperlichem Befinden, körperlicher Aktivität, jeweiliger medikamentöser Therapie. Es hat sich gezeigt, dass ein Großteil der insulinpflichtigen Diabetiker schulungsfähig ist und auch unter Haftbedingungen Verantwortung für die eigene Gesundheit erfolgreich übernehmen kann (Riekenbrauck/Render, Diabetes-Journal 10/1991, 16). 3. Die Einhaltung religiöser Speisegebote oder eine aus sonstigen weltanschaulichen 13 Gründen von der normalen Ernährung abweichende Kost stellen kein ärztliches Problem
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dar und fallen somit auch nicht unter die Verordnungspraxis des im Vollzug tätigen Arztes. Die Justizvollzugsanstalt ist nach § 21 Satz 3 nicht verpflichtet, dem Gefangenen die den Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft entsprechenden Speisen zu verschaffen. Sie muss ihm aber gestatten, sich derartige Speisen selbst zu besorgen (OLG Hamm NStZ 1984, 190; OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 111; LG Straubing ZfStrVo 1979, 124). Die Möglichkeit der Selbstverpflegung ist abzulehnen, wenn das religiöse Speisegebot durch die Anstaltsverpflegung und die Möglichkeit des Einkaufes von entsprechenden Nahrungsmitteln abgedeckt wird. Eine regelmäßige Anlieferung dieser Nahrungs- und Genussmittel kann unter Umständen für die Justizvollzugsanstalt auch ein Sicherheitsrisiko beinhalten, das die Anstalt berücksichtigen darf. In der Praxis wird es sich bei den Erfordernissen religiöser Speisegebote meist um islamische, buddhistische oder jüdische Religionsgemeinschaften handeln. Koschere Speisen können schon aus technischen Gründen durch die Anstaltsküche kaum hergestellt werden. Hier muss dem Gefangenen daher eine Selbstverpflegung gestattet werden. In den Justizvollzugsanstalten ist der Prozentsatz von Gefangenen aus dem islamischen Religionsbereich in den letzten Jahren angestiegen. Aus diesem Grund wird heute in den meisten Justizvollzugsanstalten ein Speisenangebot erstellt, das den diesbezüglichen religiösen Geboten des Islam entspricht. Buddhistische Kost ist schwerer herstellbar und überdies durch landschaftliche Unterschiede geprägt, meist ergeben sich Kompromisslösungen (vgl. dazu auch Rdn. 8). 14 In den meisten Justizvollzugsanstalten wird auch vegetarische Kost auf Antrag der Gefangenen ausgegeben. Sie stellt im wesentlichen eine sogenannte ovolacto-vegetabile Kostform dar und nähert sich der Vollwertkost. Einer ärztlichen Verordnung bedarf es dazu nicht.
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4. Neben der Überwachung der Gefangenenkost obliegt dem Anstaltsarzt auch die Überwachung der hygienischen Erfordernisse im Küchenbereich. Die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes für das Lebensmittelgewerbe und die Einrichtungen für Gemeinschaftsverpflegung sind anzuwenden, § 36 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Der Anstaltsarzt und das zuständige Gesundheitsamt können von der Möglichkeit Gebrauch machen, den Anstaltsarzt mit dem Ausstellen der erforderlichen Bescheinigungen zur Tätigkeit im Lebenmittelbereich zu beauftragen, § 43 Abs. 1 IfSG. Im Gegensatz zu früher sind entsprechende Untersuchungen (z. B. Röntgen Thorax oder Blutuntersuchungen) nach dem aktuellen IfSG primär nicht mehr erforderlich. Es genügt eine Belehrung mit anschließender schriftlicher Bestätigung durch den Belehrten, dass ihm keine Tatsachen für ein Tätigkeitsverbot für ihn bekannt ist, um die erforderliche Bescheinigung auszustellen, § 43 Abs. 1 Nr. 1 und 2 IfSG. Inwieweit in den einzelnen Anstalten dennoch der Einsatz im Lebensmittelbereich von Untersuchungen im Vorfeld (Hepatitis A, B, C, HIV, TBC) abhängig gemacht wird, entscheidet jeweils die Anstaltsleitung. Der Leiter der Küche achtet darauf, dass der dort eingesetzte Personenkreis über ein gültiges Gesundheitszeugnis verfügt (vgl. zur Überwachung der Einhaltung der Vorschriften der Küchenhygiene auch § 56 Rdn. 19).
III. Beispiele 16
1. Ein Gefangener beklagt sich beim Anstaltsarzt über die Anstaltsverpflegung. Sie schmecke nicht, sei eintönig, und überdies werde er nicht satt. Er erhalte auch zu wenig Vitamine.
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a) Der Anstaltsarzt, der dem nachzugehen hat, muss die geschmackliche Qualität der Anstaltskost anhand von Kostproben überprüfen (§ 21 Satz 1). Dies sollte möglichst häufig geschehen. Zubereitungsfehler, wie z. B. Überwürzungen, Mängel durch zu kurzes oder zu
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langes Kochen, sowie schlechte Qualität oder Überalterung der verwendeten Zutaten werden dann rasch erkennbar und lassen sich abstellen. Dies trifft auch für die Mengenkontrolle zu. b) Der Vorwurf der Eintönigkeit lässt sich mit Hilfe eines ausreichend abwechslungs- 18 reichen Speiseplanes, den der Anstaltsarzt auch regelmäßig zu kontrollieren hat, zum Teil entkräften. Jedoch entbehrt jede Gemeinschafts- und Kantinenkost üblicherweise der individuellen Zubereitung. Für den Inhaftierten bedeuten Essen und Verpflegung eine der wenigen Genussmöglichkeiten, die er sich verschaffen kann; die subjektiv empfundenen Mängel der Kost werden daher in der Regel überbewertet. c) Trägt der Gefangene vor, nicht satt zu werden, muss der Anstaltsarzt neben der Kost- 19 kontrolle prüfen, welche Ursachen ggf. für das Vorbringen in Frage kommen können. Der Arzt hat nur wenig Möglichkeiten, einem gesunden Gefangenen, der die normale Anstaltsverpflegung mit ihren festgelegten Brennwerten erhält, Kostzulagen zu verordnen, die den Inhaftierten dann wirklich zufriedenstellen. Eine Vermehrung der Mittagskost, die in der Praxis zumeist ein Mehr an Gemüse oder Kartoffeln bedeutet, bringt für den Gefangenen, der in der Regel mehr Fleisch erwartet, meist nur Enttäuschung. Krankenkostformen setzen bestimmte gesundheitliche Störungen voraus, sind daher leichter und schneller verdaulich, werden also dem Anspruch auf eine bessere Sättigung nicht gerecht und eignen sich daher auch nicht als Ausweichmöglichkeit. d) Klagen über Vitaminarmut der Speisen kann der Anstaltsarzt dadurch begegnen, 20 dass er z. B. bei der Erstellung des Speiseplanes anregt, Gemüse in Form frischer Salate zu verabreichen. Die Menge an Obst ist meist festgelegt. Die Menge ist gemessen an den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (2006, 4 ff) mehr als ausreichend, befriedigt den Gefangenen aber häufig nicht. Die angestrebte mittlere Qualität des Obstes hat gelegentlich Mängel. Für verdorbenes Obst kann der Gefangene Ersatz verlangen. Die Anordnung einer besonderen vitaminreichen Kost hat lediglich eine psychologische Funktion, da sie den Gefangenen den Eindruck vermittelt, jenseits der pharmakologischen Medizin etwas für ihre Gesundheit tun zu können. In diesem Zusammenhang sind auch Erlasse bezüglich der Obstzulage für HIV-Infizierte zu sehen. Die Verordnung von Obst ist natürlich in keiner Weise geeignet, den Verlauf einer HIV-Infektion zu beeinflussen. 2. Ein Gefangener begehrt vom Anstaltsarzt eine „Austauschkost“. Er trägt vor, er 21 könne weder Fleisch noch Wurst essen und verliere dadurch an Gewicht. Der Arzt wird hier zunächst prüfen müssen, ob eine bei dem Gefangenen vorliegende krankhafte Störung eine Koständerung notwendig macht. Ist dies nicht der Fall, liegt dem Ansinnen häufig eine falsche Erziehungshaltung zugrunde, die bis in die Kindheit des Inhaftierten zurückreichen kann. Dies trifft auch bei dem oft geäußerten Wunsch auf Fischaustausch zu. Austausch zu gewähren, wenn medizinische Gründe nicht erkennbar vorliegen, ist oft nur eine vorübergehende Maßnahme, da andere Fett- und Eiweißträger nicht in genügender Auswahl zur Verfügung stehen und der Gefangene des vorhandenen Angebotes von Quark, Eiern oder Käse schnell überdrüssig wird. Bei notorisch gesundheitsgefährdender Einseitigkeit der Speisenauswahl sind klärende Gespräche notwendig, die jedoch meist wenig erfolgreich sind.
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IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 23 BayStVollzG ist, bis auf die Formulierung des Satz 3 im Plural, wortlautgleich mit § 21 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 24 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen erhalten Anstaltsverpflegung. Zusammensetzung und Nährwert der Anstaltsverpflegung werden ärztlich überwacht. Religiöse Speisegebote werden beachtet“. § 24 Satz 2 HmbStVollzG entspricht dabei § 21 Satz 1 StVollzG. Zu den Abweichungen im Übrigen heißt es in der Gesetzesbegründung: „Mit der Streichung der Regelung, auf ärztliche Anordnung besondere Verpflegung zu gewähren, ist diese Möglichkeit nicht entfallen. Die Notwendigkeit, besondere Verpflegung zu gewähren, wenn dies aus ärztlicher Sicht im Einzelfall zur Krankenbehandlung oder aus anderen Gründen der Gesundheitsfürsorge erforderlich ist, ergibt sich aus der Natur der Sache und bedarf keiner gesonderten gesetzlichen Regelung“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/ 6490, 39). 3. Niedersachsen
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§ 23 NJVollzG Satz 1 lautet: „Gefangene sind gesund zu ernähren“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu „Der Entwurf entspricht weitgehend den Regelungen des § 21 StVollzG, wobei § 21 Satz 1 StVollzG durch einen neuen Satz 1 ersetzt wird, um deutlich zu machen, dass das Gebot, die Gefangenen gesund zu ernähren, nicht nur eine ärztliche Aufgabe ist. Mit der Streichung ist die ärztliche Überwachungspflicht nicht entfallen. Sie soll zukünftig in einer Verwaltungsvorschrift geregelt werden“ (LT-Drucks. 15/3565, 110 f). § 23 NJVollzG Satz 2 und 3 sind bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 21 StVollzG Satz 2 und 3.
§ 22 Einkauf (1) Der Gefangene kann sich von seinem Hausgeld (§ 47) oder von seinem Taschengeld (§ 46) aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen. Die Anstalt soll für ein Angebot sorgen, das auf Wünsche und Bedürfnisse der Gefangenen Rücksicht nimmt. (2) Gegenstände, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden, können vom Einkauf ausgeschlossen werden. Auf ärztliche Anordnung kann dem Gefangenen der Einkauf einzelner Nahrungs- und Genussmittel ganz oder teilweise untersagt werden, wenn zu befürchten ist, dass sie seine Gesundheit ernsthaft gefährden. In Krankenhäusern und Krankenabteilungen kann der Einkauf einzelner Nahrungs- und Genussmittel auf ärztliche Anordnung allgemein untersagt oder eingeschränkt werden. (3) Verfügt der Gefangene ohne eigenes Verschulden nicht über Haus- oder Taschengeld, wird ihm gestattet, in angemessenem Umfang vom Eigengeld einzukaufen.
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§ 22
Einkauf
VV 1 (1) Die Bemessung des Betrages für den Einkauf nach § 22 Abs. 3 richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Dabei sind insbesondere die Höhe des dem Gefangenen bisher zur Verfügung stehenden Hausgeldes, die Höhe des noch anzusparenden Überbrückungsgeldes, besondere persönliche Bedürfnisse (z. B. wegen Krankheit oder Behinderung) und der Wert der beim Zugang belassenen oder ihm von Dritten zugewendeten Nahrungs- und Genussmittel zu berücksichtigen. (2) Können hinreichende Feststellungen nach Absatz 1 nicht getroffen werden, so wird dem Gefangenen gestattet, im Monat einen Betrag bis zum vierfachen, nach sechs Monaten bis zum sechsfachen Tagessatz der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG) aus seinem Eigengeld zu verwenden. (3) Der Einkauf alkoholhaltiger Getränke ist nicht gestattet. Ausnahmen können von der Aufsichtsbehörde für einzelne Anstalten und Abteilungen sowie für bestimmte Gruppen von Gefangenen zugelassen werden. 2 (1) Für den Einkauf sonstiger Gegenstände, deren Besitz in der Anstalt gestattet ist, kann der Gefangene sein Hausgeld, sein Taschengeld und sein Eigengeld verwenden. Der Einkauf aus seinem Eigengeld kann der Höhe nach beschränkt werden. (2) § 83 Abs. 2 Satz 3 StVollzG bleibt unberührt.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Einkauf als Unterfall der allgemeinen Lebenshaltung im Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einkauf weitgehend abhängig vom Arbeitsverhalten des Gefangenen . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Anspruch auf Einkauf von Nahrungs- und Genussmitteln . . .
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2 3–7
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Rdn. 2. Ermöglichung des Einkaufs frischer Lebensmittel . . . . . . 3. Ausschluss bestimmter Genussmittel . . . . . . . . . . . . . . 4. Einkauf vom Eigengeld . . . . 5. Einkauf anderer Gegenstände . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Der Einkauf ist ein für die Stimmung unter den Gefangenen in der Anstalt beson- 1 ders wichtiger Unterfall der allgemeinen Lebenshaltung im Vollzug. Diese ist (Einrichtung des Haftraums, Besitz eigener Sachen, Tragen von Anstaltskleidung, Paketempfang) so geregelt, dass ein möglichst ähnlicher, gleichförmiger Lebensstandard besteht und die unterschiedliche Vermögenssituation des Gefangenen und seiner Angehörigen auf die Vollzugsanstalt nicht durchschlägt (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 26; „soziale Gleichbehandlung bei der anstaltsbedingten Konsumbeschränkung“: K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 96). Diese Regelung ist auch deshalb nötig, weil die mit der Freiheitsstrafe verbundenen Belastungen die Insassen gleichmäßig treffen müssen (Arloth 2008 Rdn. 1; Böhm 2003 Rdn. 223; C/MD 2008 Rdn. 1). 2. Beim Einkauf erlaubt nach den Vorgaben des StVollzG das Arbeitsverhalten des In- 2 sassen eine Differenzierung: Je fleißiger und qualifizierter der Gefangene in der Anstalt arbeitet, desto günstiger steht er beim Einkauf. Die Beschränkung des Einkaufs möglichst Klaus Laubenthal
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auf selbstverdiente Geldmittel soll der Resozialisierung dienen (KG ZfStrVo 1983, 59). Diese Regelung bleibt jedoch nur gerecht, wenn für alle Gefangenen vergütete Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung zur Verfügung stehen, was gegenwärtig nicht der Fall ist. Der Insasse, der schuldlos ohne Arbeit geblieben ist, sowie der wegen Alters oder Krankheit Arbeitsunfähige, sollen etwa so viel von ihren eigenen Mitteln für den Einkauf verwenden dürfen, wie der knapp durchschnittlich arbeitende Insasse an Hausgeld zur Verfügung hat. Verfügen sie über keine eigenen Mittel, so erhalten sie ein Taschengeld. Der schuldhaft nicht arbeitende Gefangene ist vom Einkauf ausgeschlossen, wenn man von dem ersatzweise gestatteten Einkauf beim Ausbleiben der dreimal im Jahr nach § 33 Abs. 1 gewährleisteten Pakete absieht: VV Nr. 6 Abs. 1 zu § 33 (s. im Einzelnen hierzu die Kommentierung bei §§ 33, 46, 47 und 52).
II. Erläuterungen 3
1. Der Gefangene hat einen Anspruch auf Einkauf von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Mitteln zur Körperpflege von seinem Hausgeld (§ 47 Rdn. 4) bzw. seinem Taschengeld. Eine Beschränkung dieses Rechts ist nur als Disziplinarmaßnahme zulässig (§ 103 Abs. 1 Ziff. 2). Der Einkauf wird durch die Anstalt vermittelt. Der Gefangene hat also keinen Anspruch darauf, unter Umgehung dieser Vermittlung einzukaufen. Er kann auf die von der Anstalt hierzu vorgesehenen Möglichkeiten, deren Wahl und Organisation im Ermessen des Anstaltsleiters liegen (OLG Koblenz NStZ 1991, 151; LG Hamburg ZfStrVo 1992, 258), verwiesen werden. Die Anstalt muss aber den Einkauf an Nahrungs- und Genussmitteln sowie Mitteln der Körperpflege möglich machen. Das geschieht vielfach durch Einrichtung einer Verkaufsstelle in der Anstalt – etwa eines Kiosks, bei dem zu bestimmten Zeiten eingekauft werden darf, wobei etwa die verfügbaren Geldmittel des Gefangenen abgefragt werden und nach getätigtem Einkauf die Abbuchung erfolgt. Ein derartiger regelmäßig in der Anstalt durch einen Vertragskaufmann stattfindender Einkauf wird als Sichteinkauf (C/MD 2008 Rdn. 2) bezeichnet. Oder es findet wie beim Versandhandel auf schriftliche Bestellung (Böhm 2003 Rdn. 221) der Einkauf statt. Auf diese Weise besteht eine Kontrollmöglichkeit der Vollzugsbehörde. Sie kann verhindern, dass verdorbene Genussmittel geliefert werden, vor allem aber kann auch ausgeschlossen werden, dass mit den eingekauften Gegenständen Nachrichten oder unerlaubte Dinge in die Anstalt eingeschmuggelt werden. Die Anordnung einer Verfügungsbeschränkung über die Gefangenenkonten während der Abwicklung des Einkaufs, um Doppelausgaben vorhandener Guthaben zu vermeiden, ist zulässig (OLG Koblenz NStZ 1991, 151, 152; Laubenthal 2008 Rdn. 468). Die Vermittlung macht es auf der anderen Seite allerdings schwierig, den Insassen die preisgünstigsten Einkaufsmöglichkeiten zu gewährleisten (Calliess 1992, 116; Urban/Mildner in: Schwind/Blau 125, 129). Es bleibt unzulässig, dass die Vollzugsbehörde dem Vertragskaufmann für die von ihm in der Anstalt benutzten Räume einen Mietpreis in Rechnung stellt, den dieser dann auf seine Preise umlegt (Calliess aaO), weil sich die Anstalt so die von ihr dem Gefangenen kostenlos geschuldete Vermittlung von den Insassen bezahlen lässt. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, durch Preisvergleiche zu überprüfen, ob der Vertragskaufmann seine Ware zu marktgerechten Preisen anbietet (LG Hamburg ZfStrVo 1992, 258).
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2. Da nicht nur länger haltbare Waren eingekauft werden, sondern ein besonderer Bedarf an frischem Obst, Kuchen, Wurst und Milch besteht, genügt die Gewährleistung eines monatlichen Einkaufs nicht. Bei der Prüfung, wie oft Einkauf zu ermöglichen ist, muss die Anstalt die Wünsche der Insassen gegen die organisatorischen Schwierigkeiten abwägen. Dabei kommt – wie im Gesetz ausdrücklich angeführt – den Wünschen und Bedürfnissen
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der Gefangenen (Abs. 1 Satz 2) besondere Bedeutung zu. Das gilt auch für die inhaltliche Ausgestaltung des vermittelten Angebots. Zum Ruhen des Rechts auf Einkauf Rdn. 6 zu § 104. 3. Es dürfen Gegenstände vom Angebot ausgeschlossen werden – auch von Gefange- 5 nen gewünschte oder benötigte –, soweit sie die Sicherheit und Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) gefährden. Das gilt etwa für Rasiermesser, für bestimmte Spraydosen mit Körperpflegemitteln, große Feuerzeuge, scharfe Gewürze (Pfeffer) in Pulverform, die als Waffe verwendet werden können (OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 323; KG BlStV 4–5/1993, 5) und – wegen Brandgefahr – eine Kerze (OLG Hamm BlStV 1/1995, 5, 6 – zweifelhaft). Mohnhaltiges Gebäck vermag ausgeschlossen zu werden, weil sein Genuss die Urinkontrollen zur Feststellung des Drogenmissbrauchs erschwert (OLG Karlsruhe, Die Justiz 2003, 131). Alkoholhaltige Getränke sind nach VV Nr. 1 Abs. 3 grundsätzlich vom Einkauf ausgeschlossen (hierzu krit. AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 6; Köhne ZRP 2002, 168). Ausnahmen können von der Aufsichtsbehörde zugelassen werden (etwa für Freigängerabteilungen). Dass man sich auch mit „normalen“ Nahrungsmitteln schaden kann (Verwendung von überstarkem Pulverkaffee als Aufputschmittel, getrockneten Bananenschalen als Rauschmittel, Haarwasser und Rosinen als Alkoholersatz), darf nicht zum allgemeinen Ausschluss dieser Gegenstände vom Einkauf führen (a. A.: Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Mengenbeschränkungen (hinsichtlich Zucker wegen Verwendungsmöglichkeiten zur Alkoholherstellung) sind zulässig (OLG Zweibrücken NStZ 1985, 479), allerdings oft nicht zweck- und damit nicht verhältnismäßig (Böhm NStZ 1986, 95). Ein völliger Ausschluss von solchen Gegenständen ist nur auf ärztliche Anordnung und für besonders gefährdete Gefangene – oder Gefangenengruppen, etwa auf einer besonderen Drogenstation (nur dann wäre die Anordnung ja auch kontrollierbar) – gem. Abs. 2 Satz 2 zulässig. Weiter gehende Einschränkungen können ganz allgemein für Vollzugskrankenhäuser und Krankenabteilungen auf ärztliche Anordnung ergehen (Abs. 2 Satz 3), ohne dass dabei die Gefährdung jedes einzelnen im Krankenhaus befindlichen Gefangenen erforderlich wäre. Hierbei ist vor allem an das Verbot oder an die Einschränkung des Einkaufs von Tabakwaren zu denken (Gefährdung der an den Atemwegen erkrankten Insassen auch durch Passivrauchen). 4. Nur wenn der Gefangene ohne Verschulden nicht über Haus- oder Taschengeld ver- 6 fügt, darf er in angemessenem Umfang vom Eigengeld (§ 52 Rdn. 3) einkaufen (Abs. 3). In der Höhe, in der der angemessene Umfang in VV Nr. 1 Abs. 2 einheitlich festgelegt ist, hat der Gefangene einen Rechtsanspruch auf Einkauf vom Eigengeld (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 26; OLG München ZfStrVo 1980, 122; die Regelungen in den VV binden die Vollzugsbehörde wegen des Gebots der Gleichbehandlung, s. auch § 4 Rdn. 19). Die Festlegung gilt aber nicht zum Nachteil des Gefangenen. Vielmehr kann der angemessene Umfang („was unter Beachtung der jeweils besonderen Situation des betreffenden Gefangenen als billig erscheint“: OLG Hamm NStZ 1989, 358 B) auch höher als nach den VV Nr. 1 Abs. 2 vorgesehen sein. Es sind hier in jedem Einzelfall zahlreiche Gesichtspunkte zu beachten (besondere Bedürfnisse, Umfang des Besuchsverkehrs, Höhe des Eigengeldes, früher erzieltes Hausgeld: BGH ZfStrVo 1988, 245; s. dazu auch OLG Frankfurt NStZ 1986, 381 mit Anm. Großkelwing; OLG Celle NStZ 1988, 96; vgl. VV Nr. 1 Abs. 1). Der angemessene Umfang i. S. von Abs. 3 ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar bleibt (OLG Celle NStZ 1988, 96; vgl. auch § 115 Rdn. 21, 22. Unzutreffend – der Vollzugsbehörde bleibt ein Beurteilungsspielraum –: BGH ZfStrVo 1988, 245). Der Eigengeld-Einkauf nach VV Nr. 1 Abs. 1 und 2 steht nicht unter der Sperrwirkung des § 83 Abs. 2 Satz 3 (§ 83 Rdn. 9), was sich aus der anderslautenden Regelung bei VV Nr. 2 Abs. 2 zu § 22 ergibt. Praktisch hat das aber kaum Bedeutung. Soweit das Eigengeld als Überbrückungsgeld für den Gefange-
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nen nach § 83 Abs. 2 Satz 3 gesperrt ist, kann es nicht dazu dienen, dem Gefangenen die Bedürftigkeit abzusprechen, die Voraussetzung für die Bewilligung des Taschengeldes ist. Ein Gefangener, der unverschuldet ohne Arbeit und damit ohne Hausgeld ist, erhält nur dann kein Taschengeld, wenn er nicht bedürftig ist. In diesem Fall hat er dann aber immer sog. freies Eigengeld oder doch die Möglichkeit, sich solches (etwa von seinem Bankkonto) überweisen zu lassen. Nur wenn der Gefangene neu in die Anstalt aufgenommen ist und keine Nahrungs- und Genussmittel eingebracht hat, befindet er sich für den kurzen Zeitraum bis zur ersten Auszahlung von Haus- bzw. Bewilligung von Taschengeld in einer Situation, in der ihm auch dann Einkauf vom Eigengeld gestattet werden muss, wenn dies eigentlich zur Bildung des Überbrückungsgeldes gesperrt werden müsste (ähnlich C/MD 2008 Rdn. 1).
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5. VV Nr. 2 erweitert die Möglichkeit des Einkaufs auf sonstige Gegenstände, deren Besitz gestattet ist. Hierfür darf der Gefangene auch sein Eigengeld verwenden, soweit es nicht zur Bildung des Überbrückungsgeldes herangezogen wird (§ 83 Rdn. 8, 9), etwa zur Bezahlung von für den persönlichen Bedarf bestimmten Lichtbildern (OLG Frankfurt NStZ 1990, 382 B). So können im Wege des Einkaufs Zeitschriften, Rundfunkgeräte, Schreibwaren, Reinigungsmittel angeboten werden, ohne dass der Gefangene für ihren Erwerb den mühevollen Weg über eine Paketerlaubnis (§ 33 Abs. 1 Satz 3) gehen muss. Es steht im Ermessen der Vollzugsbehörde, welche Gegenstände angeboten werden (LG Regensburg ZfStrVo 1983, 253 insoweit zu eng. Zutreffend dagegen OLG Zweibrücken NStZ 1986, 477, 478; § 19 Rdn. 4). Soweit die Gefangenen Gegenstände im Versandhandel erwerben, ist es nicht ausnahmslos ohne Rücksicht auf den Einzelfall zulässig, auf Lieferung unter Nachnahme zu bestehen (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1985, 116; vgl. auch OLG Hamm ZfStrVo 1989, 115).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 24 BayStVollzG entspricht – bis auf die Benennung der Gefangenen im Plural sowie des Verweises auf Landesrecht – weitgehend dem Wortlaut der bundesrechtlichen Vorschrift. Wegen des ausdrücklichen Verbots eines Empfangs von Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln durch Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BayStVollzG eröffnet Art. 25 Abs. 1 BayStVollzG die Möglichkeit von Sondereinkäufen als Kompensation. 2. Hamburg
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§ 25 Abs. 1–3 HmbStVollzG lauten: „(1) Die Gefangenen können regelmäßig aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot einkaufen (Regeleinkauf). (2) Die Gefangenen können in angemessenem Umfang dreimal jährlich zusätzlich zu dem Regeleinkauf einkaufen. (3) Für die Organisation des Einkaufs und den Inhalt des Warenangebots kann die Anstaltsleitung unter Würdigung der Wünsche und Bedürfnisse der Gefangenen besondere Regelungen treffen“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 1 entspricht § 22 Absatz 1 Satz 1 StVollzG, soweit den Gefangenen die Möglichkeit eingeräumt wird, regelmäßig aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege einkaufen zu können. Die Vorschrift definiert diese Möglichkeit als Regeleinkauf. Anders als im Strafvollzugsgesetz ist nicht geregelt, dass der Einkauf vom Hausgeld oder Taschengeld der Gefangenen zu bestreiten ist. Wegen der Neuordnung der Gelder der Ge-
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Einkauf
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fangenen ist die Verwendung dieser Gelder jetzt in §§ 47, 48 geregelt. Absatz 2 greift die Folgen aus der Neuregelung des Paketempfangs auf. Nach § 34 Absatz 1 Satz 2 ist den Gefangenen der Empfang von Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln zukünftig nicht mehr gestattet (vgl. Begründung zu § 34). Zum Ausgleich sollen alle Gefangenen nach Absatz 2 die Möglichkeit erhalten, Nahrungs- und Genussmittel dreimal jährlich zusätzlich zum Regeleinkauf einkaufen zu können. Nach § 50 Absatz 3 dürfen die Gefangenen Geld für den zusätzlichen Einkauf verwenden, das ausdrücklich für diesen Zweck eingezahlt und dem Eigengeldkonto gutgeschrieben wurde. Absatz 3 ermächtigt die Anstaltsleitung, für die Organisation des Einkaufs und den Inhalt des Warenangebots besondere Regelungen zu erlassen. Dabei soll sie die Wünsche und Bedürfnisse der Gefangenen in ihre Überlegungen einbeziehen. Zur Regelungsbefugnis gehört auch, den angemessenen Umfang des zusätzlichen Einkaufs nach Absatz 2 durch die Festsetzung einer Höchstgrenze zu konkretisieren.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 38 f). § 25 Abs. 4 HmbStVollzG entspricht, bis auf redaktionelle Änderungen, § 22 Abs. 2 StVollzG. 3. Niedersachsen § 24 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG lautet nun in Abweichung vom Bundesgesetz: „Die oder der 10 Gefangene kann sich aus einem von der Vollzugsbehörde vermittelten Angebot Nahrungsund Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Verwendung des Hausgeldes oder Taschengeldes wird infolge der Neuordnung der Gefangenengelder nunmehr in § 45 (in Verbindung mit § 43) des Entwurfs geregelt“. (LT-Drucks. 15/3565, 111). Abs. 1 Satz 1 entspricht weitgehend § 22 Abs. 1 Satz 2 StVollzG. Abs. 2 Satz 1 der niedersächsischen Vorschrift bleibt überwiegend inhaltsgleich mit § 22 Abs. 2 Satz 1 StVollzG, ersetzt aber das Wort „können“ durch „sind“. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Absatz 2 Satz 1 wurde aufgrund von Anregungen der Anstaltsleitervereinigung und der LAG gehobener Dienst nach der Verbandsbeteiligung geändert und der in § 34 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Regelung angepasst. In der Tat wäre es nicht nachvollziehbar, den Einkauf von Gegenständen zuzulassen, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt tatsächlich gefährden“. Eine § 22 Abs. 2 Satz 2 StVollzG vergleichbare Regelung enthält das NJVollzG indes nicht. Stattdessen entspricht § 24 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG dem Abs. 2 Satz 3 des Bundesgesetzes. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Der Entwurf lässt sich hierbei von der Erwägung leiten, dass der aus ärztlichen Gründen bisher untersagbare Einkauf von Kaffee, Tee, Zigaretten oder Tabak (vgl. BT-Drs. 7/918, S. 113) zwar kontrolliert, der Genuss jedoch letztlich nicht verhindert werden kann, wenn die Gefangenen sich diese Genussmittel entgegen der ärztlichen Anordnung auf andere Weise verschaffen. Solange sich die Gefangenen nicht in unmittelbarer ärztlicher Obhut befinden, soll es – auch in Ansehung des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1 des Entwurfs) – bei ärztlichen Verordnungen im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bzw. der Mitwirkung der Patientinnen und Patienten bleiben“ (LT-Drucks. 15/3565, 111). Eine Entsprechung zu Abs. 3 des Bundesgesetzes enthält § 24 NJVollzG nicht. § 46 Abs. 2 NJVollzG sieht als Kompensation für das in § 34 Abs. 1 Satz 3 NJVollzG normierte Verbot des Paketempfangs mit Nahrungs- und Genussmitteln vor, dass dem Inhaftierten bis zu dreimal jährlich ein zusätzlicher Geldbetrag auf das Hausgeldkonto überwiesen werden darf. Das Guthaben kann der Gefangene dann insbesondere für den Einkauf verwenden (§ 46 Abs. 3 NJVollzG).
Klaus Laubenthal
299
Vor § 23
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
VIERTER TITEL
Besuche, Schriftwechsel sowie Urlaub, Ausgang und Ausführung aus besonderem Anlass Vorbemerkung 1
1. Der vierte Titel enthält die Regelungen über die Beziehungen des Gefangenen zu Personen und Stellen außerhalb der Anstalt, soweit sie sich in Schreiben, Besuchen in der Anstalt, Urlaub und Ausgang niederschlagen und im Wesentlichen von dem individuellen Interesse des Gefangenen bestimmt sind (RegE, BT-Drucks. 7/918, 57). „Sie sollen der Isolation des Gefangenen und den damit verbundenen Gefahren für Realitätssinn, Kommunikation und mitmenschliche Kontakte entgegenwirken und zugleich zum Aufbau neuer Beziehungen beitragen“ (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 97). Die Kontaktpflege hat gerade auf dem Gebiet des Vollzugswesens außerordentliche Bedeutung; Außenweltkontakte sind ein wesentlicher Beitrag zum Erreichen des Wiedereingliederungszieles, da durch sie soziale Bindungen des Gefangenen geschaffen oder aufrechterhalten und gefestigt werden (OLG Frankfurt NStZ 1982, 221).
2
2. Die Außenkontakte des Gefangenen werden im vierten Titel allerdings nicht abschließend geregelt; hierher gehören vielmehr auch die aus Behandlungs- oder anderen Gründen des Vollzugs vorgesehenen Lockerungen, die im zweiten Titel aufgeführt sind, nämlich § 11 (Vollzugslockerungen) und § 13 (Urlaub aus der Haft).
3
3. Der Gesetzgeber (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 57) geht davon aus, dass das Recht des Gefangenen zum Verkehr mit anderen Personen auch im Vollzug der Freiheitsstrafe grundsätzlich fortbesteht. Insoweit wird darauf verwiesen, dass sich die Ansprüche des Gefangenen auf Besuche und Schriftwechsel zum Teil als Ausfluss der im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte darstellen: Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 5 Abs. 1 GG (Grundrecht der freien Meinungsäußerung) und Art. 6 Abs. 1 GG (Verfassungsgarantie für Ehe und Familie); vgl. dazu BVerfGE 33, 40 und 42, 236 f sowie BVerfG MDR 1982, 23; ZfStrVo 1991, 372 und ZfStrVo 1996, 174. Dementsprechend versucht der Gesetzgeber den Konflikt zwischen den Individualrechten und den notwendigen Erfordernissen eines geordneten Vollzugs durch eingehende Vorschriften zu lösen, die dem Gefangenen ein bestimmtes Mindestmaß an Außenkontakten garantieren und zugleich die Vollzugsbehörde ermächtigen, den Vollzug störende Informationen unter bestimmten Voraussetzungen zurückzuhalten und sie zu verpflichten, Beziehungen des Gefangenen zu fördern, die die Vollzugsaufgaben unterstützen (RegE aaO). Zum Konflikt zwischen Vollzugsziel und Sicherheitsaufgaben vgl. § 2 Rdn. 19 f.
300
Hans-Dieter Schwind
Grundsatz
§ 23
§ 23 Grundsatz Der Gefangene hat das Recht, mit Personen außerhalb der Anstalt im Rahmen der Vorschriften dieses Gesetzes zu verkehren. Der Verkehr mit Personen außerhalb der Anstalt ist zu fördern. Schrifttum: Arloth Trennscheibe bei Besuchen in Justizvollzugsanstalten, in: Jura 2005, 108 ff; Beulke/Swoboda Trennscheibenanordnung „zum Schutz“ des Strafverteidigers bei Verteidigerbesuchen im Strafvollzug? in: NJW 2004, 1398 ff; Britz Familienbesuche und Intimkontakte im Strafvollzug – Das UVF-Projekt in Frankreich, in: ZfStrVo 1998, 74 ff; Buchert/Metternich/Hauser Die Auswirkungen von Langzeitbesuchen (LZB) und ihre Konsequenzen für die Wiedereingliederung von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1995, 259 ff; Di Fabio Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, in: NJW 2003, 993 ff; Götte Die Mitbetroffenheit der Kinder und Ehepartner von Strafgefangenen, Berlin 2000; Hassemer Kommunikationsfreiheit in der Haft, in: ZRP 1984, 292 ff; Hirsch Die Kommunikationsmöglichkeiten des Strafgefangenen mit seiner Familie, Frankfurt a. M. 2003; Knoche Besuchsverkehr im Strafvollzug, Frankfurt a.M. 1987; ders. Besuchsverkehr im Strafvollzug – ein reglementierter Kontakt zur Außenwelt?, in: ZfStrVo 1987, 145 ff; Kreuzer Mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung Strafgefangener, in: StV 2006, 163 ff; Kury/Kern Angehörige von Inhaftierten, in: ZfStrVo 2003, 269; Marx Strafvollzugsrecht: Journalistenbesuch, in: JuS 1982, 121 ff; Matthes Presse-Interviews im Haftvollzug, Lohmar 2005, 30 ff; Müller-Dietz Möglichkeiten und Grenzen der körperlichen Durchsuchung von Besuchern, in: ZfStrVo 1995, 214 ff; Nehm „Fernsehinterviews aus der Haft sind für alle Beteiligten eine heikle Sache“, in: ZRP 1996, 492 ff; Neibecker Strafvollzug und institutionelle Garantie von Ehe und Familie, in: ZfStrVo 1984, 335 ff; Perwein Erteilung, Rücknahme und Widerruf der Dauertelefongenehmigung, in: ZfStrVo 1996, 16 ff; Preusker Stellungnahme zu dem Aufsatz: Besuchsverkehr im Strafvollzug – ein reglementierter Kontakt zur Außenwelt?, in: ZfStrVo 1987, 151 ff; Rixen Schutz minderjähriger Verbrechensopfer durch Besuchsverbote gemäß § 25 StVollzG. (Anm. zu OLG Nürnberg ZfStrVo 1999, 192 = NStZ 1999, 376), in: ZfStrVo 2001, 278 ff; Rolinski Außenkontakte des Insassen, in: Baumann (Hrsg.): Die Reform des Strafvollzuges, München 1974, 77 ff; Rosenhayn Unüberwachte Langzeitbesuche im Strafvollzug, Bonn 2005; Schwind Zum Sinn der Strafe und zum Ziel (Zweck) des (Straf-)Vollzugs, in: BewHi 1981, 351 ff; ders. Kurzreferat zur Neuordnung der Regelung der Vollzugslockerungen i. S. einer Gesamtkonzeption, in: Weisser Ring (Hrsg.): Risiko-Verteilung zwischen Bürger und Staat. Bd. 1 der Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern, Mainz 1990, 57 ff; ders. Chancenvollzug am Beispiel von Niedersachsen, in: FS für Amelung, Berlin 2009, 763; Tolmein Interviews mit Strafgefangenen: Schädlicher Einfluss oder unabdingbare gesellschaftliche Kommunikation?, in: ZRP 1997, 246 ff.
I. Allgemeine Hinweise § 23 stellt zwei Grundsätze an den Anfang der Vorschriften des vierten Titels: erstens das 1 grundsätzlich bestehende Recht des Gefangenen, mit Personen außerhalb der Anstalt zu verkehren (Abs. 1), und zweitens die grundsätzlich bestehende Verpflichtung der Vollzugsbehörde, diese Kontakte zu „fördern“ (Abs. 2). Das Gesetz regelt aber nicht, mit welchen „Personen außerhalb der Anstalt der Gefangene verkehren“ darf bzw. nicht verkehren darf (dazu Rdn. 3 und 6 zu § 24). Da die §§ 23 ff nur für Außenkontakte gelten, finden sie keine Anwendung auf die Kontakte von Gefangenen innerhalb (derselben) Anstalt (vgl. Rdn. 4 zu § 24); auch nicht auf die Gefangenenmitverantwortung, da deren Wirken ebenfalls auf den Anstaltsbereich beschränkt ist (wiederum Rdn. 4 zu § 24). Zu Besuchszusammenführungen Gefangener aus verschiedenen Anstalten vgl. Rdn. 8 zu § 24. Zum Kontaktsperregesetz vgl. Rdn. 5 zu § 26.
Hans-Dieter Schwind
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§ 23
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
II. Erläuterungen 2
1. Satz 1: Das Recht, mit Personen außerhalb der Anstalt zu verkehren, besteht nur insoweit, als es nicht durch Vorschriften des StVollzG eingeschränkt wird. Dem Gefangenen sollen aber nicht mehr Einschränkungen auferlegt werden, als in Bezug auf die Durchführung des Freiheitsentzuges und seine Behandlung (§ 4 Rdn. 6) notwendig sind (RegE, BT-Drucks. 7/918, 57). Das bedeutet aber nicht, dass jede einschränkende Entscheidung erkennen lassen muss, dass die Anstalt auch bereit war (so auch Arloth 2008 Rdn. 5), ein Risiko einzugehen (diese Forderung erhebt AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2, die die Anstalten insoweit disziplinieren möchten); die Entscheidung muss vielmehr nur erkennen lassen, dass das Ziel nicht auf eine andere, den einzelnen weniger belastende Weise, ebenso gut erreicht werden konnte (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Bei der Abwägung kommt dem Vollzugsziel der Resozialisierung (§ 2 Satz 1; dort Rdn. 12 ff) zwar besondere Bedeutung zu, aber nicht im Sinne völliger Verdrängung der Sicherheitsinteressen der Bevölkerung (§ 2 Satz 2: Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten; § 2 Rdn. 17 ff); daraus ergibt sich, dass bei der Entscheidung der Anstalt die Art der abgeurteilten Straftat, Vorverurteilungen und die Persönlichkeit des Gefangenen in der Regel grundsätzlich nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (vgl. Schwind 1981, 351 ff; vgl. auch Rdn. 6 zu § 25). Der Resozialisierungsgedanke fordert insoweit von der Anstalt unter Anlegung dieses Maßstabes, nur kalkulierbare bzw. der Bevölkerung noch zumutbare Risiken einzugehen (vgl. Schwind 1990, 57 ff).
3
2. Satz 2 hebt (bei Beachtung der einschränkenden Voraussetzungen, die nach Abs. 1 vorgesehen sind) die Pflicht der Vollzugsbehörde hervor, ihrerseits daran mitzuwirken, dass die Schwierigkeiten überwunden werden, die sich durch die Anstaltsunterbringung für die Förderung und Entwicklung von Beziehungen ergeben.
4
a) Dabei darf sich die Anstalt nicht darauf beschränken, die gesetzlichen Mindestgarantien zu beachten, sie ist vielmehr aufgerufen („Förderungspflicht“), auch aktiv (soweit das vertretbar ist, vgl. oben Rdn. 2) auf die Aufrechterhaltung und Entwicklung von Außenkontakten hinzuwirken (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 97; Schwind 2009, 764 ff): aber nur solche, die die Vollzugsaufgaben unterstützen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 57); das gilt insbesondere für Kontakte zu (geeigneten) Familienangehörigen (§ 25 Rdn. 10; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). In solchen Fällen kann auch eine besondere Ermunterung des Gefangenen durch die Anstalt notwendig sein, weil die Aufrechterhaltung und Stärkung sozialer Bindungen zur (Wieder-)Eingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft beiträgt (C/MD 2008 Rdn. 2); so sollte dem (geeigneten) Gefangenen durch die Anstalt z. B. nahe gelegt werden, Anträge auf Lockerungen und auf Besuch zu stellen (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 5). Im Rahmen der Förderungspflicht kommt auch die Übernahme der Fahrtkosten für bedürftige (nahe) Angehörige des Gefangenen aus Sozialmitteln in Betracht (OVG Münster NStZ 1985, 95; Arloth 2008 Rdn. 5; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 5).
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b) Der Satz 2 wird allerdings überdehnt, wenn man (wie AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 4) bereits in dem Bau neuer Anstalten auf dem Lande oder deren Ausbau einen Verstoß gegen die Förderungspflicht (= Pflicht, die Außenkontakte der Gefangenen zu fördern) konstruiert (ebenso Arloth 2008 Rdn. 5). Dafür gibt auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nichts her. Bei den Standortüberlegungen ist jedoch der Gedanke des heimatnahen Vollzugs zu berücksichtigen (das übersehen AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 4 bei ihrer Kritik). Oft liegen Justizvollzugsanstalten z. B. für Besuche äußerst verkehrsungünstig.
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Hans-Dieter Schwind
Grundsatz
§ 23
III. Landesgesetze 6
1. Bayern Art. 26 BayStVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 23 StVollzG.
7
2. Hamburg Die Besuchsregelungen beginnen im HmbStVollzG mit einem § 26, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 ist wortgleich mit § 24 Abs. 1 StVollzG, aber ohne den Hinweis auf die Hausordnung. Abs. 2 lautet: „Kontakte der Gefangenen zu ihren Angehörigen im Sinne des Strafgesetzbuches werden besonders gefördert.“ Nach der Begründung trägt diese Regelung „der Tatsache Rechnung, dass die Familienmitglieder – und hier gerade minderjährige Kinder – unter der [. . .] Trennung besonders leiden“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 55). Abs. 3 ist wortgleich mit § 24 Abs. 2 StVollzG. Abs. 4 ist neu: „Die Anstaltsleitung kann Besuche, deren ununterbrochene Dauer ein Mehrfaches der Gesamtdauer nach Abs. 1 Satz 4 beträgt und die in der Regel nicht überwacht werden (Langzeitbesuche), zulassen, wenn dies mit Rücksicht auf die Dauer der zu vollziehenden Freiheitsstrafe zur Behandlung der Gefangenen, insbesondere zur Förderung ihrer partnerschaftlichen oder ihnen gleichzusetzender Kontakte, geboten erscheint und die Gefangenen hierfür geeignet sind. Für die Durchführung der Langzeitbesuche kann die Anstaltsleitung mit Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse der Anstalt besondere Regelungen treffen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Mit Rücksicht darauf, dass die Langzeitbesuche in der Regel nicht überwacht werden, sind an die Eignung der Gefangenen für die Teilnahme an den Besuchen hohe Anforderungen zu stellen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 39). Abs. 5: Satz 1 ist wortgleich mit § 24 Abs. 3 StVollzG, wird aber durch folgenden Satz 2 ergänzt: „Für Art und Umfang der Durchsuchungen, insbesondere für den Einsatz technischer Hilfsmittel, und für den für Durchsuchungen in Betracht kommenden Personenkreis kann die Anstaltsleitung mit Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse der Anstalt besondere Regelungen treffen.“ Abs. 6 ist wortgleich mit § 25 StVollzG.
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3. Niedersachsen In Niedersachsen beginnen die Besuchsregelungen mit einem § 25, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 lautet: „Die oder der Gefangene darf nach vorheriger Anmeldung regelmäßig Besuch empfangen. Die Gesamtdauer beträgt mindestens eine Stunde im Monat. Die Dauer und Häufigkeit des Besuchs sowie die Besuchszeiten regelt die Hausordnung.“ Abs. 2 stimmt inhaltlich fast mit § 24 Abs. 2 StVollzG überein, aber Besuche sollen darüber hinaus zugelassen werden, „wenn sie die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 fördern“. Abs. 3 lautet: „Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt kann der Besuch einer Person von ihrer Durchsuchung abhängig gemacht und die Anzahl der gleichzeitig zu einem Besuch zugelassenen Personen beschränkt werden.“ Hans-Dieter Schwind
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§ 24
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 112) heißt es dazu: „Abs. 3 des Entwurfs erweitert die in § 24 Abs. 3 StVollzG enthaltenen Durchsuchungsbefugnisse dahingehend, dass diese nunmehr auch zur Aufrechterhaltung der Ordnung der Anstalt zulässig sind. Diese Ergänzung dient insbesondere dazu, das Übergeben von solchen Suchtmitteln durch Besucherinnen oder Besucher zu verhindern, deren Einbringen nach der Rechtsprechung nur einen Ordnungsverstoß darstellt (so OLG Celle (. . .) StV 1986, 396.“ Auch darf jetzt die Zahl der zum Besuch zugelassenen Personen beschränkt werden (. . .)).
§ 24 Recht auf Besuch (1) Der Gefangene darf regelmäßig Besuch empfangen. Die Gesamtdauer beträgt mindestens eine Stunde im Monat. Das Weitere regelt die Hausordnung. (2) Besuche sollen darüber hinaus zugelassen werden, wenn sie die Behandlung oder Eingliederung des Gefangenen fördern oder persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten dienen, die nicht vom Gefangenen schriftlich erledigt, durch Dritte wahrgenommen oder bis zur Entlassung des Gefangenen aufgeschoben werden können. (3) Aus Gründen der Sicherheit kann ein Besuch davon abhängig gemacht werden, dass sich der Besucher durchsuchen lässt. VV 1 Ein Besuch findet nicht statt, wenn ihn der Gefangene ablehnt. 2 (1) Jeder Besucher muss sich über seine Person ausweisen. Hiervon kann abgesehen werden, wenn der Besucher bereits bekannt ist. (2) Der Besuch kann davon abhängig gemacht werden, dass der Besucher für die Dauer des Besuches seinen Ausweis bei der Anstalt hinterlegt. 3 Der Besucher wird in geeigneter Weise unterrichtet, wie er sich bei dem Besuch zu verhalten hat. 4 Vor dem Besuch eines kranken Gefangenen, der in einer Krankenabteilung oder in einem Anstaltskrankenhaus untergebracht ist, ist der Arzt zu hören. Ärztliche Bedenken gegen einen Besuch sind dem Besucher mitzuteilen. Besuche im Krankenraum bedürfen der Zustimmung des Arztes. 5 Für den Besuchsverkehr eines Gefangenen, der eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung des Heimatstaates gelten die Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Nummer 136 RiVASt). Schrifttum: s. bei § 23
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Hans-Dieter Schwind
§ 24
Recht auf Besuch
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . 1. Bedeutung des Besuchs . . . 2. Organisatorischer Ablauf des Besuchs . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Das Recht auf Besuch (Abs. 1 Satz 1): Besucherkreis 2. Besuchsdauer (Abs. 1 Satz 2) 3. Durchführung des Besuchs (Abs. 1 Satz 3): Hausordnung 4. Zum Besuchsraum . . . . . 5. Weitere Besuche (Abs. 2) . .
. . . .
1–2 1
. . . .
2 3–18
. . . .
3–8 9
. . 10–12 . . 13 . . 14–16
Rdn. 6. Durchsuchung des Besuchers (Abs. 3) . . . . . . . . . . . . 7. Besonderheiten bei Ausländern und Kranken . . . . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . 1. Journalistenbesuche . . . . . . 2. Selbsteintrittsrecht des Justizministers . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
.
17
. 18 . 19–21 . 19–20 . 21 . 22–24 . 22 . 23 . 24
I. Allgemeine Hinweise 1. Der Besuch besitzt vor allem für die Behandlung (§ 4 Rdn. 6) und für die Eingliede- 1 rung nach der Entlassung erhebliche Bedeutung. Das gilt insbesondere für solche Gefangenen, für die der Vollzug nicht oder noch nicht gelockert werden konnte; denn für diese bildet der Besuch die einzige Möglichkeit zu unmittelbarem Kontakt zu anderen Personen ihres früheren oder künftigen Lebensbereiches (RegE, BT-Drucks. 7/918, 57). Zum Integrationsgrundsatz § 3 Rdn. 13. 2. Die Ausgestaltung der Besuchsregelung gehört zu der dem Anstaltsleiter übertra- 2 genen Organisationsbefugnis für die Anstalt (KG NStZ 1999, 445). Danach läuft der Besuch in der Regel (nach Böhm 2003 Rdn. 280) wie folgt ab: „Der Gefangene teilt mit, von wem er besucht werden will. Er erhält dann einen Besuchsschein (bzw. „Sprechschein“), auf dem die Besonderheiten der Besuchsregelung (Dauer, Besuchszeiten, Ausweisungspflicht, Verhaltensvorschrift für die Zeit des Besuches) vermerkt sind. Den Schein sendet er an den Besucher. Der Besucher bringt diesen Besuchsschein beim Besuch mit in die Anstalt. Der Besuch wird auf dem Besuchsschein, in der Gefangenenakte und in eine Kartei eingetragen. Taschen und Handys muss der Besucher in einem Schließfach im Pfortenbereich deponieren. Dann wird er in ein Wartezimmer geführt und wartet dort, bis der Gefangene aus dem Unterkunftsbereich zu den Besuchsräumen gebracht worden und in diesem ein Platz für die Besuchsabwicklung frei geworden ist.“ Einzelheiten (vor allem zu den Besuchszeiten) sind in einer Hausordnung (§ 161 Abs. 2 Nr. 1) zu regeln (KG NStZ 1999, 445 M). Der Besucher muss sich allerdings grundsätzlich an die Besuchszeiten halten; er kann nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen, weil ein solches Verhalten die Arbeitsmaßnahmen bzw. die Schul- oder Berufsausbildung stören würde; das gilt im Rahmen der zumutbaren Organisation grundsätzlich auch für Verteidiger (vgl. Arloth 2008 Rdn. 4; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1986, 60). In keinem Fall kann der Gefangene selbst bestimmen, in welcher Kleidung er das Recht auf Besuchsempfang ausübt (OLG Frankfurt BlStV 6/1983, 7). Nicht mehr durch die Organisationsbefugnis des Anstaltsleiters ist eine Verfahrensweise gedeckt, nach der Besucher regelmäßig zahlreiche Versuche unternehmen müssen und oft mehrere Stunden benötigen, um den für die Erteilung von Sprechstunden zuständigen Vollzugsbediensteten telefonisch zu erreichen (KG Berlin NStZ 1999, 445 M). Der Leiter der JVA ist im Übrigen befugt, Einlass- und Identitätskontrollen in der Weise durchzuführen, dass grundsätzlich alle Besucher der Anstalt für die Zeit ihres Aufenthaltes (aus Sicherheitsgründen) ihren Personalausweis abgeben (OLG Hamm BlStV 4/5/1984, 7; ebenso Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. auch
Hans-Dieter Schwind
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§ 24
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
VV Nr. 2). Krit. C/MD 2008 Rdn. 6, mit der Begründung, dass das „Gesetz eine solche Ermächtigung nicht enthält“. Für Verteidiger, Anwälte und Notare gilt die VV Nr. 1 Abs. 1 zu § 26, allerdings mit Modifizierungen (zu diesen Rdn. 6 zu § 26).
II. Erläuterungen 3
1. Abs. 1 Satz 1 räumt dem Gefangenen das Recht ein (vgl. auch § 23 Satz 1, dort Rdn. 1 f), in der Anstalt regelmäßig Besucher empfangen zu dürfen; Beschränkungen dieses Rechts ergeben sich aus allen drei Absätzen des § 24 sowie aus § 25. Dem Recht auf Besuch entspricht jedoch nicht die Pflicht, Besuch empfangen zu müssen: der Gefangene darf also den von ihm nicht gewünschten Besuch ablehnen (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1; VV Nr. 1 zu § 24); auch den Besuch eines Seelsorgers (vgl. Rdn. 12 zu § 53). Fraglich ist, ob der Gefangene den Kontakt zu einem Behördenvertreter ablehnen kann, der ihn (zur Vornahme einer Amtshandlung) nicht besuchen, sondern aufsuchen will. Richtig ist es, zu differenzieren. Danach kann der Gefangene das Aufsuchen dann nicht ablehnen, wenn auch der freie Bürger zu einem Kontakt mit Behörden gezwungen werden kann (Arloth 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Diese Regel gilt z. B. für Richter oder Staatsanwälte, die den Gefangenen vernehmen wollen (vgl. auch Rdn. 6). Denn Richter bzw. Staatsanwälte können das Erscheinen des Beschuldigten (§§ 134, 163a StPO) oder Zeugen (§§ 51 Abs. 1 Satz 3, 161a Abs. 2 StPO) durch Vorführung (also durch angeordnetes persönliches Erscheinen) erzwingen. Die Anordnung der Vorführung ist sogar dann möglich, wenn der Geladene bzw. der einsitzende Gefangene, der als Beschuldigter vernommen werden soll, zuvor kundgetan hat, dass er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde (vgl. z. B. Kühne Strafprozessrecht 2003, 242). Die Polizei hingegen ist außerhalb des § 127 StPO nicht zur Vorführung bzw. Vorladung berechtigt (vgl. Kühne aaO). Das bedeutet jedoch nicht, dass der Gefangene einen aufsuchenden Polizeibeamten generell ablehnen darf. Das kann er z. B. dann nicht, wenn der Polizeibeamte den Gefangenen aufsuchen will, um dessen Identität festzustellen. Denn das könnte auch ein „freier Bürger“ nicht ablehnen (vgl. §§ 163b, 163c StPO). Von AK-Joester/Wegner (aaO) wird offenbar übersehen, dass z. B. Asylbewerber nicht selten über ihre wahre Identität zu täuschen versuchen, um nicht abgeschoben werden zu können. Der Antrag eines Strafgefangenen, einer externen Psychologin regelmäßig Besuch zu Zwecken der Psychotherapie zu gestatten, ist nicht nach § 24 Abs. 2, sondern nach § 58 StVollzG zu behandeln. Der Gefangene hat jedenfalls keinen Anspruch auf Behandlung durch einen (externen) Arzt bzw. Therapeuten seiner Wahl, und zwar auch dann nicht, wenn er bereit ist, selbst die Kosten zu tragen (OLG Nürnberg NStZ 1999, 479; KG Berlin NStZ 2006, 699).
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a) Das StVollzG beschränkt den Kreis der möglichen Besucher des Gefangenen aber nicht (wie der RegE vorsah: § 24 Abs. 1) auf „nahestehende Personen“, weil dieser Begriff zu unbestimmt ist (SA, BT-Drucks. 7/3998, 13). Grundsätzlich ist also jeder Besucher zuzulassen, dessen Besuch der Gefangene wünscht (OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 37 = MDR 1979, 428; C/MD 2008 Rdn. 1): Familienangehörige, Freunde, entfernte Bekannte, Briefpartner usw. (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11), vor allem Bezugspersonen (Laubenthal 2008 Rdn. 507). Ausgenommen sind nur solche Personen, die in derselben Anstalt inhaftiert sind (ebenso Arloth 2008 Rdn. 2; dazu Rdn. 12; vgl. aber die liberalere Regelung für den Schriftwechsel: Rdn. 3 zu § 28). Der abgewiesene Besucher kann Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109) stellen (vgl. dazu OLG Frankfurt NStZ 1982, 221; § 109 Rdn. 28). Soll-
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Recht auf Besuch
§ 24
ten im Einzelfall Sicherheits- (§ 81 Rdn. 7) oder Resozialisierungsinteressen (§ 2 Rdn. 13 ff) berührt werden, kann der Anstaltsleiter den Besuch unter den Voraussetzungen des § 25 untersagen. b) Soweit das Besuchsrecht reicht (Rdn. 3), folgt daraus für denjenigen, der den Ge- 5 fangenen mit dessen Einverständnis besuchen will, also für den Besucher, ein entsprechender Anspruch auf Erteilung einer Besuchserlaubnis, die ihm den Einlass in die Justizvollzugsanstalt und den Kontakt mit dem Gefangenen im Rahmen der vom StVollzG gezogenen Grenzen ermöglicht (OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 37 = MDR 1979, 428); insoweit sind Besucher auch Antragsberechtigte i. S. d. § 109 (vgl. dort Rdn. 28). Darüber hinaus haben Außenstehende, also dritte Personen, auch keinen eigenen Anspruch auf Besuch eines Gefangenen (Arloth 2008 Rdn. 1). Das Justizministerium darf die Kompetenz im Übrigen nicht generell an sich ziehen (OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1979, 35; Arloth 2008 Rdn. 2): es besteht also kein Selbsteintrittsrecht des Justizministers; diesem steht jedoch im Ausnahmefall ein Durchgriffsrecht zu (vgl. Beispiel Rdn. 21). c) Nicht geregelt sind im StVollzG hingegen solche Anstaltsbesuche, die mit dem An- 6 spruch des Gefangenen, im Rahmen der Vorschriften des StVollzG Besuche in der Anstalt empfangen zu dürfen, nichts zu tun haben: also Besuche derjenigen, die aus verfassungsrechtlichen oder dienstlichen Gründen z. B. zu einer Anhörung des Gefangenen berechtigt oder verpflichtet sind (vgl. auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 8 ff zu § 23), wie etwa Mitglieder des Petitionsausschusses, Angehörige der Justiz (Rdn. 3). Der Status als Parlamentsabgeordneter für sich allein begründet hingegen noch kein Recht, eine JVA ohne Erlaubnis besuchen zu dürfen, es sei denn, es gelten (wie z. B. in Niedersachsen und Hessen) über einen Ministerialerlass Sonderregelungen eines generellen Besuchsrechts für solche Volksvertreter (so auch C/MD 2008 Rdn. 6 zu § 23). Keine „Besucher“ sind: – Vollzugshelfer bzw. ehrenamtliche Mitarbeiter (KG NStZ 1985, 479): insoweit gilt § 154 Abs. 2; diese können jedenfalls kein Recht auf Besuch aus § 24 ableiten (C/MD 2008 Rdn. 6 zu § 23; KG NStZ 85, 479); – Besichtigungsgruppen: deren Wünsche werden nach Verwaltungsermessen entschieden. Die Rechtsgrundlage ist im Hausrecht (bzw. in der Organisationsbefugnis) der Anstaltsleitung zu sehen (KG NStZ 1999, 445 M; VG Karlsruhe BlStVK 1/2000, 8; vgl. dazu auch § 109 Rdn. 9), die abzuwägen hat zwischen berechtigtem Informationsinteresse der anstaltsfremden Personen, den Belangen des Vollzuges und den Interessen der Gefangenen (Arloth 2008 Rdn. 3 zu § 23). Die Besuchserlaubnis der Anstaltsbeiräte, die befugt sind, Gefangene in deren Räumen zu unüberwachten Aussprachen aufzusuchen (OLG Hamm NStZ 1981, 277; C/MD 2008 Rdn. 6 zu § 23; Matthes 2005), ist in § 164 Abs. 2 geregelt; es handelt sich wegen der öffentlichen Funktion des Beirats allerdings eher um eine allgemeine Zugangserlaubnis (§§ 162 ff Rdn. 7). d) Die Vorschriften der §§ 23 ff sollen im Übrigen nach der Rechtsprechung des OLG 7 Hamm (aaO Rdn. 5), des OLG Stuttgart (aaO Rdn. 5), des OLG Celle (BlStV 1/1991, 3) und des Schrifttums (C/MD 2008 Rdn. 5; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4 zu § 23) auch auf Vertreter von Publikationsorganen Anwendung finden (Presse, Hörfunk, Film, Fernsehen und Verlage): aus journalistischer Sicht Tolmein 1997, 246 f. Deren Besuchswünsche können also nur unter den Voraussetzungen des § 25 untersagt werden (vgl. Rdn. 7 zu § 25). Als milderes Mittel kommt auch der Abbruch eines solchen Besuches nach § 27 Abs. 2 in Betracht: vgl. wiederum Beispiel in Rdn. 19 ff. Ablehnungsgründe, die sich nur auf die Beeinträchtigung des Organisations- und Betriebsablaufes der Hans-Dieter Schwind
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Anstalt beziehen, reichen grundsätzlich nicht aus (vgl. zur Auslieferungshaft BVerfG NStZ 1995, 566). Bei Fernsehinterviews ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass es in einem solchen Falle „vor laufender Kamera ungute Auseinandersetzungen über die Frage der Zulässigkeit“ des Abbruchs geben kann (vgl. Nehm 1996, 494). Arloth 2008 (Rdn. 4 zu § 23) ist hingegen der Auffassung, dass sich Journalisten zum Zweck eines Interviews nicht auf die §§ 23 ff berufen können: eine Untersagung stehe im pflichtgemäßen Ermessen der Anstalt.
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e) Im StVollzG nicht geregelt ist ferner z. B. die Zusammenführung zweier Gefangener zu Besuchszwecken: Wird ein Gefangener zu Besuchszwecken in die Anstalt gebracht, in der sich der andere Gefangene befindet, so ist die Vollzugsmaßnahme für ihn nach den Vorschriften über die Ausführung (§ 35 Abs. 3), für den anderen Gefangenen nach den Besuchsvorschriften (§§ 24 ff) zu beurteilen (OLG München ZfStrVo SH 1979, 35; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4). Dementsprechend gilt § 25 auch für Besuchsanträge von Strafgefangenen, die in einer anderen Anstalt als der zu besuchende Gefangene einsitzen (OLG Zweibrücken MDR 1986, 79; C/MD 2008 Rdn. 5 zu § 23; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 97; OLG Rostock 12.12.04, 1 Vollzug (WS) 5/04). Zum Besuchsantrag eines früheren Mitgefangenen oder Tatgenossen vgl. Rdn. 6 zu § 25.
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2. Abs. 1 Satz 2 legt die Mindestbesuchsdauer auf eine Stunde im Monat fest (vor dem StVollzG: 15–20 Minuten). Der RegE (BT-Drucks. 7/918, 58) hatte zwei Besuche im Monat für eine halbe Stunde vorgesehen; davon wurde Abstand genommen, damit die Vollzugsbehörde dem konkreten Einzelfall besser Rechnung tragen kann (vgl. SA, BT-Drucks. 7/ 3998, 14); zu den Besuchszeiten von Verteidigern vgl. Rdn. 15 zu § 27.
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3. Abs. 1 Satz 3: auf der Grundlage der Vorgaben in Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 erfolgt die Einzelregelung der Besuchszeiten sowie die Häufigkeit und Dauer der Besuche in einer Hausordnung (§ 161). In der Hausordnung kann alles das geregelt werden, was gesetzlich noch nicht geregelt wurde. Der Inhalt der Hausordnung orientiert sich insoweit einerseits an den Besonderheiten der Anstalt (z. B. am Sicherheitsgrad), andererseits an den Vollzugsgrundsätzen und der Zumutbarkeit für den Besucher (zur Rechtsnatur der Hausordnung § 161 Rdn. 2, 4).
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a) So kann es z. B. bei langem Anreiseweg der Angehörigen sinnvoller sein, sie die gesamte monatliche Besuchsdauer bei einem einmaligen Besuch ausschöpfen zu lassen (so auch SA, BT-Drucks. 7/3998, 14). Aus der Erwähnung der Ausnahme durch den SA ergibt sich, dass die Besuchsdauer in anderen Fällen auch auf mehrere Besuche (verschiedener Personen) aufgeteilt werden kann, wenn das nach Sachlage geboten ist (C/MD 2008 Rdn. 2). Deshalb ist es nicht unzulässig, durch Hausordnung (Abs. 1 Satz 3) auch gegen den Willen des Gefangenen z. B. grundsätzlich nur halbstündige Einzelbesuche (nicht viertelstündige! wie AK-Joester/ Wegner 2006 Rdn. 4 ohne Anhaltspunkt wiederholt unterstellen) zuzulassen. Zu kurze Besuchszeiten (das sind solche unter 30 Minuten) sollten vermieden werden, damit es noch zu einem inhaltlichen Gespräch kommen kann. Ob und wie aufgeteilt wird, hängt auch von der konkreten Personal- und Raumsituation der Anstalt ab; jedenfalls wollte der Gesetzgeber berücksichtigt wissen, dass je nach den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen der Anstalt Besuche mit einem erheblichen Aufwand für die Vollzugsbehörde verbunden sein können (RegE, BT-Drucks. 7/918, 57). Für die Fälle, in denen besondere Schwierigkeiten für Besuche von Familienangehörigen bestehen (wenn z. B. die berufstätige Ehefrau weit entfernt wohnt), sollten (auch mit Rücksicht auf Art. 6 GG) in der Hausordnung (§ 161 Abs. 2 Nr. 1) Ausnahmeregelungen getroffen werden (vgl. auch OLG Dresden ZfStrVo 1998, 116; vgl. auch Rdn. 15): spezieller Besuchstag, Zusammenlegung der Besuchsmindestdauer mehrerer Monate (K/SSchöch 2002 § 7 Rdn. 102). Ob eine Fahrtkostenerstattung für Besuchsfahrten aus Sozial-
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hilfemitteln nach aktuellem Sozialhilferecht möglich ist, ist umstritten (bejahend Berlit in Münder u. a.: Sozialgesetzbuch XII, 7. Aufl., Baden-Baden 2005 § 73 Rdn. 6 unter Verweis auf OVG Münster NStZ 1985, 95 zur alten Rechtslage unter dem BSHG; verneinend Schlette in Hauck/Noftz/Luthe: Sozialgesetzbuch XII, Berlin, Stand 2009 § 73 Rdn. 20). b) Durch die Hausordnung darf die Zahl der (gleichzeitigen) Besucher eines Gefange- 12 nen nicht beschränkt werden; vielmehr ist im Einzelfall jeweils zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 25 Nr. 1 vorliegen (C/MD 2008 Rdn. 2; LG Karlsruhe ZfStrVo 1992, 136). Insoweit spielen der Sicherheitsgrad der Anstalt sowie eine nicht ausreichende Personalkapazität eine Rolle. Gruppenbesuche von drei Personen (in Ausnahmefällen mehr: Verwandte aus dem fernen Ausland, Zigeunersippe) sollten in der Regel aber zugelassen werden, wenn wenigstens die elementaren Sicherheits- und Ordnungsinteressen der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) im Einzelfall nicht dagegen sprechen. Ebenso im Ermessen der Anstalt steht der gleichzeitige Besuch mehrerer Gefangener (Arloth 2008 Rdn. 4). Zumindest für auswärtige und berufstätige Besucher sollte die Hausordnung in einer Bestimmung gewährleisten, dass Besuche auch an Wochenenden stattfinden können (i.d.S. auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; AK-Joester/ Wegner 2006 Rdn. 11). Werden über die gesetzlich vorgeschriebenen Besuche hinaus „Gemeinschaftssprechstunden“ abgehalten, bei denen sich die Gefangenen z. B. jeweils zwei Stunden lang auf dem Flur der Station mit Besuchern unterhalten dürfen, handelt es sich um eine begünstigende Maßnahme, die nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 widerrufen werden kann (KG ZfStrVo 1985, 251 = NStZ 1985, 352; C/MD 2008 Rdn. 2; vgl. hierzu aber § 14 Rdn. 24, § 4 Rdn. 27). Der Widerruf kann auch aus Gründen erfolgen, die außerhalb der Person des Gefangenen liegen (z. B. Mangel an Personal, Zunahme der Belegung). Das BVerfG (StV 2008, 30) weist jedoch darauf hin, dass der Staat seine Vollzugsanstalten so ausstatten muss, wie es der Schutzauftrag des Art. 6 GG erfordert (so auch C/MD 2008 Rdn. 2). 4. Der Besuchsraum sollte grundsätzlich die Möglichkeit zu ungestörtem und un- 13 beobachtetem Zusammensein, insbesondere mit nahen Angehörigen (für Verteidiger: Rdn. 15 zu § 27) bieten, weil diese Begegnung für die Bindung an Ehe und Familie und damit auch für die spätere Eingliederung des Insassen nach seiner Entlassung von hoher Bedeutung ist (AE-StVollzG 1973, 173); der Besuchsraum sollte ferner so groß sein, dass mehrere Besuche gleichzeitig stattfinden können; der Besuchsraum sollte auch auf den Besuch von Kindern vorbereitet sein (z. B. eine Spielecke haben). Gesetzliche Vorschriften über das Mitbringen von Kindern gibt es nicht; es ist also auch nicht verboten (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Zum Mangel an „Familienbesuchskapazitäten“ vgl. OLG Koblenz NStZ 2002, 529 M. § 24 Abs. 1 begründet für Ehegatten, die sich als Strafgefangene in verschiedenen Anstalten befinden, keinen Rechtsanspruch auf monatliche Zusammenführung zu Besuchszwecken (Laubenthal 2008 Rdn. 520; BVerfG NStZ-RR 2001, 253; OLG Koblenz NStZ 1998, 398). Die Anordnung, wonach inhaftierte Ehegatten zu Besuchszwecken alle vier Monate einmal zusammengeführt werden, ist jedoch rechtlich nicht zu beanstanden (OLG München ZfStrVo SH 1979, 35). Die Frage, ob beim Besuch von Ehepartnern (im Anstaltsgebäude) auch die Möglichkeit eines Intimverkehrs (etwa im Rahmen von Langzeitbesuchen: zu den LZB vgl. Rdn. 16) eingeräumt werden soll (im Volksmund „Liebeszellen“ genannt), wird seit langem kontrovers diskutiert (grundsätzlich z. B. dafür: AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 21; dagegen: OLG Schleswig ZfStrVo 1981, 64; OLG Hamm NStZ 1984, 432; OLG Koblenz NStZ 1998, 398); das StVollzG enthält keine Hinweise, schließt die Möglichkeit aber auch nicht aus (vgl. auch § 27 Rdn. 7). Nach K/S-Schöch 2002 (§ 7 Rdn. 99) sollen sie unter den Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 zulässig sein; diesem Ergebnis kann vor dem Hintergrund des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1) zugestimmt werden (so auch Laubenthal 2008 Rdn. 520; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 112 und 301).
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5. Abs. 2 verpflichtet die Anstalt in bestimmten Fällen zur Gewährung weiterer Besuche. a) Im Gegensatz zu den zeitlich begrenzten Besuchen des Abs. 1 wollte der Gesetzgeber (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 58) dem Gefangenen jedoch auf solche keinen Rechtsanspruch einräumen (OLG Hamm BlStV 6/1993, 5; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 18), was sich aus dem Wortlaut („sollen“) ergibt (so auch Arloth 2008 Rdn. 5; OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 107; OLG Hamburg ZfStrVo 2005, 55). Die Anstalt kann also über weitere Besuche nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Für einen Rechtsanspruch plädieren C/MD 2008 Rdn. 4; OLG München ZfStrVo 1994, 371 = NStZ 1994, 560 mit abl. Besprechung Bringewat BewHi 1995, 122. Zur Ermessensausübung durch die Behörde § 115 Rdn. 20. Solche „Sonderbesuche“ stoßen aber wiederum häufig an die Grenzen des in der Anstalt Möglichen (Böhm 2003 Rdn. 261). Die Anstalt sollte gleichwohl vor allem bei solchen Gefangenen großzügig verfahren, für die der Besuch die einzige Kontaktmöglichkeit mit Personen außerhalb der Anstalt darstellt oder deren Eingliederung aus anderen Gründen im besonderen Maße von Besuchen abhängig ist (RegE aaO; s. auch Rdn. 1 und 11 sowie C/MD 2008 Rdn. 4).
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b) In Bezug auf die Zulassung weiterer Besuche werden in Abs. 2 zwei Fallgruppen unterschieden: solche Besuche, die die Eingliederung oder Behandlung des Gefangenen fördern (vor allem Besuche von Bezugspersonen des Gefangenen, Rdn. 1), und solche, die der Regelung von persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten des Gefangenen dienen. Für die erste Fallgruppe kommen zunächst Ehegatten (mit Kindern) in Frage. Insoweit ist es auch zulässig verheiratete Inhaftierte zu bevorzugen (Laubenthal 2008 Rdn. 507; OLG Dresden NStZ 1998, 159). Das ergibt sich aus der aus Art. 6 Abs. 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht des Staates für Ehe und Familie (mit Kindern). Es kann deshalb grundsätzlich nicht ermessenfehlerhaft sein, schematisch auf den Familienstand des Strafgefangenen abzustellen (a. A. OLG Frankfurt NStZ 2008, 261). Das gilt nur dann nicht, wenn es um nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern und insoweit um die Förderung wiederum der elterlichen Beziehungen geht (OLG Bamberg NJW 1995, 304). Das OLG München (aaO Rdn. 14) will sogar einen Rechtsanspruch auf einen „Zweitbesuch“ der „Freundin“ einräumen. Richtig kann das im Einzelfall nach dem Sinngehalt des Abs. 2 allerdings lediglich dann sein, wenn solche Besuche etwa nach der Einschätzung des Sozialdienstes die Behandlung oder die Eingliederung des Gefangenen fördern (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 4); solche weiteren Besuche können aber nur nachrangig gewährt werden und nur dann, wenn die Verhältnisse der Anstalt (personell und räumlich) eine Rangfolge fordern. Weitere Besuche sollen nach OLG Hamm (ZfStrVo 1999, 308) nicht in Betracht kommen, wenn die Lebensgefährtin eines Strafgefangenen, die eine Besuchserlaubnis beantragt, noch mit einer anderen Person verheiratet ist. Die Zulassung der Besuche der zweiten Fallgruppe, die der Regelung bestimmter Angelegenheiten des Gefangenen dienen, wird davon abhängig gemacht, dass diese nicht vom Gefangenen selbst schriftlich – oder (auf schriftlichem Wege) durch Dritte – erledigt werden können, oder ein Hinausschieben bis zur Entlassung nicht als vertretbar erscheint (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 19). Ein Hinausschieben auf den Entlassungszeitpunkt sollte jedoch nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen erfolgen, weil sich nach allen Erfahrungen in der Nähe des Entlassungstages ohnehin schon zahlreiche Probleme ergeben, die die vom Gesetzgeber erstrebte Wiedereingliederung des Gefangenen gefährden können (i.d.S. auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 21).
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c) Als Sonderfall des Abs. 2 sind auch die unüberwachten (Familien-)Langzeitbesuche (vgl. oben Rdn. 13) einzuordnen (OLG Hamm ZfStrVo 1999, 308; OLG Stuttgart
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ZfStrVo 2004, 51; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 99). Solche Intimbesuche werden unter bestimmten Voraussetzungen z. B. seit 1984 in der JVA Bruchsal (vgl. Preusker ZfStrVo 1989, 147 ff) sowie seit 1990 in der JVA Werl und in der JVA Geldern (vgl. Buchert/Metternich/Hauser 1995, 259 ff), und zwar in sog. Langzeitbesuchsräumen gestattet (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 112 und 301 = NStZ-RR 2006, 154). Urlaubs- und Ausgangsmöglichkeiten haben aber diese Problematik heute grundsätzlich entschärft (ähnlich Calliess 1992, 159; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 99; OLG Hamm ZfStrVo 1999, 308). Einen Rechtsanspruch auf die Gewährung von Intimbesuchen gibt es jedoch nicht (BVerfG NStZ-RR 2001, 253; OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 53; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 25; OLG München NStZ 1994, 560): weder für verheiratete Strafgefangene noch für solche mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften (OLG Koblenz NStZ 1998, 398; OLG Hamm aaO; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 99). Ausdrücklich vorgesehen sind LZB jetzt in § 26 Abs. 4 HmbStVollzG, jedoch ebenfalls ohne Rechtsanspruch („kann“; vgl. Rdn. 7 zu § 23). Zum Ermessensspielraum des Anstaltsleiters vgl. OLG Hamm BlStV 3/1995, 1. Eine Ablehnung der Zulassung einer außerehelichen Lebensgefährtin ist auch dann ermessensfehlerfrei, wenn Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Ehe des Gefangenen noch substanziellen Bestand hat und nicht nur „auf dem Papier besteht“ (OLG Hamm ZfStrVo 1999, 308). Das OLG Hamm (aaO) betont im Übrigen zutreffend für den Fall beschränkter räumlicher Kapazitäten den Vorrang der Ehefrau vor einer außerehelichen Lebensgefährtin (so auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 100; OLG Koblenz ZfStrVo 2006, 112 und 301). Die Ungeeignetheit für einen LZB kann sich daraus ergeben, dass gegen den Strafgefangenen und seine Ehefrau, die ihn besuchen möchte, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, weil in diesem Fall die Gefahr besteht, dass der (unüberwachte) LZB zu unerlaubten Absprachen missbraucht wird (OLG München 29.7.1994, 3 Ws 68/94; OLG Hamburg ZfStrVo 2005, 55). Soweit der Strafgefangene die Fortsetzung einer LZB-Erlaubnis mit einer neuen Partnerin begehrt, ist er neu zu bescheiden: kein Bestandsschutz (KG Berlin 27.3.06 – Ws 118/06). In Betracht kommen die LZB eher für die Langstrafigen bzw. für die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen oder solche Gefangene, die auf absehbare Zeit keine Aussicht auf die Gewährung einer Vollzugslockerung haben (Böhm 2003 Rdn. 269; ausführlich zum Meinungsstreit sowie zu ausländischen Erfahrungen: Neibecker 1984, 335 und Britz 1998, 74 ff). Für solche wird von Teilen des Schrifttums, ausnahmsweise doch ein Rechtsanspruch auf die Ermöglichung von Sexualkontakten bejaht (C/MD 2008 Rdn. 8 zu § 27; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 25; Laubenthal 2008 Rdn. 520). Dessen Durchsetzung hängt jedoch wiederum von den vorhandenen Raumkapazitäten ab (OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 51) und von der Art der Gestaltung, zu der gehört, dass der Zugang zu den Räumen für Mitgefangene nicht einsehbar ist (so Laubenthal 2008 Rdn. 523). Ein Ausschluss ist z. B. bei begründetem Verdacht des Rauschmittelkonsums zulässig (OLG Hamm NStZ 1995, 381) oder wegen Überbeanspruchung der entsprechenden Besuchsräume (OLG Hamm BlStV 6/1993, 5) oder wenn der Gefangene die Beteiligung an Behandlungsmaßnahmen bzw. die Mitarbeit am Vollzugsziel verweigert (OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 53; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 60; vgl. auch Rdn. 9 zu § 4): etwa sich weigert, Einzelgespräche mit dem psychologischen Dienst zu führen oder an einer Gruppentherapie teilzunehmen. Das gilt auch dann, wenn die mangelnde Mitwirkung darauf beruht, dass der Gefangene die Begehung der Straftat, die der Vollstreckung zugrunde liegt, leugnet; denn die Unschuldsvermutung endet mit der Rechtskraft der Verurteilung (OLG Stuttgart ZfStrVo 2004, 51). 6. Abs. 3: die Vorschrift gestattet eine Durchsuchung (zu der auch die inhaltliche 17 Überprüfung von Schriftstücken gehört) des Besuchers nur aus Gründen der Sicherheit, nicht der Ordnung der Anstalt (zum Einschmuggeln von Alkohol OLG Celle StV 1986, 396 und ZfStrVo 1987, 185 mit krit. Anm. von Bungert NStZ 1988, 526; Rdn. 5 zu § 25; wegen
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dieser Rechtsprechung sind Durchsuchungen in Bayern (Art. 24 Abs. 3 BayStVollzG; vgl. Rdn. 22) und Niedersachsen (§ 25 Abs. 3 NJVollzG; vgl. Rdn. 8 zu § 23) jetzt auch aus Gründen der Ordnung zulässig). Die Vorschrift entspricht dem Bedürfnis der Praxis, in „extremen Fällen“ (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 58) sicherstellen zu können, dass keine Waffen oder andere sicherheitsgefährende Gegenstände (etwa Ausbruchswerkzeuge) oder Schriftstücke mit sicherheitsgefährdendem Inhalt (vgl. SA, BT-Drucks. 7/3998, 14) in die Anstalt eingeschmuggelt werden (bzgl. Verteidiger vgl. Rdn. 7 f zu § 26). Durchsuchungen können aus Sicherheitsgründen insbesondere z. B. in solchen Anstalten angebracht sein, in denen Terroristen, Täter aus dem Kreis des organisierten Verbrechens oder (andere) gefährliche Gefangene einsitzen: in solchen Fällen ist auch die Anordnung der Anstalt, aus Sicherheitsgründen alle Besucher (auch hauptamtliche Bewährungshelfer) einer Durchsuchung zu unterziehen, nicht zu beanstanden. Einer Einzelanordnung des Anstaltsleiters bedarf es dazu also nicht (OLG Hamm NStZ 1981, 277; Arloth 2008 Rdn. 5). Auch die Anordnung des Anstaltsleiters, keine Besucher in den im Eingangsbereich eingerichteten Warteraum einzulassen (vgl. oben Rdn. 2), die nicht vorher entsprechend durchsucht worden sind, verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 1 GG (BVerfG Vorprüfungsausschuss ZfStrVo 1982, 377). Die Durchsuchung des Besuchers erstreckt sich (wie bei Personenkontrollen z. B. auf Flughäfen) nur auf das Abtasten der Kleidung und den Einsatz von Metalldetektoren (Absondung), auch im Rahmen einer Sicherheitsschleuse (C/MD 2008 Rdn. 6; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 22; vgl. dazu OLG Nürnberg NJW 2002, 694). Eine mit völliger Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung würde hingegen in der Regel gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 81 Abs. 2) verstoßen und den durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeits- und Intimbereich tangieren (Laubenthal 2008 Rdn. 510; Arloth 2008 Rdn. 6). Das gilt jedoch nicht für Anstalten mit hohem Sicherheitsgrad, in denen auch eine generelle Durchsuchungsanordnung verhältnismäßig sein kann bzw. zulässig ist (OLG Nürnberg StV 2002, 669; C/MD 2008 Rdn. 6). Lehnt ein Besucher es ab, sich durchsuchen zu lassen, ist der Besuch abgelehnt (OLG Hamm NStZ 1981, 277; Laubenthal 2008 Rdn. 510; C/MD 2008 Rdn. 6 und § 84 Rdn. 2 und 7). Zwang darf gegen den Besucher nicht ausgeübt werden (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 22; Arloth 2008 Rdn. 6). Im geschlossenen Vollzug ist es heute weitgehend üblich, auch den Gefangenen (auch solchen islamischen Glaubens, § 84 Rdn. 7) vor und/oder nach dem Besuch durchsuchen zu lassen (Böhm 2003 Rdn. 260; vgl. auch § 84 Rdn. 2 ff und Kreuzer StV 2006, 163), und zwar (wenn Anlass besteht) gründlicher als den Besucher. In Betracht kommen insoweit auch Kontrollen (durch „Einblick“) der Achsel- und Mundhöhlen sowie die Durchleuchtung der Schuhe mit Röntgengerät (Böhm aaO). Liegen im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gefangene dort verbotene Gegenstände versteckt hat, muss er auch die Unterwäsche ausziehen (Böhm aaO); sonst nicht (OLG Hamburg ZfStrVo 2005, 315). Nach der Rspr. des LG Hamburg (ZfStrVo 2000, 253) sollen sich die Kontrollen bei einem als Sicherheitsrisiko eingestuften Gefangenen sogar auf den Darmausgang erstrecken können (dazu § 84 Rdn. 7).
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7. Sonderregelungen bestehen für kranke Gefangene (vgl. VV Nr. 4) und für ausländische Gefangene (vgl. VV Nr. 5). Zu Dolmetscherkosten vgl. BVerfG ZfStrVo 2004, 46.
III. Beispiel 19
Der Journalist H. hat im Oktober 1981 den Pressereferenten des niedersächsischen Justizministeriums um Genehmigung für ein Interview mit dem im Hochsicherheitstrakt der JVA Celle I einsitzenden Neo-Nationalsozialisten K. gebeten. Dieses Interview sollte im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt abgedruckt werden. Der Pressereferent setzte sich
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Recht auf Besuch
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mit dem Leiter der JVA Celle in Verbindung, informierte ihn über den Wunsch des Journalisten und bat um Klärung, ob der Gefangene K. bereit sei, ein Interview zu geben. Im November 1981 teilte der Anstaltsleiter dem Pressereferenten telefonisch mit, dass K. zu einem Interview bereit sei; er machte gegen das Interview keine Bedenken geltend, erklärte lediglich, dass er gegebenenfalls das Gespräch überwachen werde und dass der Journalist H. mit ihm einen Termin abstimmen möge. Dementsprechend wurde der Journalist H. durch den Pressereferenten des Justizministeriums unterrichtet. Im Dezember wurde das Interview im Besucherzimmer der Anstalt in Anwesenheit des Anstaltsleiters durchgeführt und am 14.2.1982 veröffentlicht: es enthielt auch rechtsextremistische Propaganda und ausländerfeindliche Hinweise. Die Genehmigung des Interviews (zur Ablehnung vgl. § 109 Rdn. 10) stieß deshalb in der Öffentlichkeit auf Kritik. Wie ist die Rechtslage? 1. Zur Beurteilung von Journalistenbesuchen Nach der Rechtsprechung des OLG Hamm (ZfStrVo SH 1979, 37 = MDR 1979, 428) und 20 des OLG Stuttgart (ZfStrVo SH 1979, 35) sowie des OLG Celle (BlStV 1/1991, 3) sollen die Vorschriften der §§ 23 ff StVollzG auch auf Journalistenbesuche Anwendung finden (so C/MD 2008 Rdn. 5 zu § 23; vgl. auch oben Rdn. 7). Da das Grundrecht auf Informationsbeschaffung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), auf das sich oft Journalisten berufen, den §§ 23 ff nicht vorgeht (Arloth 2008 Rdn. 4; vgl. C/MD 2008 Rdn. 5 zu § 23 und Marx 1982, 123), kann der Anstaltsleiter den Besuch untersagen, wenn durch diesen die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet würde (§ 25 Nr. 1) oder (vgl. dazu Rdn. 7 zu § 25) wenn zu befürchten ist, dass der Besucher einen „schädlichen Einfluss“ (vgl. dazu KG BlStV 4/5/1999, 7) auf den Gefangenen ausüben oder seine „Eingliederung behindern würde“ (Nr. 2): vgl. dazu Rdn. 2 und 7 zu § 25 und KG NStZ 1998, 479. Da der Anstaltsleiter (der damaligen JVA Celle I) insoweit keine Bedenken hatte, stellt sich die Frage, ob der Justizminister des Landes (bzw. sein Pressereferent für ihn) befugt war, die Entscheidung in diesem konkreten Einzelfall an sich zu ziehen. 2. Kann der (Landes-) Justizminister (bzw. sein Pressereferent) anstelle des Anstaltsleiters entscheiden? Zu differenzieren ist zwischen dem Selbsteintrittsrecht des Justizministers und seinem 21 Durchgriffsrecht. Ein Selbsteintrittsrecht des Justizministers (d. h. ein Ansichziehen der Entscheidungsbefugnis in allen Fällen z. B. in einer AV) besteht nach der Rechtsprechung nicht (vgl. OLG Hamm aaO; OLG Stuttgart aaO; C/MD 2008 Rdn. 1). Hingegen wird ein Durchgriffsrecht eingeräumt, d. h. das Recht des Justizministers, die Entscheidungsbefugnis im Ausnahmefall an sich zu ziehen. Das folgt zwangsläufig aus der Weisungsbefugnis der übergeordneten gegenüber den nachgeordneten Behörden sowie aus dem hierarchisch gegliederten Aufbau der Justizvollzugsverwaltung, von der das Strafvollzugsgesetz ausgeht (so auch OLG Hamburg NStZ 1981, 237 und 406; OLG Frankfurt 27.5.1981 – 3 Ws 297/81). Von diesem Durchgriffsrecht hätte im Falle des Interviews in der JVA (Celle I) für das „Allgemeine Deutsche Sonntagsblatt“ Gebrauch gemacht werden können; nach der Presse-AV des Nds. Justizministeriums war der Pressereferent zum Durchgriff befugt: er hat jedoch auf den Durchgriff verzichtet, um im Rahmen einer liberalen Handhabung im Journalisteninteresse ein Experiment zu wagen. Die Reaktionen auf das Interview sind auch nicht nur negativ ausgefallen. So hat für die „Evangelische Kirche in Deutschland“ (EKD), die das Sonntagsblatt finanziell unterstützte, ihr Sprecher erklärt, das Interview mit K. stelle eine interessante und bemerkenswerte publizistische Leistung dar. Für die Öffentlichkeit biete das Interview einen wichtigen Einblick in die Gedankenwelt K.’s. Es sei zwar problematisch, einen verur-
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teilten Neonazi zu Wort kommen zu lassen, das Sonntagsblatt habe K. jedoch keine Plattform zur Darstellung seiner politischen Vorstellungen geboten, sondern das Interview sinnvoll durch entsprechende Kommentare ergänzt. Zum Selbsteintritts- und Durchgriffsrecht vgl. auch Rdn. 5 oben, § 97 Rdn. 5, § 105 Rdn. 3, vor §§ 151 ff Rdn. 2 f. Zum Thema „Der Untersuchungshäftling als Interviewpartner“ vgl. Nehm NStZ 1997, 305 ff.
IV. Landesgesetze 22
1. Bayern Art. 27 Abs. 1 und 2 sind bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung mit § 24 Abs. 1 und 2 StVollzG identisch. Abs. 3 wurde verändert und lautet wie folgt: „Aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt kann ein Besuch davon abhängig gemacht werden, dass sich die Besucher durchsuchen oder mit technischen Mitteln oder sonstigen Hilfsmitteln auf verbotene Gegenstände absuchen lassen“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu (LT-Drucks. 15/8101, 56): „Im Hinblick auf die Entscheidung des OLG Celle vom 21. Mai 1986 (ZfStrVo 1985), wonach das Einschmuggeln von Alkohol in eine Justizvollzugsanstalt nur deren Ordnung, nicht aber deren Sicherheit berühre, wurde Abs. 3 dahingehend ergänzt, dass auch Ordnungsinteressen eine Durchsuchung rechtfertigen können. [. . .] Der Begriff der Durchsuchung entspricht dem des Polizei- und Strafprozessrechts. Darunter fällt auch das Absuchen von Besuchern nach Metallgegenständen mit einem Detektorrahmen oder einer Handdetektorsonde. Gleiches gilt für den Einsatz von passiv verweisenden Rauschgiftspürhunden.“
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2. Hamburg Geregelt in § 26 HmbStVollzG, vgl. dazu § 23 Rdn. 7.
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3. Niedersachsen Geregelt in § 25 NJVollzG, vgl. dazu § 23 Rdn. 8.
§ 25 Besuchsverbot Der Anstaltsleiter kann Besuche untersagen, 1. wenn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. bei Besuchern, die nicht Angehörige des Gefangenen im Sinne des Strafgesetzbuches sind, wenn zu befürchten ist, dass sie einen schädlichen Einfluss auf den Gefangenen haben oder seine Eingliederung behindern würden. Schrifttum: s. bei § 23
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Erste Fallgruppe: Gefährdung der Sicherheit und Ordnung (Nr. 1) . 2. Zweite Fallgruppe: Schädlicher Einfluss oder Behinderung der Eingliederung (Nr. 2) . . . . . . a) Schädlicher Einfluss . . . . .
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1 2–10 4–6
7–10 8
Rdn. b) Behinderung der Eingliederung . . . . . . . c) Das Angehörigenprivileg III. Landesgesetze . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . .
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. . . . .
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. 9 . 10 . 11–13 . 11 . 12 . 13
Besuchsverbot
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I. Allgemeine Hinweise Der § 25 ermächtigt den Anstaltsleiter, unter bestimmten Voraussetzungen Besuche zu 1 untersagen. Der Gesichtspunkt der Sicherheit oder Ordnung (§ 81 Rdn. 7) soll dabei nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 58) den Aufgaben des Vollzugs entsprechend „notwendig gegenüber allen Bereichen durchdringen“ (so RegE aaO; ebenso SA, BT-Drucks. 7/3998, 14). Vor dem Hintergrund des § 81 Abs. 2 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) und des Grundsatzes des geringsten Eingriffs kann ein Besuchsverbot jedoch nur als ultima ratio in Frage kommen (Laubenthal 2008 Rdn. 509). Als weniger einschneidende (mildere) Maßnahme kommt z. B. die Anordnung von akustisch überwachtem Einzelbesuch (§ 27 Abs. 1) in Betracht (OLG Frankfurt ZfStrVo 1988, 112; OLG Nürnberg NStZ 1999, 445 M; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 2).
II. Erläuterungen Bei der Entscheidung des Anstaltsleiters aufgrund der Kann-Bestimmung des § 25 2 handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Voraussetzung dieser Ermessensentscheidung ist, dass zu befürchten ist, dass der Besucher durch einen Besuch des Gefangenen Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde (Nr. 1) oder einen schädlichen Einfluss ausüben oder die Eingliederung des Gefangenen „behindern“ würde (Nr. 2). Bei den Beschränkungsgründen „schädlicher Einfluss“ (Rdn. 8) und „Behinderung der Eingliederung“ (Rdn. 9) handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe (vgl. § 115 Rdn. 21 ff), also solche, die der vollständigen Nachprüfung durch das Gericht unterliegen (RegE aaO Rdn. 1; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 43; KG NStZ 1998, 479). Erst die Entscheidung über die Rechtsfolge (Untersagung des Besuchs) ist eine Ermessensentscheidung (C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 2; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 37; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1987, 304; § 115 Rdn. 19 ff). Ein generelles Besuchsverbot ist ermessensfehlerhaft, wenn Gefahren für die Sicher- 3 heit oder Ordnung der Anstalt oder die Befürchtung eines schädlichen Einflusses bzw. der Behinderung der Eingliederung nicht in Bezug auf jeden Gefangenen gegenüber der JVA bestehen (C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 509; OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 186). Indiz kann die Verbreitung unwahrer Behauptungen über die Anstaltsverhältnisse durch den Vertreter einer politischen Partei sein (vgl. OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 186); zum sog. Kontaktsperregesetz vgl. Rdn. 5 zu § 26. 1. Nr. 1: Selbst wenn die Befürchtung besteht, dass der Besuch die Sicherheit oder Ord- 4 nung der Anstalt gefährden könnte, kann der Anstaltsleiter den Besuch gestatten, sofern er das damit verbundene Risiko verantworten will (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Unter den Voraussetzungen der Nr. 1 kann der Anstaltsleiter auf der anderen Seite grundsätzlich auch (sofern seine Entscheidung nicht unverhältnismäßig ist) jeden Besuch untersagen: selbst den von Angehörigen des Gefangenen (Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. dazu auch LG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 42 und LG Bayreuth ZfStrVo 1991, 242f), nicht aber den von Verteidigern, Rechtsanwälten und Notaren (§ 26 Satz 1). Sicherheit oder Ordnung der Anstalt können z. B. gefährdet sein, wenn sich aus angehaltenen Briefen ergibt, dass die Weitergabe von Informationen über einen Hunger- und Durststreik anderer inhaftierter Gefangener befürchtet werden muss, oder bei der Weitergabe verschlüsselter Verhaltensanweisungen aus dem terroristischen Bereich (LG Hannover 4.12.1978 – 53 StVK 80/78). Besuchsverbot können auch solche Personen erhalten, die außerhalb der Anstalt (ernsthaft) versucht haben, Angehörige von Bediensteten zu bedrohen, wenn dieses Verhalten Hans-Dieter Schwind
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darauf abzielte, den Bediensteten einzuschüchtern und dadurch zu Pflichtverstößen zu verleiten (OLG Koblenz BlStV 4/5/1990, 8 = ZfStrVo 1991, 313). 5 Eine Gefährdung der Ordnung kommt in Betracht, wenn ein betrunkener Besucher die Anstalt betreten will (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3; vgl. auch Rdn. 17 zu § 24) oder ein Drogenverdächtiger (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 3). Die Ordnung der Anstalt kann ferner z. B. auch durch das Einschmuggeln von Nahrungs- und Genussmitteln, insbesondere von Alkohol (dazu auch Rdn. 17 zu § 24) gefährdet werden. 6 Ob die Sicherheit und (oder) Ordnung dadurch gefährdet sein kann, dass ein früherer Mitgefangener (oder Tatgenosse) einen Gefangenen besuchen will, ist umstritten. Grunau/Tiesler (1982 Rdn. 1) stellen fest, dass ein solcher Besuch als generell „sicherheitsgefährdend“ gilt. AK-Joester/Wegner (2006 Rdn. 3) vertreten hingegen die Auffassung, dass das „nicht generell unterstellt“ werden könnte. Richtig ist, die Zulassung solcher Besuche besonders sorgfältig zu prüfen (so auch C/MD 2008 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 3). Dabei wird es sowohl auf die Person des Gefangenen (z. B. Vorleben, Zahl und Art seiner Vorstrafen, Vollzugsverhalten, Stand der Vollstreckung, Vollzugslockerungen, Beziehungen zur Außenwelt) als auch auf die Person des Besuchers (z. B. Zahl und Art der Vorstrafen, (früheres) Vollzugsverhalten, Entlassungszeitpunkt, Verhalten nach der Entlassung, soziale Integration nach der Entlassung, neue Straftaten) sowie auf die Beziehung zwischen dem Gefangenen und dem Besucher und unter Umständen auch auf den Zweck des Besuches ankommen können (OLG Nürnberg ZfStrVo 1983, 124 ff; OLG Zweibrücken NStZ 1987, 304). Dafür kann die Einholung weiterer Auskünfte der JVA oder die Beiziehung von Strafakten über den Gefangenen und seinen Besucher erforderlich sein (OLG Nürnberg aaO; Arloth 2008 Rdn. 3). Durch Rspr. ausgeschlossen ist, dass der Justizminister die in § 26 vorgesehene Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters generell an sich zieht (OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 37: kein Selbsteintrittsrecht des Justizministers; zum Selbsteintrittsrecht vgl. § 24 Rdn. 21).
7
2. Nach Nr. 2 der Vorschrift kann ein Besuch vom Anstaltsleiter auch dann untersagt werden, wenn zu befürchten ist, dass der Besucher einen schädlichen Einfluss auf den Gefangenen ausüben oder seine Eingliederung behindern würde. Für die Frage, ob solche Einwirkungen zu befürchten sind, kommt es (wiederum: wie bei Rdn. 6) sowohl auf die persönlichen Eigenschaften des Gefangenen als auch auf die Person des Besuchers sowie auf den Besuchszweck an (C/MD 2008 Rdn. 3) an. Insoweit sind jedoch objektiv fassbare Anhaltspunkte i. S. der in § 25 genannten Befürchtungen erforderlich, um ein Besuchsverbot zu rechtfertigen (OLG Nürnberg NStZ 1999, 445 M). Die Beweislast für die Umstände, die einen schädlichen Einfluss auf den Insassen befürchten lassen, trägt die Anstalt (Böhm 2003, Rdn. 267). Beide in der Nr. 2 genannten Befürchtungen können z. B. bestehen, wenn damit zu rechnen ist (etwa aufgrund des Schriftverkehrs), dass ein Journalist einen Gefangenen mit Hilfe des Interviews (vgl. Rdn. 7 zu § 24) z. B. in einer verfassungsfeindlichen Haltung bestärken würde (vgl. OLG Celle BlStV 1/1991, 3). Ob eine solche beim Gefangenen vorliegt, kann sich z. B. aus einschlägigen Vorverurteilungen ergeben. Im Zweifel kann dem Journalisten nahe gelegt werden, die Fragen, die er dem Gefangenen stellen möchte, der Vollzugsbehörde vorher bekanntzugeben. Eine unzulässige Vorzensur liegt insoweit nicht vor (vgl. OLG Schleswig ZfStrVo SH 1977, 20). Einen allgemeinen Erfahrungssatz, nach dem die Eingliederung eines Gefangenen durch den Besuch eines Journalisten behindert wird, gibt es im Übrigen nicht (KG NJW 1998, 3367; C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3; Matthes 2005, 230 ff; aus journalistischer Sicht Tolmein 1997, 246 ff).
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a) Unter schädlichem Einfluss ist eine Einwirkung auf den Gefangenen zu verstehen, die ihn zu weiteren Straftaten anregen kann (RegE, BT-Drucks. 7/918, 58; § 17 Rdn. 6).
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Besuchsverbot
§ 25
Der Begriff umfasst alle Einwirkungen, die dem in § 2 festgesetzten Ziel der Behandlung entgegengesetzt sind, den Gefangenen zu einer künftigen straffreien Lebensführung in sozialer Verantwortung zu bringen (RegE aaO; § 2 Rdn. 12 ff; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 4; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 4). So erscheint die Befürchtung des Anstaltsleiters, Personen, die einen Gefangenen besuchen wollen, würden auf diesen einen schädlichen Einfluss ausüben, dann gerechtfertigt, wenn sie einer Gruppe mit vollzugsfeindlicher Tendenz angehören. Anonyme Hinweise allein genügen nicht (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Frankfurt StV 1994, 431 mit Anm. Bemmann). Bei der Entscheidung über das Besuchsverbot darf auch berücksichtigt werden, dass gegen diese Person ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen § 129a StGB anhängig ist (LG Lübeck ZfStrVo SH 1978, 27). Unter den Gesichtspunkten des Abs. 1 reicht für die Untersagung des Besuches auch ein durch Tatsachen (z. B. aus Briefen des Besuchers) belegbarer, dringender Verdacht aus, der Besucher verfolge die Absicht, bei dem Gefangenen eine generell feindselige und aufrührerische Haltung gegen die Vollzugsbehörde oder andere staatliche Institutionen hervorzurufen oder zu stärken (C/MD 2008 Rdn. 3); solche Feststellungen bedürfen aber der Substantiierung (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 125). Bei Überzeugungstätern reicht die Befürchtung aus, dass der Besucher dem Gefangenen Anlass gibt (z. B. in einem Interview: vgl. dazu das Beispiel Rdn. 19 zu § 24), vollzugsfeindliche Aktivitäten zu entfalten (OLG Celle BlStV 1/1991, 3). Im Übrigen genügt jedoch auch insoweit ein durch konkrete Tatsachen belegbarer dringender („begründeter“) Verdacht (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 112; ZfStrVo 1988, 188; OLG Nürnberg NStZ 1999, 445 M; Arloth 2008 Rdn. 5; a. A. AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 4), der Besucher wolle im Gefangenen eine feindselige Haltung gegen den Vollzug hervorrufen oder ihn in einer solchen Haltung bestärken (OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 188; KG BlStV 1/1984, 6). Unerheblich ist es, ob der Gefangene überhaupt noch schädlich zu beeinflussen ist (OLG Nürnberg aaO; Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. OLG Saarbrücken NStZ 1987, 95). b) Der Begriff der Behinderung der Eingliederung ist gegenüber dem des „schäd- 9 lichen Einflusses“ weiter gefasst; er umfasst alle (negativen) Einflussnahmen, die den Bemühungen entgegenstehen, die darauf gerichtet sind, dass sich der Gefangene nach der Entlassung in seine Familie, in seinen Beruf, in seine wirtschaftlichen Beziehungen und andere noch in Betracht kommende Bereiche wieder einordnet (RegE, BT-Drucks. 7/918, 58; KG NJW 1998, 3367; C/MD 2008 Rdn. 2). Der Gesetzgeber hat diese Fassung gewählt, weil die Vollzugsbehörde Besuche mit bestimmten Personen schon versagen können soll, wenn die Eingliederung behindert würde, aber eine Erheblichkeit für eine künftige straffreie Lebensführung nicht oder nur schwer nachzuweisen ist. Denn ein solcher Nachweis im strengen Sinne kann nicht in allen berechtigten Fällen geführt werden (RegE aaO). Wenn AK-Joester/Wegner 2006 (Rdn. 4) diesen „Beweis“ dennoch verlangen, entfernen sie sich vom Willen des Gesetzgebers (zum Vollzugsziel § 2 Rdn. 12 ff). c) Angehörigenprivileg: Der Besuch von Angehörigen darf allerdings nur im Falle der 10 Gefährdung von Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (vgl. Rdn. 4) untersagt werden. Der Gesetzgeber hat diese Regelung mit Rücksicht auf die grundrechtlich geschützte Stellung der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) getroffen (RegE aaO Rdn. 9); deshalb ist an die Voraussetzungen ein strenger Maßstab anzulegen (C/MD 2008 Rdn. 1). Der Kreis der Angehörigen ist aus Gründen der Rechtsklarheit gesetzlich definiert worden, und zwar durch Übernahme des Angehörigenbegriffs des Strafgesetzbuches (RegE aaO). Wer danach Angehöriger ist, ergibt sich aus § 11 Abs. 1 Nr. 1a und b StGB: Ehegatten, Verwandte in gerader Linie (Eltern, Großeltern, Kinder, Enkel), Verschwägerte in gerader Linie (Schwiegergroßeltern, Schwiegereltern, Stiefeltern, Stiefkinder), Geschwister (auch Halbgeschwister, Adoptivgeschwister),
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Ehegatten der Geschwister, Geschwister der Ehegatten, Pflegeeltern und Pflegekinder und Verlobte. Ein Verlöbnis ist das ernsthafte Versprechen, mit dem Partner die Ehe eingehen zu wollen; es muss glaubhaft gemacht werden und darf nicht sittenwidrig sein (C/MD 2008 Rdn. 1): deshalb ist der Zuhälter kein Verlobter im Sinne des § 25. Keine Angehörigeneigenschaft sollen nach Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3 auch diejenigen besitzen, die nur in einem eheähnlichen Verhältnis zusammenleben und erklärtermaßen an eine Eheschließung nicht denken. Diese Auffassung dürfte auch der des Gesetzgebers entsprechen, weil dieser den Kreis der Angehörigen aus Gründen der Rechtsklarheit (vgl. oben) möglichst fest umrissen sehen wollte und daher auch auf den Begriff der „nahestehenden Person“ (in § 24) verzichtet hat (SA, BT-Drucks. 7/3998, 12). Besuche von minderjährigen Angehörigen des Gefangenen können dann untersagt werden, wenn es sich um Opfer eines vom Gefangenen vielfach verübten Missbrauchs von Kindern handelt (OLG Nürnberg ZfStrVo 1999, 182 mit krit. Anm. von Rixen ZfStrVo 2001, 278; Arloth 2008 Rdn. 5).
III. Landesgesetze 11
1. Bayern Art. 29 BayStVollzG ist wortgleich mit § 25 StVollzG.
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2. Hamburg Der Wortlaut des § 25 StVollzG findet sich wieder in § 26 Abs. 6 HmbStVollzG (vgl. dazu § 23 Rdn. 7).
13
3. Niedersachsen § 26 NJVollzG wiederholt den Text von § 25 StVollzG.
§ 26 Besuche von Verteidigern, Rechtsanwälten und Notaren Besuche von Verteidigern sowie von Rechtsanwälten oder Notaren in einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache sind zu gestatten. § 24 Abs. 3 gilt entsprechend. Eine inhaltliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeführten Schriftstücke und sonstigen Unterlagen ist nicht zulässig. § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 bleibt unberührt. VV (1) Der Verteidiger muss sich als solcher gegenüber der Anstalt durch die Vollmacht des Gefangenen oder die Bestellungsanordnung des Gerichts ausweisen. Rechtsanwälte und Notare haben nachzuweisen, dass sie den Gefangenen in einer ihn betreffenden Rechtssache besuchen wollen. (2) Rechtsanwälte, Notare, Rechtsbeistände und Rechtsreferendare haben ihre Eigenschaft auf Verlangen nachzuweisen. Schrifttum: s. bei § 23
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§ 26
Besuche von Verteidigern, Rechtsanwälten und Notaren
Übersicht Rdn. I. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Besuche von Verteidigern, Rechtsanwälten oder Notaren grundsätzlich ohne Einschränkung (Satz 1) . a) möglichst in der üblichen Dienstzeit . . . . . . . . . . . b) nur zum Zwecke der Besprechung der den Gefangenen betreffende Rechtssachen . . . c) inhaltliche Begrenzung des . . Verkehrsrechts . . . . . . . . .
1–13
1–6 2
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Rdn. d) Ausweispflicht . . . . . . . 2. Durchsuchung (Satz 2) . . . . 3. Sonderstellung des Verteidigers (Satz 3) . . . . . . . . . . . . 4. Zu Satz 4 . . . . . . . . . . . II. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
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. 8–12 . 13 . 14–16 . 14 . 15 . 16
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Erläuterungen 1. Nach Satz 1 sind Besuche von Verteidigern sowie von Rechtsanwälten und Notaren 1 in einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache ohne Einschränkung in Bezug auf Zeit und Häufigkeit zu gestatten (SA, BT-Drucks. 7/3998, 14; C/MD 2008 Rdn. 4). Mit „Zeit“ ist „Dauer“ gemeint (Meyer-Goßner § 148 Rdn. 9; OLG Hamm NStZ 1985, 432). a) In zeitlicher Hinsicht sollten Absprachen (z. B. mit der Anwaltskammer) dahinge- 2 hend möglich sein, dass die Besuche möglichst in der üblichen Dienstzeit abgewickelt werden, also nicht in die Zeit des Einschlusses der Gefangenen für die Nachtzeit fallen (vgl. § 24 Rdn. 2; zur Zeit und Dauer von Verteidigerbesuchen vgl. auch Rdn. 15 zu § 27). b) Die Besuche der Verteidiger, Rechtsanwälte oder Notare dürfen nur zum Zwecke der 3 Besprechung der den Gefangenen betreffenden Rechtssachen durchgeführt werden. Zur Verteidigertätigkeit rechnen insoweit aber nicht nur seine Beistandsfunktion im Strafverfahren, sondern auch im Wiederaufnahmeverfahren sowie in Neben- und Folgeverfahren: wie etwa der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, der bedingten Aussetzung des Strafrestes, dem Vollstreckungsverfahren und in Gnadensachen (OLG München ZfStrVo SH 1978, 24 = NJW 1978, 654; C/MD 2008 Rdn. 1); ferner rechnet hierzu auch die Vorbereitung eines solchen Verfahrens (OLG Nürnberg NStZ 1984, 191; C/MD aaO; ferner § 29 Rdn. 14). Da es in Strafvollzugsangelegenheiten gleichfalls um die Realisierung des staatlichen Strafanspruchs geht (§ 2 Rdn. 2 f), gehört zum Tätigkeitsbereich eines Verteidigers zwar der Beistand eines Rechtsanwalts in Strafvollzugssachen (LG Nürnberg-Fürth ZfStrVo 1979, 125; OLG Celle NStZ 1981, 116; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 109), aber nicht die allgemeine Beratung des Gefangenen im Zusammenhang mit der Entlassungsvorbereitung (a. A. LG Bielefeld BlStV 2/1983, 1); auch nicht die Beratung in ausländerrechtlichen Fragen (Arloth 2008 Rdn. 1). Im Übrigen muss es sich aus Gründen der Klarheit immer um eine konkrete Rechtssache handeln (Arloth 2008 Rdn. 1 und LG Wuppertal NStZ 92, 152; a. A. C/MD 2008 Rdn. 1). c) Eine inhaltliche Begrenzung des Verkehrsrechts ergibt sich naturgemäß (auch 4 ohne ausdrückliches Verbot) schon aus der Aufgabe, die Verteidiger, Rechtsanwälte oder Notare wahrzunehmen haben: so darf der Besuch z. B. nicht zum Fotografieren, Schachspielen oder zu erotischen Kontakten zwischen Besucher und Gefangenen missbraucht werden (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Eine weitere Ausnahme von der generellen Gestattung des § 26 hat das Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum GVG vom 30.9.1977 (BGBl. I, 1877) eingeführt.
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§ 26
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Nach diesem sogenannten Kontaktsperregesetz vom 30.9.1977 (BGBl I, 1877) darf der Kontakt des Gefangenen zum Mitgefangenen und mit der Außenwelt, einschließlich des schriftlichen und mündlichen Verkehrs mit dem Verteidiger, dann unterbrochen werden, wenn sich der Gefangene wegen des Verdachts, terroristische Gewalttaten bzw. Vergehen nach §129a StGB begangen zu haben, in Untersuchungshaft befindet oder wegen einer der in dieser Vorschrift bezeichneten Straftaten rechtskräftig verurteilt wurde (vgl. § 31 EGGVG). AK-Joester/Wegner (2006 Rdn. 2) haben gegen diese Regelung Bedenken, das BVerfG (BVerfGE 49, 24) hat das Kontaktsperregesetz hingegen mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt. Das Gesetz ist nach der Entführung des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie e.V., Schleyer, durch terroristische Gewalttäter am 2. Oktober 1977 in Kraft getreten. Nach der seit 1985 neuen Vorschrift des § 34a EGGVG hat der betroffene Gefangene aber das Recht auf Beiordnung eines Rechtsanwalts als Kontaktperson, der der Sperre nicht unterliegt und vom Landgerichtspräsidenten (im Einvernehmen mit dem Gefangenen, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft) nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesucht wird (vgl. auch Hirsch 2003, 117 ff).
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d) Der Verteidiger muss sich gegenüber der Anstalt durch die Vollmacht des Gefangenen oder durch die Bestellungsanordnung des Gerichts ausweisen (VV Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und LG Wuppertal NStZ 1992, 152; vgl. zu einer entsprechenden Regelung Rdn. 14 zu § 29). Wenn die Vollmacht fehlt, kann diese, um das Verfahren zu vereinfachen, vom Gefangenen noch eingeholt werden (OLG Frankfurt BlStV 1/1992, 6 = ZfStrVo 1992, 67); der Verteidiger muss dann solange an der Anstaltspforte warten (so auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 6). Zu seiner weiteren Legitimation wird in der Regel die Vorlage des Personalausweises ausreichen; in Zweifelsfällen sollte telefonisch bei der Anstellungsstelle des Besuchers nachgefragt werden (vgl. auch Rdn. 15 zu § 29) oder aber bei der Anwaltskammer (vgl. auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Eine entsprechende Überprüfung ist in Zweifelsfällen auch bei (anderen) Rechtsanwälten, Notaren, Rechtsbeiständen und Rechts-(Gerichts-) Referendaren (dazu § 139 StPO) erforderlich (vgl. dazu VV Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2).
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2. Nach Satz 2 i. V. mit § 24 Abs. 3 können Besuche i. S. dieser Vorschrift schließlich aus Sicherheitsgründen (§ 81 Rdn. 7), also nicht aus Ordnungsgründen (vgl. Rdn. 17 zu § 24), auch davon abhängig gemacht werden (Arloth 2008 Rdn. 2; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 8), dass sich der besuchende Verteidiger, Rechtsanwalt oder Notar durchsuchen lässt (OLG Hamm NStZ 1981, 277; Arloth 2008 Rdn. 4). Die Durchsuchungsvorschrift des § 24 Abs. 3 wird also (und zwar aufgrund negativer Erfahrungen in verschiedenen Strafprozessen) auch für diesen Personenkreis (Ausnahme: Verteidiger: Rdn. 8) übernommen (vgl. auch § 27 Rdn. 16; § 29 Rdn. 4). Aus der Sonderstellung des Berufsstandes ergibt sich gleichwohl: je stärker die körperliche Durchsuchung in den Persönlichkeits- und Intimbereich eingreift, desto schwerer müssen auch die Verdachtsmomente wiegen (C/MD 2008 Rdn. 2; AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 8; vgl. dazu Rdn. 11). Die Durchsuchung erstreckt sich auf die Verhinderung des Einschleusens von Waffen oder anderer sicherheitsgefährdender Gegenstände, wie z. B. von Ausbruchswerkzeugen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 14). Bei der Mitnahme von Flüssigkeit (Getränken) in den Verteidigungssprechraum kommt es auf den Einzelfall an (OLG Frankfurt NStZ 1992, 455). Darüber hinaus bedeutet Durchsuchung i. S. von § 24 Abs. 3 auch grundsätzlich (Ausnahme vgl. Satz 3) die inhaltliche Überprüfung derjenigen Schriftstücke, die der Besucher bei seiner Begegnung mit dem Gefangenen bei sich führt (vgl. § 24 Rdn. 17). Denn die Sicherheit der Anstalt kann auch durch Übergabe von Schriftstücken gefährdet werden, z. B. wenn sie Mitteilungen oder Skizzen zur Vorbereitung der Flucht oder einer Meuterei enthalten (SA aaO).
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Besuche von Verteidigern, Rechtsanwälten und Notaren
§ 26
3. Sonderstellung des Verteidigers: Eine Sonderregelung (derart, dass grundsätzlich 8 – Ausnahme Rdn. 10 – eine inhaltliche Überprüfung der Unterlagen unzulässig ist) trifft jedoch Satz 3 für den Verkehr des Verteidigers (zur Definition des Verteidigers vgl. § 115 Rdn. 8) mit dem (von ihm verteidigten) Strafgefangenen, aber nur in Bezug auf die Durchsuchung der mitgeführten Schriftstücke und sonstigen Unterlagen. Mit sonstigen Unterlagen sind Gegenstände gemeint, die einen gedanklichen Inhalt verkörpern, also Abbildungen (auch Filme) und Tonträger (SA BT-Drucks. 7/3998, 15; C/MD 2008 Rdn. 3). Andere Gegenstände, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, gehören selbst dann nicht zu den Unterlagen, wenn es sich um Beweismittel im Verfahren handelt (SA aaO; § 27 Rdn. 12 ff; § 29 Rdn. 14 ff). a) Nach Satz 3 ist eine inhaltliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeführten 9 Schriftstücke und sonstigen Unterlagen nicht zulässig, d. h.: unzulässig ist eine Überprüfung auf den gedanklichen Inhalt (SA aaO Rdn. 8). Insoweit stimmt die Vorschrift mit § 148 Abs. 1 StPO überein, die dem nicht auf freiem Fuße befindlichen Beschuldigten den unbehinderten mündlichen und schriftlichen Verkehr mit dem Verteidiger gestattet (vgl. auch SA aaO). Die mitgeführten Schriftstücke und sonstigen Unterlagen dürfen aber daraufhin durchgesehen (abgetastet, geröntgt usw.) werden, ob in ihnen andere Gegenstände enthalten sind (SA aaO). Zulässig ist auch das bloße Durchblättern von Handakten (a. A. OLG Nürnberg StV 2004, 389 = NStZ-RR 2004, 187 Rdn. 4 und C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 513; OLG Nürnberg StrVert. 2004, 389); aber nur dann, wenn sichergestellt ist, dass vom gedanklichen Inhalt der Schriftstücke und Unterlagen keine Kenntnis genommen wird (BVerfGE 38, 30). Dem Verteidiger kann die Mitnahme eines Notebooks für das Mandantengespräch nicht verwehrt werden, wenn die dafür erforderlichen Unterlagen darauf gespeichert sind (Laubenthal aaO). In einer Dienstanweisung kann auch die generelle Durchsuchung aller die Anstalt besuchenden Verteidiger angeordnet werden (OLG Hamm NStZ 1981, 277 OLG; Nürnberg NJW 2002, 694 = StV 2002, 669: für eine JVA der „höchsten Sicherheitsstufe“): aber auch insoweit grundsätzlich nicht die inhaltliche Kontrolle von mitgeführten Schriftstücken. Ausnahmsweise ist nach Satz 4 des § 26 i. V. mit § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 über § 148 10 Abs. 2, § 148a StPO die inhaltliche (aber richterlich angeordnete) Kontrolle von Schriftstücken auch bei Verteidigern dann zulässig, wenn gegen den Strafgefangenen, der besucht werden soll, eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) vollstreckt wird oder im Anschluss an die Strafe, die er zur Zeit verbüßt, zu vollstrecken ist. Ausnahme: der Gefangene befindet sich im offenen Vollzug oder erhält Vollzugslockerungen oder Urlaub (§ 29 Abs. 1 Satz 2 zweiter HS.; Arloth 2008 Rdn. 5). Der Satz 4 des § 26 wurde durch Art. 5 Nr. 1 des „Antiterroristengesetzes“ (BGBl. 1976 I, 2181) in das Strafvollzugsgesetz eingefügt (vgl. zur Überwachung auch § 27 Rdn. 9; § 29 Rdn. 16). Zum Einsatz von Trennscheiben zur Besuchsüberwachung vgl. Rdn. 14 zu § 27. b) Die Durchsuchung (vgl. zu dieser Rdn. 17 zu § 24) des Verteidigers (Rdn. 7), die 11 nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstößt (BVerfGE 38, 26, 30), kann aber nur dann in Betracht kommen, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine Gefährdung der Sicherheit zu erwarten ist (OLG Celle NStZ 1989, 95 = ZfStrVo 1989, 181; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 2): bloße Ordnungsinteressen (etwa Verdacht des Einschmuggelns von Alkohol) reichen dafür nicht aus (OLG Celle StV 1986, 396 Rdn. 17 zu § 24 und Rdn. 5 zu § 25). Die Durchsuchung kann also nur dann geboten sein, wenn konkrete Sicherheitsbedürfnisse der Anstalt – allgemeiner oder personengebundener Art – sie gebieten (OLG Celle ZfStrVo 1989, 181 = NStZ 1989, 95); das ergibt sich bereits aus der – widerleglichen – VerHans-Dieter Schwind
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§ 26
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
mutung der Integrität dieses Berufsstandes (so auch AE-StVollzG 1973, 177). Nur dann, wenn diese Vermutung durch einen begründeten Verdacht erschüttert ist, ist eine Durchsuchung überhaupt zulässig (vgl. Rupp/Hanack JR 1971, 273, 277 f). Die einschlägige Rechtsprechung (vgl. z. B. OLG Saarbrücken NJW 1978, 1446; BVerfGE 38, 26, 27) bezieht sich zwar nur auf den Verkehr des Rechtsanwalts mit einem von ihm verteidigten Untersuchungsgefangenen (vgl. dazu § 119 Abs. 3 StPO), kann jedoch, was den Verkehr des Verteidigers mit dem Strafgefangenen betrifft, nicht unberücksichtigt bleiben (ebenso C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 8; vgl. auch OLG Nürnberg NJW 2002, 694); jedenfalls hat der SA (BT-Drucks. 7/3998, 14) in anderem Zusammenhang deutlich gemacht, dass eine unterschiedliche Regelung insoweit unsachgemäß wäre; dies ergibt sich schon daraus, dass die Risiken beim Verkehr mit dem Strafgefangenen grundsätzlich geringer sind als beim Verkehr mit Untersuchungsgefangenen, durch den die Wahrheitsfindung in Strafverfahren berührt werden könnte. Wenn also die Anordnung einer Durchsuchung des Verteidigers von Untersuchungsgefangenen nur aufgrund konkreter Anhaltspunkte zulässig sein soll (BVerfGE 38, 26, 30), dann muss diese Einschränkung der Durchsuchung erst recht für den Verkehr mit Strafgefangenen gelten. 12 Die (alleinige) Begründung, „aus Sicherheitsgründen“ werde die körperliche Durchsuchung des Verteidigers angeordnet, reicht allerdings für das Vorliegen eines konkreten Anhaltspunktes (für eine Missbrauchsgefahr) noch nicht aus (OLG Saarbrücken NJW 1978, 1446). Hingegen kann eine Durchsuchung des Verteidigers als besondere Sicherheitsvorkehrung nach der Rechtsprechung dann gerechtfertigt sein, wenn bei dem zu besuchenden Häftling in erhöhtem Maße Flucht- und Verdunkelungsgefahr besteht (BGH NJW 1973, 1656) oder nach vorangegangenen Sprengstoffanschlägen weitere angekündigt und die gewaltsame Befreiung von Häftlingen propagiert worden ist (KG NJW 1971, 476) oder wenn wegen der Schwere der dem Inhaftierten vorgeworfenen Straftat ein dringendes Bedürfnis besteht, durch besondere Vorsicht auch fernliegende Risiken weitgehend auszuschließen (OLG Zweibrücken 6.11.1972 – VAs 18/72). Ein besonderer Umstand, der die Sicherheitsvorkehrung der Durchsuchung rechtfertigen kann, liegt insbesondere dann vor, wenn die Anstalt auch solche Insassen beherbergt, die dem Kreis der anarchistischen Gewalttäter oder von Terroristengruppen zuzurechnen sind (OLG Saarbrücken aaO, 1448).
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4. Satz 4: vgl. oben Rdn. 10.
III. Landesgesetze 14
1. Bayern Art. 29 ist weitgehend wortgleich; neu ist die Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Angehörige der Gerichtshilfe, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsichtsstellen.
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2. Hamburg § 28 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 entspricht in den ersten beiden Sätzen dem § 26 StVollzG. Der dritte Satz: „Eine inhaltliche Überprüfung [...]“ ist in den Abs. 3 gerutscht. Auffällig ist, dass in den Abs. 1 bis 3 Verteidiger nicht mehr genannt werden. Gleichwohl heißt es in der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks 19/2533, 55), dass „den bisher besonders privilegierten Besuchen von Verteidigerinnen und Verteidigern die Besuche von sonstigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und Notarinnen gleichgestellt werden. Auch die Besuche dieser Personen-
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Überwachung der Besuche
§ 27
gruppen werden nicht mehr überwacht. Mitgeführte Schriftstücke und Unterlagen dürfen ohne inhaltliche Überprüfung übergeben werden. Ein Erlaubnisvorbehalt kann hier nicht angeordnet werden. Die Änderung erfolgt mit Blick auf die besondere Stellung dieser Berufsgruppen sowie das Vertrauensverhältnis zu ihren Mandantinnen und Mandanten“. Abs. 4 lautet: „Liegt dem Vollzug der Freiheitsstrafe eine Straftat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs zugrunde oder ist eine solche Freiheitsstrafe im Anschluss an den Vollzug einer wegen einer anderen Straftat verhängten Freiheitsstrafe zu vollziehen, gelten § 148 Abs. 2 und § 148a der Strafprozessordnung entsprechend, es sei denn, die Gefangenen befinden sich im offenen Vollzug (§ 11) oder ihnen werden Lockerungen gewährt (§ 12) und Gründe für einen Widerruf oder eine Zurücknahme der Lockerung (§ 92 Absätze 2 und 3) liegen nicht vor. “
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3. Niedersachsen § 27 Satz 1 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 26 Satz 1 StVollzG. Satz 2 ist neu und hat folgenden Wortlaut: „Die regelmäßigen Besuchszeiten legt die Vollzugsbehörde im Benehmen mit der Rechtsanwaltskammer in der Hausordnung fest.“ Die Sätze 3 und 4 sind inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 26 Satz 2 und 3 StVollzG. Satz 5 ersetzt § 26 Satz 4 StVollzG und hat folgenden Wortlaut: „Abweichend von Satz 4 gilt § 30 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 in den dort genannten Fällen entsprechend“.
§ 27 Überwachung der Besuche (1) Die Besuche dürfen aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden, es sei denn, es liegen im Einzelfall Erkenntnisse dafür vor, dass es der Überwachung nicht bedarf. Die Unterhaltung darf nur überwacht werden, soweit dies im Einzelfall aus diesen Gründen erforderlich ist. (2) Ein Besuch darf abgebrochen werden, wenn Besucher oder Gefangene gegen die Vorschriften dieses Gesetzes oder die auf Grund dieses Gesetzes getroffenen Anordnungen trotz Abmahnung verstoßen. Die Abmahnung unterbleibt, wenn es unerlässlich ist, den Besuch sofort abzubrechen. (3) Besuche von Verteidigern werden nicht überwacht. (4) Gegenstände dürfen beim Besuch nur mit Erlaubnis übergeben werden. Dies gilt nicht für die bei dem Besuch des Verteidigers übergebenen Schriftstücke und sonstigen Unterlagen sowie für die bei dem Besuch eines Rechtsanwalts oder Notars zur Erledigung einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache übergebenen Schriftstücke und sonstigen Unterlagen; bei dem Besuch eines Rechtsanwalts oder Notars kann die Übergabe aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt von der Erlaubnis abhängig gemacht werden. § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 bleibt unberührt. Schrifttum: s. bei § 23
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§ 27
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Stufen der Überwachung . . . . a) Grundsätzlich keine Überwachung . . . . . . . . . . . b) Sichtkontrolle (optische Überwachung: Abs. 1 Satz 1) . . . . c) Gesprächskontrolle (akustische Überwachung: Abs. 1 Satz 2) . 2. Kontrolle der Übergabe von Gegenständen (Abs. 4 Satz 1) . .
Rdn.
Rdn.
1–4 5–16 5–10
3. Abmahnung und Abbruch des Besuchs (Abs. 2) . . . . . . . . . 11 4. Besuche von Verteidigern (Abs. 3), sowie anderen Rechtsanwälten und Notaren (Abs. 4 Satz 2) . . . 12–16 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 17–19 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 18 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 19
6 7–8 9 10
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Überwachung von Besuchen gehört zu den Aufgaben der Vollzugsanstalt (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 59). Ihre Erledigung (als hoheitlicher Aufgabe) ist grundsätzlich Vollzugsbeamten übertragen (§ 155 Abs. 1). Ein Rechtsanspruch auf Zubilligung unüberwachter Besuchskontakte besteht von Verfassungs wegen nicht (BVerfG NStZ-RR 2001, 253).
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1. Als Ausnahme von diesem Grundsatz lässt das Gesetz nur aus besonderen Gründen die Heranziehung anderer Bediensteter der Vollzugsanstalt sowie die Beschäftigung nebenamtlicher oder vertraglich verpflichteter Personen zu (§ 155 Abs. 1 Satz 2; vgl. dazu Rdn. 2 zu § 155).
3
2. Wenn der Anstaltsleiter Besuche, die ein Strafgefangener erhält, der wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung verurteilt ist, durch einen Anstaltsbeamten im Wege der Amtshilfe im Beisein eines Polizeibeamten überwachen lassen will, um auf diese Weise das Fehlen hinreichender Kenntnisse des Vollzugsbeamten über das Vorgehen terroristischer Vereinigungen auszugleichen, ist das, weil es sich rechtlich um eine Sachverständigentätigkeit handelt, unter zwei Voraussetzungen statthaft (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 59; vgl. auch OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 55): erstens muss der Polizeibeamte ausschließlich der Aufsicht und Leitung des Anstaltsleiters unterstellt sein, und zweitens muss sichergestellt sein, dass er seine Wahrnehmungen allein dem Anstaltsleiter zugänglich macht; er muss diesem z. B. seine schriftlichen Aufzeichnungen abliefern (OLG Koblenz aaO; vgl. zu dieser Frage auch OLG Karlsruhe ZfStrVo 1991, 185; Arloth 2008 Rdn. 1). Zur Überwachung des Schriftwechsels durch Polizeibeamte § 29 Rdn. 3.
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3. Werden bei der Überwachung der Besuche personenbezogene Daten bekannt, findet § 180 Abs. 8 Anwendung (vgl. § 180 Rdn. 44–47).
II. Erläuterungen 5
1. Abs. 1: Abs. 1 stellt eine „besondere Regelung“ i. S. d. § 4 Abs. 2 Satz 2 dar, durch die die Materie abschließend geregelt wird (OLG Saarbrücken NStZ 1983, 94; C/MD 2008 Rdn. 2). Für die Anordnung der Besuchsüberwachung ist somit nicht erforderlich, dass sie „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Anstalt unerlässlich ist“. Es genügen die weniger strengen Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 (OLG Koblenz NStZ 1988, 357). In diesem Rahmen sind jedoch konkret be-
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Überwachung der Besuche
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weisbare Tatsachen für eine andere nicht abwendbare Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder der Behandlung des Gefangenen zu verlangen (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 103; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 511). Eine Besuchsüberwachung kann danach in Betracht kommen, wenn bezüglich einer an dem Besuch beteiligten Person (vgl. Rdn. 12 zu § 24) Umstände bekannt sind, die die Missbrauchsgefahr begründen (KG NStZ 1995, 103 f = BlStV 3/1995, 6; OLG Saarbrücken aaO). Sie kommt hingegen nicht in Frage, „wenn Erkenntnisse im Einzelfall dafür vorliegen, dass es der Überwachung nicht bedarf“ (Abs. 1 Satz 1, 2. HS.); „die gewählte Formulierung berücksichtigt, dass die Vorschrift hinsichtlich der Zulässigkeit der Erhebung personenbezogener Daten bei der Besuchsüberwachung die gegenüber der grundlegenden Regelung des § 179 speziellere Vorschrift ist“ (Begr. RegE zum 4. StVollzGÄndG 1998, BT-Drucks.13/102 45, 15; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 103; Arloth 2008 Rdn. 1). Die Vorschrift unterscheidet zwischen Sichtkontrolle (Satz 1: lediglich optische Überwachung eines Besuches; s. Rdn. 7 f) und Gesprächsüberwachung (Satz 2: akustische Besuchsüberwachung durch einen unmittelbar dabeisitzenden Aufsichtsbeamten; s. Rdn. 9). Diese Überwachungsmaßnahmen (abschließende Aufzählung) stehen in einem Stufenverhältnis (vgl. Rdn. 6 bis 9): a) Grundsätzlich keine Besuchsüberwachung: grundsätzlich soll nach dem Willen 6 des Gesetzgebers eine Besuchsüberwachung überhaupt nicht mehr durchgeführt werden; dazu heißt es in der Begründung des RegE (BT-Drucks. 7/918, 59), dass die Vollzugsbehörden nicht mit mehr Überwachungsaufgaben belastet werden sollen, als notwendig ist; zugleich will der Gesetzgeber „Gefangene und Besucher vor zu weitgehenden Eingriffen schützen“ (RegE aaO). Diese gut gemeinte (großzügige) Regelung erleichtert allerdings das Einschmuggeln von Drogen, Arzneimitteln, Ausbruchswerkzeugen, Sprengstoff usw. (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1) und trägt insoweit (naturgemäß) zur Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt bei (§ 81 Rdn. 7). b) Sichtkontrolle (Abs. 1 Satz 1): um diese unter a) genannten Schwierigkeiten zu ent- 7 schärfen, ist in Satz 1 der Vorschrift geregelt, dass aa) Besuche aus Gründen der Sicherheit oder der Ordnung ausnahmsweise doch (durch Sichtkontrolle) überwacht werden dürfen (nicht müssen). Die Vollzugsbehörde muss jedenfalls in der Lage sein (heißt es dazu im RegE, BT-Drucks. 7/918, 59), „durch Besuchsüberwachung Gefahren für Leben, Gesundheit und Sachwerte sowie für den sicheren Gewahrsam des Gefangenen abzuwenden. Gleiches muss gelten, wenn das geordnete Zusammenleben in der Anstalt durch unüberwachte Besuche gefährdet würde“. Insoweit räumt der Gesetzgeber selbst ein (RegE aaO), dass „eine solche Gefährdung zum Beispiel eintreten kann, wenn beim Besuch Rauschgift oder Alkohol in die Anstalt eingeschmuggelt werden“; in Betracht kommt auch eine Übergabe von Gegenständen von Mund zu Mund beim Küssen. Ob ein Besuch geeignet ist, die Sicherheit der Anstalt zu gefährden, wird in erster Linie von der Person des Gefangenen und seines Besuchers abhängen (persönliche Umstände): vgl. auch Rdn. 6 zu § 25. Zugleich aber können nach der h. M. die besonderen Verhältnisse der Anstalt von Bedeutung sein, so etwa eine Überbelegung (C/MD 2008 Rdn. 2) bzw. ein besonders hoher Grad der Sicherheitsempfindlichkeit: objektive Umstände (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 305; OLG Saarbrücken NStZ 1983, 94 mit krit. Anm. Müller-Dietz). Deshalb kann bei der Frage, ob optische Besuchsüberwachung ermessensfehlerfrei angeordnet worden ist, nicht außer Betracht bleiben, wer der Besucher ist (OLG Celle ZfStrVo 1980, 187). Zum Einsatz von Trennscheiben bei Privatbesuchen vgl. Rdn. 14. Die beschriebene und vergleichbare Gefahren bestehen in der Vollzugspraxis der Anstalten des geschlossenen Vollzugs eher in der Regel als in der Ausnahme. Vor diesem Hintergrund wird die Hans-Dieter Schwind
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Sichtkontrolle in der Praxis des geschlossenen Vollzuges auch eher die Regel als die Ausnahme bilden; deshalb ist die ständige optische Überwachung „als übliche Überwachungspraxis“ (generelle optische Besuchsüberwachung im geschlossenen Vollzug) vieler Anstalten (jedenfalls solcher mit hohem Sicherheitsgrad) auch grundsätzlich nicht rechtswidrig (so Bandell/Kühling/Schwind NStZ 1988, 383; Arloth 2008 Rdn. 2; OLG Saarbrücken NStZ 83, 94 m. Anm. Müller Dietz; a. A. z. B. OLG Koblenz NStZ 1988, 382 = ZfStrVo 1987, 305; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Jedenfalls enthält die Vorschrift keine auf die Person des einzelnen Gefangenen bezogene Einschränkung (OLG Frankfurt NJW 1979, 2525). Auch eine (generelle) Videoüberwachung ist zulässig (Arloth 2008 Rdn. 3), weil die Art und Weise der Überwachung dem Ermessen der Anstalt überlassen bleibt (Arloth 2008 Rdn. 2; vgl. dazu auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 219). Der Telefonüberwachung entsprechend (zu dieser OLG Frankfurt aaO) muss die Aufzeichnung nach der Auswertung aber wieder gelöscht werden. Allerdings müssen auch insoweit Ausnahmen gemacht werden können. So dürfen z. B. Besucher, deren persönliche Integrität nicht in Zweifel steht (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 53), von der Sichtkontrolle grundsätzlich nicht erfasst werden. Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Überwachungsmaßnahmen wird man also davon ausgehen müssen, dass im geschlossenen Vollzug (Anstalt mit hohem Sicherheitsgrad) der unüberwachte Besuch die Sicherheit und Ordnung der Anstalt grundsätzlich gefährdet; im offenen Vollzug (§ 141 Rdn. 18) ist das hingegen grundsätzlich (schon von der Klientel her gesehen) eher nicht der Fall: hier wird die Unterhaltung bei einem Besuch in der Regel nur überwacht, wenn dies aus Gründen der Behandlung (Rdn. 8) geboten ist (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3: auch dann nicht). Eine Sichtkontrolle findet nicht statt, wenn in Ausnahmefällen während des Besuches auch Intimkontakte ermöglicht werden; ein Rechtsanspruch des Gefangenen auf Intimkontakte besteht jedoch nicht (LG Regensburg ZfStrVo SH 1978, 27; OLG Koblenz NStZ 1998, 398; BVerfG NStZ-RR 2001, 253; Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 6). Weiteres zum Intimkontakt § 24 Rdn. 13. Treffen mehrere Vollzugsarten (Freiheitsstrafe, U-Haft) in einer Anstalt zusammen, so kann es erforderlich sein, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit erforderlichen Beschränkungen so zu wählen, dass den weitestreichenden Gefahren begegnet wird (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1983, 57 = NStZ 1983, 94). Zur gerichtlichen Ermessensüberprüfung § 115 Rdn. 19 ff.
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bb) Die optische Überwachung (Sichtkontrolle) ist auch aus Gründen der Behandlung zulässig. Der Begriff der Behandlung (§ 4 Rdn. 6) umfasst sowohl die besonderen medizinischen und individual- wie sozialtherapeutischen Maßnahmen als auch die Maßnahmen allgemeiner Art, die den Gefangenen durch Ausbildung und Unterricht, Beratung bei der Lösung persönlicher und wirtschaftlicher Probleme und Beteiligung an gemeinschaftlichen Aufgaben der Anstalt in das Sozial- und Wirtschaftsleben einbeziehen und der Behebung krimineller Neigungen dienen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 45; § 7 Rdn. 1).
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c) Gesprächskontrolle (Abs. 1 Satz 2): Überwachung der Unterhaltung bedeutet, dass ein zuständiger Bediensteter (vgl. Rdn. 2) das ganze Gespräch systematisch und gezielt mithört (OLG Koblenz ZfStrVo 1993, 244 = BlStV 2/1993, 2). Die Voraussetzungen für eine solche akustische Überwachung sind wesentlich höher anzusetzen als die der Sichtkontrolle, weil sie die Besuchten und Besucher in ihrem persönlichen Bereich wesentlich stärker belasten (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 305 = BlStV 1/1988, 5). Die akustische Überwachung kommt daher nur für Ausnahmefälle in Frage, d. h. notwendig ist ein auf den Einzelfall bezogenes, auf konkreten Anhaltspunkten beruhendes Missbrauchsrisiko des Besuchskontakts (Laubenthal 2008 Rdn. 511; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3). Dabei darf es wiederum (vgl. Rdn. 7) nicht nur auf das mutmaßliche Verhalten des Strafgefange-
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Überwachung der Besuche
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nen (z. B. Ausnutzen des Besuchs zur Nachrichtenübermittlung) abgestellt werden (dazu OLG Saarbrücken 26.8.1982 – 1 Ws 69/81); ebenso muss bedacht werden, ob bei dem Besucher die Gefahr besteht, dass er solchem Ansinnen nachkommt (dazu OLG Hamm ZfStrVo 1989, 246). Das aber ist z. B. bei einem Bediensteten des Arbeitsamtes so wenig wahrscheinlich, dass es im Einzelfall besonders belegt werden muss (OLG Celle ZfStrVo 1980, 187 f); das gilt ferner für einen Gutachter (OLG Hamm NStZ 1985, 191). Wahrscheinlicher ist eine solche Gefahr hingegen bei Besuchern, die als terroristische Gewalttäter gelten (OLG Koblenz ZfStrVo 1984, 179 = NStZ 1984, 46; OLG Hamm NStZ 1989, 494). Bei Personen die dem Gefangenen nahe stehen, sind an die akustische Überwachung hingegen generell strenge Anforderungen zu stellen (OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 56; OLG Hamm StV 1997, 259; Arloth 2008 Rdn. 6; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 5). Bei Besuchen von Bewährungshelfern und Gerichtshelfern kommt eine Überwachung nur im begründeten Ausnahmefall in Betracht (C/MD 2008 Rdn. 5). Die Berufung allein auf den hohen Sicherheitsstandard der JVA reicht für eine akustische Überwachung grundsätzlich nicht aus; auch dann nicht, wenn es sich um einen ehemaligen Strafgefangenen handelt (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 305). Regelmäßig setzt eine akustische Überwachung aber im Einzelfall konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für ihr „Gebotensein“ voraus: gefragt ist also eine auf Tatsachen gestützte konkrete Erwartung (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1984, 176; OLG Koblenz aaO; OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 56; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 5) Immer spielt schließlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 81 Abs. 2) eine Rolle (LG Hamburg ZfStrVo 1979, 250). Für eine Aufzeichnung der Gespräche (zwecks späterer Auswertung: nachträgliches Abhören der Bänder) bietet die Norm keine Ermächtigungsgrundlage (OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 219; vgl. dazu auch Rdn. 3 f zu § 32). Da die Behandlung krimineller Neigungen auch zu den Aufgaben des Vollzugs gehört (vgl. § 2 Satz 2; dort Rdn. 12 ff), ist die Anordnung der Gesprächskontrolle bei einem Heiratsschwindler grundsätzlich gerechtfertigt; die akustische Überwachung darf sich in diesem Fall aber nur auf die Unterhaltung des Gefangenen mit entsprechenden Besucherinnen erstrecken; eine generelle Überwachung ist hingegen nicht geboten (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 45; C/MD 2008 Rdn. 3). Nicht selten wird sich die Notwendigkeit einer Gesprächskontrolle im Übrigen erst im Laufe des Besuches herausstellen (z. B. im Rahmen einer sich entwickelnden familiären Auseinandersetzung), was voraussetzt, dass von Anfang an die Sichtkontrolle durchgeführt wird (i. d. S. auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Aus Behandlungsgründen erfolgt eine Besuchsüberwachung dann, wenn es darum geht, Informationen über die Persönlichkeit des Gefangenen, sein soziales Umfeld und seine individuelle Probleme zu gewinnen (C/MD 2008 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 4; RegE, BTDrucks. 7/918, 59). Durch diese Überwachungsmaßnahme soll nicht zuletzt gewährleistet werden, dass rechtzeitig die notwendigen (Hilfe- bzw. therapeutischen) Maßnahmen z. B. bei der Nachricht über Todesfälle nahe stehender Personen oder bei den sog. verstimmenden (also ungünstigen) Nachrichten (z. B. Freundin geht „fremd“) getroffen werden können (vgl. RegE aaO). Soweit aus Behandlungsgründen von der Überwachung Gebrauch gemacht wird, muss der Gefangene auch ungefragt einen Einbruch in seinen persönlichen Bereich hinnehmen, was allerdings für das Behandlungsklima von negativer Bedeutung sein kann (RegE aaO). Gegen diese Regelung bestehen aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfGE 40, 276, 284 f). 2. Übergabe von Gegenständen beim Besuch (Abs. 4 Satz 1): grundsätzlich nur mit 10 Zustimmung des Anstaltsleiters; ob und inwieweit er diese von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, unterliegt seinem Ermessen (etwa Besorgnis vor Nachahmungseffek-
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ten vor dem Hintergrund des Individualisierungsgebotes), dessen Ausübung durch das Willkürverbot begrenzt wird (OLG Hamm ZfStrVo 1994, 118 mit abl. Anm. bzgl. der Sicherungsverwahrung von Eisenberg JR 1995, 39); i. d. R. geht es um Nahrungs- und Genussmittel in geringem Umfang (Obst, Tabakwaren, Schokolade, Gebäck, Erfrischungsgetränke). Um die Entstehung krasser sozialer Unterschiede zu vermeiden, müssen sie sich in engen Wertgrenzen halten (C/MD 2008 Rdn. 6). Zur Problematik des möglichst ähnlichen, gleichförmigen Lebensstandards im Vollzug vgl. § 22 Rdn. 1. Im geschlossenen Vollzug dürfen vielfach solche Nahrungs- und Genussmittel nur dann übergeben werden, wenn sie durch Vermittlung der Anstalt (z. B. aus in der Anstalt aufgestellten Automaten) beschafft werden (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 5). Dieser Automateneinkauf („Automatenzug“) kann mengenmäßig (KG NStZ 1985, 479) sowie auf Besucher von Regelsprechstunden (KG NStZ 1985, 352 = ZfStrVo 1985, 181) beschränkt werden (C/MD 2008 Rdn. 6).
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3. Nach Abs. 2 Satz 1 darf der Besuch (er muss aber nicht) durch die Vollzugsbehörde (bzw. durch die mit der Überwachung betrauten Bediensteten) abgebrochen werden, wenn beim Besuch gegen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes oder gegen Anordnungen verstoßen wird, die aufgrund des Strafvollzugsgesetzes getroffen worden sind: z. B. in einer Hausverfügung bzw. Hausordnung (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 3). Rechtmäßig ist die in einer Hausverfügung getroffene Regelung, dass Besuche abzubrechen sind, wenn Weisungen der überprüfenden und überwachenden Beamten nicht befolgt werden, Sachen oder verschlüsselte Nachrichten übergeben werden, Gespräche über Aktivitäten in der Terroristenszene oder in den diese unterstützenden Gruppen oder Gespräche über Hungerstreik geführt werden (LG Köln ZfStrVo SH 1979, 45; so auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Das gilt auch für Journalistenbesuche, die zum Zwecke von Interviews stattfinden (vgl. Rdn. 19 zu § 24). Der Besucher muss allerdings zuvor in geeigneter Weise darüber unterrichtet werden, wie er sich bei einem Besuch zu verhalten hat (vgl. VV Nr. 3 zu § 24). Dem Abbruch vorausgehen muss als das mildere Mittel zunächst eine Abmahnung (C/MD 2008 Rdn. 7); es darf auch mehrmals abgemahnt werden: der Abbruch muss jedenfalls verhältnismäßig (§ 81 Abs. 2) sein (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 9). Die Abmahnung unterbleibt nur dann, wenn es unerlässlich ist, den Besuch sofort abzubrechen (Abs. 2 Satz 2). Diese „wenig präzise Formulierung der Voraussetzung respektiert das berechtigte Interesse des Aufsichtsbeamten, der in der konkreten Situation schließlich die Entscheidung über den Abbruch zu treffen hat und dem ein gewisser Spielraum verbleiben muss, damit das Risiko einer falschen Entscheidung nicht über Gebühr an ihm haften bleibt“ (Rolinski 1974, 90). Der Besucher, der unbefugt Sachen oder Nachrichten übermittelt oder von einem Inhaftierten übernimmt, muss nach § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG mit einer Geldbuße rechnen (dazu Laubenthal 2008, Rdn. 512). Die Übersetzungskosten, die aufgrund der Besuchsüberwachung anfallen, trägt der Staat (BVerfG NJW 2004, 1095; C/MD 2008 Rdn. 7; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 6). 12 Nach Abs. 3 bleiben die Besuche von Verteidigern (im Gegensatz zu solchen von Rechtsanwälten und Notaren, die nicht Verteidiger sind) von jeder Überwachung (also optischer und akustischer) ausgenommen: Dem Strafgefangenen und seinem Verteidiger soll bei dem Besuch Gelegenheit gegeben werden, mündlich und schriftlich ihre Gedanken unkontrolliert auszutauschen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 14). Weiteres § 26 Rdn. 8 ff; § 29 Rdn. 14 ff. a) Deshalb dürfen Verteidiger (zur Verteidigertätigkeit vgl. Rdn. 3 zu § 26) ihren in Strafhaft befindlichen Mandanten (grundsätzlich) auch Schriftstücke und sonstige Unterlagen ohne besondere Erlaubnis übergeben (Abs. 4 Satz 2); dass diese inhaltlich nicht überprüft werden dürfen, ergibt sich aus § 26 Satz 3. Ausnahmen:
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aa) Der Verteidiger darf dem Strafgefangenen ohne Genehmigung nur solche Schrift- 13 stücke und Unterlagen aushändigen, die unmittelbar das Strafverfahren oder ein Verfahren nach §§ 109 ff betreffen, nicht aber andere Gegenstände (OLG Celle NStZ 1981, 116); für die Übergabe sonstiger Gegenstände ist eine Erlaubnis erforderlich (§ 27 Abs. 4 Satz 1). bb) Die Übergabe weiterer Schriftstücke und anderer Gegenstände während des Ge- 14 spräches ist lediglich dann verboten (aber nur im geschlossenen Vollzug: so auch C/MD 2008 Rdn. 9), wenn gegen die Gefangenen, die besucht werden sollen, eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) vollstreckt wird oder im Anschluss an die Strafe (Anschlussstrafe), die zur Zeit verbüßt wird, zu vollstrecken ist; in diesen Fällen darf die Vollzugsbehörde nach § 27 Abs. 4 Satz 3, § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 StVollzG i. V. m. § 148 Abs. 2 Satz 3 StPO auch die Benutzung von Trennscheiben (Trennvorrichtung) in Sprechzimmern anordnen. In anderen Fällen darf eine Trennscheibenanordnung bei Verteidigerbesuchen nach BGHSt 30, 38 ff (= NJW 2004, 1298), ständiger Rspr. der OLG und einhelliger Meinung im Schrifttum hingegen grundsätzlich nicht erfolgen, weil (so die Begründung) das Gesetz in § 27 eine Sonderregelung der Materie enthält, die eine Anwendung der Generalklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 ausschließt. So soll die Verwendung von Trennscheiben selbst dann nicht erlaubt sein, wenn konkrete Tatsachen den konkreten Verdacht begründen, dass der Besuch des Verteidigers zu verteidigungsfremden Zwecken, z. B. zum Einschmuggeln unerlaubter Gegenstände oder zur Übermittlung geheimer Nachrichten missbraucht wird (BGH NJW 2004, 1398). Nur eine Ausnahme lässt der BGH (aaO) zu, der, weil sie nicht die Sicherung ungestörter Verteidigung betrifft, gefolgt werden kann (so auch Arloth 2008 Rdn. 10; ders. 2005, 108; krit. Beulke/Swoboda 2005, 65), und zwar für den Fall, dass ein Strafgefangener damit droht, seinen (Pflicht-)Verteidiger als Geisel (zur Durchsetzung bestimmter Forderungen) zu nehmen und einer solchen (konkreten) Gefahr nicht auf andere (weniger einschneidende) Weise begegnet werden kann (vgl. dazu Rdn. 24 zu § 4). Ob der Einsatz von Trennschreiben auch bei Privatbesuchen zulässig ist, ist umstritten. Folgt man der BGH-Rspr. (aaO) ist das nicht möglich: was für Verteidigerbesuche verneint wird, kann nicht in Bezug auf Privatbesuche zulässig sein. Gleichwohl stützt das BVerfG (ZfStrVo 1994, 304 ff; so auch KG 1995, 104; OLG Hamm ZfStrVo 1999, 309; ebenso Arloth in Jura 2005, 108 ff) die in den Anstalten übliche Praxis, Trennscheiben im Ausnahmefall (z. B. in einer Abschirmstation für Dealer) auch bei Privatbesuchen einzusetzen. Die zutr. Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Trennscheibe die in § 27 Abs. 1 genannten Überwachungsarten lediglich ersetze (a. A. C/MD 2008 Rdn. 9). Das BVerfG (aaO) macht den Einsatz bei Privatbesuchen jedoch von folgenden Voraussetzungen abhängig: es müssen konkrete Anhaltspunkte für eine reale Gefährdung der Sicherheit der Anstalt vorliegen und der Einsatz muss verhältnismäßig sein (§ 81 Abs. 2), d. h. es dürfen der Anstalt keine weniger einschneidenden Sicherheitsvorkehrungen zumutbar sein (etwa eine anschließende Durchsuchung und Umkleidung des Gefangenen) und als Alternative würde nur das Mittel des Besuchsverbots (§ 25) in Betracht kommen (so auch Laubenthal 2008, Rdn. 517). b) Sonstige Modalitäten: Zwar gilt der Grundsatz, dass Verteidigerbesuche „ohne Ein- 15 schränkung in Bezug auf Zeit und Häufigkeit zu gestatten“ sind (SA, BT-Drucks. 7/3998, 14). „Zeit“ bedeutet hier „Dauer“ (OLG Hamm NStZ 1985, 432; Arloth 2008 Rdn. 2; vgl. auch Rdn. 1 zu § 26). Mit diesem Grundsatz wird aber nicht der andere aufgehoben, wonach Besuche der Verteidiger an Zeiten gebunden sind, die im Rahmen des Zumutbaren den organisatorischen Möglichkeiten der JVA entsprechen (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 319 =
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NStZ 1985, 432; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1986, 60; vgl. auch Rdn. 2 zu § 26). Der für Verteidigerbesuche von der Anstalt zur Verfügung zu stellende Raum muss derart beschaffen sein, dass in normaler Lautstärke geführte Gespräche nicht außerhalb des Raumes mitgehört werden können; völlig schalldicht isoliert muss der Raum jedoch nicht sein (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 180 = BlStV 3/1985, 8).
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c) Aus der Regelung des Abs. 3, der nur die Besuche vom Verteidiger von der Überwachung ausgenommen hat, ergibt sich, dass die Besuche von Rechtsanwälten, die nicht Verteidiger sind, und die Besuche von Notaren überwacht werden können; es gelten insoweit die allgemeinen Regeln der Abs. 1 und 2 (so auch C/MD 2008 Rdn. 11; Arloth 2008 Rdn. 9). Aus Abs. 4 Satz 2 ergibt sich jedoch, dass auch dieser Personenkreis (grundsätzlich) keiner Erlaubnis für die Übergabe von Schriftstücken und sonstigen Unterlagen an den Gefangenen bedarf, soweit diese Gegenstände der Erledigung einer Rechtssache dienen, die den Gefangenen betrifft. Ausnahme: Sicherheit oder Ordnung der Anstalt werden berührt, dann kann auch die Übergabe von einer Erlaubnis abhängig gemacht werden (Abs. 4 Satz 2, 2. HS.); aber nur aus diesen Gründen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 15).
III. Landesgesetze 17
1. Bayern In Art. 30 BayStVollzG lauten die Absätze 1 bis 3 wie folgt: Abs. 1 wiederholt den ersten Satz des § 27 StVollzG und wird dann durch folgende Sätze 2 und 3 ergänzt: „Die Überwachung und Aufzeichnung mit technischen Mitteln ist zulässig, wenn die Besucher und die Gefangenen vor dem Besuch darauf hingewiesen werden. Die Aufzeichnungen sind spätestens mit Ablauf eines Monats zu löschen.“ Abs. 2 lautet: „Die Unterhaltung darf nur überwacht werden soweit dies im Einzelfall aus den in Abs. 1 genannten Gründen erforderlich ist. Abs. 1 Sätze 2 und 3 sind nicht anwendbar.“ Abs. 3 hat folgenden Wortlaut: „Zur Verhinderung der Übergabe von unerlaubtenGegenständen kann im Einzelfall angeordnet werden, dass der Besuch unter Verwendung einer Trennvorrichtung abzuwickeln ist.“ Abs. 4 bis 6 sind wortgleich mit § 27 Abs. 2 bis 4 StVollzG. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, 56) heißt es dazu: „Die Regelung der optischen Besuchsüberwachung in Abs. 1, die jedenfalls im geschlossenen Vollzug der Regelfall sein wird, wurde an die technische Entwicklung angepasst. [. . .] Die Länge der Aufbewahrungsfrist von einem Monat ist erforderlich da in der Praxis oft erst nach einigen Tagen oder Wochen bekannt wird, dass unerlaubte Gegenstände übergeben wurden und dass eine spätere Überprüfung des Besuchsvorgangs nötig ist.“
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2. Hamburg Im HmbStVollzG wird die Materie ebenfalls in einem § 27 geregelt. Die Formulierungen in den jeweiligen Abs. 1 Satz 1 sind identisch. Der Satz 2 lautet in Hamburg aber wie folgt: „Die Überwachung der Besuche mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) ist zulässig.“ Satz 3: „Die Gefangenen und die Besucherinnen und Besucher sind vor dem Besuch darauf hinzuweisen“. In der (alten) Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 56) heißt es, daß „die Regelungen der optischen Besuchsüberwachung, die jedenfalls im geschlossenen Vollzug der Regelfall sein wird, an die technischen Entwicklung angepasst
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Recht auf Schriftwechsel
§ 28
wurde“. In der (neuen) Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 55) wird darauf hingewiesen, dass „die Aufzeichnung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht mehr gestattet ist.“ Abs. 3 ist (fast) wortgleich mit § 27 Abs. 2 StVollzG. Abs. 4 lautet: „Gegenstände dürfen beim Besuch nur mit Erlaubnis übergeben werden. Die Anstaltsleitung kann im Einzelfall die Nutzung einer Trennvorrichtung anordnen, wenn dies mit Rücksicht auf die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt zur Verhinderung einer unerlaubten Übergabe von Gegenständen erforderlich ist“ .
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3. Niedersachsen In § 28 NJVollzG lauten die Absätze 1 bis 6 wie folgt: Abs. 1 entspricht inhaltlich § 27 Abs. 1 StVollzG und lautet: „Besuche dürfen offen überwacht werden. Die akustische Überwachung ist nur zulässig, wenn dies im Einzelfall zur Erreichung des Vollzugsziels nach § 5 Satz 1 oder zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist.“ Abs. 2 hat folgenden Wortlaut: „Die Vollzugsbehörde kann anordnen, dass für das Gespräch zwischen der oder dem Gefangenen und den Besucherinnen und Besuchern Vorrichtungen vorzusehen sind, die die körperliche Kontaktaufnahme sowie die Übergabe von Schriftstücken und anderen Gegenständen ausschließen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwer wiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich ist.“ Abs. 3 ähnelt § 27 Abs. 2 StVollzG: „Ein Besuch darf nach vorheriger Androhung abgebrochen werden, wenn Besucherinnen oder Besucher oder die oder der Gefangene gegen die Vorschriften dieses Gesetzes oder die aufgrund dieses Gesetzes getroffenen Anordnungen verstoßen. Der Besuch kann sofort abgebrochen werden, wenn dies unerlässlich ist, um eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt oder einen schwer wiegenden Verstoß gegen die Ordnung der Anstalt abzuwehren“. Abs. 4 ist wortgleich mit § 27 Abs. 3 StVollzG. Abs. 5 entspricht inhaltlich dem § 27 Abs. 4 StVollzG. In Abs. 6 heißt es: „Abweichend von den Absätzen 4 und 5 Satz 2 Nr. 1 gilt § 30 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 in den dort genannten Fällen entsprechend.“ Die Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 113) entspricht den Begründungen des BayStVollzG und des HmbStVollzG.
§ 28 Recht auf Schriftwechsel (1) Der Gefangene hat das Recht, unbeschränkt Schreiben abzusenden und zu empfangen. (2) Der Anstaltsleiter kann den Schriftwechsel mit bestimmten Personen untersagen, 1. wenn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. bei Personen, die nicht Angehörige des Gefangenen im Sinne des Strafgesetzbuches sind, wenn zu befürchten ist, dass der Schriftwechsel einen schädlichen Einfluss auf den Gefangenen haben oder seine Eingliederung behindern würde.
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§ 28
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VV 1 Für den Schriftverkehr eines Gefangenen, der eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung des Heimatstaates gelten die Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Nummer 135 RiVASt). 2 Die Kosten des Schriftverkehrs trägt der Gefangene. Kann der Gefangene sie nicht aufbringen, kann die Anstalt sie in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen. Schrifttum: Gusy Verfassungsrechtliche Probleme der §§ 28 ff StVollzG, in: FS für Günter Bemmann, Baden-Baden 1997, 673 ff; Rolinski Außenkontakte des Insassen, in: Baumann (Hrsg.), Die Reform des Strafvollzuges, München 1974, 77 ff; Scheu Verhaltensweisen deutscher Strafgefangener heute. Beobachtungen und Gedanken, 3. Aufl., Göttingen 1972.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Umfang des Rechts auf Schriftwechsel . . . . . . . . . . . . . 2. Anspruch Dritter auf Briefkontakt zu Gefangenen . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzlich unbeschränkter Briefverkehr (Abs. 1) . . . . . . . 2. Untersagung des Schriftwechsels mit bestimmten Personen (Abs. 2) a) Gefährdung der Sicherheit und Ordnung (Nr. 1) . . . . .
1–2 1 2 3–10 3 4–8
Rdn. b) andere Gründe (Nr. 2) . . . . c) Post, die trotz des nach Abs. 2 untersagten Schriftverkehrs eingeht . . . . . . . . . . . 3. Kosten des Schriftverkehrs . . . 4. Schriftverkehr gefangener Ausländer . . . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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6–7
. .
8 9
. 10 . 11–13 . 11 . 12 . 13
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Das Recht auf Schriftwechsel (§ 28) reicht weiter als das Recht auf Besuch (§ 24); der Gefangene darf nicht nur regelmäßig und im beschränkten Umfange, sondern grundsätzlich unbeschränkt Schreiben absenden und empfangen (§ 28 Abs. 1). Einschränkungen ergeben sich allerdings dann wiederum hinsichtlich bestimmter Personen (§ 28 Abs. 2) sowie aus den §§ 29, 31. Ferner ist immer auch § 2 Satz 2 zu bedenken (vgl. dazu Rdn. 21 zu § 4). Im Übrigen setzt das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Briefgeheimnis Briefverkehr voraus, garantiert diesen aber nicht (Gusy 1997, 674; BVerfG NJW 1995, 1477 = ZfStrVo 1995, 302).
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2. Der Anspruch Dritter auf Briefkontakt zu Strafgefangenen ist im StVollzG nicht geregelt. Das Recht auf persönlichen Kontakt zu anderen Personen gehört jedoch zu den durch Art. 2 GG geschützten Grundrechten jedes Menschen (vgl. BGHSt 27, 175 f). Deshalb sind nach § 109 antragsberechtigt auch von Vollzugsmaßnahmen unmittelbar betroffene Außenstehende (KG ZfStrVo 1982, 125; OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 248; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1987, 304; OLG Celle ZfStrVo 1988, 247; vgl. auch Rdn. 8). Zum Begehren des Absenders einer Postsendung, über die Gründe einer Beschränkung des Postverkehrs informiert zu werden, vgl. VGH Mannheim NJW 1997, 1866. Näher § 109 Rdn. 9, 28–30.
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Recht auf Schriftwechsel
§ 28
II. Erläuterungen 1. Abs. 1: Mit dieser Vorschrift wird dem Gefangenen das Recht eingeräumt, (nach Zahl 3 und Umfang) unbeschränkt Schreiben (Briefe und Postkarten) absenden und Schreiben empfangen zu dürfen; auch die Zahl der Briefpartner wird nicht begrenzt. Der Gesetzgeber hat insoweit dem Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 Rechnung getragen, der zum Inhalt hat, eine weitgehende Angleichung des Anstaltslebens an die normalen Lebensverhältnisse zu erstreben (RegE, BT-Drucks. 7/918, 59, § 3 Rdn. 3 ff). Deshalb darf der Gefangene (grundsätzlich) sein eigenes Briefpapier verwenden (RegE aaO); das gilt jedoch nicht, wenn er Briefbogen mit Privatadresse zur Begehung weiterer Straftaten (z. B. Betrügereien) benutzt (OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 61; C/MD 2008 Rdn. 4). Die Verwendung einer eigenen Schreibmaschine richtet sich nach § 70 (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 4). Zu den Portokosten vgl. Rdn. 9. Für den Schriftwechsel i. S. des § 28 ist im Übrigen eigentümlich, dass zwischen Absender und Empfänger ein Gedankenaustausch stattfindet (OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 122 und NStZ-RR 2002, 315; KG Berlin NStZ-RR 2007, 125). Deshalb kommt es für die Beurteilung, ob eine Postsendung als Schriftwechsel i. S. des § 28 oder als Paket i. S. des § 33 zu behandeln ist, nicht auf eine bei der Post nach deren Verwaltungsvorschriften zu treffende Zuordnung als Brief, Paket oder Päckchen an, sondern allein auf den konkreten Inhalt (angelegter Brief bzw. Hinweis auf einen individuellen schriftlichen Gedankenaustausch) der Postsendung (OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 121; OLG Nürnberg NStZ 1997, 382 = ZfStr 1997, 372; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 1). Dies ergibt sich nicht nur aus der Wortwahl des StVollzG in den §§ 28 und 33, sondern vor allem aus dem Sinn und Zweck der dortigen Regelungen (OLG Nürnberg aaO). Auf der anderen Seite gelten die einem Schreiben an den Gefangenen beigelegten Zeitungsausschnitte bzw. entsprechende Fotokopien als untrennbarer Bestandteil dieses Briefes, sofern sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem schriftlichen Gedankenaustausch zwischen Absender und Gefangenem stehen (OLG Frankfurt BlStV 1/1993, 4 = ZfStrVo 1993, 118; sonst nicht: OLG Nürnberg ZfStrVo 1997, 372). So gehören auch pornographische Photos von sich, die die Partnerin eines Strafgefangenen einem pornographischen Brief angelegt hat, zum Schriftwechsel (OLG Dresden NStZ 1998, 320). Fehlt es an Hinweisen auf einen individuellen schriftlichen Gedankenaustausch finden allein die Paketvorschriften (§ 33) Anwendung: auf z. B. werbendes Infomaterial von Verlagen (OLG Hamburg aaO) oder Fremdenverkehrsämtern oder Warenproben (KG ZfStrVo 1983, 59) oder Warenkataloge (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 308; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315; vgl. auch unten Rdn. 6 sowie Rdn. 11 zu § 33 und Rdn. 6 zu § 68). § 28 Abs. 1 gibt nur dem einzelnen Gefangenen das Recht, unbeschränkt Schreiben abzusenden und zu empfangen, normiert hingegen kein entsprechendes Recht für Personenvereinigungen: z. B. für die Insassenvertretung (OLG Koblenz NStZ 1981, 160 = ZfStrVo 1980, 252; C/MD 2008 Rdn. 1; vgl. auch Rdn. 8 zu § 160) oder für den Ortsverband einer politischen Partei, der sich in der JVA etabliert hat (OLG Nürnberg ZfStrVo 1986, 249 = NStZ 1986, 286; Arloth 2008 Rdn. 4). Wenn AK-Joester/Wegner (2006 Rdn. 2) auch solchen Gruppen die Rechte aus Abs.1 einräumen wollen, entfernen sie sich vom eindeutigen Gesetzeswortlaut: dort heißt es „der“ Gefangene, nicht „die“ Gefangenen. Wer anderes will, muss für eine Gesetzesänderung plädieren (so auch Arloth 2008 Rdn. 4). Schließlich kann eine Untersagung nicht gegen den außenstehenden Briefpartner angeordnet werden (vgl. Rdn. 8 und OLG Zweibrücken NStZ 1987, 95 f). Dieser wird vielmehr durch das Verbot als Dritter betroffen: Verwaltungsakt mit Drittwirkung (OLG Celle NStZ 1989, 358); auch insoweit bleibt dem Anstaltsleiter nur die Möglichkeit, Schreiben nach § 31 anzuhalten (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1987, 304; Laubenthal 2008 Rdn. 490). Hans-Dieter Schwind
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Das StVollzG enthält keine besonderen Vorschriften über den Briefverkehr zwischen Strafgefangenen, die in derselben Anstalt getrennt untergebracht sind (interner Schriftverkehr): Gleichwohl ist dieser wie der externe Schriftverkehr zu behandeln (Laubenthal 2008 Rdn. 501). Jedenfalls sind keine Gründe erkennbar, weshalb der interne Schriftverkehr anders zu behandeln sein sollte als der externe Schriftverkehr (Laubenthal aaO; so auch AKJoester-Wegener 2006 Rdn. 5; a. A. C/MD 2008 Rdn. 2; § 23 ff gelten nur für Außenkontakte). Das bedeutet, dass auch der interne Schriftverkehr aus den in § 29 Abs. 3 genannten Gründen überwacht werden darf (Böhm 2003 Rdn. 251; Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2006 Rdn. 1). Der interne Schriftverkehr darf im Übrigen auch nicht wegen erhöhten Verwaltungsaufwandes untersagt werden (OLG Dresden NStZ 1995, 151 = BlStV 3/1995, 1 mit zust. Anm. Bringewat BewHi 1995, 240 und krit. Anm. Schüler-Springorum NStZ 1995, 463).
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2. Die in Abs. 2 enthaltene Ermächtigung der Vollzugsbehörde, den Schriftwechsel mit bestimmten Personen generell zu untersagen, entspricht in ihren Voraussetzungen dem Besuchsverbot des § 25 (vgl. dort Rdn. 2 ff). Wie beim Besuch kann ein grundsätzlich bestehendes Recht unter den Gesichtspunkten der Sicherheit oder Ordnung (§ 81 Rdn. 7) eingeschränkt werden. Die Einschränkungen zeigen sich z. B. in der Überwachung des Schriftwechsels (§ 29), in der Berechtigung der Vollzugsbehörden, einzelne Schreiben anzuhalten (§ 31) und im Ausschluss des Briefverkehrs (auf Dauer) mit einzelnen Personen (§ 28 Abs. 2), die generell die Anstaltssicherheit oder Ordnung gefährden oder von denen negative Einflüsse auf den Gefangenen ausgehen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 16). Nach dem Verwaltungsgrundsatz des geringsten Eingriffs sollte jedoch im Einzelfall geprüft werden, ob die Beschränkung durch ein klärendes Gespräch mit dem Gefangenen (entsprechend der Abmahnung in § 27 Abs. 2) vermieden werden kann (C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 490) oder durch eine Überwachung. Alle Überwachungsmaßnahmen sind schon deshalb grundsätzlich nur im geschlossenen Vollzug sinnvoll, weil im offenen Vollzug (§ 141 Rdn. 18) alle Einschränkungen durch den Gefangenen in der Regel leicht umgangen werden können. Eine Überwachung des Briefwechsels kommt im offenen Vollzug ohnehin nur aus Behandlungsgründen in Frage oder wenn im Einzelfall Anhaltspunkte für die Vorbereitung oder Begehung strafbarer Handlungen bestehen (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 5) und eine Überwachung nach den örtlichen Verhältnissen erfolgversprechend erscheint.
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a) Abs. 2 Nr. 1 (Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung): Gefährdet sind Sicherheit und Ordnung, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte (Laubenthal 2008, Rdn. 490) wahrscheinlich ist, dass der Schriftwechsel eines oder mehrerer Gefangener mit einem bestimmten Briefschreiber zu Aufsässigkeit (anders AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 9), Ausbruch oder Gewalttat führt (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Nürnberg NStZ 1986, 576; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 108); ferner ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip des § 81 Abs. 2 zu beachten (§ 81 Rdn. 9). Der in Schreiben enthaltene Aufruf zur Arbeitsverweigerung oder zum Hungerstreik (zum Hungerstreik vgl. auch § 56 Rdn. 7 und § 101 Rdn. 26 f) tangiert nicht unbedingt die Sicherheit der Anstalt oder das Resozialisierungsinteresse des Gefangenen (§ 2 Rdn. 13 ff), kann aber die Anstaltsordnung gefährden (SA, BT-Drucks. 7/3998, 16; Arloth 2008 Rdn. 5). Die Ordnung der Anstalt kann auch durch beigelegte Aufkleber politischer Parteien gestört werden, und zwar deshalb, weil die naheliegende Gefahr besteht, dass diese an den Türen von Hafträumen aufgeklebt werden; das soll insbesondere für Aufkleber mit ausländerfeindlichem Inhalt gelten (KG Berlin NStZ-RR 2007, 125).
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b) Nach Abs. 2 Nr. 2 wird ein schädlicher Einfluss bzw. die Behinderung der Eingliederung im Falle von Angehörigen im Sinne des StGB vom Gesetzgeber in Kauf ge-
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Recht auf Schriftwechsel
§ 28
nommen (zum Angehörigenbegriff vgl. § 25 Rdn. 10); Post von Angehörigen ist also privilegiert: sie darf daher nur aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung untersagt werden (Abs. 2 Nr. 1). Der Anstaltsleiter kann darüber hinaus den Schriftwechsel des Gefangenen mit allen anderen Personen untersagen, wenn (aufgrund konkreter Anhaltspunkte) zu befürchten ist, dass der Schriftwechsel einen schädlichen Einfluss (§ 25 Rdn. 8) auf den Gefangenen haben oder seine Eingliederung behindern würde (§ 25 Rdn. 9). So darf der Anstaltsleiter wegen der Gefahr schädlicher Beeinflussung z. B. den Briefverkehr mit einem Briefpartner untersagen, der vorbestraft ist, im Vollzug erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat und gegen den ein Besuchsverbot besteht (LG Lübeck ZfStrVo SH 1978, 28; Arloth 2008 Rdn. 7). Ebenso darf der Schriftwechsel mit Mitgliedern einer Vereinigung untersagt werden, deren Zielsetzung darauf gerichtet ist, unter den Gefangenen Unruhe zu schüren und die Gefangenen in politisch motivierten Aktionen für einen Widerstand gegen den Strafvollzug und seine Einrichtungen zu gewinnen (LG Lübeck aaO; OLG Nürnberg NStZ 1986, 576). Unerheblich ist es, ob der Briefpartner überhaupt noch in dieser Richtung zu beeinflussen ist (dazu auch oben Rdn. 8 zu § 25 am Ende). Aus den Gründen des Abs. 2 Nr. 2 ist der Anstaltsleiter auch befugt, einem Gefangenen den Schriftwechsel mit dem Herausgeber eines Informationsdienstes zu untersagen, wenn dessen Druckerzeugnisse entstellende und beleidigende Berichte über Justiz und Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland enthalten (LG Freiburg ZfStrVo SH 1977, 21). Ferner können einem Gefangenen Briefkontakte mit Frauen untersagt werden, wenn 7 dieser eine Freiheitsstrafe wegen Betrugsdelikten zum Nachteil von Frauen verbüßt, die er unter Vorspiegelung eines gemeinsamen Zusammenlebens (Heiratsschwindler) finanziell geschädigt hat. Ein solches Verbot dient sowohl dem Abbau krimineller Neigungen des Gefangenen (§ 28 Abs. 2 Nr. 2) als auch dem Schutz der Frauen vor weiteren Straftaten des Gefangenen: § 2 Satz 2 (OLG Koblenz ZfStrVo 1979, 250). c) Dritten Personen (vgl. Rdn. 2), insbesondere außenstehenden Briefpartnern, kann 8 die Anstalt den Schriftverkehr mit einem Gefangenen nicht untersagen (OLG Zweibrücken NStZ 1987, 95 f = ZfStrVo 1987, 304; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. AK-JoesterWegner 2006 Rdn. 2). Diese sollten aber über ein generelles Verbot des Schriftverkehrs informiert werden (OLG Nürnberg MDR 80, 165; C/MD 2008 Rdn. 3). Post Dritter, die trotz des nach Abs. 2 untersagten Schriftverkehrs eingeht, ist nach § 31 Abs. 3 zu behandeln (so auch Arloth 2008 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 2). 3. Die Kosten des Schriftverkehrs trägt nach VV Nr. 2 Satz 1 der Gefangene. Damit sind 9 aber nur die Portokosten gemeint (OLG Zweibrücken NStZ 2005, 289). Schreibpapier, Briefumschläge sind hingegen von der Anstalt in angemessenem Umfang kostenlos zur Verfügung zu stellen (OLG Zweibrücken aaO). Eine Übernahme auch der Portokosten durch die Anstalt (vgl. VV Nr. 2 Satz 2) kann nur dann in Betracht kommen, wenn der Schriftwechsel (in einem bestimmten Umfange) für die Behandlung oder Eingliederung des Gefangenen erforderlich ist (Arloth 2008 Rdn. 2) und der Gefangene (unverschuldet) über die entsprechenden Mittel (aus dem Haus- oder Eigengeld) nicht verfügt (krit. zur VV Nr. 2: C/MD 2008 Rdn. 4). Solange keine Tariflöhne gezahlt werden, sollte in diesen Fällen eine Kostenübernahme durch die Anstalt grundsätzlich aber nicht als (rückzahlbarer) „Vorschuss“ behandelt werden. Wenn der Gefangene allerdings grundlos die Arbeit verweigert, kann eine Kostentragung durch die Anstalt (und zwar gerade aus Behandlungsgründen) grundsätzlich nicht in Betracht kommen (so auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 12, die aber auf den Einzelfall abstellen). Eine Übernahme der Kosten des Schriftverkehrs durch die Vollzugsanstalt kommt auch dann nicht in Frage, wenn die Bedürftigkeit des Gefangenen damit zu tun hat, dass er sein Taschengeld für den Erwerb von Tabak ausgibt (vgl. LG Lüneburg, BlStV 4/5/1999, 7).
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
4. Für den Schriftverkehr eines Gefangenen, der eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung seines Herkunftslandes gelten die Richtlinien für den Verkehr mit Ausländern in strafrechtlichen Angelegenheiten (Nr. 135 Abs. 3 RiVASt); zu Dolmetscherkosten vgl. BVerfG ZfStrVo 2004, 46; vgl. auch VV Nr. 1 und Grunau/Tiesler 1982 Vorb. 2 vor §§ 23 ff; C/MD 2008 Rdn. 5.
III. Landesgesetze 11
1. Bayern Der entsprechende Art. 31 BayStVollzG stimmt in seinen Absätzen 1 und 2 wörtlich mit § 28 überein. Hinzugekommen ist ein Abs. 3, der wie folgt lautet: „Die Kosten des Schriftverkehrs tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen.“
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2. Hamburg Der § 29 HmbStVollzG ist in Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 wortgleich mit § 28 StVollzG. Abs. 1 wird jedoch durch folgenden Satz ergänzt: „Absendung und Empfang der Schreiben vermittelt die Anstalt, eingehende und ausgehende Schreiben werden unverzüglich weitergeleitet.“ Hinzugekommen ist auch ein Abs. 3 mit folgendem Wortlaut: „Die Kosten des Schriftwechsels tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt sie in besonders begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen.“
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3. Niedersachsen § 29 NJVollzG ist inhaltlich nahezu identisch mit § 28 StVollzG. Allerdings wurde Abs. 1 durch folgenden Satz ergänzt: „In dringenden Fällen kann der oder dem Gefangenen gestattet werden, Schreiben als Telefaxe aufzugeben.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 114) heißt es dazu: „Diese bislang gesetzlich nicht geregelte Kommunikationsform ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in Eilfällen erforderlich.“
§ 29 Überwachung des Schriftwechsels (1) Der Schriftwechsel des Gefangenen mit seinem Verteidiger wird nicht überwacht. Liegt dem Vollzug der Freiheitsstrafe eine Straftat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches zugrunde, gelten § 148 Abs. 2, § 148a der Strafprozessordnung entsprechend; dies gilt nicht, wenn der Gefangene sich in einer Einrichtung des offenen Vollzuges befindet oder wenn ihm Lockerungen des Vollzuges gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 zweiter Halbsatz oder Urlaub gemäß § 13 oder § 15 Abs. 3 gewährt worden sind und ein Grund, der den Anstaltsleiter nach § 14 Abs. 2 zum Widerruf oder zur Zurücknahme von Lockerungen und Urlaub ermächtigt, nicht vorliegt. Satz 2 gilt auch, wenn gegen einen Strafgefangenen
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Überwachung des Schriftwechsels
§ 29
im Anschluss an die dem Vollzug der Freiheitsstrafe zugrunde liegende Verurteilung eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches zu vollstrecken ist. (2) Nicht überwacht werden ferner Schreiben des Gefangenen an Volksvertretungen des Bundes und der Länder sowie an deren Mitglieder, soweit die Schreiben an die Anschriften dieser Volksvertretungen gerichtet sind und den Absender zutreffend angeben. Entsprechendes gilt für Schreiben an das Europäische Parlament und dessen Mitglieder, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die Europäische Kommission für Menschenrechte, den Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder. Schreiben der in den Sätzen 1 und 2 genannten Stellen, die an den Gefangenen gerichtet sind, werden nicht überwacht, sofern die Identität des Absenders zweifelsfrei feststeht. (3) Der übrige Schriftwechsel darf überwacht werden, soweit es aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist. VV 1 (1) Der Verteidiger muss sich als solcher gegenüber der Anstalt durch die Vollmacht des Gefangenen oder die Bestellungsanordnung des Gerichts ausweisen. Verteidigerpost muss deutlich sichtbar gekennzeichnet sein. (2) Als Verteidigerpost gekennzeichnete eingehende Schreiben von Personen, bei denen die Verteidigereigenschaft nicht nachgewiesen ist, werden in der Regel ungeöffnet an den Absender zurückgesandt mit dem Hinweis, dass der Nachweis der Verteidigereigenschaft fehlt. Mit Einverständnis des Gefangenen kann das Schreiben geöffnet und nach Überprüfung ausgehändigt werden. 2 (1) Soweit der Schriftwechsel überwacht werden darf, bestimmt der Anstaltsleiter Art und Umfang der Überwachung. Er darf mit der Überwachung einzelne andere Bedienstete beauftragen. Schreiben in fremder Sprache werden, soweit nötig, übersetzt. (2) Soweit der Schriftwechsel überwacht wird, hat der Gefangene seine Schreiben in offenem Umschlag in der Anstalt abzugeben. (3) Der überwachende Bedienstete darf in den Schreiben weder Randbemerkungen anbringen noch Stellen durchstreichen oder unkenntlich machen. Ein Sichtvermerk ist zulässig. 3 Die Kosten für die Übersetzung von Schreiben, die in fremder Sprache abgefasst sind, trägt in der Regel die Staatskasse. Schrifttum: Molketin Generelle Überwachung des Schriftwechsels aller Gefangenen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt, in: MDR 1981, 192 ff.
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§ 29
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Zulässige Grundrechtseinschränkung . . . . . . . . 2. Formen der Kontrolle . . . . . 3. Zuständigkeiten . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Die Grundregel in Abs. 3 . . . a) Sicherheit oder Ordnung . aa) eingehende Post . . . . bb) ausgehende Post . . . . cc) Besonderheiten . . . . b) Überwachung aus Gründen der Behandlung . . . . . . 2. Unüberwachter Schriftverkehr a) Schriftverkehr mit dem Anstaltsbeirat . . . . . . .
.
1–3
. . . . . . . . .
1 2 3 4–20 4–11 6–10 8 9 10
. 11 . 12–20 .
Rdn. b) Schriftverkehr mit dem Verteidiger (Abs.1) . . . . . c) Schriftverkehr mit sog. Petitions- und Datenschutzstellen (Abs. 2) . . . . . . . d) Anderer Schriftverkehr (Abs. 3) . . . . . . . . . . . III. Beispiel: Überwachung der ausgehenden Post . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. 14–16
. 17–19 .
20
. 21–22 . 23–25 . 23 . 24 . 25
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Das grundgesetzlich geschützte Briefgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) hat auch für den Gefangenen Gültigkeit (BVerfGE 33, 1 ff). Der Schriftwechsel darf jedoch im Rahmen des § 29 Abs. 3 (abgesehen von den in § 29 Abs. 1 und 2 sowie § 164 Abs. 2 Satz 2 aufgeführten Ausnahmen) aus Gründen der Behandlung, Sicherheit oder Ordnung (der Anstalt) überwacht werden: d. h. die Post darf geöffnet werden. Diese Regelung schränkt also das Briefgeheimnis wieder ein, allerdings in verfassungsrechtlich zulässiger Weise (BVerfG ZfStrVo 1982, 126 und NStZ 2004, 225). Die im Rahmen des § 29 Abs. 3 danach zulässige Überwachung bildet die Grundlage für die § 31 (Anhalten von Schreiben) und § 28 Abs. 2 (Untersagung des Briefverkehrs mit bestimmten Personen). Die Briefüberwachung erstreckt sich nicht nur auf schriftliche Außenkontakte (vgl. unten Rdn. 4; zum anstaltsinternen Briefverkehr vgl. schon Rdn. 3 zu § 28). Werden bei der Briefprüfung personenbezogene Daten bekannt, findet § 180 Abs. 8 Anwendung (vgl. § 180 Rdn. 44–47).
2
2. Mit „Überwachung“ ist die Kenntnisnahme vom verbalen Inhalt des Schriftwechsels (Textkontrolle) gemeint oder die bloße Kontrolle des Briefinhalts auf verbotene Gegenstände hin (Sichtkontrolle), z. B. auf Rauschgift, das eingeschleust werden soll.
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3. Der Zusammenhang der Vorschriften lässt eindeutig erkennen – und auch die Gesetzesmaterialien erlauben keinen anderen Schluss –, dass die Briefkontrolle vom Anstaltleiter wahrzunehmen ist (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 54); dieser kann die Briefprüfung allerdings ihm nachgeordneten Bediensteten übertragen (vgl. VV Nr. 2 Abs. 1), aber nicht auf einen Außenstehenden, etwa an einen (Kriminal-)Polizeibeamten (OLG Celle aaO; AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 2). Dieser kann nur im konkreten Fall als Sachverständiger herangezogen werden, wenn z. B. bei einem Schreiben der Verdacht besteht, dass es geheime Nachrichten enthält, für deren Entschlüsselung dem Anstaltsleiter die Sachkunde fehlt (OLG Celle aaO; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 111; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 1). Zur Überwachung von Besuchern im Beisein von Polizeibeamten § 27 Rdn. 3.
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Überwachung des Schriftwechsels
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II. Erläuterungen 1. Abs. 3 enthält die Regel: Abgesehen von den Ausnahmefällen der Abs. 1 und 2 und 4 § 164 Abs. 2 Satz 2 darf der übrige Schriftverkehr (wie der Besuch, vgl. § 27 Rdn. 7 ff) nur aus Gründen der Behandlung (§ 4 Rdn. 6), Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) überwacht werden; die Vollzugsbehörde wird also zur Überwachung nur ermächtigt, nicht verpflichtet: Ermessen der Anstalt (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 3). Da die Fälle der Überwachung abschließend aufgezählt werden, wird der Schriftverkehr z. B. in folgenden Fällen nicht überwacht: aus Gründen der allgemeinen Verbrechensverhütung, des persönlichen Schutzes Außenstehender oder aus Gründen des guten Geschmacks (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1). Unter den Voraussetzungen des Abs. 3, also aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder der Ordnung der Anstalt darf auch der Schriftwechsel mit Rechtsanwälten (die nicht Verteidiger des Gefangenen sind) und mit Notaren überprüft werden; das ergibt sich aus Abs. 2, in dem nur der Verteidiger privilegiert wird. Vgl. auch § 26 Rdn. 7; § 27 Rdn. 16. Kontrolliert werden darf unter den Voraussetzungen des Abs. 3 ferner der Schriftver- 5 kehr des Gefangenen mit Gerichten und Justizbehörden, aber grundsätzlich nur dann (Ausnahmen: Rdn. 6 f), wenn im konkreten Fall der Absender des Schreibens bei äußerlicher Betrachtung nicht einwandfrei festgestellt werden kann (LG Lahn-Gießen ZfStrVo SH 1977, 21; in diesem Sinne auch LG Hamm BlStV 3/1997, 6; a. A. OLG Zweibrücken NStZ 1985, 236; LG Ellwangen ZfStrVo 1979, 125: auch dann nicht von der Überwachung ausgenommen.) Die Herkunft eines Schreibens von einem Gericht oder einer Behörde ist allerdings fast immer äußerlich erkennbar, z. B. durch Absenderaufdruck, durch Verwendung von Frankiermaschinen und bei Fensterbriefumschlägen durch Sichtbarwerden der Absenderangabe (LG Lahn-Gießen aaO). a) Überwachung aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung (zulässig: BVerfG 6 ZfStrVo 1982, 126). Eine Überwachung des Schriftwechsels aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung kommt (wie bei der Überwachung der Besuche: vgl. § 27 Rdn. 7) grundsätzlich nur im geschlossenen Vollzug in Betracht, weil im offenen Vollzug die entsprechenden Risiken naturgemäß geringer sind. Umstritten ist, ob im geschlossenen Vollzug auch eine generelle Anordnung der 7 Vollzugsbehörde (Problem: Abwägung zwischen Sicherheitsinteressen der Anstalt und Individualisierungsgebot wie bei Rdn. 7 zu § 27) den Schriftwechsel aller Gefangenen ohne Einzelfallprüfung zu überwachen, zulässig ist (dazu Rdn. 23: Bayern). Das OLG Frankfurt (NJW 1979, 2525 = ZfStrVo 1978, 28, 29) hat diese Frage überzeugend mit dem Hinweis bejaht, dass man nicht auf die Gefährlichkeit des einzelnen Strafgefangenen (bzw. Sicherungsverwahrten) abstellen dürfe, weil nach aller Erfahrung selbst ungefährliche Straftäter (z. B. über Gruppendruck) durch andere (etwa ausbruchswillige oder sonst sicherheitsgefährdende) Mitgefangene zu (für die Anstalt) gefährlichen Außenkontakten missbraucht werden können. Im geschlossenen Vollzug komme es daher nicht auf die Gefährlichkeit des einzelnen Strafgefangenen an (so auch seit 1983 alle Auflagen dieses Kommentars, bestätigt auch durch OLG Zweibrücken NStZ 1985, 236; OLG Hamburg StraFO 2006, 172; Arloth 2008 Rdn. 4; Böhm 2003 Rdn. 254; a. A. C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2; Molketin 1981, 192 ff; Gusy 1997, 675). In Anstalten mit hoher Sicherheitsstufe ist auch die generelle Überwachung der Behördenpost (vgl. aber Rdn. 5 und Rdn. 23 für Bayern) zulässig (OLG Frankfurt BlStV 4/5/1994, 5; OLG Hamburg ZfStrVo 1991, 185; OLG Zweibrücken NStZ 1985, 236; Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2), aber nicht die Öffnung eingehender Briefwahlunterlagen (OLG Frankfurt BlStV 1/1993, 5; C/MD 2008 Rdn. 3). Strittig ist aber, ob die (generelle) Überwachungsanordnung nur als Hans-Dieter Schwind
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
kurzfristige Übergangslösung in Betracht kommt (so Laubenthal 2008 Rdn. 492) oder auch für eine längere Dauer. Für die längere Dauer spricht, dass sich die Sicherheitsrisiken in der Regel kurzfristig nicht ändern werden. Deshalb sollte entsprechend den Sicherheitsrisiken wie folgt differenziert werden:
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aa) Bei eingehender Post reicht in der Regel die Sichtkontrolle aus, die, soweit das die personelle Situation der Anstalt zulässt, in Gegenwart des Gefangenen durchgeführt werden sollte (so auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Zweibrücken NStZ 1985, 236). Eine offene Aushändigung von Post, die auch dritten Personen Kenntnis vom Inhalt dieser Post ermöglicht, stößt auf verfassungsrechtliche Bedenken (BVerfG 4.9.97 – 2 BvR 1152/97).
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bb) Ausgehende Post muss der Gefangene nach VV Nr. 2 Abs. 2 im offenen Umschlag in der Anstalt abgeben, wenn der Schriftwechsel (ausnahmsweise) überwacht wird. Der Gefangene weiß also in diesem Fall, dass sein Schriftwechsel überwacht wird; das hat zur Folge, dass die Effektivität der Überwachung begrenzt ist (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 4). Bei ausgehender Post kommt (da das Einschmuggeln verbotener Gegenstände entfällt) eher als die Sichtkontrolle die Textkontrolle in Frage.
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cc) Zu weiteren Besonderheiten der Überwachung: Der Bedienstete der Anstalt, dem die Überwachung obliegt, darf nach VV Nr. 2 Abs. 3 auf den Schreiben keine Randbemerkungen anbringen oder Briefstellen durchstreichen oder undeutlich machen; er darf lediglich einen Sichtvermerk anbringen (C/MD 2008 Rdn. 4 u. VV); die Bloßstellung des Absenders als Gefangener ist jedoch zu vermeiden (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3). Der Anstaltsleiter muss aber einen unfrankierten Brief nicht weiterleiten (vgl. § 30 Rdn. 2). Unzulässig ist es, einen Brief, auf dessen Umschlag der Gefangene als Absender nicht die Vollzugsanstalt, sondern eine andere Anschrift angegeben hat, mit der Auflage zurückzugeben, die Absenderangabe zu ändern (OLG Celle ZfStrVo 1982, 127 und 1993, 57). Zu Art und Umfang der Überwachung und zu den Kosten für die Übersetzung von Schreiben, die in fremder Sprache abgefasst sind: vgl. oben VV Nr. 3.
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b) Eine Überwachung aus Gründen der Behandlung (vgl. dazu § 27 Rdn. 8) kann notwendig sein, um Informationen über die Persönlichkeit des Gefangenen und seine Verhältnisse zu gewinnen, um daraus (vor allem bei beunruhigenden Nachrichten) rechtzeitig Konsequenzen für die Behandlung und etwa notwendig werdende soziale Hilfen und therapeutische Maßnahmen treffen zu können (RegE, BT-Drucks. 7/918, 59; OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 51 ff; Arloth 2008 Rdn. 4). Eine solche Überwachung wird aber nur dann zu rechtfertigen sein, wenn besonders wichtige Aufschlüsse über Probleme zu erwarten sind, die im Rahmen der Behandlung Bedeutung besitzen; eine Überwachung ist ferner geboten, um kriminellen Verhaltensweisen (z. B. eines Heiratsschwindlers) entgegenwirken zu können (Arloth 2008 Rdn. 5). Man wird im Übrigen davon ausgehen dürfen, dass die Überwachung nur bei eingehender Post Erkenntnisse bringt, weil bei der ausgehenden Post entsprechende Informationen kaum zu erwarten sein dürften; jedenfalls wäre zu vermuten, dass der Gefangene, der weiß, dass sein Schriftwechsel überwacht wird, entsprechende Zurückhaltung übt. Gleichwohl scheint die Überwachung den Gefangenen, wie der Praktiker weiß, erstaunlicherweise oft gar nicht zu stören. 2. Unüberwacht bleibt: der Schriftverkehr
12 – mit dem Anstaltsbeirat (§ 164 Abs. 2 Satz 2), – grundsätzlich mit dem Verteidiger (§ 29 Abs. 1) und – mit den sog. Petitionsstellen und Datenschutzbeauftragten (§ 29 Abs. 2).
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Überwachung des Schriftwechsels
§ 29
a) Schriftverkehr mit dem Anstaltsbeirat (gemeint ist die ein- und ausgehende 13 Post): § 164 Abs. 2 Satz 2 soll die Unbefangenheit der Information durch den Gefangenen sicherstellen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 98). Vgl. §§ 162 ff Rdn. 7. b) Abs. 1: Schriftverkehr mit dem Verteidiger: Unüberwachten Schriftverkehr mit 14 seinem Rechtsanwalt kann der Gefangene nur dann verlangen, wenn der Rechtsanwalt eine Verteidigerfunktion ausübt (vgl. VV Nr. 1 Abs. 2). Es muss erkennbar sein, dass sich die Beistandsfunktion des Rechtsanwalts entweder auf die Strafsache selbst, auf ein strafrechtliches Folge- oder Nebenverfahren oder auf eine Strafvollzugssache erstreckt, die bereits anhängig ist oder deren Rechtshängigkeit alsbald herbeigeführt werden soll (OLG Nürnberg ZfStrVo 1979, 186; vgl. auch LG Regensburg ZfStrVo 1979, 55; LG Wuppertal NStZ 1992, 152 = BlStV 4/1992, 1). Zum Umfang der Beistandsfunktion vgl. auch § 26 Rdn. 3. Weiteres § 26 Rdn. 8 ff; § 27 Rdn. 12 ff. aa) Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 wird der Schriftwechsel des Gefangenen mit dem Verteidi- 15 ger (ein- und ausgehende Post) grundsätzlich nicht überwacht (vgl. auch oben Rdn. 4). Sinn dieser Vorschrift ist es, das Recht des Gefangenen auf eine von Behinderungen und Einschränkungen freigestellte Verteidigung zu gewährleisten. Die Verteidigerpost muss jedoch deutlich sichtbar gekennzeichnet sein (VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 2; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1987, 248; OLG Frankfurt ZfStrVo 2004, 379): Absenderangabe mit Kennzeichnung als Verteidigerpost (Arloth 2008 Rdn. 6; a. A. OLG Dresden NStZ 2007, 708: RA-Angabe reicht). Im Einzelfall sollen zur (ausgehenden) Verteidigerpost auch Pakete gehören (OLG Stuttgart NJW 1992, 61; OLG Koblenz NStZ 1983, 96): d. h. auch die Sichtkontrolle ist dann nicht erlaubt. Das Öffnen bzw Auschütteln der Verteidigerpost durch Bedienstete der Anstalt (etwa zur Feststellung der Absenderidentität oder zur Überprüfung unzulässiger Einlagen: z. B. Rauschgift oder Geldscheine) ist grundsätzlich nicht gestattet (OLG Stuttgart NStZ 1991, 359; OLG Karlsruhe NStZ 1987, 188; OLG Saarbrücken NStZ 2004, 188 = ZfStrVo 2003, 376; OLG Bremen StV 2006, 350; C/MD 2008 Rdn. 5; Laubenthal 2008 Rdn. 494). Denn der Gesetzgeber hat die Gefahren eines Missbrauchs bewusst in Kauf genommen, um jeder Beeinträchtigung des zwischen dem Gefangenen und seinem Verteidiger bestehenden besonderen Vertrauens vorzubeugen. Der Verteidiger soll wegen seiner Integrität als Organ der Rechtspflege jeder Beschränkung enthoben sein (OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 61). Eine Sichtkontrolle des Inhalts der Verteidigerpost ist jedoch dann zulässig, wenn der Gefangene, an den die Post gerichtet ist, der Öffnung zustimmt und bei der Öffnung anwesend ist bzw. diese selbst vornimmt (so auch Arloth 2008 Rdn. 6; OLG Koblenz NStZ 82, 260 und VV; a. A. OLG Bamberg MDR 1992, 507; OLG Saarbrücken aaO; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 5; OLG Frankfurt ZfStrVo 2004, 51 sowie OLG Dresden NStZ 2007, 707 mit der Begründung, dass der Gefangene die Zustimmung evtl. nur deshalb erteilt, um nicht in den Verdacht zu geraten, etwas verbergen zu wollen, „was negative Auswirkungen im Vollzugsalltag haben könne“). Erlaubt ist ferner, die Verteidigerpost zu Kontrollzwecken zu röntgen, wenn dabei die bewusste und unbewusste Wahrnehmung des gedanklichen Inhalts ausgeschlossen ist (OLG Frankfurt aaO). Rechtswidrig ist eine Heraustrennung des Sichtfensters und eine Stempelung des Briefes im Adressfeld der Post (OLG Frankfurt aaO). Zulässig ist hingegen, dass die Posteingangsstelle der Vollzugsanstalt eingehende Verteidigerpost mit einer Perforierung in Form eines Pilzes versieht, der an den äußersten Stellen das Ausmaß von ca. achtmal 8 mm hat, so dass aufgrund dieser Kennzeichnung bei erneutem Eingang eine etwa wiederholte Benutzung durch das Klarsichtfenster erkannt werden kann (OLG Saarbrücken ZfStrVo 2003, 377). Auch andere Arten der „Lochung“ können zulässig sein (OLG Karlsruhe NStZ 2005, 588; OLG Frankfurt ZfStrVo 2005, 251). Solche Vorsichtsmaßnahmen entfallen, wenn
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§ 29
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
über die Verteidiger keine Zweifel bestehen: solche bestehen dann nicht, wenn die Verteidigerstellung des Absenders der Vollzugsbehörde durch Vorlage der Vollmacht oder die gerichtliche Bestellung ordnungsgemäß nachgewiesen ist (VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 und OLG Frankfurt NStZ 1987, 357: „eine Selbstverständlichkeit, die keiner gesetzlichen Regelung bedarf“). Die Anstalt kann jedoch die Aushändigung der entsprechenden Post vom vorherigen Nachweis der Verteidigereigenschaft abhängig machen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 113) bzw. durch telefonische Rückfragen klären, ob es sich um Verteidigerpost handelt (OLG Bamberg MDR 1992, 507; OLG Frankfurt StV 2003, 402 = ZfStrVo 2003, 300, 301; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 9), aber nur „in wirklichen Zweifelsfällen“ bzw. bei begründetem Verdacht eines Missbrauchs – z. B., wenn der Aufgabeort der Sendung weit von dem Büro des Verteidigers entfernt liegt (OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 61 = StraFo 2005, 84). Bestehen am Vorliegen von Verteidigerpost keine begründeten Zweifel, soll ein Rückruf in der Kanzlei des Verteidigers (vgl. auch Rdn. 6 zu § 26) mit der Frage, ob die Sendung von dort stammt, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit unzulässig sein (so OLG Frankfurt); das kann aber nur gelten, wenn die Aushändigung der Verteidigerpost an den Gefangenen dadurch verzögert wird (a. A. OLG Frankfurt aaO), weil dieser sonst nicht beschwert ist. Die Sicherstellung der Verteidigerpost im Haftraum ist unzulässig (Arloth 2008 Rdn. 6; OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 311; vgl. auch KG NStZ 2004, 611 M), weil sie das Überwachungsverbot unterläuft (C/MD 2008 Rdn. 5). Eine entsprechende Haftraumkontrolle in Form der Sichtkontrolle kommt aber dann in Betracht, wenn der Gefangene anwesend ist (Arloth 2008 Rdn. 6). Nach Abs. 1 Satz 1 des § 29 unterliegt im Übrigen nur der „Schriftwechsel“ des Gefangenen mit seinem Verteidiger nicht der Überwachung: ein (bei der Durchleuchtung) in einem Päckchen entdecktes Kassettengerät genießt daher nicht den Schutz dieser Vorschrift (LG Bielefeld BlStV 2/1985, 8); zum Begriff des „Schriftwechsels“, vgl. Rdn. 3 zu § 28.
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bb) Das grundsätzlich bestehende Überwachungsverbot des Abs. 1 Satz 1 wird nach Abs. 1 Satz 2 jedoch für den Schriftverkehr mit solchen Gefangenen eingeschränkt, gegen die eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat nach § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigung), auch in Verbindung mit § 129b StGB Abs. 1, vollstreckt wird oder (so Abs. 1 Satz 3) im Anschluss an die Strafe (Anschlussstrafe), die zur Zeit verbüßt wird, zu vollstrecken ist. Diese Fälle werden in die richterliche Überwachung unter denselben Voraussetzungen und in demselben Umfange einbezogen (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 i. V. m. § 148 Abs. 2 und § 148a StPO), wie dies für den Vollzug der Untersuchungshaft gilt: d. h., für die Kontrolle des Schriftverkehrs ist dann der Richter bei dem Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt liegt (vgl. auch § 26 Rdn. 10; § 27 Rdn. 14). Dies gilt nicht in den Fällen des Abs. 1 Satz 2, 2.HS., nämlich dann nicht, wenn keine Sicherheitsbedenken bestehen. So z. B., wenn sich ein solcher Gefangener im offenen Vollzug befindet oder wenn ihm Vollzugslockerungen bzw. Urlaub gewährt werden (Arloth 2008 Rdn. 7; ausführlicher C/MD 2008 Rdn. 6).
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c) Abs. 2: Schriftverkehr mit Petitions- und Datenschutzstellen. § 29 Abs. 2 ist der Ausfluss des Petitionsrechtes im Sinne der Art. 17 GG (dazu OLG Nürnberg NStZ 1993, 455 = BlStV 4/5/1994, 5).
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aa) Ausgehende Post: Nicht überwacht werden die ausgehenden Schreiben an die sog. Petitionsstellen. Solche Petitionsstellen sind: Volksvertretungen des Bundes und der Länder sowie deren Abgeordnete. Die Schreiben an Abgeordnete dürfen nicht an deren Privat-
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anschrift gerichtet sein, sondern an die Postanschrift der Volksvertretung, damit sie von deren Postverteilungsstelle an den Adressaten weitergeleitet werden können (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3). Auf diese Weise soll dem Missbrauch vorgebeugt werden: es soll vermieden werden, dass Kontaktpersonen fälschlich als Abgeordnete bezeichnet werden, um der Briefkontrolle zu entgehen (Grunau/Tiesler aaO). Nicht überwacht wird ferner die ausgehende Post – an das Europäische Parlament und dessen Mitglieder; – an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; – die Europäische Kommission für Menschenrechte (an deren Stelle der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getreten ist); – den Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und an – die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder; die Aufnahme dieser Adressaten „korrespondiert mit der . . . Einführung datenschutzrechtlicher Regelungen im Strafvollzug und soll es ermöglichen, dass sich Gefangene mit Eingaben, die sie als vertraulich behandelt wissen wollen, nicht nur an die Mitglieder gesetzgebender Körperschaften, sondern auch an die für Fragen des Datenschutzes fachlich besonders qualifizierten Stellen wenden können“ (Begr. RegE 1998 zum 4. StVollzGÄndg BT-Drucks. 13/10245, 15). Aus dem Wortlaut des Abs. 2 ergibt sich schließlich, dass Briefe, die an Kommunalparlamente gerichtet sind, z. B. an den Kreistag oder die Stadtverordnetenversammlung, der Überwachungsmöglichkeit unterliegen (Grunau/Tiesler aaO). Ebenso können Schreiben an das Bundespräsidialamt und die Landtags- und Bundestagsfraktionen sowie an die Gerichte und andere Justizbehörden (C/MD 2008 Rdn. 5), selbst an das BVerfG (a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 13) überwacht werden (LG Ellwangen ZfStrVo 1979, 125; OLG Hamburg ZfStrVo 2004, 306; Arloth 2008 Rdn. 8; vgl. auch schon Rdn. 5); das gilt auch für Schreiben, die an den Bundespräsidenten gerichtet sind (OLG Nürnberg NStZ 1993, 455 = MDR 1993, 794; OLG Hamburg aaO). Der Kontrolle unterliegt auch die Korrespondenz mit einem Facharzt (OLG Frankfurt ZfStrVo 80, 56; C/MD 2008 Rdn. 5). bb) Eingehende Post: Schreiben, die von den in Abs. 2 genannten Stellen an den 19 Gefangenen gerichtet sind, werden nicht überwacht, sofern die Identität des Absenders zweifelsfrei feststeht. In diesem (durch das 4. StVollzGÄndG vom 26.8.1998 eingefügten) Satz 3 (1998 I, 2464) nimmt das Gesetz eine „in den Stellungnahmen der Landesjustizverwaltungen und der Landesbeauftragten für den Datenschutz mehrheitlich enthaltene Anregung auf“ (Begr. RegE aaO Rdn. 18). Die sichere Feststellung der Absenderangabe wird offenbar für unproblematisch gehalten (Begr. aaO); die bisher gewählten „Verfahrensweisen (u. a. vorgedruckte Absenderangabe, Freistempler, Dienstpost, Brief-in-Brief-Lösung) haben sich bewährt“ (so die Begr. aaO). Ergibt sich erst nach Öffnung eines Briefes, etwa aus dem Briefkopf, dass es sich um ein Schreiben eines Abgeordneten oder einer in § 29 Abs. 2 genannten Institution handelt, ist die Postkontrolle abzubrechen (OLG Hamburg OLGSt § 29 Nr. 1). d) Anderer Schriftverkehr: Die durch das 4. StVollzGÄndG vom 26.8.1998 (aaO Rdn. 19) erfolgte Neufassung (auch) 20 des Abs. 3 „berücksichtigt, dass – ebenso wie § 27 Abs. 1 für den Bereich der Besuchsüberwachung – diese Vorschrift unter Datenerhebungsgesichtspunkten die im Rahmen der Überwachung des Schriftwechsels gegenüber § 179 [. . .] speziellere Vorschrift ist“ (Begr. RegE aaO Rdn. 18; Arloth 2008 Rdn. 1). Vgl. § 179 Rdn. 1. Hans-Dieter Schwind
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III. Beispiel 21
Im Anschluss an die Vorkommnisse in der JVA B. (einer Anstalt mit dem Sicherheitsgrad I), die im Juni 1976 zur Tötung des damaligen Anstaltsleiters führten, wurde die Überwachung der gesamten ausgehenden Privatpost aller Strafgefangenen dieser Anstalt angeordnet. Davon betroffen war auch der Gefangene P., der am 25. Mai 1977 beantragte, „die Zensur ausgehender Privatpost ersatzlos entfallen zu lassen“. Dieser Antrag wurde durch mündlichen Bescheid des Anstaltsleiters vom 26. Mai 1977 abgelehnt. Auch die daraufhin angerufene Strafvollstreckungskammer wies den Antrag zurück. Die Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss begründete der Antragsteller mit dem Hinweis, eine Überwachung sei nur dann gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte in seiner Person bzw. in seinem Verhalten für die Annahme vorliegen würden, dass gerade er den unüberwachten Briefverkehr missbrauchen werde. a) Das OLG Frankfurt hat daraufhin am 24. Januar 1978 (ZfStrVo SH 1978, 28, 29) beschlossen: „Die Anordnung der Überwachung der ausgehenden Post ist auch gegenüber dem Antragsteller rechtmäßig, weil es im Rahmen des § 29 Abs. 3 StVollzG bei der Überwachung des Schriftwechsels aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt nicht auf die Gefährlichkeit des einzelnen Gefangenen ankommt. Aus dem Wortlaut der genannten Bestimmung ist eine solche Einschränkung nicht zu entnehmen. Auch nach dem Zweck der Vorschrift ist eine derartige einschränkende Auslegung nicht geboten. Vielmehr muss gerade umgekehrt davon ausgegangen werden, dass Anordnungen, die aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt geboten erscheinen, nicht von der Person oder dem Verhalten des einzelnen Strafgefangenen abhängig gemacht werden können [. . .]. Auch die Gesetzesmaterialien zu § 29 Abs. 3 StVollzG liefern für eine andere Auslegung dieser Vorschrift keine Hinweise (vgl. BT-Drucks. 7/918, 59).
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b) Die Überwachung ist auch geboten. Denn die Gefahr, dass die in der Anstalt einsitzenden ausbruchswilligen oder sonst sicherheitsgefährdenden Gefangenen im Falle des unüberwachten Briefverkehrs andere Gefangene dazu missbrauchen könnten, gefährliche Außenkontakte zu vermitteln, ist nicht nur theoretischer Natur. Die Gefangenen mit den Kriterien des Sicherheitsgrades I erscheinen fähig und willens, mit den verschiedensten Mitteln der Beeinflussung bis hin zur massiven Einschüchterung und Bedrohung den nicht überwachten Briefverkehr der anderen Gefangenen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Um dieser Gefahr zu begegnen, ist die Überwachung der ausgehenden Post aller Strafgefangenen als vorbeugende Maßnahme erforderlich, zumal nicht im Voraus feststellbar ist, welcher einzelne Gefangene sich möglicherweise zur Vermittlung von Außenkontakten im Wege des Briefverkehrs missbrauchen lässt [. . .]. c) Die aufgezeigte Gefahr kann auch nicht durch eine andere, weniger einschneidende Maßnahme beseitigt werden. Die Aufsichtsbehörde hat überzeugend dargelegt, dass eine räumlich differenzierte Unterbringung der Gefangenen nach dem Grad ihrer Gefährlichkeit aufgrund der [. . .] Bauweise und der Überbelegung der Anstalt nicht möglich ist [. . .].“
III. Landesgesetze 23
1. Bayern In Art. 32 wird der Text des § 29 grundsätzlich übernommen. Ausnahme: Die Europäische Kommission für Menschenrechte wird nicht mehr genannt, weil sie (so Gesetzesbegründung LT-Drucks. 15/8101, 57) mit Wirkung vom 1.11.1998 aufgelöst wurde.
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§ 29
In Abs. 3 lautet der neue Text: „Der übrige Schriftwechsel darf überwacht werden, soweit es aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist.“ Dazu wird in der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, 57) ausgeführt: „Nach Abs. 3 ist entsprechend der Rechtsprechung zu § 29 Abs. 3 StVollzG im geschlossenen Vollzug auch eine generelle Anordnung der Justizvollzugsanstalt zulässig, den Briefverkehr aller Gefangenen zu überwachen. In Anstalten mit hoher Sicherheitsstufe ist auch die generelle Überwachung der Behördenpost zulässig.“
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2. Hamburg § 30 Abs. 1 und 2 lauten im HmbStVollzG wie folgt: „(1) Der Schriftwechsel darf aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden. (2) Der Schriftwechsel mit Mitgliedern der Anstaltsbeiräte (§§ 114–117) und mit Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälten, Notarinnen und Notaren wird nicht überwacht. Für den Schriftwechsel mit Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälten, Notarinnen und Notaren gilt § 28 Abs. 4 entsprechend“; im Übrigen folgt die Regelung § 28 Abs. 2 und 3 StVollzG. Abs. 3: entspricht grundsätzlich Abs. 2 des § 29 StVollzG. Neu eingefügt wurde eine Nummer 4, in der es heißt: Nicht überwacht werden ferner „Schreiben an sonstige Organisationen oder Einrichtungen, mit denen der Schriftverkehr aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland geschützt ist.“ Neu eingefügt wurden schließlich die Absätze 4 und 5: Abs. 4: „Schreiben der in Abs. 3 genannten Stellen, die an die Gefangenen gerichtet sind, werden nicht überwacht, sofern die Identität der Absender zweifelsfrei feststeht“. Abs. 5: „Schreiben der Gefangenen an nicht in der Anstalt tätige Ärztinnen und Ärzte, die mit der Untersuchung oder Behandlung der Gefangenen befasst sind, sowie Schreiben dieser Ärztinnen und Ärzte an die Gefangenen dürfen nur von in der Anstalt tätigen Ärztinnen oder Ärzten überwacht werden.“ Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 55), dass diese „Regelung die besondere Sensibilität von Daten, die in den ärztlichen Angelegenheiten betreffenden Schreiben enthalten sind, berücksichtigt“.
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3. Niedersachsen § 30 Abs. 1 NJVollzG ähnelt § 29 Abs. 3 StVollzG und lautet wie folgt: „Der Schriftwechsel darf überwacht werden, soweit es zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 oder aus den Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist.“ Abs. 2 entspricht inhaltlich § 29 Abs. 1 StVollzG. In Abs. 3 wird der § 29 Abs. 2 StVollzG übernommen. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 115) wird wiederum darauf verwiesen, dass „die Europäische Kommission für Menschenrechte nicht mehr erwähnt wird, da ihre Aufgaben vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wahrgenommen werden.“
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§ 30
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§ 30 Weiterleitung von Schreiben. Aufbewahrung (1) Der Gefangene hat Absendung und Empfang seiner Schreiben durch die Anstalt vermitteln zu lassen, soweit nichts anderes gestattet ist. (2) Eingehende und ausgehende Schreiben sind unverzüglich weiterzuleiten. (3) Der Gefangene hat eingehende Schreiben unverschlossen zu verwahren, sofern nichts anderes gestattet wird; er kann sie verschlossen zu seiner Habe geben.
I. Erläuterungen 1
1. Abs. 1: Absendung und Empfang der Schreiben des Gefangenen werden allein durch die Anstalt vermittelt, also nicht durch Dritte. Nur auf diese Weise kann der Schriftwechsel überwacht werden. Die Vorschrift lässt jedoch Ausnahmen für die Fälle zu, in denen eine Überwachung nicht erforderlich ist: etwa für den offenen Vollzug oder für Übergangshäuser (so auch Grunau/Tiesler 1982; offenbar missverstanden von AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1). Aus der Vollzugsanstalt herausgehende Post darf der Gefangene dann nicht verschließen, wenn die Überwachung seines Schriftverkehrs angeordnet ist (vgl. VV Nr. 2 Abs. 2 zu § 29). Verschließt er sie dennoch, so wird ein solcher Brief angehalten und zur Habe genommen (Abs. 3 2. HS.), wenn der Gefangene auch nach Belehrung auf dem Verschluss beharrt (so auch Arloth 2008 Rdn. 2).
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2. Abs. 2: Durch die Einschaltung der Vollzugsanstalt bei der Vermittlung der Post sollte jedoch die Weiterleitung der Briefe nicht länger als notwendig verzögert werden (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60). Deshalb schreibt das Gesetz vor, dass die Schreiben unverzüglich weiterzuleiten sind („Unverzüglichkeitsgebot“): Das bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern“ (RegE aaO), also nicht etwa „sofort“ (vgl. § 121 BGB). Unverzüglich ist die Weiterleitung von normalen Schreiben (jedenfalls grundsätzlich) nicht mehr, wenn Post, die morgens eingeht, bis zum Abend noch nicht verteilt worden ist (so AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Unverzüglich ist die Weiterleitung hingegen dann noch erfolgt, wenn die Post, die am Samstag eingeht, aus organisatorischen oder datenschutzrechtlichen Gründen erst am darauffolgenden Montag verteilt wird (OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 180 = BlStV 2/1995, 3; vgl. auch den Parallelfall unter Rdn. 17 zu § 68). Dienen Schreiben erkennbar einer gerichtlichen Fristwahrung (z. B. § 112) oder stellen sie Eilanträge i. S. des § 114 dar, sind sie sofort weiterzuleiten (a. A. Arloth 2008 Rdn. 4: nur „unverzüglich“). Eine Verzögerung, die sich aus der Vorlage eines Schreibens (auf dem Dienstweg) an die (zuständige) Aufsichtsbehörde (Präsident des Justizvollzugsamtes) ergibt, muss jedoch grundsätzlich nicht hingenommen werden (so auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2; OLG Hamm NStZ 1985, 237; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 1). Die Überwachung des Schriftverkehrs fällt allein in die Zuständigkeit des Anstaltsleiters (vgl. dazu auch OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1979, 70; a. A. OLG Hamm ZfStrVo 1985, 123 = NStZ 1985, 237 mit zutreffend abl. Anm. von Neufeld), die die Aufsichtsbehörde nur im Rahmen des Durchgriffsrechts (im Einzelfall) aufheben kann (vgl. wiederum Rdn. 19 ff zu § 24 und Neufeld aaO; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Ein Gefangener soll sich darauf verlassen dürfen, dass sein ordnungsgemäß adressierter und frankierter Brief von der Anstalt rechtzeitig auf den Postweg gebracht wird (KG NStZ 1992, 455), d. h. in der Regel spätestens am folgenden Arbeitstag (KG NStZ 2004, 612 M). Ist der Brief unterfrankiert (bzw. nicht ordnungs-
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gemäß frankiert), kann die JVA die Weiterleitung verweigern (so auch Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. OLG Celle ZfStrVo 1993, 57; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2001, 188; C/MD 2008 Rdn. 4), weil es zum Resozialisierungsauftrag (§ 2 Satz 1) auch gehört, den Gefangenen an ein geordnetes Verhalten zu gewöhnen (ebenso Arloth 2008 Rdn. 3); formaljuristische Überlegungen, wie sie das OLG Zweibrücken (ZfStrVo 2001, 313) anstellt, sollten hinter diesem vorrangigen Postulat zurücktreten. Die Kosten des Schriftverkehrs, zu denen auch die Frankierung von Briefen gehört, trägt der Gefangene grundsätzlich selbst (vgl. VV 2 Satz 1 zu § 28). Er kann dafür sein Hausgeld wie auch sein Eigengeld verwenden (Böhm 2003 Rdn. 252); notfalls auch sein Taschengeld (KG NStZ 1985, 352). Die Ergänzungen der Absenderangaben durch die Adresse der Anstalt ist unter keinen Umständen zulässig (OLG Celle ZfStrVo 1993, 57). 3. Abs. 3: Der Gefangene hat eingehende Schreiben unverschlossen aufzubewahren, 3 weil alle Sachen in den Hafträumen so aufbewahrt werden müssen, dass eine Durchsuchung, die aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung durchgeführt wird (§ 84 Abs. 1), möglich ist (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 60; § 84 Rdn. 2 ff). Sofern keine Sicherheitsbedenken bestehen, kann dem Gefangenen jedoch ausnahmsweise gestattet werden, seine Schreiben verschlossen aufzubewahren (vgl. Abs. 3, 2. HS.); insoweit ist vor allem an Gefangene im offenen und im Freigängervollzug zu denken (C/MD 2008 Rdn. 2). In jedem Fall kann er sie verschlossen zu seiner Habe geben (Abs. 3, 3. HS.). Soweit Verteidigerpost nicht überwacht wird (vgl. § 29 Rdn. 14 ff), darf sie auch in der Zelle nicht kontrolliert werden. Der Hinweis, dass die Gefangenen auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht werden sollen, bei Zellenrevisionen (§ 84) Verteidigerpost geschlossen zu halten oder sie zu verschließen (so AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3), übersieht die seitens des Gefangenen bestehende Missbrauchsgefahr. In Fällen, in denen ein entsprechender Verdacht besteht, ist die Sichtkontrolle (vgl. zum Begriff § 29 Rdn. 2) zulässig (Arloth 2008 Rdn. 5).
II. Landesgesetze 4
1. Bayern In Art. 33 BayStVollzG wird der Text des § 30 StVollzG vollständig übernommen.
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2. Hamburg Im HmbStVollzG fehlt diese Vorschrift.
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3. Niedersachsen Das NJVollzG übernimmt in § 31 die Vorschrift des § 30 StVollzG.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 31 Anhalten von Schreiben (1) Der Anstaltsleiter kann Schreiben anhalten, 1. wenn das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde, 2. wenn die Weitergabe in Kenntnis ihres Inhalts einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklichen würde, 3. wenn sie grob unrichtige oder erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen enthalten, 4. wenn sie grobe Beleidigungen enthalten, 5. wenn sie die Eingliederung eines anderen Gefangenen gefährden können oder 6. wenn sie in Geheimschrift, unlesbar, unverständlich oder ohne zwingenden Grund in einer fremden Sprache abgefasst sind. (2) Ausgehenden Schreiben, die unrichtige Darstellungen enthalten, kann ein Begleitschreiben beigefügt werden, wenn der Gefangene auf der Absendung besteht. (3) Ist ein Schreiben angehalten worden, wird das dem Gefangenen mitgeteilt. Angehaltene Schreiben werden an den Absender zurückgegeben oder, sofern dies unmöglich oder aus besonderen Gründen untunlich ist, behördlich verwahrt. (4) Schreiben, deren Überwachung nach § 29 Abs. 1 und 2 ausgeschlossen ist, dürfen nicht angehalten werden. VV 1 Dem Gefangenen sind die Gründe für das Anhalten mitzuteilen. Der unbedenkliche Inhalt eines angehaltenen Schreibens kann ihm bekanntgegeben werden. 2 Ein Begleitschreiben darf nur Angaben enthalten, die der Richtigstellung dienen. Der Gefangene ist über die Absicht, ein Begleitschreiben beizufügen, zu unterrichten. 3 Angehaltene Schreiben, die Kenntnisse über Sicherungsvorkehrungen der Anstalt vermitteln, dürfen auch vernichtet werden (vgl. § 83 Abs. 4 StVollzG). Schrifttum: Bemmann Über das Anhalten ehrverletzender Gefangenenpost, in: Häberle (Hrsg.): FS für Dimitris Th.Tsatsos, Baden-Baden 2003, 23 ff; Gusy Verfassungsrechtliche Probleme der §§ 28 ff StVollzG, in: Schulz (Hrsg.): FS für Günter Bemmann, Baden-Baden 1997, 673 ff; Kruis/Wehowsky Fortschreibung der verfassungsrechtlichen Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, in: NStZ 1998, 593 ff; Neu Nichtdeutsche im bundesdeutschen Strafvollzug, in: Schwind/Blau 1988, 329 ff; Rolinski Außenkontakte des Insassen, in: Baumann (Hrsg.): Die Reform des Strafvollzuges, München 1974, 77 ff; Schwind Nichtdeutsche Straftäter – eine kriminalpolitische Herausforderung, die bis zum Strafvollzug reicht, in: Feuerhelm u. a. (Hrsg.): FS für Böhm zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, 323 ff.
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§ 31
Anhalten von Schreiben
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Berücksichtigung des Art. 5 GG . 2. § 29 Abs. 3 als Grundlage des § 31 3. Sonderproblem: Ausländer im Vollzug . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeitsregelung und Anhaltegründe (Abs. 1) . . . . . 2. Beifügung eines Begleitschreibens (Abs. 2) . . . . . . . . 3. Anhaltemitteilung, Rückgabe, Verwahrung (Abs. 3) . . . . . . .
1–3 1 2 3 4–16 4–13
Rdn. 4. Anhalten setzt Überwachung voraus (Abs. 4) . . . . . . . . . III. Beispiel: Weiterleitung von Schreiben mit grob beleidigendem Inhalt . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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. 17–18 . 19–21 . 19 . 20 . 21
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I. Allgemeine Hinweise 1. § 31 räumt dem Anstaltsleiter das Recht ein, (eingehende und ausgehende) Schrei- 1 ben, die von der Überwachung nicht ausgeschlossen sind (Abs. 4), unter den in Abs. 1 Nr. 1 bis 6 aufgeführten Voraussetzungen anzuhalten. Der Anstaltsleiter (dazu Rdn. 4) wird jedoch in jedem Einzelfall die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit, also der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG (die auch Ausländern zustehen: OLG Celle ZfStrVo 1986, 377) gegenüber den von ihm wahrzunehmenden Aufgaben abzuwägen haben (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1). Dementsprechend weist das BVerfG darauf hin, dass bei der großen Bedeutung des Art. 5 GG (BVerfGE 7, 198, 208) dessen Berücksichtigung im Rahmen des Möglichen geboten ist (BVerfGE 15, 288, 295). Aber auch die psychologische Seite sollte vor dem Anhalten von Schreiben bedacht werden; jedenfalls „ruft die anstaltsinterne Zurückweisung beim Insassen regelmäßig ein Gefühl der Ohnmacht oder offene Aggressionen hervor, was beides den Bemühungen um seine Resozialisierung“ nicht dient (Rolinski 1974, 92). 2. Die Grundlage für das „Anhalten von Schreiben“ (§ 31) und die Untersagung des 2 Briefverkehrs mit bestimmten Personen (§ 28 Abs. 2) bildet die im Rahmen des § 29 Abs. 3 zugelassene Überwachung des Schriftwechsels (§ 29 Rdn. 4 ff). Sämtliche Anhaltegründe beziehen sich auf Gefahrenlagen, die der Sicherheit oder Ordnung in der Anstalt (§ 81 Rdn. 7), der Eingliederung von Gefangenen (§ 2 Rdn. 12 ff) oder den Rechtsgütern Dritter drohen (C/MD 2008 Rdn. 2). 3. Mit dem zunehmenden Reiseverkehr und der Mobilität der Arbeitskräfte ist auch die 3 Anzahl der ausländischen Mitbürger in den Vollzugsanstalten gewachsen (vgl. dazu RegE, BT-Drucks. 7/918, 60 und Schwind 1999). Auf diese bezieht sich Abs. 1 Nr. 6 der Vorschrift. Der Anteil der im Strafvollzug der Bundesrepublik einsitzenden Ausländer betrug am 31.3.2008 insgesamt 21,8 %: 13 595 von 62 348 Strafgefangenen (Strafvollzugsstatistik Bd. 4.1, 14 f; vgl. auch die Tabelle bei Laubenthal 2008 Rdn. 81): 1976 waren es erst 5,8 %; zum Anteil ausländischer Strafgefangener vgl. auch § 141 Rdn. 11. Auffällig ist das Völkergemisch: in der JVA Werl (NRW) z. B. saßen am 1.12.2008 Strafgefangene aus 28 Ländern ein (Auskünfte: Skirl/JVA Werl).
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II. Erläuterungen 4
1. Abs. 1: Die Vorschrift verpflichtet den Anstaltsleiter nicht, sie ermächtigt ihn nur zum Anhalten von Schreiben; die „Kann“-Bestimmung räumt dem betroffenen Gefangenen jedoch einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung ein (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11; BVerfG NJW 1994, 244). Gemäß § 156 Abs. 2 Satz 2 kann der Anstaltsleiter die ihm nach § 31 Abs. 1 zustehende Anhaltebefugnis anderen Vollzugsbediensteten (z. B. einen Abteilungsleiter) übertragen (vgl. auch OLG Celle ZfStrVo 1979, 54; Arloth 2008 Rdn. 2). Nach § 156 Abs. 2 Satz 2 ist diese Übertragung nicht von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde abhängig (OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 41; Arloth aaO; C/MD aaO). Die unter Abs. 1 Nr. 1 bis 6 angeführten Voraussetzungen enthalten eine abschließende Regelung (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60; OLG Celle LS ZfStrVo 1982, 127; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Jena FS 2008, 237; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1), d. h. aus anderen Gründen als den in Abs. 1 genannten dürfen Schreiben nicht angehalten werden (C/MD 2008 Rdn. 1). Erforderlich ist immer eine Entscheidung im Einzelfall, deshalb ist eine generelle Anhalteverfügung nicht zulässig (OLG Nürnberg NStZ 1982, 399; OLG Zweibrücken NStZ 1987, 95; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 1), in Betracht kommen kann aber § 28 Abs. 2. Die Voraussetzungen im Einzelnen:
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a) Nr. 1: zu den Begriffen „Ziel des Vollzuges“ (vgl. unter § 2 Rdn. 12 ff) und „Sicherheit oder Ordnung“ (dazu Rdn. 7 zu § 81). Der Anhaltegrund der Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff (vgl. § 115 Rdn. 21 f) dar (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 187). Er liegt nicht schon bei jeder denkbaren Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen oder des Ordnungsgefüges der Anstalt vor. Erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefährdung von einigem Gewicht (OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 248 = NStZ 1982, 399; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 3; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Hierfür müssen bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte feststellbar sein, es sei denn, die Gefährdung ist durch einen allgemeinen Erfahrungssatz begründet (OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 314). Auch das BVerfG (ZfStrVo 1996, 174, 175) spricht von „konkreten Anhaltspunkten für das Vorliegen einer realen Gefährdung“. Je weniger konkret die Gefahr sei, umso größeres Gewicht komme der Persönlichkeitsentwicklung des Gefangenen i. S. des Art. 2 Abs. 1 GG zu und umso zurückhaltender müsse mit der Eingriffsbefugnis verfahren werden (vgl. auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2; Kruis/Wehowsky 1998, 595). So soll die bloße Ankündigung in einem Brief an Mitgefangene, einen konspirativen „Ratgeber“ verfassen zu wollen, noch nicht den Tatbestand der Nr. 1 erfüllen (LG Hamburg NStZ 1985, 352 F), wohl aber der Aufruf zu gewalttätigen Aktionen (OLG Celle NStZ 1985, 353 F; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 249).
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aa) Das Ziel des Vollzuges (Eingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft) wird z. B. dann gefährdet, „wenn das Schreiben [. . .] der Fortentwicklung einer kriminellen Vergangenheit dient“ (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2); insoweit kann auch der Schriftwechsel mit einem entlassenen Gefangenen darunter fallen (Grunau/Tiesler aaO; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 3), jedenfalls dann, wenn dieser den Absender in einer kriminellen Haltung bestärkt (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60). Das gilt auch für Schreiben mit rechtsradikalen Äußerungen, die an einen Strafgefangenen gerichtet sind, der dem rechtsextremistischen Täterkreis zuzurechnen ist (BVerfG NStZ 1995, 613 = ZfStrVo 2004, 254; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 2; Kruis/Wehowsky 1998, 595). Auch wenn der Gefangene durch Führung eines Zweitnamens (Schriftstellername) über seine Identität zu täuschen versucht, wird das Vollzugsziel erheblich gefährdet (ebenso Arloth 2008 Rdn. 5; a. A. AK-Joester/Wegner 2006
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Rdn. 2; § 4 Rdn. 26). Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen daher die Führung des Zweitnamens untersagen (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 48) bzw. das Schreiben anhalten, wenn der Gefangene seinen wirklichen Namen nicht hinzusetzen will (Böhm 2003 Rdn. 258). Eine Beeinträchtigung des Vollzugsziels soll hingegen nicht zu befürchten sein, wenn ein Gefangener in einem Brief seine eigenen Haftbedingungen mit denen anderer Gefangener vergleicht (OLG Celle 17.3.1980 – 3 Ws 45/80 (StrVollz)). bb) Die Sicherheit des Vollzuges wird z. B. durch Erörterung von Ausbruchsplä- 7 nen (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2; Gusy 1997, 681) oder durch die Vorbereitung einer Meuterei (AE-StVollzG 1973, 179) gefährdet (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60; Arloth 2008 Rdn. 3). Das OLG Hamburg (NStZ 1981, 239 = ZfStrVo 1981, 316) ist jedoch der Ansicht, dass Schreiben nur angehalten werden dürfen, wenn die Sicherheit der Anstalt gefährdet würde, in der sich der Absender und/oder der Empfänger des Schreibens befindet. Schreiben, die allein die Sicherheit einer anderen Vollzugsanstalt gefährden, dürfen danach nicht angehalten werden (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Die Begründung überzeugt nicht. Das StVollzG regelt jedenfalls nicht nur den Vollzug in einer Anstalt, sondern den Vollzug in der Gesamtheit aller Anstalten. Wenn das Gesetz von „der“ Anstalt spricht, kann daher nur die Anstalt stellvertretend für den gesamten Vollzug gemeint sein (a. A. Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3; s. auch Rdn. 26 zu § 4). Anders ist es, wenn nur die Ordnung der Anstalt gestört wird, weil diese sich naturgemäß nur auf die JVA beziehen kann, in der der Gefangene einsitzt. cc) Die Ordnung der Anstalt wird u. a. in folgenden (Einzel-) Fällen gestört: wenn ein 8 Gefangener 97 Schreiben zwecks Durchführung einer Spenden- und Mitgliederaktion (Werbung für einen Homosexuellenverein) absenden möchte und dadurch ein übermäßiger Kontrollaufwand entsteht (so OLG Hamm NStZ 1989, 359; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 4). Ebenfalls kann die Ordnung durch einen Brief mit antisemitischem Inhalt gestört werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 127); das gilt auch für einen Ratgeber mit vollzugsfeindlicher Tendenz (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 187; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1989, 117; C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 4). Ferner kann die Ordnung nach OLG Nürnberg (ZfStrVo 1997, 372) durch den Eingang privater Post des Gefangenen auf dem Fax-Gerät der Anstalt gestört werden. Auf der anderen Seite müssen nach der Rechtsprechung des OLG Dresden (NStZ 1998, 320 = ZfStrVo 1999, 53) an den Gefangenen gerichtete Briefe mit pornographischem Inhalt und entsprechender Anlage (Porno-Fotos und benutzte Slip-Einlage) ausgehändigt werden, sofern keine persönlichkeitsbedingten Umstände entgegenstehen. Zur Abwägung kollidierender Rechtsgüter vgl. Gusy 1997, 680. b) Nr. 2: Das sind die Fälle, in denen die Anstaltsbediensteten selbst Gefahr laufen, 9 sich durch die Weitergabe (der Schreiben in Kenntnis des Inhalts) strafbar zu machen oder wegen einer Ordnungswidrigkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden: also z. B. wegen unbefugten Übermittelns von Nachrichten (§§ 14, 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG), Verbreiten verbotener Schriften (§§ 86, 131, 184 StGB) oder wegen Beihilfe zu Betrug oder Nötigung, Erpressung, Bedrohung u. ä. (vgl. auch OLG Koblenz NStZ 1982, 525; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 5). Die Vorschrift begründet aber keine Ermittlungspflicht der Strafvollzugsbehörde (C/MD 2008 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 6; AK-Joester/Wegner aaO). c) Nr. 3: Die in Nr. 3 (und Nr. 4) geregelte Eingriffsbefugnis soll die Interessen der Voll- 10 zugsbehörde vor ungerechtfertigten Angriffen schützen, weil ein anderweitiger Rechtsschutz einen nicht vertretbaren Verwaltungsaufwand erfordern würde (SA, BT-Drucks. 7/3998, 17; Laubenthal 2008 Rdn. 498; vgl. aber auch BVerfGE 31, 1, 16). Werturteile, Meinungen oder kritische Stellungnahmen sind dem Gefangenen grundsätzlich unbenommen
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(OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 48; Gusy 1997, 682). Ihre Äußerung findet nur (wie bei jedem Bürger) in den allgemeinen Gesetzen ihre Grenze (Art. 5 Abs. 2 GG) und als Ausfluss der Freiheitsentziehung in der Wahrung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt sowie im Vollzugsziel (OLG Koblenz aaO). Als häufigsten Anwendungsfall der Nr. 3 wird es sich um die Schilderung angeblicher Missstände im Vollzug handeln: etwa in Schreiben an die Presse (dazu BVerfG NJW 1994, 244). Ihre Wiedergabe kann rechtlich üble Nachrede oder Verleumdung (§ 186, § 187 StGB) sein (zur Problematik der faktischen Öffentlichkeit vgl. Gusy 1997, 688 ff) bzw. zivilrechtlich ein Verstoß gegen § 823 BGB gegenüber den verantwortlichen Vollzugsbediensteten oder den zuständigen Beamten der Aufsichtsbehörde. Die Begriffe der „groben Unrichtigkeit“ und der „erheblichen Entstellung“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe (§115 Rdn. 21 f); sie unterliegen also im vollen Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (OLG Hamm NStZ 1981, 239; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 4). „Grob unrichtig“ ist eine Darstellung, wenn sie der wahren Sachlage in keiner Hinsicht entspricht (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 5), wenn sie also schlichtweg unwahr ist (C/MD 2008 Rdn. 4). „Erheblich entstellend“ ist sie dann, wenn sie von der wahren Sachlage so stark abweicht, dass ein Wahrheitskern nur noch von einem mit den konkreten Verhältnissen Vertrauten (C/MD 2008 Rdn. 4; Laubenthal 2008 Rdn. 499) zu erkennen ist (Grunau/Tiesler aaO). Die Darstellungen müssen sich auf die Anstalt beziehen, in der der Gefangene einsitzt. Grobe Beleidigungen von Bediensteten fallen in der Regel unter Nr. 4 (Arloth 2008 Rdn. 7). Die Anhaltegründe gelten auch für Verlautbarungen der Gefangenenmitverantwortung oder für die Gefangenenzeitschrift; gerade diese Absender genießen in der interessierten Öffentlichkeit besondere Glaubwürdigkeit und können daher, wenn nach Nr. 3 die Beurteilung ihrer Schreiben großzügiger als sonst gehandhabt werden würde (wie AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 7 vorschlagen), dem Ansehen des Vollzugs und damit dem Resozialisierungsgedanken (§ 2 Rdn. 13 ff) erheblichen Schaden zufügen (dazu auch § 160 Rdn. 8).
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d) Nr. 4: „Grob“ ist eine Beleidigung (ausführlich Rdn. 17 f und § 82 Rdn. 3), der der Charakter einer Unmutsäußerung unter keinen Umständen mehr zugebilligt werden kann; in Rechnung zu stellen sind jedoch u. a. landsmannschaftliche Eigenheiten und (milieubedingter) Knastjargon (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 6). Nicht mehr toleriert werden kann z. B. die Bezeichnung von Vollzugsbediensteten als „KZ-Mörder“ (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 113) oder als „Pappnasen, Pisser“ (OLG Frankfurt NStZ 1994, 404). Im Hinblick auf den Schutz der Intimsphäre (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) ist jedoch selbst bei groben Beleidigungen hinsichtlich des Anhaltens vor allem dann Zurückhaltung geboten, wenn es sich um den Briefverkehr zwischen Ehegatten handelt; das gilt vor dem Hintergrund des Art. 6 Abs. 1 GG auch im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern (ebenso Laubenthal 2008, Rdn. 501; C/MD 2008 Rdn. 4; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 8; Gusy 1997, 685) sowie zwischen Geschwistern (Bemmann 2003, 26), (ernstlich) Verlobten (BVerfG StV 1995, 302) bzw. Partnern einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft (BVerfG NJW 1997, 185 ff) oder (noch weniger abgrenzbar) zwischen „echten Freunden“ (KG StV 2002, 209) bzw. mit „Bezugspersonen“ (BVerfG NJW 2007, 1194; OLG Jena FS 2008, 237). Danach ist der Anwendungsbereich der Nr. 4 ziemlich gering: es verbleibt nur die Korrespondenz mit (noch) nicht besonders nahestehenden Personen sowie der Presse bzw. den Medien (Bemmann aaO, 27). Nicht nur insoweit kommt es allerdings wieder auf den Einzelfall an, also auf die jeweilige Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) des Gefangenen und dem Schutz der Ehre betroffener Dritter (vgl. BVerfG NJW 1994, 1149 f). So kann der Schutz der Privatsphäre hinfällig werden, wenn es der Gefangene darauf angelegt hat, den Kontrollbeamten oder Dritte zu treffen (BVerfGE 90, 255, 263; AK-Joester/Wegner 2006
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Rdn. 8; vgl. auch Beispiel bei Rdn. 17). In Bezug auf die „Beleidigung“ des Vollzugspersonals soll Folgendes gelten: Zutreffende Tatsachenbehauptungen muss sich jeder Bedienstete bzw. Beamte entgegenhalten lassen (vgl. Gusy 1997, 683; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11 und BVerfG NJW 1995, 1477 ff = ZfStrVo 1995, 302). Bei bloßen Wertungen geht Gusy (aaO) davon aus, dass sich Betroffene (auch überzogene) Kritik gefallen lassen müssen (dazu BVerfG NJW 2007, 1194). Das BVerfG (NJW 1994, 1149) weist insoweit auf die besondere Situation des Strafgefangenen hin (insbesondere seine haftbedingte Reduzierung von Kommunikation), die Verständnis erfordere. Entsprechende Toleranz kann jedoch nur abverlangt werden, wenn die geäußerte Meinung Bezug zu der amtlichen Tätigkeit des Bediensteten hat. Für den privaten Bereich stellt auch das BVerfG (BVerfGE 90, 255, 259) fest, dass der Ehrenschutz „jedenfalls bei schweren und haltlosen Kränkungen [. . .] regelmäßig den Vorrang vor der Meinungsfreiheit“ beanspruchen kann. e) Nr. 5: kann vorliegen, wenn ein Gefangener in seinem Schriftwechsel persönliche 12 Angelegenheiten eines Mitgefangenen erörtert, womöglich mit Namen und Anschrift (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 7); Nr. 5 kommt auch dann in Betracht, wenn sich ein Gefangener ungebeten schriftlich in die Familienverhältnisse eines anderen Gefangenen einmischt (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 9) oder wenn er dessen Arbeitgeber anschreibt, um klarzustellen, dass dessen Angestellter früherer Strafgefangener ist (AK-Joester/Wegner aaO; Grunau/ Tiesler aaO). f) Nr. 6: Die Aufgabe, den Schriftwechsel zu überwachen, setzt voraus, dass die mit der 13 Überwachung beauftragten Beamten in der Lage sind, den Inhalt des Schreibens zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Grunde muss die Anstalt imstande sein, Briefe, die in einer Geheimschrift abgefasst sind, von der Weiterleitung auszuschließen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 60). Schreiben, die sich der Überwachung entziehen, weil sie unlesbar oder unverständlich sind, können ebenfalls Nachrichten enthalten, die zwar dem überwachenden Beamten, nicht aber dem Adressaten verborgen bleiben. Die Vollzugsbehörde muss daher die Möglichkeit haben, diese Briefe einem in Geheimschrift abgefassten Schreiben insoweit gleichzustellen (RegE aaO). Ausländische Gefangene sollen veranlasst werden, in deutscher Sprache mit ihren Angehörigen zu korrespondieren, es sei denn, dass sie zwingende Gründe haben, dies in ihrer Heimatsprache zu tun (RegE aaO; OLG Nürnberg ZfStrVo 1987, 186 = BlStV 3/1987, 5): wenn etwa der Gefangene oder der Adressat oder beide die deutsche Sprache nicht beherrschen (C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 10; OLG Nürnberg ZfStrVo 2004, 183) oder der Absender, der im Ausland in Haft sitzt, aus der dortigen Vollzugsanstalt nur Briefe in der Landessprache absenden darf (vgl. dazu OLG Karlsruhe NStZ 1991, 509). Soweit eine Überwachung erforderlich erscheint, muss die Kosten für die Übersetzung die Staatskasse tragen (RegE aaO; VV Nr. 3 zu § 29; AK-Joester/Wegner 2006; C/MD 2008 Rdn. 2; OLG Nürnberg ZfStrVo 2004, 183). Falls der Gebrauch einer fremden Sprache nicht zwingend notwendig ist, muss die Anstalt die Weiterleitung des Schreibens ablehnen können (RegE aaO). Voraussetzung soll aber auch hierfür sein, dass der Inhalt des Schreibens aus den zugelassenen Gründen überwacht werden muss (RegE aaO). 2. Abs. 2: Der zweite Abs. gibt dem Anstaltsleiter die Möglichkeit, ausgehenden 14 Schreiben eines Gefangenen, die unrichtige Darstellungen enthalten, ein richtigstellendes Begleitschreiben beizufügen. Der Gefangene soll jedoch durch das Begleitschreiben nicht überrascht werden. Deshalb darf ein solcher Begleitbrief erst beigefügt werden, wenn der Gefangene trotz Erörterung auf einer Absendung besteht (RegE, BT-Drucks. 7/918, 61). Im Gegensatz zu Abs. 1 Nr. 3 ist in Abs. 2 nicht von „grob“ unrichtigen Darstellungen die Rede, sondern nur von „unrichtigen Darstellungen“; das hat seinen Grund: denn wäre es anders, Hans-Dieter Schwind
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könnte der Gefangene nicht auf Absendung bestehen; wegen Nichtbeifügung eines Begleitschreibens vgl. § 4 Rdn. 14 (vgl. auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 8).
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3. Abs. 3: Wenn ein Schreiben unter den Voraussetzungen des Abs. 1 angehalten wird, ist der Gefangene nach Satz 1 darüber zu informieren; die Vorschrift führt nur den allgemein geltenden Grundsatz durch, dass belastende Verwaltungsakte dem Betroffenen mitgeteilt werden (RegE, BT-Drucks. 7/918, 61). Zu unterrichten ist der Gefangene über jedes Anhalten seiner Briefe: mitzuteilen ist also nicht nur das Anhalten seiner ausgehenden Schreiben, sondern auch das Anhalten der für ihn eingehenden Post. Eine Einschränkung ist jedoch insoweit erforderlich, als zumindest vorübergehend das Unterlassen einer solchen Mitteilung zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt unerlässlich sein kann (§ 4 Abs. 2 Satz 2). Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn sich erst aufgrund einer Reihe von Briefen bestimmte Verdachtsmomente verdichten in Richtung etwa auf Ausbruchspläne oder schwerwiegende Angriffe auf die Ordnung in der Anstalt (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 51; Arloth 2008 Rdn. 11; C/MD 2008 Rdn. 5; ferner Rdn. 26 zu § 4). Nach VV Nr. 1 Satz 1 ist der Gefangene auch über die Gründe des Anhaltens zu informieren. Aus VV Nr. 1 Satz 2 ergibt sich, dass ihm wenigstens der unbedenkliche Inhalt eines angehaltenen Schreibens bekanntgegeben werden kann (VV Nr. 1). Da das Anhalten der Schreiben die Eigentumsverhältnisse unberührt lässt (RegE aaO), sind solche Schreiben grundsätzlich an den Absender zurückzugeben (Satz 2, 1. HS.): also bei eingehenden Briefen an den Außenstehenden und bei ausgehenden Briefen an den Gefangenen. Sofern die Rückgabe unmöglich ist oder aus besonderen Gründen (insbesondere aus Sicherheitsgründen) untunlich ist, ist die Vollzugsbehörde berechtigt, die Schreiben zu verwahren (Satz 2, 2. HS.). Eine Ausnahme bildet § 83 Abs. 4 (vgl. auch VV Nr. 3). Mit der Entlassung wird regelmäßig ein Bedürfnis für eine weitere Verwahrung nicht mehr bestehen (RegE aaO). Dem Gefangenen sind daher die verwahrten Briefe dann auszuhändigen; sie dürfen ihm nur vorenthalten werden, wenn sie ihn zu neuen Straftaten anregen würden (RegE aaO; § 83 Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 11; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 14).
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4. Abs. 4: Der Klarheit halber nimmt Abs. 4 ausdrücklich Schreiben, die nach § 29 Abs. 1 und 2 der Überwachung nicht unterliegen, auch vom Anhalten aus. An sich ist Abs. 4 überflüssig, weil das Anhalten von Schreiben eine Überwachung voraussetzt.
III. Beispiel 17
Der Beschwerdeführer (Bf.), ein Strafgefangener, verwendete in einem Brief an seine Verlobte die Bezeichnung „Reichsparteitags-OLG in Nürnberg“. Sein Schreiben wurde deshalb gem. § 31 Abs. 1 Nr. 4 wegen grober Beleidigung von der JVA durch Verfügung vom 14.8. 1991 angehalten. In dem folgenden (längeren) Rechtsstreit hat das OLG Bamberg mit Beschluss vom 11.1.1994 (NJW 1994, 1972 ff = NStZ 1994, 406) den Standpunkt der Anstalt bestätigt. Die Verfassungsbeschwerde des Bf. hatte Erfolg: nach der Auffassung des BVerfG kann die Anstaltsverfügung nicht gerechtfertigt werden. 18 In seinem Beschluss vom 12.9.1994 (NJW 1995, 1477 = ZfStrVo 1995, 302; vgl. dazu auch BVerfG NJW 1994, 1149) heißt es wie folgt: „Der Beschluss des OLG Bamberg vom 1.1.1994 verletzt den Bf. in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 GG) i. V. mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG). Maßstäblich ist [. . .] von dem Beschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 26.4.1994 (= NStZ 1994, 403 f) auszugehen. Danach genießt die Äußerung des Bf. den Schutz der Mei-
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Anhalten von Schreiben
§ 31
nungsfreiheit gem. Art. 5 I GG, die allerdings durch die Vorschriften zum Schutz der persönlichen Ehre beschränkt wird. Bei der Bestimmung dieser Schranken ist wiederum zu beachten, dass Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG dem einzelnen einen Raum gewährleistet, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren kann. Nur unter den Bedingungen besonderer Vertraulichkeit ist ihm ein rückhaltloser Ausdruck seiner Emotionen, die Offenbarung geheimer Wünsche oder Ängste, die freimütige Kundgabe des eigenen Urteils über Verhältnisse und Personen oder eine entlastende Selbstdarstellung möglich. Unter solchen Umständen kann es auch zu Äußerungsinhalten oder -formen kommen, die er sich gegenüber Außenstehenden oder in der Öffentlichkeit nicht gestatten würde. Gleichwohl verdienen sie als Ausdruck der Persönlichkeit und als Bedingung ihrer Entfaltung den Schutz des Grundrechts. Der Vertrauensschutz geht nicht verloren, wenn sich der Staat Kenntnis von vertraulich gemachten Äußerungen verschafft. Dies gilt auch für die Briefkontrolle bei Strafgefangenen nach den Vorschriften der §§ 29 III, 31 I StVollzG. Diese Vorschriften beschränken das Briefgeheimnis und die Meinungsfreiheit; sie erlauben das Anhalten von Schreiben von Strafgefangenen u. a. bei Gefährdung des Vollzugsziels (§ 31 I Nr. 1) und groben Beleidigungen (Nr. 4). Zwar ist die Überwachung des Briefverkehrs zum Schutze anderer bedeutsamer Rechtsgüter verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Sie soll Gefahren für das Vollzugsziel und die Sicherheit und Ordnung der Anstalt abwehren sowie die Vertuschung und die Begehung neuer Straftaten verhindern. Es ist auch unvermeidlich, dass der Vollzugsbeamte bei Gelegenheit einer solchen Kontrolle Kenntnis vom gesamten Inhalt eines überprüften Schriftstücks erhält. Die Kenntnisnahme ändert aber, wenn der Adressat dem Briefschreiber nahe steht, nichts an der Zugehörigkeit der vertraulichen Mitteilung zu der grundrechtlich geschützten Privatsphäre. Diese kann durch die Kontrollbefugnis zwar regelmäßig durchbrochen, nicht aber in eine öffentliche Sphäre umdefiniert werden. Vielmehr wirkt sich der Grundrechtsschutz gerade darin aus, dass der vertrauliche Charakter der Mitteilung trotz der staatlichen Überwachung gewahrt bleibt. Er entfällt deshalb nicht schon deswegen, weil der Verfasser von der Briefkontrolle weiß (BVerfG NStZ 1994, 403 f; dies wurde bisher schon im Anwendungsbereich des § 119 III StPO vor allem für Ehegattenbriefe angenommen; vgl. auch BVerfGE 35, 35, 40 = NJW 1973, 1643). [. . .] Da der an die Verlobte adressierte Brief nur unter Inkaufnahme der angeordneten Kontrolle, nicht jedoch darüber hinaus mit Zutun seines Verfassers einem Dritten zur Kenntnis gelangt ist, können aus den darin enthaltenen Äußerungen unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der groben Beleidigung i. S. des § 31 I Nr. 4 StVollzG keine für den Bf. belastenden Folgerungen gezogen werden [. . .]. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Bf. selbst die Vertraulichkeit aufgehoben hätte, so dass die Gelegenheit für Dritte, seine Äußerung wahrzunehmen, ihm zuzurechnen wäre. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die Mitteilung an die Vertrauensperson nur erfolgt wäre, um den Briefkontrolleur oder Dritte zu treffen. Die im Beschluss des OLG dargestellten Tatsachen geben zu einer solchen Annahme keinen Anlass“. Vgl. dazu auch BVerfG NJW 1994, 244: Angehalten wurde ein Schreiben, mit dem der Gefangene eine Beilage mit dem Titel „Festnachtsgitterwillkürsatire“ an die Wochenschrift „Bayern-Kurier“ übersandte; in dieser war die Behauptung aufgestellt worden, unter dem Deckmantel der Justiz würden Körper, Geist und Seele der Gefangenen zerstört usw. Zur Korrespondenz zwischen Gefangenen und ihnen nahestehenden Personen als „beleidigungsfreiem Raum“ vgl. Wolff-Raiser Jura 1996, 184 ff.
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IV. Landesgestze 19
1. Bayern Art. 34 BayStVollzG entspricht § 31 StVollzG. Aber: die Nr. 6 des ersten Absatzes wurde durch folgenden Satz ergänzt: „ein zwingender Grund zur Abfassung eines Schreibens in einer fremden Sprache liegt in der Regel nicht vor bei einem Schriftwechsel zwischen deutschen Gefangenen und Dritten, die die deutsche Staatsangehörigkeit oder ihren Lebensmittelpunkt im Geltungsbereich des Grundgesetzes haben.“ Dieser Hinweis soll der „Klarstellung“ dienen (Gesetzesbegründung LT-Drucks. 15/ 8101, 57).
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2. Hamburg § 31 HmbStVollzG entspricht (weitgehend wörtlich) dem § 31 StVollzG.
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3. Niedersachsen In § 32 Abs. 1 Nr. 1 NJVollzG wird die Formulierung „wenn das Ziel des Vollzuges“ ersetzt durch die Worte „wenn die Vollzugsziele“. § 31 Abs. 2 StVollzG ist weggefallen. § 32 Abs. 2 Satz 1 übernimmt die Regelung des § 31 Abs. 3 Satz 1 StVollzG. Der Satz 2 des § 31 Abs. 3 StVollzG wurde in Niedersachsen zu einem Abs. 2 mit folgendem Wortlaut: „Angehaltene Schreiben werden an die Absender zurückgegeben oder behördlich verwahrt, sofern eine Rückgabe unmöglich oder nicht geboten ist.“ § 32 Abs. 3 ist inhaltsgleich mit § 31 Abs. 4 StVollzG.
§ 32 Ferngespräche und Telegramme Dem Gefangenen kann gestattet werden, Ferngespräche zu führen oder Telegramme aufzugeben. Im übrigen gelten für Ferngespräche die Vorschriften über den Besuch und für Telegramme die Vorschriften über den Schriftwechsel entsprechend. Ist die Überwachung der fernmündlichen Unterhaltung erforderlich, ist die beabsichtigte Überwachung dem Gesprächspartner des Gefangenen unmittelbar nach Herstellung der Verbindung durch die Vollzugsbehörde oder den Gefangenen mitzuteilen. Der Gefangene ist rechtzeitig vor Beginn der fernmündlichen Unterhaltung über die beabsichtigte Überwachung und die Mitteilungspflicht nach Satz 3 zu unterrichten. VV Die Kosten trägt der Gefangene. Ist er dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen. Schrifttum: Ebert Kartentelefon im geschlossenen Vollzug, in: ZfStrVo 2000, 213 ff; Knauer Strafvollzug und Internet, Berlin 2006; Münster/Schneider Einschränkung des Telefonierens in der Vollzugsanstalt, in: NStZ 2001, 671 f; Perwein Erteilung, Rücknahme und Widerruf der Dauertelefongenehmigung, in: ZfStrVo 1996, 16 ff; Schneider Telefonieren ohne Grenzen?, in: ZfStrVo 2001, 273 ff.
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Ferngespräche und Telegramme
§ 32
I. Erläuterungen Der Gesetzgeber hat auf die im RegE (BT-Drucks. 7/918, 14) enthaltene Einschränkung, 1 wonach die Erlaubnis nur „in begründeten Fällen“ gegeben werden sollte, verzichtet. Er war der Meinung, dass eine nicht weiter eingeschränkte Kann-Vorschrift die bessere Möglichkeit bietet, der Situation der Gefangenen und der Anstalt weitestgehend Rechnung zu tragen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 17). Zur Bedeutung des Telefons für die Aufrechterhaltung legaler Kontakte nach „draußen“ vgl. Perwein 1996, 16 ff. Insoweit ist insbesondere zu bedenken, dass sowohl nach dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) als auch nach der Förderungspflicht der Anstalt (§ 23 Satz 2) Telefonkontakte zur Aufrechterhaltung und Pflege sozialer Beziehungen dienen, und die damit gegebenen (legalen) direkten Kontaktmöglichkeiten dem Gefangenen die Chance bieten, Beziehungen zu erhalten und am Leben der Angehörigen oder ähnlich nahestehender Personen teilzunehmen (OLG Frankfurt StV 2001, 469 = ZfStrVo 2001, 249 = NStZ 2001, 669). Das Telefon kann vor allem auch in Krisensituationen ein wichtiges Element psychischer Entlastung sein (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1; vgl. auch Perwein 1996, 16 ff). Auf der anderen Seite darf man nicht übersehen, dass der unkontrollierte Fernsprechverkehr mit der Außenwelt (z. B. durch Benutzung eines Handys) wegen der Möglichkeit von Bedrohungen und Absprachen von Straftaten usw. besonders gefahrenträchtig ist (OLG Koblenz NStZ 1993, 558 ff) und deshalb nicht in Betracht kommen kann (anders Laubenthal 2008 Rdn. 504). So findet die Gestattung von Ferngesprächen dort ihre Grenze, wo sie die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. Eine weitgehende Liberalisierung des Telefonverkehrs, wie sie AK-Joester/Wegner (2006 Rdn. 1 ff) vorschlagen, kann daher (zumindest im geschlossenen Vollzug) nicht in Betracht kommen. Zur Aufhebung einer Dauertelefongenehmigung vgl. § 14 Rdn. 24; ferner: OLG Frankfurt NStZ 2001, 669 (mit Anm. von Münster/Schneider) sowie Perwein 1996, 19. 1. Satz 1: Der Gefangene hat jedoch keinen Anspruch darauf, Ferngespräche im Fest- 2 netz zu führen oder Telegramme aufzugeben (so auch BVerfG ZfStrVo 1984, 255; OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 110; Arloth 2008 Rdn. 2; KS-Schöch 2002 § 7 Rdn. 117; Schneider 2001, 273 ff; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1). Auch grundsätzlich nicht mit dem Verteidiger (LG Hamburg StV 1986, 444 mit abl. Anm. von Joester/Wegner; abl. auch C/MD 2008 Rdn. 1; AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 8). Die sonst geltenden Grundsätze über die unüberwachte Kommunikation mit dem Verteidiger (vgl. §§ 27 Abs. 3, 29 Abs. 1 Satz 1) treffen jedoch auf diesen Sachverhalt nicht zu, weil die Kontrollmöglichkeit fehlt, die der § 32 grundsätzlich voraussetzt (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 117). Ein Anspruch auf ein Ferngespräch mit dem Verteidiger kann daher nur dann bestehen, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der telefonische Gesprächspartner tatsächlich der Verteidiger ist. Im Übrigen besteht in Bezug auf die Zulassung von Telefongesprächen ein Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch (OLG Dresden ZfStrVo 1994, 306; OLG Koblenz NStZ 1993, 558; KG NStZ-RR 1997, 61; OLG Koblenz StraFo 2003, 103; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 504), z. B. bei eventuell gebotenem Gespräch mit dem Verteidiger wegen Fristablauf (zur telegrafischen Rechtsmitteleinlegung vgl. OLG Köln StV 1990, 170; zu Inhalt und Umfang der Ermessensausübung vgl. auch Perwein aaO). Ermessensfehlerhaft kann die Ablehnung von dringenden Gesprächen z. B. in Familienangelegenheiten oder drohendem Fristablauf in Anwaltssachen, also dann sein, wenn aus zeitlichen Gründen eine rasche Verbindung erforderlich ist (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Köln NStZ 1990, 104). Insoweit spielen z. B. auch die Entfernung der Anstalt von den einzelnen Bezugspersonen des Gefangenen eine Rolle sowie die Besuchsmöglichkeiten (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 6); im geschlossenen Vollzug ist die Erlaubnis zum Telefonieren in der Regel eher als im offenen Vollzug zu geben, weil die Kommunikationsmöglichkeiten weiter eingeschränkt sind (AKHans-Dieter Schwind
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Joester/Wegner 2006 Rdn. 7). Zur Besserstellung von fremdsprachigen Ausländern, die aufgrund ihrer besonderen Situation in Betracht kommen kann, vgl. OLG Koblenz NStZ 1993, 558; C/MD 2008 Rdn. 1. In Anstalten, in denen das die Sicherheitsbedürfnisse gestatten, ist die Einrichtung von Telefonkabinen zu erwägen (C/MD aaO und Perwein aaO, sowie Schneider ZfStrVo 2001, 273). Aber die Weigerung, in einer geschlossenen JVA Münzfernsprecher für die Benutzung durch Gefangene aufzustellen, ist im Hinblick auf Sicherheit und Ordnung ermessensfehlerfrei (LG Hamburg NStZ 1985, 353 F; C/MD 2008 Rdn. 1), sofern die Möglichkeit geprüft worden ist, eine Erlaubnis unter Auflagen oder Bedingungen zu erteilen: etwa unter der Bedingung von Überwachungsmaßnahmen (dazu OLG Koblenz aaO); zu den Möglichkeiten Perwein aaO. Ein Anstaltsleiter handelt auch im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens, wenn er Telefongespräche der Gefangenen nur bei besonderer Dringlichkeit genehmigt (OLG Hamm NStZ 1995, 382 B; krit. Perwein aaO); im Sinne des Gesetzgebers ist das allerdings nicht (vgl. Rdn. 1). Im Ermessen liegt ferner die Eröffnung der Benutzung von Kartentelefonen (KG NStZ-RR 1997, 61). Deshalb besteht auch kein Rechtsanspruch der Gefangenen auf Genehmigung des Besitzes einer Telefonkarte, die wertmäßig unbeschränkte Telefongespräche ermöglicht (KG aaO; C/MD 2008 Rdn. 1). Es besteht auch kein Anspruch gegen die Anstalt auf eine kostenlose Telefonkarte, selbst dann nicht, wenn ein Telefongespräch im Rahmen eines erfolgversprechenden Rechtsstreits geführt werden soll (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2; vgl. auch KG NStZ-RR 1996, 383). Die Nutzung des Internets kommt aus Sicherheitsgründen nicht in Betracht (Arloth 2008 Rdn. 1; umfassend Knauer 2006); die Vorschrift gilt ferner nicht für e-mails (Arloth aaO). Für den Faxverkehr will das OLG Dresden (anstelle von Telegrammen) den § 32 entsprechend anwenden (ZfStrVo 1994, 306 = NStZ 1994, 208; a. A. OLG Nürnberg NStZ 2004, 318); nicht in Betracht kommt jedenfalls die Benutzung eines anstaltseigenen Faxanschlusses für private Zwecke, weil dadurch die Ordnung in der Anstalt gestört werden kann: der Fax-Anschluss wird blockiert mit der möglichen Folge, dass eilige Vollzugssachen die Anstalt nicht mehr erreichen (vgl. OLG Nürnberg ZfStrVo 1997, 372 = NStZ 1998, 398; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 12). Keinen Anspruch hat der Strafgefangene auch auf die Ermöglichung nicht zu überwachender Kommunikation mit der Außenwelt: z. B. durch Nutzung eines Mobiltelefons bzw. Handys (OLG Hamburg NStZ 1999, 638 = ZfStrVo 1999, 377; Arloth 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 505; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 1); das gilt auch für den offenen Vollzug (KG Berlin NStZ 2006, 584). Wird dem Gefangenen eine der Kommunikationsmöglichkeiten des § 32 gestattet, hat er nach VV Satz 1 (wie beim Porto) die Kosten zu tragen; einen Anspruch auf kostenlose Telefongespräche hat er nicht (KG NStZ-RR 1996, 383 f). Ist er zur Kostentragung nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen (VV Satz 2). Ob die Erhebung eines Aufschlages gegenüber dem Normaltarif für die Benutzung ausschließlich für Gefangenengespräche installierter dienstlicher Telefonapparate durch die entstehenden zusätzlichen Kosten und Verwaltungsmittel gerechtfertigt ist (so LG Hamburg NStZ 1985, 353 F; Arloth 2008 Rdn. 2), erscheint zweifelhaft (C/MD 2008 Rdn. 2). Zu Dolmetscherkosten bei Ausländern vgl. BVerfG ZStrVo 2004, 46.
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2. Satz 2: Für Ferngespräche (gemeint sind Orts- und Ferngespräche: OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 110) gelten die Vorschriften über den Besuchsverkehr (§§ 24–26) entsprechend, für Telegramme die Vorschriften über den Schriftwechsel (§§ 28–31). Das bedeutet für Telefongespräche, dass eine Überwachung der Telefonate nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist (vgl. dazu § 27 Rdn. 9). Die akustische Überwachung von Telefonaten
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ist entsprechend § 27 Abs. 1 Nr. 2 zulässig (OLG Koblenz NStZ 1993, 558). Der Mindestumfang der Telefonzeit sollte sich an § 24 Abs. 1 Satz 2 orientieren (LG Fulda NStZ 2007, 387). Im geschlossenen Vollzug müssen die Gefangenen (wie beim Schriftverkehr und Besuch) zunächst mitteilen, mit wem sie Fern- (oder Orts-)Gespräche führen wollen. Nur auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob das Gespräch überwacht werden muss. Es ist danach sicherzustellen, dass der Gefangene nur die Anschlüsse der Personen anwählen kann, mit denen ihm Telefonverkehr gestattet ist: „Zielnummernkontrolle“ (Böhm 2003 Rdn. 271). 3. Satz 3 und 4: Die Sätze 3 und 4 sind durch das 4. StVollzGÄndG vom 26.8.1998 4 (BGBl. I, 2461 ff) eingefügt worden. In der Begr. des RegE (BR-Drucks. 57/98, 43) heißt es dazu, dass es „das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Gesprächspartners eines Gefangenen erfordert“, diesen „vor dem Beginn des Gesprächs über die beabsichtigte Überwachung“ zu informieren. Die entsprechende Unterrichtung des Gesprächspartners kann aber auch durch den Gefangenen zu Beginn des Gesprächs erfolgen; das begründet der Bundesrat (BR-Drucks. aaO) u. a. damit, dass der überwachende Vollzugsbedienstete häufig die benutzte Sprache nicht versteht und deshalb auf die Überwachung (mangels seiner eigenen Sprachkenntnisse) nicht hinweisen kann. Wie soll er dann aber seiner Überwachungsaufgabe nachkommen? Schließlich: Eine Speicherung von Verbindungsdaten und Gesprächsinhalten ist nicht erlaubt (OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 219; vgl. auch Rdn. 9 zu § 27; dazu Laubenthal 2008 Rdn. 959), es sei denn, es geschieht zu Abrechnungszwecken (OLG Hamburg NStZ 2006, 697).
II. Landesgesetze 5
1. Bayern Art. 35 BayStVollzG wurde im Vergleich zu § 32 StVollzG verändert. Satz 1 eines neuen Abs. 1 lautet nunmehr: „Gefangenen kann in dringenden Fällen gestattet werden, Ferngespräche zu führen.“ Telegramme werden nicht mehr erwähnt. Neu sind folgende zwei Absätze: „(2) Die Kosten der Ferngespräche tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen. (3) Die Anstalt darf technische Geräte zur Störung von Frequenzen betreiben, die der Herstellung unerlaubter Mobilfunkverbindungen auf dem Anstaltsgelände dienen. Sie hat hierbei die von der Bundesnetzagentur gemäß § 55 Abs. 1 Satz 5 des Telekommunikationsgesetzes festgelegten Rahmenbedingungen zu beachten. Der Mobilfunkverkehr außerhalb des Geländes der Anstalt darf nicht beeinträchtigt werden.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, 57) wird darauf hingewiesen, dass auf die Regelung des Telegrammverkehrs „mangels praktischer Bedeutung“ verzichtet wurde. Die Einschränkung (auf „dringende Fälle“) in Abs. 1 entspricht „der bayerischen Vollzugspraxis“ (Begr. aaO). Weiter heißt es in der Begründung (aaO): „Nicht nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt sondern auch aus behandlerischen Gründen muss die Anstalt wissen, wann und mit welchen Personen die Gefangenen Kontakt haben. Eine unkontrollierte Kommunikation mit Außenstehenden kann daher nicht zugelassen werden. (. . .) Die Nutzung von Mobiltelefonen in der Anstalt ist entsprechend der bisherigen bundeseinheitlichen Praxis untersagt. Der neue Abs. 3 enthält eine Ermächtigungsgrundlage zum Einsatz von „Handyblockern“ im Bereich der Anstalt . “
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
2. Hamburg In Hamburg wird die Materie in einem § 33 geregelt, aber mit anderer Überschrift („Telefongespräche“). Auf die Übernahme einer Regelung zur Aufgabe von Telegrammen wurde verzichtet mit der Begründung (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 41), dass der Telegrammverkehr keine praktische Bedeutung mehr habe. Der Wortlaut der Vorschrift unterscheidet sich auch: Abs. 1: „Den Gefangenen kann gestattet werden, auf eigene Kosten Telefongespräche zu führen. Die Gespräche dürfen aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden. Ist die Überwachung des Telefongesprächs erforderlich, ist die beabsichtigte Überwachung den Gesprächspartnern der Gefangenen durch die Anstalt oder durch die Gefangenen unmittelbar nach Herstellung der Verbindung mitzuteilen. § 30 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 gilt entsprechend. Die Gefangenen sind rechtzeitig vor Beginn des Telefongesprächs über die beabsichtigte Überwachung und die Mitteilungspflicht nach S. 3 zu unterrichten.“ Abs. 2: Mit Abs. 2 (so die Begr. Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 41) „wird die Rechtsgrundlage für den Betrieb technischer Geräte zur Unterdrückung unerlaubten Mobilfunkverkehrs (so genannte Mobilfunkblocker) in Justizvollzugsanstalten geschaffen.“ Der Abs. 2 lautet: „Auf dem Gelände der Anstalt können technische Geräte zur Störung von Frequenzen betrieben werden, die der Herstellung unerlaubter Mobilfunkverbindungen dienen. Es ist sicherzustellen, dass der Mobilfunkverkehr außerhalb des Anstaltsgeländes hierdurch nicht beeinträchtigt wird. Die von der Bundesnetzagentur gemäß § 55 Abs. 1 Satz 5 des Telekommunikationsgesetzes vom 22.6.2004 (BGBl. I, 1190), zuletzt geändert am 21.12.2007 (BGBl. I, 3198, 3205), in der jeweils geltenden Fassung festgelegten Rahmenbedingungen sind zu beachten.“
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3. Niedersachsen § 33 Abs. 1 NJVollzG entspricht § 32 StVollzG, beschränkt telefonische Ferngespräche aber auf „dringende Fälle“. An Abs. 1 wurde der Satz angehängt: „Die Unterhaltung kann zeitversetzt überwacht und zu diesem Zweck gespeichert werden.“ In den Absätzen 2 bis 4 lautet der Text: „(2) Der oder dem Gefangenen kann allgemein gestattet werden, Telefongespräche zu führen, wenn sie oder er sich mit zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt von der Vollzugsbehörde erlassenen Nutzungsbedingungen einverstanden erklärt. ( . . .) (3) Die Zulassung einer anderen Form der Telekommunikation in der Anstalt bedarf der Zustimmung des Fachministeriums; die oder der Gefangene hat keinen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung. (. . .) (4) Durch den Einsatz technischer Mittel kann verhindert werden, dass mittels einer innerhalb der Anstalt befindlichen Mobilfunkendeinrichtung unerlaubte Telekommunikationsverbindungen hergestellt oder aufrechterhalten werden. Der Telekommunikationsverkehr außerhalb des räumlichen Bereichs der Anstalt darf nicht beeinträchtigt werden.“ Zur Zeitversetzung heißt es in der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 116): „Neu ist die Möglichkeit, die Inhaltskontrolle zeitversetzt durchzuführen und die Daten zu diesem Zweck vorübergehend zu speichern. Wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist die Inhaltskontrolle schnellstmöglich vorzunehmen; die Daten sind danach unverzüglich zu löschen.“
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Pakete
§ 33
§ 33 Pakete (1) Der Gefangene darf dreimal jährlich in angemessenen Abständen ein Paket mit Nahrungs- und Genussmitteln empfangen. Die Vollzugsbehörde kann Zeitpunkt und Höchstmengen für die Sendung und für einzelne Gegenstände festsetzen. Der Empfang weiterer Pakete oder solcher mit anderem Inhalt bedarf ihrer Erlaubnis. Für den Ausschluss von Gegenständen gilt § 22 Abs. 2 entsprechend. (2) Pakete sind in Gegenwart des Gefangenen zu öffnen. Ausgeschlossene Gegenstände können zu seiner Habe genommen oder dem Absender zurückgesandt werden. Nicht ausgehändigte Gegenstände, durch die bei der Versendung oder Aufbewahrung Personen verletzt oder Sachschäden verursacht werden können, dürfen vernichtet werden. Die hiernach getroffenen Maßnahmen werden dem Gefangenen eröffnet. (3) Der Empfang von Paketen kann vorübergehend versagt werden, wenn dies wegen Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerlässlich ist. (4) Dem Gefangenen kann gestattet werden, Pakete zu versenden. Die Vollzugsbehörde kann ihren Inhalt aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überprüfen. VV 1 (1) Der Empfang eines Paketes ist zugelassen zu Weihnachten, zu Ostern und zu einem von dem Gefangenen zu wählenden weiteren Zeitpunkt (z. B. Geburtstag). (2) Einem Gefangenen, der nicht einer christlichen Religionsgemeinschaft angehört, kann anstelle des Weihnachts- und des Osterpaketes der Empfang je eines Paketes aus Anlass eines hohen Feiertages seines Glaubens gestattet werden. 2 (1) Einschließlich der Verpackung darf das Gewicht des Weihnachtspaketes fünf Kilogramm, der beiden übrigen Pakete jeweils drei Kilogramm nicht übersteigen. (2) Ein Paket darf Alkohol und andere berauschende Mittel in jeder Form sowie Medikamente und Tabletten nicht enthalten. (3) In den Fällen einer ärztlichen Anordnung nach § 22 Abs. 2 StVollzG darf der Inhalt des Paketes nur nach Anhörung des Arztes ausgehändigt werden. 3 Die Erlaubnis zum Empfang sonstiger Pakete kann namentlich für die Zusendung von Unterrichtsund Fortbildungsmitteln, Entlassungskleidung und Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung erteilt werden. 4 Jedes Paket soll ein Inhaltsverzeichnis enthalten und den Absender erkennen lassen. Die Verwendung einer von der Anstalt ausgegebenen Paketmarke kann vorgeschrieben werden. 5 (1) Das Paket soll innerhalb eines Zeitraumes von zwei Wochen vor oder nach den in Nummer 1 genannten Zeitpunkten eingehen.
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§ 33
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
(2) Die Anstalt kann die Annahme eines Paketes, das zur Unzeit (Abs. 1) oder mit Übergewicht eingeht oder dessen Empfang nicht zugelassen ist, – gegebenenfalls bereits auf dem Postamt – verweigern. Sie teilt dem Gefangenen die Annahmeverweigerung und den Grund dafür mit. (3) Abs. 2 gilt nicht für ein Paket, das einem ausländischen Gefangenen nicht aus dem Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes zugesandt wird. Wird das Höchstgewicht überschritten oder ist das Paket nicht zugelassen, kann der Mehrinhalt oder der Inhalt dem Gefangenen ausgehändigt werden, wenn dieser mit der Zuführung eines dem Wert entsprechenden, von der Anstalt festgesetzten Betrages aus dem Hausgeld zum Überbrückungsgeld oder Eigengeld einverstanden ist. Andernfalls ist der Mehrinhalt oder der Inhalt des Paketes zur Habe des Gefangenen zu nehmen, soweit er nicht mit dessen Zustimmung anderweitig verwendet oder soweit nicht nach § 83 Abs. 3 StVollzG verfahren wird. 6 (1) Ein Gefangener, der kein Paket erhält, darf zum Ausgleich Nahrungs- und Genussmittel einkaufen. Für den Ersatzeinkauf darf ein Betrag bis zum siebenfachen, beim Weihnachtspaket bis zum neunfachen Tagessatz der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG) aus dem Eigengeld verwendet werden. § 83 Abs. 2 Satz 3 StVollzG bleibt unberührt. (2) Geht für einen Gefangenen nach dem Ersatzeinkauf in dem in Nummer 5 Abs. 1 bestimmten Zeitraum ein Paket ein, ist es ihm auszuhändigen, wenn er mit der Zuführung des gleichen Betrages, den er für den Ersatzeinkauf verwendet hat, aus dem Hausgeld zum Überbrückungsgeld oder Eigengeld einverstanden ist. Andernfalls ist das Paket zurückzusenden. Nummer 5 Abs. 3 bleibt unberührt. 7 (1) Der Paketinhalt wird auf verbotene Gegenstände durchsucht. Liegt ein Inhaltsverzeichnis bei, ist die Vollzähligkeit zu prüfen; Abweichungen sind auf dem Verzeichnis zu vermerken. (2) Der Gefangene hat den Empfang des Paketes schriftlich zu bestätigen. 8 Die Kosten des Paketverkehrs trägt der Gefangene. Ist er dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen. 9 Der Gefangene soll alsbald nach der Aufnahme durch Aushändigung eines Merkblattes über die Möglichkeit, Pakete zu empfangen und zu versenden, unterrichtet werden. Übersicht I. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Empfang von sog. Regelpaketen a) Minimalrecht (Abs. 1 Satz 1) b) Zeitpunkt und Höchstmengen (Abs. 1 Satz 2) . . . . . . . . aa) Zeitpunkt . . . . . . . . bb) Höchstmengen . . . . . cc) Sonderproblem: Auslands pakete . . . . . . . . . . c) Sog. Paketmarke . . . . . . 2. Empfang „weiterer“ Pakete (Abs. 1 Satz 3) . . . . . . . . . 3. Ausschluss von Gegenständen (Abs. 1 Satz 4) . . . . . . . . .
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Rdn.
Rdn.
. . .
1–18 1–7 2
. . .
3–6 4 5
. .
6 7
.
8–10
4. Kontrolle und Anhalten von Paketen (Abs. 2) . . . . . . . . . 12–14 5. Vorübergehende Untersagung des Empfangs (Abs. 3) . . . . . . . . 15 6. Versenden von Paketen durch den Gefangenen (Abs. 4) . . . . . . . 16 7. Kosten für den Paketverkehr . . . 17 8. Ausgleich für „Paketnichtempfänger“ . . . . . . . . . . . 18 II. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 19–21 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 20 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 21
.
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I. Erläuterungen 1. Der Gesetzgeber weist darauf hin (vgl. RegE, BT-Drucks. 7/918, 62), dass der Emp- 1 fang von Paketen, namentlich mit Nahrungs- und Genussmitteln, für den Gefangenen eine spürbare Erleichterung seiner Lebensführung bedeutet und eine Festigung seiner Beziehungen zu Außenstehenden. Dementsprechend räumt § 33 dem Gefangenen einen Rechtsanspruch darauf ein, „dreimal jährlich in angemessenen Abständen ein Paket mit Nahrungs- und Genussmitteln zu empfangen“: sog. „Regelpakete“ (RegE aaO; Arloth 2008 Rdn. 2). Aus Gründen der Sicherheit und Ordnung, aber auch aus Gleichheitsgründen, kann die Anstalt den Paketumfang auf den Postweg beschränken und z. B. das Mitbringen vom Ausgang oder Urlaub verbieten (LG Regensburg ZfStrVo 1986, 1833; C/MD 2008 Rdn. 1). Das Einbringen ist dann ebenso zu behandeln wie das Mitbringen beim Strafantritt (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 376). Das heißt: Anwendung findet nicht § 33, sondern §§ 19, 70 (C/MD 2008 Rdn. 1). Die Bestellung von Paketen durch Strafgefangene bei Versandhäusern entspricht nicht der Intention des § 33, weil dadurch keine Kontakte zu Bezugspersonen stabilisiert werden (OLG Nürnberg ZfStrVo 1987, 187; Arloth 2008 Rdn. 1; a. A. AK-Joester/ Wegner 2006 Rdn. 14). Die Verweisung auf den Postweg ist zulässig (LG Regensburg ZfStrVo 1986, 183 = BlStV 4/5/1986, 7). Die Vorschrift wird durch besonders ausführliche Verwaltungsvorschriften (VV) ergänzt, durch die die Einzelheiten des Paketverkehrs (Empfang und Versendung) geregelt werden. a) Abs. 1 Satz 1: betrifft nur Pakete, die Nahrungs- und Genussmittel zum Inhalt 2 haben (zu anderem Inhalt vgl. Satz 3); die Vorschrift verankert ein „Minimalrecht“, d. h. die Anstalt kann die Zusendung weiterer solcher Pakete gestatten (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 1). Allerdings wird schon im RegE (aaO Rdn. 1) darauf verwiesen, dass Paketsendungen für die Vollzugsanstalten eine starke Belastung bedeuten können, sofern wegen notwendiger Sicherheitsvorkehrungen die Pakete und ihr Inhalt durchsucht werden müssen. Wenn es im Gesetz heißt, dass der Gefangene „jährlich in angemessenen Abständen“ bestimmte Pakete empfangen darf, so ist damit jedoch zumindest gemeint, dass die Paketsendungen grundsätzlich nicht alle in einem Halbjahr empfangen werden dürfen. In Bayern (Art. 36), Hamburg (§ 34) und Niedersachsen (§ 34) sind Pakete solchen Inhalts nicht mehr zulässig, und zwar wegen der auf praktischen Erfahrungen beruhenden Gefahr des Einschmuggelns unerlaubter Gegenstände und des damit verbundenen hohen Kontrollaufwandes. b) Abs. 1 Satz 2 bestimmt, dass die Vollzugsbehörde den Zeitpunkt und die Höchst- 3 mengen für die Sendung und für einzelne Gegenstände festsetzen kann. aa) Zeitpunkt: nach VV Nr. 1 Abs. 1 ist der Empfang eines Paketes nur zu Weihnach- 4 ten, zu Ostern oder etwa zum Geburtstag zugelassen. Hinsichtlich des Zeitpunktes für den Empfang der Regelpakete steht der Vollzugsbehörde aber ein Ermessen zu (OLG Hamm NStZ 1991, 407 = BlStV 1/1992, 7). Insofern kann von der Landesjustizverwaltung auch eine Ermessensrichtlinie erlassen werden, die der gerichtlichen Nachprüfung nur in den Grenzen des § 115 Abs. 5 unterliegt (OLG Hamm ZfStrVo 1979, 252 = BlStV 3/1980, 8). Zur gerichtlichen Ermessensüberprüfung § 115 Rdn. 19 ff. Die VV Nr. 1 Abs. 1 soll mit dem Gesetz nur insoweit nicht vereinbar sein, als sie dem Anstaltsleiter keine Möglichkeit lässt, selbst in begründeten Ausnahmefällen anstelle des Geburtstags einen anderen Zeitpunkt für den Paketempfang festzusetzen (OLG Hamm aaO). Allerdings scheint dabei übersehen worden zu sein, dass in solchen Ausnahmefällen § 33 Abs. 1 Satz 3 weiterhilft (Rdn. 8 ff); eine weitere Ausnahme von der VV Nr. 1 Abs. 1 erlaubt VV Nr. 1 Abs. 2: eine Vorschrift, die eine Sonderregelung für den Fall zulässt, dass der Gefangene keiner christlichen ReliHans-Dieter Schwind
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gionsgemeinschaft angehört. Dann kann der Anstaltsleiter diesem Gefangenen auf Antrag anstelle des Weihnachts- und des Osterpakets den Empfang je eines Pakets aus Anlass eines entsprechend hohen Feiertages seines Glaubens gestatten. C/MD (2008 Rdn. 1) halten diese Regelung zu Recht für bedenklich, weil sie die Anstalt nur ermächtigt, nicht verpflichtet. Deshalb sollte so verfahren werden, als ob eine Verpflichtung bestünde; das setzt jedoch voraus, dass der Gefangene die Feiertage seines Glaubens auch nennt (LG Hannover ZfStrVo 1984, 184 = BlStV 6/1984, 10). Die in VV Nr. 5 Abs. 1 getroffene Regelung ist sinnvoll, weil sie geeignet ist, die Arbeitslast zu verteilen. Deshalb kann es einem religiös gar nicht gebundenen Gefangenen nicht überlassen bleiben, ob er den Paketempfang über das ganze Jahr verteilen will; in diesem Sinne ist auch die Begründung des RegE aaO (vgl. Rdn. 1 und 2) zu verstehen (a. A. AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 2). Die Anstalt kann nach VV Nr. 5 Abs. 2 die Annahme eines Paketes, das zur Unzeit (Abs. 1) eingeht oder dessen Empfang nicht zugelassen ist, (bereits auf dem Postamt) verweigern. Sie teilt das und den Grund dafür dem Gefangenen mit (VV Nr. 5 Abs. 2 Satz 2).
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bb) Höchstmengen: Nach VV Nr. 2 Abs. 1 darf das Gewicht des Weihnachtspaketes (einschließlich Verpackung) fünf Kilogramm, das der beiden übrigen Pakete jeweils drei Kilogramm nicht übersteigen. Mengenbegrenzungen für einzelne Gegenstände ergeben sich aus den Verwaltungsvorschriften der Länder (z. B. aus der RV des JM NordrheinWestfalen zu § 33 vom 13.10.1988: 250 g Kaffee, 125 g Tee, 200 g Tabak oder 140 Zigaretten = wird zur Zeit großzügig angepasst). Nach VV Nr. 5 Abs. 2 kann die Anstalt auch dann die Annahme des Pakets verweigern, wenn dieses zu schwer ist. Eine solche Maßnahme soll allerdings bei geringem Übergewicht nicht in Betracht kommen; die zulässige Höchstmenge muss nach C/MD 2008 Rdn. 1 erheblich überschritten sein (so auch AKJoester/Wegner 2006 Rdn. 9; Arloth 2008 Rdn. 3). Um Missbräuchen vorzubeugen, sollte der Gefangene bei geringem Übergewicht des Paketes mit dem Hinweis informiert werden, dass die Anstalt die Annahme einer solchen Sendung im Wiederholungsfalle verweigern wird (C/MD 2008 Rdn. 1; nach AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 9 soll eine solche Empfehlung hingegen auch für den Wiederholungsfall nicht relevant sein). VV Nr. 5 Abs. 2 gilt im Übrigen nur für solche Pakete, die einem Gefangenen aus dem Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes zugesandt werden.
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cc) Für Auslandspakete gelten die Sonderregelungen in VV Nr. 5 Abs. 3. Solche Pakete muss die Anstalt grundsätzlich annehmen. Ausnahme: eine Aufgabe von Paketsendungen im Ausland durch Bewohner aus dem Geltungsbereich des StVollzG, die zur Umgehung der Vorschriften über den Empfang von Inlandspaketen erfolgt, ist als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Im Falle eines solchen Rechtsmissbrauchs ist es der Anstalt in entsprechender Anwendung von VV Nr. 5 Abs. 2 gestattet, die Annahme des Pakets – gegebenenfalls bereits auf dem Postamt – zu verweigern (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1977, 24; so auch Arloth 2008 Rdn. 3). Ist das Höchstgewicht nicht unerheblich überschritten oder der Inhalt nicht zugelassen, so kommen auch die Möglichkeiten des § 83 Abs. 2 und 3 in Betracht: Verwahrung bei der Habe, anderweitige Verbringung mit Zustimmung des Gefangenen oder Entfernung aus der Anstalt auf Kosten des Gefangenen (C/MD 2008 Rdn. 1).
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c) Sog. Paketmarken: Nach Satz 2 der VV Nr. 4 kann die Verwendung einer von der Anstalt ausgegebenen Paketmarke vorgeschrieben werden. Bei dieser handelt es sich um einen in der Anstalt (je nach Berechtigung) erhältlichen Aufkleber, den der Gefangene an den gewünschten Absender des Pakets schickt, damit dieser ihn auf die Umhüllung des Pakets kleben kann. Die Aufklebeadresse auf den eingehenden Paketen ermöglicht es dem Beamten der Poststelle, ohne weitere Nachprüfung festzustellen, ob eine Bezugsberechtigung
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vorliegt. Die Paketmarke dient also der Verringerung des Verwaltungsaufwands: sie ist sinnvoll und zweckmäßig, weil sie die Überprüfung der Bezugsberechtigung erheblich vereinfacht (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 124; dazu auch OLG Hamm ZfStrVo 1985, 124; krit. C/MD 2008 Rdn. 1). Jedenfalls macht der Paketverkehr insbesondere in großen Anstalten organisatorische Regelungen erforderlich, die sowohl den begrenzten Möglichkeiten des personellen Verwaltungsaufwands als auch den Bedürfnissen der Gefangenen nach zügiger Abwicklung von Kontrolle und Aushändigung eingehender Post Rechnung tragen. Die Paketmarke erleichtert auch die Kontrolle; sie erfüllt ihre Aufgabe aber nur, wenn sie generell für den Paketverkehr gilt. Aus datenschutzrechtlicher Sicht erscheint allerdings problematisch, dass durch die Gestaltung der bisherigen Paketmarke die Anschrift des Adressaten („JVA“) bekannt wird. C/MD (2008 Rdn. 1) schlagen deshalb den Gebrauch „neutraler“ Paketmarken vor, aus denen für Außenstehende nicht ersichtlicher ist, dass der Empfänger in einer JVA einsitzt. 2. Abs. 1 Satz 3 weist darauf hin, dass der Empfang weiterer Pakete oder solcher mit 8 anderem Inhalt der Erlaubnis der Vollzugsbehörde bedarf. a) Auf den Empfang weiterer Verpflegungspakete hat der Gefangene keinen 9 Rechtsanspruch; die Erlaubniserteilung steht also im Ermessen der Anstalt (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11; BVerfG NStZ-RR 1997, 59; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315). Der Gefangene kann also, wenn ihm das die Anstalt erlaubt, über die drei Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln (Abs. 1) hinaus weitere Pakete empfangen. Soweit die Pakete Nahrungs- und Genussmittel enthalten, wird die Anstalt allerdings berücksichtigen müssen, dass im Strafvollzug nach allgemeiner Erfahrung der Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (vgl. § 22 Rdn. 1) zur Vermeidung sonst entstehender Unruhen unter den Gefangenen besondere Bedeutung zukommt (OLG Celle NStZ 1997, 256; C/MD 2008 Rdn. 2). Dies gilt vor allem hinsichtlich des Umfangs und der Art der Verpflegung, die grundsätzlich für alle Gefangenen gleich sein soll (LG Hamburg ZfStrVo 1979, 124). Die Vollzugsbehörde darf deshalb die Erlaubnis für den Empfang weiterer Pakete mit Nahrungsmitteln über die in § 33 Abs. 1 Satz 1 genannte Zahl hinaus im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Gefährdung der Sicherheit und/oder Ordnung (§ 81 Rdn. 7) ablehnen (LG Hamburg aaO; vgl. aber auch BVerfG NStZ-RR 1997, 60). Fehlt für den Empfang des Paketes die nach § 33 Abs. 1 Satz 3 erforderliche Erlaubnis, so ist dies für den Postempfangsbeauftragten der Anstalt ein zureichender Grund, die Annahme des Paketes zu verweigern. Einer Zustimmung des Gefangenen hierzu bedarf es nicht (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 51 = BlStV 1/1980, 8). b) Der Empfang von (weiteren) Paketen mit anderem Inhalt ist ebenfalls von der 10 Erlaubnis der Vollzugsbehörde abhängig. Nach der Nr. 3 der VV kann die Erlaubnis zum Empfang solcher sonstiger Pakete namentlich für die Zusendung von Unterrichts- und Fortbildungsmaterialien, für Entlassungsbekleidung und für Gegenstände, die der Freizeitbeschäftigung dienen, erteilt werden; auch von privater Wäsche: jedoch nur, wenn die Anstalt das Tragen (auf eigene Kosten des Gefangenen) erlaubt hat (vgl. BVerfG NStZ 1997, 382 = StV 1996, 681). Aber auch insoweit ist der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten, der sich am Maßstab der durchschnittlichen Anstaltssituation orientieren sollte, allerdings unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles. Nicht außer Betracht bleiben können wiederum die begrenzten Möglichkeiten des personellen Verwaltungsaufwandes (dazu OLG Hamm BlStV 1/1995, 5). Es ist daher unrealistisch zu glauben, die Anstalt könnte den Empfang einer beliebigen Anzahl von weiteren Paketen erlauben (in diesem Sinne inHans-Dieter Schwind
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zwischen auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11). Eine Bestimmung, nach der eine einem Gefangenen von der Vollzugsbehörde erteilte Erlaubnis (hier zum Empfang eines Pakets mit Bastelmaterial) erlischt, wenn der Gefangene von ihr innerhalb einer bestimmten Zeit keinen Gebrauch gemacht hat, findet sich im StVollzG nicht; es gibt auch keinen entsprechenden allgemeinen Rechtssatz (KG ZfStrVo 1983, 59; C/MD 2008 Rdn. 2). Auf der anderen Seite beinhaltet eine einmal erteilte Erlaubnis, weitere Pakete zu empfangen, keine Dauererlaubnis für die gesamte Haftzeit; schon gar nicht, wenn der Gefangene verlegt wird (vgl. Rdn. 12 zu § 69; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 11; OLG Celle NStZ 1997, 256; Arloth 2008 Rdn. 4).
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3. Nach Abs. 1 Satz 4 gilt für den Ausschluss von Gegenständen § 22 Abs. 2 entsprechend: Danach kann die Übersendung von Gegenständen, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden (z. B. Aufkleber zu politischen Themen: LG Saarbrücken ZfStrVo 1984, 175; KG Berlin NStZ-RR 2007, 125 oder Kerze als mögliches Versteck: OLG Hamm BlStV 1/1995, 5), untersagt werden. Versagt werden kann ferner die Erlaubnis für die Zusendung z. B. von umfangreichem Informationsmaterial (OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 121) oder von Warenkatalogen (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 308; vgl auch Rdn. 3 zu § 28) oder von provozierenden Aufnähern (OLG Hamburg NStZ 1988, 96 = ZfStrVo 1988, 158) oder von entsprechenden Anstecknadeln (OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 185; Arloth 2008 Rdn. 5). Schließlich kann die Vollzugsbehörde (auf ärztliche Anordnung) die Zusendung einzelner Nahrungs- und Genussmittel, wenn sie die Gesundheit ernsthaft gefährden, verbieten (vgl. dazu auch VV Nr. 2 Abs. 3; § 22 Rdn. 5). Nach VV Nr. 2 Abs. 2 darf ein Paket auch weder Alkohol noch andere berauschende Mittel (in jeder Form), Medikamente oder Tabletten enthalten. Zur Rücksendung ausgeschlossener Gegenstände vgl. § 33 Abs. 2 Satz 2. Nach § 33 Abs. 3 kann der Empfang von Paketen vorübergehend überhaupt untersagt werden (vgl. unten Rdn. 15). Vgl. auch § 4 Rdn. 23.
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4. Abs. 2 beschäftigt sich mit der Kontrolle und dem Anhalten von Paketen. Werden bei der Kontrolle personenbezogene Daten bekannt, findet § 180 Abs. 8 Anwendung.
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a) Nach Abs. 2 Satz 1 sind Pakete immer nur in Gegenwart des Gefangenen zu öffnen. Dabei darf der Paketinhalt auf verbotene Gegenstände durchsucht werden (VV Nr. 7 Satz 1). Außerdem wird geprüft, ob das Paket das zulässige Höchstgewicht überschreitet (vgl. dazu oben Rdn. 5). Wenn das vermeidbar ist (und in der Regel dürfte es vermeidbar sein), sollte es nicht geschehen, dass alle Verpackungen aufgerissen werden und dem Gefangenen dann ein großer Haufen von Geschenken und Papier übergeben wird (so richtig AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 7). Liegt ein Inhaltsverzeichnis bei (vgl. VV Nr. 4 Satz 1), ist die Vollzähligkeit zu prüfen; Abweichungen sind auf dem Verzeichnis zu vermerken (VV Nr. 7 Abs. 1, zweiter HS.). Der Gefangene hat den Empfang des Paketes schriftlich zu bestätigen (VV Nr. 7 Abs. 2). Vgl. auch § 56 Rdn. 20.
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b) Nach Abs. 2 Satz 2–4 können ausgeschlossene Gegenstände zur Habe des Gefangenen genommen oder dem Absender zurückgesandt werden. Die Kosten für die Rücksendung trägt in der Regel der Gefangene (VV Nr. 8); im Falle seiner Bedürftigkeit kann sie die Anstalt übernehmen (C/MD 2008 Rdn. 4 und 14), insbesondere dann, wenn der Gefangene zur Zusendung der Gegenstände möglicherweise selbst nicht beigetragen hat (SA, BTDrucks. 7/3998, 17). § 33 Abs. 2 Satz 3 räumt der Anstalt darüber hinaus die Möglichkeit ein, Gegenstände unter bestimmten Voraussetzungen zu vernichten: z. B. giftige Stoffe (Arloth 2008 Rdn. 8). Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 muss der Gefangene (nicht der Absender: OLG Rostock NStZ 1997, 382 M) über Aufbewahrung, Zurücksendung oder Vernichtung unterrichtet werden, und zwar vor Durchführung einer dieser Maßnahmen.
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5. Nach Abs. 3 kann der Empfang von Paketen vorübergehend überhaupt untersagt 15 werden, wenn dies wegen Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (zu diesen Begriffen vgl. § 81 Rdn. 7) unerlässlich ist (Arloth 2008 Rdn. 7). Insoweit muss es sich jedoch unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände um eine im Einzelfall konkrete Gefahrenlage handeln (OLG Nürnberg NStZ 1985, 335; OLG Hamm NStZ 1984, 287); bei dieser Prüfung kommt auch der Frage der Zuverlässigkeit des Absenders des Pakets eine maßgebliche Bedeutung zu (OLG Nürnberg aaO; C/MD 2008 Rdn. 2). Das Merkmal „vorübergehend“ bedeutet nicht, dass dem Betreffenden ohne Rücksicht auf berechtigte Sicherheitsbedürfnisse Dritter, deren Recht auf Gesundheit und Leben ebenfalls verfassungsrechtlich geschützt ist, nach Ablauf einer bestimmten Frist in jedem Falle ein Paket ausgehändigt werden müsste. Vielmehr muss bei berechtigten Sicherheitsbedenken so lange die Genehmigung zum Paketempfang verweigert werden können, wie diese Maßnahme im Hinblick auf die Sicherheit der Anstalt unerlässlich ist (OLG Hamm MDR 1984, 692). Dabei ist die Frage der „Unerlässlichkeit“ für Anstalten des offenen Vollzuges und solche mit höherem Sicherheitsgrad unterschiedlich zu beantworten (KG BlStV 1/1984, 6). Eine sechsmonatige Paketsperre in einer Abschirmstation für Dealer kann den Anforderungen, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Ausnahmefall noch entsprechen (KG NStZ 1984, 95 mit insoweit abl. Anm. Kerner/Streng: entspricht nicht dem Individualisierungsgebot; krit. auch C/MD 2008 Rdn. 2). Die Versagung kann für alle Insassen der Anstalt (Arloth 2008 Rdn. 7; KG NStZ 1983, 576; a. A. Kerner/Streng aaO) oder für einen einzelnen ausgesprochen werden, wenn der Bedingungssatz zutrifft (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3); allerdings ist ein solches Verbot nur dann „unerlässlich“, wenn sonst die Sicherheit oder die Ordnung in der Anstalt zusammenzubrechen drohen würde (Grunau/Tiesler aaO). Auch daraus ergibt sich, dass die Untersagung des Paketverkehrs erst in Betracht kommen kann, wenn es keine mildere Möglichkeit für die Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gibt (AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 12): „ultima ratio“ (OLG Nürnberg NStZ 1985, 335). 6. Nach Abs. 4 kann dem Gefangenen auch gestattet werden (kein Rechtsanspruch: 16 C/MD 2008 Rdn. 6; Arloth 2008 Rdn. 8), über die Regelung in § 83 Abs. 2 Satz 3 hinaus Pakete zu versenden. In Betracht kommt z. B. die Versendung von Sachen (Gegenständen), die er im Vollzug nicht (mehr) braucht (C/MD 2008 Rdn. 6) bzw. von Prozessunterlagen an den Verteidiger (OLG Koblenz NStZ 1983, 96) oder von Bastelarbeiten für die Kinder zum Weihnachtsfest (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 4; Böhm 2003 Rdn. 270). Da die Versendung für die Gleichgewichtigkeit der Beziehungen des Gefangenen zu seinen Bezugspersonen Bedeutung besitzen kann (Geschenke in beiden Richtungen), sollte die Versendung von Paketen nicht ohne zwingenden Grund unterbunden werden (vgl. Rdn. 1). Dieser Grund kann in der Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung bestehen; deshalb dürfen auch ausgehende Pakete kontrolliert werden, aber keine entsprechende Verteidigerpost (OLG Stuttgart NJW 1992, 61 = NStZ 1991, 359) für die auch nicht § 33 Abs. 4, sondern § 29 Abs. 1 Nr. 1 in Betracht kommt (vgl. Rdn. 15 zu § 29). Zur Frage des Freimachens und Absendens eines Paketes mit Prozessunterlagen an einen Strafverteidiger vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1982, 378. 7. Kosten für den Paketverkehr: Nach VV Nr. 8 Satz 1 trägt der Gefangene die Kosten 17 des Paketverkehrs selbst. Ist er dazu nicht in der Lage, kann in begründeten Fällen (gem. VV Nr. 8 Satz 2) die Anstalt die Kosten in angemessenem Umfang übernehmen (Satz 2: z. B. wenn der Strafgefangene in einem Wiederaufnahmeverfahren seinem Verteidiger ein Paket mit Prozessunterlagen zusenden will: OLG Koblenz NStZ 1983, 96). Über diese Regelung sowie über die Möglichkeit des Paketverkehrs insgesamt soll der Gefangene alsbald nach
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der Aufnahme durch Aushändigung eines Merkblattes unterrichtet werden (VV Nr. 9). Solche Merkblätter haben die einzelnen Justizverwaltungen jeweils für das Bundesland, für das sie zuständig sind, entwickelt.
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8. Keine Regelung enthält das StVollzG für die Fälle, in denen der Gefangene keine Pakete erhält; diese Fälle werden jedoch durch die Verwaltungsvorschriften erfasst. Nach VV Nr. 6 Abs. 1 Satz 1 darf ein Gefangener, der kein Paket erhält, zum Ausgleich zusätzliche Nahrungs- und Genussmittel in der Anstalt einkaufen. Für den Ersatzeinkauf darf ein Betrag bis zum siebenfachen, beim Weihnachtspaket bis zum neunfachen Tagessatz der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2; § 43 Rdn. 5 und 11) aus dem Eigengeld (§ 52 Rdn. 1) verwendet werden (VV Nr. 6 Abs. 1 Satz 2). Dass für diese Fälle die Wertbegrenzung anstelle der Gewichtsbegrenzung, wie sie die VV Nr. 2 Abs. 1 vorsieht, gewählt worden ist, ist nicht sachgerecht (so auch AK-Joester/Wegner 2006 Rdn. 14; krit. C/MD 2008 Rdn. 5: gegen jede Mengen- und Gewichtsbegrenzung). Mit dem Hinweis „§ 83 Abs. 2 Satz 3 StVollzG bleibt unberührt“ (VV Nr. 6 Abs. 3 Satz 1) ist gemeint, dass der Gefangene nur insoweit anstelle eines Paketes vom Eigengeld einkaufen kann, als dieses nicht als Überbrückungsgeld (§ 51 Rdn. 2, 3) erforderlich ist (vgl. auch Rdn. 6 zu § 22).
II. Landesgesetze 19
1. Bayern In Bayern finden sich die Regelungen zu Paketen in Art. 36 BayStVollzG. Dessen Art. 1 lautet: Der Empfang von Paketen bedarf der vorherigen Erlaubnis der Anstalt. Für den Ausschluss von Gegenständen gilt Art. 24 Abs. 2 Satz 1 entsprechend. Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln sind ausgeschlossen.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, 58) heißt es dazu: „Der Empfang von Paketen mit Nahrungs- oder Genussmitteln ist abweichend von der Regelung in § 33 Abs. 1 Satz 1 StVollzG ausgeschlossen, weil er einerseits mit einem erheblichen Kontrollaufwand verbunden ist, der die Justizvollzugsbehörden stark belastet“, andererseits haben die Gefangenen „die Möglichkeit, sich beim Anstaltskaufmann die von ihnen gewünschten Nahrungs- und Genussmittel zu kaufen, verbunden mit der Regelung in Art. 53, nach der Dritte für die Gefangenen zum Zwecke des Sondereinkaufs nach Art. 25 Geld einzahlen können “. Abs. 2 ist fast wortgleich mit § 33 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht inhaltlich der Regelung in § 33 Abs. 4 StVollzG. Abs. 4 entspricht inhaltlich der Regelung der VV Nr. 8 zu § 33 StVollzG.
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2. Hamburg § 33 Abs. 1 lautet: „Der Empfang von Paketen bedarf der Erlaubnis der Anstalt, welche Zeitpunkt und Höchstmengen für die Sendung und für einzelne Gegenstände festsetzen kann. § 25 Abs. 4 Satz 1 gilt entsprechend. Der Empfang von Paketen mit Nahrungsund Genussmitteln ist nicht gestattet.“ Die Regelung im letzten Satz entspricht der in Bayern. Abs. 2 des § 33 HmbStVollzG ist wortgleich mit § 33 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht inhaltlich der Regelung in § 33 Abs. 4 StVollzG. Abs. 4 entspricht inhaltlich der Regelung der VV Nr. 8 zu StVollzG (allerdings werden die Kosten nur in „besonders begründeten Fällen“ übernommen).
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3. Niedersachsen Auch im NJVollzG (§ 34) haben die Paketvorschriften in Abs. 1 und 2 erhebliche Veränderungen erfahren. Der Text wird deshalb vollständig abgedruckt: „(1) Die oder der Gefangene darf in angemessenem Umfang Pakete empfangen. Der Empfang jedes Paketes bedarf der Erlaubnis. Pakete dürfen Nahrungs- und Genussmittel sowie Gegenstände, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden, nicht enthalten. Pakete, für die keine Erlaubnis erteilt worden ist, sollen nicht angenommen werden. (2) Angenommene Pakete sind in Gegenwart der oder des Gefangenen zu öffnen. Gegenstände nach Abs. 1 Satz 3 sind zur Habe zu nehmen, zurückzusenden oder, wenn es erforderlich ist, zu vernichten. Die Maßnahmen werden der oder dem Gefangenen mitgeteilt.“ Die Abs. 3 und 4 des § 34 NJVollzG entsprechen inhaltlich § 33 Abs. 3 und 4 StVollzG.
§ 34 (aufgehoben)
§ 35 Urlaub, Ausgang und Ausführung aus wichtigem Anlass (1) Aus wichtigem Anlass kann der Anstaltsleiter dem Gefangenen Ausgang gewähren oder ihn bis zu sieben Tagen beurlauben; der Urlaub aus anderem wichtigen Anlass als wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung oder wegen des Todes eines Angehörigen darf sieben Tage im Jahr nicht übersteigen. § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (2) Der Urlaub nach Absatz 1 wird nicht auf den regelmäßigen Urlaub angerechnet. (3) Kann Ausgang oder Urlaub aus den in § 11 Abs. 2 genannten Gründen nicht gewährt werden, kann der Anstaltsleiter den Gefangenen ausführen lassen. Die Aufwendungen hierfür hat der Gefangene zu tragen. Der Anspruch ist nicht geltend zu machen, wenn dies die Behandlung oder die Eingliederung behindern würde. VV 1 Die VV zu §§ 11, 13 und 14 StVollzG gelten sinngemäß. 2 (1) Bei einer Ausführung entscheidet der Anstaltsleiter über die nach Lage des Falles erforderlichen besonderen Sicherungsmaßnahmen. (2) Eine Ausführung unterbleibt, wenn trotz Anordnung angemessener besonderer Sicherungsmaßnahmen zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Ausführung zu Straftaten missbrauchen werde. Dies gilt nicht, wenn die Ausführung zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Leben des Gefangenen unerlässlich ist. Schrifttum: s. bei § 11
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. wichtiger Anlass nach § 35 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . 2. Urlaub aus wichtigem Anlass (§ 35 Abs. 1 und 2) . . . . .
. . . . . .
1 2–7
. . .
2–3
. . .
4–6
Rdn. 3. Ausführung aus wichtigem Anlass (§ 35 Abs. 3) . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Lockerungen und Urlaub sind allgemeine Behandlungsmaßnahmen. Sie können aber im Einzelfall auch geeignet sein, bei einem wichtigen Anlass die berechtigten Belange des Gefangenen genau zu berücksichtigen. So ermöglicht die Vorschrift, über den in § 13 Abs. 1 auf 21 Tage begrenzten Regelurlaub hinaus bei Vorliegen eines wichtigen Anlasses weiteren Urlaub zu gewähren. Soweit § 35 auch den Ausgang erwähnt, ist darauf hinzuweisen, dass schon gem. § 11 Abs. 1 Ausgang ohne Begrenzung auf eine bestimmte Zeit von Tagen im Jahr gewährt werden kann (§ 11 Rdn. 8). Erhält ein Gefangener aber in vorher bestimmten regelmäßigen Zeitabständen Ausgang, so könnte ihm gem. § 35 über den „Regelausgang“ hinaus bei Vorliegen eines wichtigen Anlasses ein zusätzlicher Ausgang gewährt werden. Zur Gewährung von Sonderurlaub vgl. auch § 13 Rdn. 2; § 15 Rdn. 6 ff; § 124 Rdn. 1; § 134 Rdn. 1. Zur Zweckbestimmung des § 35 vgl. Dopslaff in Anm. zu OLG Frankfurt NStZ 1986, 189 ff. Zur befristeten Aussetzung des Vollzuges der Untersuchungshaft nach § 116 StPO vgl. AG Krefeld NStZ 2002, 559 m. Anm. Neuhaus (hier: Ablegung einer Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer).
II. Erläuterungen 2
1. Durch die Vorschrift wird der Anstaltsleiter zur Gewährung von Ausgang, Urlaub oder Ausführung ermächtigt, aber nicht verpflichtet. Der Gefangene hat Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Die Ermächtigung des Anstaltsleiters ist durch den unbestimmten Rechtsbegriff (§ 115 Rdn. 21) „wichtiger Anlass“ eingeschränkt. Unter wichtigen Anlässen sind Angelegenheiten oder Ereignisse zu verstehen, die in besonderer Weise die private Sphäre des Gefangenen berühren oder von besonderer Bedeutung für seine spätere Resozialisierung sind (OLG Koblenz ZfStrVo 1979, 253). Es kommen sowohl persönliche als auch geschäftliche oder rechtliche Angelegenheiten des Gefangenen in Betracht. Dabei muss es sich für den Gefangenen um Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung handeln, die einen Ausgang oder Urlaub unbedingt erfordern (OLG Hamburg ZfStrVo 1978, 125). Dem Gefangenen obliegt es, die Tatsachen darzulegen, aus denen sich ein wichtiger Anlass ergibt (OLG Hamm LS BlStV 1/1983, 2). Mit Beendigung des wichtigen Anlasses „erledigt“ sich der Antrag. Zulässig ist dann allenfalls noch ein Feststellungsantrag (§ 115 Abs. 3). In der Beschwerdeinstanz ist das Übergehen auf einen solchen nicht mehr möglich (ThürOLG ZfStrVo 2005, 184; OLG Zweibrücken NStZ 1982, 263; Arloth 2008 Rdn. 8). § 35 nennt in Abs. 1 als „wichtigen Anlass“ beispielhaft nur lebensgefährliche Erkrankung oder Tod eines Angehörigen (zu einem Trauerfall in der Familie vgl. unlängst LG Hamburg StraFo 2007, 85). Eine lebensgefährliche Erkrankung liegt vor, wenn der Angehörige plötzlich erkrankt oder wenn sich sein Zustand verschlechtert und als Folge eine akute Lebensgefahr eintritt. Die Beurlaubung wegen einer schon länger andauernden Krankheit wird durch § 35 nicht gedeckt (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 34). Wie sich aus
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den im Gesetz genannten Beispielen ergibt, muss es sich bei den „wichtigen Anlässen“ um nicht aufschiebbare, eilbedürftige und i.d.R. auch unvorhersehbare Ereignisse handeln. Beispiele aus der Rechtsprechung: Eine beabsichtigte ärztliche Behandlung außerhalb der Anstalt stellt allein dann einen 3 wichtigen Grund dar, wenn sie nach pflichtgemäßem Ermessen des Anstaltsarztes sachlich notwendig und innerhalb der Anstalt nicht durchführbar ist (KG 10.3.1982 – 2 Ws 10/82 –). Der Anstaltsleiter ist jedoch nicht verpflichtet, eine vom Anstaltsarzt empfohlene Ausführung in jedem Falle auch anzuordnen. Ist zur Entscheidung darüber eine Offenlegung anamnestischer, diagnostischer oder prognostischer Daten unerlässlich, darf und muss der Anstaltsarzt dem Anstaltsleiter diejenigen Informationen liefern, deren dieser für einen geordneten Vollzug im Einzelfall unter Berücksichtigung des Anspruchs des Strafgefangenen auf Gesundheitsfürsorge und des Schutzes der Allgemeinheit bedarf. Die ärztliche Schweigepflicht steht dem nicht entgegen (OLG Karlsruhe MDR 1993, 998 = ZfStrVo 1993, 246 = BlStV 6/1993, 7 zu Zweifeln an der Richtigkeit der Empfehlung einer Allgemeinmedizinerin, einen Sicherungsverwahrten in die Universitätsklinik auszuführen; s. auch Rdn. 7). Die allgemeine psychische Verfassung eines Gefangenen ist kein wichtiger Anlass für eine Ausführung, kann aber diese Lockerung als Behandlungsmaßnahme nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 rechtfertigen (OLG Frankfurt NStZ 1984, 477). Ein „wichtiger Anlass“ kann vorliegen, wenn ein Gefangener, der Familienvater ist, einen Umzug aus wirtschaftlichen Gründen selbst bewerkstelligen muss; die Suche nach einer neuen Wohnung stellt aber in der Regel keinen wichtigen Anlass dar (OLG Koblenz ZfStrVo 1979, 253, krit. dazu Franke BlStV 4/1980, 7, 10). Die Überwachung von dringenden Klempnerarbeiten in der Wohnung, Reinigung und Inbetriebnahme der Gasheizung und Reparatur eines Rohrbruchs sowie Vorbereitung einer Untervermietung können ein wichtiger Anlass sein (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 33), ebenso die Durchführung dringender Reparaturarbeiten, wenn nur der Gefangene die Arbeit durchführen kann und seine Anwesenheit zwingend erforderlich ist (OLG Hamm BlStV 6/1987, 3; LG Dortmund LS BlStV 3/1982, 3), ferner die Beschaffung von Beweismaterial für ein Wiederaufnahmeverfahren (LG Lüneburg 26.4.1978 – 17 StVK 125/78) sowie von Unterlagen für das Finanzamt (OLG Hamm LS ZfStrVo 1987, 372), nicht aber die Sperrmüllbeseitigung aus der Wohnung (OLG Hamburg 14.3.1978 – Vollz (Ws) 4/78). Die Inanspruchnahme des passiven Wahlrechts, insbesondere die Durchführung von Wahlveranstaltungen, ist kein wichtiger Anlass (LG Hamburg ZfStrVo 1979, 63). Ein Gefangener, der für die Teilnahme an Parteiveranstaltungen bereits mehrfach Sonderurlaub erhalten hat, kann für die Teilnahme an einer weiteren Veranstaltung auf den Regelurlaub verwiesen werden (OLG Frankfurt LS BlStV 3/1987, 3). Vgl. § 13 Rdn. 2; § 73 Rdn. 3. Ein wichtiger Anlass ist auch dann nicht gegeben, wenn der Gefangene etwa noch offene Fragen seiner beruflichen Wiedereingliederung unschwer auf schriftlichem Weg oder bei Besuchen von Angehörigen in der Anstalt klären kann (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 249). Beispiele aus Ausführungsvorschriften der Länder (vgl. dazu OLG Celle ZfStrVo 1985, 184; OLG Frankfurt BlStV 2/1986, 4): Eheschließung des Gefangenen, Geburt, Taufe, Konfirmation, Erstkommunion (zur Jugendweihe vgl. ThürOLG ZfStrVo 2005, 184), Eheschließung eines Kindes oder der Geschwister oder eines Elternteils des Gefangenen, soweit familiäre Bindungen bestehen. Ein wichtiger Anlass kann auch eine länger dauernde, nicht lebensgefährliche Erkrankung eines Angehörigen sein; ein Sonderurlaubsantrag kann aber trotz Vorliegen eines wichtigen Anlasses abgelehnt werden, wenn der Gefangene seinen Regelurlaub unter Vernachlässigung des erkrankten Angehörigen mutwillig erschöpft hat (OLG Celle ZfStrVo 1986, 378; abl. AK-Lesting 2006 Rdn. 13). Ein im geschlossenen Vollzug befindlicher Gefangener hat zwar keinen Anspruch darauf, an jedem Todestag eines jeden Angehörigen zu dessen Grab ausgeführt zu werden. Im Einzelfall, z. B. wenn der verstorbene Bruder dem Gefangenen zu
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Lebzeiten nachweislich besonders nahe gestanden hatte, könnte aber ein wichtiger Ausführungsanlass i. S. d. Abs. 3 Satz 1 in Betracht kommen (OLG Koblenz NStZ 2003, 593 M). Zur Möglichkeit der Wahrnehmung von Gerichtsterminen während des Regelurlaubes § 13 Rdn. 2. Der Gefangene muss das Vorliegen eines wichtigen Anlasses der Anstalt gegenüber nachweisen (z. B. durch ärztliches Attest oder durch Belege, die die Dringlichkeit der Unterredung mit seinem Anwalt in dessen Praxis nahe legen: OLG Hamburg, Beschl. vom 7.2.1997 – 3 Vollz 44/96). Hat die Anstalt Zweifel an den Angaben des Gefangenen, muss sie ihre Erkundungsmöglichkeiten ausschöpfen; andernfalls ist eine Ablehnung ermessensfehlerhaft (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 33; ebenso Arloth 2008 Rdn. 2 und C/MD 2008 Rdn. 1).
4
2. Gewährung von Urlaub aus wichtigem Anlass (Sonderurlaub) kommt vor allem in solchen Fällen in Betracht, in denen der Gefangene entweder noch keinen Regelurlaub erhält oder sein Kontingent von 21 Tagen bereits erschöpft ist. Steht dem Gefangenen noch Regelurlaub zu, greift § 35 nur ausnahmsweise dann ein, wenn es unbillig wäre, ihn auf den primär der Eingliederung und dem Kontakt mit der Familie dienenden Regelurlaub zu verweisen (OLG Hamm LS BlStV 4/5/1987, 3; LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 34; LG Bielefeld BlStV 6/1993, 4). Die Gewährung von Sonderurlaub ist nicht an die Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 oder Abs. 3 gebunden, d. h., dass Sonderurlaub auch bei lebenslanger Strafe möglich ist (wie hier Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. Grunau/Tiesler Rdn. 1). Zur Frage der Berücksichtigung von Unrechtsgehalt der Tat und Schuldschwere (allgemein dazu § 11 Rdn. 3) bei Gewährung von Sonderurlaub für Lebenslängliche vgl. OLG Karlsruhe NStZ 1989, 247 mit krit. Anm. Funck. Ein Bedürfnis für die Gewährung von Sonderurlaub kann entfallen, wenn die Angelegenheiten von dem Strafgefangenen auch während des Regelurlaubs wahrgenommen werden können und wenn dadurch dessen Zweck – u. a. die Aufrechterhaltung von bestimmten Kontakten zu Angehörigen oder anderen Bezugspersonen – nicht vereitelt oder beeinträchtigt wird (OLG Celle ZfStrVo 1981, 257; OLG Frankfurt 11.12.1985 – 3 Ws 831/85 –; OLG Hamburg NStZ 1998, 397 M). Einem Gefangenen, dem gem. § 13 Regelurlaub gewährt werden kann, braucht z. B. zu Familienfesten (auch zur Eheschließung: OLG Saarbrücken 17.11.1983 – 1 Ws 575/83 –), deren Zeitpunkt lange vorher feststeht, kein Sonderurlaub gegeben zu werden, da er die Möglichkeit hat, den „wichtigen Anlass“ bei seiner Urlaubsplanung zu berücksichtigen (ähnlich Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 7; krit. Auch C/MD 2008 Rdn. 1). Das von § 44 SchwbG anerkannte gesteigerte Erholungsbedürfnis eines schwerbehinderten Gefangenen stellt keinen wichtigen Anlass dar (OLG Bremen NStZ 1985, 334). Die Vollzugsbehörde kann erwägen, ob außer Urlaub und Ausgang aus wichtigem Anlass noch andere Maßnahmen zur Verfügung stehen, die gleichermaßen geeignet sind, den gewünschten Erfolg zu gewährleisten, auch wenn sie den Gefangenen mehr belasten, z. B. Überstellung in eine andere Anstalt und Ausführung zur Teilnahme an einer Prüfung bei einer Fernuniversität (OLG Karlsruhe LS ZfStrVo 1988, 369). 5 Sofern der Sonderurlaub aus anderem wichtigen Anlass als wegen lebensgefährlicher Erkrankung oder wegen Todes eines Angehörigen gewährt wird, darf er gem. Abs. 1 Satz 1, 2. HS sieben Tage im Jahr nicht überschreiten. Andernfalls müssen die über sieben Tage im Jahr hinausgehenden Urlaubstage auf den Regelurlaub angerechnet werden. Der Sonderurlaub ist für den Einzelfall auf sieben Tage begrenzt. Es kann aber, sofern wiederholt wichtige Anlässe eintreten, auch mehrmals Urlaub gewährt werden, insgesamt aber – ohne Anrechnung auf den Regelurlaub – im Jahr nicht mehr als sieben Tage (C/MD 2008 Rdn. 2). Eine nachträgliche Umwandlung von Regel- in Sonderurlaub kommt grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. OLG Celle BlStV 2/1992, 6). Eine Ausnahme hat aber wohl für den Fall zu
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gelten, dass ein wichtiger Anlass während eines Regelurlaubs eingetreten ist und der Regelurlaub aus Gründen der Resozialisierung den Kontakten mit Angehörigen vorbehalten bleiben soll (LG Lüneburg 26.4.1978 – 17 StVK 125/78; C/MD 2008 Rdn. 1). Gleiches gilt für den Fall, dass der Anstaltsleiter verpflichtet gewesen wäre, einem Antrag auf Sonderurlaub stattzugeben (LG Bielefeld BlStV 6/1993, 4). Ist eine Angelegenheit in einem Tag zu erledigen, so kommt anstelle von Urlaub Ausgang in Betracht, da Ausgang sonst überhaupt nicht in § 35 hätte genannt zu werden brauchen (AK-Lesting 2006 Rdn. 11). Bei lebensgefährlicher Erkrankung oder wegen Todes eines Angehörigen kann im 6 Jahr mehrfach Urlaub von jeweils bis zu sieben Tagen gewährt werden (ebenso Arloth 2008 Rdn. 4). In diesem Falle wird die Urlaubszeit nicht auf die Freistellung von der Arbeitspflicht angerechnet (§ 42 Abs. 2). Gem. Abs. 2 wird der Sonderurlaub allgemein nicht auf den regelmäßigen Urlaub (§ 13) angerechnet. Gem. Abs. 1 Satz 2 gelten § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 5 und § 14 entsprechend, d. h., dass Sonderurlaub ebenso wie Regelurlaub der Zustimmung des Gefangenen bedarf und nur gewährt werden darf, wenn Flucht- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Rdn. 13 ff; § 13 Rdn. 13 ff) nicht vorliegen. Besteht diese Gefahr, ist bei einem Sonderurlaubsgesuch die Entscheidung darüber, ob ein wichtiger Anlass vorliegt, entbehrlich (OLG Celle ZfStrVo 1981, 126 zur Frage der Gewährung von Urlaub zur Vorbereitung der Wahl zum Mitglied des Bundestages). Der Anstaltsleiter kann gem. § 14 Abs. 1 für den Sonderurlaub Weisungen erteilen und gem. § 14 Abs. 2 den Urlaub widerrufen oder mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen. Die VV zu § 11, § 13 und § 14 gelten daher sinngemäß (VV Nr. 1). – Gem. § 13 Abs. 5 wird durch den Sonderurlaub – wie beim Regelurlaub – die Strafvollstreckung nicht unterbrochen. 3. Zur Ausführung aus wichtigem Anlass ermächtigt § 35 Abs. 3 den Anstaltsleiter, 7 wenn Ausgang oder Urlaub aus den in § 11 Abs. 2 genannten Gründen nicht gewährt werden kann. Diese Vorschrift hat nur Bedeutung im Zusammenhang mit der Kostenregelung in Satz 2 und 3. Denn die Ausführung kann schon gem. § 11 Abs. 1 angeordnet werden. Der Anstaltsleiter hat über die nach Lage des Falles erforderlichen besonderen Sicherungsmaßnahmen zu entscheiden (VV Nr. 2 Abs. 1), etwa, ob und welche Fesselung angeordnet wird (vgl. § 88 Abs. 4). Zur grundsätzlichen Nichtaufhebbarkeit einer durch den Anstaltsleiter angeordneten Fesselung bei einer Ausführung zu einer ärztlichen Untersuchung in einer Klinik im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes OLG Karlsruhe NStZ 1993, 557 = ZfStrVo 1993, 120 mit Anm. Ullenbruch NStZ 1993, 517 ff. Zur Ausführung zum Grab des Bruders siehe oben Rdn. 3. Der Anstaltsleiter entscheidet auch, wie viele Bedienstete den Gefangenen zu beaufsichtigen haben und ob dieser zur Verminderung einer etwaigen Entweichungsgefahr Anstaltskleidung zu tragen hat (vgl. dazu auch § 11 Rdn. 6 und § 20 Rdn. 3). Nach VV Nr. 2 Abs. 2 unterbleibt die Ausführung, wenn trotz Anordnung angemessener besonderer Sicherungsmaßnahmen weiterhin Flucht- oder Missbrauchsgefahr besteht. Die Ausführung findet aber statt, wenn sie zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Leben des Gefangenen unerlässlich ist (VV Nr. 2 Abs. 2 Satz 2); vgl. KG NStZ 1983, 432. Dies folgt aus der Verpflichtung der Vollzugsbehörde, für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen zu sorgen (Vor § 71 Rdn. 1 f; § 108 Rdn. 1). Kann diese Verpflichtung nur durch eine Ausführung zu einem Facharzt erfüllt werden, so besteht insoweit ein Rechtsanspruch auf Ausführung, sofern ein Ausgang aus den in § 11 Abs. 2 genannten Gründen ausscheidet (OLG Hamm BlStV 4/5/1981, 7). Zum Widerruf einer Ausführung aufgrund neuer ärztlicher Befunde § 14 Rdn. 13; s. auch oben Rdn. 3. Wird ein Gefangener zu Besuchszwecken in die Anstalt gebracht, in der sich der andere – zu besuchende – Gefangene befindet, so ist diese Vollzugsmaßnahme für ihn als Ausführung gem. § 35 Abs. 3 oder als Überstellung gem. § 8 Abs. 2 anzusehen; es muss also ein wichtiger Anlass vorliegen
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(OLG München ZfStrVo SH 1979, 35; § 24 Rdn. 8). Ist die Erledigung der Hauptsache schon im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde eingetreten, so ist die Rechtsbeschwerde unzulässig. Ein Übergang vom Anfechtungs- oder Verpflichtungs- zum Feststellungsantrag ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr möglich (ThürOLG ZfStrVo 2005, 184 zu einem Antrag auf Ausführung zur Jugendweihe des Stiefsohns). Die Kosten für Ausführungen aus wichtigem Grund gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 hat der Gefangene zu tragen. Im Unterschied zu Ausführungen als Behandlungsmaßnahme gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 (zu den dabei anfallenden Kosten vgl. § 11 Rdn. 6) enthält § 35 Abs. 3 Satz 2 insoweit eine Ermächtigungsgrundlage. Die Kostentragungspflicht umfasst die eigenen Aufwendungen des Gefangenen und die dem Land zusätzlich entstehenden Aufwendungen, z. B. Reisekosten der Bediensteten, Kosten für den Einsatz eines Dienstkraftfahrzeuges oder sonstiger benutzter Beförderungsmittel usw. Eine unmittelbare Erstattung von Aufwendungen an die ausführenden Bediensteten durch den Gefangenen oder Dritte kommt nicht in Betracht. Derartige Aufwendungen müssen stets „im Dreieck“ über die Anstalt erstattet werden. Während der Ausführungen müssen die ausführenden Bediensteten ihre Aufwendungen grundsätzlich selbst begleichen. Gegen die Annahme eines Mittagessens oder eines Kaffees bei Ausführungen in den Familienkreis des Gefangenen bestehen freilich keine Bedenken. Einladungen in Gaststätten oder vergleichbare Einrichtungen sollten dagegen unterbleiben. Sind sie ausnahmsweise angezeigt, etwa aus Anlass von Familienfeiern, müssen die Bediensteten eine eigene Rechnung verlangen und diese selbst bezahlen (weitere sach- und praxisgerechte Beispiele s. Runderlass des JM Baden-Württemberg vom 24.4.1996 – 4511 – IV/6). Gem. Abs. 3 Satz 3 ist der Anspruch nicht geltend zu machen, wenn dies die Behandlung (§ 4 Rdn. 6) oder Eingliederung behindern würde. Die Kosten müssen im Übrigen nicht vom Hausgeld bestritten werden. Dies steht dem Gefangenen grundsätzlich zur freien Verfügung. Keinesfalls ist in der Zustimmung zur Ausführung bereits eine entsprechende Abbuchungsermächtigung zu sehen (OLG Frankfurt NStZ 1991, 152 = BlStV 1/1992, 3). Wegen des Unterschiedes zur Ausführung aus besonderem Grund nach § 12 vgl. dort Rdn. 3.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art 37 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Absätze 1 bis 3 sind inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 35 StVollzG. Abs. 4 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 12 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „In Abs. 4 wurde an systematisch richtiger Stelle § 12 StVollzG übernommen, der eine Ausführung auch ohne Zustimmung der Gefangenen aus besonderen Gründen ermöglicht. Gedacht ist hierbei beispielsweise an eine Ausführung zu einer Auslandsvertretung zur Erlangung der für eine Abschiebung oder Überstellung erforderlichen Papiere“ (LT-Drucks. 15/8101, 58). Siehe Kommentierung § 12 Rdn. 2 ff, insbes. Rdn. 6. 2. Hamburg
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§ 13 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 lautet wie folgt: „Die Anstaltsleitung kann Gefangenen aus Anlass der lebensgefährlichen Erkrankung oder des Todes von Angehörigen oder aus anderem wichtigen Anlass nach Maßgabe des § 12 Ausgang oder weitere Freistellung von der Haft gewähren, aus anderem wichtigen Anlass jedoch nur jeweils bis zu sieben Kalendertagen.“
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In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 1 stellt mit der Formulierung „weitere Freistellung von der Haft“ klar, dass Haftfreistellungen nach dieser Bestimmung nicht auf solche nach § 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 anzurechnen sind“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 53). In der ergänzend heranzuziehenden Begründung zu § 13 HmbStVollzG a. F. hieß es hierzu: „Die Vorschrift ermächtigt die Anstaltsleitung ausdrücklich, Ausgang und Freistellung von der Haft nicht nur aus allgemeinen behandlerischen [. . .] Gründen im Zuge einer an der Resozialisierungsaufgabe orientierten Vollzugsplanung, sondern darüber hinaus aus wichtigem Anlass zu gewähren. Hinsichtlich der Freistellung von der Haft stellt die Vorschrift eine der in § 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 genannten, in diesem Gesetz geregelten Konkretisierungen dar: unter der Voraussetzung, dass ein Angehöriger eines Gefangenen lebensgefährlich erkrankt oder verstorben ist oder ein anderer wichtiger Grund vorliegt, kann die Anstaltsleitung ihn bis zu sieben Tagen von der Haft freistellen. Anders als § 35 StVollzG differenziert Absatz 1 nicht mehr zwischen allgemeinen wichtigen Anlässen einerseits und der lebensgefährlichen Erkrankung oder dem Tod eines Angehörigen andererseits. Künftig kann die Anstaltsleitung aus jedem dieser Anlässe jeweils bis zu sieben Tage von der Haft freistellen. Die Begrenzung auf sieben Tage im Jahr für Fälle anderer, im Gesetz nicht näher beschriebener wichtiger Anlässe (§ 35 Absatz 1 Satz 2 StVollzG) wird aufgegeben. Die Gewährung von Lockerungen aus wichtigem Anlass erfolgt nach Maßgabe des § 12, das heißt, – der Gefangene muss geeignet sein (§ 12 Absatz 1 Satz 1 2. Halbsatz, Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2), – § 11 Absätze 4 bis 7 gilt entsprechend (§ 12 Absatz 2 Satz 2), – auch durch die Freistellung von der Haft aus wichtigem Anlass wird die Strafvollstreckung nicht unterbrochen (§ 12 Absatz 3) und – dem Gefangenen können Weisungen für die Freistellung von der Haft erteilt werden (§ 12 Absatz 4). [. . .] Wichtige Anlässe im Sinne der Vorschrift sind familiäre, berufliche oder sonstige Ereignisse, die den Gefangenen in besonderer Weise berühren und für ihn von außerordentlicher Bedeutung sind. Die ausdrückliche Erwähnung der lebensgefährlichen Erkrankung oder des Todes eines Angehörigen verdeutlicht beispielhaft die hohen Anforderungen, die allgemein und für den Gefangenen persönlich erfüllt sein müssen, um einen Anlass nachvollziehbar als wichtig zu qualifizieren. Es muss sich in jedem Fall um ein konkretes einzelnes Ereignis handeln, das der Gefangene nur durch Verlassen der Anstalt zu einem bestimmten Zeitpunkt regeln kann. Kann die Regelung unschwer auch auf andere Weise erfolgen, liegt ein wichtiger Anlass nicht vor. Bei ihrer Ermessensentscheidung darf die Anstaltsleitung berücksichtigen, ob auch andere geeignete Möglichkeiten bestehen, den gewünschten Erfolg herbei zu führen, z. B. die Überstellung eines Gefangenen in eine andere Anstalt (§ 9) oder die Verweisung auf die Möglichkeit der Freistellung von der Haft nach § 41, wenn es nicht unbillig erscheint, dem Gefangenen die Verwendung der nach § 41 kontingentierten Freistellungstage für den wichtigen Anlass zuzumuten. Unbillig ist dies im Zweifel dann nicht, wenn die Angelegenheit während der Freistellung nach § 41 erledigt werden kann, ohne die Zwecke dieser Freistellung (vgl. hierzu Begründung zu § 41) zu gefährden“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 36). Abs. 2 ist inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 35 Abs. 3 StVollzG.
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3. Niedersachsen
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§ 14 NJVollzG „fasst die Regelungen der §§ 12, 35 und 36 StVollzG in einer Vorschrift zusammen und stellt sie in den systematischen Kontext der Lockerungen“ (Begr., LTDrucks. 15/3565, 103). Er ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 35 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 1 Satz 2 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 35 Abs. 3 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 lautet wie folgt: „Die Lockerungen nach Absatz 1 werden nicht auf die Lockerungen nach § 13 angerechnet“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 2 entspricht im Wesentlichen der Regelung des § 35 Abs. 2 StVollzG, erweitert den Ausschluss der Anrechnung jedoch auf Sonderausgang und -ausführung, sofern die entsprechenden Regellockerungen kontingentiert sind“ (LT-Drucks. 15/3565, 103). Abs. 3 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 36 Abs. 1 und Abs. 2 StVollzG; in Satz 3 sind den Worten „auf Ersuchen eines Gerichts“ indes hier noch „[. . .] oder einer Staatsanwaltschaft “ hinzugefügt. In der Gesetzesbegründung heißt es des Weiteren: „[. . .] sieht davon ab, die in § 36 Abs. 3 StVollzG vorgesehene Pflicht der Vollzugsbehörde, das Gericht zu unterrichten, gesetzlich zu regeln, weil dies einer Verwaltungsvorschrift vorbehalten bleiben kann“ (LT-Drucks. 15/3565, 104). Abs. 4 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 12 StVollzG. Abs. 5 „bestimmt, dass für Lockerungen nach den Absätzen 1, 3 und 4 die Vorschrift des § 14 Abs. 2 über das Nichtbestehen einer Flucht- und Missbrauchsgefahr entsprechende Anwendung findet, für Urlaub im Besonderen gilt § 14 Abs. 6 entsprechend“ (Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 15/3565, 104). Laut der Gesetzesbegründung enthält die Vorschrift „ mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 keine Regelung über die Kostenbeteiligung der Gefangenen“ (LTDrucks. 15/3565, 104).
§ 36 Gerichtliche Termine (1) Der Anstaltsleiter kann einem Gefangenen zur Teilnahme an einem gerichtlichen Termin Ausgang oder Urlaub erteilen, wenn anzunehmen ist, dass er der Ladung folgt und keine Entweichungs- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) besteht. § 13 Abs. 5 und § 14 gelten entsprechend. (2) Wenn ein Gefangener zu einem gerichtlichen Termin geladen ist und Ausgang oder Urlaub nicht gewährt wird, lässt der Anstaltsleiter ihn mit seiner Zustimmung zu dem Termin ausführen, sofern wegen Entweichungs- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) keine überwiegenden Gründe entgegenstehen. Auf Ersuchen eines Gerichts lässt er den Gefangenen vorführen, sofern ein Vorführungsbefehl vorliegt. (3) Die Vollzugsbehörde unterrichtet das Gericht über das Veranlasste. VV 1 (1) Beantragt der Gefangene unter Vorlage einer Ladung die Teilnahme an einem gerichtlichen Termin, so entscheidet der Anstaltsleiter, ob er dem Gefangenen hierfür Ausgang oder Urlaub erteilt oder ihn ausführen lässt.
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§ 36
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(2) Eine Pflicht des Anstaltsleiters, das Gericht über seine Entscheidung zu unterrichten, besteht nicht. 2 (1) Ersucht das Gericht die Anstalt, einen Gefangenen an einem gerichtlichen Termin teilnehmen zu lassen, so klärt der Anstaltsleiter, ob der Gefangene der Ladung Folge leisten will. Bejahendenfalls prüft der Anstaltsleiter, ob er dem Gefangenen Ausgang oder Urlaub erteilt oder ihn ausführen lässt. (2) Der Anstaltsleiter unterrichtet das Gericht, und zwar auch dann, wenn der Gefangene die Teilnahme an dem Termin ablehnt. 3 Wird der Gefangene auf seinen Antrag oder überwiegend in seinem Interesse ausgeführt, so werden ihm in der Regel die Kosten auferlegt. 4 (1) Erlässt das Gericht einen Vorführungsbefehl und ersucht es die Anstalt um Vorführung, so lässt der Anstaltsleiter den Gefangenen zu dem gerichtlichen Termin vorführen. (2) Vor der Vorführung erteilt der Anstaltsleiter die nach Lage des Falles erforderlichen Weisungen und entscheidet über besondere Sicherungsmaßnahmen. 5 Im Benehmen mit dem Richter, der die Dienstaufsicht bei dem Amtsgericht führt, in dessen Bezirk die Anstalt liegt, setzt der Anstaltsleiter die Zeit fest, in der dem Gefangenen Gelegenheit gegeben wird, in der Anstalt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vorgeführt zu werden. Schrifttum: s. bei § 11
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Ladung . . . . . . . . . . . . . . 2. Ersuchen . . . . . . . . . . . . . 3. Vorführung zur Rechtsantragsstelle
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Rdn. III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift ergänzt § 35 in der Weise, dass „wichtiger Anlass“ hier die Teilnahme des 1 Gefangenen an einem gerichtlichen Termin ist, sei es im Straf- oder im Zivilverfahren als Angeklagter, Partei oder Zeuge, sei es aber auch z. B. in einem ihn betreffenden sozialgerichtlichen oder ausländerrechtlichen Verfahren. Der in Art. 103 GG verfassungsrechtlich verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch den Strafvollzug nicht ausgeschlossen (BSG v. 23.2.1960 – 9 RV 576/55 = BSGE 12, 9; erst unlängst ausdrückliche Festhaltung in BSG v. 31.10.2005 – B 7a AL 14/05 B). § 36 bezweckt, dass die Stellung des Gefangenen hinsichtlich der Teilnahme an gerichtlichen Terminen soweit als möglich der Situation in Freiheit angeglichen werden soll (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 242 = BlStV 2/1993, 1; C/MD 2008 Rdn. 1; enger Art. 38 Abs. 2 BayStVollzG; vgl. Rdn. 6). Deshalb soll dem Gefangenen
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auch ohne Zwang die Teilnahme an gerichtlichen Terminen ermöglicht werden, wenn anzunehmen ist, dass er der Ladung folgt. Die Vollzugsbehörde muss berücksichtigen, ob die eigene Interessenwahrnehmung des Gefangenen vor Gericht ernsthaft gewollt und auch sinnvoll ist, wobei eine Rolle spielt, ob dem Gefangenen, dem aus Gründen sparsamer Prozessführung die mit einem Kostenrisiko verbundene Bestellung eines Prozessbevollmächtigten nicht zugemutet werden kann, im Falle des Nichterscheinens ein Versäumnisurteil droht (OLG Koblenz ZfStrVo 1984, 184; Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 3). Zum Angleichungsgrundsatz § 3 Rdn. 3 ff.
II. Erläuterungen 2
1. Beantragt der Gefangene unter Vorlage einer Ladung die Teilnahme an einem gerichtlichen Termin, so entscheidet nach VV Nr. 1 Abs. 1 der Anstaltsleiter, ob er dem Gefangenen hierfür Ausgang (§ 11 Rdn. 8) oder Urlaub erteilt oder ihn ausführen (§ 11 Rdn. 6) lässt. Trotz dieses Wortlauts ist die VV nicht dahin aufzufassen, dass es in jedem Falle der Vorlage einer förmlichen Ladung bedarf und jeder andere Nachweis ausgeschlossen wäre. Ist die Ladung nur an den Prozessbevollmächtigten des Gefangenen ergangen, so wird es in der Regel ausreichen, wenn der Gefangene ein an ihn gerichtetes Mitteilungsschreiben seines Prozessbevollmächtigten vorlegt, aus dem sich die Parteistellung des Gefangenen und die Terminbestimmung ergeben (OLG Frankfurt ZfStrVo 1980, 55; Arloth 2008 Rdn. 2). Auch die Formulierungen in Abs. 1 „dass er der Ladung folgt“ und in Abs. 2 „wenn ein Gefangener zu einem gerichtlichen Termin geladen ist“ zwingen nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht zu der Auslegung, dass nur an den Gefangenen selbst die Ladung ergangen sein muss. § 36 ist hingegen nicht anwendbar, wenn der Gefangene nur mittelbar betroffen ist, z. B. durch einen Prozess gegen seine Ehefrau (Arloth 2008 Rdn. 1; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 3). 3 Der Anstaltsleiter hat seine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dabei hat er zu prüfen, ob anzunehmen ist, dass der Gefangene der Ladung folgt und ob keine Entweichungs- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) besteht (§ 11 Rdn. 13 ff, § 13 Rdn. 13 ff). Ist beides der Fall, wird der Anstaltsleiter Ausgang oder Urlaub gewähren. § 13 Abs. 5 und § 14 gelten – wie im Falle des § 35 – entsprechend (Abs. 1 Satz 2). Der Anstaltsleiter kann sein Ermessen dahin ausüben, dass er den Gefangenen unter Ablehnung des Sonderurlaubs auf die Gewährung von Regelurlaub nach § 13 verweist, mit dessen Eingliederungsfunktion die Wahrnehmung eigener Gerichtstermine vereinbar ist. Eine Ausnahme könnte dann gelten, wenn die Verweisung auf den Regelurlaub andere vordringliche Zwecke, u. a. die Aufrechterhaltung von Kontakten zu Angehörigen oder Bezugspersonen, vereiteln oder beeinträchtigen würde (OLG Frankfurt ZfStrVo 1980, 55; Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 8). Die Nachprüfung einer Urlaubsablehnung im Rechtsbeschwerdeverfahren ist dann ausgeschlossen, wenn sich der gerichtliche Termin – wie auch ein „wichtiger Anlass“ i. S. d. § 35 überhaupt – durch Zeitablauf bereits erledigt hat, im Unterschied zum Regelurlaub, bei dem es dem Gefangenen nicht auf einen bestimmten Urlaubstermin ankommt (OLG Zweibrücken NStZ 1982, 263; Arloth 2008 Rdn. 9). Vgl. auch § 115 Rdn. 17. Der Anstaltsleiter lässt den zu einem gerichtlichen Termin geladenen Gefangenen gem. Abs. 2 Satz 1 mit seiner Zustimmung zu dem Termin ausführen, wenn Ausgang oder Urlaub nicht gewährt werden. Dabei muss er prüfen, ob wegen Entweichungs- oder Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2) überwiegende Gründe entgegenstehen. Der Gefangene hat in diesem Falle einen Anspruch, in dieser Weise am Termin teilnehmen zu dürfen (C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Lesting 2006 Rdn. 9). Will ein Strafgefangener z. B. in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren den Verfahrensmangel seiner Nichtteilnahme an der
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Gerichtliche Termine
§ 36
mündlichen Verhandlung geltend machen, obliegt es ihm, darzulegen, dass er seinerseits alles Zumutbare getan hat, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu können. Nach § 36 und den hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften (VV Nr. 1 Abs. 1) ist es Sache des Gefangenen, die Teilnahme an einem gerichtlichen Termin zu beantragen (BSG v. 31.10. 2005 – B 7a AL 14/05 B; ebenso bereits BSG v. 21.6.1983 – 4 RJ 3/83; BayVGH v. 13.3.2007 – 19 ZB 07.305; ebenso BayVGH v. 27.4.2006 – 19 ZB 06.498, der allerdings die Anforderungen an die Zumutbarkeit und die bei einem nicht verteidigten Inhaftierten Kenntnisse prozessualer Konsequenzen anstaltsinternen bürokratischen Tuns oder Unterlassens weit überspannt). Das Tragen eigener Kleidung muss ihm gestattet werden, sofern keine Entweichungsgefahr besteht (OLG Karlsruhe NStZ 1996, 302; Arloth 2008 Rdn. 5). Andernfalls wird der Gefangene in seinem Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt, da das Tragen von Anstaltskleidung außerhalb der JVA den sozialen Geltungsanspruch des Einzelnen beeinträchtigt (noch zurückhaltend BVerfG NStZ 2000, 166, unter Ablehnung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Hinweis auf die Subsidiarität des verfassungsrechtlichen Eilrechtsschutzes gegenüber demjenigen der Fachgerichte; vgl. auch § 11 Rdn. 6, § 20 Rdn. 3). Ein auswärtiger Gerichtstermin kann auch ein „wichtiger Grund“ i. S. d. § 8 Abs. 2 sein. Ob ein Anspruch auf eine Überstellung in eine gerichtsnahe Anstalt und Ausführung von dort aus besteht, ist eine Frage einzelfallbezogener Abwägung. Im Hinblick auf die Verpflichtung zur grundsätzlichen Ermöglichung, auch zivilrechtliche Interessen vor Gericht selbst zu vertreten (argumentum e § 36; dazu Rdn. 1), ist die Vorlage eines Vorführungsbefehls (Rdn. 4) nicht Voraussetzung (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 242 = BlStV 2/1993, 1). Beantragt ein Gefangener Ausgang zur Einlegung einer Rechtsbeschwerde beim Rechtspfleger des Amtsgerichts, kann der Antrag grundsätzlich unter Hinweis auf dessen regelmäßige Sprechstunden in der Anstalt abgelehnt werden (OLG Frankfurt LS ZfStrVo 1991, 249). Siehe auch Rdn. 5. 2. Ersucht das Gericht die Anstalt, einen Gefangenen an einem gerichtlichen Termin 4 teilnehmen zu lassen, muss der Anstaltsleiter nach VV Nr. 2 Abs. 1 zunächst klären, ob der Gefangene der Ladung folgen will. Falls ja, prüft der Anstaltsleiter, ob Ausgang, Urlaub oder Ausführung gewährt wird. In jedem Falle muss der Anstaltsleiter das Gericht informieren (VV Nr. 2 Abs. 2). Lehnt der Gefangene die Teilnahme am Termin ab, wird das Gericht in der Regel einen Vorführungsbefehl erlassen. Der Anstaltsleiter ist dann gem. § 36 Abs. 2 Satz 2 verpflichtet, den Gefangenen vorführen zu lassen (VV Nr. 4 Abs. 1). Der Begriff „Vorführungsbefehl“ ist nicht nur im strafprozessualen Sinne zu verstehen, sondern umfasst auch das Vorführungsersuchen, das der Richter in Zusammenhang mit der Ladung eines inhaftierten Zeugen oder Beschuldigten an die Anstalt richtet (OLG Koblenz NStZ 1989, 93; Arloth 2008 Rdn. 6; a. A. AK-Lesting 2006 Rdn. 10). Der Anstaltsleiter muss nach Lage des Falles erforderliche Weisungen erteilen und über die Gestattung des Tragens eigener Kleidung (ausführlich dazu oben Rdn. 3) sowie über besondere Sicherungsmaßnahmen entscheiden (VV Nr. 4 Abs. 2). Hat der Richter, der die Verhandlung leitet, in seinem Verfahren keine Sicherungsmaßnahmen angeordnet und hält er die von der JVA angeordneten Maßnahmen für „überzogen“, darf er diese gleichwohl nicht ohne Zustimmung des (nach § 156 Abs. 2 allein anordnungsbefugten) Anstaltsleiters für die Dauer seiner Sitzung aufheben. § 176 GVG enthält keine Kompetenzen zum Eingriff in die Zuständigkeiten Dritter. Gelingt dem Gefangenen die Flucht, nachdem sich der Richter – was in der Praxis immer wieder geschieht – über heftigen Widerspruch z. B. vorführender Vollzugsbediensteter hinweggesetzt hat, dürfte nicht nur der objektive Tatbestand der Gefangenenbefreiung nach § 120 StGB erfüllt sein (ebenso Nagel NStZ 2001, 233 f). Auch ob der Gefangene im Wege des Einzel-
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§ 36
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
oder Sammeltransports zum Termin gebracht wird, fällt bei Strafgefangenen (auch in Unterbrechung der U-Haft) in die alleinige Kompetenz des Anstaltsleiters (OLG Stuttgart NStZ-RR 1997, 62). Eine entsprechende Anregung des Richters wird allerdings stets sorgfältig auf ihre sachliche Berechtigung zu prüfen sein. Im Fall der Übergabe an Beamte des Justizwachtmeisterdienstes des Amtsgerichtes zur Vorführung bei der Rechtsantragsstelle (Rdn. 5) darf der Gefangene deshalb grundsätzlich nur dann gefesselt werden, wenn die JVA ausdrücklich auch darum ersucht hat (OLG Celle MDR 1992, 509 = NStZ 1991, 559 = ZfStrVo 1992, 68 m. Anm. Hartwig ZfStrVo 1992, 196, der zutreffend darauf hinweist, dass entgegen OLG Celle aaO das Amtshilfeersuchen die Befugnis impliziert, etwa bei unvorhergesehenen Fluchtversuchen vorläufig zu fesseln, allerdings mit der Maßgabe, unverzüglich entsprechend § 91 Abs. 1 Satz 3 die Entscheidung des Anstaltsleiters einzuholen). Nach VV Nr. 3 muss der Gefangene die Kosten der Ausführung tragen, wenn diese auf seinen Antrag oder überwiegend in seinem Interesse erfolgt. Das entspricht der Regelung in § 35 Abs. 3 Satz 2 (dort Rdn. 7; vgl. auch Grunau/Tiesler Rdn. 4). Im Übrigen hat auch der Gefangene Anspruch auf Zeugenentschädigung für erlittene Vermögensnachteile (C/MD 2008 Rdn. 5).
5
3. Nach VV Nr. 5 ist der Anstaltsleiter verpflichtet, dem Gefangenen Gelegenheit zu geben, dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Anstalt liegt, vorgeführt zu werden, damit er auf diese Weise seine rechtlichen Interessen wahrnehmen kann. Dabei soll der Anstaltsleiter darauf hinwirken, dass der Urkundsbeamte in die Anstalt kommt, damit der Gefangene nicht im Gerichtsgebäude vorgeführt zu werden braucht. Zu den Zwangsbefugnissen der Beamten des Justizwachtmeisterdienstes im letztgenannten Fall vgl. Rdn. 4.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 38 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 2 Satz 1 StVollzG; neu ist die Einschränkung in den Sätzen 2 bis 4, die wie folgt lauten: „Sind die Gefangenen als Partei oder Beteiligte geladen, ist ihre Ausführung nur zu ermöglichen, wenn ihr persönliches Erscheinen durch das Gericht oder von Gesetzes wegen angeordnet ist. Die Kosten tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Im Hinblick auf den mit einer Ausführung für die Justizvollzugsanstalt verbundenen Aufwand ist in den Fällen, in denen Gefangene als Partei oder Beteiligte geladen sind, ihre Ausführung nur dann zu ermöglichen, wenn das Gericht auch das persönliche Erscheinen des oder der Gefangenen z. B. nach § 51 Arbeitsgerichtsgesetz, § 111 Sozialgerichtsgesetz, § 95 Verwaltungsgerichtsordnung oder § 273 Abs. 2 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) angeordnet hat oder die Gefangenen kraft Gesetzes zum persönlichen Erscheinen verpflichtet sind. Die Regelung zur Kostentragung entspricht weitgehend der Nr. 3 VV zu § 36 StVollzG, nach der bislang den Gefangenen in der Regel die Kosten auferlegt wurden, wenn sie auf Antrag oder überwiegend in ihrem Interesse ausgeführt wurden“ (LT-Drucks. 15/8101, 58). Abs. 3 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 4 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 3 StVollzG.
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Gerichtliche Termine
§ 36
2. Hamburg
7 § 14 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 36 Abs. 1 StVollzG, enthält jedoch die Zusätze „[. . .] nach Maßgabe des § 12 Absätze 1, 3 und 4“ Ausgang oder „weitere Freistellung von der Haft [. . .]“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 1 stellt mit der Formulierung „weitere Freistellung von der Haft“ klar, dass Haftfreistellungen nach dieser Bestimmung nicht auf solche nach § 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 anzurechnen sind. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit wird von einer Verweisung auf § 12 Absatz 2 abgesehen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 54). Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 lautet wie folgt: „Sind die Gefangenen als Partei oder Beteiligte geladen, ist ihre Ausführung zu ermöglichen, wenn ihr persönliches Erscheinen angeordnet oder von Gesetzes wegen erforderlich ist, sonst kann sie ermöglicht werden“. Bereits in der Gesetzesbegründung zu § 14 HmbStVollzG a. F., auf die die Begründung des Entwurfs Bezug nimmt (vgl. Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 54), heißt es hierzu: „Absatz 2 ermächtigt die Anstalten, Ausführungen wegen des hohen personellen Aufwandes, den sie auslösen, in den Fällen, in denen die Gefangenen als Partei oder als Beteiligte zu einem gerichtlichen Termin geladen sind, nur zu ermöglichen, wenn zugleich ihr persönliches Erscheinen angeordnet wurde oder sie aufgrund gesetzlicher Bestimmungen zum persönlichen Erscheinen verpflichtet sind“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 36). Abs. 2 Sätze 3 und 4 lauten wie folgt: „Die Kosten tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen“. Abs. 3 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 3 Satz 2 lautet wie folgt: „Sie erteilt die erforderlichen Weisungen und entscheidet über besondere Sicherungsmaßnahmen, insbesondere über die Dauer der während der Vorführung erforderlichen Fesselung der Gefangenen“. Bereits in der Gesetzesbegründung zu § 14 HmbStVollzG a. F. heißt es hierzu: „Absatz 3 stellt die Zuständigkeit der Anstaltsleitung für die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen klar, insbesondere für die Anordnung einer während der Vorführung erforderlichen Fesselung der Gefangenen und ihrer Dauer“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 36). Abs. 4 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 36 Abs. 3 StVollzG. 3. Niedersachsen
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Vgl. § 35 Rdn. 10 (zu § 14 Abs. 3 NJVollzG).
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
FÜNFTER TITEL
Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung Schrifttum: Arloth Zur Bedeutung der Arbeit im Strafvollzug, FS für Buchner zum 70. Geburtstag München 2009, 18–29; Bechtold Arbeitsplätze für Haftentlassene; ein praxisbezogenes Denkmodell, in: ZfStrVo 1989, 288; Bierschwale „Lernen ermöglichen“ Die Ordnung des vollzuglichen Lernens, in: FS 2008, 199; Brämer/Otte/Schuler/Pendon Berufsbildungsmaßnahmen im Frauenvollzug, in: ZfStrVo 1986, 330; Braun-Heintz/Schradin/Wehle Weiterbildung im Strafvollzug, 3 Bände, AfeB-Taschenbücher Weiterbildung, Heidelberg 1981; Calliess Ausbildung und Therapie – Zur Konkretisierung eines Anspruches auf Resozialisierung, in: Baumann (Hrsg.), Die Reform des Strafvollzuges, München 1974, 55; Clever/ Ommerborn Fernstudium in deutschen Haftanstalten, in: ZfStrVo 1996, 80; Cornel Zur Situation, Funktion und Perspektive des Schulunterrichts im Justizvollzug heute, in: ZfStrVo 1994, 344; Cyprian Berufliche Resozialisation. Literatur und Forschungsprojekte. Literaturdokumentation zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Sonderheft 10 (Lit Dok ABS 10), Nürnberg 1981; Degen Die Eingliederung entlassener Strafgefangener in Arbeit und Beruf. Wesentlicher Faktor der Resozialisierung, in: Deimling/Häußling (Hrsg.) Straffälligenhilfe. Aktuelle und historische Aspekte der Strafvollzugsreform durch Staat und engagierte Bürger, Wuppertal 1977, 123; Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (Hrsg.) Bildungsarbeit in Vollzugsanstalten (Erfahrungen und Anregungen), Karlsruhe 1979; Eberle Didaktische Grundprobleme der Bildungsarbeit im Justizvollzug, in: ZfStrVo 1982, 99; Hammerschick/Pilgram (Hrsg.) Arbeitsmarkt, Strafvollzug und Gefangenenarbeit, Baden-Baden 1997; Hardes Berufliche Bildung der Gefangenen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) unter Berücksichtigung der durch das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) bedingten Änderungen, in: ZfStrVo 1982, 167; ders. Gesetzliche Grundlagen der beruflichen Bildung für Gefangene, in: ZfStrVo 1995, 273; Hilkenbach Schule und berufliche Bildung im Strafvollzug – seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes, in: ZfStrVo 1987, 49; Jehle Arbeit und Entlohnung von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1994, 259; Joppe Arbeitsförderungsgesetz und Strafvollzugsgesetz – ein System der beruflichen Resozialisierung –, in: Soziale Arbeit 1977, 1; Jung Weiterbildung der Strafgefangenen – eine Aufgabe des Vollzugs, in: ZfStrVo 1975, 136; Kamann Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.7.1998 zur Gefangenenentlohnung, ein nicht kategorischer Imperativ für den Resozialisierungsvollzug, in: StV 1999, 348; Koch Gefangenenarbeit und Resozialisierung, Stuttgart 1969; Kofler Qualifizierung des Schulunterrichts im Justizvollzug als Gegenstand der Rehabilitierungswissenschaft – oder: Die Suche der Lehrer im Justizvollzug nach festen Punkten im Berufsfeld, in: ZfStrVo 1994, 206; Krebs Zur Entwicklung der Erwachsenenbildung in deutschen Strafanstalten, in: ZStW 1972, 559; Kunz Soziales Lernen ohne Zwang, in: ZStW 1989, 75; Laubenthal Arbeitsverpflichtung und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, in: Schlüchter (Hrsg.), FS Geerds, Lübeck 1995, 337; ders. Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, in: Feuerhelm u. a. (Hrsg.), FS Böhm, Berlin/New York 1999, 307; Leder Arbeitsentgelt im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland. Paradigma für fehlende soziologische Problemsicht, Rheinstetten 1978; Lenske Arbeitsmarktpolitik und Strafvollzug, in: ZfStrVo 1979, 155; Lohmann Arbeit und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, Frankfurt a. M. 2002; Luzius Möglichkeiten der Resozialisierung durch Ausbildung im Jugendstrafvollzug, Heidelberg/Karlsruhe 1979; Matzke Der Leistungsbereich bei Jugendstrafgefangenen, Diss. jur., Berlin 1982; Mey Auswirkungen schulischer und beruflicher Bildungsmaßnahmen während des Strafvollzuges, in: ZfStrVo 1986, 265; Müller-Dietz Berufsausbildung und Strafvollzug. Zur Rolle berufsbildender Maßnahmen im künftigen Behandlungsvollzug, in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule 1973, 243; ders. Strafvollzug: Erwachsenenbildung, in: Sieverts/Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Band 5, Lieferung 1, Berlin 1983, 222; ders. Bildungsarbeit im Strafvollzug – grenzübergreifend –, in: ZfStrVo 1993, 259; ders. Arbeit und Arbeitsentgelt für Strafgefangene, in: JuS 1999, 952; Nebe/Heinrich Behandlung und Ausbildung, in: ZfStrVo 1993, 276; Neufeind Karriere und Wirksamkeit der Empfehlung berufsbildender Maßnahmen im nordrhein-westfälischen Strafvollzug, Diss. jur., Bonn 1981; Niesel (Hrsg.) Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III), 4. Aufl., München 2007; Ommerborn/Schuemer Fernstudium im Strafvollzug, Pfaffenweiler 1999; Pendon Berufliche Ausbildung im Strafvollzug. Grundproblematik der Motivation von Gefangenen sowie deren Einschränkungen und Grenzen, in: ZfStrVo 1979, 158; ders. Die Rolle berufsbildender Maßnahmen im Vollzug – Bedeutung und Erfolg im Hinblick auf die Wiedereingliederung Straffälliger, in: ZfStrVo 1992, 31; ders. Lernziele im Vollzug, in: ZfStrVo 1994,
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Vorbemerkungen
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204; Petran/Weber Die Organisation von beruflicher und schulischer Bildung im Jugendstrafvollzug, in: FS 2008, 210; Preusker Zur Situation der Gefängnisarbeit, in: ZfStrVo 1988, 92; Reichardt Recht auf Arbeit für Strafgefangene, Frankfurt a.M. 1999; Rieder-Kaiser Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, Frankfurt a. M. 2004; Schüler Eine staatliche Schule in der Anstalt, in: ZfStrVo 1988, 137; Schweinhagen Arbeitstherapie im geschlossenen Erwachsenenvollzug, in: ZfStrVo 1987, 95; Sigel Freistellung von der Arbeitspflicht nach § 42 StVollzG, in: ZfStrVo 1985, 276; Stentzel Berufserziehung straffälliger Jugendlicher und Heranwachsender, Frankfurt a. M. 1990; Stiebig Die Vereinbarkeit aufenthaltsbeschränkender Vollstreckungsmaßnahmen mit europäischem Recht, in: ZAR 2000, 127; ders. Vollstreckungsverzicht und Grundfreiheiten. Ein Beitrag zur Entwicklung des europäischen Strafrechts, Frankfurt a. M. 2003; Streng Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl., Stuttgart 2002; Supe Strafgefangene und Schule, München 1980; Vogel Zum Stand der Alphabetisierung im Justizvollzug der Bundesrepublik Deutschland, in: ZfStrVo 1992, 112; Wattenberg Arbeitstherapie hinter Gittern, in: ZfStrVo 1984, 343; ders. Arbeitstherapie im Jugendstrafvollzug – Eine Bestandsaufnahme, 3. Aufl., Frankfurt 1990; Wiegand Schulische und berufliche Bildung, in: Schwind/Blau, 276; s. auch § 43
Vorbemerkungen Der Fünfte Titel des Zweiten Abschnitts des StVollzG enthält einen zentralen Rege- 1 lungsbereich, da er die normativen Zielvorstellungen des Gesetzes für die sozialen Lernfelder Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung darlegt (C/MD 2008 Rdn. 1) und insoweit die Erreichung des Vollzugsziels nach § 2 Satz 1 anhand wesentlicher Behandlungsmittel des Strafvollzugs (s. § 7 Abs. 2 Nr. 4, 5) konkretisiert (vgl. zur Bedeutung der Bildung im Strafvollzug die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006, Nr. 28). Die gesetzlichen Regelungsinhalte gründen letztlich auf der mit dem John Howard zugeschriebenen Satz „Make men diligent and they will be honest“ klassisch beschriebenen Vermutung, es gebe zwischen (Nicht-)Arbeit und Straffälligkeit einen kausalen Zusammenhang, so dass mit „Erziehung zur Arbeit“ Legalbewährung gefördert werden könne (vgl. Jehle 1994, 259 f und Pendon 1992, 31 f). Ein monofaktorieller positiver Zusammenhang von aktivem Arbeitsverhalten im Vollzug und der Legalbewährung nach der Entlassung lässt sich zwar ebenso wenig empirisch nachweisen wie in negativer Hinsicht ein solcher von (Aus-)Bildungsmangel und Straffälligkeit (s. Laubenthal 2008 Rdn. 423). Ungeachtet der nicht eindeutigen kriminologischen Einschätzung der Rolle der Arbeit (und der Bildung) als „Resozialisierungsfaktor ersten Ranges“ (so Blau Arbeit im Gefängnis, in: Rollmann [Hrsg.], Strafvollzug in Deutschland, Situation und Reform, Frankfurt a.M. 1967, 75; BVerfGE 98, 169, 172: „ein wichtiges Mittel auf dem Weg zur Resozialisierung“; BVerfG NStZ 2004, 514: „für das Resozialisierungskonzept des Strafvollzugsgesetzes von zentraler Bedeutung“; s. ferner Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl., München 2005, § 36 Rdn. 50, 81; Matzke 1982, 192 ff; Mey 1986, 265 ff; Müller-Dietz 1983, 226 f) ist allerdings allgemein anerkannt, dass die mit Bildung und Arbeitstraining verbundenen Einwirkungen auf den einzelnen Menschen seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung erfassen und in hervorragender Weise dazu beitragen können, ihn in seinem Selbstwertgefühl und in seinen sozialen Verhaltensweisen im Sinne auch einer gesellschaftlichen Stabilisierung positiv zu verändern (Stentzel 1990, 10 ff m. w. N.; s. auch Bundesvereinigung der Anstaltsleiter ZfStrVo 1993, 180; Arloth 2008 Rdn. 1). Darüber hinaus mag eine verbesserte Berufsbildung dem Gefangenen bei der Entlassung günstigere praktische Möglichkeiten verschaffen, auf dem Arbeitsmarkt vermittelt zu werden, und damit Gelegenheit, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit sicherzustellen. Dennoch bleibt der Stellenwert der Arbeit der Gefangenen nach dem StVollzG nicht frei 2 von Widersprüchen (s. auch Calliess Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1974, 37 ff; Kunz 1989, 84 f; Walter 1999 Rdn. 470; zur historischen Entwicklung de Jonge Strafarbeit, in: Hammerschick/Pilgram 1997, 35 f), weil Arbeit
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
als Bestandteil des Behandlungskonzepts zugleich auch als nach Art. 12 Abs. 3 GG zulässiges Zwangsmittel einen Teil des durch die Freiheitsentziehung auferlegten Strafübels darstellt (so Seebode, 87 ff; s. auch Böhm 2003 Rdn. 289 ff; vgl. noch § 41 Rdn. 2), wie insbesondere bei bildungs- und/oder arbeitsmäßig hinreichend ausgestatteten Straftätern (etwa der Wirtschafts- und/oder Organisierten Kriminalität) deutlich wird. Den Inhaftierten trifft dabei nicht nur eine Pflicht zur Arbeit, deren schuldhafte Verletzung gem. § 102 Abs. 1 mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden kann. Umgekehrt gilt der Entzug der zugewiesenen Arbeit als eine Strafverschärfung (Böhm 2003 Rdn. 292), denn er zählt zu den gesetzlich zugelassenen Disziplinarmaßnahmen (§ 103 Abs. 1 Nr. 7). Wegen des Entfallens der Entlohnung kann insoweit der Entzug der Arbeit auch zur Arbeitstätigkeit motivieren. Arbeitsleistung vermag unter den Voraussetzungen des § 43 Abs. 9 sogar zu einer faktischen Verkürzung der Inhaftierung zu führen. Auch hinsichtlich Arbeit und Ausbildung stellt sich die grundsätzliche Frage, ob diese Bereiche nicht im Sinne von die Freiheitsentziehung legitimierenden Behandlungsmaßnahmen (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 4 und 5; krit. dazu auch Müller-Dietz 1993 265), sondern zurückhaltender im Sinne eines die Chancen der Gefangenen im Rahmen legaler Sozialbehauptung nach der Entlassung im Regelfall verbessernden Angebotes begriffen werden sollten (vgl. AK-Feest/Lesting 2006 vor § 2 Rdn. 20 f; Kunz 1989, 80 ff; Matzke 1982, 199 ff). Denn zum einen liegt das Verhältnis positiver Auswirkungen von Arbeit und Ausbildung zu schädigenden Wirkungen des Strafvollzuges und damit ihre Bedeutung als „Resozialisierungsfaktor“ einerseits oder als schadensbegrenzendes Merkmal vernünftiger Vollzugsgestaltung andererseits im Dunkeln; zum anderen bedürfen einige Gefangene offensichtlich nicht der Ausbildung und des Arbeitstrainings im Vollzug für künftiges Legalverhalten. 3 Die §§ 37 bis 52 StVollzG normieren zum einen die verschiedenen Arten der Beschäftigung von Strafgefangenen während der Arbeitszeit. Dabei ist zu unterscheiden zwischen solchen Arbeitstätigkeiten, die im öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis ausgeübt werden, und solchen, bei denen der Betätigung eine privatrechtliche Vereinbarung zugrunde liegt oder die eine Art selbständige Tätigkeit darstellen. Zu den Beschäftigungen im öffentlichrechtlichen Verhältnis zwischen Inhaftiertem einerseits und Vollzugsbehörde andererseits zählen die wirtschaftlich ergiebige Arbeit (§ 37 Abs. 2), die angemessene (§ 37 Abs. 4) und die arbeitstherapeutische Beschäftigung (§ 37 Abs. 5) sowie Hilfstätigkeiten in der Anstalt (§ 41 Abs. 1 Satz 2). Hinzu kommen solche Maßnahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung (§ 37 Abs. 3), die auf der Basis der öffentlich-rechtlichen Beziehungen erfolgen, in denen der Inhaftierte zum Staat steht. Die Vorschriften über diese Beschäftigungen finden ihre Ergänzung durch §§ 148, 149 auf der vollzugsorganisatorischen Ebene. Die Ausübung von Tätigkeiten auf öffentlich-rechtlicher Grundlage gibt dem Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 42 als bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht einen Anspruch auf Gewährung von Erholungs„urlaub“. Die Entlohnung oder finanzielle Förderung richtet sich nach §§ 43, 200. Arbeitet der Gefangene dagegen in einem freien Beschäftigungsverhältnis oder befindet er sich auf der Grundlage eines solchen in einer beruflichen Aus- bzw. Weiterbildungsmaßnahme (§ 39 Abs. 1), geht er dieser Betätigung im Rahmen eines privatrechtlich gestalteten Rechtsverhältnisses nach. Dementsprechend gelten die vollzugsextern vereinbarten Urlaubsregelungen (§ 42 Abs. 4), und auch die Entlohnung bzw. finanzielle Beihilfe richtet sich nach den außervollzuglichen Vereinbarungen. Eine selbständige Tätigkeit kann dem Gefangenen gem. § 39 Abs. 2 gestattet werden. Ist er – unverschuldet – arbeitslos, kommt die Gewährung eines Taschengeldes (§ 46) in Betracht. 4 Neben den Beschäftigungsarten, der Freistellung von der Arbeitspflicht und der Entlohnung und finanziellen Unterstützung enthält der Fünfte Titel zudem Regelungen über die Verwendung von an den Strafgefangenen gezahlten finanziellen Leistungen (§§ 47, 50, 51,
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52). Ferner ist normiert, ob und inwieweit von einem Gefangenen ein Haftkostenbeitrag erhoben wird (§ 50). Auf der landesrechtlichen Ebene regeln in Bayern Art. 39 bis 54 BayStVollzG für den 5 Freiheitsstrafenvollzug den Bereich von Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung sowie die Verwendung von an die Strafgefangenen gezahlten Geldern. In Niedersachsen sind Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung sowie die Gefangenengelder betreffende Bestimmungen hinsichtlich des Erwachsenenvollzugs im Fünften und Sechsten Kapitel (§§ 35 bis 52 NJVollzG) enthalten. In Hamburg regeln §§ 34 bis 43 HmbStVollzG Arbeit, Aus- und Weiterbildung.
§ 37 Zuweisung (1) Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung dienen insbesondere dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. (2) Die Vollzugsbehörde soll dem Gefangenen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zuweisen und dabei seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen berücksichtigen. (3) Geeigneten Gefangenen soll Gelegenheit zur Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder Teilnahme an anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen gegeben werden. (4) Kann einem arbeitsfähigen Gefangenen keine wirtschaftlich ergiebige Arbeit oder die Teilnahme an Maßnahmen nach Absatz 3 zugewiesen werden, wird ihm eine angemessene Beschäftigung zugeteilt. (5) Ist ein Gefangener zu wirtschaftlich ergiebiger Arbeit nicht fähig, soll er arbeitstherapeutisch beschäftigt werden. VV 1 Entfällt. 2 Eine Beschäftigung ist angemessen im Sinne des § 37 Abs. 4 StVollzG, wenn ihr Ergebnis wirtschaftlich verwertbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. 3 (1) Soweit es die Art der Arbeit oder der angemessenen Beschäftigung zulässt, wird für jede Verrichtung die Anforderung ermittelt und festgesetzt, die der Gefangene zu leisten hat. Dabei ist von der Leistung auszugehen, die von einem freien Arbeitnehmer nach ausreichender Einarbeitung und Übung ohne Gesundheitsstörung auf die Dauer erreicht und erwartet werden kann. Die besonderen Verhältnisse des Vollzuges sind angemessen zu berücksichtigen. (2) Die Soll-Leistung wird überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt, wenn sie von der Mehrzahl der Gefangenen um mehr als vierzig vom Hundert überschritten wird oder sich die Festsetzung als zu hoch erwiesen hat. Sie ist auch zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzusetzen, wenn dies durch eine Änderung der Arbeitsmethoden, durch technische Verbesserungen oder ähnliches begründet ist.
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4 (1) Die Arbeitszeit der Gefangenen soll sich nach der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst richten. In dringenden Fällen darf die regelmäßige Arbeitszeit der Gefangenen bis zu der für freie Arbeitnehmer zugelassenen Höchstdauer überschritten werden. (2) An Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, in der Regel auch an Samstagen, ruht die Arbeit, soweit nicht unaufschiebbare Arbeiten ausgeführt werden müssen. (3) Mehrarbeit und Arbeit nach Absatz 2 sollen möglichst durch Freistellung von der Arbeit an anderen Arbeitstagen ausgeglichen werden. (4) Gefangene, die nach den Vorschriften ihres Glaubensbekenntnisses an bestimmten Tagen nicht arbeiten dürfen, können an diesen Tagen auf ihren Wunsch von der Arbeit befreit werden. Sie können dafür an allgemein arbeitsfreien Tagen zu unaufschiebbaren Arbeiten herangezogen werden. 5 Ein Gefangener kann zu Tätigkeiten für die Vollzugsanstalt herangezogen werden, wenn er hierfür geeignet ist und Unzuträglichkeiten nicht zu erwarten sind. Arbeiten, die Einblick in die persönlichen Verhältnisse von Bediensteten, Gefangenen oder Dritten oder in Personal-, Gerichts- oder Verwaltungsakten ermöglichen, dürfen einem Gefangenen nicht übertragen werden. Schrifttum: s. vor § 37
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1–5 1. Verhältnis von Bildung zu Arbeit 1–3 2. Zusammenarbeit mit außervollzuglichen Einrichtungen . . . . 4 3. Informationen zur beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . . . 5 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 6–29 1. Berufsbildung, Arbeit und Arbeitstherapie als Teile des Vollzugszieles (Absatz 1) . . . . . . 6–9 2. Zuweisung von wirtschaftlich ergiebiger Arbeit (Absatz 2) . . . 10–12 3. Berücksichtigung individueller Voraussetzungen (Absatz 2) . . . 13–15
4. Das Bildungsgebot (Absatz 3) . . 16–24 5. Angemessene Beschäftigung (Absatz 4) . . . . . . . . . . . . 25–26 6. Arbeits- und Beschäftigungstherapie (Absatz 5) . . . . . . . 27 7. Ablösung von Arbeits- oder Bildungsmaßnahme . . . . . . . . 28 8. Folgen des öffentlich-rechtlichen Verhältnisses . . . . . . . . . . 29 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 30–32 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 31 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 32
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die ursprünglich suspendierte und dann am 1.1.1980 in Kraft getretene (§ 198 Abs. 2) sowie durch Art. 40 Nr. 3 Arbeitsförderungs-Reformgesetz vom 24.3.1997 (BGBl. I, 59, 710) in Abs. 3 redaktionell geänderte Vorschrift enthält Regelungen über die berufliche Aus- und Weiterbildung, die Arbeit und die arbeitstherapeutische Beschäftigung der Gefangenen. Die Absicht des Gesetzgebers, berufliche Bildung und Arbeit als wichtige Kernbereiche eines resozialisierenden Behandlungsvollzugs zu beschreiben, ihren Stellenwert und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen, ist missglückt. Das erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Während einerseits der Regierungsentwurf des StVollzG die Ausund Weiterbildung ursprünglich unzweckmäßigerweise noch im Zusammenhang mit der Freizeit regeln wollte und andererseits der Alternativentwurf der Bildung sinnvollerweise
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einen eigenen Abschnitt widmete, hat sich der Gesetzgeber im StVollzG für einen Kompromiss entschieden, der formal und inhaltlich wenig befriedigen kann. a) Zutreffend wurde zwar der Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und 2 Arbeit hergestellt, unklar geblieben ist aber die zeitliche Zuordnung von beruflicher Bildung und Arbeit bzw. Beschäftigung entsprechend der Persönlichkeitsentwicklung und der Lebensgestaltungssituation des einzelnen Gefangenen. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit vertan, den allgemeinen Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 in § 37 beispielhaft zu konkretisieren. Berufsausbildung sollte, (zumindest) wenn sie zuvor nicht erfolgte, aber noch möglich erscheint und die Erreichung des Vollzugszieles fördert, einem Arbeitseinsatz vorangehen (vgl. auch AK-Däubler/Spaniol 2006 vor § 37 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 9; C/MD 2008 Rdn. 1). b) Der Gesetzgeber hätte sich für eine rangfolgeähnliche Zuordnung entsprechend 3 den Feststellungen im Vollzugsplan entscheiden sollen. Eine solche war in der beispielhaften Aufzählung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 bis 8 noch nicht erforderlich, wäre aber im Bereich der Zuweisung von Beschäftigungen zur Wertung, Verstärkung und Durchsetzung der anlässlich der Persönlichkeitserforschung (Behandlungsuntersuchung gem. § 6) erhobenen individuellen Bedürfnisse des einzelnen Gefangenen unabdingbar. So könnten die in der Praxis teilweise zu beobachtenden gegenseitigen Behinderungen und wenig behandlungsorientierten Konkurrenzen der Bereiche Berufsbildung und Arbeit vermieden werden. 2. Berufliche Bildung und Arbeit machen in verhältnismäßig großem Umfang eine Zu- 4 sammenarbeit der Vollzugsverwaltung mit außervollzuglichen Einrichtungen, Behörden, Organisationen, Verbänden, Vereinen und Einzelpersonen erforderlich. Das Zusammenarbeitsgebot des § 154 findet hier einen weiten Anwendungsbereich, der in der Praxis auch umfassend genutzt wird. Weil die Justizverwaltung aber auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, die notwendige Berufsbildung allein durchzuführen, sind die Arbeitsämter bzw. Arbeitsagenturen ebenso tätig geworden wie Bildungseinrichtungen der Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Parteien. Ferner soll im Arbeitsbereich unternehmerisches Risiko nicht in allen Branchen von der Justizverwaltung getragen werden bzw. es kann auch wegen der Struktur der öffentlichen Haushalte nicht immer getragen werden. Daher gibt es in den Anstalten neben den Eigenbetrieben des Vollzugs zahlreiche Zweigbetriebe freier Unternehmer (vgl. § 149 Abs. 4). Damit ist auch die Möglichkeit eröffnet, den Gefangenen nach der Entlassung im Stammunternehmen außerhalb der Anstalt weiter zu beschäftigen. 3. Über die Bildungsmaßnahmen (Allgemeinbildung und berufliche Grundbildung, 5 Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung) in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland finden sich Informationen im Internet unter http://infobub.arbeitsagentur.de/kurs/index.jsp (Suchkriterium: Bildungsbereich in Justizvollzugsanstalten). Die Informationen über die Bildungsmöglichkeiten erstrecken sich auf Bildungsstätten, Zugangsvoraussetzungen, Unterrichtsformen und -dauer, Bildungsinhalte und -schwerpunkte, Abschlüsse, Aufnahmemöglichkeiten, Aufnahmekriterien und dergleichen. Auch informieren sich die Landesjustizverwaltungen laufend gegenseitig über Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten in ihren Bereichen, um zur besseren Ausnutzung der jeweiligen Bildungseinrichtungen der Länder Gefangene unter Umständen überstellen oder verlegen zu können.
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II. Erläuterungen 6
1. a) In Abs. 1 wird jener Teil des allgemeinen Vollzugszieles aus § 2 Satz 1, der durch berufliche Bildung, Arbeit und Beschäftigung erreicht werden soll, spezifiziert und konkreter beschrieben. Während dabei die drei Bereiche Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung und berufliche Aus- und Weiterbildung zunächst ungeordnet aufgezählt sind, verdeutlicht das Gebot, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern, jene Reihenfolge, in der die Bedürfnisse des einzelnen Gefangenen geprüft werden müssen: zuerst die Notwendigkeit einer beruflichen Bildung, dann die Möglichkeit eines geeigneten Arbeitseinsatzes und – wenn beides noch nicht möglich ist – schließlich das Gebot einer arbeitstherapeutischen Beschäftigung. Feststellungen und Hinweise dazu hat der Vollzugsplan (§ 7 Abs. 2 Nr. 4 und 5) aufgrund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) zu enthalten.
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b) Der Hinweis auf die Erwerbstätigkeit nach der Entlassung enthält zwei wesentliche Aussagen: Der Gefangene soll zum einen in die Lage versetzt werden, den Unterhalt für sich und ggf. seine Familienangehörigen durch seine Arbeit sichern zu können, zum anderen soll er dazu vor allem nach der Entlassung fähig sein. Alle vollzuglichen Bemühungen sind also auf diesen Zeitpunkt ausgerichtet, mithin zukunftsorientiert. Sie verwirklichen auf diese Weise sowohl das Eingliederungsgebot des § 3 Abs. 3 als auch den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 und die Hilfe zur Selbsthilfe als frühzeitige Entlassungsvorbereitung (vgl. § 71).
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c) Durch das Wort insbesondere lässt die Bestimmung die Möglichkeit offen, dass berufliche Aus- und Weiterbildung, Arbeit und arbeitstherapeutische Beschäftigung im Einzelfall auch anderen Zielen dienen können als lediglich Fähigkeiten für eine spätere Erwerbstätigkeit zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. Dabei ist z. B. an eine physische oder psychische Stabilisierung, an eine Verbesserung des Selbstwertgefühls oder an eine die Haftzeit überbrückende therapeutische Beschäftigung zu denken, z. B. bei drogenabhängigen, alten oder in hoch qualifizierten oder Spezialberufen fertig ausgebildeten Gefangenen.
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d) Mit dem Begriff arbeitstherapeutische Beschäftigung hat der Gesetzgeber versucht, definitorische Unsicherheiten zu verdecken. Man unterscheidet Arbeits- und Beschäftigungstherapie (wobei die Grenzen jedoch fließend sind; vgl. Schweinhagen 1987; Wattenberg 1984 und 1990). Die Arbeitstherapie dient unmittelbar der Herstellung einer Arbeitsfähigkeit des Gefangenen. Sie soll zu einem positiven Arbeits- und Leistungsverhalten führen, insbesondere die Durchhaltefähigkeit an einem Arbeitsplatz über mehrere Stunden einüben. Über zunächst einfache Tätigkeiten und Erfolgserlebnisse wird versucht, die Ängste vor Arbeitsmisserfolgen abzubauen, Begabungen zu finden und so mit Aussicht auf Erfolg eine Hineinnahme in berufliche Bildungsmaßnahmen oder eine dauerhafte Arbeitsaufnahme in einem Arbeitsbetrieb zu ermöglichen. Das Arbeitsentgelt für arbeitstherapeutische Beschäftigung beträgt gem. § 3 StVollzVergO (s. hierzu § 48 Rdn. 2) in der Regel 75 % des Grundlohnes der Vergütungsstufe I (vgl. § 43 Rdn. 9). Jenen Gefangenen, die zu der stärker zielgerichteten Arbeitstherapie noch nicht in der Lage sind, dient die Beschäftigungstherapie (z. B. als Vorstufe der Arbeitstherapie) dazu, in Unterbrechung der sonst zu langen täglichen freien Zeit durch meist sehr leichte und sich wiederholende Tätigkeiten diese psychisch zu stabilisieren und einen zeitlichen Tagesablauf einzuüben, der den allgemeinen Lebensverhältnissen außerhalb der Anstalt möglichst entspricht (§ 3 Abs. 1).
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2. a) Abs. 2 regelt die Zuweisung von Arbeit an einen Gefangenen. Seiner in § 41 Abs. 1 festgelegten Arbeitspflicht (dort Rdn. 2 ff) entspricht die grundsätzliche Verpflich-
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tung der Vollzugsanstalt, ihm auch Arbeit zuzuweisen. Ein damit korrespondierendes Recht auf Zuweisung von Arbeit ist dem Gefangenen andererseits jedoch nicht zugestanden. Bei pragmatischer Beurteilung können die Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die aus der Abhängigkeit der Arbeitsverwaltungen in den Vollzugsanstalten vom allgemeinen Arbeitsmarkt erwachsen. In Zeiten der Vollbeschäftigung außerhalb der Anstalten könnte ein Recht der Gefangenen auf Arbeit zwar weitgehend erfüllt werden. Allgemeine wirtschaftliche Rezessionen, Auftragsmangel und Arbeitslosigkeit außerhalb der Anstaltsmauern sind hingegen schnell und überproportional im Bereich der Gefangenenarbeit zu spüren. Der Anteil der wegen Arbeitsmangels unbeschäftigten Gefangenen steigt dann erheblich an. In der vollzuglichen Praxis herrscht seit Jahren Arbeitsmangel. In Anerkennung der wirtschaftlichen Realität und vor allem angesichts der beschränkten Arbeitsplatzkapazität der Einrichtungen kommt dem Einzelnen nur ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Anstaltsleitung bei der Auswahl der Gefangenen für vorhandene Arbeitsstellen zu (Arloth 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 399). b) Dem Gefangenen soll wirtschaftlich ergiebige Arbeit zugewiesen werden, d. h. Ar- 11 beit, deren Verrichtung außerhalb der JVA (unter normalen Bedingungen) einen Verdienst ermöglichen würde, unabhängig davon, ob es sich um Dienstleistungen oder um handwerkliche oder industrielle Fertigungen handelt. Das Arbeitsprodukt soll mit einem Erlös verwertbar sein, der nach Möglichkeit auch einen Gewinn enthält. Dabei geht der Gesetzgeber erkennbar davon aus, dass die wirtschaftliche Ergiebigkeit ein Indiz für eine sinnvolle Arbeit ist, die den Gefangenen zur Leistungsbereitschaft motiviert und dadurch sowohl dem Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 als auch dem Integrationsgrundsatz des § 3 Abs. 3 entspricht. c) Es ist nicht erforderlich, dass die Arbeit nach Auffassung des Gefangenen einträglich 12 genug und abwechslungsreich erscheint, einem bestimmten Niveau entspricht oder weder zu schwer noch zu schmutzig ist. Alle außerhalb der Anstalten anzutreffenden Arbeiten sind für Gefangene geeignet. Auch wenn der Gesetzgeber als Tätigkeiten i. S. d. Abs. 2 unproduktive und abstumpfende Verrichtungen ausgeschlossen wissen wollte (vgl. BTDrucks. 7/918, 65), sind dennoch monotone Tätigkeiten sowie Fließband- und Akkordarbeit nicht unzulässig. Zur Arbeitszeit vgl. VV Nr. 4, deren Einzelregelungen sich bewährt haben. Danach soll sich die Arbeitszeit der Strafgefangenen nach der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst richten. Kommt es zu Arbeitsunterbrechungen, so ist im Hinblick auf eine Anrechnung auf die Arbeitszeit (und die Frage der Entlohnung) zu differenzieren: Wird die Arbeitszeit aus personenbezogenen Gründen unterbrochen (z. B. Arzttermin, Besuchsempfang, Disziplinarverhandlung oder richterliche Anhörung), muss keine Anrechnung erfolgen, während bei Unterbrechungen zu Anstaltszwecken (z. B. Heranziehung als Dolmetscher für ausländische Strafgefangene durch die Vollzugsbehörde) die fehlende Arbeitszeit angerechnet wird. 3. a) Die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen des einzelnen Gefangenen sollen 13 bei der Zuweisung von Arbeit an ihn berücksichtigt werden. Diesem Individualisierungsgebot folgend wird bei der Zuweisung einer wirtschaftlich ergiebigen Tätigkeit den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten Rechnung getragen. Mit der Vorgabe der personenbezogenen Prüfung und persönlichkeitsangepassten Zuweisung soll erreicht werden, dass die auszuübende Arbeit dem aktuellen Stand der Persönlichkeitsentwicklung hinreichend entspricht, der Gefangene weder unter- noch überfordert wird und dadurch die Arbeitsmotivation und das Durchhaltevermögen verliert. Es soll eine Arbeit zugewiesen werden, zu Klaus Laubenthal
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der der Gefangene eine positive Einstellung gewinnt und die er deshalb möglicherweise nach der Entlassung in einer freien Arbeitsstelle fortzuführen bereit ist.
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b) Den Grundprinzipien des Abs. 2 stehen in der Vollzugspraxis erhebliche Hindernisse entgegen. Oft gelingt es dem Leiter der Arbeitsverwaltung einer Vollzugsanstalt nur sehr schwer, überhaupt Aufträge für die Anstaltsbetriebe und damit Arbeit für die Gefangenen zu beschaffen. Es ist ihm häufig lediglich in wenigen Fällen möglich, dem Individualisierungsgebot in Abs. 2 auch nur annähernd Rechnung zu tragen. Die dem einzelnen Gefangenen in der Anstalt angebotene Tätigkeit richtet sich daher im Allgemeinen mehr nach der Art, dem Umfang und der vereinbarten Produktionszeit für den von der Anstalt übernommenen Auftrag als nach den individuellen Möglichkeiten der Inhaftierten.
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c) Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist der Rechtsprechung darin zuzustimmen, dass auch sie den Vollzugsorganen bei der Regelung des Arbeitseinsatzes der Gefangenen ein weitgehendes Ermessen einräumt (OLG Nürnberg NStZ 1981, 200; OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 245). Dieses Ermessen ist fehlerhaft ausgeübt, wenn die Vollzugsbehörde die ihr durch die Norm vorgegebenen gesetzlichen Grenzen überschreitet oder wenn sie von dem ihr eingeräumten Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes oder der in der Norm zum Ausdruck kommenden Zweckbestimmung Gebrauch macht (zur Ermessensausübung s. Laubenthal 2008 Rdn. 809 ff). Ein solcher Fehlgebrauch liegt z. B. dann vor, wenn bei der Entscheidung über eine Arbeitsplatzzuweisung von unrichtigen tatsächlichen Grundlagen ausgegangen wurde (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 57).
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4. a) Das Gesetz stellt die Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung i. S. d. § 37 Abs. 3 der Zuweisung einer ergiebigen Arbeit gleich (vgl. BT-Drucks. 7/918, 65). Dem seitens des Gefangenen gem. § 41 Abs. 2 Satz 1 zustimmungsbedürftigen Bildungsgebot des Abs. 3 – insbesondere der Verpflichtung, geeigneten Gefangenen Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung und sonstige aus- oder weiterbildende Maßnahmen anzubieten – liegen die in der Praxis vielfach bestätigten Erkenntnisse zugrunde, dass eine überdurchschnittlich große Zahl von Gefangenen keinen erfolgreichen Schulabschluss und/oder keine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt (vgl. etwa K/S-Schöch § 12 Rdn. 10; Laubenthal 2008 Rdn. 423; Wiegand 1988, 277 f; von den im Jahr 2006 in bayerischen Strafanstalten einsitzenden Verurteilten verfügten nach einer dort durchgeführten Erhebung nur etwa 52 % der Erwachsenen über eine abgeschlossene Berufsausbildung, bei den Jugendlichen sogar lediglich 29 % [Bayerisches Staatsministerium der Justiz Justizvollzug in Bayern, München 2008, 24]). Hinzu kommt die Auffassung, dass fehlende schulische und berufliche Bildung wegen ihrer desozialisierenden Wirkung und der damit verbundenen Lebensschwierigkeiten in einer modernen Leistungsgesellschaft in engem Zusammenhang mit strafrechtlich auffälligem Verhalten steht (§ 2 Rdn. 13). Deshalb wird davon ausgegangen, dass eine Verbesserung der schulischen und beruflichen Bildung wesentlich dazu beitragen kann, die Gefangenen zu befähigen, das Vollzugsziel (§ 2 Satz 1) zu erreichen. Die Erfüllung der gesetzlichen Forderung bereitet den Vollzugsorganen jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil hier stark differenziert werden muss, denn die Gefangenen weisen Bildungsdefizite sehr unterschiedlicher Form und unterschiedlichen Grades auf. Die Vollzugseinrichtungen bieten berufliche Ausund Weiterbildung entweder in Lehrwerkstätten, in den Arbeitsbetrieben der Vollzugsanstalten oder in besonderen (teilweise gemeinsam mit den Arbeitsagenturen eingerichteten) Umschulungsstätten an und zwar sowohl als Einzelmaßnahme als auch in Form geschlossener Lehrgänge.
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b) Bei den in Abs. 3 normierten in erster Linie berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen handelt es sich regelmäßig um Vollzeitmaßnahmen, die an die Stelle der Zuweisung von
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Arbeit treten und insoweit die Arbeitspflicht des Inhaftierten entfallen lassen. Das StVollzG benennt zwar die Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung sowie der Teilnahme an anderen ausbildenden und weiterbildenden Maßnahmen. Die Oberbegriffe der Aus- und Weiterbildung werden aber im StVollzG nicht näher abgegrenzt und definiert. Ihre Bedeutung ergibt sich aus dem BBiG sowie aus dem SGB III – Arbeitsförderung. Nach § 1 Abs. 3 BBiG hat die Berufsausbildung eine breit angelegte berufliche Grundbildung und die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Zudem soll der Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen ermöglicht werden. Zur beruflichen Weiterbildung gehören Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. Gem. § 1 Abs. 4 BBiG soll eine berufliche Fortbildung dazu dienen, die vorhandenen beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen oder beruflich aufzusteigen, während die berufliche Umschulung nach § 1 Abs. 5 BBiG die Befähigung zu einer anderen beruflichen Tätigkeit bezweckt. Angesichts der nur begrenzten vollzuglichen Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung sowie der – häufig auch durch kurze Haftzeiten bedingten – Ungeeignetheit vieler Inhaftierter für Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von längerer Dauer spielen in der vollzuglichen Praxis die anderen aus- und weiterbildenden Maßnahmen eine größere Rolle und dabei vor allem diejenigen der Berufsausbildungsvorbereitung (Arloth 2008 Rdn. 13). Nach § 1 Abs. 2 BBiG dienen diese dem Ziel, an eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder eine gleichwertige Berufsausbildung heranzuführen. Eine Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit kann für Maßnahmen der Ausbildung (§ 60 SGB III) ebenso wie für diejenigen der Weiterbildung (§§ 77 ff SGB III) und der Berufsvorbereitung (§ 61 SGB III) erfolgen. Zwar enthält das SGB III – abgesehen von § 26 Abs. 1 Nr. 4 zur Frage einer Versicherungspflicht – keine speziellen Regelungen für den Strafvollzug. Jedoch kann auch der Strafgefangene nach den im SGB III genannten Voraussetzungen Leistungen der traditionellen Förderung (z. B. Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe, Übernahme von Maßnahmekosten) erhalten bzw. die Anstalt eine institutionelle Förderung (z. B. finanzielle Zuschüsse zur Schaffung von Ausbildungsplätzen) erfahren. c) Berufliche Bildung soll nur geeigneten Gefangenen angeboten werden. Entgegen 18 dieser ausgrenzenden Formulierung wäre es vom Vollzugsziel her sinnvoller, Maßnahmen anzubieten, die sich für die Gefangenen eignen und auf deren Ausgangsbasis abstellen (ebenso kritisch hierzu Böhm 2003 Rdn. 308; Walter 1999 Rdn. 458). Zu unterscheiden ist zwischen persönlicher, fachlicher und vollzuglicher Eignung (so auch Rotthaus Anm. zu OLG Frankfurt NStZ 1983, 381, 383). Zur persönlichen Eignung sind das Vorliegen entsprechender Bildungsdefizite (Bildungsbedürftigkeit) und die notwendigen körperlichen, geistigen und charakterlichen Voraussetzungen für eine berufliche Bildung (Bildungsfähigkeit und -willigkeit) zu rechnen. Nach OLG Celle (BlStV 1/1987, 5) kann einem Gefangenen, der eine qualifizierte Berufsausbildung und den Realschulabschluss hat, eine weitere Ausbildung ohne für ihn praktische Bedeutung versagt werden (vgl. auch OLG Nürnberg ZfStrVo 1991, 245, das unter Berufung auf das Vollzugsziel gem. § 2 Satz 1 einem Mittvierziger die Zulassung zum Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften versagte, weil der Gefangene nach seiner Entlassung mit dieser Qualifikation auf dem freien Arbeitsmarkt schlechtere Wiedereingliederungschancen habe; s. zum Fernstudium noch Rdn. 23). Die fachliche Eignung umfasst alle psychischen und physischen Fähigkeiten, die für die vorgesehene konkrete Berufsbildungsmaßnahme erforderlich sind, um sie durchzustehen und erfolgreich abzuschließen. Zur vollzuglichen Eignung gehören im Wesentlichen die Sicherheitsaspekte, ob z. B. die mit der Bildungsmaßnahme verbundenen Lockerungen
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i. S. d. § 11 (Ausgang, Freigang) dem einzelnen Gefangenen entsprechend seinem Vollzugsplan (gem. § 7) gewährt werden können.
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d) Welches Ausbildungsangebot in den einzelnen Justizvollzugsanstalten bereitgestellt wird, steht im Ermessen der jeweiligen Vollzugsbehörden. Bei dem Merkmal der Eignung auf der Tatbestandsseite des Abs. 3 handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Denn bei der Feststellung der Eignung geht es um ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das auf einem Bündel objektiver und subjektiver Umstände beruht. Aufgrund der erforderlichen persönlichen Wertungen steht der Anstaltsleitung eine Entscheidungprärogative zu. Die Entscheidung innerhalb des ihr eingeräumten Beurteilungsspielraums bleibt gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar (Arloth 2008 Rdn. 15; K/S-Schöch § 7 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 426, 813; a. A. AK-Däubler/Spaniol Rdn. 34: gerichtlich voll nachprüfbar). Sind für einen Aus- oder Weiterbildungsplatz mehrere Strafgefangene geeignet, kommt der Anstaltsleitung auf der Rechtsfolgenseite des Abs. 3 zudem ein Auswahlermessen zu (OLG Karlsruhe StraFo 2008, 524).
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e) Um für die förderungsbedürftigen und -fähigen Gefangenen möglichst eine Vielzahl von geeigneten ausbildenden Angeboten bereitzuhalten – was die einzelnen Anstalten regelmäßig überfordert –, haben die Bundesländer im Hinblick auf die Verlegungsmöglichkeit gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 verabredet, sich laufend gegenseitig über Aus- und Fortbildungsangebote für Gefangene in ihren Bereichen zu informieren. Eine Verlegung nach dieser Norm kommt vor allem in Betracht, wenn die aufnehmende Einrichtung individuell geeignetere Aus- und Weiterbildung bietet (Laubenthal 2008 Rdn. 359). Dann kann zum Zweck der Behandlung ein vom Vollstreckungsplan abweichender Anstaltswechsel erfolgen (zur Frage der Anordnung der vorzeitigen Rückverlegung eines Gefangenen wegen Verstoßes gegen Sicherheitsinteressen in seine „Heimatanstalt“ aus der Vollzugsanstalt, in die er zum Zwecke der Berufsausbildung aufgenommen wurde, OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55 m. Anm. Rotthaus ZfStrVo 1983, 256; zur Frage der Rückführung des Gefangenen nach Abschluss der Ausbildungsmaßnahme OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 188).
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f) Im Zusammenhang mit ihren Berufsbildungsangeboten sind die Vollzugsbehörden verpflichtet, bei den Gefangenen für die Berufsbildung zu werben, die notwendige Motivation zu vermitteln, zu fördern oder zu erhalten, was bereits aus dem allgemeinen Grundsatz des § 4 Abs. 1 Satz 2 folgt. Die Anstalt hat für eine geeignete und wirksame Orientierung mit abschließender Berufsfindung Sorge zu tragen. Bei der Ausbildungsvermittlung muss gem. § 148 Abs. 2 auf der organisatorischen Ebene sichergestellt sein, dass die Bundesagentur für Arbeit die ihr insoweit obliegenden Aufgaben in den Einrichtungen durchführen kann. Viele Gefangene müssen jedoch zunächst eine Orientierungsphase in justizeigenen Arbeits- und/oder Lehrwerkstätten durchlaufen, um durch Erlangen oder Verbessern einer Motivation die Notwendigkeit einer beruflichen Bildung einzusehen.
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g) Die berufliche Bildung kann durch eine Berufsausbildung in anstaltseigenen Produktions- und Lehrwerkstätten entsprechend den Richtlinien der außervollzuglich zuständigen Institutionen (z. B. Berufsbildungsausschüsse bei den Industrie- und Handelskammern bzw. Handwerkskammern) erfolgen. Sie kann auch eine Weiterbildungsmaßnahme gem. §§ 77 ff SGB III sein, die ebenfalls in den Anstaltsbetrieben oder in einem geschlossenen Lehrgang, zumeist in besonderen Werkstätten, durchgeführt wird. Nach §§ 60 ff bzw. §§ 77 ff SGB III werden unter bestimmten Voraussetzungen (s. im Einzelnen Stratman, in: Niesel SGB III, §§ 60 ff; §§ 77 ff) Maßnahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung durch die Bundesagentur für Arbeit gefördert. Diese übernimmt individuelle Kosten (z. B. Honorare der Lehrkräfte, Lehr- und Lernmittel, Verbrauchsmaterial, Unterhaltsgeld, Ver-
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waltungskostenanteile) und beteiligt sich teilweise darüber hinaus auch an den institutionellen Kosten (z. B. Einrichtung der Werkstätten, Ausstattung der Ausbildungsplätze, Geräte und Werkzeug). h) Berufsbildung wird in Einzelfällen auch mit Hilfe von Fernunterricht und Fern- 23 studien durchgeführt, die neben der Fernuniversität Hagen verschiedene, in diesem Bereich außerhalb der Anstalten tätige Bildungsinstitute anbieten (Hinweise über persönliche Voraussetzungen, Lehr- und Studienangebote, gesetzliche Grundlagen und finanzielle Förderung s. Ratgeber für Fernunterricht, zu beziehen bei der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht [ZFU] in 50676 Köln, Peter-Walter-Platz 2 bzw. im Internet unter http: //www.zfu.de oder beim Bundesinstitut für Berufsbildung [BIBB] in 53113 Berlin, Hermann-Ehlers-Str. 10 bzw. im Internet unter http://www.bibb.de/de). Ein Fernunterricht bzw. -studium beruht auf schriftlich vermittelter Kommunikation zwischen dem Lernenden und den Lehrkräften der Fernlehrorganisation, wobei die Kurse vorproduziert sind und die Interaktion vor allem medienvermittelt stattfindet – i. d. R. hauptsächlich aus der Lösung, der Korrektur und Kommentierung vom Einsendeaufgeber (Ommerborn/Schuemer 1999, 3 f). Ein Fernunterricht bzw. -studium stellt dann eine Maßnahme i. S. d. § 37 Abs. 3 dar, wenn der Inhaftierte für sein Ausbildungsvorhaben von der Arbeitspflicht freigestellt wird (KG ZfStrVo 2003, 178) und er nach § 44 Ausbildungsbeihilfe erhält. Eine fernunterrichtliche Ausbildung kann zwar den individuellen Berufswünschen und Bedürfnissen eines einzelnen Gefangenen weitgehend gerecht werden. Eine erfolgreiche Durchführung setzt neben den intellektuellen Voraussetzungen (etwa in Form des Abitur- oder Fachhochschulreifenachweises) aber große Arbeitsdisziplin, erhöhtes Leistungsstreben, starkes Durchhaltevermögen und eigenkontrollierte Stetigkeit voraus, an denen es den meisten Gefangenen mangelt. Zudem bedarf es der im Einzelfall erforderlichen vollzugsbezogenen Gegebenheiten, d. h. im Idealfall räumlicher Unterbringung mit geeignetem Platz zum Lernen, u.U. mit EDV-Unterstützung, und mit Bibliothek sowie Betreuung durch Mentoren (vgl. Clever/Ommerborn 1996, 82 ff). Erforderlichenfalls muss eine Eignung für Urlaub oder Ausgang gegeben sein bzw. kann eine Überstellung in eine andere Anstalt (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1988, 369) zum Ablegen einer Prüfung in Betracht kommen. Insbesondere für im geschlossenen Vollzug unterzubringende Gefangene bedarf es der Verlegung in eine solche Vollzugseinrichtung, in der bislang Studienzentren für inhaftierte Fernstudenten eingerichtet wurden (z. B. in den Justizvollzugsanstalten Geldern, Hannover, Freiburg), welche als Instrumente zur Kompensation von Kommunikationsdefiziten in der Fernlehre fungieren (Ommerborn/Schuemer 1999, 9 ff). Für die organisatorische Durchführung derartiger mit einem Fernunterricht zwangsläufig verbundener Maßnahmen ist die Vollzugsbehörde im Falle ihrer Zustimmung zur Aufnahme des Studiums/Fernlehrgangs verantwortlich (OLG Hamm ZfStrVo 1986, 376). Dabei kann Urlaub über §§ 13 und 35 hinaus nicht gewährt werden (OLG Frankfurt NStZ 1986, 189 m. Anm. Dopslaff). Auch ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, den Gefangenen an Begleitveranstaltungen teilnehmen zu lassen, deren Gegenstand vom Kernbereich des Studiums so weit entfernt erscheint, dass bei Nichtteilnahme eine Gefährdung des Studienziels nicht zu befürchten ist (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 246). Schließlich ergibt sich aus Abs. 3 auch kein Anspruch auf Übernahme von Kosten eines Fernlehrgangs oder -studiums (OLG Nürnberg ZfStrVo 1991, 245; OLG Hamburg NStZ 1995, 568 = ZfStrVo 1996, 117; Arloth 2008 Rdn. 13; C/MD 2008 Rdn. 4). i) Die Frage, ob in jeder größeren JVA den Gefangenen Gelegenheit zu beruflicher Bil- 24 dung gegeben werden soll oder ob nur wenige Anstalten als Zentren zur beruflichen Bildung einzurichten sind (so stellt z. B. die JVA Geldern die zentrale Bildungsstelle in Nordrhein-Westfalen für erwachsene männliche Strafgefangene mit 224 Ausbildungsplätzen für
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§ 37
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13 Berufe dar – s. http://www.jva-geldern.nrw.de/wir/bbz/index.php), ist umstritten. Die Dauer beruflicher Bildung erfordert wegen der Aufrechterhaltung der sozialen Bezüge der Gefangenen möglichst seine Unterbringung in der Nähe seines Lebensmittelpunktes, um seine Bildungsbereitschaft zu fördern bzw. zu erhalten. Weite Verlegungen zur Durchführung von Bildungsmaßnahmen sollten möglichst vermieden werden. Andererseits erlauben es die in den einzelnen Justizvollzugsanstalten vorhandenen Strukturen nicht, überall berufliche Bildungsmaßnahmen einzurichten. Ferner ist bei der Initiierung von Umschulungsmaßnahmen aus Kostengründen eine Mindestzahl von Gefangenen bei Beginn des Umschulungskurses erforderlich, die nicht einmal in jeder größeren Anstalt erreicht werden dürfte. Auch im Bereich der dualen Ausbildung sind zudem nicht in jeder Anstalt zweckentsprechende Ausbildungsbetriebe und eine entsprechende Ausstattung mit Ausbildungspersonal vorhanden. Schließlich sprechen bei beiden Formen der Berufsausbildung wirtschaftliche Überlegungen für eine möglichst weitgehende Konzentration (z. B. möglichst optimales Ausnutzen von Gebäuden und Ausstattungen, wirksamer Einsatz von Personal). Außerdem kann bei der Konzentration letztlich auch die notwendige Verbindung mit dem Ausbildungs- und Arbeitsbereich außerhalb der JVA am besten gewährleistet werden, z. B. durch genügend Praktikumsplätze, nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter, leistungsfähige und breit gefächerte Berufsschulen, bereitwillige und aufgeschlossene Maßnahmenträger, zu besonderer Mitarbeit bereite und engagierte Arbeitsagenturen, aufgeschlossene Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern sowie Innungen, gute und rechtzeitige Vermittlung auf dem freien Arbeitsmarkt in industriellen Ballungsgebieten.
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5. a) Einem Gefangenen wird gem. Abs. 4 dann eine angemessene Beschäftigung zugeteilt, wenn ihm eine wirtschaftlich ergiebige Arbeit gem. Abs. 2 nicht zugewiesen und eine Gelegenheit zur beruflichen Bildung gem. Abs. 3 ebenfalls nicht gegeben werden kann. Die angemessene Beschäftigung ist mithin subsidiär zu Berufsbildung und wirtschaftlich ergiebiger Arbeit. Da die faktischen Gegebenheiten in den Vollzugseinrichtungen nicht immer und für alle in Betracht kommenden Insassen die Zuteilung einer qualifizierten Arbeitsstelle ermöglichen und auch nur ein Teil der Gefangenen für eine Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme geeignet erscheint, soll § 37 Abs. 4 einer drohenden bzw. einer schon bestehenden Arbeitslosigkeit im Strafvollzug entgegenwirken (Lohmann 2002, 66 f). Eine Beschäftigung ist nach VV Nr. 2 angemessen, wenn ihr Ergebnis wirtschaftlich verwertbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. Diese objektiven Voraussetzungen reichen jedoch nicht aus. Auch die subjektiven Bedingungen wie berufliche Qualifikation, Fertigkeiten, Leistungsfähigkeit und Neigung des Gefangenen sind bei der Abwägung der Angemessenheit zu berücksichtigen (Laubenthal 2008 Rdn. 406). In Phasen hohen Arbeitsmangels darf Abs. 4 nicht dazu führen, dass die Vollzugsbehörde zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit zur Durchführung sinnloser Tätigkeiten durch die Inhaftierten veranlasst würde. Das Verbot sinnloser und unproduktiver Verrichtungen (s. Rdn. 12) gilt auch für Abs. 4. Der Einzelne hat keinen Rechtsanspruch auf Zuteilung einer Beschäftigung, dies liegt vielmehr im Ermessen der Anstaltsleitung (Arloth 2008 Rdn. 16; für ein Recht auf angemessene Beschäftigung dagegen Reichardt 1999, 123 ff).
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b) Voraussetzung für die Zuteilung einer angemessenen Beschäftigung ist die Arbeitsfähigkeit der Gefangenen, d. h. nach ärztlicher Auffassung die körperliche und seelisch-geistige Fähigkeit, sich den mit der Arbeit verbundenen Belastungen auf Dauer ohne Gesundheitsbeeinträchtigungen zu stellen. Bereits die nach dem Strafantritt im Rahmen der Aufnahmedurchführung gem. § 5 Abs. 3 erfolgende ärztliche Untersuchung dient gem. VV zu § 5 auch der Prüfung, ob und in welchem Umfang der Gefangene arbeitsfähig ist.
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Zuweisung
§ 37
6. Einem Gefangenen soll gem. Abs. 5 Arbeits- oder – falls notwendig – Beschäfti- 27 gungstherapie angeboten werden, wenn er zu wirtschaftlich ergiebiger Arbeit (noch) nicht fähig erscheint (zur Begrifflichkeit s. Rdn. 9). Ist eine solche Zuweisung erfolgt, besteht für den Inhaftierten eine Pflicht zur Teilnahme (OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 153). Abs. 5 stellt primär auf Arbeitstherapie ab, in der der Gefangene befähigt werden soll, möglichst bald eine Berufsausbildung zu beginnen oder eine angemessene oder gar wirtschaftlich ergiebige Arbeit zu leisten. Die Verwirklichung dieser Bestimmung macht die Einstellung ausreichenden arbeitstherapeutischen Fachpersonals durch die Vollzugsbehörden erforderlich. Dabei entstehen in der Praxis teilweise große Schwierigkeiten, weil entsprechende Planstellen nicht in dem notwendigen Ausmaß von den Bundesländern bereitgestellt werden, andererseits jedoch auch erfahrene Arbeitstherapeuten auf dem Arbeitsmarkt selten zur Verfügung stehen. 7. Erweist sich ein Gefangener im Verlaufe einer Berufsbildungsmaßnahme oder einer 28 zugewiesenen Arbeit als ungeeignet (zur Eignung bei beruflichen Bildungsmaßnahmen s. Rdn. 18), kann ein Ausschluss des Gefangenen von der weiteren Teilnahme bzw. eine Ablösung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG erfolgen (OLG Celle NStZ-RR 2008, 125; OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 189; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 389). Denn dann liegt ein nachträglich eingetretener Umstand vor, aufgrund dessen der Anstaltsleiter berechtigt war, die begünstigende Maßnahme nicht zu erlassen. Ein solcher Widerruf kommt insbesondere bei verhaltensbedingten Gründen in Betracht, welche die Eignung des Inhaftierten für die zugewiesene Arbeit oder die Aus- oder Weiterbildung aufheben, wozu Arbeitsverweigerung, intensive Störung des Betriebsfriedens sowie Sicherheitsgefährdungen zählen (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1983, 55; OLG Celle NStZ 2000, 465; OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 372; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 389). Es kann aber auch schon eine verhaltensbedingte Eignungsbeeinträchtigung genügen, wenn diese zur Folge hat, dass andere unbeschäftigte Strafgefangene nunmehr für die konkrete Maßnahme als besser geeignet erscheinen (Arloth 2008 Rdn. 4). Wie der Anstaltsleiter letztlich auf das störende Verhalten eines Gefangenen reagiert (Ablösung und/oder Disziplinarmaßnahme), steht in seinem Ermessen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 114). Ein Widerruf der Arbeitszuweisung darf nicht nur bei personenbedingten, sondern auch bei betriebsbedingten Gründen (z. B. Mangel an Arbeitsaufträgen für die Eigenbetriebe, Abbau von Arbeitsplätzen in Unternehmerbetrieben) erfolgen (AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 27). Allerdings kann eine rechtswidrig erfolgte Ablösung eines Strafgefangenen von einem entlohnten Arbeitsplatz einen Anspruch des Betroffenen auf Ersatz des ihm dadurch entstandenen Schadens aus § 839 BGB begründen (OLG Karlsruhe StV 2008, 90). In Bayern existiert mit Art. 44 BayStVollzG eine spezielle Rechtsgrundlage für die Ablösung eines Gefangenen von einer Beschäftigung (oder einem Unterricht). Diese kann erfolgen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung, Gesichtspunkten der Behandlung bzw. wenn der Betreffende den mit der Tätigkeit verbundenen Anforderungen nicht genügt. In Niedersachsen verweist § 100 NJVollzG auf das Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes. 8. Soweit Arbeit, Aus- und Weiterbildung nicht in einem freien Beschäftigungsverhält- 29 nis (§ 39 Abs. 1) stattfinden oder eine Selbstbeschäftigung gestattet wurde (§ 39 Abs. 2), ist das Arbeits- bzw. Aus- und Weiterbildungsverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur (s. vor § 37 Rdn. 3). Zwischen Gefangenem und Arbeits- oder Ausbildungsbetrieb der Vollzugsanstalt werden keine Arbeits- oder Ausbildungsverträge abgeschlossen. Arbeit und Bildung stehen insoweit unter der öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Vollzugsbehörden (BVerfGE 98, 169, 209). Demgemäß haben die Betroffenen keinen Anspruch auf eine tarifliche Bezahlung (OLG Hamm NStZ 1993, 381). Insbesondere finden die Regeln des allge-
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meinen Arbeitsrechts mit den daraus abzuleitenden Ansprüchen des Arbeitnehmers bzw. des Auszubildenden keine Anwendung. Dies hat auch zur Folge, dass für Streitigkeiten zwischen den im öffentlich-rechtlichen Verhältnis in Arbeit, Bildungsmaßnahme oder arbeitstherapeutischer Beschäftigung befindlichen Gefangenen und der Vollzugsbehörde nicht der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet ist (BAG ZfStrVo 1987, 300; BSG ZfStrVo 1992, 134; KG NStZ 1990, 607; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 30; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 § 37 Rdn. 1). Will ein Inhaftierter gerichtlich gegen die Nichtzuweisung einer Tätigkeit i. S. d. § 37 vorgehen oder eine solche bzw. seine Ablösung verhindern, hat er den Rechtsweg gem. §§ 109 ff zu beschreiten.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 39 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG entsprechen weitgehend § 37 Abs. 1 und 2 StVollzG. Neu eingefügt wurden vom bayerischen Gesetzgeber allerdings Abs. 2 Satz 2 und 3, welche der Anstalt vorschreiben: „Sie soll auch im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dazu beitragen, dass die Gefangenen beruflich gefördert, beraten und vermittelt werden. Die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind zu beachten.“ Diese Regelungen entsprechen im Wesentlichen §§ 148 Abs. 1, 149 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 3 der bayerischen Regelung korrespondiert mit Abs. 5 der bundesrechtlichen Vorschrift. Art. 39 Abs. 4 Satz 1 BayStVollzG entspricht § 37 Abs. 3 StVollzG. Neu eingefügt wurden als Sätze 2 und 3: „Die Teilnahme an einer dieser Maßnahmen bedarf der Zustimmung des oder der Gefangenen. Die Zustimmung darf nicht zur Unzeit widerrufen werden.“ Dies entspricht weitgehend § 41 Abs. 2 StVollzG. Abs. 5 der bayerischen Vorschrift bestimmt: „Maßnahmen nach Abs. 1 können in von privaten Unternehmen unterhaltenen Betrieben und sonstigen Einrichtungen durchgeführt werden. Hierbei kann die technische und fachliche Leitung Angehörigen dieser Unternehmen übertragen werden.“ Dies korrespondiert mit § 149 Abs. 3 und 4 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 34 Abs. 1 Nr. 1 HmbStVollzG lautet: „Die Vollzugsbehörden sollen im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dafür sorgen, dass den Gefangenen unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zugewiesen werden kann, und dazu beitragen, dass sie beruflich gefördert, beraten und vermittelt werden . . .“ Die Vorschrift korrespondiert mit § 37 Abs. 2 i. V. m. § 148 Abs. 1. § 34 Abs. 1 Nr. 2 und 3 HmbStVollzG übernehmen die Regelungen aus § 37 Abs. 5 und 3; sie lauten: „Die Vollzugsbehörden sollen die Gefangenen arbeitstherapeutisch beschäftigen, sofern sie zu wirtschaftlich ergiebiger Arbeit nicht fähig sind . . .“ und „Die Vollzugsbehörden sollen geeigneten Gefangenen Gelegenheit zur Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder Teilnahme an anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen geben.“ § 34 Abs. 2 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 37 Abs. 1. Nicht übernommen wurde die Regelung des § 37 Abs. 4. 3. Niedersachsen
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§ 35 Abs. 1 NJVollzG entspricht § 37 Abs. 1 StVollzG.
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§ 38
Unterricht
Abs. 2 der landesrechtlichen Vorschrift regelt: „Die Vollzugsbehörde soll der oder dem Gefangenen wirtschaftlich ergiebige Arbeit oder, wenn dies der Vollzugsbehörde nicht möglich ist, eine angemessene Beschäftigung zuweisen und dabei ihre oder seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen berücksichtigen. Die Vollzugsbehörde kann der oder dem Gefangenen als Tätigkeit nach Satz 1 jährlich bis zu drei Monaten eine dem Anstaltsbetrieb dienende Tätigkeit (Hilfstätigkeit) zuweisen; mit Zustimmung der oder des Gefangenen kann die Hilfstätigkeit auch für einen längeren Zeitraum zugewiesen werden. Soweit die Vollzugsplanung dies vorsieht, soll der oder dem Gefangenen mit ihrer oder seiner Zustimmung statt einer Tätigkeit nach Satz 1 eine geeignete aus- oder weiterbildende Maßnahme zugewiesen werden.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 2 Satz 1 übernimmt im Wesentlichen die Regelung des § 37 Abs. 2 StVollzG. . . . Durch die nunmehr vorgesehene Formulierung wird deutlich, dass die angemessene Beschäftigung lediglich ein Substitut für Arbeit ist, wenn arbeitsfähigen Gefangenen ausnahmsweise keine wirtschaftlich ergiebige Arbeit zugewiesen werden kann.“ Abs. 3 der landesrechtlichen Vorschrift entspricht inhaltlich § 37 Abs. 5 StVollzG. § 35 Abs. 4 und 5 NJVollzG lauten: „(4) Einer oder einem Gefangenen, die oder der die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht hat, darf eine Tätigkeit nach den Absätzen 1 bis 3 nur mit ihrer oder seiner Zustimmung zugewiesen werden. (5) Die zur Zuweisung einer Tätigkeit nach Absatz 2 Satz 2 oder 3 oder nach Absatz 4 erteilte Zustimmung kann widerrufen werden, jedoch nicht zur Unzeit. Durch den wirksamen Widerruf erlischt die Zuweisung.“ Abs. 4 knüpft dabei für die Ausnahme von der Arbeitspflicht flexibel an die Altersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung an. Abs. 5 ist – mit einigen Erweiterungen – an § 41 Abs. 2 Satz 2 StVollzG angelehnt. In der Gesetzesbegründung finden sich dazu keine Ausführungen.
§ 38 Unterricht (1) Für geeignete Gefangene, die den Abschluss der Hauptschule nicht erreicht haben, soll Unterricht in den zum Hauptschulabschluss führenden Fächern oder ein der Sonderschule entsprechender Unterricht vorgesehen werden. Bei der beruflichen Ausbildung ist berufsbildender Unterricht vorzusehen; dies gilt auch für die berufliche Weiterbildung, soweit die Art der Maßnahme es erfordert. (2) Unterricht soll während der Arbeitszeit stattfinden. Schrifttum: s. vor § 37
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Unvollständige Regelung . . . . 2. Angleichungsgrundsatz und vollzugsspezifische Bedingungen . . 3. Sog. anstaltsgebundene Schulen II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Geeignetheit des Gefangenen . . 2. Sonderschulunterricht und Realschulabschluss . . . . . . . . .
1–5 1 2–4 5 6–15 6
Rdn. 3. Berufsschulunterricht . . . . 4. Unterricht und Arbeit (Absatz 2) 5. Organisation des Unterrichts . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. . . . . .
9–10 11 12–15 16–18 16 17 18
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die an § 37 Abs. 3 anknüpfende, die gesetzliche Gleichstellung von Arbeit sowie schulischer und beruflicher Ausbildung, welche insoweit an die Stelle der Arbeit tritt, verdeutlichende Vorschrift (C/MD 2008 Rdn. 2) enthält einige Regelungen zu den schulischen Angeboten für Gefangene, bleibt aber trotz der regelmäßig bestehenden Notwendigkeit schulischer Bildung unvollständig. Sie lässt sowohl Ergänzungen im Realschul- und Gymnasialbereich zu als insbesondere auch durch Berufsfachschulangebote, mit deren erfolgreicher Beendigung teilweise die Abschlüsse allgemein bildender Schularten verbunden sind bzw. werden können (s. hierzu z. B. Schüler 1988). Unerwähnt bleibt außerdem der im Vollzug nicht selten erforderliche Einzel- oder Kleinstgruppenunterricht etwa für Analphabeten oder solche, die ohne gezielte Förderung in einzelnen Lernfeldern für eine allgemein bildende oder berufliche Schulung ungeeignet sind. Dies gilt insbesondere auch für nichtdeutsche Strafgefangene, denen in den Einrichtungen Deutschunterricht angeboten wird (s. zur vollzuglichen Ausländerfrage und der Problematik der Sprachbarriere Laubenthal 1999, 310; Rieder-Kaiser 2004, 42 ff). In § 38 sind nur Schulmaßnahmen während der Arbeitszeit behandelt (zu den Unterrichtsangeboten in der Freizeit einschließlich Sport- und Fernunterricht vgl. § 67, dort Rdn. 17 bis 20).
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2. a) Unterricht im Strafvollzug soll sich zwar entsprechend dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) möglichst eng an entsprechende Unterrichte außerhalb der Anstalten anlehnen, um die Prüfungsabnahme als „Externe“ zu sichern und einen gleichwertigen und in der freien Gesellschaft anerkannten und somit gut verwertbaren Abschluss bzw. Bildungsstand zu gewährleisten. Es handelt sich jedoch nicht bloß um eine nachzuholende Schule. Vielmehr sind vollzugsspezifische Anliegen und Bedingungen ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass die Gefangenen überwiegend nicht mehr im schulpflichtigen Alter stehen (s. zur Vollzugspädagogik Bierschwale 2008, 199 ff). Es muss daher nach den Grundsätzen der Erwachsenenbildung auf der Grundlage der in der Behandlungsuntersuchung (§ 6) erhobenen individuellen Bedürfnisse und der entsprechenden Festlegungen im Vollzugsplan (§ 7) (zur Behandlungsuntersuchung allgemein § 6 Rdn. 1; zum Vollzugsplan § 7 Rdn. 1) sowie unter Berücksichtigung der Arbeitspflicht und -freistellung gem. §§ 41, 42 vorgegangen werden. Letzteres bedeutet, dass mangels sachlicher Notwendigkeit und gesetzlicher Grundlage keine Übertragung der allgemeinen Ferienregelungen an öffentlichen Schulen, die dem besonderen Erholungsbedürfnis von Schulkindern dienen, auf die Ausbildung der Gefangenen im Strafvollzug in Betracht kommt. Die am Unterricht teilnehmenden Gefangenen dürfen in Bezug auf ihre freie Zeit weder schlechter noch besser gestellt werden als Gefangene, die durch Arbeit ihrer Arbeitspflicht nachkommen und im Rahmen des § 42 freizustellen sind. Daraus folgt, dass nach § 38 geförderten Gefangenen in den Unterrichtsferien auch Arbeit in einem Anstaltsbetrieb zugewiesen werden kann. Anderes mag (neben möglichst auf unterrichtsfreie Zeit zu legender Freistellungszeit) nur gelten, wenn Gefangene während der unterrichtsfreien Tage etwa mit der Anfertigung schriftlicher unterrichtsbezogener Arbeiten betraut sind. Ist dies nicht der Fall und kann keine Arbeit zugeteilt werden, gilt der Inhaftierte als zeitweilig nicht beschäftigt, was insoweit seinen Anspruch auf Ausbildungsbeihilfe entfallen lässt.
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b) Die Unterrichtsangebote dürfen nicht isoliert gesehen werden. Sie sind mit den übrigen nach dem Vollzugsplan (§ 7) gebotenen Behandlungsmaßnahmen zu verzahnen, insbesondere mit vorgesehenem sozialen Training, mit dem Wecken von Freizeitinteressen, mit Angeboten zur stärkeren sportlichen Betätigung und einer intensiven Entlassungsvorbereitung einschließlich z. B. Hilfe bei der Schuldenregulierung, Arbeits- und Wohnungssuche (vgl. auch Cornel 1994).
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Unterricht
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c) Schwierigkeiten bestehen darin, dass viele Gefangene, für die die Beteiligung an je- 4 der Art von Unterrichtung i. S. d. § 37 Abs. 3 freiwillig ist (§ 41 Abs. 2), zunächst nicht mehr schulungsbereit sind. Das hängt häufig mit individuellen schulischen Problemen in ihrem bisherigen Leben zusammen. Die Motivationsarbeit ist schwierig (vgl. auch § 2 Rdn. 13; § 4 Rdn. 4, 7); die Organisation von Bildungsmaßnahmen wird dadurch behindert. Hinzu kommt, dass oft keine geschlossene Unterbringung der Gefangenen des jeweiligen Kurses (Klasse) in überschaubaren Wohngruppen möglich ist und manchmal nur notdürftige bzw. unzulängliche Unterrichtsräume mit mangelhafter Ausstattung und fehlendem Lehr- und Lernmaterial zur Verfügung stehen. 3. Der Unterricht kann sowohl durch haupt- oder nebenamtlich bestellte Anstaltslehrer 5 als auch gem. §§ 149 Abs. 3, 154 Abs. 2 durch Dritte erteilt werden (Arloth 2008 Rdn. 2). Umstritten ist, ob in stärkerem Umfang Versuche mit sog. anstaltsgebundenen Schulen in den Vollzugsanstalten gemacht werden sollten, die mit Genehmigung des Kultusministeriums eine selbständige Organisation mit eigenem Zeugnis- und Versetzungsrecht und vom Anstaltsleiter unabhängigem Schulleiter haben. Die Möglichkeit dazu sehen Landesschulgesetze teilweise vor (z. B. § 1 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes i. d. F. v. 3.3.1998, GVBl. S. 137). Eine solche Schule stellt dann allerdings – u. a. auch wegen der völlig anderen Dienstverhältnisse der Lehrkräfte, mit Dienstzeit- und Ferienregelungen entsprechend denen für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen außerhalb des Vollzugs – eine „Anstalt“ in der Vollzugsanstalt dar; jedoch sind einzelne Erfahrungsberichte ermutigend (vgl. Schüler 1988).
II. Erläuterungen 1. Eine Zulassung zum Unterricht als eine Maßnahme i. S. d. § 37 Abs. 1 setzt voraus: 6 Der Gefangene muss für die vorgesehene Unterrichtsmaßnahme geeignet sein (s. zum Begriff der Eignung § 37 Rdn. 18 sowie zur Eignung als unbestimmtem Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum § 37 Rdn. 19). Für diejenigen Gefangenen, die den Abschluss der Hauptschule nicht erreicht haben, sind Unterrichtsangebote auf Sonderschul- oder Hauptschulniveau vorzusehen. Die Vollzugsbehörden sind zu solchen Angeboten verpflichtet. Der Gefangene hat jedoch kein Recht, in bestimmter Weise schulisch gefördert zu werden, mit Ausnahme der verhältnismäßig wenigen Gefangenen, die ihrer Schulpflicht nach dem jeweiligen Landesschulgesetz noch nicht genügt haben (z. B. wenn bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres während einer Berufsausbildung Berufsschulpflicht besteht). Neben der Eignung bedarf es sowohl bei schulischem Unterricht (Abs. 1 Satz 1) als auch beim Begleitunterricht zur beruflichen Aus- und Weiterbildung als Maßnahmen i. S. d. § 37 Abs. 3 der Zustimmung des Gefangenen (§ 41 Abs. 2). 2. a) Auch der Sonderschulunterricht sollte den Abschluss dieser Schulform anstre- 7 ben, selbst wenn er in der Praxis teilweise als Analphabetenkurs oder Stützunterricht für Lese- und Rechtschreibschwache durchgeführt werden muss (zum Analphabetismus im Justizvollzug s. Vogel 1992). Zwar könnte die für Haupt- und Sonderschule unterschiedliche Gesetzesformulierung in Abs. 1 Satz 1 den Schluss nahe legen, ein Sonderschulabschluss sei nicht erwünscht. Das trifft jedoch schon wegen des damit verbundenen Erfolgserlebnisses, der im Einzelfall möglichen Steigerung des Selbstwertgefühls des Gefangenen, wegen der erzielten Leistungen und wegen der Bedeutung des Sonderschulabschlusses außerhalb der Anstalt nicht zu. b) In einigen Vollzugsanstalten wird Unterricht in den zum Realschulabschluss führen- 8 den Fächern angeboten. Kurse zur Erlangung der Fachoberschul- bzw. Fachhochschulreife Klaus Laubenthal
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sind Folge des Individualisierungsgebots (§ 3 Abs. 3, § 6 und § 7), dem § 38 nicht entgegensteht. Die Vorschrift enthält nur die Regelung der obligatorischen schulischen Grundversorgung der Gefangenen, schließt aber weitere, darüber hinausgehende Schulangebote nicht aus. So hat sich in der Praxis z. B. auch schon Unterricht in den zum Abschluss der zweijährigen Handelsschule führenden Fächern bewährt (= Berufsfachschule Wirtschaft). Entsprechendes gilt für Angebote zur Erlangung der allgemeinen Hochschulreife (etwa durch externe Kollegs, den Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges zur Abiturprüfung; zur Frage der diesbezüglichen Kostenübernahme s. § 37 Rdn. 23 a. E.).
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3. a) Der bei der beruflichen Aus- oder Weiterbildung vorzusehende berufsbildende Unterricht wird vielfach durch nebenamtliche/nebenberufliche Lehrkräfte durchgeführt, die im Hauptamt an den örtlichen Berufsschulen der Gebietskörperschaften tätig sind. Dies hat erhebliche Nachteile, da der Berufsschulunterricht oft in Einzelstunden am späten Nachmittag über mehrere Tage der Woche verteilt und nicht in einem Block an einem Berufsschultag erteilt wird. Das entspricht nicht der Situation außerhalb der Anstalt. Auch um dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) zu genügen, muss daher erreicht werden, dass die örtlichen Berufsschulen in der JVA ihres Bezirks vermehrt Außenstellen einrichten (Filialsystem), in denen Berufsschullehrer im Rahmen ihrer Pflichtstunden im Hauptamt unterrichten. Ihre Eignung und Neigung sind entsprechend zu berücksichtigen und durch sozialpädagogische Weiterbildungsmaßnahmen zu unterstützen. Hauptamtlich ausschließlich bei einer JVA tätige Berufsschullehrkräfte sind aus Gründen der notwendigen Berufsfeldvielfalt, wegen der Vertretungsmöglichkeiten durch Kollegen/Kolleginnen der entsprechenden Fachrichtungen, wegen der notwendigen pädagogischen und fachlichen Innovationen und wegen der Grenzen der Belastbarkeit durch ausschließliche Unterrichtserteilung in einer JVA in der Praxis nicht anzustreben.
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b) Das zu Rdn. 9 Dargelegte gilt gem. Abs. 1 Satz 2, 2. HS. auch im Falle einer beruflichen Weiterbildung, soweit die Art der Fortbildungsmaßnahme dies erfordert. Entscheidende Kriterien sind dabei die zugrunde liegenden Lehrpläne und das angestrebte Fortbildungsziel.
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4. Die Bestimmung in Abs. 2, dass der Unterricht in der Arbeitszeit stattfinden soll und insoweit an die Stelle der Arbeit tritt, zu der der Gefangene nach § 41 Abs. 1 verpflichtet ist, verdeutlicht die grundsätzliche Gleichstellung von Unterricht und Arbeit (s. schon Rdn. 1), wobei die endgültige Rangfolge sich im Einzelfall nach den Festlegungen im Vollzugsplan (§ 7) richtet (vgl. Nr. 28.4 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006). Es wird im Allgemeinen unterschieden zwischen Vollzeitunterricht, d. h. Unterricht während der gesamten täglichen Arbeitszeit (z. B. in Lehrgängen zur Erlangung des Abschlusses der Sonder-, Haupt- und Realschule), aber auch Unterricht ohne Abschlussziel (wie z. B. Sonderschul- und Analphabetenunterricht) und Teilzeitunterricht mit und ohne Abschluss nur während eines Teils der Arbeitszeit (z. B. vormittags Unterricht, nachmittags Arbeit). Zum nicht schulabschlussbezogenen Unterricht vgl. § 67 Rdn. 17.
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5. a) Die Organisation des Unterrichts ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. Während im Jugendstrafvollzug (s. dazu auch Petran/Weber 2008, 210 ff) die schulische Bildung überwiegend durch Lehrer im Justizvollzugsdienst durchgeführt wird, die in der Anstaltsschule Klassen zum Sonderschul- bzw. Hauptschulabschluss führen und Gefangene auf die Prüfung für den Realschulabschluss vorbereiten sowie Förder- und Analphabetenunterricht erteilen, wird der Unterricht im Erwachsenenvollzug häufig mit Hilfe sog. Maßnahmeträger durchgeführt. Das sind Volkshochschulen, ländliche Erwachsenenbildung, örtliche Bildungswerke und andere Erwachsenenbildungsinstitutionen. Hier liegt
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das Schwergewicht bei Lehrgängen zur Erlangung des nachträglichen Abschlusses einer Sonder-, Haupt- oder Realschule. Daneben wird jedoch auch im Erwachsenenvollzug Förder-, Analphabeten-, Fremdsprachen- und Einzelfachunterricht erteilt. Hinzuweisen ist ferner auf die in vielen Einrichtungen ständig laufenden Kurse „Deutsch für Ausländer“. b) Die Organisation von Unterrichtsangeboten verlangt im Allgemeinen die Prüfung 13 folgender Kriterien: erforderliche Anzahl geeigneter Mitarbeiter, Vollzugssituation in der JVA, Unterbringung, Maßnahmeträger, Lehr- und Lernmaterial, Auswahl der Teilnehmer, Terminierung und Dauer. Die Lehrgangsteilnehmer sollten möglichst in geschlossenen Wohngruppen untergebracht sein. Soweit dies nicht verwirklicht werden kann, ist ihre zusammenfassende Unterbringung anzustreben. Dabei ist eine intensive vollzugliche Behandlung und Betreuung sicherzustellen. c) Um zu verhindern, dass Gefangene bei zeitlich festgelegten Bildungsmaßnahmen 14 Wartezeiten ungenutzt verstreichen lassen müssen und um dem daraus nicht selten erwachsenden Verzicht auf ein solches Angebot zu begegnen (vgl. zur Problematik Matzke 1982, 41 ff), sollte die Aufnahme eines Gefangenen auch in laufende Lehrgänge erfolgen, wenn dies der Bildungsstand des Gefangenen zulässt. Im Einzelfall darf auch ein geeigneter Gefangener gem. § 8 Abs. 1 Nr. 1 in eine andere JVA mit einem entsprechenden Bildungsangebot verlegt werden, wenn dessen zeitlicher Ablauf günstiger erscheint. Ferner kann durch eine zeitlich versetzte Abschlussprüfung und durch die Teilnahme an externen Abschlussprüfungen der Maßnahmeträger in deren Bereich ein vollzugszeitangepassterer Lehrgangsabschluss erreicht werden. d) Die in einigen Bundesländern als besondere pädagogische Zentren (z. B. JVA Müns- 15 ter) oder Schwerpunktanstalten (z. B. JVA Geldern) eingerichteten Institutionen sind in der Vollzugspraxis nicht unbestritten (vgl. § 37 Rdn. 24). Im Gegensatz zu der aus praktischen Gründen gebotenen weitgehenden Konzentration der beruflichen Bildung sollte jede größere Anstalt ihren Strafgefangenen mit einer gewissen Mindest-Vollzugsdauer schulische Bildungsmaßnahmen ermöglichen. Zu Unterrichtsangeboten erforderliche Verlegungen in eine andere JVA können dagegen die Motivation eher beeinträchtigen.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 40 BayStVollzG entspricht weitestgehend § 38 StVollzG. 2. Hamburg
§ 35 Abs. 1 und 2 HmbStVollzG lauten: „(1) Für geeignete Gefangene soll Unterricht in 17 den zu einem Schulabschluss führenden Fächern einschließlich des Faches Sport ermöglicht werden. (2) Für die Teilnahme an weiteren schulischen Maßnahmen, insbesondere für die Teilnahme an Alphabetisierungskursen oder an Fördermaßnahmen für Ausländer, trifft die Anstaltsleitung mit Rücksicht auf die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt besondere Regelungen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 1 greift den Regelungsgedanken des § 38 Absatz 1 auf, erweitert ihn aber dergestalt, dass Unterricht in Fächern ermöglicht werden soll, die allgemein zu einem Schulabschluss führen. Hierzu gehört auch ein der Förderschule entsprechender Unterricht. Aus der Zielrichtung der Regelung ergibt sich, dass für die Angebote die Bildungspläne für öffentliche Schulen heranzuziehen sind. Absatz 2 ermächtigt die Anstaltsleitung ausdrücklich, für die
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Teilnahme an weiteren schulischen Maßnahmen, insbesondere für die Teilnahme an Alphabetisierungskursen oder an Fördermaßnahmen für Ausländer, mit Rücksicht auf die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt besondere Regelungen zu treffen.“ § 35 Abs. 3 und 4 entsprechen inhaltlich § 38 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 StVollzG. 3. Niedersachsen
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Laut Gesetzesbegründung entspricht § 35 Abs. 2 Satz 3 NJVollzG inhaltlich der bundesrechtlichen Regelung des § 38 StVollzG.
§ 39 Freies Beschäftigungsverhältnis, Selbstbeschäftigung (1) Dem Gefangenen soll gestattet werden, einer Arbeit, Berufsausbildung oder beruflichen Weiterbildung auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt nachzugehen, wenn dies im Rahmen des Vollzugsplanes dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern und nicht überwiegende Gründe des Vollzuges entgegenstehen. § 11 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 14 bleiben unberührt. (2) Dem Gefangenen kann gestattet werden, sich selbst zu beschäftigen. (3) Die Vollzugsbehörde kann verlangen, dass ihr das Entgelt zur Gutschrift für den Gefangenen überwiesen wird. VV 1 Entfällt. 2 (1) Gefangene, denen das Eingehen eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt gestattet ist, sollen von Gefangenen des geschlossenen Vollzuges getrennt gehalten werden. (2) Zwischen dem Gefangenen und seinem Arbeitgeber oder Ausbildenden ist ein schriftlicher Vertrag (Arbeitsvertrag, Berufsausbildungsvertrag oder ähnliches) abzuschließen. In dem Vertrag ist insbesondere festzulegen, dass das Beschäftigungsverhältnis ohne Kündigung endet, wenn die dem Gefangenen nach § 39 Abs. 1 StVollzG erteilte Erlaubnis endet, und dass die Bezüge aus dem Beschäftigungsverhältnis während des Freiheitsentzuges mit befreiender Wirkung nur auf das mit der Anstalt vereinbarte Konto gezahlt werden können. Die Anstalt stellt sicher, dass mit Zuwendungen aufgrund öffentlich-rechtlicher Bestimmungen entsprechend verfahren wird. (3) Die Bezüge des Gefangenen werden in nachstehender Rangfolge für folgende Zwecke verwendet: a) Auslagen des Gefangenen für Fahrtkosten, Arbeitskleidung, Verpflegung außerhalb der Anstalt und andere im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung notwendige Aufwendungen, b) Hausgeld und Überbrückungsgeld, c) Erfüllung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht des Gefangenen auf dessen Antrag, d) Haftkostenbeitrag, e) Erfüllung sonstiger Verbindlichkeiten des Gefangenen auf dessen Antrag, f ) Eigengeld des Gefangenen. (4) Der Gefangene ist anzuhalten, seine Unterhaltspflichten zu erfüllen, den durch die Straftat verursachten Schaden wieder gutzumachen und seine sonstigen Verbindlichkeiten zu erfüllen. Ist der Anstalt
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bekannt, dass Angehörige oder andere Personen, denen der Gefangene unterhaltspflichtig ist, Sozialhilfe erhalten, wird der Träger der Sozialhilfe von dem Beschäftigungsverhältnis und der Höhe der Bezüge unterrichtet. Auf die Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung soll der Gefangene hingewiesen werden. 3 (1) Selbstbeschäftigung soll regelmäßig nur gestattet werden, wenn sie aus wichtigem Grunde geboten erscheint und im Rahmen des Vollzugsplanes insbesondere dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. Selbstbeschäftigung darf nicht gestattet werden, wenn überwiegende Gründe des Vollzuges entgegenstehen. (2) Selbstbeschäftigung wird in der Regel nur gestattet, wenn der Gefangene sich die nötigen Gegenstände aus eigenen Mitteln beschaffen kann; bei Selbstbeschäftigung innerhalb der Anstalt vermittelt die Anstalt die Beschaffung der Gegenstände. (3) Für die Rechtsbeziehungen zwischen dem Gefangenen und einem Dritten sowie für die Bezüge aus der Selbstbeschäftigung gilt Nummer 2 Abs. 2 bis 4 entsprechend. § 50 Abs. 3 StVollzG in der Fassung des § 199 Abs. 2 Nr. 3 StVollzG bleibt unberührt. (4) Der Gefangene ist anzuhalten, seiner Steuerpflicht nachzukommen. Erfüllt der Gefangene seine Anzeigepflicht nicht, so ist die Erlaubnis zur Selbstbeschäftigung zu widerrufen. Schrifttum: s. vor § 37
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–19 1. Freies Beschäftigungsverhältnis (Absatz 1) . . . . . . . . . . . . 2–12 a) Unmittelbares Vertragsverhältnis . . . . . . . . . . . . 2 b) Inhalt des Beschäftigungsverhältnisses . . . . . . . . . 3 c) Ausübung außerhalb der Anstalt; Abgrenzung zum unechten Freigang . . . . . . 4–5 d) Ermessen der Vollzugsbehörde 6–7 e) Berücksichtigung der § 11 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 14 . . . 8–12 2. Selbstbeschäftigung (Absatz 2) . 13–18
a) Inhalt der Selbstbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . 13 b) Maßstäbe für die Ermessensentscheidung . . . . . . . . . 14–16 c) Beispiele für Selbstbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . 17 d) Rücknahme der Genehmigung zur Selbstbeschäftigung . . . 18 3. Behandlung des Arbeitslohnes (Absatz 3) . . . . . . . . . . . . 19 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 20–22 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 21 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 22
I. Allgemeine Hinweise Die in ihrem Abs. 1 gem. § 198 Abs. 2 erst am 1. Januar 1980 in Kraft getretene und 1 durch Art. 40 Nr. 5 Arbeitsförderungs-Reformgesetz vom 24.3.1997 (BGBl. I, 594, 710) in Abs. 1 Satz 1 redaktionell geänderte Vorschrift hat vor allem im Hinblick auf die noch immer unzulänglichen Bezüge nach dem StVollzG (s. §§ 43, 200) große finanzielle Bedeutung für Gefangene. Denn sie ermöglicht, im Wege eines freien Beschäftigungsverhältnisses (Rdn. 2 bis 12) oder der Selbstbeschäftigung (Rdn. 13 bis 18) hinreichendes Arbeitsentgelt zu erzielen, das im Einzelfall gestatten mag, neben der Erfüllung der Unterhaltspflichten die nicht selten hohen Schulden zu verringern oder gar abzutragen (vgl. auch Preusker 1988,
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94 f; Rotthaus NStZ 1987, 1, 4). Darüber hinaus haben im freien Beschäftigungsverhältnis (oder in der Selbstbeschäftigung) befindliche Gefangene größere Chancen, zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Haft über einen Arbeitsplatz zu verfügen oder einen solchen zu finden (s. etwa Matzke 1982, 123; vgl. auch BVerfGE 98, 169, 210). Letzterer Befund gewinnt umso größere Bedeutung, als nach der Rspr. des BAG (ZfStrVo 1997, 50) das Arbeitsverhältnis eines verurteilten Straftäters durch den Arbeitgeber fristlos gekündigt werden kann, wenn die Arbeitsleistung für nicht unerhebliche Zeit unmöglich ist, weil die dem Arbeitgeber grundsätzlich (zu Ausnahmen s. BAG aaO) fürsorgehalber im Rahmen des Zumutbaren obliegende Mitwirkung an der Erlangung des Freigängerstatus scheitert.
II. Erläuterungen 2
1. a) Das freie Beschäftigungsverhältnis in Abs. 1 setzt ein unmittelbares Vertragsverhältnis zwischen dem Gefangenen und dem Dritten außerhalb des Vollzuges, z. B. Ausbilder oder Arbeitgeber, voraus. Solche Beziehungen können zwar von den Vollzugsbehörden vermittelt werden; diese sind aber nicht Vertragspartner. VV Nr. 2 Abs. 2 legt nähere Einzelheiten zur Vertragsausgestaltung fest: es ist ein schriftlicher, privatrechtlicher (vgl. LAG Baden-Württemberg NStZ 1989, 141; LAG Hamm NStZ 1991, 445, jeweils m. w. N.) Vertrag (Arbeitsvertrag, Berufsausbildungsvertrag) abzuschließen. Die gegenseitigen Kündigungsmöglichkeiten – auch die fristlosen – sind vertraglich besonders zu regeln. Die Bezüge des Gefangenen und die sonstigen – ggf. auch solche aufgrund öffentlich-rechtlicher Bestimmungen – Zuwendungen seines Ausbilders/Arbeitgebers können mit befreiender Wirkung nur auf ein mit der Anstalt vereinbartes Konto gezahlt werden. Die Bezüge werden für bestimmte Zwecke verwendet, die in dem Katalog von VV Nr. 2 Abs. 3 zusammengefasst sind (vgl. auch Rdn. 19).
3
b) Als Inhalt des freien Beschäftigungsverhältnisses können ein Arbeitsverhältnis oder eine Berufsausbildung bzw. berufliche Weiterbildung vereinbart werden (zum [Fach-]Hochschulstudium als freies Beschäftigungsverhältnis OLG Celle ZfStrVo 1986, 183; LG Frankfurt StV 1987, 301; C/MD 2008 Rdn. 2; beim durch Immatrikulation begründeten Studium, das nicht gem. § 37 Abs. 3 zugewiesen wird und für das keine Ausbildungsbeihilfe nach § 44 gezahlt wird, handelt es sich um eine Selbstbeschäftigung i. S. d. Abs. 2, da diesem keine privatrechtliche Vereinbarung zugrunde liegt; als eine nur nach § 37 Abs. 3 zu beurteilende Aus- bzw. Weiterbildungsmaßnahme erachten das Hochschulstudium dagegen KG NStZ 2003, 593; Arloth 2008 Rdn. 4; s. auch Rdn. 17). Maßgeblich für die Zuordnung ist, dass das Beschäftigungsverhältnis durch einen privatrechtlichen Vertrag oder einen vertragsähnlichen Akt mit den üblichen Rechten und Pflichten begründet wird. Eine abhängige Tätigkeit im Sinne einer Weisungsgebundenheit und/oder einer unmittelbaren wirtschaftlichen Abhängigkeit (so OLG Hamm NStZ 1986, 428) muss ebenso wenig vorliegen wie eine Bezahlung der Tätigkeit (z. B. im Falle eines ehrenamtlichen Pflegerpraktikums s. LG Göttingen NStZ 1991, 408). Hingegen dürfen nicht berufsbezogene allgemein bildende Maßnahmen (z. B. Hobbymalkurs) nicht im Wege eines freien Beschäftigungsverhältnisses durchgeführt werden, sondern stellen solche zur Freizeitbeschäftigung i. S. d. § 67 dar. – Im freien Beschäftigungsverhältnis kann der Gefangene den außerhalb der Anstalt in der freien Wirtschaft ortsüblichen Tariflohn (vgl. hierzu OLG Hamm ZfStrVo 1988, 110) nebst Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (LAG Baden-Württemberg NStZ 1989, 141), die Ausbildungsvergütung bzw. -beihilfe oder – bei Vorliegen der Voraussetzungen – Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder Unterhaltsgeld nach § 153 SGB III erhalten. Ist der Gefangene krankenversichert, hat er Anspruch auf Leistungen durch die Krankenkasse.
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Gem. § 62a ruhen während der Dauer der durch das freie Beschäftigungsverhältnis begründeten Krankenversicherung die Ansprüche auf Gesundheitsfürsorge nach §§ 57 bis 59. c) Das freie Beschäftigungsverhältnis ist nur möglich, wenn die Arbeit, Berufsaus- 4 bildung, berufliche Weiterbildung oder Umschulung außerhalb der Anstalt stattfinden (BGHSt 37, 85, 87). Abgesehen davon, dass mit der Zulassung eines freien Beschäftigungsverhältnisses innerhalb der Anstalt der Grundsatz der Arbeitszuweisung (§ 37 Abs. 2), die gesetzliche Arbeitspflicht (§ 41) und die Arbeitsentgeltregelung (§ 43) berührt würden und zumindest teilweise unterlaufen werden könnten, müssten auch unter den Gefangenen eines Betriebes Spannungen und Unruhen befürchtet werden, wenn ein Teil von ihnen als auf der Grundlage des öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses Tätige das geringe Arbeitsentgelt des § 43 erhalten würden und andere auf privatrechtlicher Basis den außerhalb der Anstalt ortsüblichen Tariflohn (s. auch BT-Drucks. 7/918, 67). Ein solches Zweiklassensystem wäre für die Gefangenen unerträglich. Innerhalb der Anstalt bleibt daher die Ausübung einer Tätigkeit im freien Beschäftigungsverhältnis unzulässig. Eine analoge Anwendung des § 39 Abs. 1 auf anstaltsinterne Beschäftigung scheidet aus (Laubenthal 2008 Rdn. 415). Dagegen kann – in engen Grenzen – dem Gefangenen eine von der Vollzugsbehörde bei 5 einem freien Unternehmer vermittelte und organisierte Arbeit außerhalb der Anstalt zugewiesen werden, die der Gefangene im sog. unechten Freigang – auf der Grundlage des öffentlich-rechtlichen Verhältnisses – ohne Aufsicht eines Vollzugsbeamten ausübt. In diesem Fall bestehen vertragliche Beziehungen nur zwischen dem privaten Unternehmer und der Vollzugsbehörde. Der Unternehmer zahlt einen vereinbarten Betrag an die Anstalt. Diese stellt die Arbeitskraft des Gefangenen zur Verfügung und entlohnt den Gefangenen gem. § 43. Die Gestattung dieses unechten Freigangs bietet im Hinblick auf den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 zwar Vorteile gegenüber der Pflichtarbeit innerhalb der Anstalt (z. B. besteht die Möglichkeit einer Übernahme nach der Entlassung durch den jeweiligen Unternehmer). Die Betroffenen bleiben aber in arbeitsrechtlicher Hinsicht weitgehend rechtlos gestellt (so können Betriebe etwa zugewiesene Inhaftierte nach Gutdünken austauschen, s. Kamann 1999, 349). Sog. unechter Freigang kommt daher mit Zustimmung des Betroffenen nur in Betracht, wenn trotz Unterstützung durch die Anstalt einem zum (echten) Freigang geeigneten Gefangenen keine Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis geboten werden kann. Darüber hinaus muss auch bei der Tätigkeit als unechter Freigänger in einem privaten Unternehmen die Ausgestaltung des Vertrages zwischen Anstalt und Unternehmer so präzise sein, dass ein Mindestmaß an organisierter öffentlich-rechtlicher Verantwortung für den Inhaftierten gewährleistet bleibt. Von Verfassungs wegen ist die Vollzugsbehörde jedoch gehalten, die Möglichkeit eines freien Beschäftigungsverhältnisses insbesondere im Hinblick auf dessen besondere Resozialisierungschancen zu prüfen (BVerfGE 98, 169, 210 f). d) Die Vollzugsbehörde soll dem Gefangenen das Eingehen eines freien Beschäfti- 6 gungsverhältnisses gestatten, wenn es dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. Hierin liegt eine Verpflichtung des Anstaltsleiters zur vorrangigen Prüfung, wenn eine Tätigkeit i. S. d. Abs. 1 in Einklang mit dem Vollzugsplan steht und die weiteren Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 2 gegeben sind. Damit ist der Ermessensspielraum durch das Resozialisierungsgebot erheblich eingeschränkt (BVerfGE 98, 169, 210; OLG Hamburg NStZ 2000, 615; OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 118), wobei hiermit jedoch ein Recht des Gefangenen auf Zulassung zum freien Beschäftigungsverhältnis nicht korrespondiert (vgl. OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 117; LG Göttingen StV 1990, 359; Laubenthal 2008, Rdn. 417). Wohl aber steht ihm ein Recht
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auf Antragsprüfung und fehlerfreie Ermessensausübung im Rahmen der Entscheidungsfindung zu. Ein Ermessensfehler kann insoweit im Hinblick auf das entgangene Gehalt zu einer Schadensersatzpflicht der Vollzugsbehörde gem. § 839 BGB, Art. 34 GG führen (OLG Hamm StV 1989, 543). 7 Voraussetzung für ein freies Beschäftigungsverhältnis ist ferner, dass ihm nicht überwiegende Gründe des Vollzugs entgegenstehen (Abs. 1 Satz 1 a. E.). Dabei muss es sich um gewichtige Vollzugsbelange handeln (BVerfGE 98, 169, 210). In den Ausschussberatungen (Prot. S. 2134) wurde das Interesse an einer langfristigen Sicherung der Zweigbetriebe freier Unternehmer in den Anstalten genannt. Rein fiskalische Erwägungen im Zusammenhang mit dem Aufrechterhalten der Produktionseigenbetriebe der Vollzugsarbeitsverwaltung sollten jedoch bei der Entscheidung der Anstaltsleitung keine Rolle spielen (Arloth 2008 Rdn. 5; K/S-Schöch § 7 Rdn. 130). Zu berücksichtigen ist allerdings, ob die organisatorischen, baulichen und personellen Möglichkeiten der Anstalt ausreichen, um die Gefangenen mit freien Beschäftigungsverhältnissen möglichst getrennt von anderen Gefangenen unterzubringen, zu versorgen und zu betreuen (vgl. VV Nr. 2 Abs. 1). Die Anstalten sollen durch das Zulassen freier Beschäftigungsverhältnisse nicht in zusätzliche, größere und schwer zu bewältigende Schwierigkeiten geraten, z. B. dadurch, dass Vollzugsbediensteten unlösbare Kontrollpflichten – die sich am jeweiligen Berufsbild der geplanten Tätigkeit zu orientieren haben (LG Göttingen StV 1990, 359) – auferlegt werden (welcher Umstand insbesondere bei Arbeit im Betrieb eines Angehörigen zu prüfen ist; vgl. LG Wuppertal NStZ 1988, 426) oder dass aus Sicherheitsgründen freie Beschäftigungsverhältnisse bei bestimmten Gefangenen nur im Wege der Außenbeschäftigung gestattet werden könnten, es jedoch an dem dafür (§ 11 Abs. 1 Nr. 1) erforderlichen Aufsichtspersonal mangelt. Die Verweigerung eines bestimmten Vertragsverhältnisses schließt es allerdings nicht aus, dass dem Betroffenen die Eingehung eines anderen freien Beschäftigungsverhältnisses gestattet wird, gegen welches die ursprünglich erhobenen Bedenken nicht bestehen (OLG Frankfurt ZfStrVo 2000, 117).
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e) Bedingung für die Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses ist zudem die Zulassung des Gefangenen gem. Abs. 1 Satz 2 entweder zu einer Außenbeschäftigung (§ 11 Rdn. 7) oder zum Freigang (§ 11 Rdn. 9). Denn eine Tätigkeit i. S. d. Abs. 1 kann nach dem Wortlaut der Norm nur außerhalb der Anstalt ausgeübt werden und eine regelmäßige externe Beschäftigung ist nur in Form dieser zwei Vollzugslockerungen möglich (vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 526 f). Die für die jeweilige Vollzugslockerung notwendigen Voraussetzungen müssen gesondert geprüft werden und vorliegen (§ 11 Abs. 2). Abs. 1 Satz 1 verdrängt § 11 Abs. 1 Nr. 1 nicht und ist damit nicht die alleinige Rechtsgrundlage für die Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses (BVerfGE 98, 169, 210; Lohmann 2002, 62 f). Aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass die Bestimmungen über die beiden Vollzugslockerungen in § 11 Abs. 1 Nr. 1 unberührt bleiben. Diese Formulierung steht in Gegensatz zu § 13 Abs. 1 Satz 2, § 15 Abs. 3 Satz 2 und § 15 Abs. 4 Satz 2, nach denen § 11 Abs. 2 jeweils nur entsprechend gilt. Bei § 39 sind daher § 11 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 selbständig zu prüfen. 9 Gemäß dem Tatbestand des § 11 Abs. 2 können die Lockerungen Außenbeschäftigung (externe Tätigkeit unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten) oder Freigang (ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten) nur mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden. Zudem darf nicht zu befürchten sein, dass der Inhaftierte sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entzieht oder die Lockerungen des Vollzuges missbraucht. Es bedarf insoweit einer Prognosentscheidung der Anstaltsleitung (zu den Prognosemethoden s. Streng 2002 Rdn. 619 ff). Zwar lässt der Gesetzgeber ein gewisses Risiko (BVerfG NStZ 1998, 403) des Lockerungsfehlschlags zu. Jedoch darf das einzugehende Risiko nicht höher sein als das für
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eine Strafrestaussetzung zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB Relevante (K/SSchöch § 7 Rdn. 48; Laubenthal 2008 Rdn. 535). Danach muss das Risiko – unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses – verantwortbar bleiben, ob der Gefangene neue Straftaten begeht oder etwa unberechtigt dem Arbeits- oder Ausbildungsplatz mehrfach fernbleibt. Kann eine zureichende Prognose nicht gestellt werden, kommt die Gewährung einer Lockerung nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 nicht in Betracht und damit auch keine Genehmigung eines freien Beschäftigungsverhältnisses. Allerdings ist auch bei der Prüfung der Klausel des § 11 Abs. 2 im Zusammenhang mit der Frage der Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses zu beachten, dass diese im Hinblick auf das Vollzugsziel des § 2 Satz 1 und auf die Grundprinzipien des § 3 interpretiert werden muss. Denn die Gewährung der Vollzugslockerungen dient letztlich einer Vorbereitung des Inhaftierten auf seine Entlassung. Das Bestehen der mit einer Rückkehr in die Freiheit verbundenen Belastungen und Schwierigkeiten soll gerade erprobt werden (s. dazu Laubenthal 2008 Rdn. 534). Abs. 1 Satz 2 verweist ferner in vollem Umfang auf § 14. Danach darf der Anstaltsleiter 10 dem Gefangenen für die Außenbeschäftigung oder den Freigang Weisungen erteilen (§ 14 Abs. 1), damit die als günstig bewertete Prognose einer fehlenden Flucht- und Missbrauchsgefahr i. S. d. § 11 Abs. 2 nicht beeinträchtigt wird. So kann dem Gefangenen etwa der Besuch eines bestimmten Lokals, der Genuss von Alkohol, der Kontakt mit einzelnen Personen untersagt oder der Verbleib an der Arbeitsstelle bis zum Abholen, der Kontakt mit einer Bezugsperson am Arbeitsplatz, die unverzügliche Rückkehr nach Arbeitsschluss in die JVA oder die Vorlage von Leistungsnachweisen auferlegt werden (zur Bedeutung der Möglichkeit, ein Kfz zu benutzen, für die berufliche Tätigkeit eines Freigängers und zu der denkbaren Weisung im Einzelfall, während der Vollzugslockerung kein Kfz zu führen, s. OLG Frankfurt NStZ 1991, 407). Unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 kann ein Widerruf (Satz 1) oder eine Rück- 11 nahme (Satz 2) von Außenbeschäftigung bzw. Freigang erfolgen, etwa wenn ein Gefangener die Zulassung zum Freigang und die Gestattung des freien Beschäftigungsverhältnisses mit gefälschten Papieren erwirkt und somit seine Unzuverlässigkeit dargetan hat (KG 17.9.1992 – 5 Ws 240/92 Vollz). Widerruf bzw. Rücknahme führen dazu, dass zugleich die Grundlage für die weitere Gestattung des freien Beschäftigungsverhältnisses erlischt. Das Entfallen der Möglichkeit zur Ausübung der Tätigkeit aus vom Freigänger nicht zu vertretenden Gründen (z. B. Kündigung durch Arbeitgeber, Betriebsschließung) bewirkt im geschlossenen Vollzug zugleich eine Beendigung des Freigangs (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 18; C/MD 2008 § 11 Rdn. 12; Laubenthal 2008 Rdn. 527; a. A. AK-Lesting 2006 § 11 Rdn. 25). Denn in der geschlossenen Anstalt gibt es keinen abstrakten Freigängerstatus oder eine generelle Freigängereignung an sich (a. A. OLG Hamm NStZ 1990, 607; KG NStZ 1993, 100). Eine Zulassung zum Freigang kann dagegen trotz extern verursachtem Beschäftigungsende im offenen Vollzug aufrechterhalten werden, um dem Betroffenen die Suche nach einer anderen Tätigkeit zu erleichtern. In Bayern besteht mit Art. 44 BayStVollzG eine spezielle Rechtsgrundlage für die Ablösung u. a. von der Tätigkeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis. Dies kann aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt bzw. von Behandlungsnotwendigkeiten erfolgen, ebenso wenn sich herausstellt, dass der Betroffene den Anforderungen nicht genügt. Gem. VV Nr. 1 zu § 11 können Vollzugslockerungen nur zum Aufenthalt innerhalb des 12 Geltungsbereichs des StVollzG gewährt werden. Sinn dieser Regelung ist, dass der Gefangene auch während der Lockerung weiterhin den besonderen, in der Freiheitsstrafe begründeten Begrenzungen unterliegt, die Vollzugsbehörde den außerhalb der Anstalt Befindlichen jederzeit überwachen kann und ein hoheitlicher Zugriff auf den Betroffenen besteht, der etwa im Fall eines Widerrufs von Bedeutung ist. Demgemäß wird davon ausgegangen,
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dass ein freies Beschäftigungsverhältnis nur im Inland ausgeübt werden kann (OLG Celle ZfStrVo 2002, 244; Arloth 2008 Rdn. 5; krit. Szczekalla StV 2002, 324 ff). Vor dem Hintergrund, dass die aktuelle oder ehemalige Tätigkeit im Rahmen eines freien Beschäftigungsverhältnisses durch die europäischen Grundfreiheiten geschützt wird (das gilt jedoch nicht für das anstaltsvermittelte Beschäftigungsverhältnis; vgl. Stiebig 2000; ders. 2003, 87 ff), erscheint es gleichwohl im Einzelfall durchaus vertretbar, die Gestattung vollzuglicher Arbeitstätigkeit auf das Ausland zu erweitern.
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2. a) Einem Gefangenen kann nach Abs. 2 gestattet werden, sich selbst zu beschäftigen. Diese Selbstbeschäftigung ist vor allem freiberufliche Tätigkeit (Rdn. 15) während der Arbeitszeit, bei der der Gefangene weder eine nach § 37 zugewiesene Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung oder Aus- und Weiterbildung wahrnimmt noch in einem freien Beschäftigungsverhältnis nach Abs. 1 steht. Die Selbstbeschäftigung wird innerhalb der Anstalt oder – bei Vorliegen der erforderlichen Lockerungsvoraussetzungen i. S. d. § 11 – außerhalb der Einrichtung ausgeübt (BGH NStZ 1990, 452; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 29; C/MD 2008 Rdn. 6; K/S-Schöch § 7 Rdn. 133; Laubenthal 2008 Rdn. 420). Dabei muss es sich nicht notwendigerweise um eine Tätigkeit zur Erzielung eines Erwerbs handeln. Wie das freie Beschäftigungsverhältnis unterfällt die Selbstbeschäftigung dem Anwendungsbereich der europäischen Grundfreiheiten (vgl. Stiebig 2000; ders. 2003, 87 ff), so dass sich ihre Ausübung auch im Ausland erwägen lässt.
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b) Bei ihrer Ermessensentscheidung über die Gestattung einer Selbstbeschäftigung hat sich die Anstaltsleitung an den Beschäftigungsgrundsätzen im Vollzug zu orientieren und die Interessen des Gefangenen und entgegenstehende Belange des Vollzugs miteinander abzuwägen (vgl. VV Nr. 3 Abs. 1 Satz 2). Finanzielle Erwägungen dürfen dabei jedoch nicht ausschlaggebend sein. Die Gestattung einer Selbstbeschäftigung kommt in Betracht, wenn die Zuweisung einer möglichst sinnvollen Arbeit oder Beschäftigung unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Gefangenen im Rahmen des Beschäftigungsangebots der Anstalt nicht möglich ist (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1979, 54) oder besonderer Anlass zur Vermittlung, Erhaltung oder Förderung einer bestimmten Erwerbstätigkeit besteht, die nur im Wege der Selbstbeschäftigung realisiert werden kann, weil vor allem hierdurch die Wiedereingliederung nach der Entlassung gefördert wird. Die Vollzugsbehörde ist nicht gehindert, bei ihrer Entscheidung einen strengen Maßstab anzulegen (BGH NStZ 1990, 453). Das gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass das Verhalten des Gefangenen außerhalb der Anstalt schwer zu beaufsichtigen ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 117). Dieser Aspekt gewinnt noch an Gewicht, wenn der Inhaftierte seine Straftaten im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen hat und die Möglichkeit besteht, dass er erneut einschlägige Delikte in diesem Zusammenhang verübt (Arloth 2008 Rdn. 7). 15 VV Nr. 3 bestimmt im Einzelnen, dass die Selbstbeschäftigung u. a. regelmäßig nur gestattet werden soll, wenn sie aus wichtigem Grund geboten erscheint und im Rahmen des Vollzugsplans (§ 7) insbesondere den Zielen des § 37 Abs. 1 dient. Daher ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn die vom Gefangenen beantragte Selbstbeschäftigung versagt wird, um ihn – unter Berücksichtigung seines bisherigen Lebensweges, seiner persönlichen Qualifikation und Leistungsfähigkeit sowie einer Arbeitsfehlhaltung in der Vergangenheit – zunächst mittels zugewiesener Arbeit an regelmäßiges Arbeitsverhalten heranzuführen und zu gewöhnen (OLG Hamm NStZ 1993, 208). VV Nr. 3 Abs. 1 beschränkt der gesetzlichen Konzeption entsprechend die Gestattung einer Selbstbeschäftigung auf Ausnahmefälle (OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 119; Arloth 2008 Rdn. 1; K/S-Schöch § 7 Rdn. 132; Laubenthal 2008 Rdn. 419; krit. AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 26; C/MD 2008 Rdn. 5). Die Erlaubnis zur Selbstbeschäftigung ist keine Lockerung der Arbeitspflicht des Gefangenen (so aber OLG
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Bremen ZfStrVo SH 1979, 57). Vielmehr handelt es sich um eine Ergänzung der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Gefangene auf der Grundlage der bestehenden Arbeitspflicht (§ 41). Allerdings wird in der Praxis die Genehmigung zur Selbstbeschäftigung nur selten erteilt (vgl. Lohmann 2002, 65). Gem. § 50 Abs. 4 i. d. F. von Art. 11 ERJuKoG v. 10.12.2001 (BGBl. I, 3422) kann die 16 Selbstbeschäftigung davon abhängig gemacht werden, dass der Gefangene einen Haftkostenbeitrag monatlich im Voraus entrichtet (§ 50 Rdn. 5). Ferner ist er nach VV Nr. 3 Abs. 4 anzuhalten, seiner Steuerpflicht nachzukommen. Erfüllt er seine Anzeigepflicht nicht, so ist die Erlaubnis zur Selbstbeschäftigung zu widerrufen. Schließlich gilt die Regelung für das freie Beschäftigungsverhältnis in VV Nr. 2 Abs. 2 bis 4 für die Selbstbeschäftigung entsprechend mit dem Ziel, Einkünfte aus der Selbstbeschäftigung sinnvoll für gesetzliche Unterhaltspflichten, Schuldenregulierungen und Entlassungsvorsorge zu verwenden. c) Für eine Selbstbeschäftigung kommen insbesondere freiberufliche Tätigkeiten wie 17 diejenigen von Schriftstellern, Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern, Gewerbetreibenden, Geschäftsinhabern, Architekten und Unternehmern in Betracht, wenn ihnen ein entsprechendes freies Beschäftigungsverhältnis nicht angeboten werden kann. Die genannten Berufsgruppen können sich vorübergehend oder auf Dauer sinnvoller und produktiver selbst beschäftigen als durch eine zugewiesene Arbeit, auch wenn diese wirtschaftlich ergiebig ist und den Anforderungen in § 37 Abs. 2 entspricht. Der Geschäftsführer einer GmbH, der nicht freiberuflich tätig ist, kommt ebenfalls für § 39 Abs. 2 in Betracht. Da die Immatrikulation an einer Hochschule keinen vertragsähnlichen Akt bedeutet und das Studium von weitgehender Weisungsunabhängigkeit gekennzeichnet ist, stellt ferner das Hochschulstudium außerhalb des Anwendungsbereichs des § 37 Abs. 3 eine Selbstbeschäftigung dar (Böhm 2003 Rdn. 325; K/S-Schöch § 7 Rdn. 133; Laubenthal 2008 Rdn. 421; s. auch Rdn. 3). Fällt auch Nichterwerbsarbeit unter den Bereich der Selbstbeschäftigung, zählt ferner der besondere Frauenfreigang von Müttern zur Versorgung und Betreuung ihrer Kinder hierzu (s. dazu Laubenthal 2008 Rdn. 421, 686). d) Die Genehmigung der Selbstbeschäftigung ist eine begünstigende Vollzugsmaß- 18 nahme. Diese ist nicht frei widerruflich: Ein Widerruf der Gestattung kann entsprechend § 49 Abs. 2 VwVfG erfolgen (AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 31; Arloth 2008 Rdn. 7), wenn nachträglich Umstände eingetreten sind, deren Vorliegen zum Zeitpunkt der Gestattung eine Versagung gerechtfertigt hätte. Dabei ist aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und zunächst zu prüfen, ob Abmahnungen oder Weisungen genügen (OLG Frankfurt NStZ 1981, 159). Wird die Selbstbeschäftigung anstaltsextern ausgeübt und kommt es gem. § 14 Abs. 2 zu einem Widerruf oder einer Rücknahme der Lockerungsgewährung, lässt das zugleich die Erlaubnis zur Selbstbeschäftigung erlöschen, wenn diese nicht anstaltsintern möglich ist. In Bayern gilt auch für die Ablösung von einer Selbstbeschäftigung die spezielle Rechtsgrundlage des Art. 44 BayStVollzG. 3. Nach Abs. 3 kann die Vollzugsbehörde sowohl beim freien Beschäftigungsverhältnis 19 (Abs. 1) als auch bei der Selbstbeschäftigung (Abs. 2) verlangen, dass ihr das Arbeitsentgelt, die sonstigen Zuwendungen bzw. Erlöse zur Gutschrift für den Gefangenen auf ein besonderes (Anstalts-)Konto überwiesen werden. Falls der Gefangene nicht allein zu einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Verwendung der Beträge in der Lage ist, muss ihm bei der Etatplanung im Rahmen eines Selbständigkeitstrainings geholfen werden mit dem Ziel, insbesondere den bestehenden Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und für die Entlassung vorzusorgen (vgl. dazu auch §§ 73, 74): Zu den Zahlungsverpflichtungen gehören Klaus Laubenthal
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die Leistung eines Haftkostenbeitrags gem. § 50 sowie die Bildung von Überbrückungsgeld gem. § 51. Die Vollzugsbehörde kann aber auch dem Gefangenen die Überweisung der Bezüge auf ein bei einer Bank eingerichtetes Konto gestatten. Das gilt insbesondere, wenn der Anstalt unwiderruflich eine Mit- oder Alleinverfügungsbefugnis eingeräumt ist, wodurch das Risiko vermieden wird, dass Dritte unnötig von der Inhaftierung des Betroffenen erfahren (Arloth 2008 Rdn. 8).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 42 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural sowie die geänderte Verweisung in Abs. 1 Satz 2, weitestgehend § 39 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 36 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Den Gefangenen soll gestattet werden, einer Arbeit, Berufsausbildung oder beruflichen Weiterbildung auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt nachzugehen oder sich innerhalb oder außerhalb der Anstalt selbst zu beschäftigen, wenn sie hierfür geeignet sind, dies im Rahmen des Vollzugsplans dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern und nicht überwiegende Gründe des Vollzuges entgegenstehen.“ Die Vorschrift normiert damit gegenüber § 39 Abs. 1 die zusätzliche Voraussetzung der Eignung des Gefangenen und erweitert die Regelung zudem auf die Selbstbeschäftigung. § 36 Abs. 2 und 3 schreiben vor: „(2) § 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und Sätze 2 und 3, Absätze 2 und 4 bleibt unberührt. (3) Die Anstalt kann verlangen, dass ihr das Entgelt zur Gutschrift für die Gefangenen überwiesen wird.“ 3. Niedersachsen
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Abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzierung in Satz 1 sowie der geänderten Verweisung auf Landesrecht in Satz 2 entspricht § 36 Abs. 1 NJVollzG der bundesrechtlichen Regelung des § 39 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 der landesrechtlichen Norm lautet: „Der oder dem Gefangenen kann anstelle einer zugewiesenen Tätigkeit gestattet werden, selbständig einer Beschäftigung (Selbstbeschäftigung) nachzugehen. Für eine Selbstbeschäftigung außerhalb der Anstalt bleiben § 13 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 15 unberührt. Die Gestattung der Selbstbeschäftigung kann davon abhängig gemacht werden, dass die Gefangenen den Kostenbeitrag nach § 52 Abs. 1 ganz oder teilweise monatlich im Voraus entrichten.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Gegenüber § 39 Abs. 2 StVollzG sieht der Entwurf . . . aus Gründen der Rechtsklarheit in Satz 1 eine Legaldefinition des Begriffs der Selbstbeschäftigung sowie in Satz 2 eine Klarstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen bei einer Selbstbeschäftigung außerhalb der Anstalt vor.“ Abs. 3 der niedersächsischen Vorschrift entspricht § 39 Abs. 3 StVollzG.
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Abschlusszeugnis
§ 40
§ 40 Abschlusszeugnis Aus dem Abschlusszeugnis über eine ausbildende oder weiterbildende Maßnahme darf die Gefangenschaft eines Teilnehmers nicht erkennbar sein.
I. Erläuterungen Die Vorschrift enthält ein konkretes Beispiel für die sinnvolle Anwendung der Gestaltungsgrundsätze des Vollzugs in § 3. Sie verdeutlicht an einem Einzelfall insbesondere den Gegensteuerungsgrundsatz (§ 3 Abs. 2; § 3 Rdn. 11 f), mit dem schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegengewirkt werden soll, und den Integrationsgrundsatz (§ 3 Abs. 3; § 3 Rdn. 13), auf den der Vollzug von Beginn an ausgerichtet sein muss. Wegen des in der Gesellschaft verbreiteten Misstrauens gegen Strafentlassene und der vorhandenen Vorurteile gegen sie könnte die Gefahr bestehen, dass sie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz benachteiligt würden (BT-Drucks. 7/3998, 19 f), wenn aus den Zeugnissen über Bildungsmaßnahmen während des Vollzugs die frühere Gefangenschaft erkennbar sein würde. Das soll durch das Verbot in der Bestimmung vermieden werden. Der Begriff Abschlusszeugnis ist im Hinblick auf das Vollzugsziel des § 2 Satz 1 nicht fachspezifisch im Sinne der Definition im Kultusbereich zu verstehen. Auch sonst in der freien Gesellschaft verwertbare und deshalb Außenwirkung entfaltende Zwischenzeugnisse, Teilnahmebescheinigungen, Abgangszeugnisse und sonstige schriftliche Leistungsbewertungen fallen unter diese Vorschrift, es sei denn, es handelt sich um ausschließlich vollzugsinterne Erfolgsmessungen, die in anschließende Beurteilungen eingehen. Nicht unter § 40 fallen auch bloße Arbeitszeugnisse (a. A. AK-Däubler/Spaniol Rdn. 1). Die Vollzugsbehörden tragen dem Anliegen des § 40 in der Praxis dadurch Rechnung, dass sie außervollzugliche Einrichtungen und Organisationen als Träger der Bildungsmaßnahmen zu gewinnen suchen. Daneben werden auch Einzelpersonen als Aussteller der Zeugnisse zugelassen, wenn diese eine anerkannte Prüfungsbefugnis mit Zeugniserteilungsrecht haben und die konkrete Zeugniserteilung nach Möglichkeit im Zusammenwirken mit einer einschlägigen Fachstelle erfolgt, z. B. Werkmeister und Handwerkskammer, Gewerbelehrer und Berufsschule oder Lehrer im Justizvollzug mit Schulaufsichtsamt. So erfolgt z. B. in Bayern der Berufsschulunterricht aufgrund einer Vereinbarung mit dem Kultusministerium in enger Zusammenarbeit mit der jeweils örtlich zuständigen SprengelBerufsschule, die dann neutrale Arbeitszeugnisse erstellt (vgl. Bayer. Staatsministerium der Justiz Justizvollzug in Bayern 2008, 27).
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II. Landesgesetze 1. Bayern Art. 41 BayStVollzG lautet: „Aus dem Zeugnis über eine Bildungsmaßnahme darf die 5 Inhaftierung eines Teilnehmers oder einer Teilnehmerin nicht erkennbar sein.“ Eine inhaltliche Änderung ging mit der Neuformulierung nicht einher. 2. Hamburg § 37 HmbStVollzG korrespondiert inhaltlich mit § 40, erweitert diesen jedoch um sog. 6 Teilnahmebescheinigungen. 3. Niedersachsen
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§ 37 NJVollzG entspricht inhaltlich § 40.
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§ 41
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 41 Arbeitspflicht (1) Der Gefangene ist verpflichtet, eine ihm zugewiesene, seinen körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben, zu deren Verrichtung er auf Grund seines körperlichen Zustandes in der Lage ist. Er kann jährlich bis zu drei Monaten zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden, mit seiner Zustimmung auch darüber hinaus. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Gefangene, die über 65 Jahre alt sind, und nicht für werdende und stillende Mütter, soweit gesetzliche Beschäftigungsverbote zum Schutze erwerbstätiger Mütter bestehen. (2) Die Teilnahme an einer Maßnahme nach § 37 Abs. 3 bedarf der Zustimmung des Gefangenen. Die Zustimmung darf nicht zur Unzeit widerrufen werden. (3)* Die Beschäftigung in einem von privaten Unternehmen unterhaltenen Betriebe (§ 149 Abs. 4) bedarf der Zustimmung des Gefangenen. Der Widerruf der Zustimmung wird erst wirksam, wenn der Arbeitsplatz von einem anderen Gefangenen eingenommen werden kann, spätestens nach sechs Wochen. * § 41 Abs. 3 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3). Schrifttum: s. vor § 37
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Gesetzliche Entwicklung . . . . 2. Übereinstimmung mit internationalen Rechtsgrundsätzen . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Fähigkeiten des Gefangenen, die ihm zugewiesene Arbeit auszuüben . . . . . . . . . . . . . 2. Heranziehung zu Hilfstätigkeiten . . . . . . . . . . . . . .
1–4 1–2 3–4 5–17
5–7 8–11
Rdn. 3. Ausnahmen des Abs. 1 Satz 3 4. Arbeitszeit und Leistungsanforderungen . . . . . . . 5. Zustimmung des Gefangenen (Absätze 2 und 3) . . . . . . 6. Ablösung von der Arbeit . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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. 14–16 . 17 . 18–20 . 18 . 19 . 20
I. Allgemeine Hinweise 1
1. a) Nachdem § 41 Abs. 1 gem. § 198 Abs. 1 am 1.1.1977 in Kraft getreten war, folgte Abs. 2 gem. § 198 Abs. 2 am 1.1.1980. Abs. 3 wird gem. § 198 Abs. 3 erst durch ein besonderes Bundesgesetz in Kraft gesetzt, über das nach § 198 Abs. 4 bis zum 31. Dezember 1983 befunden werden sollte (vgl. Art. 22 Nr. 2 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes vom 22.12.1981 – BGBl. I, 1523 ff), was aber nicht geschehen ist (vgl. zu § 198). Gleichwohl verletzt es nicht die Verfassung, dass der in Abs. 3 vorgesehene Zustimmungsvorbehalt bisher nicht in Kraft gesetzt wurde. Eine Pflichtarbeit in einem Unternehmerbetrieb, der den Anforderungen des § 149 Abs. 4 genügt, hält sich in den Grenzen der Ermächtigung, die Art. 12 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber erteilt, im Strafvollzug Arbeitspflicht anzuordnen (BVerfGE 98, 169, 209; s. auch Rdn. 3 und 15).
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b) Die Vorschrift behandelt in verfassungsgemäßer Weise die Frage der Arbeitspflicht für Gefangene während des Freiheitsentzugs. Zwangsarbeit ist bei gerichtlich angeordneter
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Arbeitspflicht
§ 41
Freiheitsentziehung gem. Art. 12 Abs. 3 GG zulässig. Das Grundrecht der Berufs- und Erwerbsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG erleidet insoweit eine Ausnahme (BVerfGE 98, 169, 206). Im Gesetzgebungsverfahren wurden zwar mehrere Alternativen erörtert (Prot. S. 1897 f). Nach eingehender Abwägung hat sich der Gesetzgeber jedoch für die allgemeine Arbeitspflicht entschieden (BT-Drucks. 7/3998, 20 f) und damit den bis dahin auf der Grundlage der Dienst- und Vollzugsordnung geltenden Rechtszustand aufrechterhalten, obwohl die Arbeitspflicht im Hinblick auf die fehlende Verpflichtung zur Berufsaus- und Weiterbildung oder schulischen Bildung (vgl. Rdn. 14) sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Beschäftigungen von pädagogisch geringem Wert (wie z. B. die Tätigkeit als Hausarbeiter; vgl. Rdn. 8 ff) nicht selten mit der Erforderlichkeit intensiver sozialer und/oder therapeutischer Hilfestellungen kollidieren, kritisiert wird (s. zur Problematik Böhm 2003, Rdn. 289 ff; vgl. auch Calliess Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt 1974, 163 ff; AK-Däubler/Spaniol 2006 vor § 37 Rdn. 16 f, 19, § 41 Rdn. 2; krit. Bemmann StV 1998, 604 f). Findet sich ein Strafgefangener zu einer bestimmten Arbeitstätigkeit bereit oder strebt er diese sogar ausdrücklich an, schließt das deren Einordnung als Pflichtarbeit nicht aus (BVerfG Beschl. v. 27.12.2007 – 2 BvR 106/05). 2. a) Die auf der Grundlage der öffentlich-rechtlichen Beziehung zwischen Strafgefan- 3 genem und Staat beruhende Arbeitspflicht des Inhaftierten ist keine Zwangs- oder Pflichtarbeit (Verdingung) im Sinne des Übereinkommens Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom 28.6.1930 über Zwangs- und Pflichtarbeit, dem die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz vom 11.6.1956 (BGBl. II, 640) beigetreten ist. Denn das ILO-Übereinkommen bezweckt, voraussetzungslosen Handel mit menschlicher Arbeitskraft zu unterbinden und zielt auf eine Verhinderung der Formen von Zwangs- und Sklavenarbeit gefangener Personen. Nach den Vorschriften des Abkommens gelten als Zwangsoder Pflichtarbeit nicht Arbeiten oder Dienstleistungen, die man von einer Person aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung verlangt, wenn sie unter Überwachung und Aufsicht der öffentlichen Behörden ausgeführt werden und der Verurteilte nicht an Einzelpersonen oder private Vereinigungen verdingt oder ihnen sonst zur Verfügung gestellt wird (BVerfGE 98, 169, 206; OLG Hamburg NStZ 1992, 53 f; s. auch Rdn. 15). b) § 41 steht mit Nr. 105.2 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006 im Ein- 4 klang, wo klargestellt ist, dass Strafgefangene entsprechend ihrer vom Anstaltsarzt festgestellten körperlichen und geistigen Eignung zur Arbeit verpflichtet werden können. Auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) verstößt die Arbeitspflicht nicht, denn Art. 4 Abs. 3 Buchstabe a MRK schließt aus, dass die Arbeitspflicht bei Strafgefangenen als unzulässige Zwangs- oder Pflichtarbeit i. S. von Art. 4 Abs. 2 MRK anzusehen ist.
II. Erläuterungen 1. a) Der Gefangene ist gem. Abs. 1 Satz 1 verpflichtet, eine ihm zugewiesene Arbeit 5 auszuüben, wenn sie seinen körperlichen Fähigkeiten angemessen ist. Die Ablehnung einer solchen Arbeit stellt unter den Voraussetzungen des § 102 eine Pflichtverletzung dar, die bei schuldhaftem Verhalten disziplinarrechtlich geahndet werden und/oder eine Ablösung von der zugewiesenen Arbeit (s. Rdn. 17) zur Folge haben kann. Der Gefangene hat keinen Anspruch auf Zuweisung einer bestimmten Arbeit. Demzufolge kann ein Gefangener auch nicht verlangen, in seinem erlernten Beruf beschäftigt zu werden (OLG Nürnberg NStZ 1981, 200), wenngleich Ausbildung und Eignung des Gefangenen nach Möglichkeit bei der Arbeitszuweisung zu berücksichtigen sind. Denn nicht nur auf die körperliche Konstitution des Gefangenen soll Rücksicht genommen werden (BT-Drucks. 7/918, 66;
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§ 41
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
BT-Drucks. 7/3998, 20). Auch eine länger andauernde Über- (oder Unter-)forderung, die dem Behandlungsziel widersprechen würde, ist zu vermeiden (s. aber Arloth 2008 Rdn. 3: kein Verbot der Unterforderung). Hierzu ergänzend ergibt sich aus dem Individualisierungsgrundsatz des § 37 Abs. 2 (vgl. dort Rdn. 13), dass neben der körperlichen Verfassung des Gefangenen auch seine geistigen Fähigkeiten, seine emotionalen Möglichkeiten und sein psychischer Zustand berücksichtigt werden müssen. Geschieht das nicht in ausreichendem Maße, stellt eine mögliche Arbeitsverweigerung des Gefangenen keinen schuldhaften Pflichtverstoß i. S. von § 102 Abs. 1 dar und führt auch nicht zu einer verschuldeten Arbeitslosigkeit i. S. d. § 46 (vgl. zur Arbeitsverweigerung wegen massiver Bedrohung durch Mitgefangene OLG Saarbrücken BlStV 6/1984, 1; zur religiös begründeten Weigerung der Entkleidung bei Rückkehr aus Werkbetrieb OLG Koblenz NStZ 1986, 238 m. Anm. Rassow).
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b) Der Gefangene ist nach Abs. 1 Satz 1 ggf. auch verpflichtet, eine ihm zugewiesene arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben (zur arbeitstherapeutischen Beschäftigung vgl. § 37 Rdn. 9, 27). Der Begriff „sonstige Beschäftigung“ findet sich in § 37 nicht. Es handelt sich hierbei im Unterschied zur wirtschaftlich ergiebigen Arbeit (§ 37 Abs. 2) um die angemessene Beschäftigung des § 37 Abs. 4 (vgl. dort Rdn. 25, 26).
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c) Zur Übernahme der Arbeit bzw. arbeitstherapeutischen oder sonstigen Beschäftigung ist der Gefangene nur verpflichtet, wenn er zu deren Verrichtung aufgrund seines körperlichen Zustandes in der Lage ist, Abs. 1 Satz 1 a. E. Dabei geht es hier um seinen aktuellen Gesundheitszustand in Abgrenzung zu seinen allgemeinen körperlichen Fähigkeiten im ersten Halbsatz. Im Zweifelsfall ist die Frage der Einsatzfähigkeit durch den Arzt zu klären.
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2. a) Gem. Abs. 1 Satz 2 kann jeder Gefangene bis zu drei Monaten im Jahr zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden. Dabei handelt es sich um eine Ermächtigung an die Vollzugsbehörden. Solche Hilfstätigkeiten fallen in allen Bereichen einer Vollzugsanstalt vielfältig an, z. B. in der Küche, in der Kleiderkammer, in der Krankenabteilung, in den Unterkünften, im Freigelände. Es geht zumeist um die Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben, die das Mitverantwortungsgefühl der Gefangenen für ihr Zusammenleben in der Anstalt stärken können. Während jeder Gefangene seinen eigenen Haftraum selbst zu reinigen hat, werden z. B. die Reinigungen der Gemeinschaftsräume und Verkehrsflächen in einer Wohngruppe, einer Station bzw. einem Haus im wöchentlichen oder monatlichen Wechsel von jenen Gefangenen erledigt, die zu diesen Hilfstätigkeiten eingeteilt sind. Falls es kein rotierendes System gibt, werden zu solchen Hilfsarbeiten häufig Gefangene herangezogen, die noch ohne Arbeitserfahrung sind, die keiner qualifizierten Beschäftigung nachgehen können oder noch keine Vollzugslockerungen haben. Neben dem beschäftigungstherapeutischen Aspekt und der Funktion als eine Art innerer Vollzugslockerung dienen solche Hilfstätigkeiten auch dazu, Zeiten großen Auftragsmangels in den Anstaltsbetrieben zu überbrücken und der Arbeitslosigkeit von Gefangenen entgegenzuwirken. Es ist besser, Gefangene in Form verdeckter Arbeitslosigkeit mit Hilfstätigkeiten zu beschäftigen, als sie arbeitslos zu lassen.
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b) Die Hilfstätigkeiten als sog. Kalfaktorenposten (zum Begriff s. Laubenthal Lexikon der Knastsprache, 2001, 94) erfüllen regelmäßig nicht die Anforderungen, die gem. § 37 Abs. 1 und 2 an eine zuzuweisende Arbeit gestellt werden müssen (§ 37 Rdn. 6, 11, 13). Hilfsarbeiten können allerdings als angemessene Beschäftigung i. S. d. § 37 Abs. 4 zugeteilt werden (K/S-Schöch § 7 Rdn. 136). Abgesehen von dem möglichen Einüben sozialer Verhaltensweisen und der sichtbaren Verantwortung für die Gemeinschaft sind die anfallenden Hilfsarbeiten nur selten spezifisch behandlungsorientiert. Es bedurfte daher der gesetz-
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lichen Ermächtigung der Vollzugsbehörde, Gefangene für solche Arbeiten zu verpflichten (BT-Drucks. 7/918, 66). Um die im Vollzug an sich notwendige Behandlung des Gefangenen nicht zu lange zu behindern, bleibt die zeitliche Dauer der Verpflichtung grundsätzlich auf drei Monate beschränkt. Damit wird der Charakter einer Notlösung betont (BT-Drucks. 7/3998, 20). Hiernach sollten die Aufsichtsbehörden und die Wirtschafts- sowie Arbeitsverwaltungen der Anstalten bestrebt sein, die Zahl jener mit Hilfstätigkeiten beschäftigten Gefangenen niedrig zu halten. Die sog. Hausarbeiterquote (Höchstzahl der Gefangenen mit Hilfstätigkeiten im Verhältnis zur Gesamtzahl der beschäftigten Gefangenen) ist in den Bundesländern verschieden hoch festgelegt. Sie beträgt durchschnittlich ca. 10 bis 15 %. c) Es kommen ausschließlich Tätigkeiten in der Anstalt in Betracht und nur solche, die 10 keine subkulturellen Unzuträglichkeiten im Verhältnis der Gefangenen untereinander bzw. zwischen Gefangenen und Bediensteten entstehen lassen und Belangen des Datenschutzes Rechnung tragen (vgl. VV Nr. 5 zu § 37). Arbeiten, die Einblick in persönliche Verhältnisse oder in Personal-, Gerichts- bzw. Verwaltungsakten eröffnen, dürfen einem Insassen auch aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht übertragen werden. Das hat zur weitgehenden Beseitigung der sog. Gefangenenschreiber als Helfer der Stationsbeamten geführt. d) Mit seiner Zustimmung kann der Gefangene über drei Monate hinaus mit Hilfs- 11 tätigkeiten beschäftigt werden; ein Widerspruch zu den Empfehlungen und Angaben im Vollzugsplan (§ 7) darf aber nicht entstehen. Wird ein Gefangener länger als drei Monate mit Hilfstätigkeiten beschäftigt, vermag er die Zustimmung nicht willkürlich zurückzunehmen und die Arbeit niederzulegen, ohne der Anstalt Gelegenheit zu geben, für ihn einen Ersatz zu finden, weil die Gewährleistung des Gemeinschaftslebens und die Aufrechterhaltung wichtiger Funktionsabläufe häufig auf den Hilfstätigkeiten einzelner Gefangener beruhen (LG Karlsruhe ZfStrVo 1979, 125). In Bayern normiert Art. 43 Satz 2 BayStVollzG, dass Hilfstätigkeiten prinzipiell nicht über drei Monate jährlich hinausgehen sollen (s. Rdn. 18). – Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Hilfstätigkeiten nicht nur geringe Bedeutung für die Erreichung des Vollzugsziels haben (vgl. Rdn. 9). Sie sind auch im Laufe zunehmender Liberalisierung der Vollzugsgestaltung nach außen sowie vermehrter Öffnung der Anstalten nach innen uninteressanter geworden, weil nicht mehr das Privileg einer größeren Bewegungs- und Kontaktfreiheit für die Betroffenen lockt (Walter 1999 Rdn. 478). 3. Nach Abs. 1 Satz 3 gelten die Arbeitspflicht und die Verpflichtung zur Übernahme 12 von Hilfstätigkeiten in der Anstalt nicht für über 65 Jahre alte Gefangene, da Letztere sich generell im Rentenalter befinden. Allerdings relativiert sich die Arbeitspflicht in der Praxis faktisch auch bereits bei jüngeren Gefangenen durch das Kriterium der individuellen Arbeitsfähigkeit. Darüber hinaus gebietet es der Angleichungsgrundsatz, Gefangene, die gem. § 43 Abs. 2 SGB IV als erwerbsunfähig gelten und deshalb Rente beziehen, von der Arbeitspflicht auszunehmen (OLG Frankfurt NStZ 1985, 425 m. Anm. Müller-Dietz). In der Vollzugspraxis werden Hilfstätigkeiten jedoch gerade von älteren, in den Arbeitsbetrieben nicht mehr voll einsatz- und leistungsfähigen Gefangenen – auch solchen über 65 Jahre – gern übernommen. Die Verpflichtungen aus § 41 Abs. 1 Satz 1 und 2 gelten ferner nicht für werdende und stillende Mütter, soweit gesetzliche Beschäftigungsverbote zum Schutz erwerbstätiger Mütter bestehen (Mutterschutzgesetz; dazu auch § 76 Rdn. 2 bis 6). 4. Aus vielfältigen Gründen hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Arbeitszeit so- 13 wie Arbeits- und Leistungsanforderungen im Einzelnen zu regeln (s. auch § 37 Rdn. 12). Die VV Nr. 3 und 4 zu § 37 enthalten dazu einige Hinweise (s. auch KG NStZ 1989, 445
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m. Anm. Gerhart). Die Festsetzung der Arbeitszeit steht im pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörde (unter Beachtung von VV Nr. 4 zu § 37). Dabei verstößt eine unterschiedliche Arbeitsregelung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt und dem übrigen Bereich einer Justizvollzugsanstalt bzw. des Vollzugs innerhalb des Geschäftsbereichs einer Landesjustizverwaltung nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, wenn die unterschiedliche Behandlung der Gefangenen auf dem Einsatz der besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen der Sozialtherapie (§ 9) beruht (LG Berlin 14.3.1990 – 546 StVK [Vollz] 25/90 –).
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5. a) Nach Abs. 2 Satz 1 bedarf im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung die Teilnahme des Gefangenen an einer Maßnahme nach § 37 Abs. 3 seiner Zustimmung. Die Vorschrift konkretisiert den Mitwirkungsgrundsatz des § 4 Abs. 1, denn die Chancen für einen erfolgreichen Ablauf und Abschluss erhöhen sich gerade, wenn die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auf Freiwilligkeit und Selbstverantwortlichkeit gestützt werden. Diese Zustimmung ist ggf. schriftlich zu erteilen und zur Gefangenenpersonalakte zu nehmen. Die damit bezweckte Selbstbindung des Gefangenen ist zudem erforderlich, weil mit den Bildungsmaßnahmen erhebliche organisatorische Arbeiten, ein verstärkter personeller Einsatz und hohe Kosten verbunden sind, die nicht zuletzt aus Wirtschaftlichkeitsgründen sonst ohne große Not wieder infrage gestellt oder sogar bei leichtfertigem Abbruch fehlinvestiert wären. Deshalb darf der Gefangene gem. Abs. 2 Satz 2 seine Zustimmung auch nicht zur Unzeit widerrufen. Damit der Abschluss einer Bildungsmaßnahme möglichst noch in der Haftzeit erreicht werden kann, wird in Einzelfällen ein Verzicht auf eine bedingte Entlassung gem. § 57 StGB bei Beginn der Bildungsmaßnahme verlangt, wenn sonst zu befürchten ist, dass der Gefangene die begonnene Maßnahme nach seiner Entlassung nicht fortsetzt und so das angestrebte Ziel der schulischen oder beruflichen Qualifikation nicht erreicht wird. Zwar ist der Gefangene später an diesen Verzicht rechtlich nicht gebunden und kann seine erforderliche Einwilligung in die Strafrestaussetzung zur Bewährung trotzdem geben. Das Vollstreckungsgericht wird den drohenden Abbruch der begonnenen Bildungsmaßnahme dann allerdings prognostisch zu werten haben. Einen anderen – vorzugswürdigen – Weg stellt ein Angebot an Haftentlassene dar, die in der Anstalt begonnene Ausbildung dort auch bis zum Abschluss fortsetzen zu können (so z. B. das in Berlin erprobte sog. Freikommer-Modell; hierzu ZfStrVo 1995, 49).
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b) Nach einem Inkrafttreten des Abs. 3 (s. zur Geltung Rdn. 1) bedarf nach Satz 1 der Norm die Beschäftigung eines Strafgefangenen in einem von privaten Unternehmen unterhaltenen Zweigbetrieb innerhalb der Anstalt der Zustimmung des Betroffenen (zu den Bedenken der ILO gegen die Beschäftigung von Gefangenen in Unternehmerbetrieben und zu den Hintergründen des Zustimmungserfordernisses in Abs. 3 und seinem Verhältnis zu Art. 2 Nr. 2 Buchstabe c des Übereinkommens Nr. 29 der ILO vom 28.6.1930 vgl. BT-Drucks. 7/916, 64; BT-Drucks. 7/3998, 21; OLG Hamburg NStZ 1992, 54 m. Anm. Krahl NStZ 1992, 207 f und Anm. Klesczewski NStZ 1992, 351 f; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 13; C/MD 2008 Rdn. 8). Das BVerfG (BVerfGE 98, 169, 211) erachtet von Verfassungs wegen eine Zustimmung des Inhaftierten dann nicht für erforderlich, wenn die Anstaltsleitung dem Gefangenen Arbeit in einem Unternehmerbetrieb innerhalb der Einrichtung zuweist, dessen Organisation sich im Rahmen der durch § 149 Abs. 4 zugelassenen Übertragung der technischen und fachlichen Leitung auf Unternehmensangehörige hält, und der Betrieb unter der öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Vollzugsbehörde bleibt. Insgesamt liegt in der Tatsache, dass der in Abs. 3 Satz 1 vorgesehene Zustimmungsvorbehalt bislang nicht in Kraft gesetzt wurde, kein Verstoß gegen die Verfassung. Verletzt ein Gefangener – bis zum Inkrafttreten des Zustimmungserfordernisses gem. Abs. 3 Satz 1 – durch Arbeitsverweige-
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rung in einem Unternehmerbetrieb schuldhaft seine Arbeitspflicht, dürfen gegen ihn Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden (OLG Hamburg ZfStrVo 1992, 69). Ein Verstoß gegen das ILO-Übereinkommen Nr. 29 liegt gerade nicht vor, weil Gefangene auch in Unternehmerbetrieben nicht verdingt werden (s. schon Rdn. 3). Der Gefangene bleibt auch bei Tätigkeiten im Unternehmerbetrieb im Rahmen eines zwischen Anstalt und Unternehmer abgeschlossenen Arbeitsverhältnisses (vgl. auch OLG Hamm NStZ 1993, 381; KG NStZ 1990, 607; Laubenthal 2008, Rdn. 404) in seiner öffentlich-rechtlichen Beziehung mit dem Staat kraft gerichtlicher Verurteilung, in welcher seine Tätigkeit vom Vollzugspersonal überwacht, beaufsichtigt und angewiesen wird (s. BVerfGE 98, 169, 211). Da auf absehbare Zeit eine ausreichende Anzahl von Gefangenenarbeitsplätzen in 16 Eigenbetrieben nicht eingerichtet werden kann, bleiben die Vollzugsbehörden auf Unternehmerbetriebe angewiesen. Private Firmen sind jedoch im Allgemeinen zur Einrichtung solcher Zweigbetriebe in der Anstalt und zu den damit verbundenen Investitionen nur bereit, wenn die Vollzugsbehörde ihnen eine gewisse Laufzeit, einen beständigen Produktionsumfang und eine möglichst verlässliche Auftragsausführung und Leistungshöhe zusagt. Daher wird im vorgesehenen Abs. 3 Satz 2 ein Widerruf der Zustimmung durch den Gefangenen stark eingeschränkt. Es reicht dem Gesetzgeber bei Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse nicht mehr aus, dass die Zustimmung wie in Abs. 2 Satz 2 nicht zur Unzeit widerrufen werden darf. Vielmehr soll hier der Widerruf bis zur Dauer von höchstens sechs Wochen dann unwirksam bleiben, wenn der Arbeitsplatz nicht vorher von einem anderen Gefangenen eingenommen werden kann. 6. Die Ablösung von der Arbeit stellt keine Aufhebung der gesetzlichen Arbeitspflicht 17 gem. § 41 Abs. 1 Satz 1 dar. Sie hat Bedeutung hinsichtlich der sich daraus ergebenden finanziellen Folgen für den Gefangenen, der lediglich im Falle seiner Schuldlosigkeit am Arbeitsplatzverlust Anspruch auf Zahlung von Taschengeld (oder – nach In-Kraft-Treten von § 45 [s. dort Rdn. 1] – von Ausfallentschädigung) hat, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen (s. zu § 46). Ein Grund für die Ablösung kann nicht nur die Tatsache sein, dass sich ein Inhaftierter für die zugewiesene Tätigkeit als ungeeignet erweist. In Betracht kommt als Rechtsgrundlage auch der Vollzugsplan, wenn sich die Ablösung (in Form eines Arbeitsplatzwechsels) als Maßgabe der dort vorgesehenen Behandlungsmaßnahmen darstellt (s. § 7 Abs. 2 Nr. 4). Auch § 17 Abs. 3 kann eine Ablösung rechtfertigen. Eine solche kommt z. B. nach § 17 Abs. 3 Nr. 3 in Betracht, wenn ein Betroffener aus Erfordernissen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt (z. B. bei besonderer Fluchtgefahr) von der Arbeit auszuschließen und ihm gleichzeitig Zellenarbeit zuzuweisen ist (vgl. LG Stuttgart ZfStrVo 1990, 304). Im Übrigen vermag eine Ablösung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG zu erfolgen (s. hierzu § 37 Rdn. 28). In Bayern existiert mit Art. 44 BayStVollzG eine gesonderte Vorschrift über die Ablösung von Beschäftigungen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder aus Gründen der Behandlung erforderlich ist oder wenn sich herausstellt, dass sie den Anforderungen nicht genügen.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 43 Satz 1 und 2 BayStVollzG lauten: „Gefangene sind verpflichtet, eine ihnen zuge- 18 wiesene, ihren Fähigkeiten angemessene Arbeit oder arbeitstherapeutische Beschäftigung auszuüben, soweit sie dazu körperlich und geistig in der Lage sind. Sie können zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden. Diese Tätigkeiten sollen in der Regel nicht über drei Monate jährlich hinausgehen.“ Eine inhaltliche Änderung gegenüber § 41
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Abs. 1 Satz 2 StVollzG bedeuten Satz 2 und 3 der bayerischen Regelung. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Satz 2 nimmt Rücksicht auf den Bedarf an Arbeitskräften der Anstalten und gestattet daher den Einsatz von Hausarbeitern für Reinigungsarbeiten, bei der Essensausgabe etc. Durch die grundsätzliche zeitliche Beschränkung auf drei Monate in Satz 3 soll das Entstehen subkultureller Abhängigkeitsverhältnisse verhindert werden.“ Art. 43 Satz 4 BayStVollzG entspricht § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG. Eine § 41 Abs. 2 StVollzG entsprechende Regelung wurde in Art. 39 Abs. 4 BayStVollzG eingefügt (s. § 37 Rdn. 30). 2. Hamburg
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§ 38 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen sind verpflichtet, eine ihnen zugewiesene, ihren körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit oder arbeitstherapeutische Beschäftigung auszuüben, zu deren Verrichtung sie auf Grund ihres Zustands in der Lage sind. Sie können zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden. Diese Tätigkeiten sollen in der Regel nicht über drei Monate jährlich hinausgehen. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Gefangene, die die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht haben. Die gesetzlichen Beschäftigungsverbote zum Schutz erwerbstätiger Mütter finden Anwendung.“ Wesentliche inhaltliche Änderungen gegenüber § 41 Abs. 1 waren mit den Änderungen im Wortlaut nicht verbunden (vgl. Lt-Drucks. 18/6490, 42 und LT-Drucks. 19/2533, 56). § 38 Abs. 2 HmbStVollzG entspricht – abgesehen von der geänderten Verweisung auf Landesrecht – § 41 Abs. 2. 3. Niedersachsen
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§ 38 NJVollzG lautet: „(1) Die oder der Gefangene ist verpflichtet, eine ihr oder ihm zugewiesene Tätigkeit auszuüben. (2) Vollzugliche Maßnahmen, insbesondere Lockerungen, die der Ausübung einer zugewiesenen Tätigkeit ganz oder teilweise entgegenstehen, sollen nur zugelassen werden, soweit dies im Rahmen der Vollzugsplanung zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1, im überwiegenden Interesse der oder des Gefangenen oder aus einem anderen wichtigen Grund erforderlich ist.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Wesentlicher Inhalt dieser Norm ist die Regelung der Arbeitspflicht. Absatz 1 entspricht weitgehend der Regelung des § 41 Abs. 1 StVollzG. . . . Die Regelung des Absatzes 2 . . . bezweckt, Arbeit, schulische und berufliche Maßnahmen stärker in den Mittelpunkt des vollzuglichen Tagesablaufes zu stellen . . .“ Bestimmungen über Hilfstätigkeiten in der Anstalt sowie deren Dauer enthält § 35 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG. § 35 Abs. 4 NJVollzG enthält im Gegensatz zu § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG kein Beschäftigungsverbot für über 65 Jahre alte Strafgefangene, sondern knüpft die Ausnahme von der Arbeitspflicht an die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung an (s. § 37 Rdn. 32).
§ 42 Freistellung von der Arbeitspflicht (1) Hat der Gefangene ein Jahr lang zugewiesene Tätigkeit nach § 37 oder Hilfstätigkeiten nach § 41 Abs. 1 Satz 2 ausgeübt, so kann er beanspruchen, achtzehn Werktage von der Arbeitspflicht freigestellt zu werden. Zeiten, in denen der Gefan-
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Freistellung von der Arbeitspflicht
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gene infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert war, werden auf das Jahr bis zu sechs Wochen jährlich angerechnet. (2) Auf die Zeit der Freistellung wird Urlaub aus der Haft (§§ 13, 35) angerechnet, soweit er in die Arbeitszeit fällt und nicht wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung oder des Todes eines Angehörigen erteilt worden ist. (3) Der Gefangene erhält für die Zeit der Freistellung seine zuletzt gezahlten Bezüge weiter. (4) Urlaubsregelungen der Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Strafvollzuges bleiben unberührt.
VV 1 § 42 Abs. 1 StVollzG gewährt einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht, sobald der Gefangene innerhalb eines zu einem beliebigen Zeitpunkt beginnenden Zeitraumes von einem Jahr seine Arbeitspflicht erfüllt hat. 2 a) b) c) d)
Auf das Jahr (§ 42 Abs. 1 StVollzG) werden ferner angerechnet Zeiten, in denen der Gefangene Verletztengeld nach § 47 Abs. 6 SGB VII erhalten hat, Zeiten, in denen der Gefangene aus anderen als Krankheitsgründen eine Tätigkeit nach § 42 Abs. 1 StVollzG nicht ausgeübt hat, in der Regel bis zu drei Wochen jährlich, wenn dies angemessen erscheint, Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht und Urlaub aus der Haft, der nach § 42 Abs. 2 StVollzG anzurechnen ist, Zeiten einer Freistellung von der Arbeit nach § 43 Abs. 6 StVollzG und Arbeitsurlaub nach § 43 Abs. 7 StVollzG. 3
(1) Als Werktage (§ 42 Abs. 1 Satz 1 StVollzG) gelten alle Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage sind. (2) Erkrankt ein Gefangener während der Freistellung von der Arbeitspflicht, werden die Tage der Arbeitsunfähigkeit auf die Zeit der Freistellung nicht angerechnet. 4 (1) Die Freistellung kann nur innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch genommen werden. (2) Eine erneute Freistellung kann frühestens ein Jahr nach Vorliegen der Voraussetzungen für die vorhergehende Feistellung und in der Regel frühestens drei Monate nach der letzten Freistellung in Anspruch genommen werden. 5 Die Freistellung von der Arbeitspflicht ist von dem Gefangenen mindestens einen Monat vorher schriftlich zu beantragen. 6 Bei der Festsetzung des Zeitpunkts der Freistellung sind die betrieblichen Belange, der Stand einer Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme und die Möglichkeiten der Vollzugsgestaltung während der Freistellungszeit zu berücksichtigen.
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§ 42
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
7 Der Berechnung der Bezüge nach § 42 Abs. 3 StVollzG ist der Durchschnitt der letzten drei abgerechneten Monate vor der Freistellung, in denen der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe tätig war, zu Grunde zu legen. 8 Für Gefangene, die nach § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG oder § 175 StVollzG nicht zur Arbeit verpflichtet sind, gelten § 42 StVollzG und Nrn. 1 bis 7 entsprechend. Schrifttum: s. vor § 37
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Rechtsanspruch auf Freistellung 2. Voraussetzung der einjährigen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . 3. Umfang des Freistellungsanspruchs . . . . . . . . . . . . 4. Anrechnung eines gewährten Urlaubs (Absatz 2) . . . . . . . 5. Freistellung als Behandlungsmaßnahme . . . . . . . . . . .
1–3 4–15 4 5–9 10 11 12
Rdn. 6. Weiterzahlung von Bezügen (Absatz 3) . . . . . . . . . . 7. Geltung für arbeitende Gefangene, die nicht zur Arbeit verpflichtet sind . . . . . . . . 8. Vollzugsexternes Beschäftigungsverhältnis (Absatz 4) . III. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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. 15 . 16–18 . 16 . 17 . 18
I. Allgemeine Hinweise 1
a) Die Fassung des Abs. 1 gilt seit dem 1.1.1980 (§ 198 Abs. 2). Bis dahin bestand eine Übergangsfassung aus § 199 Abs. 1 Nr. 1, die es (als Kann-Vorschrift) den Vollzugsbehörden bei deren Ermessensentscheidungen in einer Art Vorlaufzeit ermöglichte, das Institut einer Freistellung von der Arbeitspflicht mit seinen organisatorischen, personellen und finanziellen Voraussetzungen und Auswirkungen in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des StVollzG zu erproben, ohne es sogleich in jeder Anstalt und für alle Gefangenen durchführen zu müssen. Seit der Neufassung des § 43 durch Art. 1 des 5. StVollzGÄndG vom 27.12.2000 (BGBl. I, 2043) mit Wirkung vom 1.1.2001 kennt das Gesetz über die Regelung des § 42 hinausgehend und unabhängig von den in dieser Norm festgelegten Voraussetzungen auch die Möglichkeit einer Freistellung von der Arbeit als eine nicht-monetäre Komponente der Entlohnung zugewiesener Pflichtarbeit. Gem. § 43 Abs. 1 kann diese zusätzlich zur arbeitsfreien Zeit i. S. d. § 42 als Arbeitsurlaub genutzt werden. § 43 Abs. 6 Satz 2 stellt klar, dass eine Freistellung nach § 43 unabhängig von derjenigen des § 42 zu beachten ist.
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b) Das Rechtsinstitut der Freistellung von der Arbeitspflicht entspricht dem bezahlten Urlaub im Arbeitsleben außerhalb des Vollzugs und ist somit eine Konkretisierung des allgemeinen Angleichungsgrundsatzes gem. § 3 Abs. 1 im Bereich der Arbeitswelt. Die Regelung geht davon aus, dass der Strafgefangene ebenso wie jeder in Freiheit arbeitende Mensch der körperlichen, geistigen und seelischen Erholung bedarf, wenn er längere Zeit hintereinander gearbeitet hat. Die arbeitsfreie Ferienzeit soll dem Ausruhen, der Entspannung und der Regeneration dienen und damit der Erhaltung von Arbeitskraft. Der Gefangene soll darüber hinaus an den normalen Arbeitsrhythmus außerhalb des Vollzugs ge-
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Freistellung von der Arbeitspflicht
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wöhnt bleiben (oder werden) und damit die Fähigkeiten für seine soziale Eingliederung in das Arbeitsleben nach der Entlassung stärken (BVerfGE 66, 199 = NStZ 1984, 572 m. Anm. Großkelwing). Zugleich stellt die Freistellung von der Arbeitspflicht i. S. d. § 42 eine Gegenleistung für erbrachte und – bei Fortdauer des Vollzugs – weiterhin zu erbringende Arbeit dar (OLG Nürnberg NStZ 1991, 102). c) Die Freistellung von der Arbeit deckt sich nicht mit dem Urlaub aus der Haft i. S. d. 3 § 13. § 42 lässt offen, ob der Gefangene die Zeit der Freistellung innerhalb oder außerhalb der Anstalt verbringt. Um die Anstalt während der Freistellungszeit verlassen zu können, müssen zusätzlich die besonderen Voraussetzungen für eine Gewährung entsprechender Vollzugslockerungen nach § 11 oder für einen Hafturlaub gem. § 13 gegeben sein.
II. Erläuterungen 1. Der gem. § 37 oder § 41 Abs. 1 Satz 2 arbeitende oder sich in Aus- bzw. Weiterbildung 4 befindliche Gefangene hat bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht und somit gem. Abs. 3 auf bezahlte arbeitsfreie Zeit (OLG Karlsruhe NStZ 1981, 455). Die Geltendmachung des Anspruchs kann jedoch gegen den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, wenn der Gefangene sich nach Entstehen des Anspruchs beharrlich weigert, seiner Arbeitspflicht gem. § 41 weiterhin nachzukommen (LG Regensburg NStZ 1981, 40 auch unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien sowie NStZ 1990, 303; ebenso OLG Nürnberg NStZ 1991, 102 m. zust. Anm. Molketin; zu Disziplinarmaßnahmen bei beharrlicher Arbeitsverweigerung § 102 Rdn. 14). 2. a) Voraussetzung des Freistellungsanspruchs ist eine einjährige Tätigkeit gem. § 37 5 oder Hilfstätigkeit gem. § 41 Abs. 1 Satz 2. Insoweit gilt nicht das Kalenderjahr, sondern die Jahresfrist beginnt mit dem Tag, an dem der Gefangene die ihm nach § 37 zugewiesene Beschäftigung oder die Hilfstätigkeit gem. § 41 Abs. 1 Satz 2 erstmals aufnimmt (vgl. VV Nr. 1; s. zur Berechnung noch VV Nr. 2 und 3), also bei jedem Gefangenen jeweils individuell mit der Arbeitsaufnahme, weil es anders als nach § 1 BUrlG keine Gleichsetzung von Urlaubsund Kalenderjahr gibt (LG Hamburg NStZ 1992, 103). b) Die auf das individuelle Beschäftigungsjahr anrechenbaren arbeitsfreien Zeiten, 6 die so berücksichtigt werden, als hätte der Gefangene tatsächlich gearbeitet, sind umstritten. Gesetzlich ist lediglich bestimmt, dass bis zu sechs Wochen jener Zeiten auf das Jahr angerechnet werden, in denen der Gefangene infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert war (Abs. 1 Satz 2). Damit wirken sich bis zu 30 krankheitsbedingte Ausfalltage im Jahr auf den Freistellungsanspruch nicht verzögernd aus. Neben dieser verbindlichen und abschließenden Regelung der zwingenden Anrechnung einer Arbeitsverhinderung durch Krankheit ist jedoch eine mögliche Berücksichtigung sonstiger Fehlzeiten nicht ausgeschlossen (a. A. OLG Hamm ZfStrVo 1982, 53); so sind z. B. nach Auffassung des OLG Nürnberg (NStZ 1995, 382) Zeiten, in denen der Unterricht aus von den Strafgefangenen nicht zu vertretenden Gründen ausfällt, bei der Berechnung des Freistellungsanspruchs zu berücksichtigen, da neben dem Unterricht auch die „häusliche“ Beschäftigung mit dem Lehrmaterial als Ausbildung i. S. d. § 37 Abs. 3 anzusehen ist. Inwieweit sonstige Fehlzeiten berücksichtigt werden, steht im pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörden (vgl. dazu BGHSt 35, 95, 98; OLG Celle StV 1982, 28, 29; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1982, 52, 53; Arloth 2008 Rdn. 4; Laubenthal 2008 Rdn. 411), welches durch die über die gesetzliche Regelung hinausgehenden Tatbestände in VV Nr. 2 jedoch grundsätzlich gebunden ist. So kommt es
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etwa zu einer unbegrenzten Anrechnung von Zeiten, in denen der Inhaftierte gem. § 47 Abs. 6 SGB VII Verletztengeld bezogen hat. Soweit es angemessen erscheint, können ferner Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht und Hafturlaub i. S. d. §§ 13, 35 in der Arbeitszeit, Freistellungen und Arbeitsurlaub nach § 43 Abs. 7 sowie sonstige Fehlzeiten von bis zu drei Wochen jährlich angerechnet werden. Allerdings darf hinsichtlich der Fälle gem. VV Nr. 2 Buchstabe b – über die Verwaltungsvorschrift hinausgehend – im Ausnahmefall sogar eine absolute Obergrenze von 30 Arbeitstagen zugrunde gelegt werden (OLG Stuttgart ZfStrVo 1987, 298). Eine großzügigere Anrechnung verbietet sich, da diese Grenze schon bei krankheitsbedingten Ausfalltagen, in denen die Fehltage unter Umständen zu keiner oder nur geringer Erholung führen konnten (zum Zweck der Vorschrift Rdn. 2), gem. Abs. 1 Satz 2 zu beachten ist (vgl. aber OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 197). 7 Auch verschuldete Fehlzeiten (z. B. durch Arrestvollzug versäumte Arbeitszeit) dürfen zumindest dann nicht zur Versagung der Freistellung führen, wenn bei dem Verhältnis der Dauer von Arbeitsleistung (Anwartschaftszeit) und Arbeitssäumnis sowie dem Zeitpunkt Letzterer im Einzelfall die Verweigerung bezahlten Arbeitsurlaubs willkürlich und unverhältnismäßig wäre (BVerfGE 66, 199 = NStZ 1984, 572 m. Anm. Großkelwing). Anderenfalls käme die Versagung in solchen Fällen einer zusätzlichen Sanktion für Fehlverhalten gleich, obwohl das StVollzG die zulässigen Disziplinarmaßnahmen bei schuldhaften Pflichtverstößen abschließend regelt und in § 103 der Entzug des Freistellungsanspruchs nicht aufgeführt ist. I.d.R. wird die Anrechnung verschuldeter Fehlzeiten (insbesondere Arbeitsverweigerung, Disziplinarverstöße und -maßnahmen) allerdings nicht angemessen sein (vgl. VV Nr. 2 Buchstabe b). Hinzu kommt, dass die Nichtanrechnung einer Fehlzeit regelmäßig nicht die Jahresfrist unterbricht (BGHSt 35, 95), was eine zurückhaltende Ausweitung der Anrechnungsmöglichkeiten rechtfertigt (Arloth 2008 Rdn. 4).
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c) Für den Fall, dass mehr als sechs Wochen aus Krankheitsgründen (Abs. 1 Satz 2) und/oder mehr als drei Wochen aus anderen als Krankheitsgründen (VV Nr. 2 Buchstabe b) zu Fehlzeiten führen, welche eine Arbeitszeit von weniger als einem Jahr ergeben, sieht das Gesetz keine anteilige Freistellung vor (BGHSt 35, 93, dazu Pfister NStZ 1988, 117 f; s. auch OLG Hamm NStZ 1986, 527; OLG Stuttgart ZfStrVo 1987, 298; Arloth 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 412; Sigel 1985, 276). Jedoch führt die Überschreitung von an sich anrechenbaren Fehlzeiten oder das Vorhandensein von nicht anrechenbaren (verschuldeten; s. Rdn. 7) Fehlzeiten nicht zur Unterbrechung der Jahresfrist mit Verlust der bis dahin erarbeiteten Anwartschaftszeiten. Vielmehr tritt eine Hemmung der Jahresfrist ein, so dass der Gefangene durch zeitlich entsprechende Fortsetzung seiner Tätigkeit die Voraussetzung für den Freistellungsanspruch noch erfüllen kann (BGHSt 35, 95). Anderes gilt, wenn die geleistete Arbeit auch bei großzügiger Betrachtungsweise nicht mehr den Zusammenhang mit „einem Jahr“ wahrt (OLG Hamm ZfStrVo 1989, 312). Anderenfalls würden die mit dem Institut der Freistellung verfolgten Zielsetzungen der Periodisierung des Arbeitslebens und der Erholung (s. Rdn. 2) außer Acht gelassen. Damit führt eine bloße Addierung von geleisteten Arbeitstagen bis zum Erreichen einer für ein Jahr erforderlichen Summe ohne Rücksicht auf die Dauer der Fehlzeiten zu keiner automatischen Gewährung einer Freistellung.
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d) Der Gefangene muss die vorausgesetzten Tätigkeiten ein Jahr lang auch tatsächlich ausgeübt haben. Eine bloße Arbeitsbereitschaft genügt aus den unter Rdn. 2 dargelegten Gründen nicht. Während der sog. Betriebsferien in Eigen- oder Unternehmerbetrieben der Anstalten, in denen nicht oder nur teilweise gearbeitet wird, sind die Gefangenen nicht von einer ihnen zugewiesenen Tätigkeit freigestellt. Vielmehr sind sie in dieser Zeit unbeschäftigt, weil eine Beschäftigung nicht möglich ist. Infolgedessen fehlt es auch an einer Pflicht
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Freistellung von der Arbeitspflicht
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zur Weiterzahlung der früheren Bezüge. Eine Freistellung könnte nur im Einzelfall bei Vorliegen aller Voraussetzungen vor dem Beginn der Betriebsferien für diese Zeit erfolgen. 3. Der Freistellungsanspruch umfasst 18 Werktage. Das entsprach bei Erlass des 10 StVollzG dem Mindesturlaubsanspruch im BUrlG in der Fassung vom 29.10.1974 (BGBl. I, 2879). Der Erhöhung des Mindesturlaubs in § 3 Abs. 1 BUrlG hat der Gesetzgeber für den Bereich der Freistellung nach § 42 nicht entsprochen. Auch eine über 18 Tage hinausgehende – etwa für Schwerbehinderte nach § 125 SGB IX – Freistellung ist ausgeschlossen. Körperlichen Behinderungen ist im Strafvollzug gem. § 41 Abs. 1 Satz 1 StVollzG dadurch Rechnung zu tragen, dass dem Gefangenen eine seinen körperlichen Fähikgeiten entsprechende Arbeit zugewiesen wird (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 187). Als Werktage i. S. von § 42 Abs. 1 Satz 1 gelten alle Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage sind (VV Nr. 3 Abs. 1), also auch Samstage (OLG Stuttgart ZfStrVo 1982, 127; OLG Hamm ZfStrVo 1983, 124; Arloth 2008 Rdn. 5). Mithin kann der Gefangene bei in den Freistellungszeitraum fallenden arbeitsfreien Samstagen, die kein gesetzlicher Feiertag sind, eine Vergütung nicht verlangen. – Im Übrigen enthalten die VV im Interesse einer bundeseinheitlichen Handhabung Einzelheiten zum Verfahren von der Antragsfrist bis zur Durchführung (vgl. VV Nr. 4 bis 6). Insbesondere muss nach VV Nr. 4 Abs. 2 die Freistellung vollständig innerhalb eines Jahres genommen werden; eine Übertragung von Freistellungsresten auf das nächste Jahr ist nicht vorgesehen. 4. Auf die Freistellungszeit wird nach Abs. 2 ein gewährter Urlaub aus der Haft gem. 11 § 13 und § 35 angerechnet, soweit er in die Arbeitszeit fällt. Hat der Gefangene seinen Regelurlaub gem. § 13 z. B. jedoch auf seinen Antrag – wie in vielen Fällen üblich – ausschließlich am Sonnabend und Sonntag bzw. über gesetzliche Feiertage genommen, entfällt mithin eine Anrechnung. Sie unterbleibt ferner beim Sonderurlaub aus wichtigem Anlass gem. § 35 Abs. 1 dann, wenn der Urlaubsgrund eine lebensgefährliche Erkrankung oder der Tod eines Angehörigen war. Ergänzend ist in VV Nr. 3 Abs. 2 bestimmt, dass im Falle der Erkrankung eines Gefangenen während der Freistellung von der Arbeitspflicht die Tage der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht auf die Zeit der Freistellung angerechnet werden. 5. Die Freistellung ist eine Behandlungsmaßnahme und darf im konkreten Fall 12 nicht im Widerspruch zu anderen Behandlungsmaßnahmen stehen. Es bedarf, worauf auch VV Nr. 6 hinweist, einer Einbeziehung in die Vollzugsplanung (§ 7) mit der möglichen Folge im Einzelfall, dass bei (etwa wiederholter) Gewährung von Urlaub für einen Arbeitstag je Woche auch auf Antrag des Gefangenen der Freistellungsanspruch auf die einzelnen Urlaubstage verteilt werden kann – und zwar entgegen dem sog. Stückelungsverbot des Urlaubsanspruchs (vgl. § 7 Abs. 2 BUrlG). Bei nicht lockerungsfähigen Gefangenen bleibt dagegen das Prinzip der zusammenhängenden Freistellungsgewährung anwendbar. Für diese Gefangenen gilt VV Nr. 4 Abs. 2 (vgl. auch AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 20). Bei solchen freigestellten Inhaftierten, die die Anstalt während der Freistellungszeit nicht im Wege von Vollzugslockerungen oder Hafturlaub verlassen können (Rdn. 3), sollte für eine sinnvolle Freizeitgestaltung in der Anstalt Sorge getragen werden. 6. Nach Abs. 3 erhält der Gefangene für die Zeit der Freistellung seine zuletzt gezahlten 13 Bezüge weiter. Darunter fallen sowohl Arbeitsentgelt (§ 43) als auch Ausbildungsbeihilfe (§ 44). Der Begriff „zuletzt gezahlt“ lässt den Abrechnungszeitraum ausdrücklich offen, der je nach der vorhandenen Betriebs-, Arbeitsverwaltungs- oder Anstaltsorganisation eine oder mehrere Wochen, aber auch Tage oder Monate betragen kann. Einem davon abweichenden Abrechnungszeitraum gem. Abs. 3 steht nicht entgegen, dass aus anderen Gründen (z. B. wegen des zumeist monatlichen Zusatzeinkaufs und des dazu benötigten Hausgeldes gem.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 47) Teilbeträge des Arbeitsentgelts als periodische Abschlagszahlungen geleistet werden. Im Interesse einer bundeseinheitlichen Praxis legt VV Nr. 7 jedoch fest, dass der Berechnung der Bezüge der Durchschnitt der letzten drei abgerechneten Monate vor der Freistellung zugrunde zu legen ist. Bei der Ermittlung des täglichen Durchschnittsarbeitsentgelts ist nicht die Soll-Arbeitszeit, sondern die tatsächlich erbrachte Arbeitszeit des betreffenden Strafgefangenen ausschlaggebend; allerdings sind vom Gefangenen nicht zu vertretende Ausfallzeiten (z. B. Besuchszeiten, Behandlungsgespräche, Anhörungen) nicht zu seinem Nachteil zu verwerten (OLG Hamm ZfStrVo 1996, 47).
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7. Wird Gefangenen, die gem. § 41 Abs. 1 Satz 3 oder im Vollzug von Zivilhaft nach § 175 nicht zur Arbeit verpflichtet sind, gleichwohl auf ihren Wunsch eine Tätigkeit gem. § 37 oder § 41 Abs. 1 Satz 2 zugewiesen, so gelten für sie die Regelungen des § 42 einschließlich der VV Nr. 1 bis 7 entsprechend. Wenn die Voraussetzungen von § 42 Abs. 1 und 2 vorliegen, ist auch ihnen eine Freistellung von der Arbeit zu gewähren, worauf VV Nr. 8 ausdrücklich hinweist. Das gilt jedoch nicht für Untersuchungsgefangene (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 378). Auch haben Strafgefangene (BGHSt 35, 112 = NStZ 1988, 150 mit Besprechung Pfister NStZ 1988, 117, 118) keinen Anspruch auf Anrechnung von während vorangegangener Untersuchungshaft geleisteter Arbeit. Der BGH verweist insoweit auf das in § 42 Abs. 1 Satz 1 normierte Erfordernis einer Tätigkeit nach § 37 bzw. einer Hilfstätigkeit gem. § 41 Abs. 1 Satz 2. Die Zuweisung zu diesen Beschäftigungen korrespondiert mit der Arbeitspflicht des § 41 Abs. 1 Satz 1; der Freistellungsanspruch setzt somit eine vorangegangene Tätigkeit in Erfüllung der Arbeitspflicht voraus. Einer solchen unterliegt aber allein der Strafgefangene, nicht auch der Untersuchungshäftling (Nr. 42 UVollzO). Übt Letzterer eine Arbeit aus, handelt es sich nicht um eine Tätigkeit i. S. d. §§ 37 oder 41. Auch das BVerfG (NStZ 2004, 514 m. Anm. Rotthaus) geht davon aus, dass der Gesetzgeber mit Rücksicht auf die unterschiedliche Bedeutung der Arbeit nach den Zweckbestimmungen von Straf- bzw. Untersuchungshaft nicht gehalten ist, die von erwachsenen Untersuchungsgefangenen geleistete Arbeit in gleicher Weise wie die Arbeit von Strafgefangenen anzuerkennen.
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8. Urlaubsregelungen der Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Strafvollzugs bleiben gem. Abs. 4 unberührt. Dies gilt für die freien Beschäftigungsverhältnisse (§ 39) mit ihren jeweiligen vertraglichen Vereinbarungen und arbeitsrechtlichen Regelungen. Die Bestimmung ist auch im Interesse der Arbeitgeber bzw. Ausbilder in den Betrieben außerhalb des Vollzugs notwendig, deren betriebliche Organisation nicht mit Rücksicht auf den Gefangenen geändert werden kann. So bleibt etwa nach der vollzugsgesetzlichen Regelung in Niedersachsen der Untersuchungsgefangene gem. § 152 Abs. 1 NJVollzG nicht zur Arbeit verpflichtet oder § 152 Abs. 3 Satz 3 NJVollzG verweist bezüglich der entsprechend anzuwendenden Vorschriften über den Freiheitsstrafenvollzug nicht auf die Norm über die Freistellung von der Arbeitspflicht (§ 39 NJVollzG, dazu Rdn. 9).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 45 BayStVollzG entspricht, abgesehen von den geänderten Verweisungen auf Landesrecht sowie der Abfassung im Plural, weitestgehend § 42 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 39 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Gefangene, die sechs Monate lang zusammenhängend eine Tätigkeit nach § 34 oder eine Hilfstätigkeit nach § 38 Absatz 1 Satz 2 ausgeübt haben,
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Freistellung von der Arbeitspflicht
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werden auf ihren Antrag hin elf Arbeitstage von der Arbeitspflicht freigestellt. Zeiten, in denen die Gefangenen infolge Krankheit an ihrer Arbeitsleistung verhindert waren, werden bis zu drei Wochen halbjährlich angerechnet. Auf die Zeit der Freistellung von der Arbeitspflicht werden Lockerungen nach § 12 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 angerechnet, soweit sie in die Arbeitszeit fallen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „[Die Vorschrift] verändert mit Blick auf die neue Regelung der Freistellung von der Haft in § 41 aber den Referenzzeitraum für die Berechnung der Freistellung von der Arbeitspflicht, indem statt eines Jahres zukünftig sechs Monate zugrunde gelegt werden. Bezogen auf diesen Zeitraum, können die Gefangenen, sofern sie die Voraussetzungen erfüllen, zukünftig 12 [bzw. 11 Arbeitstage nach dem neusten Gesetzentwurf, LT-Drucks. 19/2533, 56] Kalendertage von der Arbeitspflicht freigestellt werden. Hochgerechnet auf den nach dem Strafvollzugsgesetz zugrunde zu legenden Referenzzeitraum eines Jahres bedeutet dies eine Freistellung von 24 [22] Kalendertagen im Jahr. Mit Rücksicht darauf, dass bisher eine Freistellung ausschließlich an Werktagen möglich war, also an allen Tagen, die nicht Sonn oder Feiertage sind (vgl. VV Nummer 3 Absatz 1 zu § 42 StVollzG), führt die Neuregelung zu einer Verlängerung des Freistellungszeitraumes von bisher in der Regel drei Wochen (achtzehn Werktage) auf zukünftig drei Wochen und drei Tage (24 Kalendertage) [22 Kalendertage].“ § 39 Abs. 1 Satz 3 HmbStVollzG entspricht dabei § 42 Abs. 2. § 39 Abs. 2 normiert: „Die Freistellung von der Arbeitspflicht kann nur innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf eines Berechnungszeitraumes in Anspruch genommen werden. Die Gesamtdauer der Freistellungen von der Arbeitspflicht innerhalb eines Jahres darf zweiundzwanzig Arbeitstage nicht übersteigen“ und übernimmt damit im Wesentlichen VV Nr. 4 zu § 42. Abs. 3 und 4 entsprechen § 42 Abs. 3 und 4. 3. Niedersachsen § 39 Abs. 1 bis 4 NJVollzG lauten: „(1) Hat die oder der Gefangene ein Jahr lang eine zu- 18 gewiesene Tätigkeit ausgeübt, so kann sie oder er beanspruchen, für die Dauer des jährlichen Mindesturlaubs nach § 3 Abs. 1 des Bundesurlaubsgesetzes von der Arbeitspflicht freigestellt zu werden; Zeiträume von unter einem Jahr bleiben unberücksichtigt. Die Freistellung kann nur innerhalb eines Jahres nach Entstehung des Freistellungsanspruchs in Anspruch genommen werden. Auf die Frist nach Satz 1 werden Zeiten, 1. in denen die oder der Gefangene infolge Krankheit an ihrer oder seiner Arbeitsleistung gehindert war, mit bis zu sechs Wochen jährlich, 2. in denen die oder der Gefangene Verletztengeld nach § 47 Abs. 6 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs erhalten hat, 3. in denen die oder der Gefangene nach Satz 1 oder nach § 40 Abs. 5 von der Arbeitspflicht freigestellt war und 4. die nach Absatz 3 auf die Freistellung angerechnet werden oder in denen die oder der Gefangene nach § 40 Abs. 6 beurlaubt war, angerechnet. Zeiten, in denen die oder der Gefangene ihrer oder seiner Arbeitspflicht aus anderen Gründen nicht nachgekommen ist, können in angemessenem Umfang angerechnet werden. Erfolgt keine Anrechnung nach Satz 3 oder 4, so wird die Frist für die Dauer der Fehlzeit gehemmt. Abweichend von Satz 5 wird die Frist durch eine Fehlzeit unterbrochen, die unter Berücksichtigung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 außer Verhältnis zur bereits erbrachten Arbeitsleistung steht. (2) Der Zeitraum der Freistellung muss mit den betrieblichen Belangen vereinbar sein. (3) Auf die Zeit der Freistellung wird Urlaub nach § 13 oder 14 Abs. 1 angerechnet, soweit er in die Arbeitszeit fällt und nicht wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung oder des Todes Angehöriger gewährt worden ist. (4) Der oder dem Gefangenen wird für die Zeit der Freistellung das Arbeitsentgelt oder die Ausbildungsbeihilfe fortgezahlt. Dabei ist der Durchschnitt der letzten drei abgerechneten Monate zugrunde zu legen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu:
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
„Die Absätze 1 bis 4 entsprechen bis auf redaktionelle Änderungen der Fassung des § 42 Abs. 1 bis 4 StVollzG.“ Partiell in Abs. 1 u. 2 der landesgesetzlichen Regelung integriert wurde die VV zu § 42 StVollzG. Abs. 5 NJVollzG entspricht § 42 Abs. 4 StVollzG.
§ 43 Arbeitsentgelt, Arbeitsurlaub und Anrechnung der Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt (1) Die Arbeit des Gefangenen wird anerkannt durch Arbeitsentgelt und eine Freistellung von der Arbeit, die auch als Urlaub aus der Haft (Arbeitsurlaub) genutzt oder auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden kann. (2) Übt der Gefangene eine zugewiesene Arbeit, sonstige Beschäftigung oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts ist der in § 200 bestimmte Satz der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zugrundezulegen (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung; das Arbeitsentgelt kann nach einem Stundensatz bemessen werden. (3) Das Arbeitsentgelt kann je nach Leistung des Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden. 75 vom Hundert der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen des Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen. (4) Übt ein Gefangener zugewiesene arbeitstherapeutische Beschäftigung aus, erhält er ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. (5) Das Arbeitsentgelt ist dem Gefangenen schriftlich bekanntzugeben. (6) Hat der Gefangene zwei Monate lang zusammenhängend eine zugewiesene Tätigkeit nach § 37 oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 ausgeübt, so wird er auf seinen Antrag hin einen Werktag von der Arbeit freigestellt. Die Regelung des § 42 bleibt unberührt. Durch Zeiten, in denen der Gefangene ohne sein Verschulden durch Krankheit, Ausführung, Ausgang, Urlaub aus der Haft, Freistellung von der Arbeitspflicht oder sonstige nicht von ihm zu vertretende Gründe an der Arbeitsleistung gehindert ist, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von weniger als zwei Monaten bleiben unberücksichtigt. (7) Der Gefangene kann beantragen, dass die Freistellung nach Absatz 6 in Form von Urlaub aus der Haft gewährt wird (Arbeitsurlaub). § 11 Abs. 2, § 13 Abs. 2 bis 5 und § 14 gelten entsprechend. (8) § 42 Abs. 3 gilt entsprechend. (9) Stellt der Gefangene keinen Antrag nach Absatz 6 Satz 1 oder Absatz 7 Satz 1 oder kann die Freistellung nach Maßgabe der Regelung des Absatzes 7 Satz 2 nicht gewährt werden, so wird die Freistellung nach Absatz 6 Satz 1 von der Anstalt auf den Entlassungszeitpunkt des Gefangenen angerechnet. (10) Eine Anrechnung nach Absatz 9 ist ausgeschlossen, 1. soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verbüßt wird und ein Entlassungszeitpunkt noch nicht bestimmt ist, 2. bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung, soweit wegen des von der Entscheidung
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des Gerichts bis zur Entlassung verbleibenden Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist, 3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung die Lebensverhältnisse des Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern, 4. wenn nach § 456a Abs. 1 der Strafprozessordnung von der Vollstreckung abgesehen wird, 5. wenn der Gefangene im Gnadenwege aus der Haft entlassen wird. (11) Soweit eine Anrechnung nach Absatz 10 ausgeschlossen ist, erhält der Gefangene bei seiner Entlassung für seine Tätigkeit nach Absatz 2 als Ausgleichsentschädigung zusätzlich 15 vom Hundert des ihm nach den Absätzen 2 und 3 gewährten Entgelts oder der ihm nach § 44 gewährten Ausbildungsbeihilfe. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung; vor der Entlassung ist der Anspruch nicht verzinslich, nicht abtretbar und nicht vererblich. Einem Gefangenen, bei dem eine Anrechnung nach Absatz 10 Nr. 1 ausgeschlossen ist, wird die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld (§ 52) gutgeschrieben, soweit er nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen wird; § 57 Abs. 4 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend. VV 1 (1) Verrichtet ein Gefangener während eines Abrechnungszeitraumes Tätigkeiten, die verschiedenen Vergütungsstufen zuzuordnen sind, so ist das Arbeitsentgelt aus der Vergütungsstufe zu ermitteln, die dem überwiegenden Teil der Tätigkeiten entspricht. Dies gilt nicht, wenn der Gefangene in verschiedenen Betrieben arbeitet. (2) Verrichtet ein Gefangener nicht nur vorübergehend eine anders bewertete Tätigkeit, so ist er mit Beginn des nächsten Abrechnungszeitraumes in die entsprechende Vergütungsstufe umzugruppieren. 2 (1) Das Arbeitsentgelt wird in der Form des Zeitlohnes oder des Leistungslohnes ermittelt. (2) Zeiten einer Einarbeitung können im Zeitlohn vergütet werden. (3) Im Zeitlohn kann der Satz der jeweiligen Vergütungsstufe unterschritten werden, wenn der Gefangene den Anforderungen der jeweiligen Vergütungsstufe nicht genügt. § 43 Abs. 3 Satz 2 StVollzG bleibt unberührt. 3 Neben dem Arbeitsentgelt können Leistungen für betriebliche Verbesserungsvorschläge gewährt werden. Der Anstaltsleiter entscheidet, ob eine Leistung für einen betrieblichen Verbesserungsvorschlag als Hausgeld, Überbrückungsgeld oder Eigengeld gutgeschrieben wird. 4 (1) Ein Beschäftigungszeitraum im Sinne des § 43 Abs. 6 Satz 1 StVollzG endet, wenn ein Gefangener aus von ihm verschuldeten Gründen seine Tätigkeit unterbricht. Mit der erneuten Arbeitsaufnahme beginnt die Frist von Neuem. (2) Wird die Zweimonatsfrist durch ein unverschuldetes Ereignis im Sinne des § 43 Abs. 6 Satz 3 StVollzG gehemmt, so verlängert sich der Zeitraum zur Erfüllung des Zweimonatszeitraums um die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage. Klaus Laubenthal
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5 (1) Für die Gewährung der Freistellung von der Arbeit gelten Nr. 3 Abs. 2, Nr. 4 Abs. 1, Nrn. 5 und 6 der VV zu § 42 StVollzG entsprechend. (2) Als Werktage (§ 43 Abs. 6 Satz 1 StVollzG) gelten alle Kalendertage, die nicht Sonntage, gesetzliche Feiertage oder Samstage sind. Nr. 6 Abs. 2 gilt entsprechend. (3) Für die Berechnung der Bezüge nach § 43 Abs. 8 StVollzG gilt Nr. 7 VV zu § 42 StVollzG entsprechend. Sofern weniger als drei Monate abgerechnet sind, sind diese zu Grunde zu legen. 6 (1) Für Urlaub nach dem § 43 Abs. 7 StVollzG gilt § 35 Abs. 2 StVollzG entsprechend. Die VV zu §§ 11, 13 und 14 StVollzG gelten sinngemäß. (2) Mit Zustimmung der Gefangenen kann Arbeitsurlaub auch an Sonntagen, gesetzlichen Feiertagen und Samstagen gewährt werden. Schrifttum: Britz Leistungsgerechtes Arbeitsentgelt für Strafgefangene?, in: ZfStrVo 1999, 195; Butzkies Die Pfändbarkeit von Geldforderungen an Strafgefangene, in: ZfStrVo 1996, 345; Calliess Die Neuregelung des Arbeitsentgelts im Strafvollzug, in: NJW 2001, 1692; Fluhr Zur Pfändbarkeit der Forderungen des Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1989, 103; ders. Die Pfändbarkeit der Forderungen eines zum Freigang zugelassenen Strafgefangenen, in: NStZ 1994, 115; Hagemann Leistungsgerechte Entlohnung im Strafvollzug: das Hamburger Modell, in: MschrKrim 1995, 341; Hardes Förderung der beruflichen Weiterbildung im Justizvollzug nach den Vorschriften des SGB III, in: ZfStrVo 1998, 147; Jehle Arbeit und Entlohnung von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1994, 259; ders. Lohnt sich die Gefangenenarbeit? Grundsätzliche Fragen zu Arbeit und Entlohnung im Strafvollzug, in: Häußling/Reindl (Hrsg.), GS Busch, Pfaffenweiler 1995, 493; Konrad Pfändbarkeit der Geldforderungen von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1990, 203; Kruis/Wehowsky Fortschreibung der verfassungsrechtlichen Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, in: NStZ 1998, 593; Landau/Kunze/Poseck Die Neuregelung des Arbeitsentgelts im Strafvollzug, in: NJW 2001, 2611; Laubenthal Arbeitsverpflichtung und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, in: Schlüchter (Hrsg.), FS Geerds, Lübeck 1995, 337; Lohmann Arbeit und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, Frankfurt a.M. 2002; Lüke (Hrsg.) Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 3, 2. Aufl., München 2001; Musielak (Hrsg.) Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl., München 2005; Neu Wirtschaftsfaktor: Gefängnis, in: Neue Kriminalpolitik 2/1995, 35; ders. Betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, Berlin 1995; ders. Ökonomische Aspekte einer leistungsorientierten Arbeitsentlohnung im Strafvollzug – Gesetzliche Regelungen und derzeitige Realität, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger: eine Bilanz nach 20 Jahren Strafvollzugsgesetz, Freiburg i. Br. 1998, 101; ders. Arbeitsentgelt im Strafvollzug: Neuregelung auf dem kleinsten Nenner, in: BewHi 2002, 83; Pörksen Neuregelung der Gefangenen-Entlohnung, in: Neue Kriminalpolitik 1/2001, 5; Radtke Die Zukunft der Arbeitsentlohnung von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 2001, 4; Schäfer Nicht-monetäre Entlohnung von Gefangenenarbeit, Frankfurt a.M. u. a. 2005; Schriever Praktische Erfahrungen mit § 43 StVollzG, in: ZfStrVo 2002, 86; Schüler-Springorum Angemessene Anerkennung als Arbeitsentgelt, in: Feuerhelm u. a. (Hrsg.), FS Böhm, Berlin – New York 1999, 219; Seidler/Schaffner/Kneip Arbeit im Vollzug; neue Wege in der Betriebsführung, in: ZfStrVo 1988, 328; Sigel Alternative Überlegungen zur Verbesserung der Gefangenenentlohnung, in: ZfStrVo 1995, 81; Ullenbruch Neuregelung des Arbeitsentgelts für Strafgefangene – Sand in die Augen des BVerfG?, in: ZRP 2000, 177. S. auch bei § 37
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Monetäre Komponente . . . . . a) Rechtsanspruch bei tatsächlich ausgeübter Arbeit . . . . . . b) Berechnungsmaßstab . . . . c) Bemessung von Tages- und Stundensatz . . . . . . . . . d) Stufung des Arbeitsentgelts . e) Berechnungsbeispiel . . . . . f) Anwendbarkeit auf andere Haftarten . . . . . . . . . . . g) Zusätzliche Prämien . . . . . h) Schriftliche Mitteilung . . . .
1–5 6–30 6–17 6 7 8 9–10 11 12 13 14
Rdn. i) Zweckgebundene Aufteilung der Einkünfte . . . . . . . j) Pfändbarkeit des Arbeitsentgelts . . . . . . . . . . . 2. Nicht-monetäre Komponente . a) Freistellung von der Arbeit . b) Arbeitsurlaub . . . . . . . c) Anrechnung auf Entlassungszeitpunkt . . . . . . . . . . d) Ausgleichsentschädigung . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
.
15
. . . .
16–17 18–30 19–21 22–23
. 24–25 . 26–30 . 31–33 . 31 . 32 . 33
I. Allgemeine Hinweise § 43 regelt die Anerkennung der von Strafgefangenen geleisteten Pflichtarbeit nach 1 §§ 37, 41 Abs. 1 Satz 2. Die Vorschriften wurden durch Art. 1 Nr. 2 und 9 5. StVollzGÄndG vom 27.12.2000 (BGBl. I, 2043) neu gefasst und traten am 1.1.2001 in Kraft. Die Regelung ist die Konsequenz aus der Entscheidung des BVerfG vom 1.7.1998 (BVerfGE 98, 169), in welcher das Gericht die zuvor geltende Bemessung des Arbeitsentgelts als mit dem Resozialisierungsgebot unvereinbar erklärte und die Legislative zu einer angemessenen Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit verpflichtete. Mit der Einführung eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt bei Ausübung zugewiesener 2 Arbeit, sonstiger Beschäftigung oder einer Hilfstätigkeit i. S. d. § 41 Abs. 1 Satz 2 StVollzG ging der Gesetzgeber davon aus, „dass der Vollzug der Freiheitsstrafe keine weiteren Einschränkungen für den Gefangenen mit sich bringen soll, als es für den Freiheitsentzug und die für die künftige straffreie Lebensführung erforderliche Behandlung notwendig ist. Die Gewährung eines echten Arbeitsentgelts ist darüber hinaus als wesentliches Mittel der Behandlung selbst zu verstehen, weil sie dem Gefangenen die Früchte seiner Arbeit vor Augen führt. Sie dient zugleich der Eingliederung, weil sie dem Gefangenen ermöglicht, zum Lebensunterhalt seiner Angehörigen beizutragen, Schaden aus seiner Straftat wieder guzumachen und Ersparnisse für den Übergang in das normale Leben zurückzulegen“ (BT-Drucks. 7/918, 67). Die Arbeit in den Justizvollzugsanstalten ist jedoch im Gegensatz zu den Verhältnissen in der freien Wirtschaft Einschränkungen ausgesetzt, welche die Produktivität im Ergebnis verringern. Teilweise veraltete Betriebseinrichtungen, ein vollzugsbedingter häufiger Wechsel von Arbeitskräften, Einsatz an berufsfremden Arbeitsplätzen, die organisatorisch nicht zu vermeidende Durchführung besonderer Behandlungsmaßnahmen – auch während der Arbeitszeit – bedingen eine unterschiedliche Rentabilität. Der Gesetzgeber hielt daher die Festschreibung einer Entlohnung von Gefangenenarbeit nach ortsüblichen Tarifen für unangebracht und stellte eine niedrigere Bemessung durch Anknüpfung an das jeweilige durchschnittliche Arbeitsentgelt aller in der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (ohne Auszubildende) Versicherten i. S. d. § 18 SGB IV her. Damit erhöht sich (mit einem Rückstand von zwei Jahren) der Arbeitslohn entsprechend den allgemeinen Einkommenssteigerungen. Der Gefangene erhielt jedoch bis zur Neuregelung der Arbeitsentlohnung durch das 3 5. StVollzGÄndG lediglich eine Eckvergütung, die nach § 200 Abs. 1 a. F. mit nur fünf vom
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Hundert der Bemessungsgröße nach § 18 SGB IV festgesetzt wurde. Der zweihundertfünfzigste Teil dieser Eckvergütung ergab dann den Tagessatz, wobei dieser im Jahr 2000 bei nur 10,75 DM (5,50 EUR) lag. Die aus § 200 Abs. 1 a. F. folgende niedrige Entlohnung der Gefangenenarbeit aus Rücksicht auf die Länderhaushalte sollte eigentlich vier Jahre nach In-Kraft-Treten des StVollzG ihr Ende finden. So bestimmte § 200 Abs. 2 a. F., dass über eine Erhöhung des fünfprozentigen Anteils an der Bezugsgröße i. S. d. § 18 SGB IV bis zum 31. Dezember 1980 befunden werden musste. Dieser eigenen Verpflichtung kam die Legislative allerdings nicht nach, so dass die ursprünglich geplante Zahlung des 250. Teils von 80 % des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung nicht realisiert wurde. Sämtliche Anläufe zur Erhöhung des Prozentsatzes scheiterten (s. z. B. BT-Drucks. 8/3335, BR-Drucks. 637/80). Selbst eine geringfügige Anhebung auf 6 % ließ sich nicht durchsetzen (s. BT-Drucks. 11/3694, 6, 13). Da § 200 Abs. 2 a. F. jedoch eine bloße Selbstbindung des Gesetzgebers enthielt, konnten die Strafgefangenen aus dieser Norm keinen Anspruch auf einen höheren Arbeitslohn herleiten (KG NStZ 1990, 608). Eine Verbesserung des Arbeitsentgelts wurde allerdings über Jahre hinweg anhand unterschiedlicher Modelle diskutiert (s. z. B. Jehle 1994, 266; Neu 1995, 105 ff; Sigel 1995, 81 ff) bzw. erprobt (s. Hagemann 1995, 343 ff). Die Möglichkeiten einer tatsächlichen entscheidenden Reform zugunsten der Betroffenen blieben jedoch angesichts der fiskalischen Situation der Länderhaushalte eingeschränkt. Das geringere Arbeitsentgelt gem. §§ 43, 200 a. F. hatte mehrere Gefangene dazu veranlasst, Verfassungsbeschwerden einzulegen, nachdem Anträge auf tarifgerechte Entlohnung der jeweils von ihnen erbrachten Tätigkeiten erfolglos blieben. Eine Strafvollstreckungskammer legte dem BVerfG zudem im Wege des konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Frage der Arbeitsentlohnung zur Entscheidung vor. Das BVerfG fasste die Verfahren zu einer einheitlichen, am 1.7.1998 ergangenen Entscheidung zusammen (BVerfGE 98, 169). 4 Das BVerfG geht in seinem Urteil von der Zulässigkeit von Zwangsarbeit im Vollzug als Resozialisierungsmittel aus. Aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG folgert es allerdings, dass nur unter bestimmten Voraussetzungen die Auferlegung von Zwangsarbeit zur Resozialisierung dienen kann: „Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muss nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muss freilich geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Nur wenn der Gefangene eine solchermaßen als sinnvoll erlebbare Arbeitsleistung erbringen kann, darf der Gesetzgeber davon ausgehen, dass durch die Verpflichtung zur Arbeit einer weiteren Desozialisation des Gefangenen entgegengewirkt wird und dieser sich bei der Entwicklung beruflicher Fähigkeiten sowie bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit auf ein positives Verhältnis zur Arbeit zu stützen vermag“ (BVerfGE 98, 169, 201). Dem Gesetzgeber wurde vom BVerfG ein weiter Spielraum eingeräumt, wie er seiner Verpflichtung nachzukommen hatte, der Gefangenenarbeit die angemessene Anerkennung zuzugestehen. In erster Linie kommt die Gewährung eines finanziellen Entgelts in Betracht. Dieses muss eine Höhe erreichen, die den Einsatz der Arbeitsleistung zur Bestreitung des Lebensunterhalts als sinnvoll erscheinen lässt (BVerfGE 98, 169, 202). Allerdings dürfen auch die Marktferne der Gefangenenarbeit, deren Kosten und die Konkurrenz mit dem normalen Markt Berücksichtigung finden (BVerfGE 98, 169, 203). Das BVerfG lässt die Einführung von Elementen und Mechanismen des normalen Arbeitsmarkts zur Differenzierung zwischen Tätigkeiten unterschiedlicher Art und Qualität auch im Bereich des Strafvollzugs zu. Damit soll dem Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 Rechnung getragen werden. Freilich dürfen insoweit nicht zu hohe Anforderungen an die
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Gefangenen gestellt werden, da diese vielfach erst das Arbeiten üben müssen (vgl. dazu Schüler-Springorum 1999, 222). Eine Einteilung in verschiedene Lohngruppen oder leistungsorientierte Entlohnung sieht das BVerfG als zulässig an, wenn eine sachgerechte Auswahl der Gefangenen nach ihrer Qualifikation erfolgt und Weiterbildungsangebote für geeignete Inhaftierte bereitgestellt werden (BVerfGE 98, 169, 203). Das BVerfG führt in seinem Urteil weiter aus, dass der Gesetzgeber sich bei einer Regelung der Arbeitsentlohnung auch für ein Konzept entscheiden darf, in dem die Arbeitsleistung neben oder anstelle einer Lohnzahlung andere Formen der Anerkennung erfährt (zweifelnd insoweit das Minderheitsvotum, BVerfGE 98, 169, 218 mit krit. Anm. von Kruis). Als Möglichkeiten für nicht-monetäre Komponenten schlug das Gericht vor: den Aufbau einer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft; Hilfen zur Schuldentilgung; neuartige Formen der Anerkennung bei der Gestaltung des Vollzugs und der Entlassungsvorbereitung, möglicherweise auch unter Einbeziehung privater Initiativen; Verkürzung der Haftzeit („good-time“), sofern general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen, sowie sonstige Erleichterung der Haftzeit. Als Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG fasste der Gesetzgeber im 5. StVollzG- 5 ÄndG die §§ 43, 200 als die wesentlichen Normen zur Entlohnung von Gefangenenarbeit neu (s. dazu Calliess 2001, 1692 ff; Landau/Kunze/Poseck 2001, 2611 ff; Neu 2002, 83 ff; Pörksen 2001, 5 f; Ullenbruch 2000, 177 ff). Die geltende Fassung dieser Normen stellt das Resultat eines im Vermittlungsausschuss erzielten Kompromisses (s. dazu BT-Drucks. 14/4898, 14/4943, BR-Drucks. 812/00) dar. Dabei wurde zwar die Eckvergütung des § 200 von 5 % auf 9 % erhöht. Unter Ablehnung des sog. Bruttoprinzips mit Gewährung einer an einer externen Vergleichsgröße orientierten leistungsadäquaten Entlohnung verbunden mit Abzug von Haftkostenbeiträgen (wie z. B. §§ 32, 51 ff österreichisches Strafvollzugsgesetz; dazu Laubenthal 2008 Rdn. 442) bleibt es im Ergebnis bei einer niedrigen finanziellen Vergütung der Pflichtarbeit ohne Erhebung von Haftkostenbeiträgen (s. § 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1). Die Entlohnung von Inhaftierten für die Verrichtung der ihnen zugewiesenen Pflichtarbeiten enthält neben der monetären Komponente sowie der Befreiung der Betroffenen von den Haftkosten als Anreiz für kontinuierliches Erbringen von Arbeitsleistungen eine nichtmonetäre Komponente. Der Gesetzgeber entschied sich dafür, zugewiesene Pflichtarbeit zusätzlich durch Freistellung von der Arbeit anzuerkennen (Abs. 1, 6). Hat der Gefangene zwei Monate zusammenhängend seine Tätigkeit ausgeübt, wird ihm dies in Form einer zusätzlichen Freistellung von der Arbeitspflicht anerkannt (Abs. 6). Liegen die allgemeinen Voraussetzungen für eine Gewährung von Hafturlaub nach § 13 vor, kann diese Freistellungszeit auch als Urlaub aus der Haft (Arbeitsurlaub) genutzt werden (Abs. 7, 8). Anderenfalls erfolgt eine Anrechnung der Tage auf den Entlassungszeitpunkt (Abs. 9). Bleibt ausnahmsweise eine solche Anrechnung nicht möglich (Abs. 10), erhält der Betroffene stattdessen eine Ausgleichsentschädigung in Form einer Entgeltzahlung (Abs. 11). Der Inhalt von §§ 43 und 200 StVollzG wurde auf Landesebene mit Art. 46 BayStVollzG und § 40 NJVollzG weitgehend übernommen (s. Rdn. 31).
II. Erläuterungen 1. a) Einen Rechtsanspruch auf Arbeitsentgelt, d. h. auf Gutschrift desselben (und 6 nicht auf Auszahlung; s. Fluhr 1994, 115 f) begründet Abs. 2 Satz 1 dann, wenn der Gefangene eine zugewiesene Arbeit (s. § 37 Rdn. 10 ff) bzw. sonstige Beschäftigung im Sinne einer – wie bei § 41 Abs. 1 Satz 1 (s. § 41 Rdn. 6) – angemessenen Beschäftigung (s. § 37 Rdn. 25 f) oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 (s. § 41 Rdn. 8 ff) ausübt. Diese Norm für die monetäre Komponente der Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit steht im engen Zusammenhang mit der Regelung des § 200, welche von der Systematik her durch das 5. StVollzG-
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ÄndG eigentlich in Abs. 2 hätte eingefügt werden sollen. Unter die in Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Tätigkeiten fällt auch diejenige, im Rahmen der Gefangenenmitverantwortung gem. § 160 während der Arbeitszeit, die als sonstige Beschäftigung (LG Mannheim ZfStrVo 1985, 254 m. Anm. Butzke) oder, richtiger, als Hilfstätigkeit (so Butzke aaO 256; s. auch AKDäubler/Spaniol 2006 § 37 Rdn. 7) angesehen wird. Übt der Gefangene dagegen eine ihm zugewiesene arbeitstherapeutische Beschäftigung aus, erhält er gem. Abs. 4 nur dann ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. Bei der Arbeits- und Beschäftigungstherapie entscheiden mithin der Produktionswert der Arbeit und das Leistungsergebnis des Gefangenen über den Anspruch auf Arbeitsentgelt (BT-Drucks. 7/918, 68). Der Gefangene erhält Entgelt nur für tatsächlich ausgeübte Arbeit (Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 443). Dies gilt selbst dann, wenn der Gefangene aus organisationsbedingten Gründen in seinem Ausbildungs- bzw. Arbeitsbetrieb nicht arbeiten kann (KG NStZ 1989, 197; ZfStrVo 1992, 386). Auch für Feiertage, die auf Werktage fallen, steht ihm Arbeitsentgelt nicht zu (a. A. AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 2). Darin liegt jedoch keine Schlechterstellung, weil der Grundlohn sich nach der Eckvergütung bemisst, in der die gesetzlichen Feiertage, die auf einen Werktag fallen, schon verrechnet sind. Dem Gefangenen steht kein Anspruch auf Entgelt zu, wenn und soweit er der Arbeit fernbleibt, etwa wegen Hafturlaubs gem. § 13 (es sei denn, es liegt gem. § 43 Abs. 6 oder 7 eine bezahlte Freistellung vor). Steht ihm deshalb für bestimmte Teilzeit kein Arbeitsentgelt zu, ist dieses in analoger Anwendung des Rechtsgedankens aus § 44 Abs. 3 entsprechend zu kürzen. Die Kürzung kann jedoch nicht in kleineren Einheiten als Stunden vorgenommen werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 55, das offen lässt, ob bei kürzerer Abwesenheit wenigstens um einen Stundenanteil gekürzt werden kann).
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b) Das Arbeitsentgelt für die Gefangenen wird gem. Abs. 2 Satz 2 nach dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ohne Auszubildende des vorvergangenen Kalenderjahres bemessen. Einen entsprechenden Berechnungsmaßstab enthält § 18 SGB IV. Es ist laut Einigungsvertrag (BGBl. 1990 II, 889, 959) für alle Gefangenen diejenige Bemessungsgrundlage anzuwenden, die in dem Gebiet gilt, in welchem das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland bereits vor dem Beitritt der ehemaligen DDR gegolten hat. Der in § 200 bestimmte Satz von 9 % dieses Bruttojahresarbeitsentgelts stellt die sog. Eckvergütung dar. Auf diese Eckvergütung hat der Gefangene einen Anspruch, wenn es sich um eine Arbeit mit durchschnittlichen Anforderungen handelt und die Leistungen des Gefangenen diesen Anforderungen auch in genügender Art und Weise entsprechen. Grundlage der konkreten Berechnung des Arbeitsentgelts ist die jährlich erfolgende, jeweils im BGBl. Teil I veröffentlichte Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung – Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung.
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c) In Abs. 2 Satz 3 wird festgelegt, dass ein Tagessatz des Arbeitsentgelts – also jenes Entgelt, das ein Gefangener täglich verdienen kann – der 250. Teil der Eckvergütung ist. Dabei geht der Gesetzgeber von durchschnittlich 250 Arbeitstagen pro Jahr aus. Da nach VV Nr. 4 zu § 37 sich die Arbeitszeit sowie die Verteilung der Arbeit auf die Wochentage nach der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst richtet (s. § 37 Rdn. 12), darf in Einrichtungen mit Tagessatzsystem die Arbeitszeit ohne eine Erhöhung des Tagessatzes bis hin zur Grenze der jeweiligen regelmäßigen Arbeitszeit des öffentlichen Dienstes ausgeweitet werden (KG NStZ 1989, 445). Übt ein Gefangener auf Anordnung der Anstaltsleitung über die übliche Arbeitszeit, für die ein Entgelt nach Tagessätzen bemessen wird, hinausgehend Arbeiten bzw. Bereitschaftsdienste aus, so hat er hierfür sogar einen über den Tagessatz hinausgehenden Anspruch auf Arbeitsentgelt (OLG Hamburg StraFo 2008,
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S. 221). Das Gesetz lässt es zu, dass das Arbeitsentgelt auch nach einem Stundensatz bemessen wird. Dabei ergibt sich dieser, indem der Tagessatz durch die der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst entsprechende Zahl der täglichen Soll-Arbeitsstunden dividiert wird. Der Inhaftierte erhält dann diesen Stundensatz entsprechend seiner tatsächlich geleisteten Arbeitszeit. Dies kann allerdings zur Folge haben, dass ein Gefangener trotz voller Arbeitsbereitschaft und ohne eigenes Verschulden dann ein geringeres Arbeitsentgelt als den gesetzlichen Tagessatz erhält, wenn die tatsächliche Arbeitszeit in der Anstalt oder in einem einzelnen Betrieb nach unten hin von der Soll-Arbeitszeit abweicht (OLG Dresden NStZ 2000, 391). Ob das Tagessatz- oder Stundensatzsystem in einer Anstalt zur Anwendung gelangt, steht im Ermessen der Vollzugsbehörde. Gem. VV Nr. 2 darf das Arbeitsentgelt statt in Form des Zeitlohnes auch als Leistungslohn ermittelt werden. d) Je nach der Leistung des Gefangenen und der Art der Arbeit kann das Arbeitsentgelt 9 gestuft werden (Abs. 3 Satz 1). Dabei dürfen jedoch nach Abs. 3 Satz 2 nur dann 75 % der Eckvergütung unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen des Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen. Das Mindestentgelt liegt somit in der Regel bei 75 % der Eckvergütung. Das Bundesministerium der Justiz hat im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit von der Ermächtigungsbefugnis des § 48 Gebrauch gemacht und mit Zustimmung des Bundesrates die „Verordnung über die Vergütungsstufen des Arbeitsentgelts und der Ausbildungsbeihilfe nach dem Strafvollzugsgesetz – Strafvollzugsvergütungsordnung (StVollzVergO) – erlassen, in der die Vergütungsstufen festgelegt, beschrieben und Einzelheiten zur Durchführung der §§ 43 bis 45 geregelt sind (s. Erl. zu § 48). Das gem. Abs. 4 für zugewiesene arbeitstherapeutische Beschäftigung (s. § 37 Rdn. 9, 27) zu zahlende Arbeitsentgelt beträgt nach § 3 StVollzVergO in der Regel 75 % des Grundlohnes der Vergütungsstufe I. In Bayern gilt seit 1.1.2008 die Bayerische Strafvollzugsvergütungsverordnung (BayGVBl. Nr. 2/2008, 25). In Niedersachsen ist das Fachministerium gem. § 44 NJVollzG ermächtigt, eine Verordnung über die Vergütungsstufen zu erlassen. Bis dahin gilt nach der Übergangsbestimmung des § 201 Abs. 1 NJVollzG die StVollzVergO des Bundes fort. Bei der Berechnung des Arbeitsentgelts ergeben sich Schwierigkeiten, wenn ein Gefan- 10 gener während eines Abrechnungszeitraums Tätigkeiten verrichtet, die verschiedenen Vergütungsstufen zuzuordnen sind. Nach VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 ist in diesen Fällen das Arbeitsentgelt jener Vergütungsstufe zu entnehmen, die dem überwiegenden Teil der Tätigkeiten entspricht. Das gilt aber nur, wenn der Gefangene diese unterschiedlichen Tätigkeiten im gleichen Betrieb ausführt (VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 2). Bei Betriebswechsel ist stets eine neue Einstufung vorzunehmen und das Arbeitsentgelt neu zu ermitteln. Verrichtet ein Gefangener nur vorübergehend eine anders bewertete Tätigkeit, so bleibt es bei der bisherigen Einstufung. Andernfalls ist er mit Beginn des nächsten Abrechnungszeitraums in die neue, entsprechende Vergütungsstufe umzugruppieren (VV Nr. 1 Abs. 2). Weitere Einzelregelungen zur Unterscheidung von Zeitlohn und Leistungslohn, zur Verringerung der Vergütung während der Dauer von Einarbeitungszeiten, zur Abstufung für den Fall, dass der Gefangene den Anforderungen der jeweiligen Vergütungsstufe nicht genügt, und zum Zulagensystem enthalten VV Nr. 2 und die Strafvollzugsvergütungsordnung (StVollzVergO; vgl. Erl. zu § 48).
11 e) Beispiel: Berechnung des Arbeitsentgelts für das Jahr 2009: Die Bezugsgröße i. S. d. § 18 Abs. 1 SGB IV betrug nach § 2 der SozialversicherungsRechengrößenverordnung 2009 (BGBl. I 2008, 2336) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 30.240 EUR (= Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr 2007). Die Eckvergütung liegt gem. § 200 bei 9 % dieser BeKlaus Laubenthal
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messungsgröße: 2.721,60 EUR. Der Tagessatz als 250ster Teil der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 Satz 3) macht einen Betrag von 10,89 EUR aus. Bei einer Gewährung des Arbeitsentgelts nach Stunden beträgt der Satz hierfür 1,36 EUR (bei einer wöchentlichen Soll-Arbeitszeit von 40 Stunden) bzw. 1,41 EUR (bei Soll-Arbeitszeit von 38,5 Stunden). Wird nach § 1 StVollzVergO je nach Anforderung der Tätigkeit und der Qualifikation des Inhaftierten der Grundlohn des Arbeitsentgelts nach fünf Vergütungsstufen festgesetzt, betrug demgemäß der Arbeitslohn der Strafgefangenen im Jahr 2009: Vergütungsstufe
Tagessatz
Stundensatz bei 38,5-Std.-Woche
Stundensatz bei 40-Std.-Woche
I II III IV V
8,16 9,58 10,89 12,19 13,61
1,06 1,24 1,41 1,58 1,77
1,02 1,20 1,36 1,52 1,70
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f) Gem. § 130 gilt diese monetäre Entlohnung auch für arbeitende Sicherungsverwahrte entsprechend. Gleiches betrifft nach §§ 167, 171 Inhaftierte im Strafarrest bzw. im Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft sowie gem. § 8 Abs. 2 FEVG Abschiebungsgefangene in Justizvollzugsanstalten. Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe verweist § 44 Abs. 2 ebenfalls auf § 43 Abs. 2 und 3.
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g) Ein konkretes Einzelbeispiel für die Anwendung des allgemeinen Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1) enthält VV Nr. 3. Danach können neben dem Arbeitsentgelt zusätzliche Prämien für betriebliche Verbesserungsvorschläge gezahlt werden, die dem Gefangenen nach Entscheidung des Anstaltsleiters als Hausgeld (§ 47), Überbrückungsgeld (§ 51) oder Eigengeld (§ 52) gutgeschrieben werden. Diese Regelung trägt dem gleichen Anliegen Rechnung, das auch dem System der Prämien für Verbesserungsvorschläge in der öffentlichen Verwaltung bzw. den Regelungen über Arbeitnehmererfindungen zugrunde liegt. Der Mitarbeiter soll motiviert werden, die Betriebsabläufe, an denen er beteiligt ist, mit daraufhin zu überprüfen, ob technische oder organisatorische Verbesserungen möglich sind. An der auf diese Weise möglicherweise zu erzielenden Verbesserung der Rentabilität soll er beteiligt werden.
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h) Auch Abs. 5 stellt eine Konkretisierung des Angleichungsgrundsatzes gem. § 3 Abs. 1 dar (vgl. BT-Drucks. 7/918, 68). Die vorgeschriebene schriftliche Mitteilung des Arbeitsentgelts (nicht nur seiner Höhe) in Form einer spezifischen Aufstellung an den Gefangenen dient der Überprüfbarkeit durch den Leistungsempfänger und damit zugleich auch der Gewährleistung des erforderlichen Rechtsschutzes. Der Gefangene kann den Rechtsanspruch auf Zahlung des ihm rechtmäßig zustehenden Arbeitsentgelts nur verwirklichen, wenn ihm die Berechnungsgrundlagen einschließlich der Bewertungskriterien im Wege einer vollständigen und nachvollziehbaren Abrechnung bekannt gemacht sind. Zudem gibt die schriftliche Bekanntgabe den Betroffenen Unterlagen in die Hand, um Freistellungsansprüche geltend zu machen bzw. um ggf. Ansprüche bei Arbeitslosigkeit zu realisieren.
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i) Im Rahmen der Entlohnungsregelungen der Abs. 2 bis 5 steht dem Strafgefangenen, der in öffentlich-rechtlichem Rechtsverhältnis zugewiesene Arbeit verrichtet, einer sonstigen Beschäftigung nachgeht oder Hilfstätigkeiten ausübt, ein Rechtsanspruch auf das gesetzlich vorgesehene Entgelt – d. h. auf dessen Kontogutschrift – zu. Nicht betroffen von der Regelung über den Arbeitslohn nach § 43 sind diejenigen Gefangenen, die im Wege der
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Außenbeschäftigung oder des Freigangs gem. § 39 Abs. 1 in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen. Diese erhalten i.d.R. den vereinbarten ortsüblichen Tariflohn. Bei der Ausübung zugewiesener Pflichtarbeit ist der Anspruch auf Arbeitsentgelt dagegen – wie das Arbeitsverhältnis selbst – öffentlich-rechtlicher Natur (KG NStZ 1990, 197; C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 438). Der Gefangene darf über das ihm auf seinem Konto gutgeschriebene Arbeitsentgelt nicht nach Belieben verfügen. Das StVollzG sieht vielmehr eine zweckgebundene Aufteilung der Einkünfte vor, so dass diese im Hinblick auf eine Erreichung des Vollzugsziels bestimmten Bindungen unterliegen. So werden gem. § 47 Abs. 1 i. d. F. des § 199 Abs. 1 Nr. 2 drei Siebtel der Bezüge dem Hausgeldkonto zugeführt (s. Erl. zu § 47). Aus den anderen vier Siebteln ist zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts des Betroffenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach der Entlassung nach § 51 Abs. 1 das Überbrückungsgeld zu bilden (s. Erl. zu § 51). Da die Vorschrift des § 49 über den Unterhaltsbeitrag bisher nicht in Kraft gesetzt wurde und Strafgefangene, die als im öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis Beschäftigte Bezüge nach dem StVollzG erhalten, gem. § 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 (s. § 50 Rdn. 4) nicht zur Entrichtung von Haftkostenbeiträgen herangezogen werden, sind verbleibende Beträge nach § 52 dem Eigengeld zuzuschreiben. j) Die Pfändbarkeit des Anspruchs des Gefangenen auf Arbeitsentgelt, der mit Konto- 16 gutschrift infolge Erfüllung entsprechend § 362 BGB erlischt (BGH StV 2004, 558, 559; A/L-Lückemann Rdn. 10), richtet sich nach §§ 850 ff ZPO (vgl. zum Meinungsstand insgesamt Konrad 1990). Streitig ist hierbei, ob es sich beim Arbeitsentgelt um Arbeitseinkommen i. S. von § 850 Abs. 1 ZPO handelt (verneinend Musielak/Becker § 850 Rdn. 8; Zöller/Stöber ZPO 26. Aufl. 2007 § 829 Rdn. 33; OLG Karlsruhe Rpfleger 1994, 370; OLG Nürnberg BlStK 2/1996 5, 7) mit der Folge, dass der Anspruch auf Gutschrift des Arbeitsentgelts nur nach Maßgabe der §§ 850a bis 850k ZPO (insbesondere unter Beachtung der Pfändungsgrenzen der §§ 850c und d ZPO) gepfändet werden kann (so OLG Celle NStZ 1988, 334; OLG Hamm NStZ 1988, 479; OLG Frankfurt NStZ 1993, 559; KG ZfStrVo 1990, 55; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 22; K/S-Schöch § 7 Rdn. 151; Laubenthal 2008 Rdn. 444; MünchKomm ZPO/Smid § 850 Rdn. 24), oder aber ob der Anspruch des Gefangenen auf Gutschrift seines Arbeitsentgelts gem. § 399 1. Alt. BGB unübertragbar und damit nach § 851 Abs. 1 ZPO generell unpfändbar ist (so BGH StV 2004, 558, 559; Arloth 2008 Rdn. 10; Fluhr 1989, 103 mit einem Überblick über den Meinungsstand und die jeweiligen Konsequenzen; Fluhr 1994). Nachdem § 850 Abs. 2 ZPO den Begriff des Arbeitseinkommens sehr weit fasst, kann nicht bezweifelt werden, dass auch Gefangene solches erzielen. Folgt danach die Anwendbarkeit der §§ 850a ff ZPO, so ist weiter umstritten, ob bei Berechnung der Pfändungsfreigrenze i. S. d. § 850c Abs. 1 Satz 1 ZPO gem. § 850e Nr. 3 ZPO dem Arbeitseinkommen der Wert der Naturalleistungen hinzuzurechnen bleibt, die der Gefangene für seinen Unterhalt erhält (Unterkunft, Verpflegung, Bekleidung, medizinische Betreuung). Für eine derartige Berücksichtigung wird die Gefahr einer Besserstellung des inhaftierten gegenüber dem in Freiheit befindlichen Schuldner vorgebracht, weshalb der fiktive, in Wirklichkeit nicht erhobene Haftkostenbeitrag gem. § 50 in Ansatz gebracht werden soll (so OLG Frankfurt NStZ 1993, 560; Arloth 2008 Rdn. 10; MünchKomm ZPO/Smid § 850e Rdn. 33). Dagegen spricht aber, dass die Vollzugsbehörde die Sachleistungen nicht als Teil der Arbeitsentlohnung für verrichtete Tätigkeiten erbringt, sondern diese als notwendige Folgen des Freiheitsentzugs allen, auch den nicht arbeitenden Inhaftierten gewährt werden (BFH DStRE 2004, 421, 422; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 22; C/MD 2008 Rdn. 10; Laubenthal 2008 Rdn. 444; Volckart NStZ 1985, 431, 432). Der Streit hat jedoch letztlich nur geringe praktische Bedeutung, denn selbst unter Zugrundelegung des maximalen Haftkostenbeitrags und des höchsterreichbaren Arbeitsentgelts wird die zurzeit gültige Pfändungsfreigrenze von wenigstens
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930 EUR monatlich (§ 850c Abs. 1 Satz 1 ZPO) nicht überschritten (Arloth 2008 Rdn. 10). Keine Besonderheiten bezüglich der Anwendbarkeit der §§ 850 ff ZPO bestehen in Ansehung solcher Gefangener, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis gem. § 39 stehen, sofern die Vollzugsbehörde nicht nach § 39 Abs. 3 Überweisung des Entgelts zur Gutschrift verlangt hat (Musielak/Becker § 850 Rdn. 8). Insoweit greift allerdings zusätzlich zu den zivilprozessualen Bestimmungen der Schutz des § 51 Abs. 4. 17 Für Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen ist allein das Vollstreckungsgericht nach § 766 ZPO zuständig (s. auch § 47 Rdn. 9). Geht es nicht um eine mögliche Fehlerhaftigkeit des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses, sondern vielmehr um die Frage, ob sich die Vollzugsbehörde an den Inhalt des Beschlusses gehalten oder irrig Beträge vom Guthaben des Gefangenen abgebucht habe, die nicht gepfändet werden sollten, ist der Rechtsweg nach § 109 eröffnet (OLG Nürnberg BlStK 2/1996, 6).
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2. Neben der Anerkennung zugewiesener Pflichtarbeit durch Arbeitsentgelt und der Befreiung von den Haftkosten (§ 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) erfolgen nach Abs. 1 auch nicht-monetäre Leistungen: Der arbeitende Strafgefangene kommt unter den Voraussetzungen von Abs. 6 bis 9 in den Genuss von Zeit (dazu Schüler-Springorum 1999, 227), in welcher er nicht arbeiten muss. Der Inhaftierte kann die Freistellung von der Arbeit in der Anstalt verbringen oder in Form von Urlaub aus der Haft (Arbeitsurlaub) nutzen, wenn er für diese Vollzugslockerung geeignet ist (Abs. 7). Stellt er keinen Antrag auf Freistellung von der Arbeit oder auf Gewährung von Arbeitsurlaub bzw. wird Arbeitsurlaub nicht gewährt, so ist die Freistellung von der Arbeit auf den Entlassungszeitpunkt des Betroffenen anzurechnen (Abs. 9). In Fällen, in denen eine Anrechnung nach Abs. 10 ausgeschlossen bleibt, erhält der Verurteilte bei seiner Entlassung als Ausgleichsentschädigung für seine Tätigkeit zusätzlich 15 % des ihm nach Abs. 2 und 3 gewährten Entgelts oder der ihm nach § 44 zustehenden Ausbildungsbeihilfe (Abs. 11).
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a) aa) Ausgangspunkt für die Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit durch nichtmonetäre Leistungen ist die Grundregel des Abs. 6. Gem. Satz 1 der Vorschrift wird der Gefangene auf seinen Antrag hin einen Werktag von der Arbeit freigestellt, wenn er zwei Monate lang zusammenhängend Pflichtarbeit erbracht hat. Satz 2 stellt insoweit klar, dass eine solche Freistellung als nicht-monetäre Komponente der Entlohnung zugewiesener Pflichtarbeit unabhängig von derjenigen des § 42 (s. Erl. zu § 42) zu betrachten und zusätzlich zu dieser zu gewähren ist. Ebenso wie bei § 42 Abs. 1 Satz 1 die einjährige Tätigkeit sich nicht nach dem Kalenderjahr bemisst, sondern mit dem Tag beginnt, an dem der Gefangene die ihm zugewiesene Tätigkeit erstmals aufnimmt (s. § 42 Rdn. 5), kommt es auch bei Abs. 6 Satz 1 nicht auf Kalendermonate an, sondern die Monate rechnen sich ab dem Tag der Tätigkeitsaufnahme. Ein Freistellungstag fällt jedoch nur an, wenn die Tätigkeit über zwei Monate hinweg zusammenhängend ausgeübt wurde. Da sich die Arbeitszeit der Gefangenen gem. VV Nr. 4 Abs. 1 Satz 1 zu § 37 nach der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst richtet und nach VV Nr. 4 Abs. 2 zu § 37 an gesetzlichen Feiertagen und Samstagen die Arbeit ruht, stehen zwei arbeitsfreie Tage pro Woche sowie Feiertage einer kontinuierlichen Erbringung von Pflichtarbeit i. S. d. Satz 1 nicht entgegen. Eine Freistellung erfolgt nach dem Wortlaut des Gesetzes an einem Werktag. VV Nr. 5 Abs. 2 stellt insoweit klar, dass hierunter nicht Sonntage, gesetzliche Feiertage oder Samstage fallen. Allerdings kann mit Zustimmung des Inhaftierten die Freistellung auch an anderen Tagen gewährt werden (VV Nr. 5 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Nr. 6 Abs. 2). Dies ist in der Praxis vor allem für Inhaftierte mit vom Regelfall abweichenden Arbeitszeiten (z. B. Küchenpersonal) bedeutsam (Arloth 2008 Rdn. 20).
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bb) Das Tatbestandsmerkmal der zusammenhängend ausgeübten Tätigkeit des Satz 1 20 erfährt in Satz 3 eine gesetzliche Konkretisierung: Die Frist des Satz 1 wird gehemmt durch Zeiten, in denen der Gefangene ohne sein Verschulden durch Krankheit, Ausführung, Ausgang, Hafturlaub, Freistellung von der Arbeitspflicht oder sonstige nicht von ihm zu vertretende Gründe an der Arbeitsleistung gehindert ist. In derartigen Fällen verlängert sich der Zeitraum zur Erfüllung der zwei Monate um die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage (VV Nr. 4 Abs. 2). Auch Ausfalltage infolge der Durchführung von Vollzugslockerungen, Behandlungsmaßnahmen, Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit oder Verletzungen, Betriebsurlaub oder Ablösung von der Arbeitsstelle können als unverschuldete Ereignisse die Zwei-Monats-Frist hemmen. Gleiches gilt, wenn ein Gefangener nach den Vorschriften seines Glaubensbekenntnisses an bestimmten Tagen nicht arbeiten darf und er insoweit von der Arbeit befreit wurde (s. VV Nr. 4 Abs. 4 Satz 1 zu § 37). Hemmen nicht zu vertretende Ausfalltage gem. Satz 3 die Zwei-Monats-Frist, folgt daraus umgekehrt, dass verschuldete Ausfalltage diese Frist unterbrechen. Denn dem Gesetzgeber kam es auf eine kontinuierliche Arbeitstätigkeit für den Erwerb von Anwartschaftszeiten für eine Freistellung an (vgl. Schäfer 2005, 63). VV Nr. 4 Abs. 1 stellt insoweit klar, dass in einem solchen Fall die bis zum Unterbrechungszeitraum ausgeübte Tätigkeit von weniger als zwei Monaten unberücksichtigt bleibt und mit einer erneuten Arbeitsaufnahme die Frist von neuem zu laufen beginnt. Dies kommt vor allem in Betracht bei Fehlzeiten infolge Arbeitsverweigerung, Entweichung aus der Anstalt, Nicht- oder verspäteter Rückkehr von Vollzugslockerungen, Arbeitsverweigerung, vom Inhaftierten zu vertretender Ablösung von der Arbeit oder Vollzug von Disziplinar- bzw. Sicherungsmaßnahmen. Da mit der Gewährung zusätzlicher Freistellung als nicht-monetäre Komponente der Anerkennung von Pflichtarbeit die kontinuierlich erbrachte Arbeitsleistung honoriert werden soll, bleibt nach Satz 4 ein Beschäftigungszeitraum von nur weniger als zwei Monaten unberücksichtigt. Wie die Freistellung nach § 42 setzt auch diejenige gem. Abs. 6 Satz 1 einen Antrag des Inhaftierten voraus. Wird dieser nicht gestellt, erfolgt eine Anrechnung der Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt (Abs. 9). cc) Bezüglich der weiteren Modalitäten einer Freistellungsgewährung nach Abs. 6 21 Satz 1 verweist VV Nr. 5 Abs. 1 zu § 43 partiell auf die VV zu § 42. So werden die Tage der Arbeitsunfähigkeit infolge von Erkrankung des Gefangenen während der Durchführung einer Freistellung von der Arbeitspflicht nicht auf die Zeit der Freistellung angerechnet (VV Nr. 3 Abs. 2 zu § 42). Die Freistellung kann nur innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Gestattungsvoraussetzungen in Anspruch genommen werden (VV Nr. 4 Abs. 1 zu § 42). Der Gefangene muss die Freistellung mindestens einen Monat zuvor schriftlich beantragt haben (VV Nr. 5 zu § 42). Bei der Entscheidung über die Festsetzung des Freistellungszeitpunktes sind betriebliche und vollzugliche Belange zu berücksichtigen (VV Nr. 6 zu § 42). b) aa) Fallen gem. Abs. 6 Satz 1 Freistellungstage an, so kann der Inhaftierte diese in der 22 Anstalt verbringen. Liegen aber zugleich die Voraussetzungen für eine Gewährung von Hafturlaub vor, darf nach Abs. 7 die Freistellung auch als Arbeitsurlaub genutzt werden. Der Arbeitsurlaub wird wie die Beurlaubung aus wichtigem Anlass i. S. d. § 35 Abs. 2 nicht auf den regelmäßigen Hafturlaub nach § 13 angerechnet (VV Nr. 6 Abs. 1 Satz 1). Vor allem für Gefangene, die vom Regelfall abweichend an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen arbeiten, kann nach VV Nr. 6 Abs. 2 der Arbeitsurlaub mit ihrer Zustimmung auch an solchen Tagen gewährt werden. Satz 2 stellt klar, dass für den Arbeitsurlaub die allgemeinen gesetzlichen Regelungen für die Gewährung von Hafturlaub (§§ 11 Abs. 2, 13 Abs. 2 bis 5, 14) entsprechend gelten. Damit bedarf es nicht nur einer Prüfung der spezifischen Kriterien des Arbeitsurlaubs (Abs. 7 Satz 1 i. V. m. Abs. 6) sowie des Nichtvorliegens einer Flucht- oder
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Missbrauchsgefahr und der weiteren Lockerungsvoraussetzungen auf der Tatbestandsebene, sondern der Anstaltsleitung steht auch im Bereich der Gewährung von Arbeitsurlaub ein Ermessen auf der Rechtsfolgenseite zu. Abgesehen von solchen Ermessenserwägungen im Einzelfall ist jedoch davon auszugehen, dass eine bereits erfolgte Gewährung von Hafturlaub i. S. d. § 13 bei Fortbestehen der Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm eine Gestattung von Arbeitsurlaub i. S. d. Abs. 7 indiziert.
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bb) Der Gefangene erhält für die Zeit der Freistellung von der Arbeit i. S. d. Abs. 6 Satz 1, die er in der Anstalt oder als Arbeitsurlaub i. S. d. Abs. 7 außerhalb der Einrichtung verbringt, seine zuletzt gezahlten Bezüge weiter. Dies ergibt sich aus Abs. 8, der auf § 42 Abs. 3 (s. dazu § 42 Rdn. 13) verweist. Während jedoch ein Freistellungsanspruch i. S. d. § 42 achtzehn Werktage umfasst, wobei zu den Werktagen im Sinne dieser Norm auch die Samstage gehören (§ 42 Rdn. 10), ist die Freistellung i. S. d. Abs. 6 als nicht-monetäre Komponente der Arbeitsentlohnung nur an Werktagen zu gewähren, die nicht Samstage sind (VV Nr. 5 Abs. 2). Die Berechnung des Vergütungssatzes je Freistellungstag kann beispielsweise durch die Anwendung folgender Formel erfolgen (s. auch Arloth 2008 Rdn. 22): Vergütungssatz je Freistellungstag
=
Bruttobezüge der letzten drei abgerechneten Monate
tatsächliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ×
geleistete Stunden in diesen drei Monaten
5
Erfolgt keine Freistellung von der Arbeit i. S. d. Abs. 6 und kommt es deshalb zu einer Anrechnung der Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt nach Abs. 9, wird für diese Tage ab dem Zeitpunkt der Entlassung kein Entgelt weitergezahlt (BT-Drucks. 14/4452, 17). Dies folgt bereits aus der systematischen Stellung des Abs. 8 innerhalb des § 43 (Arloth 2008 Rdn. 22).
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c) aa) Gem. Abs. 9 erfolgt eine automatische Anrechnung der nach Abs. 6 Satz 1 anfallenden Freistellungstage für geleistete Pflichtarbeit auf den Entlassungszeitpunkt, wenn der Inhaftierte keine Freistellung gem. Abs. 6 Satz 1 beantragt hat, keinen Antrag nach Abs. 7 Satz 1 auf Gewährung von Arbeitsurlaub gestellt hat oder wenn ein beantragter Arbeitsurlaub wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung eines Hafturlaubs (Abs. 7 Satz 2) abgelehnt wurde. Mit dieser Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit durch Anrechnung der Freistellung zur Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts hat sich der Gesetzgeber innerhalb des ihm vom BVerfG eingeräumten weiten Spielraums gehalten, wie er seiner Verpflichtung nachzukommen hatte, der Gefangenenarbeit angemessene Anerkennung zuzugestehen. Insoweit stellte das Gericht fest, dass die Legislative nicht gehindert ist zu regeln, „dass der Gefangene – sofern general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen – durch Arbeit seine Haftzeit verkürzen (,good time‘) oder sonst erleichtern kann“ (BVerfGE 98, 169, 202). Bei der Neuregelung des § 43 durch das 5. StVollzGÄndG ging der Gesetzgeber davon aus, dass die vorgezogene Wiedererlangung der persönlichen Freiheit angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs, den der Vollzug der Freiheitsstrafe für den Betroffenen bedeutet, einen besonders nachhaltigen Vorteil darstellt, der geeignet ist, die Inhaftierten zur regelmäßigen Arbeit zu motivieren. Zudem kommt der Vorteil einer früheren Entlassung auch denjenigen Gefangenen zugute, welche die Voraussetzungen für die Gewährung von Hafturlaub i. S. d. § 13 nicht erfüllen (so BT-Drucks. 14/4452, 17; zur Verfassungsmäßigkeit dieser nicht-monetären Komponente s. BVerfG StV 2002, 375).
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bb) Die antragsunabhängige Entlassungsvorverlegung erfordert – anders als § 57 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB bei der Strafrestaussetzung zur Bewährung – nicht das Vorliegen einer günstigen Sozialprognose. Denn bei der Vorverlegung nach Abs. 9 handelt es sich um eine vollzugsrechtliche Maßnahme und nicht um eine solche vollstreckungsrechtlicher Art (Schäfer 2005, 33) , so dass sie weder Auswirkungen auf die Berechnung des Halb- oder Zwei-Drittel-Strafzeitpunkts i. S. d. § 57 StGB noch sonst auf die Strafzeitberechnung zeitigt (BT-Drucks. 14/4452; KG NStZ 2004, 228; Arloth 2008 Rdn. 23; Laubenthal 2008 Rdn. 450). Kommt es im Hinblick auf den Entlassungszeitpunkt im Einzelfall zu einer Kollision zwischen einem Vorgehen nach § 16 Abs. 2 oder 3 und einer Vorverlegung nach § 43 Abs. 9, bestimmt VV Abs. 1c zu § 16, dass die Freistellung von der Arbeit auf den Entlassungszeitpunkt nach § 43 Abs. 9 vorrangig angerechnet wird. Einem damit möglicherweise verbundenen Verlust von Freistellungstagen des Abs. 6 Satz 1 kann der Betroffene dadurch entgehen, dass er rechtzeitig sich von der Arbeit freistellen lässt bzw. die Freistellungstage als Arbeitsurlaub nutzt (s. auch Arloth 2008 Rdn. 23). Die Vorverlegung bezieht sich immer auf das Ende der Strafvollstreckung. Die vorzulegende Entlassung verlangt deshalb, dass der unmittelbare Zugriff der Vollstreckungsbehörde auf den Verurteilten entfällt. In den Fällen der Anschlussvollstreckung weiterer Freiheitsstrafe(n) bezieht sich der Entlassungszeitpunkt deshalb auf die jeweils letzte Freiheitsstrafe (KG NStZ 2005, 291). d) aa) Von der nicht-monetären Anerkennung hat der Gesetzgeber einige Gruppen 26 arbeitender Strafgefangener ausgenommen und sie auf eine Ausgleichsentschädigung nach Abs. 11 verwiesen. Haben diese Inhaftierten keinen Antrag nach Abs. 6 Satz 1 auf Freistellung von der Arbeit oder gem. Abs. 7 Satz 1 auf Gewährung von Arbeitsurlaub gestellt bzw. konnte ihnen dieses nicht gewährt werden, kann ihre Arbeitsleistung nicht über die nicht-monetäre Komponente Anerkennung finden. Die Anerkennung erfolgt vielmehr auf der monetären Ebene durch eine Erhöhung der finanziellen Arbeitsentlohnung. Die Ausnahmetatbestände von der Anrechenbarkeit angefallener Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt normieren Nr. 1 bis 5 des Abs. 10. bb) Eine besondere Regelung für Gefangene, die eine lebenslange Freiheitsstrafe 27 verbüßen oder in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind, enthält Nr. 1. Diese Vorschrift betrifft jedoch nur die Lebenszeitgefangenen bzw. Sicherungsverwahrten, bei denen noch kein Entlassungszeitpunkt feststeht. Nr. 1 ist im Zusammenhang mit Abs. 11 Satz 3 zu sehen. Danach erhalten die Betroffenen, die keine Freistellung in der Haft nach Abs. 6 Satz 1 und keinen Arbeitsurlaub nach Abs. 7 in Anspruch nehmen oder dies nicht können, jeweils nach einer Verbüßungs- bzw. Unterbringungsdauer von zehn Jahren eine Ausgleichszahlung zur Gutschrift auf dem Eigengeldkonto. Mit dieser Gutschrift sind die in dem jeweiligen Zehn-Jahres-Abschnitt erarbeiteten Freistellungstage verbraucht. Zwar sind für bereits länger inhaftierte Lebenszeitgefangene bzw. Sicherungsverwahrte die Ansprüche erst mit Inkrafttreten des 5. StVollzGÄndG am 1.1.2001 entstanden. Da die Strafvollzugsgesetze aber bezüglich der Berechnung der Zeitintervalle auf eine Verbüßung von jeweils zehn Jahren abstellen, ist für die Berechnung der Dekade die tatsachliche Verbüßungsdauer maßgeblich (KG NStZ-RR 2006, 123; OLG Celle StraFo 2008, 484; OLG Rostock NStZ-RR 2008, 62; a. A. OLG Hamm NStZ 2005, 61). Ist der Entlassungszeitpunkt eines Lebenszeitgefangenen bzw. Sicherungsverwahrten bestimmt, unterfällt er nicht mehr dem Ausnahmetatbestand von Abs. 10 Nr. 1. Dann erfolgt automatisch die Anrechnung der seit dem letzten Zehn-Jahres-Zeitpunkt angesparten Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt, es sei denn, es liegt ein anderer Ausschließungsgrund i. S. d. Abs. 10 vor.
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cc) Abs. 10 Nr. 2 regelt den Fall, dass bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Rests einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung in der (zu kurzen) Zeitspanne von der gerichtlichen Entscheidung bis zum Entlassungszeitpunkt eine Anrechnung der Freistellungstage ganz oder teilweise („soweit“) faktisch unmöglich bleibt. Einen Ausschluss der Anrechnung sieht Nr. 3 für die Fälle vor, in denen das Vollstreckungsgericht wegen der Lebensverhältnisse des Gefangenen oder der Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind, eine sog. punktgenaue Entlassung für erforderlich erachtet (z. B. für den Verurteilten steht ein Platz in einer Therapieeinrichtung oder in einem betreuten Wohnheim erst zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung). Gem. § 454 Abs. 1 Satz 5 StPO muss jeder Beschluss über eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung auch die Entscheidung enthalten, ob eine Anrechnung nach Nr. 3 ausgeschlossen wird. Fehlt diese Entscheidung, bleibt es bei der Anrechnungsmöglichkeit nach Abs. 9, weil die Anwendung des Ausnahmetatbestands von Nr. 3 ausdrücklich angeordnet sein muss (Arloth 2008 Rdn. 27). Faktisch unmöglich ist eine Anrechnung von erarbeiteten Freistellungstagen auf den Entlassungszeitpunkt auch in den Fällen einer Auslieferung oder Landesverweisung nach § 456a Abs. 1 StPO. Dem trägt Nr. 4 Rechnung (s. auch BT-Drucks. 14/4452, 18). Eine Verlegung des Entlassungszeitpunkts vor den vom Gnadenträger im Fall einer Begnadigung festgesetzten Termin hielt der Gesetzgeber als mit dem Wesen des Gnadenrechts unvereinbar (s. BT-Drucks. 14/4452, 18). Deshalb schließt Nr. 5 bei Entlassungen aufgrund von Gnadenerweisen eine Anrechnung von Freistellungstagen nach Abs. 9 aus. – Abs. 10 stellt keine abschließende Regelung dar (so im Ergebnis auch AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 18; Arloth 2008 Rdn. 24, 26, 28; Schäfer 2005, 94; a. A. C/MD 2008 Rdn. 4). Dies gilt vor allem für die Fälle faktischer Anrechnungsunmöglichkeit der Nr. 2 und 4 (z. B. im Rahmen von Strafrestaussetzungen zur Bewährung gem. § 36 BtMG; bei Überstellung ausländischer Gefangener zur weiteren Strafvollstreckung in ihren Heimatländern).
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dd) Die Modalitäten der Gewährung einer Ausgleichsentschädigung sind in Abs. 11 geregelt. Gem. Satz 1 darf sie nur dann geleistet werden, wenn und soweit eine Anrechnung von erarbeiteten Freistellungstagen auf den Entlassungszeitpunkt nach Abs. 9 wegen Vorliegens eines Ausnahmefalls des Abs. 10 ausgeschlossen bleibt. Damit kommt nicht unter Abs. 10 fallenden Inhaftierten kein Wahlrecht zwischen Vorverlegung der Entlassung oder einem finanziellen Ausgleich zu (Arloth 2008 Rdn. 30; Laubenthal 2008 Rdn. 452). Eine Entscheidung über die Gewährung einer Ausgleichsleistung erübrigt sich auch bei den unter Abs. 10 fallenden Gefangenen, die bereits ihren Anspruch auf Freistellung von der Arbeit nach Abs. 6 Satz 1 bzw. den Arbeitsurlaub gem. Abs. 7 in Anspruch genommen haben. Die Ausgleichsleistung stellt ein Surrogat für die in den Ausnahmefällen ausgeschlossene nicht-monetäre Anerkennung dar. Gem. Satz 1 erhält der Gefangene zum Zeitpunkt seiner Entlassung für die Ausübung der ihm zugewiesenen Arbeit, sonstigen Beschäftigung oder Hilfstätigkeit zusätzlich zum Arbeitslohn 15 vom Hundert des ihm gewährten Entgelts oder der ihm nach § 44 zukommenden Ausbildungsbeihilfe. Dabei sind das Entgelt bzw. die Beihilfe für den Zeitraum zugrunde zu legen, der bei Nichtvorliegen eines Ausschlussgrundes i. S. d. Abs. 10 nach Abs. 9 zu einer Anrechnung geführt hätte. Angesichts des zur Ermittlung dieser individuellen Basis des Arbeitsentgelts unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwands kann zur Ermittlung der Ausgleichsentschädigung für den Freistellungstag folgende Formel herangezogen werden (s. auch Arloth 2008 Rdn. 30):
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Klaus Laubenthal
Arbeitsentgelt, Arbeitsurlaub und Freistellungsanrechnung
Bruttobezüge der letzten drei abgerechneten Monate vor der Entlassung
tatsächliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ×
geleistete Stunden in diesen drei Monaten
× 42 Arbeitstage
=
Vergütungssatz je Freistellungstag
=
Ausgleichsentschädigung für den Freistellungstag
5
×
15 100
§ 43
ee) Kann ein Gefangener nachweisen, dass sich diese Formel zu seinen Nachteilen aus- 30 wirkt, weil er vor den zurückliegenden drei abgerechneten Monaten höhere Arbeitsentgelte erzielt hat, so steht ihm ein Anspruch auf eine individuelle Berechnung zu (so auch Arloth 2008 Rdn. 30). Da die Ausgleichsentschädigung ein Surrogat für den nicht zu realisierenden persönlichen Freiheitsanspruch darstellt, bestimmt Satz 2, dass der Anspruch hierauf weder verzinslich noch abtretbar noch vererblich ist. Bei der Ausgleichsentschädigung handelt es sich nicht um Bezüge i. S. d. StVollzG. Es erfolgt weder eine Gutschrift zum Eigengeld noch handelt es sich um Entgelt, das nach § 51 Abs. 1 zur Bildung von Überbrückungsgeld zu berücksichtigen ist. Die Ausgleichsentschädigung wird bei der Entlassung regelmäßig in bar ausgezahlt. Ab der Auszahlung ist das Geld in vollem Umfang pfändbar. Zu den Besonderheiten der Gewährung von Ausgleichsentschädigung bei Lebenszeitgefangenen und Sicherungsverwahrten s. Rdn. 27.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 46 BayStVollzG entspricht im Wesentlichen § 43 StVollzG; Abs. 2 S. 2 der bayeri- 31 schen Norm dem § 200 StVollzG. Allerdings lautet Art. 46 Abs. 9 BayStVollzG: „Nehmen die Gefangenen nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen die Freistellung nach Abs. 6 Satz 1 oder Abs. 7 Satz 1 in Anspruch oder kann die Freistellung nach Maßgabe der Regelung des Abs. 7 Satz 2 nicht gewährt werden, so wird die Freistellung nach Abs. 6 Satz 1 von der Anstalt auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Abs. 9 wurde . . . dahingehend modifiziert, dass Freistellungen, die nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch genommen werden, auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden. So wird sichergestellt, dass die Gefangenen nicht die bezahlte Freistellung in großem Umfang bis zum Strafende ansparen und so faktisch eine Kombination von bezahlter Freistellung und Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts nach Abs. 9 erreichen können.“ 2. Hamburg 40 Abs. 1 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 43 Abs. 1. § 40 Abs. 2–7 HmbStVollzG 32 normieren: „ (2) Üben die Gefangenen eine Tätigkeit nach § 34 Absatz 1 Nummer 1 oder eine Hilfstätigkeit nach § 38 Absatz 1 Satz 2 aus, so erhalten sie ein Arbeitsentgelt. Dies gilt auch, sofern die Gefangenen arbeitstherapeutisch beschäftigt werden und dies der Art ihrer Beschäftigung und ihrer Arbeitsleistung entspricht. Das Arbeitsentgelt 1. ist unter Zugrun-
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§ 43
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
delegung von 9 vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung vom 23. Januar 2006 (BGBl. I S. 89, 466), zuletzt geändert am 26. August 2008 (BGBl. I, 1728, 1730), in der jeweils geltenden Fassung zu bemessen (Eckvergütung); ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung; ein Stundensatz kann ermittelt werden, 2. kann je nach Leistung der Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden; 75 vom Hundert der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen der Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen, 3. ist den Gefangenen schriftlich bekannt zu geben. (3) Haben die Gefangenen zwei Monate lang zusammenhängend eine Tätigkeit nach § 34 Absatz 1 oder eine Hilfstätigkeit nach § 38 Absatz 1 Satz 2 ausgeübt, so werden sie auf ihren Antrag hin einen Kalendertag von der Arbeit freigestellt. § 39 bleibt unberührt, § 39 Absatz 3 gilt entsprechend. Durch Zeiten, in denen die Gefangenen ohne ihr Verschulden infolge Krankheit, Lockerungen, Freistellung von der Arbeitspflicht oder sonstiger nicht von ihnen zu vertretenden Gründe an der Arbeitsleistung gehindert sind, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von weniger als zwei Monaten bleiben unberücksichtigt. (4) Die Gefangenen können beantragen, dass die Freistellung nach Absatz 3 in Form der Freistellung von der Haft nach Maßgabe des § 12 gewährt wird. § 39 Absatz 3 gilt entsprechend. (5) Nehmen die Gefangenen die Freistellung nach Absatz 3 oder 4 nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch oder kann die Freistellung nach Absatz 4 nicht gewährt werden, weil die Gefangenen hierfür nicht geeignet sind, so wird die Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt des Gefangenen angerechnet. Eine Anrechnung ist ausgeschlossen, wenn 1. dies durch das Gericht im Zuge einer Entscheidung über eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung angeordnet wird, 2. der Zeitraum, der nach einer Entscheidung des Gerichts über eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung bis zur Entlassung verbleibt, für eine Anrechnung zu kurz ist, 3. die Gefangenen im Gnadenwege aus der Haft entlassen werden, 4. nach § 456a Absatz 1 der Strafprozessordnung von der Vollstreckung abgesehen wird, 5. die Gefangenen eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verbüßen und ein Entlassungszeitpunkt noch nicht bestimmt ist. (6) Ist eine Anrechnung nach Absatz 5 ausgeschlossen, erhalten die Gefangenen bei ihrer Entlassung eine Ausgleichsentschädigung. Die Höhe der Ausgleichsentschädigung beträgt 15 vom Hundert des nach Absatz 2 gewährten Arbeitsentgelts oder der ihnen nach § 41 gewährten Ausbildungsbeihilfe. Der nicht verzinsliche, nicht abtretbare und nicht vererbliche Anspruch auf Auszahlung der Ausgleichsentschädigung entsteht mit der Entlassung. (7) Ist eine Anrechnung nach Absatz 5 Satz 2 Nummer 5 ausgeschlossen, wird die Ausgleichszahlung den Gefangenen bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld (§ 48) gutgeschrieben, sofern die Gefangenen nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen werden; § 57 Absatz 4 des Strafgesetzbuchs gilt entsprechend.“ Die Vorschrift korrespondiert damit, abgesehen von redaktionellen Änderungen, mit § 43 (vgl. LT-Drucks. 18/6490, 43 und LT-Drucks. 19/2533, 56). 3. Niedersachsen
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§ 40 NJVollzG ersetzt die Regelung des § 43 StVollzG. Dabei wurde § 43 Abs. 1 StVollzG nicht in die landesrechtliche Vorschrift übernommen. § 40 Abs. 1 NJVollzG lautet: „(1) Übt die oder der Gefangene eine zugewiesene Arbeit oder angemessene Beschäftigung aus, so erhält sie oder er ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts sind neun vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs zugrunde zu legen (Eckvergütung).“ Dies entspricht, abgesehen von redaktionellen Anpassungen, im Wesent-
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Arbeitsentgelt, Arbeitsurlaub und Freistellungsanrechnung
§ 43
lichen § 43 Abs. 2 und § 200 StVollzG. Allerdings wurde § 43 Abs. 2 S. 3 StVollzG nicht übernommen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die bislang in § 43 Abs. 2 Satz 3 StVollzG enthaltene Regelung über die konkrete Bemessung des Entgeltes in Tagessätzen und Stundensätzen wurde nicht übernommen, weil eine Regelung im Gesetz insoweit nicht erforderlich ist. Diese Details können vielmehr ebenso gut in einer Verwaltungsvorschrift geregelt werden“ (s. dazu § 48 StVollzG Rdn. 6). Abs. 2–4 der landesrechtlichen Vorschrift lautet: „(2) Das Arbeitsentgelt kann je nach Leistung der oder des Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden. 275 vom Hundert der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen der oder des Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen. (3) Übt die oder der Gefangene eine arbeitstherapeutische Beschäftigung aus, so erhält sie oder er ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art der Beschäftigung und der Arbeitsleistung entspricht. (4) Die Höhe des Arbeitsentgeltes ist der oder dem Gefangenen schriftlich bekannt zu geben.“ Dies entspricht inhaltlich weitgehend § 43 Abs. 3–5 StVollzG. § 40 Abs. 5 NJVollzG normiert: „(5) Hat die oder der Gefangene zwei Monate lang zusammenhängend eine Arbeit oder eine angemessene oder arbeitstherapeutische Beschäftigung ausgeübt, so wird sie oder er auf Antrag einen Werktag von der Arbeitspflicht freigestellt (Freistellungstag); Zeiträume von weniger als zwei Monaten bleiben unberücksichtigt. Die Freistellung nach § 39 bleibt unberührt. Durch Zeiten, in denen die oder der Gefangene wegen Krankheit, Ausführung, Ausgang, Urlaub aus der Haft, Freistellung von der Arbeitspflicht oder aus sonstigen von ihr oder ihm nicht zu vertretenden Gründen ihrer oder seiner Arbeitspflicht nicht nachkommt, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Fehlzeiten, die von der oder dem Gefangenen zu vertreten sind, unterbrechen die Frist.“ Eine inhaltliche gesetzliche Erweiterung im Vergleich zur bundesrechtlichen Regelung stellt Satz 4 dar, der die Folgen einer schuldhaften Unterbrechung der Tätigkeit regelt. Diese Vorschrift übernimmt im Wesentlichen VV Nr. 4 Abs. 1 zu § 43 StVollzG. § 40 Abs. 6 NJVollzG lautet: „(6) Auf Antrag kann der oder dem Gefangenen die Freistellung nach Absatz 5 in Form von Urlaub aus der Haft gewährt werden (Arbeitsurlaub). § 13 Abs. 2 bis 6 und § 15 gelten entsprechend.“ Dies entspricht weitgehend § 43 Abs. 7 StVollzG. § 40 Abs. 7 NJVollzG verweist auf § 39 Abs. 2 und 4 NJVollzG. Dabei soll die Verweisung auf § 39 Abs. 2 NJVollzG sicherstellen, dass der Zeitpunkt der Freistellung mit betrieblichen Belangen vereinbar ist. § 40 Abs. 8–10 NJVollzG regeln: „(8) Wird kein Antrag auf einen Freistellungstag (Absatz 5 Satz 1) oder auf Arbeitsurlaub (Absatz 6 Satz 1) gestellt oder kann Arbeitsurlaub nicht gewährt werden, so wird der Freistellungstag auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet. (9) Eine Anrechnung nach Absatz 8 ist ausgeschlossen, 1. soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verbüßt wird und ein Entlassungszeitpunkt noch nicht bestimmt ist, 2. bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung, soweit wegen des von der Entscheidung des Gerichts bis zur Entlassung verbleibenden Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist, 3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung die Lebensverhältnisse der oder des Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für sie oder ihn zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern, 4. wenn nach § 456a Abs. 1 StPO von der Vollstreckung abgesehen wird, 5. wenn die oder der Gefangene im Gnadenwege aus der Haft entlassen wird. (10) Soweit eine Anrechnung nach Absatz 9 ausgeschlossen ist, erhält die oder der Gefangene bei der Entlassung als Ausgleichsentschädigung zusätzlich 15 vom Hundert des Arbeitsentgelts. § 39 Abs. 4 Satz 2 gilt entsprechend. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung; vor der Entlassung ist der
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§ 44
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Anspruch nicht verzinslich, abtretbar und vererblich. Ist eine Anrechnung nach Absatz 9 Nr. 1 ausgeschlossen, so wird die Ausgleichszahlung der oder dem Gefangenen bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld gutgeschrieben, soweit sie oder er nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen wird; § 57 Abs. 4 StGB gilt entsprechend.“ § 40 Abs. 8–10 übernehmen inhaltlich im Wesentlichen die Bestimmungen der Abs. 9–11 des § 43 StVollzG.
§ 44 Ausbildungsbeihilfe (1) Nimmt der Gefangene an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder an einem Unterricht teil und ist er zu diesem Zweck von seiner Arbeitspflicht freigestellt, so erhält er eine Ausbildungsbeihilfe, soweit ihm keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die freien Personen aus solchem Anlass gewährt werden. Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch wird nicht berührt. (2) Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe gilt § 43 Abs. 2 und 3 entsprechend. (3) Nimmt der Gefangene während der Arbeitszeit stunden- oder tageweise am Unterricht oder an anderen zugewiesenen Maßnahmen gemäß § 37 Abs. 3 teil, so erhält er in Höhe des ihm dadurch entgehenden Arbeitsentgelts eine Ausbildungsbeihilfe. VV Als Berufsfindungsmaßnahme kann auch die Teilnahme eines Gefangenen an einem Einweisungsverfahren in einer zentralen Einweisungseinrichtung in Betracht kommen. Schrifttum: s. vor § 37 und bei § 43
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen für die Gewährung . . . . . . . . . . . . . . a) Teilnahme an Bildungsmaßnahme . . . . . . . . . . . . b) Bildungsmaßnahme anstelle von Pflichtarbeit . . . . . . c) Nachrang der Ausbildungsbeihilfe . . . . . . . . . . .
. .
1 2–8
.
2–5
.
2
.
3
.
4
Rdn. d) Nachrang der Sozialhilfe . . 2. Umfang der Ausbildungsbeihilfe a) Bemessung der monetären Leistung . . . . . . . . . . . b) Nicht-monetäre Anerkennung c) Teilzeitbildungsmaßnahmen III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
.
5 6–8
.
6 7 8 9–11 9 10 11
. . . . .
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift gibt dem Gefangenen unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf Gewährung einer Ausbildungsbeihilfe (ähnlich wie § 43 Abs. 2 Satz 1 für das Arbeitsentgelt; vgl. dort Rdn. 6). Damit soll sichergestellt werden, dass der an Bildungsmaß-
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Ausbildungsbeihilfe
§ 44
nahmen Teilnehmende keine Nachteile gegenüber demjenigen erleidet, der für die Erledigung zugewiesener Arbeit das entsprechende Arbeitsentgelt erhält. Diese Regelung ist eine Folge der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Ausbildung und Arbeit (Laubenthal 2008 Rdn. 455). Die frühere Praxis hatte gezeigt, dass sich Gefangene davon abhalten lassen, eine als Ergebnis der Persönlichkeitserforschung (§ 6) im Vollzugsplan (§ 7) vorgeschlagene Bildungsmaßnahme zu durchlaufen, wenn sie auf das in der gleichen Zeit andernfalls zu erzielende Arbeitsentgelt vollständig verzichten müssen (vgl. BT-Drucks. 7/918, 68 f). Um diese Behinderung der Bildung zu beseitigen und um die Motivation zur Teilnahme an schulischer oder beruflicher Bildung zu unterstützen, wurde die Ausbildungsbeihilfe vorgesehen. Sie tritt an die Stelle des entgangenen Arbeitsentgelts.
II. Erläuterungen 1. a) Voraussetzung für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfe ist zunächst die Teil- 2 nahme an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung (§ 37 Abs. 3) oder an einem Unterricht (§ 38). Zur Berufsausbildung zählen dabei auch Motivations-, Berufsorientierungs-, Berufsfindungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen (s. auch VV, nach der als Berufsfindungsmaßnahme darüber hinaus die Teilnahme eines Gefangenen an einem Einweisungsverfahren in einer zentralen Einweisungseinrichtung in Betracht kommt; s. dazu LG Stuttgart ZfStrVo 2002, 184). Wie bei § 43 Abs. 2 Satz 1 ist auch bei § 44 die tatsächliche Teilnahme an der Bildungsmaßnahme erforderlich. Die bloße Bereitschaft dazu reicht nicht aus, auch wenn der Gefangene aus organisatorischen Gründen in seinem Ausbildungsbetrieb nicht arbeiten kann (KG NStZ 1989, 197; ZfStrVo 1992, 386). b) Der Gefangene muss zum Zweck der Teilnahme an der Bildungsmaßnahme von der 3 Arbeitspflicht freigestellt sein. Diese Formulierung ist missverständlich. Es handelt sich nicht um eine Freistellung von der Arbeitspflicht gem. § 42, sondern um die Gelegenheit zur Teilnahme an einer aufgrund des Vollzugsplans notwendigen Bildungsmaßnahme anstelle der Zuweisung einer Pflichtarbeit bzw. sonstigen Beschäftigung. Mit dem in § 37 Abs. 1 betonten allgemeinen Grundsatz der Gleichwertigkeit von Bildung und Arbeit (Rdn. 1) wäre eine „Freistellung von der Arbeit“ zur Teilnahme an Bildungsmaßnahmen und die darin zu sehende Subsidiarität von Bildung gegenüber Arbeit unvereinbar. Unter § 44 fällt somit nicht derjenige Inhaftierte, der arbeitslos ist und aus eigener Initiative ein Fernstudium aufnimmt (KG NStZ 2000, 465). Aus Satz 1 folgt zudem, dass der in einem freien Beschäftigungsverhältnis nach § 39 Abs. 1 an einer Bildungsmaßnahme teilnehmende Strafgefangene keine Ausbildungsbeihilfe nach § 44 erhält. c) Der Gefangene erhält nur dann eine Ausbildungsbeihilfe, soweit ihm keine Leistun- 4 gen zum Lebensunterhalt zustehen, die freien Personen aus solchem Anlass gewährt werden. Der Anspruch gegen die Vollzugsbehörde ist somit nachrangig (Abs. 1 Satz 1). Er tritt insbesondere hinter Leistungen der Arbeitsförderung nach dem SGB III oder dem BAföG zurück (s. dazu Hardes 1998, 147). Allerdings werden die Leistungen nach dem SGB III dem Gefangenen lediglich bis zur Höhe der Ausbildungsbeihilfe nach § 44 gewährt, denn § 22 Abs. 1 SGB III bestimmt, dass Leistungen der aktiven Arbeitsförderung nur erbracht werden dürfen, wenn nicht andere Leistungsträger oder andere öffentlich-rechtliche Stellen zur Erbringung gleichartiger Leistungen gesetzlich verpflichtet sind (s. dazu Niesel, in: Niesel SGB III § 22 Rdn. 3 ff). Die finanzielle Fremdförderung einer Bildungsmaßnahme modifiziert nicht den Charakter einer zugewiesenen Aus- oder Weiterbildungsstelle bzw. eines Unterrichtsplatzes auf öffentlich-rechtlicher Grundlage.
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§ 44
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d) § 44 Abs. 1 Satz 2 wurde durch Art. 37, 70 Abs. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003 (BGBl. I, 3022) ohne inhaltliche Änderung an die Neuregelung des Sozialhilferechts angepasst. Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 2 SGB XII bleibt gem. Abs. 1 Satz 2 bestehen. Der Anspruch des Gefangenen gegen die Vollzugsbehörde geht mithin vor.
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2. a) Die Ausbildungsbeihilfe tritt an die Stelle des Arbeitsentgelts nach § 43, so dass die Regelungen dieser Norm unmittelbar bzw. analog anwendbar sind (s. auch Arloth 2008 Rdn. 1). Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe als monetäre Leistung gelten nach Abs. 2 § 43 Abs. 2 und 3 entsprechend (dazu § 43 Rdn. 6 ff). In Verbindung mit der gem. § 48 erlassenen Strafvollzugsvergütungsordnung (s. dazu § 48 Rdn. 2; vgl. insbesondere § 4 StVollzVergO) ergibt sich: Die Regelausbildungsbeihilfe entspricht grundsätzlich der vollen Höhe des Grundlohns (Vergütungsstufe III). Sie kann um jeweils eine Vergütungsstufe erhöht oder reduziert werden. Eine Erhöhung setzt voraus, dass mindestens die Hälfte der Gesamtdauer der Maßnahme abgelaufen ist und der Gefangene aufgrund seiner Mitarbeit und nach seinem Leistungsstand erwarten lässt, dass er das Ausbildungsziel erreicht. Dabei kann die Arbeitshaltung des Gefangenen berücksichtigt werden (KG ZfStrVo 1983, 309), also die Art der Arbeitsweise insbesondere bei der Ausführung praktischer Arbeiten, weil diese für das Erreichen des beruflichen Ausbildungszieles bedeutsam ist. Hingegen erscheint es entgegen OLG Hamburg (NStZ 1995, 303) nicht vertretbar, im Schulunterricht generell auch das soziale Verhalten des Gefangenen zu berücksichtigen. Dieses ist zwar sozialprognostisch im Hinblick auf die Erreichung des Vollzugszieles von Bedeutung und daher zu fördern, nicht aber für den Erwerb des Schulabschlusses an sich maßgeblich (so auch C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. Arloth 2008 Rdn. 3). Eine Reduzierung der Beihilfe um eine Vergütungsstufe kommt bei Unterrichtsangeboten gem. § 38 und bei Berufsfindungsmaßnahmen in Betracht, wenn dies wegen der Kürze oder des Ziels der Maßnahme gerechtfertigt erscheint. Die Gewährung von Zulagen richtet sich nach den gleichen Grundsätzen, die auch für das Arbeitsentgelt maßgebend sind (§ 48 Rdn. 3). Absolviert der Inhaftierte ein Studium, so kann die Ausbildungsbeihilfe jedoch nicht nach der Zeit bemessen werden, die der Gefangene hierfür aufwendet, denn der zeitliche Aufwand für ein Erfolg versprechendes Studium hängt nicht vom Studienfach, sondern vor allem von der individuellen Befähigung des Studenten ab. Zudem vermag nicht überprüft zu werden, wie lange sich der Einzelne seinem Studium widmet (KG NStZ 2004, 610).
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b) § 43 Abs. 6 Satz 1 gewährt Freistellungstage u. a. bei zugewiesener Tätigkeit gem. §37, wozu nach Abs. 1 und 3 jener Norm auch die Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung gehören. Die Einbeziehung der an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder an einem Unterricht anstelle der Zuweisung zu einer Arbeit bzw. sonstigen Beschäftigung teilnehmenden Gefangenen in den Bereich der nicht-monetären Komponente bestätigt zudem § 43 Abs. 11 Satz 1. Dort ist hinsichtlich der Berechnung einer Ausgleichsentschädigung die nach § 44 gewährte Ausbildungsbeihilfe ausdrücklich benannt. Die nicht-monetäre Anerkennung der Teilnahme an einer Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme gem. § 43 Abs. 6 bis 11 bleibt auch dann bestehen, wenn diese drittfinanziert (z. B. nach dem SGB III) wird.
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c) Nach Abs. 3 erhält der Gefangene die in Höhe des ihm entgehenden Arbeitsentgelts anteilige Ausbildungsbeihilfe, wenn er während der Arbeitszeit stunden- oder tageweise am Unterricht (§ 38) oder an einer beruflichen Bildung (§ 37 Abs. 3) teilnimmt (Teilzeitbildungsmaßnahmen). An dieser Bestimmung wird die Gleichwertigkeit beider Bereiche noch einmal deutlich.
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Ausfallentschädigung
§ 45
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 47 BayStVollzG entspricht, abgesehen von der Abfassung der Abs. 1 Satz 1 und 9 Abs. 3 im Plural sowie der geänderten Verweisung auf Landesrecht in Abs. 2 und 3, weitestgehend § 44 StVollzG. 2. Hamburg § 41 Abs. 1 und 2 HmbStVollzG normieren: „(1) Nehmen die Gefangenen an einer Maß- 10 nahme der beruflichen oder schulischen Aus- und Weiterbildung teil, so erhalten sie eine Ausbildungsbeihilfe, soweit ihnen keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die freien Personen aus solchem Anlass gewährt werden. Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Absatz 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I, 3022 f), zuletzt geändert am 28. Mai 2008 (BGBl. I, 874, 891), in der jeweils geltenden Fassung wird nicht berührt. (2) Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe gilt § 40 Absatz 2 entsprechend. Die Regelungen für die Freistellung von der Arbeitspflicht nach § 39 und für die Freistellung von der Arbeit nach § 40 Absätze 3 bis 7 sind entsprechend anzuwenden.“ In der Gesetzesbegründung heißt es zu den Abweichungen vom Bundesgesetz: „In Absatz 2 Satz 2 wird . . . ausdrücklich festgelegt, dass auch die an einer Maßnahme der beruflichen Aus- und Weiterbildung teilnehmenden Gefangenen in den Bereich der nichtmonetären Komponente einbezogen sind.“ (vgl. LT-Drucks. 19/2533, 56). § 41 Abs. 3 HmbStVollzG entspricht, abgesehen von redaktionellen Änderungen, § 44 Abs. 3. 3. Niedersachsen § 41 NJVollzG lautet: „Nimmt die oder der Gefangene an einer zugewiesenen beruf- 11 lichen Aus- oder Weiterbildung oder an zugewiesenem Unterricht teil, so erhält sie oder er eine Ausbildungsbeihilfe, soweit ihr oder ihm keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die freien Personen aus solchem Anlass gewährt werden. Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 2 des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs bleibt unberührt. Für die Ausbildungsbeihilfe gilt im Übrigen § 40 mit Ausnahme des Absatzes 3 entsprechend.“ Satz 1 und 2 entsprechen im Wesentlichen § 44 Abs. 1 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Der Entwurf entspricht hier im Wesentlichen § 44 Abs. 1 StVollzG . . . Die in § 44 Abs. 2 StVollzG vorgesehene Vorgabe für die Bemessung der Ausbildungsvergütung . . . soll nicht übernommen werden. Stattdessen soll die Bemessung der Ausbildungsvergütung in einer Verordnung des Fachministeriums festgelegt werden . . . Dies ermöglicht eine flexiblere Handhabung. [Die Regelung des] § 44 Abs. 3 StVollzG . . . erscheint unangemessen. Vielmehr genügt es, dass die betroffenen Gefangenen die Ausbildungsbeihilfe erhalten, die für die jeweilige Ausbildungsmaßnahme auch sonst vorgesehen ist. § 44 Abs. 3 StVollzG soll daher nicht übernommen werden.“
§ 45* Ausfallentschädigung (1) Kann einem arbeitsfähigen Gefangenen aus Gründen, die nicht in seiner Person liegen, länger als eine Woche eine Arbeit oder Beschäftigung im Sinne des § 37 Abs. 4 nicht zugewiesen werden, erhält er eine Ausfallentschädigung. Klaus Laubenthal
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(2) Wird ein Gefangener nach Beginn der Arbeit oder Beschäftigung infolge Krankheit länger als eine Woche an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so erhält er ebenfalls eine Ausfallentschädigung. Gleiches gilt für Gefangene, die eine Ausbildungsbeihilfe nach § 44 oder Ausfallentschädigung nach Absatz 1 bezogen haben. (3) Werdende Mütter, die eine Arbeit oder Beschäftigung im Sinne des § 37 nicht verrichten, erhalten Ausfallentschädigung in den letzten sechs Wochen vor der Entbindung und bis zum Ablauf von acht Wochen, bei Früh- und Mehrlingsgeburten bis zu zwölf Wochen nach der Entbindung. (4) Die Ausfallentschädigung darf 60 vom Hundert der Eckvergütung nach § 43 Abs. 1 nur dann unterschreiten, wenn der Gefangene das Mindestentgelt des § 43 Abs. 2 vor der Arbeitslosigkeit oder Krankheit nicht erreicht hat. (5) Ausfallentschädigung wird unbeschadet der Regelung nach Absatz 3 insgesamt bis zur Höchstdauer von sechs Wochen jährlich gewährt. Eine weitere Ausfallentschädigung wird erst gewährt, wenn der Gefangene erneut wenigstens ein Jahr Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe bezogen hat. (6) Soweit der Gefangene nach § 566 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung Übergangsgeld erhält, ruht der Anspruch auf Ausfallentschädigung. *§ 45 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3). Schrifttum: Kintrup Ausfallentschädigung für Strafgefangene im Strafvollzug, in: NStZ 2001, 127.
Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift ist bisher nicht in Kraft getreten. Dazu bedarf es gem. § 198 Abs. 3 eines besonderen Bundesgesetzes, dessen Erlass nicht absehbar ist, weil die durch die Regelung entstehenden Kosten wahrscheinlich bedeutsam sein werden und überdies schwer abzuschätzen sind. Die Vorschrift sieht – als vollzugsspezifische soziale Sicherung – einen Rechtsanspruch des Gefangenen auf Zahlung einer Ausfallentschädigung vor bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit, unverschuldeter längerer Krankheit, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit (Abs. 1 bis 3). Durch diese Vorsorgeregelung soll der Gefangene grundsätzlich in gleicher Weise sozial sichergestellt sein wie ein freier Arbeitnehmer (BT-Drucks. 7/918, 69; zum Angleichungsgrundsatz § 3 Rdn. 3 ff). Allerdings musste berücksichtigt werden, dass die Situation im Strafvollzug in diesem Bereich insofern anders ist als im freien Erwerbsleben, weil im Strafvollzug unverhältnismäßig häufig überproportional viele Gefangene den Anforderungen des Arbeitslebens nicht genügen und oftmals erst an eine andauernde Arbeit herangeführt werden müssen. Bei dem In-Kraft-Setzen durch das besondere Bundesgesetz, dessen Ausbleiben zu un2 billigen Ergebnissen führt (vgl. Kintrup 2001, 127; s. auch AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 1), sollten die vorgesehenen Einzelregelungen noch einmal inhaltlich überprüft werden. Es erscheint wenig sachgerecht, Gefangene bei organisationsbedingtem, nicht verschuldetem Arbeitsausfall nach Beginn eines Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses anders zu stellen als solche, denen unter den Voraussetzungen des Abs. 1 eine Ausfallentschädigung gezahlt werden soll (vgl. KG NStZ 1989, 197: Nichtarbeit des Gefangenen wegen Abwesenheit der Werkmeister zum Jahreswechsel). Entsprechendes gilt bei fehlerhaft erfolgter Ablösung eines Gefangenen von seinem Arbeitsplatz (vgl. OLG Zweibrücken 15.4.1993 – 1 Vollz [Ws] 6/92 – betr. Ablösung vom zugewiesenen Arbeitsplatz; s. auch § 41 Rdn. 17 und § 46 Rdn. 3). Ferner ist zweifelhaft, warum in Anwendung des Abs. 6 eine Erkrankung oder ein Unfall, der kein Arbeitsunfall ist, günstigere Rechtsfolgen bezüglich des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach sich ziehen soll als ein Arbeitsunfall. § 566 RVO ist zwar seit dem 1.1.1997
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Klaus Laubenthal
Taschengeld
§ 46
durch die Neuregelung der gesetzlichen Unfallversicherung in SGB VII außer Kraft gesetzt worden. Wie § 49 SGB VII zu entnehmen ist, hat sich dadurch die Rechtslage aber materiell nicht geändert. Auf landesrechtlicher Ebene enthalten weder das BayStVollzG, das NJVollzG noch das HmbStVollzG eine Bestimmung über die Gewährung von Ausfallentschädigung.
§ 46* Taschengeld Wenn ein Gefangener wegen Alters oder Gebrechlichkeit nicht mehr arbeitet oder ihm eine Ausfallentschädigung nicht oder nicht mehr gewährt wird, erhält er ein angemessenes Taschengeld, falls er bedürftig ist. Gleiches gilt für Gefangene, die für eine Beschäftigung nach § 37 Abs. 5 kein Arbeitsentgelt erhalten. *§ 46 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3); nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 gilt § 46 bis dahin in folgender Fassung:
§ 46 Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist. VV (zu § 46 in der Fassung des § 199 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) (1) Das Taschengeld wird nur auf Antrag gewährt. (2) Das Taschengeld beträgt 14 v. H. der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG). Bei der Berechnung des Taschengeldes werden Hausgeld und Eigengeld berücksichtigt. Ein Geldbetrag, der für einen Gefangenen statt eines Paketes im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 StVollzG zum eigenen Einkauf von Nahrungs- und Genussmitteln eingezahlt wird, bleibt bis zu dem für den Ersatzeinkauf festgesetzten Höchstbetrag bei der Berechnung des Taschengeldes für den laufenden und längstens den folgenden Monat unberücksichtigt. (3) Bedürftig ist ein Gefangener, soweit ihm im laufenden Monat aus Hausgeld und Eigengeld nicht ein Betrag bis zur Höhe des Taschengeldes zur Verfügung steht. Schrifttum: s. bei § 43
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen für die Gewährung . . . . . . . . . . . . a) Kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe . . . . . b) Kein Verschulden des Gefangenen . . . . . . . . . . . c) Bedürftigkeit des Gefangenen
Rdn.
Rdn.
1 2–9
2. Rechtsanspruch bei Vorliegen der Voraussetzungen . . . . . . 8 3. Unpfändbarkeit des Taschengeldanspruchs . . . . . . . . . . . . 9 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 10–12 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 11 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 12
2–7 2 3–5 6–7
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§ 46
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
Die dem Sozialhilferecht entlehnte Taschengeldregelung ist bisher nicht in Kraft getreten. Dazu bedarf es gem. § 198 Abs. 3 eines besonderen Bundesgesetzes. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt jedoch als allein maßgebliche Vorschrift die in § 199 Abs. 1 Nr. 1 vorgesehene Übergangsfassung. Sie stellt eine finanzielle Mindestausstattung derjenigen Strafgefangenen sicher, die sonst schuldlos ohne einen verfügbaren Geldbetrag wären und dadurch besonders anfällig für behandlungsfeindliche subkulturelle Abhängigkeiten von Mitgefangenen. Das Taschengeld stellt somit auch eine wichtige soziale Mindestsicherung durch die Vollzugsbehörde dar zur Befriedigung von Bedürfnissen, die über die auf Existenzsicherung zielende Versorgung des Einzelnen durch die Anstalt hinausgehen. Einer Gewährung von Sozialhilfe für Strafgefangene durch den zuständigen Sozialhilfeträger steht der Nachranggrundsatz des § 2 SGB XII entgegen, so dass kein ergänzender Sozialhilfeanspruch besteht. Das gilt angesichts der abschließenden Regelung in § 46 auch dann, wenn die Vollzugsbehörde Taschengeld nicht gewährt (OVG Münster ZfStrVo 1988, 364; s. aber auch AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 13).
II. Erläuterungen 2
1. a) Die Zahlung eines Taschengelds kommt nur in Betracht, wenn der Gefangene kein Arbeitsentgelt (§ 43) und keine Ausbildungsbeihilfe (§ 44) erhält. Diese Nachrangigkeit des Taschengelds verdeutlicht seine Funktion als finanzielle Mindestausstattung (Rdn. 1) und ähnelt damit dem Subsidiaritätsprinzip im Bereich der Sozialhilfe. Dem entspricht auch der im Gesetz nicht enthaltene Antragsgrundsatz: Nach VV Abs. 1 wird das Taschengeld nur auf Antrag gewährt. Es soll keinem Gefangenen „aufgedrängt“ werden.
3
b) Voraussetzung ist weiter, dass der Gefangene ohne sein Verschulden keine Bezüge nach dem StVollzG erhält, weil ihm aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, weder Arbeit bzw. Beschäftigung nach § 37 Abs. 2, 4 und 5 zugewiesen noch eine Berufsbildung gemäß § 37 Abs. 3 oder schulische Bildung nach § 38 ermöglicht noch eine Hilfstätigkeit i. S. von § 41 Abs. 1 Satz 2 übertragen werden kann. Als Gründe kommen dafür wirtschaftliche Rezession mit Auftragsmangel und Arbeitslosigkeit ebenso in Betracht wie fehlende Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Arbeitsunfähigkeit des Gefangenen infolge Krankheit, Alter oder Gebrechlichkeit (vgl. zum Letzten auch BT-Drucks. 7/918, 69). Taschengeld wird nicht gezahlt, wenn der Gefangene schuldhaft mittellos ist, weil ihm aus einem von ihm zu vertretenden Grund keine Arbeit zugewiesen werden kann, z. B. im Falle der Arbeitsverweigerung (obwohl der Arzt die Arbeitsfähigkeit attestiert hat; OLG Hamm NStZ 1985, 429), während des Vollzugs des Arrestes (KG ZfStrVo 1985, 252) oder wegen Arbeitsverlustes aufgrund eines durch den Gefangenen verschuldeten Sicherheitsrisikos (Ausbruch: OLG Koblenz NStZ 1987, 576; versuchte Gefangenenbefreiung: OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 117 = NStZ 1989, 342 m. Anm. Rotthaus; Verlegung in eine besonders gesicherte Anstalt oder in den Sicherheitsbereich einer Anstalt: KG 4.12.1985 – 5 Ws 271/85 Vollz). Kann dem Inhaftierten aufgrund Verlegung keine Arbeit zugewiesen werden, darf der Taschengeldanspruch aber nur versagt werden, wenn und soweit sich die Beschäftigungslosigkeit des Gefangenen als eine unvermeidbare, ihm zuzurechnende Folge der Verlegung darstellt. Dies ist dann nicht mehr der Fall, wenn die Anstalt keine Arbeitsmöglichkeiten in dem Unterbringungsbereich geschaffen hat oder sie es lediglich für nicht vertretbar hält, in diesem (Sicherheits-)Bereich untergebrachte Gefangene zur Arbeit einzusetzen (KG 4.12.1985 – 5 Ws 271/85 Vollz; vgl. auch OLG Koblenz NStZ 1987, 576; NStZ 1989, 342).
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Taschengeld
§ 46
Die Nichtgewährung von Taschengeld führt zu besonders einschneidenden Einschrän- 4 kungen des Inhaftierten in der Anstalt. Verfügt er über keine anderen Mittel, bleibt er auf die Versorgung durch die Institution angewiesen und hat keinerlei Möglichkeit zum Erwerb von darüber hinaus notwendigen Gegenständen (z. B. von Briefmarken zur Aufrechterhaltung schriftlicher Kommunikation). Deshalb setzt der Ausschluss oder Verlust des Anspruchs auf Taschengeld voraus, dass das Verschulden des Gefangenen an der Maßnahme, die seine Arbeitslosigkeit begründet, durch positive Feststellung feststeht. Ein bloßer Verdacht (als hinreichende Grundlage für Sicherheitsmaßnahmen) reicht für die Versagung von Taschengeld nicht aus, weil die Formulierung „ohne sein Verschulden“ keine Umkehr der Beweislast zum Nachteil des Betroffenen bedeutet (OLG Zweibrücken NStZ 1994, 102). Dementsprechend hat auch das BVerfG (ZfStrVo 1996, 314) angesichts der Folgen für das Leben des bedürftigen Gefangenen im Vollzug bei Nichtgewährung von Taschengeld festgestellt, dass der Sachverhalt einer schuldhaften Arbeitsverweigerung der Klärung durch eine hinreichende Tatsachenfeststellung bedarf. Eine seitens des Gefangenen nicht wahrgenommene ärztliche Untersuchung reicht jedoch in der Regel nicht für die Annahme der Arbeitsfähigkeit des Gefangenen aus, wenn nicht die ernsthafte Weigerung eines Gefangenen, sich ärztlich untersuchen zu lassen, im Einzelfall einen anderen Rückschluss zulässig macht. Die Versagung von Taschengeld ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Gefangenen (hier: Urlaubsmissbrauch) auch kausal für seine Arbeitslosigkeit war bzw. ist (OLG Frankfurt BlStV 4/1987, 6). Nicht vorwerfbar und mithin unverschuldet ist die Mittellosigkeit aufgrund von verweigerter Haftraumarbeit, sofern nicht die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit gem. § 17 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 eingeschränkt war (OLG Hamm NStZ 1990, 206), oder infolge der Ablösung von der Arbeit, wenn diese durch die auf islamisches Recht gegründete Weigerung eines inhaftierten Angehörigen dieser Religion verursacht wird, sich nach Rückkehr aus dem Arbeitsbetrieb bei einer körperlichen Durchsuchung vollständig zu entkleiden (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 125 = NStZ 1986, 238 m. Anm. Rassow; a. A. Arloth 2008 Rdn. 2). Des Weiteren dürfen Urlaubs- und Ausgangstage bei der Gewährung des Taschengelds nicht in Abzug gebracht werden, weil dem Gefangenen die Wahrnehmung gewährter Vollzugslockerungen als gesetzliche Behandlungsmaßnahmen nicht vorgeworfen werden darf und diese daher auch nicht schuldhaft i. S. von § 46 sein kann. § 46 regelt nicht die Frage, ob und wie lange einem Gefangenen Taschengeld vorenthal- 5 ten werden darf, wenn er durch sein Verschulden seinen Arbeitsplatz verloren hat, sich danach jedoch wieder als arbeitswillig bzw. -fähig erweist, ihm aber kein Arbeitsplatz zugewiesen werden kann. Für die Fälle schuldhaften Arbeitsverlustes und nachfolgender Beschäftigungslosigkeit aufgrund Arbeitsmangels gilt, dass zwar einerseits angesichts des Vorverhaltens nicht wieder sofort ein Taschengeldanspruch entsteht (a. A. AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 7), andererseits aber der Ausschluss des Taschengeldanspruchs zeitlich nicht unbegrenzt erfolgen darf. Eine sofortige Taschengeldzahlung bei beendeter Arbeitsunwilligkeit würde die verschuldensbedingte Sanktionswirkung des § 46 aushöhlen (Arloth 2008 Rdn. 2). Ein zeitlich nicht limitierter Taschengeldverlust käme einer nicht vertretbaren Verschärfung des Vollzugs gleich (OLG Koblenz NStZ 1987, 576). Unter Bezugnahme auf die 12-Wochen-Sperrfrist des § 144 Abs. 3 SGB III bei verschuldeter Arbeitslosigkeit wird daher eine Sperrung des Taschengeldes für die Dauer von drei Monaten für angemessen gehalten (so auch OLG Hamm NStZ 1985, 429; ZfStrVo 1988, 369; OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 118). c) Um als schuldlos Beschäftigungsloser Taschengeld zu erhalten, muss der Gefangene 6 bedürftig sein. Eine gesetzliche Definition der Bedürftigkeit gibt es nicht. Nach VV Abs. 3
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§ 46
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
ist ein Gefangener bedürftig, wenn ihm im laufenden Monat aus Hausgeld und Eigengeld nicht wenigstens ein Betrag zur Verfügung steht, der der Höhe des Taschengelds entspricht. Bevor einem Inhaftierten Taschengeld gewährt werden kann, muss er somit zunächst die ihm im Antragsmonat zur Verfügung stehenden Geldmittel aufzehren. Dies betrifft auch außerhalb des Vollzugs verfügbare Geldmittel, welche auf das Eigengeldkonto eingezahlt werden könnten (BVerfG ZfStrVo 1996, 315; OLG Koblenz ZfStrVo 1996, 118). Insoweit trifft den Gefangenen eine Darlegungslast für seine Bedürftigkeit mit der Folge, dass sich eine mangelnde Mitwirkung bei der Ermittlung der Vermögensverhältnisse zu seinen Lasten auswirkt (BVerfG ZfStrVo 1996, 315; Arloth 2008 Rdn. 4; Kruis/Wehowsky 1998, 595; Laubenthal 2008 Rdn. 463). Unberücksichtigt bleiben aber das Überbrückungsgeld des § 51, weil es der freien Verfügung des Gefangenen während der Haft entzogen ist, sowie zweckbestimmte Bezüge oder Zuwendungen Dritter (AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 8). 7 Die Prüfung der Bedürftigkeit i. S. d. § 46 richtet sich nach den finanziellen Umständen in demjenigen Zeitraum, für den die Bedürftigkeit festzustellen ist. Danach zugeflossene Mittel bleiben prinzipiell unberücksichtigt (OLG Dresden NStZ 1998, 399; OLG Hamburg ZfStrVo 2000, 313; OLG Frankfurt NStZ-RR 2007, 62). Steht ein Strafgefangener in einem auf regelmäßige Ausübung angelegten Beschäftigungsverhältnis, ist das Arbeitsentgelt dem Zeitraum zuzurechnen, in dem er es verdient hat (z. B. das Entgelt für Januar dem Monat Januar). Dies gilt aber selbst dann, wenn es ihm nicht während dieses Zeitraums, sondern erst kurz danach ausgezahlt wird (z. B. der Arbeitslohn für Januar zu Anfang des Monats Februar). Insoweit bleibt ein Taschengeldanspruch ausgeschlossen (KG NStZ-RR 1999, 286). Zu den die Bedürftigkeit i. S. d. § 46 vermindernden Mitteln zählen gem. VV Abs. 2 Satz 2 auch nicht Geldeinzahlungen zum sog. Ersatzeinkauf anstelle eines Paketempfangs. Erhält ein Strafgefangener bei einem Sommerfest kein Sachgeschenk, sondern dürfen Besucher für ihn einkaufen, soll dies entsprechend der VV ebenfalls unberücksichtigt bleiben (OLG Hamburg ZfStrVo 2005, 380).
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2. Hat der Gefangene das Taschengeld beantragt und liegen die Voraussetzungen des § 46 vor, steht ihm ein Rechtsanspruch auf die Gewährung zu (s. Rdn. 2). Allerdings ist die Zuwendung von Taschengeld abhängig von einer monatlich neu zu prüfenden Bedürftigkeit des Gefangenen, so dass aus einem in der Vergangenheit bewilligten Taschengeld kein Anspruch darauf erwächst, es gleich bleibend auch zukünftig zu erhalten (BVerfG ZfStrVo 1996, 315). Die Höhe des Taschengelds soll nach § 46 angemessen sein. Die Angemessenheit wird im Gesetz nicht näher umschrieben. Eine Bindung an die in Anstalten und Heimen außerhalb des Vollzugs üblichen angemessenen Taschengeldsätze ist nicht zwingend. Obwohl das Taschengeld in der Übergangszeit bis zum Erlass des besonderen Bundesgesetzes gem. § 198 Abs. 3 in einer Vielzahl von Fällen an die Stelle der noch nicht möglichen Ausfallentschädigung (§ 45) tritt, muss es gleichwohl nicht deren Höhe haben. Denn während die Ausfallentschädigung nach Inkrafttreten des § 45 nur bis zur Dauer von längstens 6 Wochen jährlich gewährt werden soll (§ 45 Abs. 5 Satz 1), bleibt die Zahlung des Taschengelds unbegrenzt. Um in der Praxis eine bundeseinheitliche Festsetzung zu erreichen, bestimmt VV Abs. 2 Satz 1, dass 14 % der Eckvergütung gem. § 43 Abs. 2 als angemessenes Taschengeld anzusehen sind. Da dem Taschengeld nur eine Ausgleichsfunktion zukommt (Rdn. 2) und es nicht wie das Arbeitsentgelt dazu dient, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies Leben vor Augen zu führen, ist die Höhe des Taschengeldes aber nicht zwingend an die Höhe der Eckvergütung für arbeitstätige Inhaftierte gekoppelt (BVerfG NStZ 2003, 109). Der Monatsbetrag des Taschengeldes verringert sich anteilmäßig, wenn in einem Kalendermonat weniger als
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Hausgeld
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ein Monat Strafe zu vollziehen ist (z. B. der Eintritt der Rechtskraft und Übergang von der Untersuchungshaft zur Strafhaft bzw. der Strafantritt oder die Entlassung in den Lauf eines Kalendermonats fallen). 3. Der Anspruch auf Taschengeld bleibt in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 9 Satz 2 SGB XII, wonach Sozialhilfeleistungen weder abtretbar noch pfändbar sind, unpfändbar (Butzkies 1996, 345). Auch ist die Aufrechnung von Verfahrenskosten in entsprechender Anwendung des § 121 Abs. 5 gegen den Taschengeldanspruch unzulässig (BVerfG NStZ 1996, 615).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 54 Satz 1 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural, § 46 StVollzG in 10 der Übergangsfassung gem. § 199 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG. Darüber hinaus enthält die bayerische Regelung folgenden Satz 2: „Das Taschengeld darf für den Einkauf (Art. 24 Abs. 1) oder anderweitig verwendet werden.“ Diese Regelung entspricht § 47 Abs. 1 2. Alt. i. V. m. § 199 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG (dazu Anm. zu § 47). 2. Hamburg § 46 HmbStVollzG lautet: „Den Gefangenen wird auf Antrag ein Taschengeld in Höhe 11 von 14 vom Hundert der Eckvergütung (§ 40 Absatz 2 Satz 3 Nummer 1) gewährt, wenn sie ohne ihr Verschulden weder Arbeitsentgelt noch Ausbildungsbeihilfe erhalten und ihnen im laufenden Monat aus Hausgeld (§ 45) und Eigengeld (§ 48) nicht ein Betrag bis zur Höhe des Taschengeldes zur Verfügung steht und sie auch im Übrigen bedürftig sind. Es wird dem Hausgeldkonto gutgeschrieben und darf für den Einkauf (§ 25) oder anderweitig verwendet werden.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift entspricht bis auf redaktionelle Anpassungen den Regelungen in § 46 StVollzG in Verbindung mit § 47 Absatz 1 StVollzG und der VV zu § 46 Absätze 1 bis 3 StVollzG.“ (vgl. BürgerschaftsDrucks. 18/6490, 43). 3. Niedersachsen § 43 NJVollzG lautet: „Der oder dem Gefangenen ist auf Antrag ein angemessenes 12 Taschengeld zu gewähren, soweit sie oder er unverschuldet bedürftig ist.“ Dies entspricht inhaltlich § 46 i. V. m. § 199 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG in der Übergangsfassung.
§ 47* Hausgeld (1) Der Gefangene darf von seinen in diesem Gesetz geregelten Bezügen mindestens dreißig Deutsche Mark monatlich (Hausgeld) und das Taschengeld (§ 46) für den Einkauf (§ 22 Abs. 1) oder anderweit verwenden. (2) Der Mindestbetrag des Hausgeldes erhöht sich um jeweils zehn vom Hundert der dreihundert Deutsche Mark übersteigenden monatlichen Bezüge. Die Vollzugsbehörde kann höhere Beträge von der Höhe des Überbrückungsgeldes abhängig machen.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
(3) Für Gefangene, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), wird aus ihren Bezügen ein angemessenes Hausgeld festgesetzt. *§ 47 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3); nach § 199 Abs.1 Nr. 2 gilt § 47 bis dahin in folgender Fassung:
§ 47 (1) Der Gefangene darf von seinen in diesem Gesetz geregelten Bezügen drei Siebtel monatlich (Hausgeld) und das Taschengeld (§ 46) für den Einkauf (§ 22 Abs. 1) oder anderweitig verwenden. (2) Für Gefangene, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), wird aus ihren Bezügen ein angemessenes Hausgeld festgesetzt. VV (zu § 47 in der Fassung des § 199 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG) Über Beträge, die als Ersatz für entgangene, in diesem Gesetz geregelte Zuwendungen gewährt werden (z. B. Zeugenentschädigung, Verletztengeld), kann der Gefangene wie über die Zuwendungen verfügen, an deren Stelle sie treten. Schrifttum: s. bei § 43
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Höhe des Hausgeldes . . . . . 2. Verwendungsmöglichkeiten des Haus- und des Taschengeldes . 3. (Un-)Pfändbarkeit . . . . . . .
. . .
1 2–10 2–3
. .
4–6 7–10
Rdn. III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
. . . .
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. . . .
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. 11–13 . 11 . 12 . 13
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift ist bisher nicht in Kraft getreten. Dazu bedarf es nach § 198 Abs. 3 eines besonderen Bundesgesetzes. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt die in § 199 Abs. 1 Nr. 2 vorgesehene Übergangsregelung. Diese hat der Gesetzgeber durch Änderung des § 199 Abs. 1 Nr. 2 im Rahmen der Neuregelung des § 43 im 5. StVollzGÄndG vom 27.12.2000 (BGBl. I, 2043) mit Wirkung vom 1.1.2001 neu gefasst. Die Einräumung der Verfügbarkeit eines Teils der Gefangenenbezüge knüpfte zunächst an die reale Situation an, die bis zum 1.1.1977 auf der Grundlage des Arbeitsbelohnungssystems der DVollzO bestand, und verhinderte damit mangels Verringerung des Hausgeldes ein Nachlassen der Motivation der Gefangenen zu Ausbildung und Arbeit (in der unmittelbaren Zeit) nach dem In-Kraft-Treten des StVollzG. Die Übergangsfassung trug dann der Tatsache Rechnung, dass das Arbeitsentgelt (§ 43) und die Ausbildungsbeihilfe (§ 44) durch die in § 200 Abs. 1 a. F. festgelegte geringe Eckvergütung bis zur Neuregelung des Arbeitsentgelts durch das 5. StVollzGÄndG nicht jene Höhe hatten, die ein System der Beschränkung auf einen geringen Teil des Entgelts notwendig machte, wie es in Abs. 1 und 2 der suspendierten Fassung vorgesehen ist. Die durch Art. 1 Nr. 8a 5. StVollzGÄndG erfolgte Änderung der Übergangsfassung ist Kon-
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Hausgeld
§ 47
sequenz der verfassungsgerichtlichen Forderung, die von Strafgefangenen geleistete Pflichtarbeit angemessen anzuerkennen (BVerfGE 98, 169, 201 f). Während jedoch ab 1.1. 2001 der monetäre Teil des Arbeitsentgelts um 80 % angehoben wurde, betrug die Erhöhung beim Hausgeld lediglich 15,7 %. Damit bezweckt der Gesetzgeber, dass das zusätzliche Arbeitsentgelt nicht nur dem Einkauf zugute kommt, sondern auch andere Leistungen erfolgen können wie Opferentschädigung, Tilgung von Schulden oder das Ansparen eines zureichenden Überbrückungsgeldes (vgl. BT-Drucks. 14/4763; BR-Drucks. 405/00; zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung s. BVerfG NJW 2002, 2023; OLG Hamm ZfStrVo 2002, 121; OLG Saarbrücken ZfStrVo 2002, 121 m. Anm. Lückemann). § 47 entspricht Nr. 26.11 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006, nach der den Gefangenen zu gestatten ist, wenigstens einen Teil ihres Verdienstes für zugelassene und zum eigenen Gebrauch bestimmte Gegenstände auszugeben und einen Teil ihrer Familie zukommen zu lassen.
II. Erläuterungen 1. a) Zu den im StVollzG geregelten Bezügen i. S. von Abs. 1 zählen zur Zeit nur Ar- 2 beitsentgelt (§ 43) und Ausbildungsbeihilfe (§ 44), da die Ausfallentschädigung (§ 45) noch nicht in Kraft ist und das Taschengeld (§ 46) gesondert behandelt wird. Von diesen Bezügen (§§ 43, 44) bilden gemäß der Übergangsfassung (Rdn. 1) drei Siebtel monatlich das Hausgeld. Ein höherer Betrag kann von den Bezügen des Abs. 1 nicht als Hausgeld zur Verfügung gestellt werden. b) Eine Sonderregelung gilt nach Abs. 2 für Gefangene, die in einem freien Beschäfti- 3 gungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen es gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2). Aus ihren Bezügen wird ein angemessenes Hausgeld festgesetzt. Die Regelung betrifft diejenigen Gefangenen, die im Allgemeinen erheblich höhere Einkünfte haben und deren Hausgeld bei der Anwendung von Abs. 1 ein Mehrfaches des Hausgeldes der übrigen Gefangenen betragen würde. Dadurch ergäben sich im engen Zusammenleben in der Anstalt unter Umständen störende große Unterschiede hinsichtlich der Einkaufsmöglichkeiten, die ihrerseits zur Bildung unerwünschter subkultureller Abhängigkeiten führen könnten. Die Regelung in Abs. 2 soll deshalb eine gewisse, als notwendig erachtete Einheitlichkeit des Lebensstandards in der Anstalt gewährleisten. Demzufolge wird das Hausgeld in der Regel als angemessen i. S. von Abs. 2 anzusehen sein, wenn sich dessen Höhe am durchschnittlich zur Verfügung stehenden Hausgeldbetrag der Mitgefangenen orientiert (so auch C/MD 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 465; anders AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 4: Vergütungsstufe V). 2. a) Das Hausgeld kann der Gefangene für den Einkauf (§ 22 Abs. 1) verwenden. Dieser 4 im Gesetz enthaltene Hinweis geht von den bekannten praktischen Erfahrungen im Vollzug aus, dass die Inhaftierten ihr Hausgeld zum weit überwiegenden Teil und oft nahezu ausschließlich zum Zusatzeinkauf von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Körperpflegeartikeln ausgeben. Das Hausgeld muss jedoch nicht hierfür verwendet werden. Die Formulierung „oder anderweitig“ soll deutlich machen, dass der Gefangene über das Hausgeld frei verfügen kann, soweit nicht Behandlungsgebote in seinem Vollzugsplan (§ 7), Beschränkungen durch Disziplinarmaßnahmen (§ 103 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 104 Abs. 3), die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt (§ 4 Abs. 2 Satz 2), die Inanspruchnahme eines Teils des Hausgeldes für Ersatz von Aufwendungen nach § 93 oder allgemeine gesetzliche Schranken (z. B. §§ 134, 138 BGB), vor allem strafrechtlicher Art, dem entgegenstehen.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
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Für jeden Strafgefangenen wird ein Hausgeldkonto eingerichtet. Diesem führt die Anstalt drei Siebtel des Arbeitsentgelts oder der Ausbildungsbeihilfe bei Tätigkeiten im öffentlich-rechtlichen Verhältnis bzw. den als angemessen festgesetzten Betrag der im freien Beschäftigungsverhältnis Stehenden oder sich selbst Beschäftigenden zu. Gleiches gilt nach VV zu § 47 für Zuwendungen, die ein Gefangener als Ersatzleistungen für entgangene Bezüge erhält (z. B. Zeugenentschädigung, Verletztengeld). Das Hausgeldkonto gibt den Betroffenen als eine Art der anderweitigen Verwendung auch die Möglichkeit zum Sparen, das gerade mit dem Vollzugsziel des § 2 Satz 1 und dem Eingliederungsgrundsatz des § 3 Abs. 3 korrespondiert (s. BGH NStZ 1997, 205). Das Hausgeldkonto darf während der Abwicklung des monatlichen Einkaufs zur Verhinderung von weiteren Verfügungen des Gefangenen über sein Hausgeld mit der möglichen Folge, dass der bestellte Einkauf nicht mehr bezahlt werden kann, gesperrt werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 50). Die Kosten für eine für einen Gefangenen wichtige Ausführung gem. § 35 müssen allerdings nicht vom Hausgeld bestritten werden (OLG Frankfurt NStZ 1991, 152; NStZ 1997, 426), so dass die JVA nicht befugt ist, die Ausführungskosten ohne Zustimmung des Gefangenen von dessen Hausgeldkonto abzubuchen; allein in der Zustimmung des Gefangenen zu einer solchen Maßnahme ist keine Abbuchungsgenehmigung zu sehen. Dagegen ist etwa in Niedersachsen gem. § 52 Abs. 5 Satz 3 NJVollzG zur Durchsetzung von Kostenbeiträgen für Leistungen i. S. d. § 52 Abs. 3 NJVollzG (z. B. Aufwendungen für die Durchführung von Vollzugslockerungen, Kostenbeteiligungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge usw.) eine Aufrechnung gegen den Anspruch auf Hausgeld zulässig.
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b) Über das Taschengeld (§ 46) kann in gleicher Weise frei verfügt werden wie über das Hausgeld. Im Gegensatz zu den anderen Bezügen nach dem StVollzG darf dieses in voller Höhe verwendet werden, da es einen wesentlich geringeren Betrag darstellt, als dies regelmäßig bei Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe der Fall ist (vgl. § 46 Rdn. 8).
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3. a) Nach herrschender Auffassung ist das Hausgeld unpfändbar (s. auch AG Freiburg NStZ 1993, 150 m. zust. Anm. Ullenbruch). Dabei unterscheiden sich jedoch die Begründungen, zumal das StVollzG selbst keine ausdrückliche Regelung hierzu getroffen hat: Ganz überwiegend wird die Unpfändbarkeit im Rahmen der §§ 850 ff ZPO – die zur Anwendung gelangen, weil das Hausgeld aus dem Arbeitsentgelt gebildet wird – teils auf die Pfändungsgrenzen des § 850c ZPO wie beim Anspruch auf Gutschrift des Arbeitsentgelts (wobei die Grenzen bei der gegenwärtigen Höhe des Hausgeldes praktisch nicht erreicht werden), teils auf § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO gestützt, da Hausgeld (und Taschengeld) zum notwendigen Unterhalt gehöre (s. BGHSt 36, 80; OLG Hamm MDR 2001, 1260; OLG Karlsruhe NStZ 1985, 430 m. Anm. Volckart; OLG Stuttgart NStZ 1986, 47; OLG München NStZ 1987, 45 m. Anm. Seebode; OLG Celle NStZ 1988, 334; ZfStrVo 1992, 261; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 1; Konrad 1990, 206). Nach Auffassung des OLG Celle (NStZ 1981, 78 m. Anm. Ballhausen und NStZ 1988, 334) soll das Hausgeld, wenn es aus der Ausbildungsbeihilfe gem. § 44 gebildet wurde, nach § 850a Nr. 6 ZPO unpfändbar sein. Die gänzliche Unpfändbarkeit des Hausgeldes gem. § 851 ZPO i. V. m. § 399 BGB ergibt sich bereits in vollzugsrechtlicher Sicht aufgrund der spezifischen Zweckbindung des Hausgeldes zugunsten der Betroffenen (s. AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 5; Arloth 2008 Rdn. 11; Fluhr 1989, 105 und 1994, 115; Seebode in Anm. zu OLG München NStZ 1987, 47; LG Münster Rpfleger 2000, 509; OLG Hamm ZfStrVo 2003, 184).
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b) Problematisch erscheint dagegen eine differenzierende Ansicht (s. 5. Strafsenat des KG Beschl. v. 16.6.1983 – 5 Ws 108/83 Vollz und v. 25.8.1987 – 5 Ws 209/87 Vollz). Danach soll sich die Frage der Pfändbarkeit nach den §§ 850 bis 850i ZPO richten, soweit der
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Hausgeld
§ 47
Anspruch des Gefangenen auf Gutschrift des Hausgeldes (aus dem Arbeitsentgelt) betroffen ist. Davon unterschieden wird der Anspruch des Gefangenen auf Auszahlung des Hausgeldes, da der Anspruch auf das Arbeitsentgelt mit der Gutschrift auf dem Hausgeldkonto gem. § 362 Abs. 1 BGB erlischt (so auch Fluhr 1989, 103). Insoweit sollen die §§ 850 bis 850i ZPO unanwendbar bleiben mit der Folge der prinzipiellen Pfändbarkeit des Hausgeldes. Der Gefangene müsste dann entsprechend § 850k ZPO den – allerdings beschränkten – Pfändungsschutz beantragen. Dies würde jedoch dem Gefangenen die Möglichkeit zum Ansparen von Hausgeld – etwa für größere Anschaffungen – nehmen (so auch Arloth 2008 Rdn. 11). c) Wendet sich ein Gefangener gegen eine unzulässige Auszahlung von Hausgeld zur 9 Ausführung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses durch die Vollzugsbehörde, so ist – wenn die Geldforderung des Gefangenen nach den Bestimmungen der ZPO gepfändet und überwiesen werden soll und die Rechtmäßigkeit der Pfändung angegriffen wird – nicht der Rechtsweg zur Strafvollstreckungskammer des Landgerichts nach §§ 109 ff gegeben. Zuständig zur Entscheidung über Einwendungen eines Inhaftierten gegen die Rechtmäßigkeit von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen sowie andere Fragen einer Zwangsvollstreckung ist vielmehr nach § 766 ZPO das Vollstreckungsgericht (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1988, 115; KG NStZ 1991, 56; OLG Hamburg ZfStrVo 1996, 182; Laubenthal 2008 Rdn. 767). d) Ungeachtet der umstrittenen Frage der Pfändbarkeit des Hausgeldes gestattet § 93 10 Abs. 2 i.d.F. des § 199 Abs. 1 Nr. 4 der Vollzugsbehörde, zum Ersatz von bestimmten Aufwendungen einen den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigenden Teil des Hausgeldes in Anspruch zu nehmen. Gleiches gilt gem. § 121 Abs. 5 für die Kosten des Verfahrens nach §§ 109 ff. Diese beiden gesetzlichen Erweiterungen der Aufrechnungsmöglichkeiten mit dem Hausgeldkonto sind wegen ihres Charakters als Ausnahmevorschriften auf andere behördliche Ansprüche gegen Strafgefangene nicht analog anwendbar (BGHSt 36, 80).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 50 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural sowie die geänderten 11 Verweisungen auf Landesrecht, weitestgehend § 47 StVollzG i. d. F. der geltenden Übergangsregelung. Weggefallen ist allerdings die Regelung zum Taschengeld, welche unmittelbar in Art. 54 BayStVollzG verortet wurde. 2. Hamburg § 45 HmbStVollzG entspricht laut Gesetzesbegründung, abgesehen von redaktionel- 12 len Änderungen, § 47 (vgl. Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 43 und Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 57). 3. Niedersachsen § 46 NJVollzG lautet: „(1) Als Hausgeld gutgeschrieben werden Ansprüche 1. auf Ar- 13 beitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe zu drei Siebteln, 2. auf Taschengeld in voller Höhe sowie 3. aus einem freien Beschäftigungsverhältnis oder einer Selbstbeschäftigung, die der Vollzugsbehörde zur Gutschrift für die oder den Gefangenen überwiesen worden sind (§ 36 Abs. 3), zu einem angemessenen Teil. (2) Für die Gefangene oder den Gefangenen darf bis zu
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§ 48
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drei Mal jährlich ein zusätzlicher Geldbetrag auf das Hausgeldkonto überwiesen oder eingezahlt werden. Der Betrag darf den vierfachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 jeweils nicht übersteigen. (3) Die Verfügung über das Guthaben auf dem Hausgeldkonto unterliegt keiner Beschränkung; es kann insbesondere für den Einkauf (§ 24) verwendet werden.“ Der neue Abs. 2 enthält eine Regelung den sog. Zusatzeinkauf betreffend und bezieht sich damit auf das Verbot des § 34 Abs. 1 Satz 3 NJVollzG über den Empfang von Paketen mit Nahrungs- und Genußmitteln. Abs. 3 hebt den Unterschied zwischen Hausgeld und Eigengeld i. S. d. § 48 NJVollzG hervor (vgl. zur Verfügungsbeschränkung § 48 Abs. 3 NJVollzG).
§ 48 Rechtsverordnung Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mit Zustimmung des Bundesrates zur Durchführung der §§ 43 bis 45 Rechtsverordnungen über die Vergütungsstufen zu erlassen.
I. Allgemeine Hinweise 1
Die durch Art. 1 des Gesetzes v. 5.10.2002 (BGBl. I, 3954) und Art. 62 der ZuständigkeitsanpassungsVO v. 25.11.2003 (BGBl. I, 2311) geänderte Vorschrift enthält eine Ermächtigung für den Erlass von Rechtsverordnungen zur Durchführung der §§ 43 bis 45. Dadurch soll gewährleistet werden, dass im Geltungsbereich des StVollzG einheitliche Vergütungsstufen für Arbeitsentgelt, Ausbildungsbeihilfe und Ausfallentschädigung festgesetzt werden. Das Taschengeld (§ 46) ist in diese Ermächtigungsgrundlage nicht einbezogen. Insoweit bleibt es zur Feststellung der Angemessenheit des Taschengeldes bei dem Erlass von Länderverwaltungsvorschriften. Das Bundesministerium der Justiz hat im Einvernehmen mit dem damaligen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und mit Zustimmung des Bundesrates von der Ermächtigungsnorm Gebrauch gemacht und die am 1. Februar 1977 in Kraft getretene „Verordnung über die Vergütungsstufen des Arbeitsentgelts und der Ausbildungsbeihilfe nach dem Strafvollzugsgesetz – Strafvollzugsvergütungsordnung (StVollzVergO)“ erlassen (BGBl. I, 57). 2 Gem. § 1 Abs. 1 StVollzVergO wird der Grundlohn des Arbeitsentgelts (§ 43 Abs. 2) nach fünf Vergütungsstufen festgesetzt: Vergütungsstufe I (gem. § 1 Abs. 2 StVollzVergO 75 % des Grundlohns) gilt für Arbeiten einfacher Art, die keine Vorkenntnisse und nur eine kurze Einweisungszeit erfordern und die nur geringe Anforderungen an die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit oder an die Geschicklichkeit stellen. Vergütungsstufe II (= 88 % des Grundlohns) ist für Arbeiten der Stufe I vorgesehen, die eine Einarbeitungszeit erfordern. Arbeiten, die eine Anlernzeit erfordern und durchschnittliche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und die Geschicklichkeit stellen, werden nach Vergütungsstufe III (= 100 % des Grundlohns) entlohnt. Vergütungsstufe IV (= 112 % des Grundlohns) ist für Arbeiten vorgesehen, die die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharbeiters erfordern oder gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen. Schließlich gilt Vergütungsstufe V (= 125 % des Grundlohns) für Arbeiten, die über die Anforderungen der Stufe IV hinaus ein besonderes Maß an Können, Einsatz und Verantwortung erfordern. Hinsichtlich des Arbeitsentgelts für arbeitstherapeutische Beschäftigung und für die Ausbil-
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Rechtsverordnung
§ 48
dungsbeihilfe sehen §§ 3 und 4 StVollzVergO besondere Regelungen vor: Ein arbeitstherapeutisch beschäftigter Gefangener erhält in der Regel 75 % des Grundlohns der Vergütungsstufe I. Ein in Ausbildung gem. § 44 Abs. 1 Satz 1 befindlicher Inhaftierter erhält vorbehaltlich ihm zustehender anderweitiger Leistungen zum Lebensunterhalt (s. § 44 Rdn. 4) eine Ausbildungsbeihilfe nach der Vergütungsstufe III, wenn er nicht gem. § 4 Abs. 2 und 3 StVollzVergO unter den dort genannten Voraussetzungen in Vergütungsstufen II oder IV eingestuft wird. § 2 StVollzVergO legt Zulagen fest, die den Gefangenen zusätzlich zum Grundlohn ge- 3 währt werden können. Es handelt sich gem. § 2 Abs. 1 StVollzVergO um sog. Umständezulagen, die für Arbeiten unter arbeitserschwerenden Umgebungseinflüssen, zu ungünstigen Zeiten und für Zeiten, die über die festgesetzte Arbeitszeit hinausgehen, bis zu insgesamt 35 % vom Grundlohn betragen können. Darüber hinaus können nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 StVollzVergO Leistungszulagen im sog. Zeitlohn (d. h. ein Gefangener hat eine bestimmte Stundenzahl am Tag zu arbeiten) bis zu 30 % vom Grundlohn gewährt werden unter Berücksichtigung von Arbeitsmenge und -güte, Umgang mit Betriebsmitteln und Arbeitsmaterialien, Leistungsbereitschaft und Ausmaß von Fehlzeiten; gem. Nr. 2 im sog. Leistungslohn (d. h. ein Gefangener hat eine bestimmte Leistung innerhalb einer festgesetzten Arbeitszeit zu erbringen) bis zu 15 % vom Grundlohn unter Berücksichtigung von Arbeitsgüte sowie Umgang mit Betriebsmitteln und Arbeitsmaterialien (zur Kürzung von Leistungszulagen gem. § 2 Abs. 2 StVollzVergO s. KG ZfStrVo 1982, 315). Bei der Gewährung von Leistungszulagen handelt es sich nicht um einen begünstigenden, laufende Geldleistung gewährenden Dauerverwaltungsakt mit der Eignung, Vertrauensschutz zugunsten des Betroffenen zu entfalten (OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 254). Das System der Zulagenvergütung nach § 2 Abs. 2 StVollzVergO ist auch auf Fernstudien (s. hierzu § 37 Rdn. 18, 23) anwendbar (KG NStZ 2003, 593), soweit diese als Maßnahme i. S. d. § 37 Abs. 3 durchgeführt werden. Dabei ist das Merkmal der Leistungsbereitschaft nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StVollzVergO regelmäßig erfüllt, wenn sich der Gefangene den vorgesehenen Leistungskontrollen und Prüfungen erfolgreich unterzieht. Ein sparsamer Umgang mit Betriebs- und Arbeitsmitteln liegt bei Fernstudierenden vor, wenn sie sich ihre Arbeitsmittel selbst beschaffen, weil es so zu einer größtmöglichen Schonung der Betriebs- und Arbeitsmittel der Anstalt kommt, da diese keinerlei Abnutzung unterliegen. Das Merkmal der Arbeitsgüte nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StVollzVergO wird jedenfalls dann erfüllt, wenn der Gefangene überdurchschnittliche Leistungen erbringt (KG NStZ 2003, 593).
II. Landesgesetze 1. Bayern Art. 48 BayStVollzG lautet: „Das Staatsministerium der Justiz wird ermächtigt, zur 4 Durchführung der Art. 46 und 47 eine Rechtsverordnung über die Vergütungsstufen zu erlassen.“ Abgesehen von der geänderten Ermächtigung des Landes-Ministeriums anstelle des Bundesministeriums ging eine inhaltliche Änderung mit der Neuformulierung nicht einher. In Bayern gilt seit 1.1.2008 die Bayerische Strafvollzugsvergütungsverordnung (BayGVBl. Nr. 2/2008, 25). Deren Regelungen entsprechen denjenigen der StVollzVergO des Bundes. 2. Hamburg
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Keine Entsprechung.
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§ 44 NJVollzG lautet: „Das Fachministerium wird ermächtigt, zur Durchführung der §§ 40, 41 und 43 eine Verordnung über die Vergütungsstufen sowie die Bemessung des Arbeitsentgeltes, der Ausbildungsbeihilfe und des Taschengeldes zu erlassen.“ Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Die vorgesehene Verordnungsermächtigung entspricht § 48 StVollzG. Einbezogen wird zusätzlich allerdings die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe, für die § 41 des Entwurfs, anders als § 44 Abs. 2 StVollzG, keine unmittelbaren Vorgaben mehr enthält, sowie des Taschengeldes nach § 43 des Entwurfs, dessen Bemessung bislang lediglich in der VV zu § 46 StVollzG geregelt ist.“ Für die Zeit bis zum Erlass der in § 44 vorgesehenen Verordnung gilt die Übergangsvorschrift des § 201 Abs. 1 NJVollzG: „Bis für die einzelnen Vollzugsarten eine Verordnung über die Vergütungsstufen sowie die Bemessung des Arbeitsentgelts, der Ausbildungsbeihilfe und des Taschengeldes in Kraft tritt, gelten die die jeweilige Vollzugsart betreffenden Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die Bemessung des Arbeitsentgeltes und der Ausbildungsbeihilfe sowie die Strafvollzugsvergütungsordnung vom 11. Januar 1977 (BGBl. I S. 57) fort.“
§ 49* Unterhaltsbeitrag (1) Auf Antrag des Gefangenen ist zur Erfüllung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht aus seinen Bezügen an den Berechtigten oder einen Dritten ein Unterhaltsbeitrag zu zahlen. (2) Reichen die Einkünfte des Gefangenen nach Abzug des Hausgeldes und des Unterhaltsbeitrages nicht aus, um den Haftkostenbeitrag zu begleichen, so wird ein Unterhaltsbeitrag nur bis zur Höhe des nach § 850c der Zivilprozessordnung unpfändbaren Betrages gezahlt. Bei der Bemessung des nach Satz 1 maßgeblichen Betrages wird die Zahl der unterhaltsberechtigten Personen um eine vermindert. *§ 49 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3).
Die Vorschrift wurde bisher nicht in Kraft gesetzt. Dazu bedarf es gem. § 198 Abs. 3 eines besonderen Bundesgesetzes, das zurzeit nicht vorgesehen und dessen Erlass ungewiss ist. Die Zahlung eines Unterhaltsbeitrages an unterhaltsberechtigte Angehörige bleibt zwar auch ohne die Geltung des § 49 möglich, kommt jedoch für solche Strafgefangene, die Bezüge erhalten, praktisch kaum in Betracht, weil diese Entlohnung nur einen geringen Teil des leistungsgerechten Arbeitsentgelts ausmacht, von dem die Vorschrift ausgeht. Die fehlende Relevanz des § 49 Abs. 2 wird auch durch den Umstand belegt, dass gem. § 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bei Gefangenen, die Bezüge nach dem StVollzG erhalten, kein Haftkostenbeitrag zu erheben ist. Auf landesrechtlicher Ebene enthalten weder das BayStVollzG, das NJVollzG noch das HmbStVollzG eine Bestimmung über den Unterhaltsbeitrag.
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§ 50 Haftkostenbeitrag (1) Als Teil der Kosten der Vollstreckung der Rechtsfolgen einer Tat (§ 464a Abs. 1 Satz 2 der Strafprozessordnung) erhebt die Vollzugsanstalt von dem Gefangenen einen Haftkostenbeitrag. Ein Haftkostenbeitrag wird nicht erhoben, wenn der Gefangene 1. Bezüge nach diesem Gesetz erhält oder 2. ohne sein Verschulden nicht arbeiten kann oder 3. nicht arbeitet, weil er nicht zur Arbeit verpflichtet ist. Hat der Gefangene, der ohne sein Verschulden während eines zusammenhängenden Zeitraumes von mehr als einem Monat nicht arbeiten kann oder nicht arbeitet, weil er nicht zur Arbeit verpflichtet ist, auf diese Zeit entfallende Einkünfte, so hat er den Haftkostenbeitrag für diese Zeit bis zur Höhe der auf sie entfallenden Einkünfte zu entrichten. Dem Gefangenen muss ein Betrag verbleiben, der dem mittleren Arbeitsentgelt in den Vollzugsanstalten des Landes entspricht. Von der Geltendmachung des Anspruchs ist abzusehen, soweit dies notwendig ist, um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gemeinschaft nicht zu gefährden. (2) er Haftkostenbeitrag wird in Höhe des Betrages erhoben, der nach § 17 Abs. 1 Nr. 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch durchschnittlich zur Bewertung der Sachbezüge festgesetzt ist. Das Bundesministerium der Justiz stellt den Durchschnittsbetrag für jedes Kalenderjahr nach den am 1. Oktober des vorhergehenden Jahres geltenden Bewertungen der Sachbezüge, jeweils getrennt für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet und für das Gebiet, in dem das Strafvollzugsgesetz schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat, fest und macht ihn im Bundesanzeiger bekannt. Bei Selbstverpflegung entfallen die für die Verpflegung vorgesehenen Beträge. Für den Wert der Unterkunft ist die festgesetzte Belegungsfähigkeit maßgebend. Der Haftkostenbeitrag darf auch von dem unpfändbaren Teil der Bezüge, nicht aber zu Lasten des Hausgeldes und der Ansprüche unterhaltsberechtigter Angehöriger angesetzt werden. (3) Im Land Berlin gilt einheitlich der für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet geltende Durchschnittsbetrag. (4 Die Selbstbeschäftigung (§ 39 Abs. 2) kann davon abhängig gemacht werden, dass der Gefangene einen Haftkostenbeitrag bis zur Höhe des in Absatz 2 genannten Satzes monatlich im Voraus entrichtet. (5) Für die Erhebung des Haftkostenbeitrages können die Landesregierungen durch Rechtsverordnung andere Zuständigkeiten begründen. Auch in diesem Fall ist der Haftkostenbeitrag eine Justizverwaltungsabgabe; auf das gerichtliche Verfahren finden die §§ 109 bis 121 entsprechende Anwendung. VV (1) Der nicht auf die Kost entfallende Anteil des Haftkostenbeitrages ist auch dann zu erheben, wenn sich Gefangene wegen Urlaubs oder aus sonstigen Gründen vorübergehend nicht in der Anstalt aufhalten. (2) Während der Teilnahme an Maßnahmen der Ausbildung oder Weiterbildung wird von der Erhebung eines Haftkostenbeitrages abgesehen, wenn Leistungen nach öffentlich-rechtlichen Bestimmungen (SGB III) gewährt werden, die die Höhe der Ausbildungsbeihilfe nach § 44 nicht übersteigen. Schrifttum: s. vor § 37
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Keine Haftkosten bei StVollzGBezügen (Absatz 1); Begriff . . 2. Verpflichtung zur Erhebung . 3. Höhe des Haftkostenbeitrags .
. .
1–2 3–11
. . .
3–4 5–6 7–10
Rdn. 4. Zuständigkeitsfragen III. Landesgesetze . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . 3. Niedersachsen . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. 11 . 12–14 . 12 . 13 . 14
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift wurde durch Art. 11 des Gesetzes über elektronische Register und Justizkosten für Telekommunikation (ERJuKoG) vom 10.12.2001 (BGBl. I, 3422) mit Wirkung zum 15.12.2001 neu gefasst. Die mit diesem Gesetz bezweckte Modernisierung und Vereinfachung des Justizkostenrechts ingesamt (vgl. BR-Drucks. 339/01, 9) bewirkte für den Bereich des Vollzugs der Freiheitsstrafe eine Vereinheitlichung der für den Kostenansatz relevanten Regelungen, welche nach § 138 Abs. 2 entsprechend auf den Vollzug der Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB anzuwenden sind. Aufgehoben wurde § 10 Justizverwaltungskostenordnung (JVKostO) und damit das frühere Nebeneinander von StVollzG und JVKostO beendet. § 50 Abs. 1 in der Übergangsfassung des § 199 Abs. 1 Nr. 3 (geändert durch den Eini2 gungsvertrag [BGBl. 1990 II, 889, 956 f]) legte bis zum In-Kraft-Treten des ERJuKoG fest, dass von Gefangenen, die Bezüge nach dem StVollzG erhalten, Haftkosten nicht erhoben werden. Diese Regelung trug der Tatsache Rechnung, dass es den Gefangenen bei der geringen Höhe ihrer im StVollzG geregelten Bezüge nicht möglich war, aus ihren Einkünften einen finanziellen Beitrag zu den zu Lasten des öffentlichen Haushalts entstehenden Haftkosten zu leisten. Das Arbeitsentgelt (§ 43) bzw. die Ausbildungsbeihilfe (§ 44) reichten bei der durch § 200 Abs. 1 a. F. festgelegten Eckvergütung nicht aus, um neben dem Hausgeld (§ 47) und dem Überbrückungsgeld (§ 51) noch nennenswerte Unterhaltsbeiträge für Familienangehörige zu leisten (vgl. Erl. zu § 49) oder wesentliche Beiträge zur Schuldenregulierung zu verwenden. Das Resozialisierungsgebot sowie das Sozialstaatsprinzip legen aber mit Blick auf die notwendige Anerkennung von Gefangenenarbeit nahe, im Widerstreit des staatlichen Interesses an Kostendeckung mit den wirtschaftlichen Interessen des Gefangenen den Haftkostenbeitrag so zu bemessen, dass dem Gefangenen von der Vergütung jedenfalls ein gewisser Betrag verbleibt (BVerfGE 98, 169, 212 f). Durch die alte Übergangsfassung des § 50 konnte daher nur sehr begrenzt dem unter dem Gesichtspunkt des Angleichungsprinzips (§ 3 Abs. 1) zuzustimmenden Grundsatz Rechnung getragen werden, dass der Gefangene aus seinen Einkünften zu den Kosten seiner Haft bis zu der Höhe beizutragen hat, die in etwa den Aufwendungen für seinen Lebensunterhalt entspricht (BT-Drucks. 7/918, 70). Zwar bestimmt nunmehr § 50 Abs. 1 Satz 1 i. d. F. des Art. 11 Nr. 1 ERJuKoG, dass die Vollzugsanstalt als zuständige Behörde einen Haftkostenbeitrag zu erheben hat. Aufgrund der in Abs. 1 Satz 2 normierten Einschränkungen bleibt jedoch in der Praxis die Heranziehung eines Inhaftierten zu den Vollzugskosten im Geltungsbereich des StVollzG weiterhin die Ausnahme. Allerdings enthalten auf der landesgesetzlichen Ebene die Strafvollzugsgesetze – in unterschiedlicher Ausprägung – Rechtsgrundlagen für die Beteiligung von Strafgefangenen an anderen Kosten des Vollzugs. Das betrifft etwa Aufwendungen für die Ausführung eines Inhaftierten oder für die Aufbewahrung, Entfernung, Verwertung bzw. Vernichtung der vom Verurteilten in die Anstalt eingebrachten Gegenstände, deren Aufbewahrung ausgeschlossen bleibt. Es erfolgen zudem Kostenbeteiligungen für Leistungen bei
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Haftkostenbeitrag
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der vollzuglichen Krankenbehandlung sowie für Stromkosten, die durch die Nutzung von Elektrogeräten anfallen, usw. (s. auch Rdn. 12).
II. Erläuterungen 1. Abs. 1 Satz 1 bezieht sich auf § 464a Abs. 1 Satz 2 StPO, wonach die Kosten der Voll- 3 streckung einer Rechtsfolge der Tat zu den Verfahrenskosten gehören, die ein strafgerichtlich Verurteilter gem. § 465 Abs. 1 Satz 1 StPO zu tragen hat. Teil der Vollstreckungskosten sind die Haftkosten, welche als Haftkostenbeitrag erhoben werden. Allerdings ist die Bezeichnung Haftkosten insoweit ungenau, als § 50 nicht die Gesamtheit aller der durch das Strafvollzugsgesetz im Einzelfall veranlassten Ausgaben (einschließlich personeller und sächlicher Aufwendungen abzüglich Einkommen) betrifft, sondern nur die Ausgaben für den Lebensunterhalt des Gefangenen als Teilmenge der Haftkosten (zur Unterscheidung Keck NStZ 1989, 309, 310). Schon diese Beschränkung der Kostentragungspflicht auf Aufwendungen für den Lebensunterhalt (Verpflegung und Unterbringung) des Inhaftierten folgt aus der Erkenntnis des Bundesgesetzgebers, nicht durch weiter gehende finanzielle Inanspruchnahme die soziale Reintegration Verurteilter zu gefährden (BR-Drucks. 339/01, 10). Dementsprechend normiert Satz 2 weiter auch Ausnahmen von der Erhebung des Haft- 4 kostenbeitrags für Verpflegung und Unterbringung. Eine Heranziehung entfällt nach Nr. 1, wenn der Inhaftierte Arbeitsentgelt (§ 43) oder Ausbildungsbeihilfe (§ 44) erhält, womit der Gesetzgeber der selbst nach Inkrafttreten des 5. StVollzGÄndG am 1.1.2001 fortbestehenden geringen finanziellen Entlohnung der Gefangenenarbeit Rechnung trägt. Es bleibt deshalb im Rahmen von Nr. 1 bedeutungslos, ob dem Pflichtarbeit verrichtenden Inhaftierten noch andere Einkünfte als diejenigen nach dem jeweiligen StVollzG zufließen (KG StV 2006, 596). Von der Beitragspflicht freigestellt ist gem. Nr. 2 ferner ein Gefangener, der ohne sein Verschulden nicht arbeiten kann. Dabei entspricht das Merkmal des fehlenden Verschuldens demjenigen in § 46 (s. dort Rdn. 3) bei der Entscheidung über die Gewährung von Taschengeld. Eine Beitragserhebung erfolgt gem. Nr. 3 grundsätzlich auch nicht bei Inhaftierten, welche nicht arbeiten, weil sie zur Arbeit nicht verpflichtet sind. Dies betrifft nach § 41 Abs.1 Satz 3 (s. dort Rdn. 12) Gefangene über 65 Jahre und Mütter nach den Vorschriften des Mutterschutzgesetzes. In den Fällen von Nr. 1 und 2 darf der Betroffene dennoch unter den Voraussetzungen von Sätzen 3 und 4 zur Entrichtung von Haftkostenbeiträgen herangezogen werden, wenn er während eines zusammenhängenden Zeitraums von mehr als einem Monat auf diese Zeit entfallende Einkünfte von außerhalb des Vollzugs hat (z. B. Rente, Zinsen, Mieteinnahmen). 2. a) Die Vollzugsanstalt ist nach Abs. 1 Satz 1 verpflichtet, bei Nichtvorliegen von Aus- 5 nahmetatbeständen die Haftkostenbeiträge zu erheben. Das betrifft in der Praxis vor allem diejenigen Inhaftierten, die keine Bezüge nach diesem Gesetz i. S. d. Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 erhalten, also die gem. § 39 Abs. 1 in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen und deshalb regelmäßig über mehr finanzielle Mittel verfügen als solche, die einer zugewiesenen Pflichtarbeit nachkommen. Auch bei der Selbstbeschäftigung (§ 39 Abs. 2) ist der Betroffene zur Beitragsleistung heranzuziehen. Insoweit kann die Anstaltsleitung gem. Abs. 4 – angesichts unregelmäßiger Einkünfte – zur Sicherung des Anspruchs auf Haftkostenbeitrag die Gestattung der Selbstbeschäftigung von einer monatlichen Vorausentrichtung abhängig machen. Der Beitragspflicht unterfallen die schuldhaft arbeitslosen Strafgefangenen (zur Praxis der Erhebung von Haftkosten bei Arbeitsverweigerern s. Lohmann 2002, 147 ff). Dabei sind jedoch bei Fehlen tatsächlicher Einkünfte auch die Grenzen von Abs. 2 Satz 5 zu beachten.
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b) Ist von der Anstaltsleitung ein Haftkostenbeitrag zu erheben, begrenzt Abs. 1 Satz 4 die Höhe dahin gehend, als dem Betroffenen Einkünfte verbleiben müssen, die dem mittleren Arbeitsentgelt in den Vollzugsanstalten des Landes entsprechen. In Anlehnung an § 10 Abs. 1 Satz 3 JVKostO i. d. F. von 1970 (BGBl. I, 805) bleibt diese Regelung zum Zweck einer praktischen Handhabung so zu interpretieren, dass die nach §§ 43 Abs. 2 Satz 2, 200 zu bestimmende Eckvergütung als das mittlere Arbeitsentgelt zu betrachten ist (Arloth 2008 Rdn. 8). Die Resozialisierungsklausel des Satz 5 ermächtigt die Vollzugsbehörde, von der Geltendmachung des Haftkostenbeitrags abzusehen, soweit dies notwendig ist, um die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gemeinschaft nicht zu gefährden. Ein Verzicht erfolgt nach VV Abs. 2 dann, wenn während der Teilnahme an Bildungsmaßnahmen die Gewährung von Bezügen nach anderen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen von einem solchen Verzicht abhängig gemacht wird. Ein Verzicht wegen Gefährdung der Reintegration kommt ferner in Betracht bei Unterhaltspflichtverletzern mit Wohnmietzinsverpflichtung und geringem Arbeitseinkommen, wenn Wohnung und Unterhaltszahlung sonst gefährdet sind; bei Verpflichtung des Gefangenen zur Zahlung von Schmerzensgeld an Opfer, wenn diese Leistung sonst gefährdet ist; bei hohen Schulden, die der Gefangene in Teilzahlungen ernsthaft abzutragen versucht, wenn diese Bemühung sonst zu scheitern droht.
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3. a) Für die Höhe des Haftkostenbeitrags (s. noch Rdn. 8) ist der Betrag maßgebend, der nach § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB IV durchschnittlich zur Bewertung der Sachbezüge festgesetzt wird. Dabei handelt es sich um jenen Satz, den man in der Sozialversicherung als rechnerische Größe verwendet, um den Wert von Sachbezügen (vor allem Unterkunft und Verpflegung) für die Beiträge zur Sozialversicherung bewerten zu können. Der Satz für diese Sachbezüge wird von der Bundesregierung auf der Grundlage des statistisch (anhand des Preisindexes für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte) ermittelten tatsächlichen Verkehrswertes für freie Kost und Wohnung im Voraus für jedes Kalenderjahr bestimmt. Die Bindung des Haftkostenbeitrags an diese außerhalb des Vollzugs für den gleichen Sachverhalt geltende Rechengröße entspricht dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) und erscheint sachgerecht (vgl. auch BT-Drucks. 7/918, 70). Nach Abs. 2 Satz 2 stellt das Bundesministerium der Justiz aus den in den Bundesländern unterschiedlichen Sätzen den Durchschnittsbetrag für jedes Kalenderjahr nach den am 1.10. des vorhergehenden Jahres geltenden Bewertungen der Sachbezüge fest und macht ihn im Bundesanzeiger bekannt. Der Haftkostenbeitrag stellt einen Pauschalbetrag ungeachtet der tatsächlich entstehenden Kosten im Einzelfall dar. Daher sind Haftkostenbeiträge für die Unterkunft auch dann zu erheben, wenn sich Gefangene wegen Urlaubs oder aus sonstigen in ihrer Person liegenden Gründen nicht in der Anstalt aufhalten.
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b) Die Durchschnittssätze der gem. § 17 SGB IV bewerteten Sachbezüge wurden vom Bundesministerium der Justiz für das Jahr 2009 durch Bekanntmachung vom 9.10.2008 für das gesamte Bundesgebiet einheitlich wie folgt festgesetzt (s. Bundesanzeiger Nr. 153, S. 3601). für Unterkunft 1. für Gefangene bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und für Auszubildende bei Einzelunterbringung 138,60 € bei Belegung mit zwei Gefangenen 59,40 € bei Belegung mit drei Gefangenen 39,60 € bei Belegung mit mehr als drei Gefangenen 19,80 €
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Haftkostenbeitrag
2. für alle übrigen Gefangenen bei Einzelunterbringung bei Belegung mit zwei Gefangenen bei Belegung mit drei Gefangenen bei Belegung mit mehr als drei Gefangenen für Verpflegung Frühstück Mittagessen Abendessen
§ 50
168,30 € 89,10 € 69,30 € 49,50 € 45,00 € 80,00 € 80,00 €
c) Die in den vorstehenden Festsetzungen des Bundesministeriums der Justiz angege- 9 benen Beträge beziehen sich jeweils auf einen Monat. Für kürzere Zeiträume ist für jeden Tag ein Dreißigstel der aufgeführten Beträge zugrunde zu legen. Bei Selbstverpflegung eines Strafgefangenen entfallen nach Abs. 2 Satz 3 die für die Verpflegung vorgesehenen Beträge. Ist die Selbstverpflegung gestattet, können bei der Entrichtung des Haftkostenbeitrags nicht sog. Bereitstellungskosten für nicht eingenommene Mahlzeiten in Rechnung gestellt werden (OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 314). d) Der Haftkostenbeitrag darf auch vom unpfändbaren Teil der Bezüge einbehalten 10 werden (Abs. 2 Satz 5), jedoch nicht zu Lasten des Hausgeldes (§ 47) oder Ansprüchen unterhaltsberechtigter Angehöriger. Diese Regelung stellt einen Eingriff in die allgemeinen Pfändungsschutzvorschriften der §§ 850 ff ZPO dar. Ein solcher ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass der Haftkostenbeitrag den Existenz sichernden Lebensunterhalt des Gefangenen (Unterkunft und Verpflegung) in der Anstalt gewährleisten soll und dass er für seinen sonstigen persönlichen Unterhalt – anders als der Bedürftige außerhalb der Anstalt – nur das Hausgeld benötigt, weil er im Übrigen nach Ansicht des Gesetzgebers umfassend versorgt wird (BT-Drucks. 7/3998, 23). Aufgrund seiner besonderen Zweckbestimmung (s. § 51 Rdn. 1) bleibt ein Rückgriff auf das Überbrückungsgeld zur Leistung eines Haftkostenbeitrags ausgeschlossen (Arloth 2008 Rdn. 10). 4. Zuständig zur Erhebung des Haftkostenbeitrags ist nach Abs. 1 Satz 1 die Vollzugs- 11 anstalt. Abs. 5 eröffnet den Ländern die Möglichkeit, durch Rechtsverordnung von Abs. 1 Satz 1 abweichende Zuständigkeitsregelungen zu treffen (s. Bedenken bei Arloth 2008 Rdn. 12). Gleichgültig, ob die Haftkostenentscheidung gem. Abs. 1 Satz 1 von der Anstaltsleitung oder auf der Grundlage von Abs. 5 von einer anderen Behörde (z. B. Staatsanwaltschaft) getroffen wird, ist gegen sie der Rechtsweg zur Strafvollstreckungskammer nach §§ 109 ff eröffnet (Abs. 5 Satz 2).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 49 Abs. 1 u. 2 BayStVollzG entsprechen, abgesehen von der Abfassung im Plural so- 12 wie der geschlechtsspezifischen Differenzierung, weitestgehend § 50 Abs. 1 u. 2 StVollzG. Abs. 1 Satz 4 der bayerischen Regelung lautet allerdings: „Den Gefangenen muss ein Betrag verbleiben, der der Eckvergütung (Art. 46 Abs. 2 Satz 2) entspricht.“ Eine inhaltliche Änderung ging damit nicht einher. Weggefallen ist die Regelung des § 50 Abs. 3 StVollzG, der es wegen der Beschränkung auf Bayern nicht bedurfte. Klaus Laubenthal
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Abs. 3 der landesrechtlichen Regelung lautet: „Die Selbstbeschäftigung (Art. 42 Abs. 2) kann davon abhängig gemacht werden, dass der oder die Gefangene einen Haftkostenbeitrag bis zur Höhe des in Abs. 2 genannten Satzes monatlich im Voraus entrichtet.“ Dies ersetzt § 50 Abs. 4 u. 5 StVollzG. Nicht durch das bayerische Landesgesetz ersetzt wurde die Pfändungsschutzvorschrift des § 50 Abs. 2 Satz 5 StVollzG. Diese gilt gem. Art. 208 BayStVollzG fort. Über den eigentlichen Haftkostenbeitrag hinausgehend lässt das BayStVollzG auch die Heranziehung von Strafgefangenen zur Beteiligung an weiteren Kosten zu. Das betrifft etwa die Beteiligung an den Kosten der Krankenbehandlung gem. Art. 63 Abs. 2 BayStVollzG oder das Tragen von Kosten, welche durch die Nutzung der im Besitz von Inhaftierten befindlichen Gegenstände für die Freizeitbeschäftigung stehen (Art. 73 BayStVollzG). 2. Hamburg
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§ 49 Abs. 1 und 2 HmbStVollzG entsprechen, abgesehen von redaktionellen Änderungen wie der Abfassung im Plural, § 50 Abs. 1 und 2. § 49 Abs. 3 HmbStVollzG lautet: „Die Gefangenen können in angemessenem Umfang an den Stromkosten beteiligt werden, die durch die Nutzung der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände entstehen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift ermächtigt die Anstalten, die Gefangenen in angemessenem Umfang an den Stromkosten zu beteiligen, die durch die Nutzung der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände entstehen. Die Einzelheiten hierzu sollen in entsprechenden Ausführungsbestimmungen geregelt werden.“ (BürgerschaftsDrucks. 18/6490, 44). 3. Niedersachsen
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§ 52 Abs. 1 u. 2 NJVollzG lauten: „(1) Die Vollzugsbehörde beteiligt die oder den Gefangenen an den Kosten für ihre oder seine Unterkunft und Verpflegung durch Erhebung eines Kostenbeitrages in Höhe des Betrages, der nach den Vorschriften des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs durchschnittlich zur Bewertung der Sachbezüge festgesetzt ist. Bei Selbstverpflegung entfallen die für die Verpflegung vorgesehenen Beträge. Für den Wert der Unterkunft ist die festgesetzte Belegungsfähigkeit maßgebend. (2) Ein Kostenbeitrag nach Absatz 1 wird nicht erhoben, 1. wenn die oder der Gefangene Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe erhält oder 2. ohne Verschulden nicht arbeiten kann 3. oder nicht arbeitet, weil sie oder er nicht zur Arbeit verpflichtet ist. Hat die oder der Gefangene, die oder der ohne ihr oder sein Verschulden während eines zusammenhängenden Zeitraumes von mehr als einem Monat nicht arbeiten kann oder nicht arbeitet, weil sie oder er nicht zur Arbeit verpflichtet ist, auf diese Zeit entfallende Einkünfte, so hat sie oder er den Kostenbeitrag für diese Zeit bis zur Höhe der auf sie entfallenden Einkünfte zu entrichten. Der oder dem Gefangenen muss ein Betrag verbleiben, der der Eckvergütung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 entspricht.“ Dies übernimmt inhaltlich weitgehend die Regelungen der § 50 Abs. 1 u. 2 StVollzG. § 50 Abs. 1 Satz 5 StVollzG wurde in Abs. 5 Satz 1 der landesrechtlichen Regelung integriert. Abs. 3 der niedersächsischen Norm regelt: „(3) An den Kosten des Landes für sonstige Leistungen kann die Vollzugsbehörde die Gefangene oder den Gefangenen durch Erhebung weiterer Kostenbeiträge in angemessener Höhe beteiligen. Dies gilt insbesondere 1. für Lockerungen nach § 14 Abs. 1 und 3, soweit die Teilnahme am gerichtlichen Termin im überwiegenden Interesse der oder des Gefangenen liegt, 2. für Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge, soweit das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuchs, die Reichsversiche-
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rungsordnung und die aufgrund dieser Gesetze erlassenen Regelungen eine Kostenbeteiligung der oder des Versicherten zulassen und die besonderen Verhältnisse des Strafvollzuges einer Übertragung nicht entgegenstehen, sowie für ärztliche Behandlungen nach § 61, 3. für die Aufbewahrung, Entfernung, Verwertung oder Vernichtung eingebrachter Sachen, 4. für die Versorgung des Haftraums mit Strom für das Betreiben von Elektrogeräten, soweit diese Kosten über das zur Sicherstellung einer angemessenen Grundversorgung erforderliche Maß hinausgehen, 5. für den Schriftwechsel, die Telekommunikation und den Paketverkehr der Gefangenen sowie 6. für die Überlassung von Geräten der Unterhaltungs- und Informationselektronik. Die Erhebung von Kostenbeiträgen nach Satz 2 Nr. 6 ist ausgeschlossen für die Überlassung von Hörfunk- und Fernsehgeräten, wenn die oder der Gefangene auf diese Geräte verwiesen wurde und soweit hierdurch eine angemessene Grundversorgung mit Hörfunk- und Fernsehempfang sichergestellt wird. Abweichend von den Sätzen 1 und 2 ist die oder der Gefangene an den Kosten des Landes zu beteiligen, soweit sie oder er aus einem privatrechtlichen Versicherungsvertrag einen Anspruch gegen den Versicherer auf Ersatz der Kosten hat.“ Der Landesgesetzgeber versuchte hier, eine systematische Konzentration sämtlicher die Kostenbeteiligung betreffender Regelungen herbeizuführen (vgl. dazu die Entwurfsbegründung, S. 129 f). Zudem wurde die Beteiligung der Gefangenen an den Stromkosten gesetzlich geregelt, wofür bislang keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage bestand. Abs. 4 der landesrechtlichen Vorschrift lautet: „(4) Das Fachministerium wird ermächtigt, durch Verordnung näher zu regeln, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Höhe Kostenbeiträge nach Absatz 3 erhoben werden können. Für die Bemessung können pauschale Sätze festgelegt werden. Für einzelne Kostenbeiträge kann vorgesehen werden, dass die tatsächlich entstandenen Kosten in voller Höhe von den Gefangenen zu tragen sind.“ § 52 Abs. 4 NJVollzG macht eine detaillierte gesetzliche Regelung von Voraussetzungen und Höhe der Kostenbeiträge entbehrlich. § 52 Abs. 5 NJVollzG normiert: „(5) Von der Erhebung von Kostenbeiträgen ist abzusehen, soweit dies notwendig ist, um das Vollzugsziel nach § 5 Satz 1 nicht zu gefährden. Für Zeiten, in denen die oder der Gefangene unverschuldet bedürftig ist, soll von der Erhebung von Kostenbeiträgen abgesehen werden. Zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 3 kann die Vollzugsbehörde gegen den Anspruch auf Hausgeld aufrechnen. Die Durchsetzung eines Beitragsanspruchs nach Absatz 1 zu Lasten der Ansprüche unterhaltsberechtigter Angehöriger ist unzulässig.“ Satz 3 bezieht sich dabei auf § 50 Abs. 1 NJVollzG i. V. m. § 851 ZPO, § 394 BGB. § 52 Abs. 6 NJVollzG lautet: „(6) Der Kostenbeitrag ist eine Justizverwaltungsabgabe, die von der Vollzugsbehörde erhoben wird. Für das gerichtliche Verfahren gelten die §§ 109 bis 121 Abs. 4 StVollzG entsprechend.“ Diese Vorschrift entspricht § 50 Abs. 5 StVollzG. Nicht übernommen wurde die Möglichkeit einer abweichenden Regelung der Zuständigkeit.
§ 51 Überbrückungsgeld (1) Aus den in diesem Gesetz geregelten Bezügen und aus den Bezügen der Gefangenen, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 39 Abs. 2), ist ein Überbrückungsgeld zu bilden, das den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern soll.
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(2) Das Überbrückungsgeld wird dem Gefangenen bei der Entlassung in die Freiheit ausgezahlt. Die Vollzugsbehörde kann es auch ganz oder zum Teil dem Bewährungshelfer oder einer mit der Entlassenenbetreuung befassten Stelle überweisen, die darüber entscheiden, wie das Geld innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung an den Gefangenen ausgezahlt wird. Der Bewährungshelfer und die mit der Entlassenenbetreuung befasste Stelle sind verpflichtet, das Überbrückungsgeld von ihrem Vermögen gesondert zu halten. Mit Zustimmung des Gefangenen kann das Überbrückungsgeld auch dem Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (3) Der Anstaltsleiter kann gestatten, dass das Überbrückungsgeld für Ausgaben in Anspruch genommen wird, die der Eingliederung des Gefangenen dienen. (4) Der Anspruch auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes ist unpfändbar. Erreicht es nicht die in Absatz 1 bestimmte Höhe, so ist in Höhe des Unterschiedsbetrages auch der Anspruch auf Auszahlung des Eigengeldes unpfändbar. Bargeld des entlassenen Gefangenen, an den wegen der nach Satz 1 oder Satz 2 unpfändbaren Ansprüche Geld ausgezahlt worden ist, ist für die Dauer von vier Wochen seit der Entlassung insoweit der Pfändung nicht unterworfen, als es dem Teil der Ansprüche für die Zeit von der Pfändung bis zum Ablauf der vier Wochen entspricht. (5) Absatz 4 gilt nicht bei einer Pfändung wegen der in § 850d Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung bezeichneten Unterhaltsansprüche. Dem entlassenen Gefangenen ist jedoch so viel zu belassen, als er für seinen notwendigen Unterhalt und zur Erfüllung seiner sonstigen gesetzlichen Unterhaltspflichten für die Zeit von der Pfändung bis zum Ablauf von vier Wochen seit der Entlassung bedarf. VV 1 (1) Das Arbeitsentgelt und die Ausbildungsbeihilfe werden dem Überbrückungsgeld zugeführt, soweit sie dem Gefangenen nicht als Hausgeld zur Verfügung stehen und das Überbrückungsgeld noch nicht die angemessene Höhe (§ 51 Abs. 1 StVollzG) erreicht hat. Bei Gefangenen, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen, ist der Anteil der Bezüge zu bestimmen, der gemäß Satz 1 dem Überbrückungsgeld zuzuführen ist; der Anteil soll bei Gefangenen, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen, den Betrag des Hausgeldes nicht unterschreiten. (2) Die angemessene Höhe des Überbrückungsgeldes wird von der Landesjustizverwaltung festgesetzt. Sie soll das Vierfache des nach § 22 Bundessozialhilfegesetz festgesetzten monatlichen Mindestbetrages des Regelsatzes nicht unterschreiten. Der Anstaltsleiter kann unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles einen höheren Betrag festsetzen. 2 (1) Der Anstaltsleiter soll die Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes nach § 51 Abs. 3 StVollzG nur gestatten, wenn zu erwarten ist, dass dem Gefangenen bei der Entlassung in die Freiheit ein Überbrückungsgeld in angemessener Höhe zur Verfügung steht. (2) Ausgaben, die der Eingliederung dienen, sind insbesondere Aufwendungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft nach der Entlassung. Schrifttum: Hornung Pfändung der Bezüge und Gelder von Gefangenen, in: Rechtspflegerjahrbuch 1985, 371; Kusch Überbrückungsgeld – Sparraten im Langstrafen-Vollzug?, in: ZfStrVo 1984, 145; Volckart Überbrückungsgeldprobleme, in: ZfStrVo 1983, 41; s. auch bei § 43.
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Höhe des Überbrückungsgeldes 2. Bildung des Überbrückungsgeldes . . . . . . . . . . . . . . 3. Auszahlung des Überbrückungsgeldes . . . . . . . . . . . . . .
1 2–19 2–3 4–7 8–13
Rdn. 4. Verwendung vor der Entlassung 5. Grundsatz der Unpfändbarkeit 6. Rechtsweg . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. . . . . .
14–16 17–18 19 20–22 20 21 22
I. Allgemeine Hinweise Mit dem Überbrückungsgeld sollen zur sozialen Reintegration des Gefangenen erfor- 1 derliche wirtschaftliche Mittel sichergestellt und damit gewährleistet werden, dass der Gefangene in der hinsichtlich der Rückfallgefährdung besonders schwierigen Phase unmittelbar nach der Strafentlassung nicht sofort in (neue) wirtschaftliche Not gerät. Die Regelung ist damit eine Schutzvorschrift für den Gefangenen. Zugleich entlastet sie den öffentlichen Haushalt, da ohne dieses „Zwangssparen“ des einzelnen Gefangenen in weitaus größerem Umfang von dem Sozialhilfeträger notwendiger Lebensunterhalt (s. BVerwG NJW 1991, 189) bzw. hilfsweise von der Anstalt Entlassungsbeihilfe gem. § 75 zu finanzieren wäre. Die eigentliche Bedeutung der Vorschrift liegt daher in der Mitwirkung und stärkeren Eigenverantwortung des Gefangenen an seiner materiellen Entlassungsvorsorge (so zutr. Seebode NStZ 1984, 334 f; krit. dagegen Arloth 2008 Rdn. 1).
II. Erläuterungen 1. a) Das gem. Abs. 1 aus den Bezügen des Gefangenen nach dem StVollzG (§§ 43, 44) 2 oder aufgrund eines freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 39 Abs. 1) oder einer Selbstbeschäftigung (§ 39 Abs. 2) zu bildende Überbrückungsgeld soll den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern (vgl. BT-Drucks. 7/918, 70). Die Höhe richtet sich mithin danach, was der Gefangene und seine in Freiheit befindlichen, unterhaltsberechtigten Familienangehörigen in den ersten vier Wochen nach der Entlassung benötigen, um ausreichend wohnen, essen und sich kleiden zu können. In dieser Zeit verfügt der Gefangene erfahrungsgemäß noch nicht über hinreichende Einkünfte, weil insbesondere die Eingliederung in den Arbeitsprozess eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Im Gesetz ist davon abgesehen worden, einen festen Betrag oder einen bestimmten Bruchteil der Bezüge des Gefangenen für die Festsetzung des Überbrückungsgeldes zugrunde zu legen (BT-Drucks. 7/918, 71); es ist vielmehr nur dem Grunde nach bestimmt (ähnlich § 811 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Damit soll der Vollzugsanstalt ermöglicht werden, unter Berücksichtigung der konkreten Lebensverhältnisse des einzelnen Gefangenen und seines mutmaßlichen Bedarfs eine individuell angemessene Entscheidung zu treffen. So muss sich beispielsweise das Überbrückungsgeld-Soll eines nach der Strafverbüßung in sein Heimatland abzuschiebenden Türken nach den dortigen (preisgünstigeren) Lebensumständen bestimmen (OLG Celle NStZ 1983, 239). Eine dergestalt abgewogene Entscheidung ist erforderlich, da jede über den 4-Wochen-Bedarf i. S. von Abs. 1 hinausgehende Festsetzung von Überbrückungsgeld rechtswidrig bleibt (zum Rechtsweg s. Rdn. 19), weil sie einerseits die Verfügungsbefugnis des Gefangenen über seine Bezüge, andererseits die Pfändungsmöglichkeit von Gläubigern (vgl. dazu Rdn. 7, 17 f) in gesetzwidriger Weise beschränken würde (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 380). Ist die
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Höhe des Überbrückungsgeldes durch die in Abs. 1 beschriebene Zweckbestimmung indirekt vorgegeben und muss die Anstaltsleitung diese nach den Lebensumständen, die den Verurteilten nach seiner Entlassung erwarten, – unter Einbeziehung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse – bestimmen, so steht ihr hierfür kein Ermessen zu (OLG Hamm NStZ 1989, 360; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251). Der Vollzugsbehörde ist insoweit auch kein Beurteilungsspielraum eröffnet (so auch OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251; C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4). Denn hierbei handelt es sich um keine Entscheidung, hinsichtlich derer die Anstaltsleitung aufgrund des persönlichen Umgangs mit den Inhaftierten und eines spezifischen Fachwissens sich einen sachnäheren Eindruck verschaffen könnte mit der Folge einer ihr zustehenden Entscheidungsprärogative (s. zur Problematik Laubenthal 2008 Rdn. 813).
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b) Muss nach der Intention des Gesetzgebers der anzusparende Betrag individuell bestimmt werden, setzt demgegenüber in der Praxis nach VV Nr. 1 Abs. 2 Sätze 1 und 2 die Landesjustizverwaltung die angemessene Höhe des Überbrückungsgeldes jeweils pauschalisiert fest. Sie soll das Vierfache des nach § 22 BSHG festgesetzten monatlichen Mindestbetrags des Sozialhilferegelsatzes für den Gefangenen nicht unterschreiten (VV Nr. 1 Abs. 2 Satz 2 i. d. F. von 2001). An die Stelle von § 22 BSHG ist zum 1.1.2005 § 28 SGB XII getreten. Die monatlichen Mindestbeträge des Regelsatzes werden jeweils von den Landessozialverwaltungen aufgrund des § 28 SGB XII bemessen, wobei Grundlage die tatsächlichen statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen sind. Die jährliche Änderung der Regelsätze hat eine entsprechende Änderung des Überbrückungsgeld-Solls zur Folge. Zwar erscheinen hiernach die von den Landesjustizverwaltungen festgesetzten Beträge in der Regel sachgerecht. Jedoch besteht ungeachtet des Widerspruchs zur Intention des Gesetzgebers, individuell angemessene Einzelfallentscheidungen zu treffen (s. Rdn. 2; ebenso krit. Volckart 1983, 41 f; Seebode NStZ 1984, 335), die Gefahr, dass in untypischen, vom Durchschnittsfall abweichenden Konstellationen das Überbrückungsgeld zu hoch oder zu niedrig festgesetzt wird. Für den letzten Fall sieht VV Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles auch die Festsetzung eines höheren Betrages vor. Umgekehrt muss aber wegen der erforderlichen Einzelfallentscheidung (Rdn. 2) und des auch bei dem Eingriff der Vollzugsbehörde in die Verfügungsbefugnis des Gefangenen über sein Geld (vgl. Rdn. 7) zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Festsetzung einer geringeren Überbrückungsgeldhöhe möglich sein, wenn etwa aufgrund außerhalb der Anstalt bekannt gewordenen ausreichenden Einkommens (z. B. eines in der Anstalt arbeitenden Rentners) oder Vermögens oder aber wegen Abschiebung des Strafgefangenen nach Strafverbüßung in sein Heimatland (s. Rdn. 2) Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Überbrückungsgeld in der üblichen Höhe nicht erforderlich ist. Vollkommen verzichtet werden kann auf die Bildung eines Überbrückungsgeldes jedoch nicht (s. Rdn. 4). Vom Normalfall abweichende Einzelfallentscheidungen darf der Anstaltsleiter nur treffen, wenn ihm die Lebensverhältnisse des Gefangenen hinreichend bekannt sind. So hat er den Gefangenen selbst zu befragen sowie ggf. durch den sozialen Dienst der Anstalt die notwendigen tatsächlichen Grundlagen evtl. in Zusammenarbeit mit der Gerichtshilfe, den Sozialbehörden oder einem früheren Bewährungshelfer zu ermitteln.
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2. Das Überbrückungsgeld ist in jedem Fall zu bilden. Damit wird die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Vorsorge für die Übergangszeit von der Haft in die Freiheit noch einmal besonders betont. Bestehende Vermögenswerte oder Einkünfte unterliegen – bis zu den gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen – Pfändungsrisiken, so dass sie nicht stets mit Gewissheit zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts in den ersten vier Wochen nach der
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Entlassung dienen können (Arloth 2008 Rdn. 4). Auch eine beabsichtigte Abschiebung des Gefangenen nach Strafverbüßung ins Ausland (s. dazu Rdn. 2, 3 und 14) befreit weder die Vollzugsanstalt noch den Gefangenen von der Bildung eines Überbrückungsgeldes, denn § 51 unterscheidet nicht zwischen solchen Inhaftierten, die nach ihrer Strafverbüßung in Deutschland eingegliedert werden sollen und (z. B. abzuschiebenden) Ausländern sowie Deutschen, die nach ihrer Strafverbüßung in das Ausland ausreisen bzw. auswandern (s. noch Rdn. 14). a) Aus Abs. 1 folgt, dass zur Bildung des Überbrückungsgeldes alle Bezüge des Gefan- 5 genen – mit Ausnahme des Taschengeldes – nach dem StVollzG und das Entgelt gem. § 39 Abs. 1 oder 2 in Anspruch zu nehmen sind. Dementsprechend bestimmt VV Nr. 1 Abs. 1 Satz1, dass bis zur Erreichung der angemessenen Höhe des Überbrückungsgeldes diesem das Arbeitsentgelt oder die Ausbildungsbeihilfe in der Höhe zugeführt wird, in der diese Bezüge nicht als Hausgeld (gem. § 47) zur Verfügung gestellt werden müssen. Im Falle verzinslich angelegten Überbrückungsgeldes (s. Rdn. 10) dürfen die erwachsenen Zinsen und Zinseszinsen nicht dem Überbrückungsgeld zugerechnet werden, da es sich hierbei um sog. unmittelbare Rechtsfrüchte der von der Anstalt dem Geldinstitut zeitweise überlassenen Geldsumme (vgl. noch Rdn. 10 a. E.) i. S. von § 99 Abs. 2 BGB (s. Palandt-Heinrichs/Ellenberger BGB-Kommentar, 67. Aufl., München 2009, § 99 Rdn. 3), nicht aber um Bezüge des Gefangenen i. S. von Abs. 1 handelt. Zinsen und Zinseszinsen sind also mangels gesetzlicher (Eingriffs-)Grundlage keine Quelle des durch § 51 ermöglichten „Zwangssparens“ (vgl. Rdn. 1) und können daher allenfalls (vgl. Rdn. 10 a. E.) dem Eigengeldkonto des Gefangenen gutgeschrieben werden (vgl. § 52 Rdn. 1). Entsprechendes gilt für Eigengeld, welches weder ganz noch teilweise als Überbrückungsgeld unmittelbar behandelt noch als solches herangezogen werden kann; Umbuchungen vom Eigengeld- auf das Überbrückungsgeldkonto sind unzulässig (OLG Hamm ZfStrVo 1988, 313). Hier kommt nur die Beschränkung der Verfügungsbefugnis über das Eigengeld gemäß § 83 Abs. 2 Satz 3 in Betracht. b) aa) Die Inanspruchnahme des Arbeitsentgelts oder der Ausbildungsbeihilfe für die 6 Bildung des Überbrückungsgeldes gem. VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 ist in der Regel auf vier Siebtel der Bezüge begrenzt, weil drei Siebtel von ihnen dem Gefangenen nach § 47 Abs. 1 in der Übergangsfassung von § 199 Abs. 1 Nr. 2 als Hausgeld zur Verfügung zu stellen sind. Bei Gefangenen, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen (§ 39 Abs. 1) oder denen eine Selbstbeschäftigung gestattet ist (§ 39 Abs. 2), wird der dem Überbrückungsgeld zuzuführende Anteil an den Bezügen vom Anstaltsleiter frei bestimmt. Jedoch soll bei Gefangenen in freien Beschäftigungsverhältnissen der für das Überbrückungsgeld vorgesehene Anteil den Betrag des Hausgeldes nicht unterschreiten (VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 2). bb) Im Hinblick auf den Umstand, dass das Überbrückungsgeld in der Regel erst zur 7 Entlassung des Gefangenen zur Verfügung stehen soll (s. Rdn. 8, Ausnahme: Abs. 3, dazu Rdn. 14), hat sich in der Rechtsprechung abweichend von VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 die Tendenz herausgebildet, dass das Überbrückungsgeld im Wege von bestimmten Sparraten, die kleiner sind als der dafür zur Verfügung stehende Teil der Bezüge nach Abzug des Hausgeldes, anzusparen ist, wenn die voraussichtliche Zeit der Strafverbüßung ausreicht, um den festgesetzten Überbrückungsgeldbetrag mit diesen niedrigen Sparraten zu erreichen (s. OLG Celle ZfStrVo 1983, 307; OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 185). Allerdings folgt dann aus dem Zweck des Überbrückungsgeldes nicht, dass die zu erbringenden Raten so niedrig bemessen sein müssen, dass das Überbrückungsgeld zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt gerade rechnerisch erreicht wird. Vielmehr ist bei der Festsetzung der Ansparraten allen denkbaren Eventualitäten Rechnung zu tragen, die ein weiteres Ansparen verhindern oder eine Klaus Laubenthal
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Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes mit sich bringen könnten (OLG Koblenz ZfStrVo 1993, 309; OLG Hamburg ZfStrVo 2003, 118). Diese insbesondere für Gefangene mit längeren Freiheitsstrafen und solchen im freien Beschäftigungsverhältnis gem. § 39 Abs. 1 Befindlichen entwickelte Rechtsprechung wird vor allem damit begründet, dass bei einem Zwang zu einer vor der Strafentlassung erfolgten, vorzeitigen Ansparung des Überbrückungsgeldes sowohl der Inhaftierte (der über das sonst jeweils übrig bleibende Geld als Eigengeld verfügen könnte) als auch Gläubiger (denen sonst der Zugriff auf das nicht als Überbrückungsgeld notwendige Eigengeld offen stünde) unverhältnismäßig eingeschränkt würden (so bereits OLG Celle ZfStrVo 1983, 307). Wenngleich es zutrifft, dass das StVollzG keine Bestimmung enthält, in welchem Zeitraum das Überbrückungsgeld anzusparen ist, insbesondere keine Vorschrift besagt, dass jeweils volle vier Siebtel der monatlichen Bezüge (vgl. § 47 Abs. 1) dem Überbrückungsgeldkonto gutzuschreiben sind, kann dem Ausgangspunkt der sog. Sparraten-Rechtsprechung im Kern nicht gefolgt werden: Entgegen der Behauptung (s. Volckart 1983, 42 f), wonach sich aus dem „variablen Spar-Soll“ für das Überbrückungsgeld ergeben solle, was pfändungsfrei sei bzw. der Pfändung unterliege, regelt Abs. 4 Satz 2 eindeutig, dass der Anspruch auf Auszahlung des Eigengeldes in Höhe des Unterschiedsbetrages zur in Abs. 1 bestimmten Höhe unpfändbar ist, mithin also von vornherein ungeachtet des jeweiligen Vollzugsstandes Überbrückungsgeld (Abs. 4 Satz 1), hilfsweise Eigengeld (Abs. 4 Satz 2), nicht als variable Größe, sondern in der nach Abs. 1 bestimmten Höhe unpfändbar ist (so zu Recht auch Arloth 2008 Rdn. 5). Die im Wesentlichen anhand des § 83 Abs. 2 Satz 3 entwickelte Sparraten-Rechtsprechung (s. OLG München ZfStrVo 1980, 122; OLG Zweibrücken NStZ 1984, 479; OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 380; OLG Hamm ZfStrVo 1988, 313; OLG Hamburg ZfStrVo 2003, 118) hat zur Folge, dass der Gefangene im Rahmen des § 83 Abs. 2 Satz 3 über als Überbrückungsgeld nicht notwendiges Eigengeld verfügen kann, das gem. Abs. 4 Satz 2 jedoch (noch) der Unpfändbarkeit unterliegt (zutreffend Kusch 1984, 146; vgl. auch Seebode NStZ 1984, 335); das ist ein unhaltbares Ergebnis, weil die Schutzfunktion des Abs. 4 Satz 2 (s. hierzu noch Rdn. 17) ins Leere ginge.
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3. a) Das Überbrückungsgeld wird dem Gefangenen gem. Abs. 2 Satz 1 erst bei seiner Entlassung in die Freiheit ausgezahlt. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn der Gefangene unmittelbar im Anschluss an eine Verbüßung von Strafhaft in Untersuchungshaft, in eine andere Haftform oder in eine andere Art der Freiheitsentziehung (z. B. nach § 126a StPO oder § 63 StGB) genommen wird. Eine Notwendigkeit für die vom Gesetz bezweckte finanzielle Stützung in der ersten Zeit nach der Entlassung besteht in diesen Fällen nicht (OLG Schleswig ZfStrVo 1980, 62; OLG Bremen NStZ 1992, 376). Ist Voraussetzung für die Fälligkeit des Überbrückungsgeldes die Entlassung des Verurteilten und dient es der Förderung eines möglichst konfliktfreien Übergangs in das Leben außerhalb des Strafvollzugs, besteht kein Anspruch auf Auszahlung, wenn der Gefangene nicht entlassen wird, sondern sich der weiteren Inhaftierung durch Flucht entzieht (OLG Celle NStZ-RR 2007, 95). Der Anspruch des Betroffenen auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes wird nicht dadurch berührt, dass die schuldende JVA eine Umbuchung (in Höhe des angesparten Überbrückungsgeldes) nach Flucht des Gefangenen aus dem Vollzug zugunsten des Landeshaushalts vorgenommen hat; demgemäß muss nach Wiederergreifen des Gefangenen für eine entsprechende Rücküberweisung auf dessen Überbrückungsgeldkonto Sorge getragen werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 371).
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aa) Vor Auszahlung besteht das Überbrückungsgeld lediglich aus einem noch nicht fälligen Zahlungsanspruch des Gefangenen gegen die Anstalt (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 309; OLG Celle ZfStrVo 1988, 251). Der Gefangene hat deshalb keinen Rechtsanspruch auf Über-
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tragung des Überbrückungsgeldes auf ein auf seinen Namen lautendes Sparkonto, da diese Art Geldverwaltung auf eine vorzeitige und damit gesetzwidrige Erfüllung des Anspruchs hinausliefe (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 309; KG 12.4.1988 – 5 Ws 413/87 Vollz). bb) Darüber hinaus hat der Gefangene weder kraft Gesetzes noch aus Fürsorgepflicht 10 einen Anspruch auf zinsbringende Anlage des Überbrückungsgeldes bis zur Auszahlung, also auch nicht auf Einzahlung des Überbrückungsgeldes auf ein verzinsliches Sparkonto der Justizvollzugsanstalt. Das Strafvollzugsgesetz sieht für Gelder, die ein Gefangener nicht in seinem Gewahrsam haben darf, lediglich die Verpflichtung zur Aufbewahrung, d. h. zur Erhaltung der vorhandenen Werte vor (vgl. § 83 Abs. 2), nicht aber die Verpflichtung, für eine Vermehrung durch verzinsliche Aufbewahrung des Geldes zu sorgen (KG Beschl. v. 12.4.1988 – 5 Ws 413/87). Jedoch hat der Inhaftierte aufgrund einer aus § 3 Abs. 1 ableitbaren Fürsorgepflicht der Vollzugsbehörde einen Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung über den Antrag auf verzinsliche Anlage des Überbrückungsgeldes. Hiernach ist es regelmäßig ermessensfehlerfrei, wenn die Anstalt das Überbrückungsgeld (erst) auf Antrag bei einem von ihr bestimmten Geldinstitut durch eine von ihr ausgewählte Geldanlageform im Namen des Strafgefangenen und auf dessen Rechnung verzinslich anlegt. Allerdings darf die Vollzugsbehörde bei der Ausübung ihres Ermessens auch im Hinblick auf die Höhe der anzulegenden Beträge unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit den jeweiligen Verwaltungsaufwand berücksichtigen. b) Die Auszahlung des Überbrückungsgeldes erfolgt in der Regel am Entlassungs- 11 tage in bar an den Gefangenen. Die Vollzugsbehörde wird jedoch durch Abs. 2 Satz 2 ermächtigt, nach ihrem Ermessen und ohne Zustimmung des Betroffenen den Betrag ganz oder teilweise dem Bewährungshelfer oder einer mit der Entlassungsbetreuung befassten Stelle zu überweisen. Diese entscheiden dann, wie das Geld an den Gefangenen innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung ausgezahlt wird. Gerade bei labilen oder suchtkranken Gefangenen bietet es sich an, z. B. einen Teilbetrag, der die geschätzten Lebenshaltungskosten unter Berücksichtigung der konkreten Entlassungsverhältnisse für drei bis vier Tage abdeckt, am Entlassungstag an ihn persönlich auszuzahlen und den Rest dem Bewährungshelfer bzw. der Betreuungsstelle zu überweisen. Das ausgezahlte Überbrückungsgeld zählt nicht zu den kleineren Barbeträgen i. S. von § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII (BVerwG NJW 1991, 1989). Es gehört damit nicht zum sog. Schonvermögen und ist demzufolge bei der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt in voller Höhe bedarfsmindernd einzusetzen. c) Der Bewährungshelfer oder die Betreuungsstelle sind nach Abs. 2 Satz 3 verpflichtet, 12 das Überbrückungsgeld von ihrem Konto gesondert zu halten. Die damit vorgeschriebene treuhänderische Verwaltung des Überbrückungsgeldes auf einem Sonderkonto ist dem Andergeldkonto des Notars nachgebildet. Durch die Auszüge über das Sonderkonto soll die notwendige Überschaubarkeit über die Geldbewegungen gewährleistet werden. Zugleich dient die Regelung dem Schutz des Überbrückungsgeldes bei einer eventuellen Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Bewährungshelfers bzw. der Betreuungsstelle (BT-Drucks. 7/3998, 14). Bewährungshelfer bzw. Betreuungsstelle sind verpflichtet, das ihnen überwiesene Überbrückungsgeld spätestens nach vier Wochen auszuzahlen. Es darf von ihnen nicht anderweitig verwendet werden. d) Der Gefangene kann ferner auch gem. Abs. 2 Satz 4 zustimmen, dass eine Überwei- 13 sung des Überbrückungsgeldes an den Unterhaltsberechtigten erfolgt. Das kommt vornehmlich dann in Betracht, wenn der Gefangene in seine Familie zurückkehrt, in der – unter Verwendung des Überbrückungsgeldes – sein notwendiger Lebensunterhalt gesichert
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ist. Ein solches Verfahren setzt ein erhebliches Vertrauen der Vollzugsbehörde und des Gefangenen in den Unterhaltsberechtigten voraus, denn dieser ist nicht an die Beschränkungen von Satz 2 und 3 gebunden. Die Zustimmung des Inhaftierten soll regelmäßig schriftlich erfolgen.
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4. a) Der Anstaltsleiter kann nach Abs. 3 gestatten, dass das Überbrückungsgeld für Ausgaben in Anspruch genommen wird, die der Eingliederung des Gefangenen dienen. Das darf jedoch vor der Entlassung während der Haft nur ausnahmsweise und nur in ganz engen Grenzen erfolgen; der Schutzzweck des Überbrückungsgeldes darf nicht ausgehöhlt werden. Nach VV Nr. 2 Abs. 1 soll der Anstaltsleiter von der Ermächtigung nur und insoweit Gebrauch machen, als zu erwarten ist, dass dem Gefangenen bei seiner Entlassung gleichwohl noch ein Überbrückungsgeld in angemessener Höhe zur Verfügung steht (vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 187, das es für ermessensfehlerfrei hält, wenn der Anstaltsleiter wegen des Ausnahmecharakters von Abs. 3 die Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes deshalb ablehnt, weil der Gefangene über ausreichendes Eigengeld verfügt). Ausgaben, die der Eingliederung dienen, sind nach VV Nr. 2 Abs. 2 insbesondere Aufwendungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft für die Zeit nach der Entlassung. Von der Ermächtigung sollte der Anstaltsleiter – vor allem in der Vorbereitungszeit auf eine nahe bevorstehende Entlassung – lediglich dann Gebrauch machen, wenn die Aufwendungen aus Gründen der Eingliederung nicht mehr aufgeschoben werden sollten, bei der Entlassung ohnehin notwendig würden und dann weniger wirksam sein könnten (BT-Drucks. 7/918, 71; so auch OLG Karlsruhe NStZ 1989, 360). Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes während der Haft wurden in der Rechtsprechung bejaht für die Finanzierung einer länger dauernden Ausbildung (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 186), für Reparaturkosten eines Radiogerätes mit Kassettenteil, das überwiegend zur Teilnahme an einem Sprachkurs und zur Verwendung von Lehrkassetten der Fernuniversität Hagen benötigt wird (OLG Frankfurt NStZ 1989, 424; nach OLG Hamm NStZ 1988, 399 nicht aber für die Beschaffung einer Fernsehantenne; nach OLG Celle ZfStrVo 1992, 261 nicht für den Erwerb eines Fernsehgerätes; nach LG Bayreuth ZfStrVo SH 1977, 28 nicht für die Bezahlung von Rechnungen für den Bezug von Zeitungen und Zeitschriften). Die Inanspruchnahme wurde bejaht für die Beschaffung von Kleidung für den Ausgang (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 310) bzw. für begleitete Ausgänge (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 113), für die Finanzierung eines Urlaubs (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 55) und unter Umständen auch bei Geldzahlungen an Not leidende, in der Türkei lebende Angehörige eines im Anschluss an die Strafverbüßung abzuschiebenden Türken (OLG Celle ZfStrVo 1983, 307; nach LG Karlsruhe ZfStrVo 1979, 125 aber grundsätzlich nicht für Geldzahlungen des Gefangenen an seine Kinder). Eine vorzeitige Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes wird verneint für die Bezahlung von Verfahrenskosten bei Rechtsstreitigkeiten, zumal wenn die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt werden kann (OLG Hamm NStZ 1995, 433), sowie zur Begleichung von Anwaltskosten (KG NStZ 2001, 413).
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b) Die Zulässigkeit der Inanspruchnahme von Überbrückungsgeld nach Abs. 3 zur Bezahlung einer Geldstrafe und somit zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe ist umstritten. Grundsätzlich wird eine derartige Inanspruchnahme nur dann der „Eingliederung des Gefangenen dienen“, wenn die längere Haft (durch Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe) die Wiedereingliederung erschweren würde. Es ist jedoch zu bedenken, dass hierdurch Gefangene unter Umständen auf Sozialhilfe (vgl. BVerwG NJW 1991, 189) und/oder auf Entlassungsbeihilfe gem. § 75 angewiesen würden mit der Folge, dass die öffentliche Hand mittelbar die Geldstrafe und damit die frühere Entlassung des Gefangenen finanziert. Daher dürfte es bei ausreichender Zeit und unter Berücksichtigung der
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Voraussetzungen des § 459d StPO richtiger sein, wenn stattdessen der Anstaltsleiter zunächst eine gerichtliche Entscheidung auf Anordnung des teilweisen oder vollständigen Unterbleibens der Vollstreckung der Geldstrafe anregt und erst dann je nach Ausgang dieses Verfahrens erforderlichenfalls über eine Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes nach Abs. 3 befindet. c) Ist einem Gefangenen vorzeitig ein Teil seines ersparten Überbrückungsgeldes freige- 16 geben worden, ohne dass die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des Abs. 3 (s. hierzu auch OLG Karlsruhe ZfStrVo 1988, 371) vorlagen, bleibt eine Vereinbarung über die ratenweise Rückzahlung dieses Betrages vom Hausgeld des Gefangenen unzulässig. Aufgrund einer derartigen Vereinbarung vorgenommene Umbuchungen entbehren einer Rechtsgrundlage und sind daher rückgängig zu machen. Irrtümlich vorzeitig ausgezahltes Übergangsgeld kann nicht zurückgefordert werden (OLG Celle ZfStrVo 1992, 261). 5. a) Der Anspruch des Gefangenen auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes ist gem. 17 Abs. 4 Satz 1 unpfändbar. Nur so kann die beabsichtigte Funktion der Existenzsicherung des Entlassenen für eine Übergangszeit von mindestens vier Wochen erfüllt werden (BTDrucks. 7/3998, 24). Auch das Eigengeld wird nach Abs. 4 Satz 2 in jener Höhe in den Pfändungsschutz einbezogen, in der das tatsächlich angesammelte Überbrückungsgeld unter seiner in Abs. 1 bestimmten Sollhöhe geblieben ist. Diese Bestimmung korrespondiert mit der Regelung in § 83 Abs. 2 Satz 3, nach der der Gefangene in der Verfügung über sein Eigengeld beschränkt bleibt, soweit dies als Überbrückungsgeld notwendig ist (vgl. Rdn. 7). Schließlich ist nach Abs. 4 Satz 3 auch das Bargeld unpfändbar, das dem Gefangenen bei der Entlassung in Erfüllung des Anspruchs auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes in der Zahlstelle der Anstalt übergeben worden ist. Der Pfändungsschutz dauert insoweit in Anlehnung an Abs. 1 folgerichtig ebenfalls vier Wochen. Es ist jedoch der Teil des Bargeldes sofort pfändbar, der die Sollhöhe des Überbrückungsgeldes nach Abs. 1 übersteigt. Alle Teilregelungen des Abs. 4 zusammen stellen einen umfassenden Pfändungsschutz für die Geldmittel dar, die zum notwendigen Lebensunterhalt gemäß Abs. 1 benötigt werden. b) Eine Einschränkung des in Abs. 4 festgelegten Pfändungsschutzes enthält Abs. 5 18 Satz 1 zugunsten der in § 850d Abs. 1 Satz 1 ZPO bezeichneten Unterhaltsansprüche. Darin liegt jedoch keine Systemwidrigkeit. Das Überbrückungsgeld dient gem. Abs. 1 auch der Sicherung der Unterhaltsberechtigten des Gefangenen. Aus den Erfahrungen in der Praxis hat sich die Befürchtung ergeben, dass die Schutzfunktion des Überbrückungsgeldes bezüglich der Unterhaltsberechtigten nicht immer durch freiwillige Zahlungen des Entlassenen erfüllt wird (vgl. auch BT-Drucks. 7/3998, 24). Nach Abs. 5 Satz 2 ist ihm jedoch auch bei der Pfändung zugunsten der Unterhaltsansprüche so viel zu belassen, wie er selbst für seinen notwendigen Lebensunterhalt bis zum Ablauf von vier Wochen nach der Entlassung benötigt (Eigenanteil am Überbrückungsgeld), und ferner jener Betrag, den die Erfüllung sonstiger gesetzlicher Unterhaltspflichten erfordert. Auch hierfür gilt die Begrenzung auf vier Wochen. 6. Gegen die Festsetzung des Überbrückungsgeld-Solls als Maßnahme der Vollzugs- 19 behörde ist der Rechtsweg nach §§ 109 ff StVollzG gegeben (OLG Celle NStZ 1984, 334 m. Anm. Seebode; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251). Gleiches gilt für die Festlegung der Höhe der Ansparraten (s. OLG Hamburg ZfStrVo 2003, 119). Der vollzugliche Rechtsweg ist nicht eröffnet hinsichtlich der Wahl eines Kreditinstituts für die verzinsliche Anlage des Überbrückungsgeldes bzw. für die Wahl der Zinsanlage selbst durch die Anstalt (OLG Celle ZfStrVo 1988, 251); ferner auch nicht für die Anfechtung eines etwaigen Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses (vgl. § 47 Rdn. 9).
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III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 51 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural, weitestgehend § 51 Abs. 1–3 StVollzG. Nicht explizit übernommen wurden in Art. 51 BayStVollzG die Pfändungsschutzvorschriften des § 51 Abs. 4 und 5 StVollzG. Diese gelten gem. Art. 208 BayStVollzG unverändert fort. 2. Hamburg
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§ 47 HmbStVollzG lautet: „(1) Das Überbrückungsgeld wird aus den in diesem Gesetz geregelten Bezügen (§§ 40, 41) und aus den Bezügen der Gefangenen gebildet, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen oder denen gestattet ist, sich selbst zu beschäftigen (§ 36 Absatz 1), soweit die Bezüge den Gefangenen nicht als Hausgeld zur Verfügung stehen und das Überbrückungsgeld noch nicht die angemessene Höhe erreicht hat. Die angemessene Höhe wird von der Aufsichtsbehörde (§ 111) festgesetzt. (2) Das Überbrückungsgeld dient dem Lebensunterhalt der Gefangenen und ihrer Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach ihrer Entlassung. Es wird den Gefangenen bei der Entlassung in die Freiheit ausgezahlt. Die Anstalt kann es ganz oder zum Teil den Bewährungshelfern oder einer mit der Entlassenenbetreuung befassten Stelle überweisen, die darüber entscheiden, wie das Geld innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung an die Gefangenen ausgezahlt wird. Die Bewährungshelfer und die mit der Entlassenenbetreuung befasste Stelle sind verpflichtet, das Überbrückungsgeld von ihrem Vermögen gesondert zu halten. Mit Zustimmung der Gefangenen kann das Überbrückungsgeld auch den Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (3) Die Gefangenen dürfen vor ihrer Entlassung nicht über das Überbrückungsgeld verfügen. Die Anstaltsleitung kann jedoch gestatten, dass das Überbrückungsgeld in Anspruch genommen wird 1. für notwendige Maßnahmen der Entlassungsvorbereitung, insbesondere zur Erlangung eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft, 2. bei Aufnahme eines freien Beschäftigungsverhältnisses oder einer Selbstbeschäftigung außerhalb der Anstalt in den ersten beiden Monaten zur Finanzierung der hierfür erforderlichen Mittel, insbesondere von Kleidung und Kosten zu benutzender Verkehrsmittel, 3. für Kosten der Krankenbehandlung nach § 60 Absätze 2 und 3, wenn die Maßnahmen ohne die Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes gefährdet wären.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „der Entwurf [sieht] in Absatz 3 Satz 2 eine Erweiterung der Möglichkeiten einer Freigabe des Überbrückungsgeldes vor der Entlassung der Gefangenen vor. Bei einer Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes für notwendige Maßnahmen der Entlassungsvorbereitung besteht keine zeitliche Grenze mehr. Zudem können Kosten der Krankenbehandlung gegebenenfalls vom Überbrückungsgeld bestritten werden.“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 57). 3. Niedersachsen
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§ 47 Abs. 1 NJVollzG lautet: „(1) Als Überbrückungsgeld gutgeschrieben werden Ansprüche 1. auf Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe sowie 2. aus einem freien Beschäftigungsverhältnis oder einer Selbstbeschäftigung, die der Vollzugsbehörde zur Gutschrift für die oder den Gefangenen überwiesen worden sind (§ 36 Abs. 3), zu einem angemessenen Teil, soweit sie nicht als Hausgeld gutgeschrieben werden und soweit die nach Absatz 2 Satz 2 festgesetzte Höhe noch nicht erreicht ist. Wird die Befugnis, über das Hausgeld zu verfügen, disziplinarisch beschränkt oder entzogen (§ 95 Abs. 1 Nr. 2), so ist das in dieser Zeit anfallende Hausgeld dem Überbrückungsgeld hinzuzurechnen, auch soweit dadurch
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die nach Absatz 2 Satz 2 festgesetzte Höhe überschritten wird. (2) Das Überbrückungsgeld soll den notwendigen Lebensunterhalt der oder des Gefangenen und ihrer oder seiner Unterhaltsberechtigten in den ersten vier Wochen nach der Entlassung sichern. Die Höhe des Überbrückungsgeldes wird von der Vollzugsbehörde festgesetzt. (3) Das Guthaben auf dem Überbrückungsgeldkonto wird der oder dem Gefangenen bei der Entlassung ausgezahlt. Die Vollzugsbehörde kann es auch der Bewährungshelferin oder dem Bewährungshelfer oder einer mit der Entlassenenbetreuung befassten Stelle überweisen, die darüber entscheiden, wie das Geld innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung an die Gefangene oder den Gefangenen ausgezahlt wird. Das Geld ist vom sonstigen Vermögen gesondert zu halten. Mit Zustimmung der oder des Gefangenen kann das Überbrückungsgeld auch den Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (4) Der oder dem Gefangenen kann gestattet werden, das Guthaben auf dem Überbrückungsgeldkonto für Ausgaben zu verwenden, die ihrer oder seiner Eingliederung dienen.“ Die Regelung von § 47 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG übernimmt § 104 Abs. 3 StVollzG. Wesentliche inhaltliche Änderungen gehen laut Gesetzesbegründung (S. 126 f) mit der Neufassung der Norm nicht einher.
§ 52 Eigengeld Bezüge des Gefangenen, die nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag, Unterhaltsbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden, sind dem Gefangenen zum Eigengeld gutzuschreiben. Schrifttum: s. bei § 43
I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift ist unvollständig, denn sie behandelt lediglich den Teil der Bildung 1 des Eigengeldes, der in der Regel praktische Bedeutung nur bei längeren Haftzeiten oder bei im freien Beschäftigungsverhältnis gem. § 39 Abs. 1 befindlichen Gefangenen hat, weil vornehmlich in diesen Fällen über vorrangige finanzielle Bindungen des Gefangenen hinaus (gem. §§ 47, 50 Abs. 2, 51) ein Rest aus den in § 52 genannten Bezügen bleibt. Über den Regelungsgehalt von § 52 hinaus wird den Inhaftierten gem. § 83 Abs. 2 Satz 2 als Eigengeld dasjenige Geld gutgeschrieben, das sie einbringen, d. h. bei Strafantritt in die Anstalt mitbringen; ferner jene Geldbeträge, die während der Haft für den Gefangenen von Dritten eingehen. Eigengeld ist ein Guthaben, hinsichtlich dessen ein Anspruch gegen das jeweilige Bundesland als Träger der Strafanstalt besteht. Über dieses kann der Strafgefangene – im Rahmen rechtlicher Grenzen – sowohl außerhalb der Anstalt wirkende Verfügungen treffen (z. B. Geldanlage) oder es können ihm bestimmte Beträge für Verwendungen innerhalb der Einrichtung überlassen werden.
II. Erläuterungen Nach dieser Vorschrift sind die Bezüge des Gefangenen dem für ihn eingerichteten und 2 geführten Eigengeldkonto gutzuschreiben, wenn und soweit sie nicht als Hausgeld (§ 47), Haftkostenbeitrag (§ 50), Unterhaltsbeitrag (§ 49) oder Überbrückungsgeld (§ 51) in Anspruch genommen werden (in Bayern auch zum Zweck des Sondereinkaufs oder für
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Kosten der Krankenbehandlung eingezahltes Sondergeld i. S. d. Art. 53 BayStVollzG, s. Rdn. 6). Die Eigengeldbildung ist mithin subsidiär. Als Bezüge des Gefangenen kommen hier nicht nur Arbeitsentgelt (§ 43), Ausbildungsbeihilfe (§ 44) und Ausfallentschädigung (§ 45) in der Vollzugsanstalt in Betracht, sondern auch die Einkünfte aus einem freien Beschäftigungsverhältnis (§ 39 Abs. 1) und aus einer Selbstbeschäftigung (§ 39 Abs. 2). Bis zur Auszahlung besteht das Eigengeld in Form eines von der Anstalt verwalteten, prinzipiell zinsbringend angelegten (AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2) Kontoguthabens. Die Vollzugsbehörde ist zu Auskünften über den Stand des Kontos an den Inhaftierten verpflichtet, wofür regelmäßig die Aushändigung von Kontoauszügen genügt (OLG Koblenz ZfStrVo 1993, 118). Dabei hat der Betroffene aber keinen Anspruch gegen die Anstaltsleitung, dass ihm nach jedem Buchungsvorgang auf dem Eigengeldkonto ein Kontoauszug erteilt wird (OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 316). 3 Befindet sich aus den in § 52 genannten Bezügen bzw. aus den bei Strafantritt eingebrachten oder während der Strafverbüßung von Dritten zugewendeten Geldbeträgen ein Betrag auf dem Eigengeldkonto, ist zu unterscheiden zwischen dem freien Eigengeld (§ 83 Abs. 2 Satz 3) und dem gesperrten Eigengeld (§ 83 Abs. 2 Satz 3 2. HS. i. V. m. § 51 Abs. 4 Satz 2). Wurde das Überbrückungsgeld-Soll noch nicht in voller Höhe angespart, besteht ein Verfügungsverbot des Insassen über das sog. qualifizierte Eigengeld, solange es zur Bildung von Überbrückungsgeld benötigt wird. Der Gefangene kann also nur vorbehaltlich der Verfügungsbeschränkung gem. § 83 Abs. 2 Satz 3 2. HS. über sein Eigengeld frei verfügen. Hierbei ist für die Betroffenen häufig die Möglichkeit des Einkaufs gem. § 22 und VV Nr. 2 Abs. 1 zu § 22 von besonderem Interesse. Die sehr unterschiedliche Ausstattung der Gefangenen mit Eigengeld und die deshalb sehr verschiedene Verfügungsmöglichkeit des Einzelnen über sein Eigengeld lassen aber einen Zielkonflikt deutlich werden: Der Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) würde verlangen, dass die unterschiedlichen Einkaufsmöglichkeiten der Gefangenen mit und ohne Eigengeld nicht nur im Rahmen von § 22, sondern auch bei der Anschaffung von Einrichtungsgegenständen, Rundfunkgeräten oder Kleintieren in vollem Umfange zugelassen werden, weil die Unterschiede zwischen „Arm und Reich“ den allgemeinen Lebensverhältnissen außerhalb der Anstalten entsprechen. Andererseits birgt das enge, nicht immer kontrollierte und kontrollierbare Zusammenleben in der Anstalt die Gefahr, dass unerwünschte subkulturelle Abhängigkeiten entstehen, denen die Gefangenen sich teilweise wegen der Gruppenzwänge auch dann nicht mehr entziehen können, wenn sie es wollen (vgl. hierzu Laubenthal 2008 Rdn. 211 ff). 4 Das Eigengeld ist, soweit es anstelle nicht angesparten Überbrückungsgeldes gesichert werden muss, vorbehaltlich § 51 Abs. 5 gem. § 51 Abs. 4 Satz 2 unpfändbar. Im Übrigen bleibt das Eigengeld grundsätzlich pfändbar und steht dem Zugriff der Gläubiger offen, weil der spezifischen Situation des Inhaftierten durch die Pfändungsbeschränkungen des § 51 Abs. 4 und 5 hinreichend Rechnung getragen wird (BT-Drucks. 7/918, 71; so auch BFH DStRE 2004, 421; BGH StV 2004, 558; OLG Schleswig NStZ 1994, 511; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1995, 114; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 1; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 159; Laubenthal 2008 Rdn. 477). Einzahler-Zweckbestimmungen sind insoweit unbeachtlich (OLG Nürnberg NStZ 1985, 354; s. auch OLG Hamm NStZ 1997, 426). Zwar sieht VV Nr. 3 zu § 83 vor, dass für einen Inhaftierten zu einem bestimmten Zweck einbezahltes Eigengeld dann nicht als Überbrückungsgeld zu behandeln ist, wenn der Verwendungszweck der Eingliederung des Betroffenen dient. Dies bleibt hinsichtlich der Pfändbarkeit jedoch unbeachtlich, weil Strafgefangener und Dritter ebenso wenig wie die Landesjustizverwaltung mittels Verwaltungsvorschrift die gesetzlichen Pfändungsmöglichkeiten beeinträchtigen können (Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. im Ergebnis OLG Frankfurt ZfStrVo 2004, 316). Durch die Pfändung von Eigengeld wird die Menschenwürde des Gefangenen nicht verletzt, da dessen
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lebensnotwendigen Bedürfnissen durch das Überbrückungsgeld gem. § 51 und das ihm nach § 47 zustehende Hausgeld in ausreichendem Umfang Rechnung getragen ist (BVerfG NStZ 1982, 300). Wird vertreten, dass auch derjenige Teil des Eigengeldes, der aus Resten des Arbeitsentgelts (oder dessen Surrogaten) stammt, dem Pfändungsschutz der §§ 850 ff ZPO unterfallen soll (so OLG Frankfurt NStZ 1993, 559; OLG Hamburg ZfStrVo 1995, 370; AK-Däubler/Spaniol 2006 Rdn. 4; Konrad 1990, 206), steht dem allerdings entgegen, dass der Anspruch des Gefangenen auf Zahlung des Arbeitsentgelts mit der Gutschrift auf dem Eigengeldkonto schon erloschen ist. Zwar stammt der Anspruch auf Auszahlung des Gutgeschriebenen aus dem Arbeitsentgelt, er stellt jedoch keinen Anspruch auf das Arbeitseinkommen dar. Es bleibt deshalb auch eine entsprechende Anwendung des § 850k ZPO auf den dem Eigengeldkonto zugeführten Arbeitslohn ausgeschlossen (OLG Schleswig NStZ 1994, 511). Auch die Pfändungsfreigrenzen des § 850c ZPO finden nach Sinn und Zweck dieser Pfändungsschutzvorschrift weder unmittelbar noch mittelbar Anwendung (BFH DStRE 2004, 421; BGH StV 2004, 558). Der Rechtsweg bei Streitigkeiten über die Auszahlung von Eigengeld richtet sich da- 5 nach, ob die behauptete Rechtsverletzung in einer von der Anstalt zu verantwortenden Handlung gesehen wird (dann §§ 109 ff; so etwa bei Auszahlung von Eigengeld an einen Abtretungsgläubiger, OLG Hamm NStZ 1988, 479), oder ob es sich um Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung überhaupt oder einer bestimmten Vollstreckungsmaßnahme handelt. In letzterem Fall ist gem. §§ 766 oder 767 ZPO vorzugehen (BGHSt 37, 176), so etwa, wenn der Gefangene meint, dass die Auszahlung einzustellen sei, weil das aus seinem Arbeitsentgelt gebildete Eigengeld unter die Pfändungsfreigrenzen der §§ 850 ff ZPO falle (KG NStZ 1991, 56), oder dass zweckgebundene, für den Einkauf eingezahlte Geldbeträge von einer Pfändung nicht erfasst würden (OLG Stuttgart ZfStrVo 1988, 369). Rechnet die Justizverwaltung mit einem eigenen zivilrechtlichen Anspruch (z. B. Schadensersatz wegen Beschädigung der Haftraumausstattung) gegen das Eigengeld des Strafgefangenen auf, ist für Einwendungen gegen diese Aufrechnung der Zivilrechtsweg eröffnet (BGH Rpfleger 1998, 304; OLG Nürnberg ZfStrVo 1999, 302). Dies betrifft sowohl die Aufrechnung an sich (a. A. KG NStZ-RR 2003, 317) als auch die Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen den Inhaftierten geltend gemachten zivilrechtlichen Forderung.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 52 BayStVollzG lautet: „(1) Als Eigengeld wird gutgeschrieben 1. eingebrachtes 6 Geld, 2. Bezüge der Gefangenen, die nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden, 3. Geld, das für die Gefangenen eingezahlt wird. Art. 53 bleibt unberührt. (2) Die Gefangenen können über ihr Eigengeld verfügen, soweit dieses nicht als Überbrückungsgeld notwendig ist.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Art. 52 übernimmt die Regelungen der §§ 52 und 83 Abs. 2 StVollzG. Das Eigengeld der Gefangenen wird gebildet aus dem von ihnen in die Anstalt mitgebrachten Geld, das beim Zugang auf ihr Konto eingezahlt wird, aus während der Haft eingehenden Zuwendungen Dritter sowie aus den während der Haft gutgeschriebenen Bezügen, die nicht als Hausgeld (Art. 50), Haftkostenbeitrag (Art. 49) oder Überbrückungsgeld (Art. 51) in Anspruch genommen werden. . . . Grundsätzlich unterliegen die Gefangenen hinsichtlich des Eigengelds ebenso wenig einer Verfügungsbeschränkung wie hinsichtlich ihres sonstigen, außerhalb der Anstalt befindlichen Vermögens. Abs. 2 beinhaltet jedoch eine Beschränkung der Gefangenen hinsichtlich ihres Eigengelds dahin-
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§ 52
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gehend, dass ihre Verfügungsbefugnis nur soweit reicht, wie das Eigengeld nicht als Überbrückungsgeld notwendig ist.“ 2. Hamburg
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§ 48 HmbStVollzG lautet: „(1) Das Eigengeld wird gebildet 1. aus Bargeld, das den Gefangenen gehört und ihnen als Eigengeld gutzuschreiben ist, 2. aus Geldern, die für die Gefangenen eingezahlt werden, und 3. aus Bezügen der Gefangenen, die nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden. (2) Hat das Überbrückungsgeld noch nicht die nach § 47 Absatz 1 bestimmte Höhe erreicht, so ist die Verfügung über das Eigengeld in Höhe des Unterschiedbetrages ausgeschlossen. § 47 Absatz 3 Satz 2 gilt entsprechend. Daneben kann die Anstaltsleitung die Inanspruchnahme von Eigengeld für den Einkauf (§ 25) im ersten Monat nach der Aufnahme gestatten. (3) Hat das Überbrückungsgeld die nach § 47 Absatz 1 bestimmte Höhe erreicht, dürfen die Gefangenen über das Eigengeld verfügen, für den Einkauf (§ 25) jedoch nur, wenn sie ohne ihr Verschulden nicht über Haus- oder Taschengeld in ausreichendem Umfang verfügen und nur in angemessener Höhe. (4) Wird für Gefangene Geld eingezahlt, das ausdrücklich für einen zusätzlichen Einkauf (§ 25 Absatz 2) bestimmt ist, ist es als zweckgebundenes Eigengeld gutzuschreiben. Zweckgebundenes Eigengeld, das nicht oder nicht in vollem Umfang für den folgenden zusätzlichen Einkauf verwendet wird, ist in Höhe des nicht verwendeten Betrages als Eigengeld nach Absatz 1 zu behandeln. (5) Wurde den Gefangenen Bargeld als Eigengeld gutgeschrieben, das sie unerlaubt in die Anstalt eingebracht oder einzubringen versucht haben oder das sie in der Anstalt aus anderen Gründen unerlaubt im Besitz hatten, dürfen sie über das Eigengeld in Höhe des gutgeschrieben Betrages nicht verfügen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 1 Nummer 1 greift die Regelung in § 83 Absatz 2 Satz 2 StVollzG auf, wonach den Gefangenen Bargeld, das ihnen gehört, als Eigengeld gutzuschreiben ist. Absatz 1 Nummer 2 stellt klar, dass den Gefangenen auch Bargeld, das für sie eingezahlt wird, als Eigengeld gutzuschreiben ist. Absatz 1 Nummer 3 stellt entsprechend § 52 StVollzG klar, dass Bezüge der Gefangenen, die nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden, als Eigengeld zur Verfügung stehen.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 43). „Absatz 2 [bestimmt] die Freigabe von eigentlich – mangels erfolgter Ansparung des Überbrückungsgeldsolls – gesperrtem Eigengeld für den so genannten Zugangseinkauf. Die Bestimmung berücksichtigt den Umstand, dass die Gefangenen im ersten Monat nach ihrer Aufnahme weder über Hausgeld noch über Taschengeld verfügen. Zudem ermöglicht Absatz 3 nach erfolgter Ansparung des Überbrückungsgeldes die Nutzung von Eigengeld für den Einkauf, wenn die Gefangenen ohne ihr Verschulden nicht über Haus- oder Taschengeld „in ausreichendem Umfang“ verfügen. Hierdurch soll eine Schlechterstellung von arbeitswilligen Gefangenen, denen keine oder nur in begrenztem Umfang Arbeit zugewiesen werden kann, gegenüber arbeitenden Gefangenen beim Einkauf vermieden werden.“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 57). „Absatz 4 enthält eine neue, im Strafvollzugsgesetz nicht getroffene Regelung über den Umgang mit Geldern, die Gefangene unerlaubt in die Anstalt eingebracht oder einzubringen versucht haben oder die sie in der Anstalt aus anderen Gründen unerlaubt im Besitz hatten. Diese Gelder sind den Gefangenen als Eigengeld gutzuschreiben, stehen aber in Höhe des gutgeschriebenen Betrages nicht zur Verfügung.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 43). 3. Niedersachsen
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§ 48 NJVollzG normiert: „(1) Soweit Ansprüche der in § 45 Abs. 1 bezeichneten Art nicht als Hausgeld oder Überbrückungsgeld gutgeschrieben werden, werden sie als Eigengeld
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Vorbemerkungen
Vor § 53
gutgeschrieben. § 40 Abs. 10 Satz 4 bleibt unberührt. (2) Die Verwendung des Eigengeldes für den Einkauf (§ 24) ist ausgeschlossen. Verfügt die oder der Gefangene ohne Verschulden nicht über Hausgeld, so ist ihr oder ihm zu gestatten, in angemessenem Umfang vom Eigengeld einzukaufen. (3) Hat das Überbrückungsgeld noch nicht die nach § 47 Abs. 2 Satz 2 festgesetzte Höhe erreicht, so ist die Verfügung über das Guthaben auf dem Eigengeldkonto in Höhe des Unterschiedsbetrages ausgeschlossen. § 47 Abs. 4 gilt entsprechend.“ Abs. 1 Satz 1 entspricht inhaltlich § 52 StVollzG.
SECHSTER TITEL
Religionsausübung Vorbemerkungen Schrifttum: a) Zu staatskirchenrechtlichen Fragen: v. Busse Gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Kirche, München 1978; v. Campenhausen Staatskirchenrecht, 3. Aufl. München 1996; ders. Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: HdbStKirchR I 1994, 47 ff; ders. Religionsfreiheit, in: HdbStR VI, Heidelberg 1989, § 136 Rdn. 34 ff; ders. Neue Religionen im Abendland – Staatskirchenrechtliche Probleme der Muslime, der Jugendsekten und der sogenannten destruktiven religiösen Gruppen –, in: ZevKR 1980, 135 ff; ders. Aktuelle Aspekte der Religionsfreiheit, in: ZevKR 1992, 405 ff; Dahlke Strafvollzug – Kein Stiefkind der Kirche, in: Schäfer/Sievering 1989, 7 ff; Eick-Wildgans Anstaltsseelsorge. Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenwirkens von Staat und Kirche im Strafvollzug, Berlin 1993; dies. Anstaltsseelsorge, in: HdbStKirchR II 1995, 995 ff; Heckel Gleichheit oder Privilegien. Der Allgemeine und der Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht, Tübingen 1993; Isak Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994; Listl Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I 1994, 439 ff; ders. Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987; Peters Seelsorge und Strafvollzug, in: JR 1975, 402 ff; Pirson Die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen als Gegenstand des Staatskirchenrechts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 23, Münster 1989, 4 ff; Rassow Bestimmungen über die Seelsorge in Justizvollzugsanstalten (Loseblattsammlung), Celle 1976 (Stand 7. Ergänzungslieferung, Mai 1996); Rehborn/Rauschen Katholische Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland (Loseblattsammlung), Hamm 1997; Schäfer Gefängnisseelsorge eingeschlossen? Zum Verhältnis von Staat und Kirche am Beispiel der Gefängnisseelsorge in Hessen, in: Grigoleit 2004, 84–95; Weispfenning, Neuere Entwicklungen des Verhältnisses von Staat und Kirche in Hessen, in ZevKR 1979, 315. b) Zu Fragen der Seelsorgepraxis im Strafvollzug: Bethkowsky-Spinner Grundlegung einer Gefängnisseelsorge, in: Reader Gefängnisseelsorge 9/1999, 62 ff; Böhm Zum 75-jährigen Bestehen der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, in: Reader Gefängnisseelsorge 11/2002, 34 ff; Brandt Die evangelische Strafanstaltsseelsorge, Göttingen 1985; ders. Menschen im Justizvollzug, in: Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 4, Gütersloh 1987, 435 ff; Diestel/Rassow/Schäfer/Stubbe (Hrsg.), Kirche für Gefangene, München 1980; Dreier Die Rolle des Gefangenenseelsorgers in Kirche und Gesellschaft, in: ZfStrVo 1976, 209 ff; Gareis Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 23, Münster 1989, 58 ff; Greifenstein Zur Rolle der Gefängnisseelsorgerinnen und Gefängnisseelsorger, in: Reader Gefängnisseelsorge 11/2002, 71 ff; Grigoleit (Hrsg.) Es wird ein Leben ohne Gitter geben. Festschrift für Manfred Lösch, Fernwald 2004; Härle Theologische Vorüberlegungen für eine Theorie kirchlichen Handelns in Gefängnissen, in: Zeitschrift für evangelische Ethik (32) 1988, 199 ff; Heusel Freiheit für den Dienst am Menschen – Zur theologischen Grundlegung der Seelsorge in Justizvollzugsanstalten –, in: Schäfer/Sievering (Hrsg.) 1989, 37 ff;
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gutgeschrieben. § 40 Abs. 10 Satz 4 bleibt unberührt. (2) Die Verwendung des Eigengeldes für den Einkauf (§ 24) ist ausgeschlossen. Verfügt die oder der Gefangene ohne Verschulden nicht über Hausgeld, so ist ihr oder ihm zu gestatten, in angemessenem Umfang vom Eigengeld einzukaufen. (3) Hat das Überbrückungsgeld noch nicht die nach § 47 Abs. 2 Satz 2 festgesetzte Höhe erreicht, so ist die Verfügung über das Guthaben auf dem Eigengeldkonto in Höhe des Unterschiedsbetrages ausgeschlossen. § 47 Abs. 4 gilt entsprechend.“ Abs. 1 Satz 1 entspricht inhaltlich § 52 StVollzG.
SECHSTER TITEL
Religionsausübung Vorbemerkungen Schrifttum: a) Zu staatskirchenrechtlichen Fragen: v. Busse Gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Kirche, München 1978; v. Campenhausen Staatskirchenrecht, 3. Aufl. München 1996; ders. Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: HdbStKirchR I 1994, 47 ff; ders. Religionsfreiheit, in: HdbStR VI, Heidelberg 1989, § 136 Rdn. 34 ff; ders. Neue Religionen im Abendland – Staatskirchenrechtliche Probleme der Muslime, der Jugendsekten und der sogenannten destruktiven religiösen Gruppen –, in: ZevKR 1980, 135 ff; ders. Aktuelle Aspekte der Religionsfreiheit, in: ZevKR 1992, 405 ff; Dahlke Strafvollzug – Kein Stiefkind der Kirche, in: Schäfer/Sievering 1989, 7 ff; Eick-Wildgans Anstaltsseelsorge. Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenwirkens von Staat und Kirche im Strafvollzug, Berlin 1993; dies. Anstaltsseelsorge, in: HdbStKirchR II 1995, 995 ff; Heckel Gleichheit oder Privilegien. Der Allgemeine und der Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht, Tübingen 1993; Isak Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994; Listl Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I 1994, 439 ff; ders. Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987; Peters Seelsorge und Strafvollzug, in: JR 1975, 402 ff; Pirson Die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen als Gegenstand des Staatskirchenrechts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 23, Münster 1989, 4 ff; Rassow Bestimmungen über die Seelsorge in Justizvollzugsanstalten (Loseblattsammlung), Celle 1976 (Stand 7. Ergänzungslieferung, Mai 1996); Rehborn/Rauschen Katholische Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland (Loseblattsammlung), Hamm 1997; Schäfer Gefängnisseelsorge eingeschlossen? Zum Verhältnis von Staat und Kirche am Beispiel der Gefängnisseelsorge in Hessen, in: Grigoleit 2004, 84–95; Weispfenning, Neuere Entwicklungen des Verhältnisses von Staat und Kirche in Hessen, in ZevKR 1979, 315. b) Zu Fragen der Seelsorgepraxis im Strafvollzug: Bethkowsky-Spinner Grundlegung einer Gefängnisseelsorge, in: Reader Gefängnisseelsorge 9/1999, 62 ff; Böhm Zum 75-jährigen Bestehen der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, in: Reader Gefängnisseelsorge 11/2002, 34 ff; Brandt Die evangelische Strafanstaltsseelsorge, Göttingen 1985; ders. Menschen im Justizvollzug, in: Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 4, Gütersloh 1987, 435 ff; Diestel/Rassow/Schäfer/Stubbe (Hrsg.), Kirche für Gefangene, München 1980; Dreier Die Rolle des Gefangenenseelsorgers in Kirche und Gesellschaft, in: ZfStrVo 1976, 209 ff; Gareis Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 23, Münster 1989, 58 ff; Greifenstein Zur Rolle der Gefängnisseelsorgerinnen und Gefängnisseelsorger, in: Reader Gefängnisseelsorge 11/2002, 71 ff; Grigoleit (Hrsg.) Es wird ein Leben ohne Gitter geben. Festschrift für Manfred Lösch, Fernwald 2004; Härle Theologische Vorüberlegungen für eine Theorie kirchlichen Handelns in Gefängnissen, in: Zeitschrift für evangelische Ethik (32) 1988, 199 ff; Heusel Freiheit für den Dienst am Menschen – Zur theologischen Grundlegung der Seelsorge in Justizvollzugsanstalten –, in: Schäfer/Sievering (Hrsg.) 1989, 37 ff;
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Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Strafe: Tor zur Versöhnung? Eine Denkschrift der EKD zum Strafvollzug, Gütersloh 1990; Kirchenkanzlei der EKD (Hrsg.), Seelsorge in Justizvollzugsanstalten. Empfehlungen des Rates der EKD, Gütersloh 1979; Kleinert Seelsorger oder Bewacher? Reinbek 1977; Koch Evangelische Seelsorge, in: Schwind/Blau 1988, 28 ff; ders. Ein Haus voller Sünder? Zur kirchlichen Arbeit im Gefängnis, in: ZfStrVo 1989, 99 ff; Müller-Dietz Die Denkschrift der EKD zum Strafvollzug, in: ZfStrVo 1991, 15 ff; Pohl-Patalong Freiräume hinter Gittern. Aspekte einer Seelsorge im Gefängnis, in: Lernort Gemeinde 1/1998, 53 ff; Radtke Der Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses, in ZevKR 2007, 617 ff; Raming Katholische Seelsorge, in: Schwind/Blau 1988, 214 ff; Rassow (Hrsg.), Seelsorger eingeschlossen, Stuttgart 1987; Schäfer/Sievering (Hrsg.) Justizvollzug und Straffälligenhilfe als Gegenstand evangelischer Akademiearbeit, Frankfurt 1989; Strodel Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, Diss., Universität München 2003; Stubbe Seelsorge im Strafvollzug, Göttingen 1978; Track „. . . gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen“ – Gefängnisseelsorge heute, in Lösch/Rassow (Hrsg.), Gefängnisseelsorge heute, Hannover 1989, 24 ff; Wever/Faber/Lösch (Hrsg.) Festgabe zum 80. Geburtstag von Peter Rassow, Hannover 2008; Winkler Seelsorge, Berlin/New York 1997, 492 ff. c) Umfassendes Literaturverzeichnis: Rassow Bibliographie Gefängnisseelsorge, Pfaffenweiler 1998.
1
1. Die Vorschriften des StVollzG über Religionsausübung und Seelsorge (§§ 53 bis 55; § 157) resultieren aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG), das auch für den speziellen, besonders sensiblen Bereich des Strafvollzugs garantiert ist (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV). Verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Grundsätze haben daher bei der Auslegung und für das Verständnis der entsprechenden Vorschriften des StVollzG vorrangige Bedeutung. Aus der Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates (BVerfGE 19, 2 206, 216) und aus dem durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV sichergestellten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften folgt, dass der Staat die Seelsorge grundsätzlich als eine Angelegenheit der Religionsgemeinschaften zu respektieren hat und nicht berechtigt ist, den Begriff der Seelsorge auszufüllen. Daher sind zu den inhaltlichen Fragestellungen der Gefängnisseelsorge grundlegende theologische Aussagen der Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen. Verfassungsrechtlich zulässig sind jedoch staatlicherseits formale Rechtsdefinitionen religiös geprägter Begriffe in Gebieten, in denen die Seelsorgetätigkeit auf den Strafvollzug einwirkt. Die staatliche Rahmenziehungskompetenz hat dort ihre Grenze, wo Aussagen über den spezifisch religiösen Auftrag einer Religionsgemeinschaft erforderlich werden; insoweit ist das kirchliche Selbstverständnis verbindlich. Der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates gebietet eine gleichmäßige Berücksichtigung des Selbstverständnisses aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 3 Abs. 3 GG). Das Gleichbehandlungsgebot bedeutet jedoch keine Verpflichtung zu schematischer Gleichbehandlung. Der Staat darf vielmehr an Wesensunterschiede auch rechtliche Differenzierungen knüpfen (vgl. auch § 55 Rdn. 2, 5). Dabei darf er sich aber lediglich objektiver und religionsneutraler Kriterien bedienen. 3 Das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit nach Art. 4 GG ist nicht an den Kreis christlich-abendländischer Religion gebunden (v. Campenhausen ZevKR 1980, 135 ff und ZevKR 1992, 405 ff). Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Deshalb gilt die Glaubensfreiheit nicht nur den Mitgliedern anerkannter Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern sie ist auch den Angehörigen anderer religiöser Vereinigungen gewährleistet (BVerfGE 32, 98, 106). Sie steht nicht nur den deutschen Staatsbürgern zu, sondern allen in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Menschen (v. Campenhausen ZevKR 1980, 136). Art. 4 GG schützt gerade auch die vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugung, die von den Lehren der Kirchen und Religionsgemeinschaften abweicht (BVerfGE 33, 23, 29).
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Seelsorge
§ 53
Religionsfreiheit begründet nach heutigem Verständnis ein individuelles und ein kol- 4 lektives Recht (v. Campenhausen 1994, 59). Das Grundrecht nach Art. 4 GG schützt das Bedürfnis des einzelnen Gläubigen, sichert aber auch die Möglichkeit der Religionsgemeinschaften, ihren Angehörigen geistliche Betreuung zukommen zu lassen (BVerfGE 24, 245). Der Religionsgemeinschaft ist damit die Möglichkeit gottesdienstlicher und seelsorgerlicher Angebote gegeben, dem Gefangenen, diese Angebote anzunehmen oder abzulehnen (positive oder negative Religionsfreiheit) bzw. auch schon einen entsprechenden Wunsch zu äußern (§ 53 Abs. 1 Satz 2). Angebot und Inanspruchnahme bilden eine Einheit. 2. Auch wenn das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) 5 sowie der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) vorbehaltlos und erklärtermaßen auch im Strafvollzug gilt (BT-Drucks. 7/918, 71; s. auch § 196), ist es doch, wie jedes Grundrecht, nicht schrankenlos. Es kann aber wegen seiner nahen Beziehung zur Menschenwürde und seiner entschiedenen Formulierung seinem Kern nach nur von grundlegenden Prinzipien der Verfassung Beschränkungen erfahren, die die sittlichen Grundlagen des Zusammenlebens oder die Fundamente der politischen Ordnung betreffen (BVerfGE 33, 1 LS 3 und 11). Sinn und Zweck des Strafvollzugs können grundrechtsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen (BVerfGE 33, 1, 13; 40, 276 LS 2 und 283 f). Nicht den Inhalt der Religionsausübung, sondern ihren Umfang betreffende örtliche und zeitliche (sog. modale) Beschränkungen der Religionsausübung stellen keine Verletzung von Art. 4 GG dar (Belege u. a. bei Listl Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1971, 65 ff). Insofern kann aus dem Grundrecht nicht gefolgert werden, dass jemand, der sich nach der Rechtsordnung des Staates zu Recht in Strafhaft befindet, unbedingt alle denkbaren Glaubensbetätigungsmöglichkeiten vornehmen kann, wie sie dem offen stehen, der sich in Freiheit befindet. Da die Religionsfreiheit aber das Recht des Einzelnen einschließt, nicht durch fehlende staatliche Rücksicht an der Beachtung von religiösen Sitten und Geboten gehindert zu werden (v. Campenhausen 1996, 66), darf der Strafvollzug sie nur insoweit einschränken, als derartige Beschränkungen für die Aufrechterhaltung eines geordneten Strafvollzugs unerlässlich sind. Seelsorge in Justizvollzugsanstalten wird aus dem Blickwinkel des Staatskirchenrechts 6 als eine „Gemeinsame Angelegenheit“ von Staat und Kirche bezeichnet. Sie schließt kirchliche und staatliche Angelegenheiten ein, wobei Staat und Religionsgemeinschaften für die Regelung der eigenen Aufgaben zuständig und selbstverantwortlich bleiben. Die Rücksicht auf die rechtlich geschützten Belange des jeweils anderen erfordert ein verständiges Zusammenwirken beider. Ausdruck der partiellen Gemeinsamkeit von Kirche und Staat sind auf Länderebene ausgehandelte Vereinbarungen zur Seelsorge in Justizvollzugsanstalten (Texte s. Listl 1987; Rassow 1976; Rehborn/Rauschen 1997). Sie sind bestrebt, die unterschiedlichen Zielrichtungen kirchlichen und staatlichen Handelns bei Wahrung der kirchlichen Unabhängigkeit in geregelte Beziehungen zu fassen und Einzelfragen zu klären.
§ 53 Seelsorge (1) Dem Gefangenen darf religiöse Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft nicht versagt werden. Auf seinen Wunsch ist ihm zu helfen, mit einem Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft in Verbindung zu treten.
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(2) Der Gefangene darf grundlegende religiöse Schriften besitzen. Sie dürfen ihm nur bei grobem Missbrauch entzogen werden. (3) Dem Gefangenen sind Gegenstände des religiösen Gebrauchs in angemessenem Umfang zu belassen. Schrifttum: s. Vor § 53
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Begriff der Seelsorge . . . . . 2. Selbstverständnis . . . . . . . 3. Aufgaben . . . . . . . . . . . 4. Zielvorstellung . . . . . . . . 5. Gefangene und Vollzugsbedienstete . . . . . . . . . . 6. Religionsgemeinschaften . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Recht auf religiöse Betreuung (Abs. 1) . . . . . . . . . . . . 2. Seelsorgerliches Einzelgespräch 3. Karitative Betreuung . . . . . 4. Zutritt in dringenden Fällen .
. . . . .
1–7 1 2 3 4
. . .
5 6–7 8–18
.
8 9 10 11
. .
Rdn. 5. Zwangsanwendungsverbot . . 6. Eigene Religionsgemeinschaft, Konfessionswechsel . . . . . . 7. Hilfe bei Kontaktaufnahme mit einem Seelsorger . . . . . . . 8. Religiöse Schriften (Abs. 2) . . 9. Gegenstände des religiösen Gebrauchs (Abs. 3) . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
.
12
.
13
. 14 . 15–16 . 17–18 . 19 . 20–22 . 20 . 21 . 22
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Der Begriff der Seelsorge in § 53 (Überschrift) und § 157 steht im weiteren Sinn als Oberbegriff für den gesamten vielfältigen Dienst der Religionsgemeinschaften an ihren inhaftierten Mitgliedern i. S. von „religiösen Handlungen“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV) und „religiöser Betreuung“ (§ 53 Text). Dieser umfasst neben Gottesdiensten und anderen religiösen Gemeinschaftsveranstaltungen (§ 54) die in der theologischen Disziplin so genannte Seelsorge im engeren Sinn, die sich vornehmlich dem Einzelnen zuwendet.
2
2. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben den Begriff der Seelsorge entsprechend ihrem Selbstverständnis zu beschreiben und auszulegen (vgl. Vor § 53 Rdn. 2). Rolle und Aufgabe der Gefängnispfarrer wurden im Laufe der Geschichte unterschiedlich gesehen (Böhm ZfStrVo 1995, 3 ff; ders. Reader Gefängnisseelsorge 11/2002, 34 ff). Heute herrscht allgemein Übereinstimmung, dass Seelsorge nicht nur den engen Bereich der kultischen Handlungen umfasst, sondern auch die karitative und diakonische Betreuung (BVerfGE 24, 236, 245 f). Nach christlicher Auffassung ist Seelsorge Dienst an dem ganzen Menschen, im umfassenden Sinne als Lebensdeutung, Lebensorientierung und Hilfe zur Lebensgestaltung zu verstehen.
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3. Zu ihren Aufgaben rechnet die Gefängnisseelsorge unter Beachtung des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1) alle Dienste und Veranstaltungen, die für eine christliche Gemeinde kennzeichnend, von der Situation her erforderlich und unter den Bedingungen des Justizvollzuges möglich sind: insbesondere Gottesdienste – auch unter Beteiligung von kirchlichen Mitarbeitern und Gruppen von außen –, Bibelarbeiten, seelsorgerliche Einzelund Gruppengespräche, kirchliche Bildungsveranstaltungen, karitative und diakonische Aufgaben und Öffentlichkeitsarbeit (Kirchenkanzlei 1979, 10; vgl. Rdn. 16 zu § 157). Dabei
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gehört wesenhaft zum Seelsorgedienst an Gefangenen, dass die Gemeinschaft zwischen der Gemeinde außerhalb der Vollzugsanstalt und der Gemeinde in der Vollzugsanstalt geachtet, gestärkt und erfahrbar wird; wenn auch der Freiheitsentzug die Ausübung dieser Gemeinschaft einschränkt, darf sie aber weder grundsätzlich noch tatsächlich völlig aufgehoben werden (Kirchenkanzlei 1979, 9). Die Tätigkeit des Seelsorgers ist deshalb nicht intramural begrenzt (Einbeziehung der Familien und Angehörigen, Hilfen zur sozialen Integration u. a., vgl. auch § 54 Rdn. 10). 4. Welche Zielvorstellung der Seelsorger in der Vollzugsanstalt hat, d. h. wie er seinen 4 Auftrag und seine Aufgabe konkret sieht, ist für den Gefangenen, aber auch für die Bediensteten der Vollzugsanstalt wichtig zu wissen, weil sich die einzelnen Gespräche und Maßnahmen des Seelsorgers nicht immer von denen anderer Mitarbeiter in der Vollzugsanstalt, insbesondere der sog. besonderen Fachdienste (Psychologen, Sozialarbeiter), unterscheiden lassen (vgl. Rdn. 18 zu § 157). Auch wenn die eigene Intention der Seelsorge nicht voll in den Vollzug integrierbar ist (Kirchenkanzlei 1979, 18) und der Seelsorger sich nicht mit allen Zielen und Methoden staatlichen Strafens identifizieren kann (Kirchenamt 1990, 91), muss die Vollzugsbehörde davon ausgehen können, dass der Seelsorger das Vollzugsziel (§ 2) respektiert und ihm nicht entgegenarbeitet (vgl. § 157 Rdn. 15 und 16). 5. Verfassungsrechtlich bezieht sich die Seelsorge in Vollzugsanstalten nur auf die Ge- 5 fangenen, weil die Vollzugsbediensteten nicht an der Teilnahme am Leben ihrer Religionsgemeinschaft gehindert sind. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Seelsorger die Bediensteten mit in seine Tätigkeit in der Vollzugsanstalt einbezieht (v. Busse 1978, 254; vgl. Rdn. 2 zu § 54) und ihnen, unabhängig vom Zusammenarbeitsgebot (§ 154 Abs. 1), auch persönlich als Seelsorger zur Verfügung steht (vgl. Rassow WzM 1984, 71). 6. Voraussetzung, Religionsgemeinschaften, die im Strafvollzug tätig werden möch- 6 ten, den Zutritt zu gestatten (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV), ist das Bedürfnis seitens der Gefangenen. Der ausdrückliche Wunsch eines Gefangenen ist nicht notwendig. Es genügt bereits der Aufenthalt eines Angehörigen des entsprechenden Bekenntnisses in der Anstalt bzw. die Anwesenheit eines Gefangenen, der sich der entsprechenden Gemeinschaft zuwenden möchte. Ein bekundetes Desinteresse kann eine Zulassungsablehnung nicht rechtfertigen, wohl aber ist ein ausdrücklicher Verzicht auf religiöse Betreuung zu respektieren. Zu den Religionsgemeinschaften zählen nicht nur die christlichen Kirchen und Sekten, sondern ebenso die außerchristlichen Religionsgemeinschaften wie die jüdische, buddhistische, islamische (vgl. Klöcker/Tworuschka (Hrsg.), Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland, Landsberg/Lech 1997; Reller (Hrsg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen. Freikirchen, Sondergemeinschaften, Sekten, synkretistische Neureligionen und Bewegungen, esoterische und neugnostische Weltanschauungen und Bewegungen, missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen, kommerzielle Anbieter von Lebensbewältigungshilfen und Psycho-Organisationen, 5. Aufl. Gütersloh 2000). Die von den verschiedenen Glaubensgemeinschaften mit der Seelsorge in der Vollzugs- 7 anstalt Beauftragten arbeiten weitgehend, wenn auch in unterschiedlichem Maße zusammen (vgl. Rassow (Hrsg.), Ökumene im Gefängnis. Beiträge zur Zusammenarbeit in der kirchlichen Arbeit mit gefangenen Menschen, Hannover 1993). Die Praktizierung ökumenischen Miteinanders gehört in der Gefängnisseelsorge zunehmend zur Normalität.
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II. Erläuterungen 8
1. Die zurückhaltende Formulierung „darf nicht versagt werden“ (Abs. 1) verweist darauf, dass der Gefangene ein unmittelbares Recht auf religiöse Betreuung auf Grund seiner Mitgliedschaft nur gegen seine Religionsgemeinschaft hat; denn religiöse Betreuung ist nicht Sache des Staates, sondern der Kirchen und religiösen Gemeinschaften (BT-Drucks. 7/918, 71 f; zu den wechselseitigen Rechtsbeziehungen zwischen Gefangenem, Staat und Seelsorger/Religionsgemeinschaft in der Vollzugsanstalt vgl. Peters 1975). Gegen die Vollzugsbehörde hat er jedoch den Anspruch auf Schaffung der Voraussetzungen für eine ausreichende Seelsorge durch Zulassung der religiösen Betreuung durch einen Seelsorger (Abs. 1 Satz 1), ggf. auf Unterstützung bei der Kontaktaufnahme (Abs. 1 Satz 2).
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2. Zur religiösen Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft rechnet neben den Gemeinschaftsveranstaltungen (§ 54) die individuelle Zuwendung im seelsorgerlichen Einzelgespräch und in persönlicher Beratung, die auch eine karitative/diakonische Dimension umfassen kann. Das Recht auf Einzelseelsorge gem. § 53 Abs. 1 gehört zum Kernbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit. Es kann keinem Gefangenen versagt werden und darf, anders als Gottesdienst und religiöse Veranstaltungen (§ 54 Abs. 3), grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden. Das Seelsorgegespräch wird prinzipiell nicht überwacht. Das gilt auch bei Gefangenen, die besonderen Sicherungsmaßnahmen (§ 88) unterworfen sind. Selbst während einer Praktizierung der Kontaktsperre (§ 26) ist ein seelsorgerliches Gespräch bei Erfordernis der Anwesenheit einer weiteren Person nur dann mit Art. 4 Abs. 2 GG vereinbar, wenn es sich wegen der seelsorgerlichen Geheimnispflicht um einen weiteren Geistlichen handelt (v. Campenhausen/Christoph Göttinger Gutachten, Tübingen 1994, 340, 350). Ein Gespräch mit dem Seelsorger im Beisein eines Dritten ist kein Seelsorgegespräch. Allenfalls können Vollzugsbedienstete in Sichtweite, z. B. bei geöffneter Tür, zugegen sein; sie dürfen aber vom Inhalt des Gesprächs keine Kenntnis erlangen (zur Sichtkontrolle vgl. Rdn. 4 zu § 27). Der Erwartung der Anstaltsleitung, Informationen in Zusammenhang mit einem Seelsorgegespräch, etwa durch Vermerk auf einem Antragsformular des Gefangenen, aktenkundig zu machen, darf der Geistliche wegen seiner seelsorgerlichen Schweigeverpflichtung nicht entsprechen (RK Art. 9). Dies gilt jedoch nicht bei Fragen, die nicht unter die seelsorgerliche Verschwiegenheit fallen. In der Seelsorgepraxis gibt es freilich immer wieder Übergänge zwischen den Funktionen von Beichte, Seelsorge und Amtsausübung, ohne dass sich ihre Vollzüge immer deutlich voneinander trennen lassen. Zur Seelsorge gehören deshalb auch solche Gespräche, die ursprünglich zu einem profanen Zweck begonnen werden und ihren geistlichen Charakter erst im Vollzuge oder im Gesamtzusammenhang gewinnen (v. Campenhausen/Thiele Göttinger Gutachten II, Tübingen 2002, 369, 371; ausführlich Stein ZevKR 1998, 387, 394). Zum Schweigerecht des Seelsorgers s. Rdn. 19 und § 157 Rdn. 21–24.
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3. Die persönliche Zuwendung im Rahmen der religiösen Betreuung schließt die karitative Betreuung durch den Seelsorger (und seine Mitarbeiter, vgl. Rdn. 9 bis 12 zu § 157) ein. Sie spielt auf Grund der oft miserablen sozialen Lage der Gefangenen eine besondere Rolle und wird in enger Zusammenarbeit mit der (auch kirchlichen) Straffälligenhilfe wahrgenommen. Wo nicht im Einzelfall die seelsorgerliche Verschwiegenheit entgegensteht, kann aus dem Kooperationsgebot des § 154 Abs. 1 eine Koordination des diakonischen Handelns des Seelsorgers mit der Tätigkeit des Sozialdienstes gefolgert werden. Das gilt auch von einer prinzipiellen Abklärung mit der Anstaltsleitung (tunlich schon bei Antritt des Dienstes) über materielle Zuwendungen, z. B. üblicherweise von Lebens- und Genussmitteln in bescheidenem Umfang, als Ausdruck der Nächstenliebe durch den Seelsorger.
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4. Der Gefangene hat keinen Anspruch auf seelsorgerliche Betreuung zu jedem von ihm 11 gewünschten Zeitpunkt; insoweit kann die Vollzugsanstalt Regelungen treffen und nach ihrem Ermessen handeln (vgl. Vor § 53 Rdn. 5). Ein Ermessensfehlgebrauch liegt aber z. B. vor, wenn die Vollzugsanstalt einen Gefangenen ohne zwingenden Grund (etwa im Sinne des § 4 Abs. 2) auf die Gesprächsmöglichkeit mit dem zuständigen Seelsorger am nächsten Tag verweist, wenn es dem Gefangenen gerade darauf ankommt, mit demjenigen (den Anstaltsgeistlichen vertretenden) Seelsorger zu sprechen, der den Gottesdienst gehalten hat (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1983, 60). In dringenden Fällen ist dem Seelsorger der Zutritt zur Vollzugsanstalt zur Ausübung seiner Tätigkeit „jederzeit“ zu gewähren (Schlussprotokoll zu Art. 28 RK). Die Geltung des Reichskonkordats geht staatlichen Bestimmungen des StVollzG vor, insofern ist eine Berufung auf die Hausordnung oder auf Belange von Sicherheit und Ordnung der Anstalt nicht möglich (Eick-Wildgans 1993, 242). Unter dem Gesichtspunkt staatskirchenrechtlicher Parität gilt diese Regelung auch z. B. für einen evangelischen Pfarrer. 5. Das Zwangsanwendungsverbot (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV) verbietet jeden 12 irgendwie gearteten Druck auf einen Anstaltsinsassen, um ihn gegen seinen Willen zur Teilnahme an Gruppen- oder Einzelseelsorge zu bewegen (v. Busse 1978, 247). Dem entspricht die dem Einzelnen gegebene Möglichkeit der Nichtbeantwortung der im Übrigen verfassungsrechtlich zulässigen Frage nach der Religionszugehörigkeit (Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV) bei der Aufnahme in die Vollzugsanstalt, wenn der Befragte trotz Zugehörigkeit zu einer seelsorgebereiten Religionsgemeinschaft auf religiöse Betreuung verzichten will (vgl. BVerwG DÖV 1976, 274). Es empfiehlt sich, den Gefangenen generell über sein Widerspruchsrecht bezüglich der Datenübermittlung an den Seelsorger zu belehren (vgl. auch Rdn. 14 zu § 157). Der Wunsch des einzelnen Gefangenen nach keinem Besuch eines Seelsorgers ist von diesem selbstverständlich zu respektieren (vgl. dazu auch Rdn. 3 zu § 24). Das verleiht jedoch der Vollzugsbehörde nicht das Recht zu genereller vorheriger Ermittlung, ob bei dem einzelnen (etwa auch konfessionslosen) Gefangenen eine Gesprächsbereitschaft mit einem Seelsorger besteht. Dies wäre ein Eingriff in das der Religionsgemeinschaft garantierte Recht der ungestörten Religionsausübung, die gerade auch das Recht des Werbens umfasst. Es ist deshalb unzulässig, die Religionsgemeinschaften bei der Ausübung ihrer seelsorgerlichen Tätigkeit von vornherein nur auf den Personenkreis zu verweisen, der ausdrücklich nach geistlichem Zuspruch verlangt (v. Busse 1978, 248 mit Nachweis in Anm. 88). Andererseits darf dem Gefangenen ebenso wenig aus der negativen Religionsfreiheit ein Nachteil entstehen, etwa bei Vollzugslockerungen (§ 11) oder Stellungnahmen zu vorzeitiger Entlassung. 6. Nach dem Wortlaut von Abs. 1 ist der Gefangene an einen Seelsorger seiner Reli- 13 gionsgemeinschaft gewiesen. Es muss jedoch auch einem konfessionslosen Gefangenen erlaubt werden, Kontakt mit einem Seelsorger aufzunehmen oder dass sich ein Gefangener an einen Seelsorger einer anderen als seiner eigenen Religionsgemeinschaft wendet, evtl. auch zum Zweck des Konfessionswechsels. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit schließt die Möglichkeit ein, sich einem anderen Glauben suchend zuzuwenden (BVerfGE 24, 236, 245; OLG Saarbrücken NJW 1966, 1088; vgl. Eick-Wildgans 1993, 121 f). Auf welche Weise dieses geschieht, etwa durch Lektüre von Glaubensinformationen, durch einen Schriftwechsel oder auch durch persönliche Gespräche, kann nicht Gegenstand staatlicher Regelung sein. Ein Konfessionswechsel unterliegt im Rahmen der Bekenntnisfreiheit keiner Beschränkung. Die Austrittsmöglichkeit aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ist nach staatlichen Gesetzen jederzeit gewährleistet. Die (Wieder-)Aufnahme von Gefangenen, die aus ihrer oder einer Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, kann die Religionsgemein-
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schaft eigengesetzlich regeln und sie ggf. von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig machen (v. Busse 1978, 241). Die Anerkennung einer Religionszugehörigkeit (z. B. eines muslimischen Gefangenen) darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass sich der Gefangene an einen bestimmten Religionsbeauftragten wendet und dieser eine entsprechende Bescheinigung erteilt (OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 241 f). Es ist ohne Belang, ob der Glaubende formell Mitglied einer bestimmten Religionsgesellschaft ist, allein maßgebend ist vielmehr die Ernsthaftigkeit der Glaubensüberzeugung des Einzelnen (OLG Koblenz aaO, 242 mit Verweis auf VG Berlin NVwZ 1990, 100). Es ist Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren (BVerfGE 32, 98, 109). Eine behauptete Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft muss jedoch nicht unbesehen als gegeben erachtet werden. Insbesondere bei einem Wechsel der Religionszugehörigkeit ist es Sache des Gefangenen, die Ernsthaftigkeit der von ihm behaupteten Glaubensüberzeugung wenn nicht glaubhaft zu machen, so doch plausibel darzulegen (OLG Koblenz aaO, 242).
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7. Die Verpflichtung zur Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit einem Seelsorger (Abs. 1 Satz 2) hat nicht zuletzt auch für ausländische Gefangene besondere Bedeutung (vgl. auch VV Nr. 5 zu § 24). Soweit sich die Vollzugsbehörde hierbei z. B. der vermittelnden Hilfe durch einen hauptamtlich bestellten Seelsorger an der Vollzugsanstalt bedient, wird dieser die Konfessionsverschiedenheiten selbstverständlich besonders achten und den Vermittlungsdienst nicht zur Werbung für seine eigene Kirche benutzen (vgl. § 55 Rdn. 2).
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8. Grundlegende religiöse Schriften, deren Besitz dem Gefangenen nach Abs. 2 erlaubt ist (vgl. auch Rdn. 5 zu § 70), sind nicht nur die für die betreffende Religionsgemeinschaft und ihren Glauben als konstitutiv geltenden fundamentalen Offenbarungsquellen (z. B. Altes und Neues Testament, Koran, Buch Mormon), sondern auch insbesondere Darstellungen, die sich darum bemühen, deren Grundaussagen umfassend für das Verständnis heute aufzuschließen, jedoch ohne dass dies z. B. auf Erwachsenenkatechismen zu beschränken ist. Ebenso werden hierzu auch jene Schriften zu rechnen sein, die dem Gefangenen zur Praktizierung seines täglichen Glaubenslebens dienen, etwa Gesang-, Gebet- und Andachtsbücher. Die Auswahl muss sich nicht auf die eigene Glaubensgemeinschaft beziehen; der Gefangene darf auch Schriften eines Bekenntnisses besitzen, dem er nicht angehört (BT-Drucks. 7/918, 117). In welchem Umfange religiöse Schriften noch als „grundlegend“ zu erachten sind, ist nicht leicht zu entscheiden. Jedenfalls entspricht die vereinzelt immer noch nicht gänzlich überwundene alte Praxis, Gefangenen im Arrest (§ 104 Abs. 5) als einzige Lektüre eine Bibel zuzugestehen, nicht der Vorschrift. 16 Wegen der besonderen Bedeutung der religiösen Schriften für das Grundrecht der Religionsausübung darf ein Entzug ausschließlich bei grobem Missbrauch erfolgen (Abs. 2 Satz 2). Was unter grobem Missbrauch mit grundlegenden religiösen Schriften konkret zu verstehen ist und wer ein derartiges Verhalten als solches deklariert, bleibt unklar. Wenn auch nicht ausdrücklich vorgesehen, könnte eine vorherige Anhörung des Seelsorgers analog § 54 Abs. 3 seelsorgerliche Gesichtspunkte mit berücksichtigen.
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9. Zu den Gegenständen des religiösen Gebrauchs, die dem Gefangenen in angemessenem Umfang zu belassen sind (Abs. 3), zählen z. B. Kreuz, Heiligenbild, Rosenkranz, Kerze (LG Zweibrücken ZfStrVo 1985, 186; differenziert OLG Frankfurt 3.7.1986 – 3 Ws 1078/85 – StVollz), Gebetsriemen, Gebetsteppich, Buddhafigur (vgl. auch Rdn. 5 zu § 70), nicht jedoch Räucherstäbchen (KG Berlin 10.11.2006 – 5 Ws 597/06 Vollz) oder ein Weihnachtsbaum (KG Berlin 20.1.2005 – 5 Ws 654/04 Vollz).
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Die Entscheidung darüber, wie der unbestimmte Rechtsbegriff des angemessenen Um- 18 fangs für Gegenstände des religiösen Gebrauchs auszulegen ist, muss im Einzelfall unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Grundrechts der Religionsfreiheit gegenüber den Aufgaben des Vollzugs getroffen werden (BT-Drucks. 7/918, 72). Eine bloße Beeinträchtigung der Überschaubarkeit der Zelle (vgl. dazu auch Rdn. 5 zu § 70), die einen erhöhten Kontrollaufwand erfordern würde (LG Zweibrücken ZfStrVo 1985, 186), oder eine allgemeine Feststellung schwerer Kontrollierbarkeit eines Gegenstandes (OLG Koblenz 2.4.1986 – 2 Vollz (Ws) 16/86) sind keine ausreichenden Versagungsgründe. Vielmehr muss konkret nachgewiesen werden, dass bei Benutzung des Gegenstandes die für den Vollzug der Freiheitsstrafe notwendigen Funktionen der Anstalt wie die sichere und geordnete Unterbringung in Frage gestellt sind (LG Zweibrücken aaO; vgl. Rdn. 19 zu § 54) bzw. die Grundrechte anderer verletzt (OLG Frankfurt aaO) würden.
III. Beispiel In seinem Jahresbericht an die Justizverwaltung betont ein beamteter Gefängnispfarrer 19 seine Verpflichtung zur Verschwiegenheit: „Absolute Vertraulichkeit wird vom Gesprächsteilnehmer erwartet und von mir gewährleistet, selbst bei möglicher Gefahr der Selbsttötung.“ Zur Erläuterung aufgefordert, erklärt er: Er habe darauf aufmerksam machen wollen, dass durch die Berichtsverpflichtung aller Vollzugsbediensteten, zu denen er ebenfalls gehöre, seine Schweigepflicht als Seelsorger erheblich berührt werde. Durch die Ordination, die auch vom Land als Anstellungsträger für seinen Dienst als Pfarrer an der Justizvollzugsanstalt gefordert werde, verpflichte die Kirche ihn zur unverbrüchlichen Verschwiegenheit über das, was ihm als Seelsorger anvertraut werde. Er könne es auch nicht von der Entscheidung des Gesprächspartners abhängig machen, ob der Inhalt des Gesprächs vertraulich bleiben muss oder nicht; diese Entscheidung liege allein bei ihm als Seelsorger. Er verstünde die seelsorgerliche Verschwiegenheit nicht als privilegierte Geheimniskrämerei, sondern als hilfreiche Ergänzung zu den gemeinsamen Bemühungen, vielleicht als letzte Chance, einen Menschen vor einem solchen letzten Verzweiflungsschritt zu bewahren. Er befinde sich zwar in einem gewissen Spannungsfeld zwischen widerstreitenden kirchlichen und staatlichen Vorschriften, doch die damit verbundene Verantwortung und Gewissensbelastung sehe er als einen Bestandteil seines Berufes an. Die besondere Rechtsposition der Seelsorgerin oder des Seelsorgers innerhalb der Vollzugsorganisation wird durch das Schweigerecht aufgrund des Seelsorgergeheimnisses garantiert (Vgl. § 157 Rdn. 21). Bei der Abwägung hinsichtlich eventuell zu treffender Maßnahmen auf der Grundlage der eigenen Gewissensentscheidung wird die Seelsorgerin oder der Seelsorger vor allem für das Wohl der Gefangenen zu sorgen haben, die sich im Seelsorgergespräch offenbart haben. In der Vollzugspraxis wird allerdings auch zu bedenken sein, dass eine (spekulative) Äußerung der erwähnten Art („selbst bei möglicher Gefahr der Selbsttötung“) ohne konkreten Anlass zu Missverständnissen und Irritationen bei den übrigen Bediensteten führen muss.
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 55 BayStVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen (geschlechtergerechte 20 Vorschriftensprache) § 53 StVollzG.
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2. Hamburg
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Bis auf kleine redaktionelle Änderungen entspricht § 54 HmbStVollzG im Wesentlichen § 53 StVollzG. In inhaltlicher Abänderung von § 53 StVollzG können Gefangene mit Hilfe der Vollzugsbehörde mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger in Verbindung treten, auch wenn sie oder er nicht der eigenen Religionsgemeinschaft angehört (Abs. 1). 3. Niedersachsen
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§ 53 NJVollzG entspricht weitgehend § 53 StVollzG. Neben redaktionellen Änderungen (geschlechtergerechte Vorschriftensprache) wurden zwei inhaltliche Ergänzungen vorgenommen. Nach Abs. 2, Satz 2, 2. Halbsatz sollen auf Verlangen der betroffenen Gefangenen die Seelsorgerin oder der Seelsorger unterrichtet werden, wenn ihnen – wenn auch nur bei grobem Missbrauch – grundlegende religiöse Schriften entzogen wurden. Abs. 3 schränkt die Überlassung von „sonstigen“ Gegenständen des religiösen Gebrauchs in angemessenem Umfang insofern ein, als (eigentlich selbstverständlich) nicht überwiegende Gründe der Sicherheit der Anstalt entgegenstehen.
§ 54 Religiöse Veranstaltungen (1) Der Gefangene hat das Recht, am Gottesdienst und an anderen religiösen Veranstaltungen seines Bekenntnisses teilzunehmen. (2) Zu dem Gottesdienst oder zu religiösen Veranstaltungen einer anderen Religionsgemeinschaft wird der Gefangene zugelassen, wenn deren Seelsorger zustimmt. (3) Der Gefangene kann von der Teilnahme am Gottesdienst oder anderen religiösen Veranstaltungen ausgeschlossen werden, wenn dies aus überwiegenden Gründen der Sicherheit oder Ordnung geboten ist; der Seelsorger soll vorher gehört werden. Schrifttum: s. Vor § 53. Ferner: Daiber (Hrsg.), Gemeinde beiderseits der Mauern, Hannover 1986; Dannowski (Hrsg.), Gefängnispredigten, Hannover 1985; Diekmann (Hrsg.), Nicht sitzenlassen. Gefängnisseelsorge in der Gruppe, Hannover 1989; Koch (Hrsg.), Gottesdienst im Gefängnis, Hannover 1984.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Gemeinschaftsveranstaltungen 2. Glaubensgemeinschaft . . . . 3. Gefangenengemeinden . . . . 4. Begriffsbestimmung . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Gottesdienste (Abs. 1) . . . . . 2. Abendmahlsfeiern . . . . . . 3. Amtshandlungen . . . . . . . 4. Recht auf Teilnahme . . . . . 5. Teilnahme außerhalb der Vollzugsanstalt . . . . . . . . . .
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Rdn. 6. Offener Vollzug . . . . . . . . 7. Eigenes Bekenntnis und andere Religionsgemeinschaften (Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . 8. Religiöse Veranstaltungen . . . 9. Ausschluss (Abs. 3) . . . . . . . 10. Überwachung . . . . . . . . . III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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Religiöse Veranstaltungen
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I. Allgemeine Hinweise 1. § 54 regelt das Recht des Gefangenen auf Teilnahme an den Gemeinschaftsveran- 1 staltungen des Seelsorgers. Außer dem Gottesdienst und gottesdienstähnlichen Veranstaltungen wie Sakramentsfeiern, Andachten, Trauungen oder auch Bibelstunden und Evangelisationen gelten verschiedenartige Gruppenangebote als integraler Bestandteil der Seelsorge (s. Rdn. 13 ff). 2. Glaubensgemeinschaft kann sich als Minimum zwar auch im Einzelgespräch zwi- 2 schen Gefangenem und Seelsorger (§ 53) ereignen, sie wird aber vor allem im Gottesdienst und in anderen religiösen Veranstaltungen erfahren. Deshalb kann Seelsorge nicht grundsätzlich auf das Einzelgespräch beschränkt werden (vgl. Rdn. 3 zu § 53). Wo Vollzugsbedienstete etwa an Gottesdiensten nicht lediglich zur Beaufsichtigung (Rdn. 23) teilnehmen, wird in besonderer Weise sichtbar, dass eine solche Gemeinschaft ihrem Wesen nach umfassend ist und zumindest im Grundsatz auf menschliches Miteinander einwirkt. Ein solches Verständnis sieht in der gesamten Vollzugswelt, Gefangene und Personal inbegriffen, die „Gemeinde“ des Gefängnisseelsorgers (Stubbe 1978, 229). Sichtbaren Ausdruck findet die Gemeinschaft der Glaubenden auch durch die Teilnahme von Mitgliedern etwa der benachbarten oder Partner-Kirchengemeinde am Gottesdienst in der Vollzugsanstalt (vgl. auch § 157 Rdn. 9). 3. Besondere Gefangenengemeinden im Rechtssinne einer Kirchen- oder Anstalts- 3 gemeinde gibt es nicht. Denkbar wäre kirchenrechtlich ein Modell, das den Gefängnisseelsorger und die Gefangenen seines Bekenntnisses als einen besonderen Seelsorgebezirk in eine bestimmte Ortskirchengemeinde, etwa die, in deren Bereich die Vollzugsanstalt liegt, integriert (vgl. Heusel, in: Schäfer/Sievering 1989, 37). 4. Bei der Begriffsbestimmung der „anderen religiösen Veranstaltungen“ räumt das 4 verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV, vgl. Vor § 53 Rdn. 2) diesen eine Primärkompetenz ein (K/S-Schöch 2002 7 Rdn. 166).
II. Erläuterungen 1. Gottesdienste können in vielfältiger Gestalt gefeiert werden. Wie in den Kirchenge- 5 meinden werden auch in den Vollzugsanstalten nicht nur agendarische Formen verwendet. Nonverbales, Musik, Symbole oder Elemente des Feierns haben, phantasievoll eingesetzt, gerade hier besondere Aussagekraft und können darüber hinaus ein gewisses Gegengewicht angesichts eines oft tristen Alltags darstellen (vgl. Wendeberg in: Koch 1984, 123). Dabei wirken die Teilnehmer nicht selten bei Vorbereitung und Gestaltung des Gottesdienstes mit. Die Verbindung der Gemeinde im Gefängnis mit der Gemeinde in Freiheit kann für die Gefangenen gerade im Gottesdienst erlebt werden im Sinne einer „Gemeinde beiderseits der Mauern“ (Daiber 1986, dort auch Beispiele gemeinsam gestalteter Gottesdienste in und außerhalb von Vollzugsanstalten). Prinzipiell gibt es keine speziellen „Gefängnisgottesdienste“, die nicht in derselben Form auch außerhalb der Vollzugsanstalten stattfinden könnten. Der theologische Ansatz des Gottesdienstes entspricht damit auch dem, was im Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) allgemein gefordert ist. Dementsprechend ist in § 157 Abs. 3 auch die Möglichkeit gegeben, Seelsorger von außen für Gottesdienste und andere religiöse Veranstaltungen hinzuzuziehen (vgl. Rdn. 9 zu § 157). Hinsichtlich der Zeitlage ist die Vollzugsanstalt verpflichtet, den Gottesdienst in ihrem 6 Programm so zu berücksichtigen, dass dem Gefangenen eine freie Entscheidung zur TeilPeter Rassow/Karl Heinrich Schäfer
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nahme bleibt. Eine echte Entscheidungsmöglichkeit besteht aber nicht, wenn beispielsweise die von ihm ebenso zu beanspruchende Freistunde (§ 64) zeitgleich mit dem Gottesdienst angesetzt ist; die alternative Verweisung auf den Gottesdienst eines anderen Bekenntnisses aus vollzugsorganisatorischen Gründen ist durch Abs. 1 nicht gedeckt (OLG Celle ZfStrVo 1991, 247). Die Praxis, Gefangenen, die nicht am Gottesdienst einer Konfession teilnehmen wollen, während dieser Zeit den Umschluss mit anderen Gefangenen zu gestatten, hingegen Gefangenen, die nicht am Gottesdienst einer anderen Konfession teilnehmen wollen, einen entsprechenden Umschluss zu versagen, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG (OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 243).
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2. Bei einer Abendmahlsfeier wird der Seelsorger die Alkoholproblematik mitbedenken und bei einer möglichen Teilnahme suchtkranker oder gefährdeter Gefangener von sich aus Wein durch Traubensaft ersetzen. Die Anstaltsleitung hat insoweit keine Definitionsoder Entscheidungsbefugnis (vgl. das Beispiel bei Rdn. 25).
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3. Auch Amtshandlungen wie Taufe, Trauung u. a. müssen im Gottesdienstraum der Vollzugsanstalt grundsätzlich ermöglicht werden, wenn sie wegen fehlender Voraussetzungen für Vollzugslockerungen nicht außerhalb der Anstalt stattfinden können. Hinsichtlich der Teilnahme von Angehörigen sind Absprachen mit dem Anstaltsleiter erforderlich.
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4. Der Gefangene hat das Recht auf Teilnahme an von den Religionsgemeinschaften in der Vollzugsanstalt angebotenen Gottesdiensten und an anderen religiösen Veranstaltungen gegen die Vollzugsbehörde. Dass und wie oft die verschiedenen Bekenntnisse in der Vollzugsanstalt regelmäßig Gottesdienste anbieten, liegt grundsätzlich in deren eigener Entscheidungsbefugnis. Muss aus Gründen, die nicht die Vollzugsanstalt zu verantworten hat, ein anstaltsinterner Gottesdienst ausfallen, so stellt die Ablehnung einer Ausgangsgewährung zur Teilnahme an einem externen Gottesdienst keine Beeinträchtigung des Gefangenen in seinem Grundrecht dar (OLG Stuttgart ZfStrVo 1990, 184).
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5. Die Möglichkeit zur Teilnahme des Gefangenen an Gottesdiensten und anderen religiösen Veranstaltungen außerhalb der Vollzugsanstalt sollte vor allem im offenen Vollzug (§ 141) gegeben sein. Jedoch spricht auch sonst nichts dagegen, Gefangenen, denen Vollzugslockerungen (§ 11) gewährt werden, auf diese Weise die Teilnahme an solchen Veranstaltungen zu ermöglichen. Hierbei ist z. B. an die ausgestaltende Mitwirkung eines vom Anstaltsseelsorger gehaltenen Gottesdienstes in einer Kirchengemeinde, die Teilnahme an Familienseminaren, Rüstzeiten und Kirchentagen (durch Gewährung von Vollzugslockerungen ohne Anrechnung auf den Regelurlaub) zu denken (vgl. § 11 Rdn. 12).
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6. Wo in offenen Anstalten interne Gottesdienste z. B. aus räumlichen oder sonstigen, von der Vollzugsanstalt zu verantwortenden, Gründen nicht eingerichtet werden können, muss es dem Gefangenen grundsätzlich erlaubt sein, ohne Anrechnung auf die monatlichen Ausgangskontingente an auswärtigen Gottesdiensten teilzunehmen. Liegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Ausgängen noch nicht vor und können in der offenen Anstalt keine Gottesdienste durchgeführt werden, so ist es rechtswidrig, dem Gefangenen die Teilnahme am Gottesdienst in anderer Weise nicht zu ermöglichen; wie die Vollzugsbehörde diese Teilnahme ermöglicht, steht dabei in ihrem Ermessen (LG Bielefeld 17.5. 1985 – 15 Vollz 15/85). Ein im gelockerten Vollzug befindlicher Gefangener hat keinen Anspruch auf Teilnahme an einer bestimmten religiösen Veranstaltung, die nur im geschlossenen Vollzug angeboten wird (BVerfG ZfStrVo 1988, 190). Denn das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verpflichtet die Vollzugsbehörde nicht, zentrale gesetzliche Organisationsprinzipien wie Trennung und Differenzierung (§§ 140, 141) im Einzelfall aufzuheben (C/MD 2008 § 54 Rdn 1; vgl. Rdn. 20).
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Religiöse Veranstaltungen
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7. Das Recht des Gefangenen ist nach Abs. 1 auf die Teilnahme an Gottesdienst und ande- 12 ren religiösen Veranstaltungen seines Bekenntnisses beschränkt. Abs. 2 erweitert das Teilnahmerecht des Gefangenen. Die Zustimmung des Seelsorgers einer anderen Religionsgemeinschaft vorausgesetzt, wird er zu deren Gottesdienst oder anderen religiösen Veranstaltungen zugelassen. Diese Regelung orientiert sich am Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), sich einer anderen Religionsgemeinschaft suchend zuzuwenden (vgl. § 53 Rdn. 13). Sie respektiert nicht zuletzt auch das Selbstverständnis und die Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV), die sich auf die grundsätzliche Entscheidung über den zu betreuenden Personenkreis bezieht (Eick-Wildgans 1995, 1014). Der Gefangene kann nicht verpflichtet werden, seinen Wunsch nach Teilnahme am Gottesdienst einer anderen Religionsgemeinschaft gegenüber der Vollzugsbehörde inhaltlich zu begründen; ebenso wenig ist der Seelsorger gehalten, die Motivation des Gefangenen offen zu legen. Für Gefangene, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, gilt Entsprechendes. 8. Das OLG Koblenz (ZfStrVo 1987, 250; 1988, 57) hat den Versuch unternommen, den Begriff der anderen religiösen Veranstaltungen i. S. d. § 54 verbindlich auszulegen. Seine Definition, dass damit lediglich gottesdienstähnliche Veranstaltungen wie etwa Andachten, Bet- und Bibelstunden, Feiern mit Sakramentsspendung gemeint sind, ist in Anmerkungen zu dieser Entscheidung zu Recht kritisiert worden, weil das kirchliche Selbstverständnis als wesentlich für die Auslegung (vgl. Rdn. 4) nicht in erforderlicher Weise mit berücksichtigt wurde (Müller-Dietz NStZ 1987, 525; Robbers NStZ 1988, 573; Sperling NStZ 1987, 527; Stein ZevKR 1988, 446; a. A. Listl Kirche im freiheitlichen Staat, Berlin 1996, 149f). Nach neuerer Rechtsprechung fallen unter den Begriff der anderen religiösen Veranstaltungen i. S. d. § 54 nicht nur religiöse und kultische Handlungen im engsten Sinne, sondern auch Maßnahmen caritativer und diakonisch-fürsorgerischer Art bis hin zu Veranstaltungen der konfessionellen Erwachsenenbildung (OLG Hamm ZfStrVo 1999, 306 unter Berufung auf BVerfGE 24, 236, 245 f, gegen OLG Koblenz, s. o.; krit. Bothge ZfStrVo 1999, 352, 353). Die Beschränkung von „anderen“ religiösen Veranstaltungen auf solche mit vorwiegend kultischem Charakter entspricht nicht dem heutigen Selbstverständnis des kirchlichen Auftrags. Stein (aaO 449) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass nach der einschlägigen Fachliteratur das Angebot offener Kommunikationsformen in der Gefangenenseelsorge die anerkannte Arbeitsform ist, um unter den Bedingungen des Strafvollzuges den sozial gestörten und vom Vollzugsalltag belasteten Gefangenen Zugang zur Seelsorge zu eröffnen (vgl. auch Brandt 1987, 440 f). Jede Veranstaltung, die darauf abzielt, mit Gefangenen Gemeinschaft herzustellen, in der Elemente religiöser Erfahrung erlebt werden (können), ist als eine religiöse Veranstaltung i. S. der Vorschrift anzusehen. Vgl. das Beispiel Rdn. 24. Die – neben den gottesdienstlichen – „anderen“, also nicht „ähnlichen“, religiösen Veranstaltungen in § 54 sind in gewandelter, zeitgemäßer Form eine Fortführung dessen, was früher in den Vollzugsvorschriften unter dem Begriff des Religionsunterrichts für Gefangene gefasst war und jahrhundertelange Tradition in der Gefängnisseelsorge hat (vgl. Rassow in: Diekmann 1989, 9; ebd. auch Beispiele zur Seelsorge in der Gruppe i. S. von religiösen Veranstaltungen gem. § 54). Heute wird dieses Anliegen als kirchliche Erwachsenenbildung bezeichnet. In der kirchlichen Erwachsenenbildung wird das Anliegen von Lehren und Lernen als eine Grundaufgabe der Kirche aufgenommen, nicht zuletzt für Menschen, die möglicherweise viele Jahre keinen Kontakt mit ihr hatten und gar nicht mehr wissen, ob und wie sie sich als Christen verstehen sollen. Sie wird dem, der zu ihr gehören will, helfen, sich über sein Christsein Rechenschaft zu geben, damit er erkennen kann, was es heißt, als Christ zu glauben, in der Welt zu leben und hierbei Glied der Kirche zu sein. Dabei wird sie besonders
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auch Themen, die von sich aus zunächst keinen Bezug zum christlichen Glauben haben, Bedeutung für ihren Dienst in der säkularisierten Gesellschaft beimessen (vgl. Erwachsenenbildung als Aufgabe der evangelischen Kirche, in: Die Denkschriften der EKD, Bd. 4/1, Gütersloh 1987, 264 ff). Die katechetische Unterweisung, die auch den Erwachsenen gegenüber priesterliche Pflicht ist (canon 776 Corpus Juris Canonici 1983), soll mit den jeweils besonders wirksamen didaktischen Hilfen und entsprechend den Lebensbedingungen des anzusprechenden Gläubigen erfolgen (ca. 779). Insofern ist Grunau/Tiesler (Rdn. 2) zuzustimmen, dass zu den religiösen Veranstaltungen in § 54 auch die der kirchlichen Erwachsenenbildung „mit beinahe unbegrenztem Inhalt“ gehören. 17 Die Orientierung vorrangig am heutigen Selbstverständnis der Kirchen bei der inhaltlichen Ausfüllung des Begriffs der anderen religiösen Veranstaltungen (vgl. Rdn. 4) kann nicht bedeuten, dass eine Veranstaltung allein deshalb nach § 54 zu beurteilen ist, weil sie von einem Seelsorger durchgeführt wird. Wohl aber begründet ein solcher Umstand eine entsprechende Vermutung, denn es ist beim Fehlen besonderer Anhaltspunkte davon auszugehen, dass ein Seelsorger i. d. R. nur Gemeinschaftsveranstaltungen abhält, die von seinem spezifischen Auftrag umfasst sind (Müller-Dietz aaO 527; Sperling aaO Rdn. 528). Kriterien für ein nachvollziehbares Verständnis von religiösen Veranstaltungen i. S. d. § 54 sind die Qualifikation des Veranstaltenden, dessen subjektive Motivation und der objektiv feststellbare Veranstaltungsinhalt (Eick-Wildgans 1995, 1004). 18 Religiöse Veranstaltungen des Seelsorgers haben wegen ihrer Grundrechtsbedeutung eine andere rechtliche Qualität als die allgemeinen Freizeitveranstaltungen (§ 67). Deshalb rechtfertigt eine Freizeitsperre (§ 103 Abs. 1 Nr. 4) nicht den Ausschluss von religiösen Veranstaltungen. § 54 Abs. 3 enthält insoweit eine Sonderregelung zu der Disziplinarmaßnahme der Freizeitsperre für den Ausschluss eines Gefangenen von anderen religiösen Veranstaltungen (OLG Hamm ZfStrVo 1999, 306).
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9. Ein Ausschluss eines Gefangenen vom Gottesdienst oder anderen religiösen Veranstaltungen ist lediglich dann möglich, wenn „überwiegende“ Gründe der Sicherheit oder Ordnung diesen rechtfertigen (Abs. 3). Sicherheit und Ordnung als Beurteilungsmaßstäbe für einen Ausschluss von religiösen Veranstaltungen werden als zu weitgehende Rechtsbegriffe nicht allgemein anerkannt (vgl. Albrecht in: HbdStKirchR 1.Aufl. II, Berlin 1975, 717). Jedoch wird man diese schwerwiegende Grundrechtseinschränkung bei strenger Auslegung des „Überwiegens“ der die Sicherheit oder Ordnung betreffenden Gründe nicht beanstanden können, weil so bei der Abwägung der berechtigten Belange des Gefangenen nach ungestörter Religionsausübung und des staatlichen Interesses der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Anstaltsbereich den Belangen des Gefangenen ein Vorrang eingeräumt wird, der der Bedeutung des Grundrechtes der Religionsfreiheit entspricht (v. Busse 1978, 244). Dieser Vorrang gilt jedoch nicht absolut, da andernfalls der geordnete Betrieb der Vollzugsanstalt überhaupt in Frage gestellt wäre. 20 Der Ausschluss vom Gottesdienst oder von anderen religiösen Veranstaltungen kann sich jeweils nur auf den einzelnen Gefangenen beziehen. Ein grundsätzlicher Ausschluss von Gefangenengruppen – etwa weil sie entsprechend vollzuglicher Organisationsprinzipien (vgl. Rdn. 11) auf besonders gesicherten Stationen, in einer Abteilung für Transportgefangene oder in einem Freigängerhaus untergebracht sind – stellt eine Grundrechtsverletzung dar, wenn die Vollzugsbehörde nicht für sie ebenfalls, ggf. zusätzliche bzw. anderweitige, Möglichkeiten zu einer Gottesdienstteilnahme schafft (für Transportgefangene a. A. Arloth 2008 § 54 Rdn. 4). 21 Das Überwiegen von Gründen der Sicherheit oder Ordnung gegenüber dem Grundrecht der freien Religionsausübung bedeutet, dass sie zwingend und individuell begründet sein
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müssen und dass die evtl. Notwendigkeit ihrer Fortdauer überprüfbar sein und in Abständen neu festgelegt werden muss. Die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (§ 88) oder die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen (§ 89) ziehen jedenfalls nicht automatisch auch den Ausschluss von Gottesdienst und anderen religiösen Veranstaltungen nach sich. Auch während des Arrestes (§ 103 Abs. 9) ist der Gefangene berechtigt, an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen, denn nach § 104 Abs. 5 Satz 3 ruhen die Befugnisse aus § 54 nicht. Eine Trennung von den übrigen Gefangenen kann auch während des Gottesdienstes durch gesonderte Platzierung erreicht werden (OLG Bremen ZfStrVo 1964, 47). Der allgemeine Hinweis auf (die etwaige zusätzliche) personelle Belastung durch die Notwendigkeit von Kontrollen ist kein hinreichender Grund für einen Ausschluss (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 250 f). Lediglich der Missbrauch (z. B. durch nachhaltige beabsichtigte Störung des Gottesdienstes) wird durch das Grundrecht nicht geschützt, weil unter diesen Umständen die Grundrechte der Mitgefangenen beeinträchtigt werden (BVerfGE 12, 4). Begehrt der Gefangene durch seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, ihn am Gottesdienst teilnehmen zu lassen, obwohl er eine Teilnahme gar nicht beabsichtigt, ist sein Antrag unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlicher Prozessführung unzulässig (OLG Hamm ZfStrVo 1988, 113). Zu den Grundrechtsbeschränkungen vgl. auch Vor § 53 Rdn. 5. Vor einem Ausschluss eines Gefangenen von der Teilnahme am Gottesdienst oder ande- 22 ren religiösen Veranstaltungen soll eine Anhörung des Seelsorgers stehen. Die Bestimmung soll die Beachtung der Art. 140 GG, Art. 141 WRV sicherstellen. Sie ist daher die Regel, von ihr darf nur ausnahmsweise abgesehen werden (OLG Celle ZfStrVo 1990, 187). Wenn diese Vorschrift auch in Gegensatz zum KE lediglich Soll-Charakter hat, ist sie nicht durch nachträgliche Inkenntnissetzung des Seelsorgers zu denaturieren. Letzteres widerspräche auch dem Zusammenarbeitsgrundsatz (§ 154 Abs. 1). 10. § 54 enthält keine Bestimmung zur Frage einer unmittelbaren Überwachung der 23 Gottesdienste und religiösen Veranstaltungen durch Vollzugsbedienstete aus Gründen der Sicherheit und Ordnung. In der Praxis richtet sie sich vor allem nach dem Sicherheitsgrad der Vollzugsanstalt, der Teilnehmerzahl und ggf. der Anwesenheit von anstaltsfremden Besuchern. Eine eventuelle Überwachung wird auf den Charakter des Gottesdienstes Rücksicht nehmen und verhältnismäßig sein müssen. In Gruppengesprächen tangiert eine Überwachung auch die seelsorgerliche Verschwiegenheit (s. dazu § 53 Rdn. 9, 19 und § 157 Rdn. 21–24).
III. Beispiel Ein Seelsorger veranstaltet anstaltsinterne Eheseminare. Der Anstaltsleiter verlangt von 24 ihm Auskunft, aus welchen Gründen die Teilnehmer an dem Seminar interessiert sind, da ihm die Entscheidungsbefugnis über eine Teilnahme zustehe. Der Seelsorger widerspricht dem. Die Frage wird anschließend in einem größeren Kreis geklärt. Das Eheseminar des Seelsorgers ist eine religiöse Veranstaltung i. S. des § 54. Das Recht des Gefangenen auf Teilnahme und sein möglicher Ausschluss richten sich nach dieser Vorschrift. Auf den Einwand, es handele sich hier nicht um eine religiöse Veranstaltung, da auch der Psychologische und der Soziale Dienst ähnliche Seminare durchführten: Eine Trennung von Glaubens- und Lebenswelt ist nach dem Seelsorgeverständnis des Geistlichen nicht möglich. Die (christliche) Annahme des Nächsten vollzieht sich im Zusammenleben mit ihm. Ein Eheseminar, das der Seelsorger aus einer solchen religiösen Grundhaltung heraus als Beitrag zur Erhaltung gefährdeter Familien anbietet, ist deshalb als religiöse Ver-
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anstaltung anzusehen, auch wenn während des gesamten Seminars nicht ein einziges Mal ausdrücklich auf den religiösen Bezug hingewiesen wird (vgl. Rdn. 14). Die Zulassung anstaltsfremder Personen zum Eheseminar in der Vollzugsanstalt obliegt dem Anstaltsleiter, wenn er sie nicht anderweitig delegiert hat. Er wird sich auf begründete Vorschläge des Seelsorgers beziehen, dabei aber dessen Schweigepflicht über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist (vgl. § 157 Rdn. 21), respektieren. 25 Nach einem „Feierabendmahl“, das im Rahmen des Deutschen Evangelischen Kirchentags unter Beteiligung von Gefangenen und auswärtigen Gästen in der Kirche einer Justizvollzugsanstalt stattfand, stellten Anstaltsbedienstete Auffälligkeiten bei Gefangenen fest, die sie auf den beim Abendmahl verwendeten Wein zurückführten. Ohne vorherige Absprache mit der Anstaltsseelsorge verfasste die Anstaltsleitung einen Bericht an die Aufsichtsbehörde über ein „außerordentliches Vorkommnis“ mit dem Betreff „Alkoholgenuss während des Gottesdienstes“. Sie teilte mit, sie habe nun ein „Alkoholverbot“ für den Gottesdienst verfügt. Die Aufsichtsbehörde reagierte unverzüglich und rügte sowohl die Wortwahl des Berichts als auch die Entscheidung, selbst im Hinblick auf die der Kirche zustehende Definitions- oder Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Gestaltung von religiösen Veranstaltungen. Sie kam damit einer Beschwerde der zuständigen Kirchenleitung zuvor, die gegenüber der Aufsichtsbehörde sowohl den Eingriff der Anstaltsleitung in die kirchlichen Befugnisse, als auch deren despektierliche Wortwahl hinsichtlich des Abendmahlsakraments beanstandete.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 56 BayStVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen (geschlechtergerechte Vorschriftensprache) § 54 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 55 HmbStVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen (geschlechtergerechte Vorschriftensprache) § 54 StVollzG. 3. Niedersachsen
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§ 54 NJVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen (geschlechtergerechte Vorschriftensprache) § 54 StVollzG.
§ 55 Weltanschauungsgemeinschaften Für Angehörige weltanschaulicher Bekenntnisse gelten die §§ 53 und 54 entsprechend. Schrifttum: s. Vor § 53. Ferner: Badura Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, Tübingen 1989.
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Weltanschauungsgemeinschaften
§ 55
I. Erläuterungen 1. Der auf Verlangen des Bundesrates eingefügte, im KE zunächst nicht enthaltene, § 55 1 dient der ausdrücklichen Klarstellung hinsichtlich der weltanschaulichen Bekenntnisse. Die entsprechende Geltung der Vorschriften über Seelsorge und religiöse Veranstaltungen (§§ 53 und 54) auch für Angehörige weltanschaulicher Bekenntnisse korrespondiert sowohl mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) als auch mit dem Gleichstellungsgebot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV). Art. 137 Abs. 7 WRV kann auch auf die Regelung von Art. 141 WRV bezogen werden, so dass Weltanschauungsgemeinschaften auch ohne Rückgriff auf das Grundrecht der Religionsfreiheit dasselbe Anrecht auf Anstaltsseelsorge besitzen wie Religionsgemeinschaften (v. Busse 1978, 238). Nach dem heutigen Stand der Diskussion kann es auch für den Bereich der Anstaltsseelsorge keine Unterscheidung mehr zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geben (v. Campenhausen 1996, 228). 2. Differenzierungen, die durch die tatsächlichen Verschiedenheiten der einzelnen 2 Gemeinschaften bedingt sind, sind jedoch sachlich gerechtfertigt und widersprechen dem Gleichstellungsgebot nicht (BVerfGE 19, 1, 8; vgl. Vor § 53 Rdn. 2). So besitzen insbesondere die großen christlichen Kirchen angesichts der Mitgliedschaft der Mehrzahl von Gefangenen und unter Berücksichtigung ihrer umfassenden Organisation faktisch bessere Wirkungsmöglichkeiten bei der Gefängnisseelsorge als kleine und kleinste Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (v. Busse 1978, 238 f). Der etablierten christlichen Gefängnisseelsorge steht jedoch rechtlich gesehen keine Monopolstellung zu und sie kann auch vom Staat keinen Konkurrenzschutz gegenüber anderen, evtl. neuen Gemeinschaften erwarten. Gleichwohl bieten die zwischen den Landesjustizverwaltungen und den großen christlichen Kirchen abgeschlossenen Vereinbarungen (vgl. Vor § 53 Rdn. 5) dieser kirchlichen Seelsorge eine rechtlich gesicherte umfassende Position in der Anstalt, während es für die seelsorgerliche Betreuung anderer Gemeinschaften ein Pendant nicht gibt. 3. Die Berücksichtigung tatsächlicher Gegebenheiten darf jedoch nicht zu Beschrän- 3 kungen in der religiösen Betreuung von Angehörigen beispielsweise neuer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften führen. So ist es unzulässig, andere Seelsorger als die bestellten der beiden großen Kirchen nur im Rahmen des allgemeinen Besuchsverkehrs zuzulassen (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 168; vgl. auch, für Untersuchungshaft, OLG Frankfurt am Main 12.6.1989 – 3 Ws 259/ 89). § 157 Abs. 2, wonach die seelsorgerliche Betreuung, wenn die geringe Zahl der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine hauptamtliche Seelsorge nicht rechtfertigt, „auf andere Weise“ zuzulassen ist, hat lediglich organisationsrechtliche Bedeutung, kann also nicht auf den Regelungsgehalt der §§ 53 und 54 bezogen werden. Das Grundrecht steht Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in gleicher Weise zu (BVerfGE 32, 98, 106; 24, 236, 246). 4. Die Formulierung „weltanschauliches Bekenntnis“ will bewusst bloße Weltan- 4 schauungen ausschließen, deren Hauptziel auf eine politische oder wirtschaftliche Tätigkeit gerichtet ist (BT-Drucks. 7/3998, 25). Anspruch auf die religiös-weltanschauliche Betreuung eines Gefangenen haben nur Vereinigungen, die sich mit den letzten Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des menschlichen Lebens befassen – mit Bezug (Religionsgemeinschaften) oder auch ohne Bezug (Weltanschauungsgemeinschaften) auf eine transzendente Wirklichkeit. Mit der an Art. 4 GG anknüpfenden Wortwahl des „weltanschaulichen Bekenntnisses“ in § 55 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die entsprechende Heranziehung von §§ 53 und 54 nicht für jegliche weltanschauliche Gemeinschaft gilt; es muss sich vielmehr um ein Bekenntnis handeln, wobei Letzteres in den Äußerungen Peter Rassow/Karl Heinrich Schäfer
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
bzw. Handlungen zum Ausdruck kommt, die aus einer Gesamtsicht der Welt oder aus einer hinreichend konsistenten Gesamthaltung der Welt gegenüber entspringen (OLG Bamberg ZfStrVo 2002, 371). Nicht als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft i. S. d. §§ 53–55 sind Institutionen anzusehen, soweit sie unter missbräuchlicher religiöser Selbstbezeichnung letztlich wirtschaftliche Ziele verfolgen wie z. B. die Scientology Church (BAG NJW 1996, 143; vgl. ausführlich Schöch in: Britz (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens. FS für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, München 2001, 803 ff). Der Staat darf sich in seiner Verantwortung für den Strafvollzug nicht von der schwierigen Aufgabe dispensieren, außer der grundsätzlichen Frage (Rdn. 4) auch die nach dem Umfang der religiös-weltanschaulichen Betreuung zu klären, ohne die von der Verfassung geschützten Rechte des Gefangenen und mittelbar der ihr angehörenden Gemeinschaft zu verletzen. Als Kriterien kommen die Person des Seelsorgers (Anerkennung durch seine Glaubensgemeinschaft und eigene Motivation) und seine Tätigkeit in Betracht. Dabei sind Parallelen und Abweichungen zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu berücksichtigen. So sind, wie Eick-Wildgans (1993, 172) konkretisiert, die christlichen Religionsgemeinschaften weithin durch religiöses Gemeinschaftsleben und individuelle religiöse Betreuung durch einen Seelsorger im persönlichen Gespräch gekennzeichnet, während dies bei Weltanschauungsgemeinschaften nicht immer gegeben ist, da sie mitunter weder ein vergleichbares Gemeinschaftsgefüge aufweisen, noch den Stellenwert der Betreuung durch eine dem Seelsorger vergleichbare Person in ihrer Weltanschauung kennen. Es muss daher dem Einzelfall überlassen bleiben, inwieweit Raum für eine entsprechende Anwendung der §§ 53 und 54 für Angehörige einer bekennenden Weltanschauung bleibt. Einschränkungen sind aber nur in schwerwiegenden Fällen gerechtfertigt.
II. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 57 BayStVollzG entspricht § 55 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 56 HmbStVollzG entspricht § 55 StVollzG. 3. Niedersachsen:
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§ 55 NJVollzG ist wortgleich mit § 55 StVollzG.
SIEBTER TITEL
Gesundheitsfürsorge § 56 Allgemeine Regeln (1) Für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen ist zu sorgen. § 101 bleibt unberührt. (2) Der Gefangene hat die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen.
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Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
§ 56
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
bzw. Handlungen zum Ausdruck kommt, die aus einer Gesamtsicht der Welt oder aus einer hinreichend konsistenten Gesamthaltung der Welt gegenüber entspringen (OLG Bamberg ZfStrVo 2002, 371). Nicht als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft i. S. d. §§ 53–55 sind Institutionen anzusehen, soweit sie unter missbräuchlicher religiöser Selbstbezeichnung letztlich wirtschaftliche Ziele verfolgen wie z. B. die Scientology Church (BAG NJW 1996, 143; vgl. ausführlich Schöch in: Britz (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens. FS für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, München 2001, 803 ff). Der Staat darf sich in seiner Verantwortung für den Strafvollzug nicht von der schwierigen Aufgabe dispensieren, außer der grundsätzlichen Frage (Rdn. 4) auch die nach dem Umfang der religiös-weltanschaulichen Betreuung zu klären, ohne die von der Verfassung geschützten Rechte des Gefangenen und mittelbar der ihr angehörenden Gemeinschaft zu verletzen. Als Kriterien kommen die Person des Seelsorgers (Anerkennung durch seine Glaubensgemeinschaft und eigene Motivation) und seine Tätigkeit in Betracht. Dabei sind Parallelen und Abweichungen zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu berücksichtigen. So sind, wie Eick-Wildgans (1993, 172) konkretisiert, die christlichen Religionsgemeinschaften weithin durch religiöses Gemeinschaftsleben und individuelle religiöse Betreuung durch einen Seelsorger im persönlichen Gespräch gekennzeichnet, während dies bei Weltanschauungsgemeinschaften nicht immer gegeben ist, da sie mitunter weder ein vergleichbares Gemeinschaftsgefüge aufweisen, noch den Stellenwert der Betreuung durch eine dem Seelsorger vergleichbare Person in ihrer Weltanschauung kennen. Es muss daher dem Einzelfall überlassen bleiben, inwieweit Raum für eine entsprechende Anwendung der §§ 53 und 54 für Angehörige einer bekennenden Weltanschauung bleibt. Einschränkungen sind aber nur in schwerwiegenden Fällen gerechtfertigt.
II. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 57 BayStVollzG entspricht § 55 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 56 HmbStVollzG entspricht § 55 StVollzG. 3. Niedersachsen:
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§ 55 NJVollzG ist wortgleich mit § 55 StVollzG.
SIEBTER TITEL
Gesundheitsfürsorge § 56 Allgemeine Regeln (1) Für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen ist zu sorgen. § 101 bleibt unberührt. (2) Der Gefangene hat die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen.
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Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
Allgemeine Regeln
§ 56
VV 1 Für die Anstalten gelten die allgemeinen Vorschriften für die gesundheitsbehördliche Überwachung. 2 Der Anstaltsarzt achtet auf Vorgänge und Umstände, von denen Gefahren für die Gesundheit von Personen in der Anstalt ausgehen können. Jeder Bedienstete, der eine Gefahr für die gesundheitlichen Verhältnisse zu erkennen glaubt, ist verpflichtet, diese unverzüglich zu melden. 3 Der Anstaltsarzt hat nach den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes meldepflichtige übertragbare Krankheiten dem zuständigen Gesundheitsamt anzuzeigen und den Gefangenen, soweit es erforderlich ist, abzusondern. Kranke, bei denen zur Zeit der Entlassung noch Ansteckungsgefahr besteht oder deren Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, werden dem zuständigen Gesundheitsamt unverzüglich gemeldet. Gegebenenfalls ist zu veranlassen, dass sie in die zuständige öffentliche Krankenanstalt gebracht werden. Schrifttum: Bennefeld-Kersten Suizide in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublick Deutschland in den Jahren 2000–2004, Kriminologischer Dienst Niedersachsen im Bildungsinstitut des Niedersächsischen Justizvollzuges, 2005; Callies Strafvollzugsrecht, München 1992; Dargel Ist eine rechtliche Grundlage für HIV-Reihentests bei Gefangenen zur AIDS-Prophylaxe in den Justizvollzugsanstalten notwendig?, in: ZfStrVo 1988, 148 ff; Dargel Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener, in: NStZ 1989, 207; Fritsch Arzt im Strafvollzug – Kooperation und Widerspruch, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 120–127; Gericke Zur Unzulässigkeit von Disziplinarmaßnahmen nach positiven Urinkontrollen, in: StV 2003, 305–397; Gölz Der drogenabhängige Patient, München 1995; Hillenkamp Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg, 2005, 11–30; Jacob/Keppler/Stöver (Hrsg.) LebHaft: Gesundheitsförderung für Drogengebrauchende im Strafvollzug, AIDSForum DAH Bd. 42, Teil 1, Berlin 2001; Keppler Überschneidung und Abgrenzung – Die Problematik vollzuglicher und medizinischer Aufgaben, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 159–163; Keppler/Fritsch/Stöver Behandlungsmöglichkeiten von Opiatabhängigkeit, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 193–207; Konrad Der Gefängnissuizid, in: Kröber/Dölling/Leygraf (Hrsg.): Handbuch der Forensischen Psychiatrie: Bd. 3. Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie, Darmstadt 2006; Konrad Psychiatrie, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 208–222; Kraft/Knorr HIV und Gefängnis, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 170–176; Laubenthal Sucht und Infektionsgefahren im Strafvollzug, in Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 195–211; Laubenthal Strafvollzug, Berlin, Heidelberg 2008; Lehmann Suizide und Suizidprävention in Haft, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 240–245; Lehmann/Weiss/Jesse Suizidprävention in der Jugendstrafanstalt Hameln, ZfStrVo. 2007, 177–181; Leppmann Der Gefängnisarzt, Berlin 1909; Lines/Jürgens/Betteridge/ Laticevschi/Nelles/Stöver Prison Needle Exchange: Lessons from a Comprehensive Review of international Evidence and Experience. Canadian HIV/AIDS Legal Network; 2nd edition 2006 (www.aidslaw.ca); Mechler Psychiatrie des Strafvollzuges, Stuttgart, New York 1981; Meier Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 35–55; Meier Äquivalenzprinzip, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 76–84; Missoni/Rex Strukturen psychiatrischer Versorgung der Gefangenen im deutschen Justizvollzug, ZfStrVo,1997, 336–339; Molketin Zum Anspruch des Strafgefangenen auf Einsichtnahme in die von der Vollzugsbehörde über ihn geführten Krankenunterlagen, in: MDR 1980, 544 ff; Müller-Dietz Suicid, Strafrecht und Strafvollzugsrecht, in: ZfStrVo 1983, 206; Nikolai Zahnmedizin im Strafvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 268–271; Quillmann/Schulte Durchführung von körperlichen Untersuchungen im Ermittlungs- und Strafverfahren, in: Zeitschrift für Allgemeine Medizin 1988, 336 ff; Rex Aufsichtsstrukturen, Beschwerde- und Klagewege, in: Keppler/ Stöver 2009 aaO, 96–100; Riekenbrauck Medizin hinter Gittern – Plädoyer für engagierte ärztliche Zuwendung und gewissenhafte Diagnostik, in: DtÄrzteblatt 89, H. 24 12.06.1992, A2188–2192; Riekenbrauck Hungerstreik und Zwangsernährung – Erfahrungen aus der Praxis, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 259–263; Schmidt/Gastpar/Falkai/Gaebel Evidenzbasierte Suchtmedizin: Behandlungsleitlinie Substanz-
Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
bezogene Störungen, Köln 2006; Statistisches Bundesamt Deutschland Todesursachen in Deutschland – Fachserie 12 Reihe 4, Wiesbaden 2007; Stuth Vereinsamung und Selbsttötung in Haftanstalten, in: BlStV 2/1981, 9 ff; Swientek Autoaggressivität bei Gefangenen aus pädagogischer Sicht, Göttingen 1982; Thole Suicid im Gefängnis. Häufigkeitsverteilung und Ursachen des Suizids, Hilfen zur Vorbeugung, in: ZfStrVo 1976, 110 ff; Wedershoven Katamnesen der HIV-Infektion bei drogenabhängigen und nicht-drogenabhängigen Inhaftierten im Vergleich im Justizvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, Diss., Bonn 1998; Weyl Krankenpflege im Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 91–95; Witte Suizide oft vermeidbar?, in: DMW.2007;132, 863–4; Witzel Psychiatrischer Konsildienst, in: Keppler/Stöver 2009a aaO, 223–227; Witzel Medizin und Arzt im Maßregelvollzug, in: Keppler/Stöver 2009b aaO, 49–51.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Die Gesundheitsfürsorge als Aufgabe des ärztlichen Dienstes . . 2. Die Mitarbeit des Gefangenen bei Vorbeugungsmaßnahmen . . . 3. Vollzugstypische Verhaltensweisen der Gefangenen . . . . . 4. Das Drogen- und Alkoholproblem . . . . . . . . . . . . . 5. Die HIV-Infektion . . . . . . . . 6. Spritzenaustauschprogramme . 7. Für den Anstaltsarzt wichtige Vorschriften . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Durchführung der gesundheitlichen Betreuung des Gefangenen . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 2. Dienstaufsicht über den Anstaltsarzt . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fachaufsicht über den Anstaltsarzt . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beschwerdemöglichkeit des Gefangenen über den Anstaltsarzt . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Einsichtsrecht des Gefangenen in die Gesundheitsakte . III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 1. Die ärztliche Sprechstunde . . . 2. Zu- und Abgangsuntersuchung bei Gefangenen . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Die Gesundheitsfürsorge als Aufgabe des ärztlichen Dienstes
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Die Sorge für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen steht im Mittelpunkt der Fürsorgemaßnahmen, die das Strafvollzugsgesetz der Justizbehörde als Verpflichtung auferlegt (RegE, BT-Drucks. 7/918, 72). Sie ist insbesondere Aufgabe des ärztlichen Dienstes und des ihm zugeordneten Hilfspersonals (vgl. auch § 158; dazu auch Calliess 1992, 143). Ausnahmen hiervon sind ärztliche Inanspruchnahmen als sog. Notfälle außerhalb der regulären Dienstzeiten der Anstaltsärzte und -zahnärzte. § 75 Abs. 4 SGB V legt dazu fest, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen auch die ärztliche Behandlung von Gefangenen in Justizvollzugsanstalten in Notfällen außerhalb der Dienstzeiten der Anstaltsärzte und Anstaltszahnärzte sicherzustellen haben, soweit die Behandlung nicht auf andere Weise gewährleistet ist. 2 Arzt und Patient sind zwar wie in Freiheit die zentralen Figuren im Handlungsbereich der Gesundheitsfürsorge, ihr Beziehungsgefüge unterliegt jedoch durch den Freiheitsentzug, in dem sich der Gefangene befindet, gewissen Änderungen (ausführlich dazu Hillenkamp 2005, 11 ff). Im Strafvollzug besteht kein Recht auf freie Arztwahl. Dennoch wird ärztliche Versorgung von vielen Inhaftierten häufiger in Anspruch genommen als in Freiheit. Das Dienstverhältnis zwischen dem verbeamteten oder angestellten Anstaltsarzt und der Strafvollzugsbehörde belastet in der Regel das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
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Patient immer dann, wenn für den Gefangenen keine klare Trennung von Medizin und Vollzug erkennbar ist (zur freien Arztwahl insg. bereits Leppmann 1909, 93). Zentraler Punkt für die aktuelle ärztliche Versorgung ist das Äquivalenzprinzip, wonach der Strafvollzug nur die Freiheit beschränken soll, nicht aber zusätzlich durch schlechtere medizinische Versorgung bestrafen darf (Meier 2005, 35). Der Gefangene erhält eine medizinische Betreuung, die den Standards und Leitlinien außerhalb des Vollzuges entspricht. Die Zahl der mit der medizinischen Betreuung Beschäftigten, die Kosten der medizinischen Betreuung und die tatsächliche gesundheitliche Lage der Betroffenen bilden hierfür maßgebliche Indikatoren (vgl. Meier 2005, 35 ff; zu den Grundlagen der Äquivalenz vgl. Meier 2009, 76 ff). 2. Die Mitarbeit des Gefangenen bei Vorbeugungsmaßnahmen Das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum erfordert besondere Maßnah- 3 men des Gesundheitsschutzes, die den inhaftierten Patienten mit weit größerer Verbindlichkeit zur Mitarbeit verpflichten als in Freiheit (§ 56 Abs. 2 und § 57). Die früher kontrovers diskutierte Frage des Nichtraucherschutzes (zur Trennung Raucher von Nichtrauchern im Gemeinschaftsfernsehraum s. OLG Hamm MDR 1982, 779; OLG Zweibrücken NStZ 1986, 429) ist durch die neue Nichtraucherschutzgesetzgebung weitgehend geklärt. So gelten (zum Teil mit Ausnahmeregelungen für abgetrennte Bereiche wie den Haftraum) Rauchverbote in Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt; zur Rechtslage im Strafvollzug in Bayern, Hamburg und Niedersachsen Rdn. 34–36). Ist eine Trennung nicht möglich, so ist ein absolutes Rauchverbot auch dem Raucher zuzumuten (OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 191). Die Vollzugsbehörde kann auf die Mitarbeit des Gefangenen bei allen Maßnahmen bestehen, welche die Gesundheitsfürsorge und allgemeine Hygiene erfordern. Die Weigerung, sich wiegen zu lassen, kann eine Disziplinarmaßnahme nach sich ziehen (LG Regensburg NStZ 1991, 377); ebenso die Hortung von Arzneimitteln und die Verweigerung des Arztbesuchs (OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 179 f). Die Verpflichtung des Gefangenen zur Mitarbeit gilt insbesondere für Vorbeugemaßnahmen i. S. d. Infektionsschutzgesetzes, z. B. bei Küchentauglichkeitsuntersuchung (§ 36 Abs. 4 Satz 6 IfSG) sowie bei der Erwartung der Mitarbeit im Bereich Körperpflege und der Allgemeinhygiene (C/MD 2008 Rdn. 5). Ärztliche Diagnostik und Therapie können dennoch nicht unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen durchgesetzt werden. Der Arzt muss jedoch aktenkundig machen, dass der Patient z. B. seine Anordnungen missachtet oder die gesamte Behandlung verweigert. Ebenso muss er den Patienten über die möglichen schädlichen gesundheitlichen Folgen eines solchen Verhaltens aufklären und das schriftlich niederlegen. Der Freiheitsentzug allgemein und die fehlende freie Arztwahl erfordern besondere Anstrengungen aller Mitarbeiter des Vollzuges. Der Arzt bleibt zur Weiterbehandlung des Gefangenen verpflichtet und muss auch weiterhin versuchen, notwendige Maßnahmen zu verwirklichen, etwa durch Überredung, mit Hilfe anderer Fachdienste, Einschaltung der Angehörigen, des Rechtsanwaltes, des Anstaltsleiters usw. 3. Vollzugstypische Verhaltensweisen der Gefangenen Die Anstaltssprechstunde hat in normalen Anstalten die Schwerpunkte Allgemeinmedi- 4 zin, Infektionsmedizin, Psychiatrie und Suchtmedizin. Inhaftierte sind psychisch und psychiatrisch stärker auffällig und auch in höherem Maße krankheitsbelastet als die Normalbevölkerung (Konrad 2009, 208 ff; Witzel 2009a, 223 ff; Witzel 2009b, 49 ff). Suizide und Suizidversuche treten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überpro- 5 portional häufig in Haft auf. Damit kann dieses Problem als relevant, wiederkehrend auf-
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tretend und schwerwiegend identifiziert werden (Lehmann 2009, 240 ff). Insofern ist der Vollzug in der Pflicht, adäquate Reaktionen darauf zu entwickeln. Für Suizide in der Allgemeinbevölkerung beschreibt das Statistische Bundesamt zwar generell einen Rückgang seit 1985. Insgesamt starben im Jahr 2007 in Deutschland 9.402 Menschen durch Suizid (Statistisches Bundesamt 2007, 12). Die Suizidrate in der Allgemeinbevölkerung Deutschlands betrug im Jahr 2007 11,4 Suizide pro Jahr pro 100.000 Einwohner. Bezogen ausschließlich auf die Gruppe der Inhaftierten ist diese Rate ca. um das Zehnfache erhöht. So ergab sich etwa für die Jugendanstalt Hameln in den letzten 10 Jahren eine durchschnittliche, jährliche Suizidhäufigkeit von 127,4 pro 100.000 Gefangene (Lehmann et al. 2007, 177 ff). Insgesamt geht man von einer Relation von einem Suizid zu 10 Suizidversuchen aus. Junge Männer gelten als Risikogruppe. Die Hälfte der Suizide ereignet sich in der Untersuchungshaft (Frühwald ZfStrVo 1996, 218). Inhaftiertung an sich gilt ebenfalls laut World Health Organization bereits als Risiko (Konrad 2006, 208 ff). Das statistische Risiko für Suizidhandlungen ist durch die hohe Prävalenz von psychiatrischen Störungen und Abhängigkeitserkrankungen bei Gefangenen zudem erhöht (Missoni/Rex 1997, 336 ff). Dazu kommen als risikosteigernde Faktoren akute Krisen durch Trennung von Angehörigen, Einsamkeit, Frustrationserleben und psychische Traumatisierungen (Witte 2007, 863 f). Auch soziokulturelle, genetische und biologische Faktoren sowie sozialer Stress tragen zur Risikosteigerung bei. Suizidalität im Strafvollzug stellt dabei weder ein neues noch ein typisch deutsches Problem dar (vgl. dazu Literatur in Lehmann 2009, 240 ff). 6 Die Vollzugsbehörde und mit ihr der Anstaltsarzt haben die Pflicht, aufgrund dieser Erfahrungen mit Vorsorgemaßnahmen zu reagieren, z. B. durch Verhinderung von Isolation in Einzelzellen. Hier muss der Anstaltsarzt bereits im Rahmen seiner Zugangsuntersuchung auf eine mögliche Selbstmordgefährdung hinweisen und die Unterbringung des Inhaftierten in einer Gemeinschaftszelle anordnen, wobei auch dies freilich keinen absoluten Schutz darstellt. Insbesondere darf der Vollzug nicht die Verantwortlichkeit für den Suizidgefährdeten auf einen Mitgefangenen verlagern (vgl. Lehmann 2009, 240 ff). Dennoch ist bei Gemeinschaftsunterbringung eine bessere Beobachtung des Gefährdeten und die Möglichkeit der Aussprache mit anderen Gefangenen hilfreich. Grundsätzlich müssen Vollzugseinrichtungen ein Konzept entwickeln, wie mit Suizidanten präventiv und im Falle des Eintritts von Suizidalität umgegangen wird (vgl. dazu Lehmann 2009, 240 ff). Unterweisungen der Vollzugsbediensteten sind im Zusammenhang mit dieser Problematik notwendig (sie erfolgen z. B. im Land NRW zweimal jährlich im Rahmen einer großen Dienstbesprechung; allgemein zu den Konferenzen bei § 159). Mechler 1981, Thole 1976 und Stuth 1981 erläutern die vielfältige Symptomatik im Vorfeld und im Gefolge eines Suizidversuches. Die Betreuung durch geeignete Beamte des allgemeinen Vollzugsdienstes und durch Fachdienste, besonders durch Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter ist geboten (vgl. auch Swientek 1982). Als weitere Möglichkeiten kommen besondere Sicherheitsmaßnahmen, wie die Entziehung von scharfen oder spitzen Gegenständen und Gürteln sowie die Unterbringung des Gefährdeten in einem besonders gesicherten Haftraum in Betracht. Eine Beobachtung in unregelmäßigen oder regelmäßigen zeitlichen Abständen (Sigel ZfStrVo 1997, 34) ist unzureichend, da bereits wenige Minuten genügen, um sich erfolgreich zu suizidieren oder zumindest bleibende Schäden als Folge des Versuches zu erzeugen. Ist Suizidalität konstatiert, muss daher kontinuierlich überwacht werden. Eine Kameraüberwachung ist dabei in aller Regel ausreichend. Insgesamt herrscht Einigkeit über die Verantwortlichkeit der Behörden für Suizide von Anstaltsinsassen, aber auch darüber, dass der Tod infolge einer Suizidhandlung nicht zwangsläufig als Indiz für Pflichtwidrigkeit angesehen werden kann. Das Vorgehen ist dann richtig, wenn es in sich schlüssig und nachvollziehbar ist (zur Suizidprophylaxe in einer Landesnervenklinik OLG Koblenz
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MedR 2000, 136–139). Da der Staat mit der Anordnung einer Haftstrafe tief in die Grundrechte der Betroffenen eingreift, erwachsen ihm den Inhaftierten und deren Angehörigen gegenüber besondere Verpflichtungen. Zu den notwendigen wirksamen Anstrengungen zur Verhinderung von Suiziden bzw. Suizidversuchen gehören insbesondere die Mitarbeiterschulung, Konzepte im Sinne einer gezielten Präventionsstrategie und die gezielte Arbeit mit Insassen (Lehmann 2009, 240 ff). Selbstbeschädigungen hingegen haben häufig demonstrativen Charakter, sind stets Aus- 7 druck einer erheblichen Persönlichkeitsstörung und weisen meist auf mangelhafte Konfliktbewältigung des Inhaftierten hin (vgl. auch § 101 Rdn. 28). Auch Nahrungsverweigerung stellt eine besondere Form der Selbstbeschädigung dar. Nicht selten lässt sich das Anliegen des Hungerstreikenden nachvollziehen und lösen. Andernfalls muss er kompetent von einem hierarchisch höhergestellten Mitarbeiter über die objektive Aussichtslosigkeit seiner Forderungen aufgeklärt werden (vgl. Riekenbrauck 2009, 259 ff). 4. Das Drogen- und Alkoholproblem Schwerwiegende Gefahren für die Gesundheit von Personen ergeben sich auch aus den 8 unterschiedlichen Suchtformen, wobei besonders die Abhängigkeit Gefangener von Alkohol, Tabletten und harten Drogen zu nennen ist (vgl. Laubenthal 2005, 195 ff). Sucht bzw. Drogenabhängigkeit werden heute allgemein als Krankheit gewertet (Gölz 1995). Der Anstaltsarzt hat in diesem Zusammenhang diagnostische und therapeutische Aufgaben. Er muss besonders auf die Behandlung des körperlichen Entzuges, auf die Verhinderung von Selbstmorden und auf Ersatzmittelmissbrauch achten. Die Sicherung der Diagnose ist durch Screening des Urins möglich. Die Untersuchung kann dem Nachweis eines Disziplinarverstoßes zur Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung oder der Überprüfung des Standes der resozialisierenden (Sucht-)Behandlung bzw. der Einleitung medizinischer Heilbehandlung dienen. Ärztlich angeordnete Untersuchungen erfüllen therapeutische Zwecke und unterliegen in der Regel der Schweigepflicht (vgl. Keppler 2009, 159 ff). Ob auch die nicht im Rahmen von ärztlichen Behandlungsmaßnahmen angeordneten und nicht der Schweigepflicht unterliegenden Urinkontrollen auf § 56 Abs. 2 gestützt werden können (so überwiegend Rspr. und Literatur; vgl. Arloth 2008 Rdn. 9 m. w. Nachw.; einschränkend C/MD 2008 Rdn. 5), erscheint zweifelhaft. Bei einem auf Tatsachen beruhenden Verdacht von Rauschmittelmissbrauch kann auch die Versagung von Erlaubnissen oder Vollzugslockerungen in Betracht kommen, wenn sich der Gefangene nicht durch freiwillige Teilnahme an einer Urinkontrolle von dem Verdacht entlasten kann (LG Augsburg in ZfStrVo 1998, 113–115). Die Heranziehung von § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG (so LG Freiburg NStZ 1988, 151) kann in solchen Fällen nicht begründet werden (Arloth 2008 Rdn. 5). Eine disziplinarrechtliche Ahndung einer positiven Urinkontrolle ist im öffentlichen Interesse geboten (OLG Hamburg, Beschl. v. 02.03.2004, Az.: 3 Vollz Ws 128/03). Die Anwendung von (auch nur mittelbarem) Zwang bei der Durchführung der Urinkontrolle ist unzulässig und führt zu deren Unverwertbarkeit im Disziplinarverfahren (C/MD 2008 Rdn. 5; Gericke 2003, 305 ff; zur Problematik der Anwendung von Zwang bei der Entnahme einer Urinprobe s. auch § 101 Rdn. 29–32). Auch eine verweigerte Mitwirkung kann Grund für ein Disziplinarverfahren sein (KG Berlin, Beschl. v. 26.1.2006 Az.: 5Ws16/06 Vollz und 5Ws630/05 Vollz; OLG Hamburg, Beschl. v. 19.9.2007 Az.: 3Vollz(Ws)47/07; Thüringer OLG, Beschl. v. 10.5.2007 Az.: 1Ws68/07; a. A. C/MD 2008 Rdn. 5). Für den Fall, dass ein Gefangener des Einbringens von Betäubungsmitteln dringend ver- 9 dächtig ist, besteht auch die Möglichkeit, nach § 81a StPO eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten durch einen Arzt durchführen zu lassen. Die Anordnung obliegt in die-
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sem Fall allerdings den in § 81a Abs. 2 StPO angeführten Personen. Der Adressat einer Anordnung nach § 81a StPO sollte möglichst nicht der zuständige Arzt des Strafvollzuges sein, da das ohnehin labile Arzt-/Patientenverhältnis im Vollzug entscheidend gestört würde. Ein Mindestmaß an Vertrauen der Gefangenen in die Person des Anstaltsarztes ist gerade im Hinblick auf die fehlende freie Arztwahl von hohem Wert (vgl. aber VG Meiningen Urteil v. 15.02.2007, Az. 6D60013/04Me; zur Trennung von Dienst- und Fachaufsicht Rex 2009, 96 ff). Grundsätzlich ist Voraussetzung, dass die Untersuchung keine größeren gesundheitlichen Risiken für den Gefangenen mit sich bringt. Eine Untersuchung mit medizinischer Apparatur kann nämlich dann zu gesundheitlichen Schäden führen, wenn sich der Betreffende aktiv gegen die Untersuchung wehrt. Somit folgt, dass zwar grundsätzlich eine Untersuchung im Sinne des § 81a StPO möglich ist; die Pflicht zur Untersuchung entfällt aber dann, wenn Nachteile für die Gesundheit des Gefangenen zu befürchten sind oder möglicherweise sogar im Vergleich zum Nutzen überwiegen (dazu auch Quillmann/Schulte 1988, 336 ff). 10 Die Behandlung suchtkranker Gefangener wird länderunterschiedlich gehandhabt. Insgesamt bleibt jedoch festzuhalten, dass der Justizvollzug zu einer Drogentherapie im engeren Sinne nicht bestimmt und nicht in der Lage ist. Die Regelung in den §§ 35 und 36 BtMG (Therapie statt Strafe) lassen auch den Willen des Gesetzgebers erkennen, Therapie außerhalb des regulären Strafvollzuges anzusiedeln. Andererseits muss der Vollzug therapeutische Chancen erkennen und und z. B. durch Hilfe bei der Vermittlung in Therapie nach §§ 35, 36 BtMG fördern. Der Verlauf einer Suchterkrankung ist ein langwieriger Prozess. Persönlichkeit, Art des Suchtmittels sowie gesellschaftliche und soziale Bedingungen sind Faktoren, welche die Entwicklung beeinflussen (Keppler/Fritsch/Stöver 2009, 193 ff). Entsprechend diesem Suchtverständnis hat der Vollzug während der gesamten Inhaftierungszeit des Drogenabhängigen unterschiedliche Ausstiegshilfen und Hilfestellungen in lebenspraktischen Fragen bereitzuhalten. Anzustreben ist, dass drogenkranke Inhaftierte dieselben Behandlungschancen wie abhängige Menschen in Freiheit erhalten (zu den Möglichkeiten einer Zurückstellung der Strafvollstreckung vgl. AK-Bötticher/Stöver vor § 56 Rdn. 25 ff, 31; Böhm 2003, Rdn 234; Laubenthal 2008, Rdn. 584; Walter 1999, Rdn. 282c). Grundsätzlich wirken alle Bediensteten des Vollzugs bei den Interventionen mit. Die Effizienz kann gesteigert werden, indem Mitarbeiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes zu sog. Suchtkrankenhelfern ausgebildet werden. In der Medizin außerhalb der Haftanstalten stellt die Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen (v. a. mit Methadon) eine der medizinischen Standardmethoden dar. Die Ansicht des OLG Hamburg, die Dauersubstitution eines Strafgefangenen stehe in aller Regel den im StVollzG in §§ 2 und 3 formulierten Zielen entgegen, ist sicher überholt (OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 312; krit. dazu Kubnik StV 2002, 266; zu den aktuellen medizinischen Standards in der Behandlung Opiatabhängiger s. Keppler/Fritsch/Stöver 2009, 193 ff). Zur Gesundheitsfürsorge kann auch eine Substitutionsbehandlung gehören, über deren Fortsetzung oder Beendigung der Arzt nach medizinischen Gesichtspunkten entscheidet (Sönnecken MedR 2004, 246–248). 5. Die HIV-Infektion
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Drogenkranke Gefangene stellen den größten Anteil unter den HIV-infizierten Gefangenen (zu den Zahlen für HIV-Infektion im Vollzug s. Laubenthal 2005, 195 ff) dar. Aus diesem Grund werden in fast allen Bundesländern zumindest bei dieser Risikogruppe, oft aber auch bei allen erstaufgenommenen Gefangenen Blutuntersuchungen auf HIV-Antikörper durchgeführt. Ein Hinweis auf das Vorliegen einer Infektion etwa durch Stempelaufdruck „Blut-
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kontakt vermeiden“ auf Gesundheitsakten und Transportpapieren ist bei positivem Testergebnis zulässig (OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 121 betreffend eine Hepatitis B-Infektion). Eine Zwangsuntersuchung aller Gefangenen zur Erkennung einer HIV-Infektion ist nicht verhältnismäßig (K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 23, s. auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 171). Ergänzt werden muss, dass sie zudem auch nicht den erhofften Erkenntnisgewinn und die gewünschte Sicherheit bringt, sondern eher einen gegenteiligen Effekt hat. Durch die Behörde muss zudem nicht jede nur denkbare Vorsorge gegen eine mögliche HIV-Ansteckung getroffen werden (LG Bonn NStZ 1987, 140). Die ärztliche Betreuung entspricht in der Regel der eines Hausarztes, welcher mit einer Spezialeinrichtung kooperiert (Kraft/Knorr 2009, 170 ff). In Nordrhein-Westfalen wird seit 1989 eine HIV-Ambulanz im Vollzugskrankenhaus betrieben (s. Wedershoven 1998). Mit Blick auf die HIV-Risiken homosexuellen Verkehrs werden in einigen Bundesländern Kondome verfügbar gemacht, mindestens über den Einkauf (Gegen die kostenlose Abgabe OLG Koblenz NStZ 1997, 360, jedoch mit fragwürdiger Begründung). In Nordrhein-Westfalen werden seit 1998 den Gefangenen im geschlossenen Männervollzug (einschl. Jugendvollzug) unentgeltlich Kondome usw. zur Verfügung gestellt. Besondere vollzugliche Einschränkungen der HIV-Infizierten (Freizeit, Lockerungen, Arbeit und Ausbildung betreffend) kommen nur bei Gefangenen in Betracht, die durch ihr Verhalten zu erkennen geben, dass von ihnen eine konkrete Gefahr für ihre Umgebung ausgeht (Schmuck ZfStrVo 1989, 172; ähnlich Sigel ZfStrVo 1989, 161; zu weitgehend: Dargel 1989, 210). Für den verhaltensauffälligen Infizierten kommt eine derartige Ungleichbehandlung nicht in Betracht (Hefendehl ZfStrVo 1996, 136–143).
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6. Spritzenaustauschprogramme In Bezug auf Spritzenabgabe im Vollzug betont Walter (1999, Rdn. 507) den Unterschied 16 zwischen normativem Sollen und den tatsächlichen Verhältnissen (vgl. auch Laubenthal 2005, 195 ff). So fordert Lesting die Ausgabe von Einmalspritzen zur Vermeidung von Infektionen (StV 1990, 225 f; eher ablehnende Stellungnahmen Hartwig ZfStrVo 1990, 98, 101 und Arloth 2008 Rdn. 4; krit. Laubenthal 2008 Rdn. 581). In der Schweiz sowie in Niedersachsen wurden Spritzenaustauschprogramme im Gefängnis hinsichtlich Drogenkonsum, Risikoverhalten und Akzeptanz der Mitarbeiter evaluiert. Die Autoren kommen zu einer positiven Einschätzung hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen und der Akzeptanz (vgl. Jacob et al. 2001). Eine Rechtspflicht zur Abgabe von Einwegspritzen im Strafvollzug kann weder aus dem Verfassungsrecht noch aus dem Strafvollzugsrecht abgeleitet werden (LG Berlin BlStV 3/1997, 6; vgl. zudem Lines et al. 2006 mit einer umfassenden Übersicht und Bewertung der Spritzenprojekte weltweit). Mehrere Projekte laufen in der Schweiz, geplant ist vom Kanton Bern eine Einführung in allen Gefängnissen des Kantons. In Deutschland existiert zwischenzeitlich nur noch ein Projekt. Ende 2003 waren in Spanien 30 Gefängnisse mit Projekten ausgestattet. Es ist erklärtes Ziel der spanischen Justizadministration, in allen 69 Gefängnissen des Landes Spritzenprojekte vorzuhalten, ausgenommen psychiatrische Abteilungen und Hochsicherheitsgefängnisse. Selbst in den osteuropäischen Staaten Moldawien (3 Gefängnisse mit Spritzenprojekten), Kirgisistan (11 Gefängnisse mit Spritzenprojekten) und Weißrussland (3 Gefängnisse mit Spritzenprojekten) werden Spritzenaustauschprojekte vorgehalten. Für Kirgisistan und Weißrussland gilt zudem, dass beide Staaten zuerst Spritzenprojekte einführten und erst danach Methadonsubstitutionsprogramme planten. Auch in zwei Gefängnissen im Iran und in Armenien gibt es Spritzenaustauschprojekte. Zusammenfassend stellen Lines et al. fest, dass Spritzenprojekte offensichtlich in jedem Gefängnis unabhängig vom
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Umsetzungsmodus machbar sind, ohne das Beeinträchtigungen des Vollzuges auftreten. Hemmend für die Implementation solcher Programme wirken demnach nicht Sachargumente, sondern anders motivierte Entscheidungen von Politik, Justizadministration oder Anstaltsleitungen. 7. Für den Anstaltsarzt wichtige Vorschriften
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Die für den Gefangenen vorgesehene Gesundheitsfürsorge richtet sich weitgehend nach den Vorschriften des SGB V (s. im Folgenden §§ 57–66). Die Leistung der gesetzlichen Krankenkasse für den Versicherten ruht während der Inhaftierung, sein Anspruch auf Weiterversicherung bleibt jedoch bestehen. Böhm (2003, Rdn. 238) führt aus, dass die Regelung von Art und Umfang der ärztlichen und zahnärztlichen Maßnahmen zwar mit dem Ziel der Angleichung an die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung getroffen worden sei, die geplante Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung aber nicht gelungen ist (vgl. auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 160). 18 Nach § 56, VV Nr. 1 gelten für die Justizvollzugsanstalten die allgemeinen Vorschriften für die gesundheitsbehördliche Überwachung. In der Anstalt selbst ist der Anstaltsarzt allgemein für die Hygiene zuständig. Gleichwohl kann die Aufgabe z. B. des Hygienebeauftragten vom Anstaltsleiter auch an nichtmedizinische Mitarbeiter übertragen werden. Werden meldepflichtige, übertragbare Krankheiten festgestellt, so hat der Arzt neben der erforderlichen Information des zuständigen Gesundheitsamtes die notwendige Isolierung und Behandlung des Gefangenen einschließlich der nötigen Desinfektionsmaßnahmen einzuleiten. In der Regel werden sich je nach Erkrankung unterschiedlich umfangreiche Umgebungsuntersuchungen bei Kontaktpersonen anschließen. Häufig wird auch eine Verlegung des Gefangenen in ein Krankenhaus des Vollzuges oder in ein freies Krankenhaus, in Frage kommen (vgl. auch § 65 Abs. 1), wenn diese für seine Behandlung besser geeignet sind. Die Meldepflicht bezieht sich nicht auf den Anstaltsarzt allein, sondern im Verdachtsfall auf jeden Vollzugsbediensteten (VV Nr. 2 Satz 2; C/MD 2008 Rdn. 2). Gefangene, bei denen zum Zeitpunkt ihrer Entlassung noch Ansteckungsgefahr besteht oder deren Behandlung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist, werden dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet (vgl. auch VV Nr. 3). Grundlage für die aufgeführten Maßnahmen bildet das Infektionsschutzgesetz (IfSG). 19 Dem Anstaltsarzt obliegt auch die gesundheitliche Überwachung von Gefangenenhilfsarbeitern, die in bestimmten Arbeitsbereichen (z. B. Küchen, Krankenabteilungen oder Krankenhäusern des Vollzuges) beschäftigt sind. Das IfSG und der allgemeine Stand der medizinischen Wissenschaft ist die Grundlage für zu treffende Maßnahmen. Für bestimmte Gefangenengruppen (z. B. jugendliche oder schwangere Gefangene) gelten besondere Schutzvorschriften. 20 Auf die Notwendigkeit der Gesundheitsfürsorge für Gefangene weist das Gesetz auch an weiteren Stellen hin: § 5 Abs. 3 regelt die ärztliche Untersuchung des Gefangenen bei der Aufnahme, § 7 Abs. 2 weist auf die besonderen Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen für den Gefangenen hin, die bereits im Vollzugsplan (§ 7 Rdn. 2, 7) anzugeben sind. Aus Gründen ärztlicher Untersuchung oder Begutachtung kann der Gefangene abweichend vom Vollstreckungsplan (§ 152 Rdn. 2) in eine andere Vollzugsanstalt verlegt werden, wenn dies z. B. durch eine fachärztliche Untersuchung erforderlich wird (§ 8 Abs. 1). Auch § 21 weist mit der Notwendigkeit der ärztlichen Überwachung der Anstaltsverpflegung und der Möglichkeit, dem Gefangenen aus Gesundheitsgründen auf ärztliche Verordnung besondere Verpflegung zu gewähren, auf die Fürsorgepflicht des Anstaltsarztes im Rahmen der Gesundheitsfürsorge hin (vgl. § 21 Rdn. 9–11). Ähnlich in der Pflicht ist der
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Arzt bei den Besuchsregelungen bei kranken Gefangenen, die der Zustimmung, zumindest jedoch der Unterrichtung des Arztes bedürfen. Immer muss der Arzt dazu gehört werden (§ 24 Abs. 1 und VV Nr. 4). Die Möglichkeit, dem Gefangenen den Inhalt eines Paketes nur nach Anhörung des Arztes auszuhändigen (§ 33 Abs. 2 mit VV Nr. 2 Abs. 3) ist als Ergänzung zu § 22 aufzufassen. Die Bestimmung soll Missbrauch von Medikamenten, aber auch gesundheitliche Schädigung insbesondere bei Nahrungs- und Genussmitteln, deren Konsum für den erkrankten Gefangenen abträglich ist, verhindern. Gesundheitsfürsorge im Sinne des Gesetzes wird auch im Zusammenhang mit der Arbeitsanforderung für den Gefangenen wirksam. Danach sind die Arbeitsleistungen für den Gefangenen so zu bemessen, dass sie ohne Gesundheitsstörung nach ausreichender Einarbeitung und Einübung zu erbringen sind (§ 37 VV Nr. 3). Art und Umfang der speziellen Gesundheitsfürsorge für den Gefangenen regeln die §§ 57–66; die darin angesprochenen Vorsorge- und Behandlungsmaßnahmen richten sich nach dem SGB V. Das trifft auch für die in § 76 angesprochene Gesundheitsfürsorge im Rahmen der Mutterschaftshilfe zu, die durch den § 77 noch auf Schwangerschaftsbeschwerden erweitert wird. Gesundheitsfürsorge wird auch bei Disziplinarmaßnahmen, bei denen der Arzt zu hören ist, wirksam (§§ 92, 107). Eine besondere gesundheitliche Betreuung erfolgt außerdem im Rahmen besonderer Sicherungsmaßnahmen (§ 88).
II. Erläuterungen 1. Durchführung der gesundheitlichen Betreuung des Gefangenen Die gesundheitliche Betreuung der Gefangenen liegt in der Zuständigkeit und Verant- 21 wortlichkeit des Anstaltsarztes (so auch C/MD 2008 Rdn. 3 unter Hinweis auf KG ZfStrVo 1979 SH 65). Mit Unterstützung der Vollzugsbediensteten, besonders der Sanitätsbediensteten, hat er das Erforderliche zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit der Gefangenen zu veranlassen. Der Arzt führt regelmäßige Sprechstunden durch. Deren Häufigkeit muss ausreichende gesundheitliche Betreuung, Versorgung und Behandlung ebenso sicherstellen wie die ordnungsgemäße Erledigung der übrigen anfallenden Arbeiten. Die Sprechstunden müssen so festgesetzt werden, dass die Gefangenen – von Notfällen abgesehen – durch den Arztbesuch nicht gehindert sind, ihrer Arbeitspflicht pünktlich nachzukommen (LG Karlsruhe ZfStrVo 1986, 128). Der Sanitätsbedienstete unterstützt den Arzt bei der Einrichtung und Durchführung 22 der Sprechstunde. Ihm obliegt etwa die Führung der Krankenbücher, die Ausgabe von Arzneimitteln, etc. (Weyl 2009). Die ärztliche Versorgung spielt in der Justizvollzugsanstalt eine große Rolle (Böhm 2003, Rdn. 100, 238), da stets eine hohe Anzahl von Krankmeldungen zu verzeichnen ist, wenngleich in den Justizvollzugsanstalten meist jüngere Gefangene einsitzen. Bezüglich der Kassenwirtschaftlichkeit medizinischer Maßnahmen ist der Anstaltsarzt traditionell zwar nicht derselben Kontrolle ausgesetzt, wie der niedergelassene Kassenarzt (vgl. Leppmann Rdn. 2). Dennoch stellen Kostenvergleiche im Bereich der Gesundheitsfürsorge, z. B. der einzelnen Justizvollzugsanstalten untereinander und vermehrte Rückfragen der Landesrechnungshöfe bei z. B. kostenaufwändigeren ärztlichen Maßnahmen zunehmende Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf wirtschaftliches Arbeiten dar. 2. Dienstaufsicht über den Anstaltsarzt Nach § 156 untersteht der Anstaltsarzt zwar der Dienstaufsicht des Anstaltsleiters, im 23 Rahmen seiner fachlich-medizinischen Tätigkeit bleibt dem Anstaltsarzt aber ein Ermessensspielraum, der sich einer Kontrolle von außen weitgehend entzieht (OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 191). Ärztliche Anordnungen sind daher vom Personal zunächst grundsätzlich Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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zu befolgen, auch wenn sie Mehrbelastungen oder sonstige Schwierigkeiten zur Folge haben (vgl. auch LG Hamburg 10.7.1978 – Vollz. 111/78). Ärztlichen Empfehlungen muss zumindest im Rahmen der Möglichkeiten der Justizvollzugsanstalt Rechnung getragen werden (LG Hamburg 30.6.1978 – Vollz. 116/78; C/MD 2008 Rdn. 3; vgl. auch OLG Hamm, BlStV3/1994, 1). 3. Fachaufsicht über den Anstaltsarzt
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Nach § 151 Abs. 1, Abs. 2 1. Halbs. untersteht der Anstaltsarzt der Fachaufsicht der obersten Aufsichtsbehörde (§ 151 Rdn. 3), die diese auf Justizvollzugsämter übertragen kann (§ 151 Rdn. 7). Der Anstaltsleiter kann lediglich im Rahmen seiner Dienstaufsicht vom Anstaltsarzt Auskunft über die für den Vollzug und für die Beurteilung des Gefangenen wesentlichen gesundheitlichen Umstände verlangen (VV Nr. 2 Abs. 2 zu § 156). VV Nr. 2 Abs. 3 zu § 156 führt weiter aus, dass der Anstaltsleiter den Vollzug einer von Fachkräften getroffenen Maßnahme aussetzen kann, wenn diese die Sicherheit und Ordnung der Anstalt oder die zweckmäßige Behandlung des Gefangenen gefährdet. Wenn in einem solchen Fall eine Aussprache zwischen den Beteiligten zu keiner Einigung geführt hat, muss der Anstaltsleiter zeitnah eine Entscheidung der Aufsichtsbehörde herbeiführen. Zum Recht, die Unterlagen des Anstaltsarztes einzusehen, vgl. die Kommentierung zu § 182). 4. Beschwerdemöglichkeit des Gefangenen über den Anstaltsarzt
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Im Rahmen des Beschwerderechts (Rex 2009, 96 ff) nach § 108 steht dem Gefangenen die Beschwerdemöglichkeit über den Anstaltsarzt beim Anstaltsleiter zu. Beschwerden über den Anstaltsarzt sind keine Seltenheit. Sie werden einerseits auf dem Hintergrund einer Misstrauenshaltung des Gefangenen verständlich, für den der Arzt häufig Teil einer Institution ist, welcher der Inhaftierte in der Regel zunächst ablehnend gegenübersteht. Zudem weiß der Gefangene häufig genau, dass der Arzt außer der spezifisch-ärztlichen Behandlung auch Vorteile im Vollzug verschaffen kann. Beispiele sind die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Befürwortung eines Arbeitsplatzwechsels oder einer Gemeinschaftsunterbringung bzw. Einzelunterbringung sowie Verordnung besonderer Kostformen. Bei Vorliegen bestimmter Erkrankungen kann der Anstaltsarzt eine Behandlung in einem freien Krankenhaus für erforderlich halten, wobei der Gefangene dies oft mit der Hoffnung auf Strafunterbrechung verbindet. Auch kann der Arzt eine Vollzugsuntauglichkeit befürworten. Das Wissen um diese Möglichkeiten des Anstaltsarztes führt bei Gefangenen gelegentlich zu unrealistischen Wunschvorstellungen, die über die tatsächlichen Möglichkeiten des Arztes hinausgehen. Wird der Gefangene mit dieser Realität konfrontiert, kann es zu Beschwerden bei den dem Anstaltsarzt vorgesetzten Dienststellen kommen oder im schlimmsten Fall zur Ablehnung der Behandlung, wenn der Arzt den Wunschvorstellungen des Gefangenen nicht gerecht wird (zur Dienstaufsichtsbeschwerde § 108 Rdn. 7 ff; wegen einer gerichtlichen Überprüfung § 109 Rdn. 21). 5. Das Einsichtsrecht des Gefangenen in die Gesundheitsakte
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Bisher galt, dass Strafgefangene ein Recht auf Einsicht in Aufzeichnungen in den Krankenunterlagen über naturwissenschaftlich objektivierbare Befunde und Behandlungstatsachen haben, die sie betreffen, wenn es für das von ihm darzulegende Interesse (Überprüfung, ob er eine Klage erheben will) von Bedeutung ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1989, 121 = NStZ 1989, 198; OLG Celle NStZ 1986, 284 mit Anm. Müller-Dietz; OLG Hamm NStZ 1986, 47; OLG Nürnberg ZfStrVo 1986, 61; KG ZfStrVo 1986, 186; C/MD 2008 Rdn. 4; Molketin 1980). Das Einsichtsrecht bezog sich nicht auf schriftlich niedergelegte persönliche Ein-
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Allgemeine Regeln
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drücke und Wertungen des Arztes (vgl. auch BGHZ 85, 327 ff; zu Möglichkeiten und Problemen der Einsichtgewährung Müller-Dietz aaO § 108 Rdn. 9; § 185 Rdn. 10). Ein umfassendes Einsichtsrecht hat die Rechtsprechung mittlerweile für den im Maß- 27 regelvollzug Untergebrachten (BVerfG, Beschl. v. 9.1.2006, Az.: 2 BvR 443/02) sowie, daran anknüpfend, für den Untersuchungshäftling (OLG Brandenburg Beschl. v. 12.2.2008) anerkannt, weil die Verweigerung der Einsicht in die Krankenunterlagen wesentlich intensiver berühre als in einem privatrechtlichen Behandlungsverhältnis und vom Inhalt der Krankenakten Entscheidungen über die Freiheit des Untergebrachten und über das Ausmaß der Freiheitsbeschränkungen abhängen könne. Der Zugang zu den in Krankenunterlagen enthaltenen Informationen habe Bedeutung für die Effektivität des Rechtsschutzes in Vollzugsangelegenheiten. Medizinische Sachverhalte und Informationen aus der Gesundheitsakte spielen indes bei strafvollzuglichen Entscheidungen (anders als im Maßregelvollzug) keine Rolle, es sei denn, der Betroffene hat explizit eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ausgesprochen. Der Verteidiger eines Gefangenen hat kein weitergehendes Einsichtsrecht in die Gefan- 28 genengesundheitsakten als der Gefangene selbst. Zieht der Anstaltsarzt einen freien Arzt hinzu, so übt dieser für sein Fachgebiet die Funktionen des Anstaltsarztes aus, auch wenn er außerhalb der Justizeinrichtung tätig wird.
III. Beispiele 1. Die ärztliche Sprechstunde Will ein Gefangener den Anstaltsarzt aufsuchen, muss er sich vorher für die Sprechstunde 29 anmelden. Ausgenommen hiervon sind Notfälle, die dem Anstaltsarzt sofort vorgestellt werden. Die ambulante ärztliche Sprechstunde ist regelmäßig überfüllt und ohne die Mithilfe mehrerer Sanitätsdienstbeamter, welche die Patienten ein- und auslassen, verordnete Medikamente ausgeben, Verbände anlegen und auf Weisung auch sonstige Anordnungen ausführen, technisch nicht zu bewältigen. Es ist nicht selten, dass sich bis zu einem Fünftel der Inhaftierten einer Anstalt in die Sprechstunde melden. Zwar ist der hauptamtliche Anstaltsarzt täglich 8 Stunden im Dienst, die reine Sprechstundenzeit ist aber durch institutionelle Zwänge (z. B. Arbeitsaufschluss, Hofgänge, Unterricht, Sport) erheblich eingeschränkt. Zum Teil sind allerdings wirklich medizinische Behandlungsmaßnahmen nötig, wenn- 30 gleich der größere Teil der Patienten über Befindlichkeitsstörungen ohne eigentlichen Krankheitswert klagt oder erhofft Vergünstigungen zu erreichen, wie andere Kost, einen besseren Arbeitsplatz oder überhaupt eine längere Freistellung von der Arbeit. Dem Arzt werden Wünsche nach Aushändigung privater Kleidung mit der Begründung juckender Hauterscheinungen vorgetragen, als deren Ursache die Anstaltskleidung meist zu Unrecht kritisiert wird. Gefangene verlangen mitunter auch Verschreibungen, die nicht medizinischer Natur sind (sog. paramedizinische Verordnungen). Zudem gibt es den Wunsch nach einem ganz bestimmten Medikament einer ganz bestimmten Pharma-Firma oder auch nach fachärztlichen Vorführungen oder Röntgenuntersuchungen, die eigentlich aus medizinischer Sicht nicht erforderlich sind. Hierin überwiegend Querulanten- oder Simulantentum zu sehen, ist sicherlich falsch. Oft verbergen sich hinter vordergründigen und überflüssig wirkenden Anliegen Ängste, nicht verarbeitete Probleme, das Bedürfnis nach Kontakt oder Abwechslung. Das ärztliche Wartezimmer dient dem Gefangenen bekannterweise auch als Ort der Begegnung mit anderen, ihrem allgemeinen Interessenaustausch, aber auch als Treffpunkt der Rauschmittel- und Tablettenabhängigen. Insofern hat der Aufenthalt im
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Wartezimmer aus Sicht des Gefangenen den Wert eines zusätzlichen Umschlusses. Der Anstaltsarzt ist zwar, anders als in der Praxis draußen, nicht vom Patienten und seinen Wünschen abhängig. Er braucht daher keine Wunschmedikamente, insbesondere keine Abhängigkeit erzeugenden Psychopharmaka zu verordnen. Die Ablehnung unberechtigter Forderungen führt aber häufig zu Spannungen und aggressiver Reaktion (vgl. auch Fritsch 2009, 120 ff). 31 Die vom Gefangenen in der Sprechstunde vorgetragenen gesundheitlichen Klagen weisen auf einige typische Beschwerdebilder hin: Kopfschmerzpatienten berichten in ihrer Vorgeschichte gelegentlich von Kopfverletzungen durch frühere Motorrad- oder Autounfälle. Es überwiegen aber deutlich die psychogen ausgelösten Kopfschmerzen aufgrund von Spannungszuständen und nicht verarbeiteten Problemen. Häufig lässt sich auch ein Übermaß von Nikotinkonsum feststellen. Schlafstörungen im Vollzug können unterschiedliche Gründe haben. In Frage kommen u. a. Bewegungsmangel, seelische Spannungen, reale Ängste und Konflikte, erhöhter Nikotin- und Kaffeekonsum, Alkohol- und Rauschmittelabhängigkeit und psychogene Störungen. Die unter Schlaflosigkeit leidenden Gefangenen erwarten meist rasche und vordergründige Hilfe durch ein starkes Schlafmittel. Sie reagieren überwiegend gereizt und ablehnend, wenn statt dessen gesprächstherapeutische Hilfen einschließlich der Information über die Schädlichkeit einer Dauermedikation mit Schlafmitteln angeboten werden. Sie tragen ihre Forderungen regelmäßig und mit großer Beharrlichkeit vor und stellen die Geduld eines verantwortungsvoll ordinierenden Arztes, der ihrer Wunscherfüllung nicht in erhofftem Maße genügt, auf eine harte Probe (vgl. auch Fritsch 2009, 120 ff). Magen-Darmbeschwerden werden häufig angegeben. Darmuntersuchungen ergeben jedoch sehr selten pathologische Befunde. Magenschleimhautentzündungen und Magengeschwüre haben unter Gefangenen dagegen eine sehr hohe Prävalenz. Die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten haben in den letzten Jahren jedoch rasant zugenommen und haben so das Problem auch im Strafvollzug merklich entschärft. Lebererkrankungen als Begleitkomplikation bei Alkoholikern und Drogenkonsumenten bessern sich häufig während der Dauer des Vollzuges, da hier das Suchtmittel schwerer erlangbar ist und die Fortdauer der Schädigung oft ausbleibt. Anders verhält es sich jedoch mit chronifizierten Viruserkrankungen der Leber. Die übrigen Beschwerdebilder (einschließlich der Arbeitsunfälle) finden sich auch in freien Praxen: z. B. Infekte, Schädigungen des Bewegungsapparates, Erkrankungen der Haut, des Urogenitaltraktes. Sie bedürfen keiner besonderen Erwähnung. Psychische Störungen spielen eine besondere Rolle. Sie nehmen im Vollzug zu und entwickeln sich zu einem der Hauptprobleme des zeitgenössischen Strafvollzuges (vgl. Konrad 2009, 208 ff; Witzel 2009a, 49 ff). Der echte Simulant ist selten. Aggravation (also verstärkte Wahrnehmung einer bestehenden Beschwerde) ist häufiger. Die Praxis zeigt, dass von den sog. Simulanten bei eingehender Untersuchung etwa 1/3 organisch krank sind (Riekenbrauck 1992). 2. Zu- und Abgangsuntersuchung bei Gefangenen
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Jeder Neuzugang in einer Justizvollzugsanstalt muss ärztlich untersucht werden. Diese Zugangsuntersuchung ist Teil des Aufnahmeverfahrens nach § 5 Abs. 3. Der Arzt erhebt zunächst die Krankenvorgeschichte, dann führt er die körperliche Untersuchung durch und beurteilt den seelischen Zustand des Gefangenen; hier ist die möglichst frühzeitige Erkennung von Geisteskrankheiten und Selbstmordgefährdung wichtig. Erst dann folgt die Entscheidung, ob der Inhaftierte nach ärztlicher Auffassung vollzugstauglich ist, wie er unter-
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gebracht werden soll und welche Form des Arbeitseinsatzes möglich ist. Die Untersuchung enthält auch einen Vermerk über die Sporttauglichkeit. Oft wird schon bei der Aufnahme z. B. die Anmaßungs- und Forderungshaltung vieler Drogenabhängiger deutlich, etwa ihr Verlangen nach Psychopharmaka oder Schmerzmitteln. Abhängige mit Entzugssymptomatik zeigen Unruhe und Verstörung und bedürfen sofortiger Behandlung. Die Entlassungsuntersuchung ist unproblematischer, sie wird im Strafvollzugsgesetz 33 nicht besonders erwähnt und findet eher Eingang in die Verwaltungsvorschriften der Länder. Häufig verzichtet der Gefangene ganz auf sie; dies ist aktenkundig zu machen. Findet eine Entlassungsuntersuchung statt, so ist die Dokumentation des Gesundheitszustandes bei der Entlassung, die Feststellung der Transport- und/oder Gehfähigkeit und die Feststellung eventuell während der Inhaftierung eingetretener gesundheitlicher Schäden wichtig.
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 58 Abs. 1 und 2 BayStVollzG sind bis auf redaktionelle Änderungen wortlautgleich 34 mit § 56 Abs. 1 und 2 StVollzG. In Art. 58 BayStVollzG wurde ein neuer Abs. 3. eingefügt, der lautet: „Der Schutz der Nichtraucher ist, soweit es bauliche und organisatorische Maßnahmen ermöglichen, zu gewährleisten.“ 2. Hamburg Eine exakte Entsprechung zu § 56 StVollzG findet sich im HmbStVollzG nicht (vgl. die 35 Kommentierung bei § 57 Rdn. 13). 3. Niedersachsen § 56 Abs. 1 NJVollzG lautet: „Die Vollzugsbehörde sorgt für die Gesundheit der oder des 36 Gefangenen“. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Bei der Neufassung von Abs. 1 handelt es sich um eine redaktionelle Änderung, eine inhaltliche Änderung ist damit nicht verbunden.“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 137) § 56 Abs. 2 NJVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierung wortgleich mit § 56 Abs. 2 StVollzG.
§ 57 Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen (1) Gefangene, die das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet haben, haben jedes zweite Jahr Anspruch auf eine ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von Herz-Kreislaufund Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit. (2) Gefangene haben höchstens einmal jährlich Anspruch auf eine Untersuchung zur Früherkennung von Krebserkrankungen, Frauen frühestens vom Beginn des zwanzigsten Lebensjahres an, Männer frühestens vom Beginn des fünfundvierzigsten Lebensjahres an.
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(3) Voraussetzung für die Untersuchungen nach den Absätzen 1 und 2 ist, dass 1. es sich um Krankheiten handelt, die wirksam behandelt werden können, 2. das Vor- oder Frühstadium dieser Krankheiten durch diagnostische Maßnahmen erfassbar ist, 3. die Krankheitszeichen medizinisch-technisch genügend eindeutig zu erfassen sind, 4. genügend Ärzte und Einrichtungen vorhanden sind, um die aufgefundenen Verdachtsfälle eingehend zu diagnostizieren und zu behandeln. (4) Gefangene Frauen haben für ihre Kinder, die mit ihnen in der Vollzugsanstalt untergebracht sind, bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, die die körperliche oder geistige Entwicklung ihrer Kinder in nicht geringfügigem Maße gefährden. (5) Gefangene, die das vierzehnte, aber noch nicht das zwanzigste Lebensjahr vollendet haben, können sich zur Verhütung von Zahnerkrankungen einmal in jedem Kalenderhalbjahr zahnärztlich untersuchen lassen. Die Untersuchungen sollen sich auf den Befund des Zahnfleisches, die Aufklärung über Krankheitsursachen und ihre Vermeidung, das Erstellen von diagnostischen Vergleichen zur Mundhygiene, zum Zustand des Zahnfleisches und zur Anfälligkeit gegenüber Karieserkrankungen, auf die Motivation und Einweisung bei der Mundpflege sowie auf Maßnahmen zur Schmelzhärtung der Zähne erstrecken. (6) Gefangene haben Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, wenn diese notwendig sind, 1. eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 2. einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken oder 3. Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. VV Die Gefangenen sind auf die Möglichkeit von Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten hinzuweisen. Die Maßnahmen werden auf Antrag durchgeführt. Schrifttum: Boetticher Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 61–79; Keppler Der Frauenvollzug, in: Keppler/Stöver Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 128–137; Keppler Gefängnismedizin im Frauenvollzug, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 169–193; Nestler Betäubungsmittelstrafrechtliche Risiken bei der Substitutionsbehandlung, MedR 2009; Nikolai Zahnmedizin im Strafvollzug in: Keppler/Stöver 2009 aaO, S. 268–271; Oberfeld Behinderung und Alter, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 234–239.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Früherkennung von Krankheiten 2. Vorsorgeangebote für die Gefangenen . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. § 57 Abs. 1: Check-Up 35 . . . . . 2. § 57 Abs. 2: Krebsvorsorge . . . . 3. § 57 Abs. 3: Vorbehalte . . . . . . 4. § 57 Abs. 4: Kindervorsorgeuntersuchungen . . . . . . . . . . . .
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1–3 1–2 3 4–10 4 5 6
Rdn. 5. § 57 Abs. 5: Zahnprävention . 6. § 57 Abs. 6: Präventive Behandlung und Versorgung . . . . III. Beispiel: Krebsvorsorge . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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. 10 . 11 . 12–14 . 12 . 13 . 14
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I. Allgemeine Hinweise 1. Früherkennung von Krankheiten Die Rahmenbedingungen des außervollzuglichen Gesundheitswesens sind Wandlungen 1 unterworfen, deren Auswirkungen mit Verzögerung den Strafvollzug erreichen. Es ist grundsätzlich möglich, dass Leistungen im Strafvollzug die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, der Rentenversicherungsträger sowie der Pflegeversicherung übersteigen. Das ergibt sich aus dem Prinzip der freien Heilfürsorge im Strafvollzug und dem Ruhen der gesetzlichen Versicherungen. Ein Gefangener zahlt z. B. bisher keine Praxisgebühr für das Aufsuchen des Anstaltsarztes pro Quartal und keine Zuzahlungen zu Medikamenten. Das StVollzG bietet außer in den Fällen der §§ 62 Abs. 1 und 63 keine Rechtsgrundlage für eine Kostenbeteiligung von Gefangenen an der ambulanten ärztlichen Betreuung ( LG Trier Beschl. v. 19.10.2005 Az.: 10StVK542/05; OLG Koblenz, Beschl. v. 19.4.2006 Az. 1Ws833/05). In § 57 hat sich der Gesetzgeber durch ursprünglich wörtliche Übernahme aus dem SGB V erkennbar bemüht, die Gesundheitsuntersuchungen und medizinischen Vorsorgeleistungen der Gefangenen den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechend zu regeln. Zwischenzeitlich sind Anpassungen im SGB V erfolgt, die nicht in das StVollzG übertragen wurden. Dennoch bleiben die Ansprüche vom Grunde her identisch mit denen der gesetzlich Versicherten. § 57 sichert Gefangenen einen Anspruch auf Maßnahmen zur Früherkennung von 2 Krankheiten zu. Dabei sind Kostenfragen in die Überlegungen einzubeziehen (OLG Hamm NStZ 1994, 382). Art und Umfang der Maßnahmen, die vom Anstaltsarzt eingeleitet werden können, sind nahezu identisch mit den im SGB V genannten. Die Maßnahmen sollen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. 2. Vorsorgeangebote für die Gefangenen Die VV zu § 57 sieht vor, dass die Behörde im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht die Gefange- 3 nen auf die ihnen zustehenden Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten hinzuweisen hat. Der Inhaftierte muss seinerseits die Durchführung der Maßnahmen beantragen, falls er sie in Anspruch nehmen möchte. Für den Gefangenen handelt es sich also um eine Kann-Bestimmung; das Untersuchungs- und Behandlungsangebot der Vollzugsbehörde hat für ihn keinen verpflichtenden Charakter. Wesentlich dabei ist die Gleichstellung des Gefangenen mit einem freien Versicherungsnehmer.
II. Erläuterungen 1. § 57 Abs. 1: Check-Up 35 Die im Gesetz aufgeführten Einzelmaßnahmen (§ 57 Abs. 1) betreffen zunächst den sog. 4 Check-Up 35. Hier wird allen Gefangenen, die das 35. Lebensjahr erreicht haben, ermöglicht, alle zwei Jahre eine Untersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere von Herz- und Kreislauferkrankungen, Nierenerkrankungen und der Zuckerkrankheit durchführen zu lassen. 2. § 57 Abs. 2: Krebsvorsorge In § 57 Abs. 2 ist die klassische Krebsvorsorgeuntersuchung verankert. Danach können 5 Frauen vom Beginn des 20. Lebensjahres und Männer vom Beginn des 45. Lebensjahres an einmal jährlich die Durchführung einer Vorsorgeuntersuchung beantragen. Für die ErWolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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hebung der Patientenvorgeschichte, den vorgeschriebenen Untersuchungsgang, die Folgerung und Beratung sowie die Aufzeichnungen und die Dokumentation dienen entsprechende Berichtsvordrucke. Nach ärztlichem Ermessen veranlasst der Anstaltsarzt gegebenenfalls die Hinzuziehung anderer Ärzte, wenn weitergehende Untersuchungen dies erfordern. Aufgefundene Verdachtsfälle sind eingehend zu diagnostizieren und rechtzeitig zu behandeln. 3. § 57 Abs. 3: Vorbehalte
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In § 57 Abs. 3 ist der gleiche Vorbehalt wie im SGB V fixiert. Präventive Untersuchungen machen nur Sinn, (a) wenn die Krankheit auch behandelt werden kann, (b) wenn sie in einem frühen Stadium diagnostiziert werden kann, (c) wenn die Diagnostik eindeutig ist und (d) wenn die Ressourcen ausreichen, die gefundenen Fälle auch weiter zu diagnostizieren und zu behandeln. 4. § 57 Abs. 4: Kindervorsorgeuntersuchungen
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Nach § 57 Abs. 4 haben Frauen für ihre Kinder, die mit ihnen in einer JVA untergebracht sind, bis zu deren 6. Lebensjahr ebenfalls Anspruch auf Vorsorgemaßnahmen. Die Unterbringung von Müttern mit Kindern in einer Justizvollzugsanstalt regelt § 80. Die Vorsorgemaßnahmen für Kinder beziehen sich auf die zur Früherkennung von Krankheiten notwendigen Untersuchungen, die eine mögliche krankhafte körperliche oder geistige Behinderung des Kindes, die seine normale Weiterentwicklung gefährdet, aufdecken. Das aktuelle SGB V geht mittlerweile über die Vorgaben des StVollzG hinaus. Für die Betreuung der Kinder ist der Anstaltsarzt nicht zuständig. Die Kinder sind gesetzlich krankenversichert. Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens zur Unterbrinung im sog. Mutter-Kind-Heim wird stets auch die Krankenversicherungssituation des Kindes geklärt (Keppler 2005, 169 ff). Die nicht in § 57 sondern in §§ 76–78 geregelten Vorsorgemaßnahmen für schwangere weibliche Inhaftierte leistet die Vollzugseinrichtung ebenfalls im Rahmen der jeweils aktuellen Mutterschaftsrichtlinien. Diese sichern Frauen bei Schwangerschaft und Entbindung eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßige, ausreichende und wirtschaftliche ärztliche Betreuung zu. Zweck der Schwangerschaftsvorsorge ist die Abwendung möglicher Gefahren für das Leben und die Gesundheit von Mutter und Kind sowie die rechtzeitige Erkennung und Behandlung von Gesundheitsstörungen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die frühzeitige Erkennung von Risikoschwangerschaften und Risikogeburten gelegt. 8 Risikoschwangerschaften sind solche, bei denen aufgrund der Vorgeschichte oder der festgestellten Befunde die Gesundheit oder das Leben von Mutter oder Kind gefährdet sind. Heute spielt die Frage der Drogenkrankheit der Mutter eine große Rolle. Eine sehr sorgfältige Betreuung der Schwangeren in Zusammenarbeit mit einer diesbezüglich erfahrenen Frauenklinik ist erforderlich. Oft wird über lange Zeit eine Substitution unter Vermeidung von abrupten Dosisänderungen notwendig sein. Der Anstaltsarzt hat entsprechend der Tätigkeit eines freiberuflichen Arztes eine Aufklärungspflicht gegenüber der schwangeren Inhaftierten (Boetticher 2005, 61 ff; zu strafrechtlichen Risiken bei der Substitutionsbehandlung vgl. Nestler, 2009), sowie die Pflicht der Betreuung und der erforderlichen Behandlung unter Beiziehung entsprechender Fachärzte, wenn dies notwendig wird. Der Begriff der Risikoschwangerschaft als solcher ist wenig aussagekräftig und unscharf. Eine Risikoschwangerschaft an sich ist zunächst kein Grund für eine Vollzugsuntauglichkeit (Keppler 2009, 128 ff). Zur Risikoschwangeren kann eine Frau beispielsweise bereits durch NikotinKonsum oder auch durch die Inhaftierung an sich (Schwangerschaftsrisiko infolge besonderer psychischer oder sozialer Belastung) werden.
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5. § 57 Abs. 5: Zahnprävention Nach § 57 Abs. 5 können sich Gefangene, die das 14., aber noch nicht das 20. Lebensjahr 9 vollendet haben, zur Verhütung von Zahnerkrankungen einmal in jedem Kalenderjahr zahnärztlich untersuchen lassen (vgl. dazu Nikolai 2009, 268 ff). Die Untersuchungen haben dabei eine prophylaktische Funktion. 6. § 57 Abs. 6: Präventive Behandlung und Versorgung § 57 Abs. 6 garantiert dem Inhaftierten ärztliche Behandlung sowie Versorgung mit 10 Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln. Beides steht den Gefangenen dann zu, wenn eine Schwächung der Gesundheit die Gefahr einer Krankheitsentstehung in sich birgt, wenn eine Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes besteht oder wenn es gilt, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden (zur Situation und Unterbringung von Pflegebedürftigen im Vollzug vgl. Oberfeld 2009, 234 ff).
III. Beispiel Krebsvorsorge Ein Gefangener, der eine Krebsvorsorgeuntersuchung durchführen lassen möchte, stellt 11 zunächst einen Antrag beim Anstaltsarzt. Dieser bestellt ihn zu einer ersten Untersuchung. Die Erhebung der Vorgeschichte und der Umfang der Untersuchung richten sich nach den Bestimmungen des SGB; hierüber liegen Vordrucke vor. Der Anstaltsarzt dokumentiert das Ergebnis seiner Untersuchung und informiert und berät den Gefangenen. Ergibt die Untersuchung einen Verdacht auf das Vorliegen eines krankhaften Befundes, zieht der Anstaltsarzt in der Regel einen Facharzt hinzu. Häufig ist hiermit eine Ausführung des Gefangenen verbunden, die die Vollzugsanstalt sicherzustellen hat (vgl. Rdn. 11 zu § 58). Ergibt sich aufgrund des fachärztlichen Befundes eine Operationsnotwendigkeit, so ist zunächst nach § 65 Abs. 1 zu prüfen, ob der operative Eingriff in einer Krankeneinrichtung des Vollzuges durchgeführt werden kann. Wenn nicht, muss der Patient in ein freies Krankenhaus verlegt werden, wenn weiteres Zuwarten aus medizinischer Sicht nicht mehr vertretbar ist. In diesem Fall ist zu prüfen, ob der Gefangene zumindest vorübergehend vollzugsuntauglich ist. Die Entscheidung über eine Strafunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit fällt aber die Strafvollstreckungsbehörde (§ 65 Rdn. 4, 7). Finanzielle Erwägungen dürfen dabei keine Rolle spielen, wohl aber die Länge der Krankheits- bzw. Behandlungsdauer.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
12 Art. 59 Abs. 1 und 2 BayStVollzG entsprechen weitgehend § 57 StVollzG. In Abs. 3 der bayerischen Norm findet sich keine Entsprechung zu § 57 Abs. 3 Nr. 4 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Diese Vorschrift entspricht zwar § 25 Abs. 3 Nr. 4 SGB V, sie ist jedoch auch im Strafvollzug ohne Bedeutung. Sollten die vollzugseigenen Kapazitäten nicht ausreichen, muss selbstverständlich ein praktizierender Arzt oder eine praktizierende Ärztin herangezogen oder der oder die Gefangene in ein öffentliches Krankenhaus verlegt werden.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 63) Art. 57 Abs. 4 korrespondiert mit § 57 Abs. 4 StVollzG; entfallen ist allerdings die Altersbeschränkung auf das sechste Lebensjahr. Diesbezüglich wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt: „In Abs. 4 wird auf eine altersmäßige Beschränkung verzichtet, da eine UnterWolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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bringung der Kinder bei ihren Müttern sowohl im geschlossenen als auch offenen Vollzug nur bis zu einem Alter von ca. drei bzw. vier Jahren möglich ist, um die Entwicklung des Kindes nicht zu stören.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 63). Weggefallen ist § 57 Abs. 5 StVollzG; stattdessen lautet Abs. 5 der bayerischen Norm: „Gefangene haben Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, wenn diese notwendig sind, um 1. eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 2. einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken, 3. Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden oder 4. Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.“. Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung: „Abs. 5 wird der aktuellen Fassung des § 23 Abs. 1 SGB V angeglichen. Hierzu wird die Nr. 3 eingefügt. Die in § 57 Abs. 5 StVollzG geregelte Prophylaxe von Zahnerkrankungen wird gestrichen und stattdessen in Art. 151 übernommen. Als Altersgrenze wird entsprechend der Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung in § 22 Abs. 1 SGB V die Vollendung des 18. Lebensjahres festgesetzt. Die Regelung spielt daher lediglich im Jugendstrafvollzug eine Rolle.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 63). 2. Hamburg
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§ 57 Abs. 1 HmbStVollzG normiert: „Die Gefangenen haben Anspruch auf Gesundheitsuntersuchungen und medizinische Vorsorgeleistungen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 1 übernimmt im Kern die Grundsätze der Regelungen in § 57 Absätze 1 und 2 StVollzG, verzichtet aber mit Rücksicht auf § 63 Absatz 1 auf die detaillierte Aufzählung der in Betracht kommenden Maßnahmen, wie dies in § 57 StVollzG erfolgt ist.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 44 f; vgl. dazu § 61 Rdn. 7). § 57 Abs. 2 HmbStVollzG entspricht bis auf redaktionelle Anpassungen § 57 Abs. 4 StVollzG. Abs. 3 der landesrechtlichen Vorschrift korrespondiert mit § 57 Abs. 5 Satz 1 StVollzG. 3. Niedersachsen
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§ 57 NJVollzG lautet: „(1) Die oder der Gefangene hat Anspruch auf Schutzimpfungen, medizinische Vorsorgeleistungen, Gesundheitsuntersuchungen und Krankenbehandlung. Eine Gefangene hat für ihre Kinder, die mit ihr in der Anstalt untergebracht sind und das sechste Lebensjahr nicht vollendet haben, auch Anspruch auf Kinderuntersuchungen. (2) Krankenbehandlung umfasst 1. ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, 2. zahnärztliche Behandlung, 3. Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen, soweit diese nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzuges unverhältnismäßig ist, insbesondere weil die Behandlung bis zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt nicht abgeschlossen werden kann, 4. Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln, 5. Versorgung mit Hilfsmitteln, soweit dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzuges unverhältnismäßig ist, und 6. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen. Leistungen nach Satz 1 Nrn. 5 und 6 werden nur gewährt, soweit Belange des Vollzuges nicht entgegenstehen. Der Anspruch auf Leistungen nach Satz 1 Nr. 5 umfasst auch die ohne Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit der oder des Gefangenen verursachte notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch.
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Krankenbehandlung
§ 58
(3) Medizinische Vorsorgeleistungen umfassen die ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln nur nach Maßgabe des § 23 Abs. 1 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs. Für die Versorgung mit Hilfsmitteln gilt Absatz 2 Satz 1 Nr. 5, Sätze 2 und 3 entsprechend.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „§ 56 fasst die Regelungen der §§ 57 bis 59 StVollzG in einer Vorschrift zusammen und gewährt den Gefangenen gemäß dem Äquivalenzprinzip einen Anspruch auf Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen und auf Krankenbehandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln in entsprechender Anwendung der Regelungen für gesetzlich Krankenversicherte, soweit nicht bei einzelnen Leistungen aus vollzuglichen Gründen von den Regelungen des SGB V abgewichen werden muss.“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 137).
§ 58 Krankenbehandlung Gefangene haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst insbesondere 1. ärztliche Behandlung, 2. zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz, 3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, 4. medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sowie Belastungserprobung und Arbeitstherapie, soweit die Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen. VV 1 (1) Einen Gefangenen, der sich krank meldet, einen Unfall erleidet, einen Selbstmordversuch begeht oder sich selbst beschädigt, sowie einen Gefangenen, dessen Aussehen oder Verhalten den Verdacht nahelegt, dass er körperlich oder geistig erkrankt ist, zeigt der die Feststellung treffende Bedienstete schriftlich, notfalls mündlich voraus, dem Anstaltsarzt an. Wenn ärztliche Hilfe nicht sofort erforderlich erscheint, untersucht der Arzt den krankgemeldeten Gefangenen in der nächsten Sprechstunde. (2) Der Arzt stellt fest, ob der Gefangene als krank zu führen ist, ob er bettlägerig krank ist, in welchem Umfange er arbeitsfähig ist, ob er einer besonderen Unterbringung oder speziellen Behandlung bedarf oder ob er vollzugsuntauglich ist. 2 (1) Kann der Anstaltsarzt nicht erreicht werden, so wird in dringenden Fällen ein anderer Arzt herbeigerufen. (2) Hält es der Anstaltsarzt nach Art oder Schwere des Falles für erforderlich, zieht er einen anderen Arzt oder Facharzt hinzu. 3 Der Anstaltsleiter kann nach Anhören des Anstaltsarztes dem Gefangenen ausnahmsweise gestatten, auf eigene Kosten einen beratenden Arzt hinzuziehen. Die Erlaubnis soll nur erteilt werden, wenn der Gefangene den in Aussicht genommenen Arzt und den Anstaltsarzt untereinander von der ärztlichen SchweiWolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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gepflicht entbindet. Bei der Wahl des Zeitpunktes und der Bestimmung der Häufigkeit ärztlicher Bemühungen ist auf die besonderen räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse in der Anstalt Rücksicht zu nehmen. 4 (1) Die ärztlichen Verordnungen sind genau zu befolgen. Es ist darauf zu achten, dass Arzneimittel nicht missbraucht werden. Für die Einhaltung der ärztlichen Einnahmevorschrift ist der Gefangene in der Regel selbst verantwortlich. Bei einem Gefangenen mit Persönlichkeitsstörungen und für die Einnahme stark wirkender Arzneimittel kann angeordnet werden, dass Arzneimittel in Gegenwart eines Bediensteten einzunehmen sind. Bei Missbrauchsgefahr ist darauf zu achten, dass der Gefangene das Arzneimittel tatsächlich einnimmt, nach Möglichkeit durch Verabreichen in aufgelöstem Zustand. (2) Gifte und andere stark wirkende Arzneimittel hat der Arzt ständig unter sicherem Verschluss aufzubewahren. Alle anderen Arzneimittel sind so sicher unterzubringen, dass sie Unbefugten nicht zugänglich sind. (3) Es dürfen nur durch die Anstalt beschaffte Arzneimittel verwendet werden, es sei denn, der Anstaltsarzt lässt Ausnahmen zu. Diese Bestimmung gilt nicht für ärztlich verordnete Arzneimittel, die von einem Gefangenen beschafft werden, der in einem freien Beschäftigungsverhältnis steht. Schrifttum: Bisson Statement (zu: Psychisch Kranke im Strafvollzug), in: Hillenkamp/Tag Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 159–168; Fankhauser Wohin mit psychisch kranken Rechtsbrechern?, in: MschrKrim 1986, 130–138; Foerster Psychisch Kranke im Strafvollzug, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 143–157; Keppler Organisation der medizinischen Versorgung, in: Keppler/Stöver Gefängnismedizin, Stuttgart 2009a, 85–90; Keppler Versorgung in Krankenhäusern des Justizvollzuges, in: Keppler/Stöver 2009b aaO, 246–251; Konrad Psychiatrie, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 208–222; Lehmann Suizide und Suizidprävention in Haft, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 240–245; Löffler Freie Therapiewahl im Strafvollzug? ZfStrVo 2006, 9–16; Oberfeld Behinderung und Alter, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 234–239; Rex Aufsichtsstrukturen, Beschwerde- und Klagewege, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 96–100; Vahjen Qualitätsmanagement, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 106–117; Weyl Krankenpflege im Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 91–95; Zettel Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung, in: Schwind/Blau 1988, 193–208.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Leistungen im Erkrankungsfall 2. Der Behandlungsbegriff . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Der Bedienstete als Mittler zwischen Arzt und Patient . . 2. Die Aufgaben des Sanitätsbediensteten . . . . . . . . . 3. Ärztliche Untersuchung und Behandlung . . . . . . . . . . 4. Überweisung zum externen Facharzt . . . . . . . . . . . . 5. Hinzuziehung eines „WunschArztes“ . . . . . . . . . . . . 6. Die Arzneimittelverordnung . 7. Die zahnärztliche Versorgung
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6
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7–8
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8. Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln . . . . . . . . . . . . 18 9. Rehabilitationsmaßnahmen . 19 10. Belastungserprobung und Arbeitstherapie . . . . . . . . 20 III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 21–24 1. Unterbringung bei leichter Erkrankung . . . . . . . . . . . 22 2. Verlegung in die Krankenabteilung . . . . . . . . . . . . 23 3. Verlegung in ein Vollzugskrankenhaus . . . . . . . . . . 24 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 25–27 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 25 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 26 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 27
. 12–13 . 14–16 . 17
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Krankenbehandlung
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I. Allgemeine Hinweise 1. Leistungen im Erkrankungsfall Im Erkrankungsfall hat der Gefangene Anspruch auf Behandlung. Die Vollzugsbehörde 1 richtet sich bei ihren Leistungen in diesem Bereich weitgehend nach den Bestimmungen des SGB V. Dafür ruht der Anspruch des Gefangenen auf Krankenversicherung während der Straf- und Untersuchungshaft (BSG ZfStrVo 1983, 311; vgl. zur versicherungspflichtigen Tätigkeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis die gesetzliche Neuregelung des § 62a). Der Maßnahmenkatalog des § 27 SGB V ist mittlerweile allerdings umfassender als 2 der korrespondierende § 58 StVollzG, obwohl beide Normen in weiten Teilen wortgleich sind. 2. Der Behandlungsbegriff Behandlung aus ärztlicher Sicht dient der Wiederherstellung oder Besserung der Ge- 3 sundheit des Erkrankten. Konkret werden zwar Zahnersatz, sächliche Hilfsmittel und Rehabilitationsmaßnahmen angesprochen. In erster Linie ist jedoch die ärztliche Behandlung von Krankheiten gemeint (Nr. 3). VV Nr. 1 präzisiert, dass dabei an körperliche und geistige Krankheiten gedacht ist. Hier unterscheiden sich die Verhältnisse im Vollzug nicht von denen außerhalb der Anstalt. Psychiatrische Krankheitsbilder haben im Strafvollzug steigende Tendenz. Die von Missoni (ZfStrVo 1996, 143) bemängelte, schlechte Datenlage über das Ausmaß der psychiatrischen Auffälligkeiten im Vollzug hat sich inzwischen jedoch gebessert (hierzu s. Konrad 2009, 208 ff). Zudem entstehen immer mehr psychiatrische Abteilungen in den Gefängnissen Deutschlands (Bisson 2005, 159 ff; Keppler 2009a). Auch die ersten Modelle einer Verzahnung der Haftpsychiatrie mit der klinischen und/oder wissenschaftlichen Psychiatrie sind z. B. in Berlin und Baden-Württemberg (Foerster 2005, 143 ff; Bisson 2005, 159 ff) entstanden.
II. Erläuterungen 1. Der Bedienstete als Mittler zwischen Arzt und Patient Da der Gefangene Krankenbehandlungen von Beginn der Krankheit an erhält, ist es not- 4 wendig festzustellen, ob ein Krankheitsfall vorliegt. Es muss nicht auf das Auftreten gesundheitlicher Störungen allein geachtet werden, sondern auch darauf, ob ärztliche Hilfe erkennbar sofort erforderlich wird (VV Nr. 1). In der Praxis hat sich gezeigt, dass Patient und Vollzugsbediensteter in der Einschätzung einer Notfallsituation gelegentlich konträre Standpunkte vertreten. Der Bedienstete wird – auch wenn es sich aus seiner Sicht nicht um Realängste, sondern um Querulanzhaltung bei dem Gefangenen handelt – meist den Arzt verständigen, zumindest aber den Patienten in der nächsten Sprechstunde vorstellen. Es ist zu bedenken, dass der behandlungsbedürftige Gefangene sich in der Regel nicht 5 unmittelbar an den Arzt um Hilfe wenden kann, sondern im Vollzug eines Mittlers bedarf. Dies bedeutet, dass Patient und Arzt maßgeblich auf die Unterstützung anderer Vollzugsbediensteter angewiesen sind, wenn ärztliche Betreuung erfolgen soll. Aus diesem Grund besteht eine Meldepflicht des Vollzugsbediensteten. Gefangene, die in ihrer geistigen oder körperlichen Gesundheit beeinträchtigt sind, müssen dem Anstaltsarzt schriftlich, in Notfällen mündlich im Voraus angezeigt werden (VV Nr. 1 Satz 1). Hierbei trägt der Vollzugsbedienstete, insbesondere der Sanitätsbedienstete, eine erhebliche Verantwortung.
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2. Die Aufgaben des Sanitätsbediensteten
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Der Anstaltsarzt wird bei seiner Tätigkeit durch Sanitätsbedienstete unterstützt (vgl. zum Arbeitsfeld des Sanitätsbediensteten Weyl 2009, 91 ff; § 158 Rdn. 7–10). Dabei handelt es sich zunehmend auch um weibliche Bedienstete und angestellte Kräfte. Entscheidend sind fachliche Qualifikation und Vollzugserfahrung. Neben der Vorbereitung der Sprechstunde, der Führung des Buchwerks oder der Ausgabe von Arzneimitteln, assistiert der Sanitätsbeamte dem Arzt während der Sprechstunde und übernimmt die Pflege der erkrankten Gefangenen auf ärztliche Anweisung. In Notfällen ist der Sanitätsbeamte oftmals bis zum Eintreffen des Arztes auf sich allein gestellt und muss daher über gute Kenntnis lebensrettender Sofortmaßnahmen verfügen und diese für seinen Bereich anwenden können. Er muss außerdem in der Lage sein, Krankennottransporte ggf. möglichst rasch einzuleiten. Dies setzt Sach- und Menschenkenntnis, Geduld und Gutwilligkeit der vollzuglichen Krankenpflegekräfte, die in der Regel staatlich geprüfte Krankenpfleger oder -schwestern sein sollten voraus (Zettel 1988, 204 f; zur Delegation der Überwachungspflicht im Rahmen des § 92 auf einen Sanitätsbediensteten dort Rdn. 1). 3. Ärztliche Untersuchung und Behandlung
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Der Anstaltsarzt hat im Erkrankungsfall die notwendige Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst einzuleiten. Dies setzt voraus, dass die ärztliche Tätigkeit verbindlich geregelt ist, insbesondere durch regelmäßige Sprechstundenzeiten, Vertretungs- und Notfallregelungen und ggf. auch durch Hinzuziehung eines Facharztes (vgl. VV Nr. 2 Abs. 2). VV Nr. 1 Abs. 2 sieht vor, dass die bei Krankheitsverdacht stattfindende ärztliche Untersuchung auch über Arbeitsfähigkeit, Art der Unterbringung und Pflege und über die Vollzugstauglichkeit Aufschluss zu erbringen hat. Dies ist Teil der Fürsorgepflicht der Vollzugsbehörde. Zwar hat ein erkrankter Gefangener keinen Anspruch auf Krankengeld (BSG NStZ 1987, 382), eine ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit ermöglicht ihm aber, wenn § 45 in Kraft gesetzt sein wird, den Empfang einer Ausfallentschädigung. 8 Eine besondere Unterbringung, z. B. eines selbstmordgefährdeten Gefangenen in einem Gemeinschaftshaftraum, kann von lebensrettender Bedeutung sein, entlastet den Vollzug aber nicht von seiner Verantwortung (Lehmann 2009, 240 ff). Die qualifizierte, krankenpflegerische Beobachtung eines Gefangenen bei Krankheitsverdacht ermöglicht in einer Krankenabteilung eine genauere Diagnostik, bessere Therapie und ein schnelleres Eingreifen im Notfall. Das Vorliegen seelischer Störungen kann z. B. zu besonderen Sicherungsmaßnahmen Anlass geben, um Selbstbeschädigungen oder eine Gefährdung anderer Personen auszuschließen. In diesen Fällen muss der Anstaltsleiter Kenntnis erhalten. Ein kranker Gefangener wird zunächst auf seinem Haftraum verbleiben. In Fällen erforderlicher Absonderung – etwa bei Infektionsgefahr – oder bei Bedarf besonderer Pflege erfolgt seine Unterbringung in einer Krankenabteilung (vgl. § 65). 4. Überweisung zum externen Facharzt
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In VV Nr. 2 Abs. 2 wird ausdrücklich auf die Möglichkeit der Hinzuziehung eines Facharztes verwiesen (vgl. BT-Drucks. 7/818, 72; zum Rechtsanspruch des Gefangenen siehe OLG Hamm NStZ 1981, 240; eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung betreffend OLG Celle NStZ 1988, 383). Zum Ermessensspielraum des Anstaltsarztes gehört dabei auch die Veranlassung einer Psychotherapie, etwa der Transsexualität sofern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, weil der Störung wegen des Vorliegens eines schweren Leidensdruckes Krankheitswert zukommt (OLG Karlsruhe NJW 2001, 3422; vgl. dazu auch § 4 Abs. 3 Satz 1 TSG). Transsexuelle Patienten sind selten. Dennoch bedür-
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fen die bei Inhaftierung auftretenden Probleme für die Zukunft einer grundsätzlichen Regelung. Nach dem Transsexuellengesetz kann die Geschlechtsänderung in den Personalpapieren konstatiert werden, wenn ein psychiatrisch-psychologisches Gutachten vorliegt. Eine geschlechtsverändernde Operation ist dazu zunächst nicht erforderlich. Das führt in der Praxis dazu, dass der (noch) mit seinen primären Geschlechtsorganen ausgestattete Herr Peter X. als Frau Petra X. im Frauenvollzug inhaftiert werden muss. In gleicher Weise gilt das für Frau Alexandra Y., die mit (noch unveränderten) weiblichen Geschlechtsorganen als Herr Alexander Y. im Männervollzug inhaftiert wird. Auch wenn der Gefangene die Vorstellung bei einem bestimmten, von ihm gewünschten 10 Facharzt und die Durchführung einer bestimmten Behandlung verlangt, hat er auf beides jedoch keinen Rechtsanspruch. Vielmehr entscheidet der Anstaltsarzt nach eigenem ärztlichen Ermessen, ob und welcher Facharzt zur Diagnose und Behandlung heranzuziehen ist (OLG Hamm BlStV 4/5/1981, 7; KG NStZ 1985, 45 f; LG Krefeld NStZ 1986, 191; OLG Nürnberg, NJW 2000, 889). Die Vollzugsbehörde und der ihr unterstellte Anstaltsarzt haben lediglich eine notwendige fachärztliche Vorstellung des Betroffenen überhaupt und damit eine angemessene Untersuchung und eventuell auch Behandlung sicherzustellen (OLG Frankfurt NJW 1978, 2381 ff). Wesentlich ist dabei die Gleichwertigkeit der angebotenen Untersuchung. Diese Klarstellung ist für den im Vollzuge tätigen Arzt wichtig, denn es ereignet sich immer wieder, dass ein (insbesondere chronisch) erkrankter Gefangener nachdrücklich eine bestimmte Behandlung bei einem ihm bekannten Facharzt begehrt und diesem Verlangen nicht selten durch Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde besonderes Gewicht verleiht (vgl. Rex 2009, 96 ff). Die für den Gefangenen erforderliche Hinzuziehung eines Facharztes ist häufig mit 11 einer Ausführung verbunden. Hierdurch erwachsen der Vollzugsbehörde oftmals erhebliche Personal- und Sicherheitsprobleme. Da der Gefangene aber einen Rechtsanspruch auf eine fachärztliche Vorstellung hat, wenn seine Behandlung nur dadurch sichergestellt werden kann, muss die Behörde diese Vorstellung durchführen, falls nötig auch durch Ausführung. Dies gilt besonders dann, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Gefangenen abgewendet werden muss. Dieses Vorgehen wird durch § 35 gestützt (vgl. zudem OLG Hamm BlStV 4/5/1981, 7). Die von Gefangenen oft gewünschte Vorstellung bei einem externen Arzt ist kein Äquivalent zu der freien Arztwahl, da auch hier der Vollzug die Auswahl trifft. Das ist z. B. augenfällig bei mehreren Fachärzten der gleichen Fachdisziplin am Ort. Der Vollzug wird dann sicher denjenigen Facharzt wählen wird, der am besten und unkompliziertesten kooperiert. 5. Hinzuziehung eines „Wunsch-Arztes“ Wünscht der Gefangene die Hinzuziehung eines Arztes seines Vertrauens (VV Nr. 3), 12 wird damit in der Regel gleichzeitig auch Behandlung durch diesen Arzt gewünscht. Das Gesetz ermöglicht aber dem Gefangenen die Hinzuziehung eines beratenden Arztes auf eigene Kosten nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung ist, dass der Gefangene den in Aussicht genommenen Arzt und den Anstaltsarzt, den der Anstaltsleiter zunächst in dieser Angelegenheit gehört hat, untereinander von der ärztlichen Schweigepflicht befreit, VV Nr. 3 Satz 2. Auf eine Behandlung durch einen Arzt seiner Wahl hat der Gefangene jedoch keinen Anspruch. Das Gesetz spricht hier ausdrücklich nur von einer Beraterfunktion in Ausnahmefällen (so auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 178; KG ZfStrVo SH 1979, 65, sowie OLG Hamm NStZ 1981, 240; OLG Frankfurt NStZ 1985, 354; OLG Hamburg NJW 1982, 2133). Die vom Patienten gewünschte Hinzuziehung eines Arztes seiner Wahl ist selten und 13 kann Ausdruck eines tiefgreifenden Vertrauensschwundes zwischen Patient und Anstalts-
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arzt oder Patient und Vollzugsbehörde sein; andererseits ist der eigene „Privatarzt“ auch vollzugliches Statussymbol. Es ist zu bedenken, dass der Anstaltsarzt objektiv fast immer für eine angemessene fachärztliche Untersuchung und auch Behandlung entweder am Ort der Justizvollzugsanstalt selbst oder in ihrer näheren Umgebung sorgen kann (vgl. OLG Hamm BlStV 4/5 1981, 8) oder die Verlegung des Betroffenen nach § 65 in eine für seine Behandlung besser geeignete Krankeneinrichtung des Vollzuges veranlassen wird (vgl. Rex 2009, 96 ff). Bei der Hinzuziehung eines auf Kosten des Gefangenen gewählten Arztes handelt es sich um eine Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde, die nicht vom Merkmal der Notwendigkeit oder der Erforderlichkeit geprägt ist (OLG Hamm MDR 1979, 428). Einem Gefangenen nur ausnahmsweise einen Arzt seiner Wahl zu gestatten, steht zwar im Widerspruch zum Angleichungsgrundsatz (AK-Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 10). Auf die im Regierungsentwurf vorgesehene Möglichkeit der freien Arztwahl für den Gefangenen hat der Gesetzgeber indes verzichtet, da er die Missbrauchsgefahr einer solchen Regelung als zu gravierend ansah (C/MD 2008 Rdn. 5; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 178; Arloth 2008 Rdn. 1; Löffler 2006, 9 ff). Auch für die (psychologische) Psychotherapie, bei der möglicherweise wegen der sensiblen Besprechungsinhalte ein besonderes Interesse des Gefangenen an freier Wahl bestehen könnte, ist eine freie Wahl abschlägig beschieden (KG Berlin Beschl. v. 23.05.05, Az.: 5 Ws 168/05). 6. Die Arzneimittelverordnung
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Der Anstaltsarzt und die ihm unterstellten Sanitätsbeamten sind gehalten, der Arzneimittelverordnung und deren Durchführung ihr besonderes Augenmerk zu widmen. Zwar ist der Gefangene für die Einhaltung der ärztlichen Einnahmevorschrift in der Regel selbst verantwortlich, durch die häufige Begegnung mit den unterschiedlichen Suchtformen im Vollzug muss jedoch die Anwendung stark wirkender Arzneimittel (in der Regel Psychopharmaka) besonders sorgfältig gehandhabt werden. VV Nr. 4 Abs. 1 und 2 besagen, dass einer Missbrauchsgefahr vorzubeugen ist und daher angeordnet werden kann, dass stark wirkende Arzneimittel sowohl in aufgelöstem Zustand als auch in Gegenwart eines Bediensteten einzunehmen sind. Dies trifft vor allen Dingen auf suchtkranke, selbstmordgefährdete und anderweitig gestörte Gefangene zu. Die Einhaltung genauer Einnahmevorschriften und deren gewissenhafte Dokumentation sind ebenso notwendig wie die Aufbewahrung aller im Betäubungsmittelverzeichnis aufgeführten Medikamente unter sicherem Verschluss. Horten etwa Gefangene Arzneimittel in ihren Hafträumen, so ist die Vollzugsbehörde verpflichtet, diese entweder zu vernichten oder zur Habe des Gefangenen zu nehmen, um einem Arzneimittelmissbrauch in Haft entgegenzuwirken (OLG Hamm NStZ 1981, 158; OLG Nürnberg, ZfStrVo 2002, 179 f). 15 Die gesetzliche Bestimmung beugt einem möglichen Medikamentenmissbrauch zusätzlich durch die Anweisung vor, dass nur durch die Vollzugsanstalt beschaffte Arzneimittel Verwendung finden dürfen, es sei denn, der Anstaltsarzt lässt Ausnahmen zu (VV Nr. 4 Abs. 3 Satz 1). Diese sind dann möglich, wenn der Gefangene etwa bei seiner Verhaftung spezielle, für seine tägliche Behandlung notwendige Arzneimittel mit sich führt, die in der betreffenden Justizvollzugsanstalt nicht vorrätig sind und daher erst beschafft werden müssten. Ausgenommen von dieser Regel ist der im freien Beschäftigungsverhältnis stehende Gefangene (VV Nr. 4 Abs. 3 Satz 2, § 39 Rdn. 2 ff). Er wird nicht mehr durch die Vollzugsbehörde medizinisch versorgt, sondern ist Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse und wählt seinen Arzt unter den zur Verfügung stehenden Kassenärzten in der Umgebung selbst aus.
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Im Übrigen gelten für die Versorgung von Arzneimitteln und Verbandsstoffen zur ärzt- 16 lichen Behandlung die einem Wandel unterworfenen fachlichen Standards und die Richtlinien der Gesetzlichen Krankenversicherung. Teilweise erfährt die Kongruenz der Versorgung mit Arzneimitteln in den Systemen innerhalb und außerhalb des Strafvollzuges jedoch Einschränkungen. So können Strafgefangene auch bei sog. Bagatellerkrankungen einen Anspruch auf Versorgung mit rezeptfreien Medikamenten haben (OLG Hamburg, Beschl. v. 29.05.2006 Az.: 3 WS 47/06). Der Verordnungsausschluss rezeptfreier Medikamente des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist nicht ohne weiteres auf die Versorgung Strafgefangener übertragbar. 7. Die zahnärztliche Versorgung Für die zahnärztliche Versorgung der Gefangenen gelten ebenso die Regelungen der 17 gesetzlichen Krankenversicherung. Auch hier sind Zweckmäßigkeit und Angemessenheit ausschlaggebend für den Umfang der getroffenen Maßnahmen. In größeren Justizvollzugsanstalten erfolgt die zahnärztliche Versorgung der Gefangenen meist in der Justizvollzugsanstalt in regelmäßigen Sprechstunden durch einen vertraglich gebundenen Zahnarzt. Hierbei handelt es sich um die Durchführung einer fachärztlichen Tätigkeit, die durch den Anstaltsarzt veranlasst wird. Für die Versorgung der Gefangenen mit Zahnersatz und Zahnkronen sieht das Gesetz in § 62 eine zusätzliche Regelung vor. Für die freie Zahnarztwahl gelten die Regelungen der VV Nr. 3 entsprechend (s. auch § 62 Rdn. 1). 8. Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln Heil- und Hilfsmittel sind Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücke, orthopädische und an- 18 dere Hilfen im Sinne des § 58. Sie werden beschafft, geändert oder instandgesetzt, soweit es notwendig ist. Auch hier wendet die Behörde die von den Sozialversicherungsverbänden erarbeiteten gemeinsamen Richtlinien über die Ausstattung der Versicherten mit Hilfsmitteln an. Dies bedeutet eine Übernahme der Kosten zu Lasten des Landeshaushaltes entsprechend der Kostenübernahme durch die Gesetzliche Krankenversicherung. Die Kann-Bestimmung, die dem Gefangenen gestattet, auf eigene Kosten aufwändigere Leistungen in Anspruch zu nehmen, findet relativ häufig Anwendung. Die Notwendigkeit einer Brillenbeschaffung lässt sich durch fachärztliche Verordnung stützen (vgl. die Kommentierung bei § 59 StVollzG Rdn. 1). 9. Rehabilitationsmaßnahmen In Anlehnung an § 40 SGB V hat der Gefangene Anspruch auf medizinische und ergän- 19 zende Leistungen zur Rehabilitation. Dieser Anspruch besteht allerdings nur, soweit Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen. Gedacht ist dabei an schwerkriminelle Gefangene, die auch weiterhin eine Bedrohung der Öffentlichkeit darstellen. Im Gegensatz zu den Vorsorgeleistungen setzen Rehabilitationsmaßnahmen eine bestehende Krankheit voraus. Nach dem SGB V muss das Ziel der Rehabilitationsmaßnahme sein, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern oder aber einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation oder Leistungen zur allgemeinen sozialen Eingliederung gehören nicht zum Leistungsumfang. 10. Belastungserprobung und Arbeitstherapie Belastungserprobung und Arbeitstherapie sind Teilmaßnahmen der Rehabilitation. Ur- 20 sprünglich für Körpergeschädigte und anderweitig Behinderte gedacht (zur Unterbringung Behinderter im Vollzug vgl. Oberfeld 2009, 234 ff), muss dieser Begriff bei Strafgefangenen hier weiter ausgelegt werden, da sich auch Arbeitsbehinderungen denken lassen, die durch eine lange kriminelle Fehlentwicklung bedingt sind. Arzt und Sanitätsbedienstete bewegen
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sich hier im Grenzbereich zwischen Medizin, Psychologie und Pädadogik. Arbeitstherapie gibt es im Vollzug zur Zeit nur in Spezialeinrichtungen, die einen intensiven Behandlungsvollzug durchführen können. In Frage kommen hauptsächlich psychiatrische Abteilungen, sozialtherapeutische Anstalten und Einrichtungen für Drogentherapie. Die ärztliche Tätigkeit wird sich hier auf die Anregung der Maßnahmen und deren Überwachung beschränken. Belastungserprobung im Rahmen der Krankenpflege wird aufgrund der vollzuglichen Einschränkungen in der Regel nur in engen Grenzen möglich sein. Daher sind Kurmaßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach Erkrankungen im Vollzuge nicht darstellbar. Der Arzt kann jedoch einen Gefangenen nach überstandener Krankheit zunächst für einen versuchsweisen Arbeitseinsatz mit begrenzter Stundenzahl und Leistung vorschlagen und so einen Übergang unter steigender Belastung bis zur Volltätigkeit überwachen. Diese Maßnahmen können durch Einzel- oder Gruppensportangebote als Belastungstraining durch geeignete Sportübungsleiter nach Absprache mit dem Arzt unterstützt werden. Schließlich kann auch ein aus ärztlicher Sicht befürworteter Urlaub oder Ausgang eine wirkungsvolle Unterstützung einer Belastungserprobung sein. Hier besteht ein Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde, der einerseits durch die Entwicklung des Gesundheitswesens bedingt, andererseits durch die Grundsätze der §§ 2–4 begrenzt ist (AK-Boetticher/Stöver Rdn. 32).
III. Beispiele 21
Hat der Anstaltsarzt festgestellt, dass ein Gefangener erkrankt ist, muss er neben dem Umfang der Diagnostik und der nötigen Behandlung auch über die Art der Unterbringung des Erkrankten entscheiden. Hierzu stehen ihm folgende Möglichkeiten zur Verfügung: 1. Unterbringung bei leichter Erkrankung
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Wenn der Gefangene leicht erkrankt ist und keiner besonderen Pflege bedarf, kann er auf seinem Haftraum verbleiben. Dies ist z. B. bei fieberhaften Infekten der oberen Luftwege, Schädelprellungen, Fingerverletzungen, Fußgelenksprellungen der Fall. Der Gefangene kommt dann täglich zur Behandlung in die medizinische Ambulanz: z. B. zur Ausgabe von Medikamenten, Anlegen von Verbänden, Durchführung von Inhalationen. Nach Abschluss der Behandlung wird er dem Anstaltsarzt vorgestellt, der im Falle der Wiederherstellung die erneute Arbeitsfähigkeit bescheinigt. Hierüber sind Patient und Arzt häufig unterschiedlicher Auffassung. 2. Verlegung in die Krankenabteilung
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Der Gefangene ist bettlägerig erkrankt und bedarf der häufigeren ärztlichen Überwachung, einer qualifizierten Krankenbeobachtung und der Pflege durch Krankenpflegepersonal. Häufig ist zudem eine eingehendere Diagnostik notwendig. Hier stehen dem Arzt in der Regel Einrichtungen zur Verfügung, die dem Standard einer freien Allgemeinpraxis entsprechen. Zur speziellen Krankenpflege durch das Pflegepersonal (Rdn. 6) treten eine Reihe administrativer Aufgaben hinzu (vgl. Weyl 2009, 91 ff), wie Abhalten von Besuchen, Überwachungsaufgaben bei bestimmten Vorführungen, Wäschetausch, Umkleiden in der Kammer. Bei einfachen Tätigkeiten wie etwa Austeilen des Essens, Säuberung der Krankenräume und Beziehen der Betten kann sich das Krankenpflegepersonal der Mithilfe eines Gefangenen in Funktion eines sog. Hausarbeiters bedienen. Zwar ist die erforderliche Krankenpflege und Behandlung der Gefangenen gewährleistet, Arzt und Krankenpfleger bleibt aber kaum Zeit für eine angemessene Reaktion auf
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individuelle Sorgen des Patienten. Die Reaktion der Gefangenen auf den Aufenthalt in der Krankenabteilung ist unterschiedlich. Meist tritt eine Erholung rasch ein, so dass die Inhaftierten ihre Liegezeit verlängern möchten; andere fürchten Nachteile und lehnen eine Verlegung ab. Dies ist aktenkundig zu machen, nicht zuletzt um späteren Regressansprüchen entgegentreten zu können. 3. Verlegung in ein Vollzugskrankenhaus Die Verlegung eines erkrankten Gefangenen in ein Vollzugskrankenhaus setzt in der 24 Regel einen akuten, schwereren Krankheitszustand bei bestehender Transportfähigkeit voraus. Oft erfordert auch eine intensive stationäre Untersuchung die zeitweilige Verlegung. Ausstattung, fachliche Qualität und Schwerpunktsetzung der Vollzugskrankenhäuser sind in Deutschland sehr unterschiedlich (vgl. Keppler 2009b, 246 ff). Ohne Kooperation mit anderen Vollzugskrankenhäusern und externen Kliniken lässt sich in keinem Bundesland die komplette Versorgung innerhalb des Vollzuges organisieren. Richtungsweisend sind dabei Modelle der sog. echten Verzahnung wie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Keppler 2009b, 246 ff; § 65 Rdn. 17). Angesichts der Handlungsbeschränkungen des Gefangenen (fehlende freie Arztwahl usw.) und mit Blick auf den Angleichungsgrundsatz müsste die medizinische Versorgung in der Haft kompensatorisch besonders qualifiziert sein. Ein sichtbares Qualitätsmanagement (Vahjen 2009, 106 ff) für die „Haftmedizin“ mit Orientierung an zivile Gegebenheiten ist unabdingbar. Nach Abklingen des akuten Krankheitszustandes wird der Gefangene entweder sofort in den Normalvollzug zurückverlegt oder auf Nachsorgestationen untergebracht (zur Ablehnung der Krankenhausverlegung durch den Gefangenen, § 65 Rdn. 8–11; zur Behandlung in einem freien Krankenhaus § 65 Rdn. 6 f). Einen Sonderfall stellt die Verlegung und Behandlung psychisch kranker Strafgefangener in psychiatrische Behandlungseinrichtungen dar. Nicht alle Bundesländer verfügen im Justizbereich über geeignete stationäre Behandlungsmöglichkeiten (s. hierzu auch § 56 Rdn. 4, § 65 Rdn. 14, § 101 Rdn. 33–38; zu dieser Frage auch Fankhauser 1986, 130 ff).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 60 BayStVollzG entspricht weitgehend § 58 StVollzG. Zusätzlich eingefügt wurde 25 Satz 2 Nr. 5: „Krankenhausbehandlung“ (Vgl. dazu Art. 67 BayStVollzG, bei § 65 Rdn. 18). 2. Hamburg § 58 HmbStVollzG entspricht weitgehend § 58 StVollzG. Satz 2 Nr. 1 wurde allerdings 26 ergänzt und lautet nunmehr: „ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche oder psychologische Behandlung,“ Eingefügt wurde folgender Satz 2 Nr. 5: „Krankenhausbehandlung.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift entspricht weitgehend § 58 StVollzG. Satz 2 Nummer 1 stellt klar, dass ärztliche Behandlung auch Psychotherapie als ärztliche oder psychologische Behandlung umfasst, Satz 2 Nummer 5 bezieht klarstellend die Krankenhausbehandlung ausdrücklich in die Krankenbehandlung mit ein“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 45). 3. Niedersachsen
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Vgl. die Kommentierung bei § 57 Rdn. 14. Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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§ 59
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 59 Versorgung mit Hilfsmitteln Gefangene haben Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, sofern dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs ungerechtfertigt ist und soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Der Anspruch umfasst auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch, soweit die Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen. Ein erneuter Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen besteht nur bei einer Änderung der Sehfähigkeit um mindestens 0,5 Dioptrien. Anspruch auf Versorgung mit Kontaktlinsen besteht nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen. Schrifttum: Oberfeld Behinderung und Alter, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 234–239.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Verpflichtungen des Gesetzgebers 2. Sicherung des Erfolges einer Krankenhaus- und/oder Heilbehandlung . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Behinderte Gefangene im Justizvollzug . . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 2. Einschränkungen bei der Versorgung . . . . . . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Verpflichtungen des Gesetzgebers § 59 konkretisiert § 58 Nr. 3. Die Begründung für die vorliegende gesetzliche Bestimmung ergibt sich aus § 58 Satz 1. Hier wird festgelegt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Erfolg einer Krankenhausbehandlung zu sichern oder eine bereits bestehende Behinderung auszugleichen. Aus diesem Grunde hat der Gefangene Anspruch auf die für ihn erforderlichen Hilfsmittel. Die häufigste Inanspruchnahme des § 59 resultiert aus Brillenverordnungen. Gefangene haben die Kosten für Brillengestelle in Analogie zu § 33 Abs. 1 Satz 7 SGB V selbst zu tragen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 189). § 59 ist eng an die Ausführungen des SGB V angelehnt, wenngleich die aktuellen Neue2 rungen des § 33 SGB V nicht berücksichtigt sind. Die genannten vollzuglichen Einschränkungen (Kürze des Vollzuges, entgegenstehende Belange des Vollzuges) setzen der Kongruenz von StVollzG und SGB V Grenzen.
1
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Versorgung mit Hilfsmitteln
§ 59
2. Sicherung des Erfolges einer Krankenhaus- und/oder Heilbehandlung Während die Ausstattung mit Körperersatzstücken eine dauernde Behinderung voraus- 3 setzt, dienen orthopädische und andere Hilfsmittel nicht nur dem Ausgleich einer Behinderung, sondern können auch den Erfolg einer Heilbehandlung sichern. Seh- und Hörhilfen sind ausdrücklich den Hilfsmitteln zugeordnet. Auf Versorgung mit Kontaktlinsen besteht nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen ein Anspruch. Die hierfür maßgebenden Indikationen bestimmt der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien. Diese lassen in der Regel nur eine einfache Ausstattung mit den erforderlichen Hilfsmitteln zu. Grundsätzlich muss durch den Anstaltsarzt die Notwendigkeit festgestellt werden. Wünscht der Gefangene nach Art und Umfang eine über das Maß der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit hinausgehende Leistung, so kann die Behörde ihm gestatten, diese auf eigene Kosten in Anspruch zu nehmen. Ein Anspruch auf Hilfsmittel besteht nicht, wenn diese als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Nach der Rechtsprechung ist aber die Eigenschaft als Hilfsmittel anzuerkennen, wenn damit Grundbedürfnisse des Menschen erfüllt werden sollen, etwa Hilfsmittel zur Nahrungsaufnahme und zur Körperpflege (zur Gestattung der Benutzung eines Kopfkissens s. auch OLG Frankfurt NStZ 1986, 353). Grundsätzlich werden allgemeine Gebrauchsgegenstände nicht dadurch zum Hilfsmittel, dass sie behindertengerecht gestaltet sind. Keine anerkannten Hilfsmittel sind z. B. Angorawäsche, Heizkissen, Schlafmatratzen. Im Justizvollzug sind die Gefangenen mit allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens im erforderlichen Umfang ohnehin ausgestattet. Während § 63 die ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung konkretisiert, setzt § 59 schwerpunktmäßig medizinische Aspekte zur spezifischen Behandlung oder Heilung fest.
II. Erläuterungen 1. Behinderte Gefangene im Justizvollzug Bisher gibt es keine statistischen Daten über die Zahl der körperlich Behinderten im 4 Strafvollzug (Müller-Dietz ZfStrVo 1982, 94 ff; Oberfeld 2009, 234 ff). Zu den Arten der körperlichen Behinderungen zählen u. a. Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit, des Aussehens, des körperlichen Leistungsvermögens, der Seh-, Hör- und Sprachfähigkeit. Geistig Behinderte finden sich nur in geringem Maße im Vollzug (zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Unterbringung Behinderter im Strafvollzug sowie zur aktuellen Situation s. Oberfeld 2009, 234 ff). 2. Einschränkungen bei der Versorgung Die Einschränkung des Gesetzgebers, im Hinblick auf die Kürze (idR weniger als sechs 5 Monate, Arloth 2008 Rdn. 4) des Freiheitsentzuges die Versorgung eines Gefangenen mit z. B. Körperersatzstücken zu unterlassen, ist nicht immer unbedenklich. Kurze Freiheitsstrafen finden sich oftmals bei z. B. dissozialen Verwahrlosten oder Suchtkranken, vornehmlich bei Alkoholkranken, die mangelhaft oder nicht krankenversichert sind. Diese Klientel fiele daher der öffentlichen Hand zur Last. Aufgrund der vorhandenen Behinderung kommt häufig eine normale Eingliederung in das Arbeitsleben nicht mehr in Betracht. Eine im Vollzug nicht rechtzeitig erfolgende Versorgung mit Körperersatzstücken, etwa zur Wiederherstellung der Gehfähigkeit, würde häufig nicht nur z. B. eine Heimunterbringung erschweren, sondern auch die Ausstattung mit den nötigen Hilfsmitteln verzögern, da diese nun mit zeitlicher Verschiebung bei der öffentlichen Hand, z. B. bei den Sozialämtern, ein-
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§ 59
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
geleitet werden müsste. Aufgrund nachteiliger (auch medizinischer) Folgen erscheint daher die Maßnahme notwendig und ihre Aufschiebung unzumutbar (s. auch dazu; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 3; zur einschränkenden Wirkung kurzer Freiheitsstrafen bei Zahnersatz und Zahnkronen s. § 62 Rdn. 3). Im Gesetz werden die Belange des Vollzuges, die einer Ersatzbeschaffung, Instandsetzung sowie Änderung oder einer Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel entgegenstehen, nicht näher definiert. Sicherheitserfordernisse kämen allenfalls dann zum Tragen, wenn bei einer Ausbildung im Gebrauch von Hilfsmitteln (z. B. Gehschule) die Verlegung eines Gefangenen nach § 65 Abs. 2 in ein freies Krankenhaus erforderlich würde (vgl. Rdn. 6). Ähnliche Voraussetzungen wären auch im Fall einer vorübergehenden Heilbehandlung gegeben, falls die besonderen Krankeneinrichtungen des Vollzuges hierzu nicht in der Lage sind. Zu denken ist dabei an eine besondere Form der balneologischen, physikalischen und krankengymnastischen Übungsbehandlung, deren erfolgreiche Anwendung das Tragen eines Hilfsmittels (z. B. Schanz’scher Kragen oder Überbrückungsmieder) überflüssig werden ließe. Hierbei stehen sich die gesetzliche Bestimmung, dass der Gefangene einerseits Anspruch auf Hilfsmittel hat, die den Erfolg einer Heilbehandlung sichern und die eventuell entstehenden Sicherheitsbelange der Vollzugsbehörde andererseits entgegen. Der Anstaltsarzt muss daher die Notwendigkeit und Angemessenheit einer solchen Maßnahme besonders sorgfältig begründen.
III. Beispiel 6
Ein Gefangener, der acht Jahre vor dem Vollzug einer Freiheitsstrafe aufgrund eines Berufsunfalles beide Beine verlor, war mit Doppelprothesen ausgerüstet, die während seiner vierjährigen Freiheitsstrafe erneuerungsbedürftig wurden. Für die Kostenübernahme der Neubeschaffung kam ein freier Träger (Berufsgenossenschaft) vorrangig vor der Vollzugsbehörde auf. Nach Anfertigung und Auslieferung der Doppelprothesen wurde für den Gefangenen die Teilnahme an einer Gehschule notwendig, da er wegen seiner schweren Behinderung die erforderliche Gehfähigkeit nicht in ausreichendem Maße wiedererlangt hatte. Im Justizvollzug war aber eine solche Einrichtung nicht vorhanden. Die Vollzugsbehörde verlegte daher im Interesse des Ausgleichs der körperlichen Behinderung im Sinne der gesetzlichen Vorschrift (§ 59 Satz 1) den Gefangenen nach § 65 Abs. 2 in eine orthopädische Krankeneinrichtung. Für die entstehenden Kosten kam erneut der freie Träger auf (vgl. auch Rdn. 5). In einigen Fällen ist auch eine Mischfinanzierung von Vollzug und freiem Träger möglich. Die Versorgung mit einer Insulinpumpe bei einem jugendlichen, gut geschulten Diabetiker oder die Beschaffung eines nachts anzuwendenden Atemhilfsgerätes bei Schlafapnoesyndrom (nächtliches Atemdefizit mit akutem Mortalitätsrisiko und vielfältigen chronischen cerebralen und cardio-vasculären Folgen) sind Beispiele dafür.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 61 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayStVollzG entsprechen weitgehend § 59 Satz 1 und 2 StVollzG. Angefügt wurde folgender Abs. 2: „Ein Anspruch auf Sehhilfen besteht nur, wenn der oder die Gefangene auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung im Sinn des § 33 Abs. 1 Satz 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch aufweist. Liegen diese Voraussetzungen
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Krankenbehandlung im Urlaub
§ 60
nicht vor, können Gefangene Sehhilfen erhalten, wenn sie die Kosten tragen oder wenn sie bedürftig sind. Ein Anspruch auf therapeutische Sehhilfen besteht, wenn diese der Behandlung von Augenverletzungen oder Augenerkrankungen dienen. Anspruch auf Versorgung mit Kontaktlinsen besteht nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen. Ein erneuter Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen besteht nur bei einer Änderung der Sehfähigkeit um mindestens 0,5 Dioptrien.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „In Abs. 2 Satz 1 wird der Anspruch auf Sehhilfen entsprechend der Regelung in § 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V auf zwingend medizinisch notwendige Ausnahmefälle begrenzt. Derartige Ausnahmen liegen dann vor, wenn Gefangene aufgrund ihrer Sehschwäche oder Blindheit entsprechend der von der WHO empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen. Der Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen umfasst auch das Brillengestell. Ferner können Gefangene, bei denen diese Voraussetzungen nicht vorliegen, dennoch nach Abs. 2 Satz 2 Sehhilfen erhalten, wenn sie sie aus eigener Tasche zahlen. Sind sie hierzu nicht in der Lage, können sie die Sehhilfen ausnahmsweise auch auf Kosten der Anstalt bekommen. Mit dieser Vorschrift wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Gefangenen im Gegensatz zu freien Bürgern keine Möglichkeit haben, sich selbst bei Bedarf im Optikergeschäft Sehhilfen zu besorgen.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 63). 2. Hamburg § 59 HmbStVollzG normiert: „Gefangene haben Anspruch auf Versorgung mit Seh- und 8 Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, sofern dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des verbleibenden Freiheitsentzugs ungerechtfertigt ist. Der Anspruch umfasst auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch, soweit Belange des Vollzuges dem nicht entgegenstehen.“ 3. Niedersachsen
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Vgl. die Kommentierung bei § 57 Rdn. 14.
§ 60 Krankenbehandlung im Urlaub Während eines Urlaubs oder Ausgangs hat der Gefangene gegen die Vollzugsbehörde nur einen Anspruch auf Krankenbehandlung in der für ihn zuständigen Vollzugsanstalt. VV Dem Gefangenen kann in der nächstgelegenen Vollzugsanstalt ambulante Krankenpflege gewährt werden, wenn eine Rückkehr in die zuständige Anstalt nicht zumutbar ist. Schrifttum: Dargel Kostentragungspflicht der Vollzugsbehörden für die Heilbehandlung kranker Gefangener ZfStrVo 1983, 333 339.
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§ 60
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Folgen aus § 60 – Verhinderung von Missbrauch . . . . . . . . . 2. Versorgung bei Unfällen und Notfällen im Urlaub . . . . . . . . III. Beispiel 1. Kostenübernahme bei Notfall
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2
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Rdn. während eines Ausganges und anschließender Versorgung in einem freien Krankenhaus . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Während eines Hafturlaubs (§ 13) oder Ausgangs hat der Gefangene keinen Anspruch auf freie Arztwahl oder Pflege in einem von ihm ausgewählten Krankenhaus. Er ist vielmehr verpflichtet, im Krankheitsfall seine für ihn zuständige, zumindest aber die nächstgelegene Vollzugsanstalt aufzusuchen, die dann die erforderliche ärztliche Behandlung und Krankenpflege sicherzustellen hat (s. VV). Der gesetzlichen Bestimmung liegt die Tatsache zugrunde, dass Urlaub nach § 13, § 15 und § 35 und auch ein nach § 11 gewährter Ausgang die Strafvollstreckung nicht unterbrechen und daher die Fürsorgepflicht im Krankheitsfall auch weiterhin von der Vollzugsbehörde übernommen werden muss. Auf diese Situation wird der Gefangene bei Urlaubsantritt hingewiesen. Wichtig ist in diesem Falle die Begrenzung des Anspruches des Gefangenen durch den Gesetzgeber auf die entsprechenden Einrichtungen der Justizvollzugsanstalten (vgl. hierzu auch Dargel ZfStrVo 1983, 337). Hierbei hat der Gesetzgeber keine Unterscheidung zwischen „normalen“ Krankheitsfällen und Notund Eilfällen getroffen. Der Urlaub nach § 13 StVollzG hat nach Auffassung des LG Frankfurt (NStZ 1984, 190) grundsätzlich nicht die Aufgabe, den Gesundheitszustand eines Gefangenen zu verbessern, sein etwa angegriffener Gesundheitszustand kann aber andererseits nicht automatisch zur Urlaubsversagung führen. § 60 StVollzG kann einer Urlaubsgewährung nicht entgegenstehen.
II. Erläuterungen 1. Folgen aus § 60 – Verhinderung von Missbrauch
2
Wie C/MD (2008 Rdn. 2) zutreffend ausführen, tritt die gesetzliche Bestimmung einem möglichen Missbrauch entgegen, der etwa dann eintreten könnte, wenn Gefangene, die häufig Anspruch auf Urlaub haben, die gesamte medizinische Behandlung auf Kosten der Justizvollzugsanstalt durch einen freien Arzt durchführen ließen (bestätigend auch AK-Boetticher/Stöver Rdn. 3 und Arloth 2008 Rdn. 1 f). 2. Versorgung bei Unfällen und Notfällen im Urlaub
3
Bei Unfällen oder Notfällen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge ist die vorliegende Bestimmung häufig dann nicht zu erfüllen, wenn eine sofortige Behandlung des Betroffenen erforderlich wird. Meist wird der Gefangene dann zunächst ohne Einschaltung der Justizbehörde sofort in eine freie Krankenhauseinrichtung verbracht und behandelt. Ohne Haftunterbrechung ist die Vollzugsbehörde verpflichtet, über Sicherheitsmaßnahmen zu entscheiden und zu prüfen, ob der Gefangene nach Wiedereinsetzen seiner Transportfähigkeit in ein Vollzugskrankenhaus verlegt werden kann. Falls der Gefangene wegen mangeln-
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Krankenbehandlung im Urlaub
§ 60
der Transportfähigkeit ohne Strafunterbrechung in einem öffentlichen Krankenhaus verbleibt, ist die Vollzugsbehörde gehalten, nach § 65 Abs. 2 (vgl. § 65 Rdn. 15 f) zu verfahren. Das betrifft nach einer Entscheidung des VGH Kassel (NJW 1992, 1583) zumindest den Zeitraum nach Ablauf des regulär geplanten Hafturlaubes. Während des Hafturlaubes treffen bei solchen Notfallbehandlungen die Kosten den Gefangenen, auch wenn sie möglicherweise von einem freien Versicherungsträger oder dem Sozialamt übernommen werden. Im Übrigen ist die Zeit des Krankenhausaufenthaltes des Gefangenen außerhalb des Vollzuges bei nicht erfolgter Haftunterbrechung grundsätzlich auf die Strafe anzurechnen (OLG Hamm NStZ 1983, 287).
III. Beispiel 1. Kostenübernahme bei Notfall während eines Ausganges und anschließender Versorgung in einem freien Krankenhaus Ein Gefangener verunglückt während eines Ausganges durch Sturz auf einer überfrore- 4 nen Fahrbahn. Fremdverschulden ist auszuschließen. Mit Hilfe eines Rettungswagens wird er in das nächstgelegene Krankenhaus und von dort in die Universitätsklinik einer Nachbarstadt gebracht, wo der der Schwerverletzte noch am gleichen Tag verstirbt. In diesem Falle müssen alle entstandenen Kosten einschließlich des Krankennottransportes vom Gefangenen selbst oder von einem freien Versicherungsträger übernommen werden. Obgleich es sich um eine Notversorgung handelt, muss die Justizvollzugsbehörde die Kostenübernahme ablehnen, denn die gemäß § 60 geschaffene Rechtslage verpflichtet die Justizbehörden in diesem Fall nicht zur Übernahme der Kosten für die ärztliche Betreuung und die hiermit verbundenen Krankentransporte, da es sich um eine Behandlung außerhalb des Vollzuges handelte (vgl. hierzu auch C/MD 2008 Rdn. 1; BT-Drucks. 7/3998, 26). Diese vom Gesetzgeber ersichtlich gewollte Regelung hält Arloth (2008 Rdn. 2) für dem Resozialsierungsgedanken widersprechend und nach den Maßstäben der Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 98, 169) zum Arbeitsentgelt für verfassungswidrig (vgl. dazu auch AK-Boetticher/ Stöver 2006 Rdn. 4: Geschäftsführung ohne Auftrag, §§ 677, 679, 683 BGB).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 62 BayStVollzG entspricht, von redaktionellen Änderungen abgesehen, § 60 5 StVollzG. 2. Hamburg § 65 HmbStVollzG lautet: „(1) Während einer Freistellung von der Haft oder eines Aus- 6 gangs haben die Gefangenen gegen die Vollzugsbehörden nur einen Anspruch auf Krankenbehandlung in den für sie zuständigen Anstalten. (2) Der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 57 bis 59 ruht, solange die Gefangenen auf Grund eines freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 36 Absatz 1) krankenversichert sind.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift übernimmt die Regelungen in §§ 60 und 62a StVollzG, fasst sie zusammen und passt sie redaktionell an.“ (BürgerschaftsDrucks. 18/6490, S. 45).
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
3. Niedersachsen
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§ 58 1. HS. NJVollzG entspricht, abgesehen von redaktionellen Änderungen, § 60 StVollzG. Angefügt wurde folgender 2. HS.: „. . . in Notfällen wird der oder dem Gefangenen Krankenbehandlung auch in der nächstgelegenen niedersächsischen Anstalt gewährt.“
§ 61 Art und Umfang der Leistungen Für die Art der Gesundheitsuntersuchungen und medizinischen Vorsorgeleistungen sowie für den Umfang dieser Leistungen und der Leistungen zur Krankenbehandlung einschließlich der Versorgung mit Hilfsmitteln gelten die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuches und die auf Grund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen. Schrifttum: Kirschke Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis – Zwei-KlassenMedizin?, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 121–138; Meier Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 35–55; Meier Äquivalenzprinzip, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 76–84.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Äquivalenz zum SGB V . . . . . 2. Leistungspflicht anderer Kostenträger . . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der freien Heilfürsorge
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Rdn. 2. Arznei- und Verbandsmittel 3. Heil- und Hilfsmittel . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Äquivalenz zum SGB V
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§ 61 weist gesondert auf Art und Umfang der Leistungen hin, die die Vollzugsbehörde bei den Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten und den Leistungen der Krankenbehandlung einschließlich der Versorgung mit Hilfsmitteln gewährt. Ebenso wie in § 57, § 58 und § 59 (s. dortige Kommentierung: § 57 Rdn. 2, § 58 Rdn. 1 f, § 59 Rdn. 2), lehnen sich die Leistungen, die der Vollzug für diese Bereiche erbringt, eng an die entsprechenden Vorschriften des SGB V einschließlich der aufgrund von § 92 SGB V beschlossenen Richtlinien an (zum Äquivalenzprinzip vgl. Meier 2009, 76 ff), soweit nicht durch die Strafvollzugsgesetzgebung Begrenzungen gegeben sind. Letztere betreffen z. B. Anschlussheilverfahren, besondere Empfehlungen von Bewegungstherapie, soweit kein dringendes Erfordernis besteht, Belastungserprobung und Arbeitstherapie (§ 58 Rdn. 20). Weitere allgemeine Einschränkungsgründe sind die Kürze des Vollzuges und entgegenstehende Belange des Vollzuges. Für Gesundheitsuntersuchungen ist § 25 SGB V einschlägig, für die medizinischen Vorsorgeleistungen § 23 SGB V, für den Umfang der Leistungen § 2 und § 11 SGB V, für die
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Art und Umfang der Leistungen
§ 61
Krankenbehandlung § 27 SGB V, für die Versorgung mit Hilfsmitteln § 33 SGB V. Wichtig im Äquivalenz-Zusammenhang sind zudem § 34 SGB V (Ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel) und § 12 SGB V (Wirtschaftlichkeitsgebot) i. V. m. den in § 2 SGB V festgelegten Geboten (Wirksamkeit und notwendiger Umfang). Grundsätzlich gilt, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirksam sein müssen, und dass sie aus Gründen der Wirtschaftlichkeit das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen (vgl. Meier 2005, 35 ff und Kirschke 2005, 121 ff). 2. Leistungspflicht anderer Kostenträger In Einzelfällen kann für den Gefangenen darüber hinaus eine Leistungspflicht eines an- 2 deren Kostenträgers bestehen, z. B. die des Versorgungsamtes oder bei Arbeitsunfällen der Berufsgenossenschaft. In solchen Fällen tritt dann dieser Kostenträger vor der Vollzugsbehörde ein (C/MD 2008 zu § 61; AK-Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 2).
II. Erläuterungen 1. Grundsatz der freien Heilfürsorge Das Strafvollzugsgesetz geht von dem Grundsatz der freien Heilfürsorge für Gefangene 3 aus. Alle Maßnahmen im Rahmen der Gesundheitsfürsorge (ausgenommen Zahnersatz, vgl. § 62 Rdn. 2 f) sind dem Gefangenen kostenlos zu gewähren. Die Vorschriften des SGB V und die aufgrund dieser Vorschrift getroffenen Regelungen können daher auf Gefangene nur insoweit Anwendung finden, als sie Art und Umfang der Leistung in ihrem sachlichen Inhalt festlegen. Soweit diese Bestimmungen aber eine Kostenbelastung für den Patienten vorsehen (z. B. Zuzahlungen, nicht kostendeckende Festbeträge), kann eine Anwendung auf Strafgefangene nicht in Betracht kommen. Die Ausgabe von Medikamenten an den erkrankten Gefangenen etwa unterscheidet sich grundsätzlich von der Verschreibung für freie Patienten (§ 58 Rdn. 14 f). Im Übrigen haben auch die Krankenkassen den Patienten von der Zuzahlung zu befreien, wenn dieser unzumutbar belastet wird. Dies ist nach § 62 SGB V u. a. dann der Fall, wenn die Zuzahlung der Höhe nach eine festgelegte finanzielle Belastungsgrenze überschreitet. Hier lässt sich ein Vergleich mit den Arbeitseinkommen von Gefangenen, soweit sie nicht der Selbstbeschäftigung nachgehen oder sich im freien Beschäftigungsverhältnis befinden, ohnehin nur schwer ziehen. Die Bestimmungen finden deshalb auf Gefangene keine Anwendung. Vielmehr sind die notwendigen Kosten vom Justizvollzug zu übernehmen (ebenso Arloth 2008 § 58 Rdn. 1, 5). Eine über die abschließende Regelung des Haftkostenbeitrags durch § 50 hinausgehende Kostenbeteiligung bei der Heilfürsorge ist im StVollzG, abgesehen von den Fällen der §§ 62, 63, nicht vorgesehen. Wie im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung sind auch im Justizvollzug in den letzten Jahren die Kosten der ärztlichen Betreuung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln kontinuierlich gestiegen. Mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Modernisierungsgesetz (GMG, BGBl. 2003/I, S. 2190 ff) wurde im Anwendungsbereich des SGB V eine Kostendämpfung angestrebt. Entsprechende Änderungen im StVollzG sind nicht erfolgt. Eine Beteiligung der Gefangenen an den Kosten der Gesundheitsfürsorge ist daher nicht möglich (OLG Koblenz Beschl. v. 19.4. 2006, Az.: 1 Ws 833/05).
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
2. Arznei- und Verbandsmittel
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Zur Versorgung der Gefangenen mit Arznei- und Verbandsmitteln erarbeitet der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen Richtlinien, für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge bestimmt werden können. Da diese kostendeckend sind, bilden sie auch bei der Versorgung von Gefangenen mit Arzneimitteln in den betreffenden Fällen die Obergrenze der Leistungspflicht des Justizvollzugs. Nicht gelten kann aber die in § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB V enthaltene Regelung, wonach Arzneimittel zur Anwendung bei Bagatellerkrankungen von der Leistungspflicht ausgeschlossen sind. Dies verbietet sich schon allein wegen der Einkommensverhältnisse der Gefangenen, aber auch wegen der eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Inhaftierten. Gefangene können zudem auch bei Bagatellerkrankungen Anspruch auf die Abgabe von rezeptfreien Medikamenten haben (OLG Hamburg Beschl. v. 29.5.2006 Az.: 3 WS 47/06; vgl. § 58 Rdn. 16; Arloth 2008 § 58 Rdn. 5). Gleichwohl dürfen unwirtschaftliche Arzneimittel, die für das Therapieziel oder die Minderung von Risiken nicht erforderliche Bestandteile enthalten oder deren Wirkung wegen der Vielzahl der enthaltenen Wirkstoffe nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden kann, Gefangenen eigentlich nicht verordnet werden. 3. Heil- und Hilfsmittel
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Heil- und Hilfsmittel sind den Gefangenen kostenlos zu gewähren. Dies trifft auch auf solche Mittel von geringem Abgabepreis und auf geringfügige Kosten der notwendigen Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie der Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel zu. Ein erneuter Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen besteht nur bei Änderung der Sehfähigkeit um mindestens 0,5 Dioptrien. Dies muss augenärztlich festgestellt werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 382). Eine Versorgung mit Kontaktlinsen erfolgt nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen. Die Kosten für Brillengestelle haben Strafgefangene in Analogie zu § 33 Abs. 1 Satz 7 SGB V selbst zu tragen (OLG Frankfurt Beschl. v. 22.2.2006, Az.: 3 Ws 545/05; vgl. § 59 Rdn. 1).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 63 Abs. 1 BayStVollzG entspricht § 61 StVollzG. Art. 63 Abs. 2 BayStVollzG lautet: „Gefangene können an den Kosten der Krankenbehandlung im Sinn des Art. 60 in angemessenem Umfang beteiligt werden. Für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel werden in der Regel die vollen Kosten erhoben.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Abs. 2 Satz 1 stellt eine gesetzliche Grundlage für die Kostenbeteiligung an der gesamten Krankenbehandlung im Sinn des Art. 60 dar. Auf eine dem § 62 StVollzG entsprechende Vorschrift, die lediglich eine Kostenbeteiligung bei der Versorgung mit Zahnersatz regelt, kann daher verzichtet werden. Abs. 2 Satz 2 eröffnet der Justizvollzugsanstalt die Möglichkeit, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel gegen Kostenerstattung abzugeben. Wenn die gesetzlich versicherte Person die Kosten für diese Arzneimittel selbst tragen muss, gibt es keinen Grund, nicht zumindest die Möglichkeit zu eröffnen, dies im Strafvollzug entsprechend zu handhaben. Durch die Möglichkeit einer Kostenerstattung bleibt dem Justizvollzug genügend Spielraum, die Haftsituation zu berücksichtigen und auch diese Arzneimittel gegebenenfalls kostenfrei abzugeben. Die Abgabe muss über die Justizvollzugsanstalten erfolgen, so dass dem oder der einzelnen Gefangenen kein Anspruch gegeben wird, nach Belieben nicht verschreibungspflichtige Medikamente über Dritte zu beziehen.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 64)
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Art und Umfang der Leistungen
§ 61
2. Hamburg § 60 HmbStVollzG lautet: „(1) Art und Umfang der Gesundheitsuntersuchungen und 7 medizinischen Vorsorgeleistungen (§ 57), der Leistungen zur Krankenbehandlung (§ 58) und der Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 59) entsprechen den Leistungen nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches und den auf Grund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen. (2) An den Kosten für Leistungen nach den §§ 57 bis 59 können die Gefangenen in angemessenem Umfang beteiligt werden, höchstens jedoch bis zum Umfang der Beteiligung vergleichbarer gesetzlich Versicherter. (3) Für Leistungen, die nach Art oder Umfang über das in Absatz 1 genannte Maß hinausgehen, können den Gefangenen die gesamten Kosten auferlegt werden.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen § 61 StVollzG und präzisiert das so genannte Äquivalenzprinzip, nach dem die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, aber aus Gründen der Wirtschaftlichkeit das Maß des Notwendigen nicht übersteigen darf. Maßstab dafür bilden die Regeln der ärztlichen Kunst und die für die kassenärztliche Versorgung geltenden Richtlinien.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 45). Zu den Abs. 2 und 3 wird ausgeführt: „In Absatz 2 wird klargestellt, dass den Gefangenen für Leistungen der Gesundheitsfürsorge höchstens Kosten bis zum Umfang der Beteiligung vergleichbarer gesetzlich Versicherter auferlegt werden können. Absatz 3 berücksichtigt, dass Leistungen, die über den Anspruch nach Absatz 1 in Verbindung mit den §§ 57 bis 59 hinausgehen, ebenfalls erbracht werden können. Bei gesetzlich Versicherten würde dies die Kostenübernahme durch die Leistungsempfänger selbst voraussetzen. Aus diesem Grund können den Gefangenen die Kosten für entsprechende Leistungen ganz oder teilweise auferlegt werden.“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, S. 58). 3. Niedersachsen § 59 NJVollzG lautet: „Für Art und Umfang der in § 57 Abs. 1 genannten Leistungen gel- 8 ten die Vorschriften des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs und die aufgrund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen entsprechend, soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs von der Versorgung ausgeschlossene Arznei-, Heil- oder Hilfsmittel können der oder dem Gefangenen zur Verfügung gestellt werden, soweit dies medizinisch angezeigt ist.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift . . . bestimmt für die in § 56 des Entwurfs vorgesehenen Leistungen die entsprechende Geltung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung. Allerdings beschränkt sich der Anspruch der Gefangenen auf die ausdrücklich in § 56 des Entwurfs genannten Leistungen einschließlich der dort geregelten Abweichungen. Die Entwurfsvorschrift stellt überdies klar, dass das einschlägige Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur für Art und Umfang der Gesundheitsuntersuchungen, medizinischen Vorsorgeleistungen, Krankenbehandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, sondern auch für die Entstehung und den Ausschluss dieser Leistungen entsprechende Anwendung findet. So sieht § 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V allgemein vor, dass auf Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, kein Anspruch besteht. Das Wirtschaftlichkeitsgebot wird im SGB V bei den einzelnen Leistungen durch spezielle Ausformungen der Anspruchsvoraussetzungen konkretisiert. Nach der Entwurfsvorschrift soll das Wirtschaftlichkeitsgebot auch für die Leistungsansprüche der Gefangenen gelten.“ (LT-Drucks.15/3565, S. 140).
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§ 62
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 62 Zuschüsse zu Zahnersatz und Zahnkronen Die Landesjustizverwaltungen bestimmen durch allgemeine Verwaltungsvorschriften die Höhe der Zuschüsse zu den Kosten der zahnärztlichen Behandlung und der zahntechnischen Leistungen bei der Versorgung mit Zahnersatz. Sie können bestimmen, dass die gesamten Kosten übernommen werden. Schrifttum: Nikolai Zahnmedizin im Strafvollzug, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 268–271.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Kostenübernahme, Zuschüsse . .
1 2–3 2
Rdn. 2. Auswirkung der Strafdauer . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
3 4 5
I. Allgemeine Hinweise 1
§ 62 ergänzt und konkretisiert § 58 Nr. 2. Die Vorschrift entspricht in keiner Weise den Regelungen des § 30 SGB V. Grundsätzlich wird den Landesjustizverwaltungen die Möglichkeit eingeräumt, durch allgemeine Verwaltungsvorschriften die Höhe der Zuschüsse zu den Kosten der zahnärztlichen Behandlung und der zahntechnischen Leistungen bei der Versorgung mit Zahnersatz selbst zu bestimmen. Der im SGB V verwendete Begriff des Festbetrages ist hier nicht erwähnt. Die Zuzahlungsregelung des § 61 SGB V und die Regelung der Belastungsgrenzen in § 62 SGB V sollte aber zumindest in ihrem Anliegen beachtet werden (vgl. auch Arloth 2008 Rdn. 3 f). In Anbetracht der relativ geringen Einkünfte der Gefangenen kommt eine höhere Selbstbeteiligung meist nicht in Betracht. Das Versorgungsziel stellt eine ausreichende Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit des Kauorgans dar, die geeignet ist, eine dauernde Beeinträchtigung zu verhindern. Art und Umfang des notwendigen Zahnersatzes bestimmt der Zahnarzt. Er muss den Zahnersatz wählen, der am wirtschaftlichsten ist (Nikolai 2009, 268 ff). Andernfalls muss der Patient bereit sein, die eventuellen Mehrkosten zu tragen. Diese Feststellungen beziehen sich auch auf Brücken und Zahnkronen und betreffen Untersuchungs- und Strafgefangene (vgl. aber Rdn. 4).
II. Erläuterungen 1. Kostenübernahme, Zuschüsse
2
In der Praxis gewährt die Justizverwaltung dem Gefangenen bisher bei Zahnersatz einen Zuschuss, dessen Höhe länderunterschiedlich durch allgemeine Verwaltungsvorschriften bestimmt wird (LG Arnsberg Beschl. v. 17.4.1978, Az.: 7 Vollz 3/78; OLG Hamm ZfStrVo 1982, 255; ZfStrVo 1984, 255; OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 313 bezüglich aller Untersuchungsgefangener). Die Landesjustizverwaltungen können aber auch die gesamten Kosten übernehmen. Diese Sonderregelung sollte vor allem bedürftigen Gefangenen zugebilligt werden. Dies ist allgemein bei Mittellosigkeit des Gefangenen gegeben (vgl. hierzu
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Zuschüsse zu Zahnersatz und Zahnkronen
§ 62
OLG Hamm NStZ 1990, 559; OLG Schleswig Beschl. v. 30.8.1990, Az.: 2 Vollz Ws 263/90). Die Festsetzung der Höhe der Zuschüsse ist in das Ermessen der Vollzugsbehörde gestellt (Rdn. 1). Lediglich die Feststellung der Bedürftigkeit unterliegt der uneingeschränkten Nachprüfung durch das Gericht (LG Freiburg ZfStrVo 1994, 374 f). Aufgrund der mitunter beträchtlichen Höhe der Kostenbelastung bei Zahnersatz kann der Strafgefangene über einen langen Zeitraum finanziell erheblich belastet werden. Daraus ergibt sich, dass es „unbillig ist, wenn die Bedürftigkeit sich nur nach der wirtschaftlichen Lage des Gefangenen in einem Monat richten sollte . . .“ (OLG Hamm ZfStrVo 1991, 186). Grundsätzlich richtet sich jede Kostenübernahme nach der Notwendigkeit der durchzuführenden Behandlung (vgl. zur Gesamtdarstellung auch Nikolai 2009, 268 ff). Ist diese nicht notwendig und vom Gefangenen dennoch gewünscht, so muss er die entstandenen Kosten selbst tragen. Sind Zahnersatz oder Krone nur zweckmäßig, so wird der Gefangene an den Kosten in angemessener Höhe beteiligt. Eine Kostenübernahme aus Gründen der Kosmetik wird durch die Landeskasse nur dann getragen, wenn etwa eine Begründung nach § 63 vorliegt (C/MD 2008 Rdn. 2). 2. Auswirkung der Strafdauer Im Gesetz findet sich kein Hinweis auf die Länge der Strafdauer bei der Gewährung von 3 Zuschüssen (anders bei § 59 Rdn. 5). Der Gesetzgeber ist offenbar der Auffassung, dass die Möglichkeit der Selbstbeteiligung des Gefangenen genügend Schutz vor etwaigen Missbräuchen bietet (C/MD 2008 Rdn. 1; BT-Drucks. 7/3998, 27). Dennoch sollten zahnprothetische Behandlungen nur begonnen werden, wenn sie voraussichtlich vor der Entlassung des Gefangenen auch abgeschlossen werden können (Nikolai 2009, 268 ff). Bei Kurzstrafen wird in der Praxis allerdings häufig nur eine konservierende Zahnbehandlung durchgeführt, sofern diese vertretbar ist. Hat der Gefangene schuldhaft den Verlust oder die Beschädigung seiner Zahnprothese verursacht, kann die Vollzugsbehörde die Übernahme der Kosten für eine Ersatzbeschaffung ablehnen (C/MD 2008 Rdn. 2; LG Karlsruhe ZfStrVo SH 1977, 30), hierfür trägt sie allerdings die Beweislast. Die Verweigerung der Zahnregulierung bei Kurzstrafen kann aber im Ergebnis zu einer Verteuerung der aus öffentlichen Mitteln zu gewährenden Heilbehandlung führen, da bei Zuwarten negative Auswirkungen aufgrund der Kaubehinderung (z. B. durch Zahnlosigkeit eines Kiefers), wie etwa Verdauungsstörungen eintreten und überdies durch fehlenden Gegenbiss später eventuell ausgedehnterer Zahnersatz erforderlich ist (vgl. § 59 Rdn. 5).
III. Beispiel Ein Gefangener wird mit Klagen über Zahnschmerzen in der anstaltsärztlichen Sprech- 4 stunde vorstellig. Bei Inspektion des Gebisses stellt der Anstaltsarzt eine ausgeprägte Karies bei dem Betäubungsmittelkonsumenten Verurteilten fest. Es erfolgt eine Überweisung zum Zahnarzt, der eine so weitgehende Zerstörung der Zähne im Ober- und Unterkiefer des Gefangenen vorfindet, dass eine konservierende Behandlung nicht mehr sinnvoll erscheint. Ausgedehnte Ober- und Unterkieferteilprothesen werden daher erforderlich, deren Notwendigkeit der Zahnarzt bestätigt. Ein Zuwarten bis zum Ende der Verbüßungszeit im Zustand weitgehender Zahnlosigkeit ist wegen der damit verbundenen Kaubehinderung und deren negativer Auswirkung auf die Verdauung des Patienten auch ärztlicherseits nicht vertretbar. Die entstehenden Kosten belaufen sich auf ca. 2.000,– EURO. Im Regelfall wird die Behörde hiervon einen Zuschuss von 80 % übernehmen. Der Gefangene ist jedoch mittellos, er hat jahrelang vor seiner Inhaftierung nur Gelegenheitsarbeiten verrichtet, ein anderer
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§ 62a
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Kostenträger ist nicht vorhanden. Aufgrund der mit der bestehenden ausgeprägten Drogenabhängigkeit verbundenen Störung im Leistungsbereich ist die Aufnahme einer geregelten Arbeit im Vollzug vorerst auch noch nicht zu erwarten. Obgleich er für die Vernachlässigung seines Gebisses weitgehend selbst verantwortlich ist, geht in diesem Falle die Fürsorgepflicht der Strafvollzugsbehörde (§ 56, § 58) vor. Die Behörde kann daher die entstehenden Kosten bis zu 100 % aus der Landeskasse übernehmen. Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (OLG Hamm ZfStrVo 1989, 248 ff)
IV. Landesgesetze 1. Bayern
5
Vgl. die Kommentierung bei § 61 Rdn. 6. 2. Hamburg Vgl. die Kommentierung bei § 61 Rdn. 7. 3. Niedersachsen Vgl. die Kommentierung bei § 61 Rdn. 8.
§ 62a Ruhen der Ansprüche Der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 57 bis 59 ruht, solange der Gefangene auf Grund eines freien Beschäftigungsverhältnisses (§ 39 Abs. 1) krankenversichert ist. Schrifttum: Kirschke Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis – Zwei-KlassenMedizin?, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 121–138.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise und Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . . . 2–4
Rdn. 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise und Erläuterungen 1
Das Gesetz legt ausdrücklich dar, dass Gefangene, die aufgrund eines freien Beschäftigungsverhältnisses krankenversichert sind, keinen Anspruch auf Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen, Krankenbehandlungen und Versorgung mit Hilfsmitteln (§§ 57–59 StVollzG) gegen den Justizvollzug haben. Dem entspricht § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V, der ein Ruhen des Anspruches auf Leistungen gegen die Krankenversicherung enthält, soweit der Versicherte als Gefangener Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz hat oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhält. Eine anfangs unbefriedigende Regelung (der im freien Beschäftigungsverhältnis tätige Freigänger zahlt die
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Ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung
§ 63
Beiträge zur Krankenversicherung, konnte aber nicht deren Leistungen beanspruchen) wurde damit aufgehoben (BSG NStZ 1987, 381; vgl. auch Tolzmann ZfStrVo 1985, 351). Durch § 39 StVollzG wird dem Gefangenen im offenen Vollzug ein freies Beschäftigungsverhältnis gestattet. Er erhält dadurch die Möglichkeit, selbst mit einem Arbeitgeber seiner Wahl mit Genehmigung der JVA einen Arbeitsvertrag abzuschließen. Da er in diesem Rahmen einem freien Arbeitnehmer gleichgestellt ist, erhält er nun kein Arbeitsentgelt gemäß § 43 StVollzG mehr, sondern Lohn und Gehalt in der vertraglich vereinbarten Höhe. Damit verknüpft sich auch seine Verpflichtung zur Zahlung von Sozial- und Krankenversicherungsbeiträgen. Die ärztliche Behandlung erfolgt nunmehr durch freie, bei der zuständigen Krankenkasse zugelassene Ärzte. Diese sind für die Behandlung der gemäß § 39 StVollzG beschäftigten Gefangenen zuständig. Die Krankenkasse, deren Mitglied der Gefangene ist, übernimmt die Kosten. Besteht für den Gefangenen kein Versicherungsverhältnis, so müsste er selbst für die Kosten aufkommen, ist er mittellos, tritt die Sozialhilfe ein. In diesem Sinne entschied das Bundessozialgericht, dass ein Strafgefangener nach Erhalt des Status als Freigänger bis zur Aufnahme einer Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis von der Bundesanstalt für Arbeit Arbeitslosengelt nach dem Arbeitsförderungsgesetz verlangen kann (BSG ZfStrVo 1992, 134 f). Eine Behandlung durch den Anstaltsarzt kann nur in akuten Notfällen und bei Lebensgefahr erfolgen. Im Übrigen wird aber der Anstaltsarzt diese Gefangenen, wenn sie sich an ihn wenden, abweisen und ihnen empfehlen, im Wege des Ausgangs einen Arzt außerhalb der Anstalt aufzusuchen. Obwohl der Freigänger noch Gefangenenstatus hat, kann er dennoch die gesetzliche Krankenversicherung in Anspruch nehmen (zu den realen Unterschieden s. Kirschke 2005, 121 ff).
II. Landesgesetze 1. Bayern Art. 64 BayStVollzG entspricht, abgesehen von der geänderten Verweisung in das Bay- 2 StVollzG, § 62a StVollzG. 2. Hamburg
3
Vgl. die Kommentierung bei § 60 Rdn. 6. 3. Niedersachsen
§ 60 NJVollzG entspricht, abgesehen von der geänderten Verweisung in das NJVollzG 4 sowie der geschlechterspezifischen Differenzierung, § 62a StVollzG.
§ 63 Ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung Mit Zustimmung des Gefangenen soll die Vollzugsbehörde ärztliche Behandlung, namentlich Operationen oder prothetische Maßnahmen durchführen lassen, die seine soziale Eingliederung fördern. Er ist an den Kosten zu beteiligen, wenn dies nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gerechtfertigt ist und der Zweck der Behandlung dadurch nicht in Frage gestellt wird.
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§ 63
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Schrifttum: Baier/Hinrichs (Hrsg.) Psychotherapie mit Straffälligen, Stuttgart 1995; Baier/Hinrichs Die Sankelmarker Thesen zur Psychotherapie mit Straffälligen, MschrKrim 1996, 25–37; Fritsch Psychotherapie, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 230–233; Konrad Psychiatrie, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 208–222; Laubenthal Lexikon der Knastsprache, Berlin 2001; Möller Einige Aspekte der Psychotherapie mit Gewalttätern ZfStrVo 1994, 285–288; Oberfeld Behinderung und Alter, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 234–239; Wieczorek Ein Beitrag zur Entmythologisierung des sogenannten Sexualtriebs ZfStrVo 1997, 160–165.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Ärztliche Tätigkeit bei Maßnahmen zur Wiedereingliederung 2. Maßnahmen zur Wiedereingliederung als Sollvorschrift . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Wiedereingliederungsmaßnahmen im Allgemeinen . . . . 2. Psychotherapie . . . . . . . . .
1–2 1 2 3–8 3 4
Rdn. 3. Sexualtherapie 4. Suchttherapie . 5. Logotherapie . 6. Soziales Training III. Beispiel . . . . . . IV. Landesgesetze . . 1. Bayern . . . . . 2. Hamburg . . . 3. Niedersachsen .
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. 5 . 6 . 7 . 8 . 9 . 10–12 . 10 . 11 . 12
I. Allgemeine Hinweise 1. Ärztliche Tätigkeit bei Maßnahmen zur Wiedereingliederung
1
In der gesetzlichen Regelung wird eine Ausweitung der ärztlichen Tätigkeit normiert. Der Arzt ist auf Grund der vorliegenden gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr mit der Behandlung von Krankheitszuständen und der Wiederherstellung der Gesundheit allein befasst, sondern darüber hinaus mit Maßnahmen, die der sozialen Eingliederung des Gefangenen dienen. Die ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung umfasst hier besonders körperliche Missbildungen bzw. Operationen und prothetische Maßnahmen zu deren Beseitigung (zum Ganzen Oberfeld 2009, 234 ff). Eine Ausweitung auf z. B. Psychotherapie, Suchtkrankenhilfe, soziales Training, Sozialtherapie und Logotherapie bei Sprachstörungen ist vom Gesetz explizit zwar nicht vorgesehen, kann im Einzelfall aber vom Normzweck eingeschlossen sein (BT-Drucks. 7/918, 73; Arloth 2008 Rdn. 1). Diese Ausweitung der ärztlichen Tätigkeit erscheint notwendig, da das Gesetz kriminogenen Faktoren entgegenwirken will, die durch Behinderungen entstehen können (vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 1). 2. Maßnahmen zur Wiedereingliederung als Sollvorschrift
2
Die Sollvorschrift regelt eine Maßnahme, die in der Regel von der Vollzugsbehörde durchgeführt wird, wenn die soziale Indikation vorliegt und der Gefangene seine Zustimmung zu der beabsichtigten Maßnahme gibt. Ein Rechtsanspruch auf die Durchführung der Maßnahmen besteht für den Gefangenen nicht (s. auch C/MD 2008 Rdn. 1; sowie OLG München BlStV 3/1984, 6, das außerdem die Notwendigkeit des geplanten Eingriffes von seinen Erfolgsaussichten abhängig macht). Die Vollzugsbehörde hat jedoch die Pflicht, den Gefangenen für die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme zu motivieren, falls diese seiner sozialen Wiedereingliederung dient (zur Motivierung allgemein § 2 Rdn. 11, § 4 Rdn. 4, 7).
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Ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung
§ 63
II. Erläuterungen 1. Wiedereingliederungsmaßnahmen im Allgemeinen Die im Gesetz angesprochenen ärztlichen Behandlungsmaßnahmen zur sozialen Wie- 3 dereingliederung des Gefangenen betreffen überwiegend Operationen, z. B. zur Beseitigung von entstellenden Missbildungen, Entfernung von Tätowierungen an sichtbaren Körperstellen, Korrekturen extremen Schielens und prothetische Versorgung bei körperlichen Defekten. Wie Boetticher/Stöver (AK-Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 1) zutreffend bemerken, vermögen körperliche oder funktionelle Auffälligkeiten zu erheblicher neurotischer Entwicklung des Betroffenen führen, weil die Angst vor den Reaktionen der Umwelt Kontaktstörungen hervorrufen und Kompensationsversuche sozial unerwünschte Verhaltensweisen zur Folge haben können. Eine, die physische Behandlungsmaßnahme begleitende, psychotherapeutische Behandlung wird daher in nicht wenigen Fällen unumgänglich sein. Die im Gesetzestext nicht explizit erwähnten, aber notwendigen Ausweitungen der ärztlichen Mithilfe bei der Wiedereingliederung betreffen verschiedene Bereiche (s. Rdn. 4–9). Diese ärztlichen Behandlungsmaßnahmen können nur dann rechtzeitig durchgeführt werden, wenn der Arzt durch die Mitarbeiter der Fachdienste in Konferenzen (§ 159) die notwendigen Informationen über den Vollzugsplan erhält (§ 7 Rdn. 2). Nicht selten werden dann Verlegungen nach § 65 Abs. 1, 2 erforderlich. 2. Psychotherapie Die Einleitung von Psychotherapie macht bei gewohnheitsmäßig ausgebildeten Fehlver- 4 haltensweisen Sinn, wie z. B. bei neurotischen Versagenszuständen, ausgeprägten Kontaktstörungen und Selbstwertstörungen. In der Praxis zielt psychotherapeutisches Handeln überwiegend auf Täter mit dissozialer Persönlichkeitsstruktur, Körperverletzungs- und Raubdelikten, Sexual- und Tötungsdelikten (Möller ZfStrVo 1994, 285 ff). Dabei erhofft sich nach Beier und Hinrichs „ . . . die Justiz von der Psychotherapie Straffälliger konkret eine Verbesserung der Legalprognose“ (1996, 25 ff). Der Therapeut steht im Spannungsfeld zwischen Patient, Justiz und Gesellschaft und beklagt zu Recht ein fehlendes Basisverständnis der Möglichkeiten und Grenzen einer Psychotherapie (vgl. dazu Fritsch 2009, 230 ff). Die „Sankelmarker Thesen zur Psychotherapie mit Straffälligen“ (Beier/Hinrichs 1995) versuchen eine Orientierungshilfe zu geben. Die Autoren postulieren eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Vollzugsbehörde hinsichtlich der Frage, ob eine Psychotherapie angezeigt ist. Anzumerken bleibt, dass Psychotherapie regelhafter Bestandteil der Sozialtherapie in den entsprechenden Einrichtungen des Vollzuges ist (zur Therapiebereitschaft der Klienten s. auch Dahle 1993, 401 ff). 3. Sexualtherapie Die Durchführung von Sexualtherapie bei Triebtätern mit Hilfe einer triebdämpfenden 5 Medikation oder die Empfehlung zur Durchführung operativer Maßnahmen (Konrad 2009, 208 ff) stellt eine weitere ärztliche Tätigkeit im Interesse einer Wiedereingliederung eines Gefangenen dar. Zwingend ist auch in diesen Fällen eine federführende, psychotherapeutische Behandlung. Vergewaltigung und sexuelle Nötigung werden zum Teil primär als Gewalttaten und erst in zweiter Linie als sexuelle Handlungen verstanden (Wieczorek ZfStrVo 1997, 160 ff). § 63 stellt zwar lediglich eine Sollvorschrift dar; eine Zwangstherapie von Sexualtätern als Strafrechtsfolge gesetzlich zu regeln, birgt unlösbare juristische Probleme. Die rechtspolitische Forderung sollte nicht weiter verfolgt werden.“ Nach Kusch (ZRP 1997, 89 ff) wäre andernfalls die Normierung des therapeutischen Ziels fast unlösbar und dazu Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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§ 63
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
auch das eigenständige Berufsbild des Sexualtherapeuten notwendig. Er schlägt als Alternative den Ausschluss gefährlicher Sexualstraftäter von vorzeitiger Haftentlassung, ergänzt um ein ausreichend gewährleistetes, therapeutisches Angebot, vor. 4. Suchttherapie
6
An vielen Stellen des Haftaufenthaltes wirkt der Arzt bei der Behandlung von Suchtkranken mit. Am Anfang des Haftaufenthaltes steht die Entgiftungsbehandlung. Sie muss um Beschwerdelinderung bemüht sein. Die Motivationsarbeit, besonders in dieser Anfangsphase seitens des Arztes und der Fachdienste (Psychologe, Suchtberatungsdienst) ist entscheidend. Ein nicht medikamentös gestützter, sog. kalter Entzug verbittert den gerade inhaftierten Gefangenen zusätzlich und ist pädagogisch und psychologisch unzweckmäßig – abgesehen von der medizinethischen Frage, ob man einen Menschen erheblich leiden lassen sollte, obwohl man ihm helfen könnte. Hinzu kommt das nicht zu vernachlässigende Gesundheitsrisiko beim nichtgestützten Entzug. Insbesondere der nicht medikamentös gestützte Alkoholentzug kann lebensbedrohlich sein. Ist nach §§ 35, 36 BtMG eine stationäre Therapie (Entwöhnungsbehandlung) anstelle oder im Anschluss an die Haft geplant, erstellt der Arzt in Zusammenarbeit mit anderen Fachdiensten das ärztliche Gutachten (sog. Arztbericht) für die Kostenträger freier Suchtkrankenbehandlungseinrichtungen. 5. Logotherapie
7
Die Einleitung von Logotherapie zur Behandlung von Sprachstörungen Gefangener kann eine wichtige ärztliche Maßnahme zur Wiedereingliederung darstellen, wenn diese Behinderung in ursächlichem Zusammenhang mit dem Begehen strafbarer Handlungen stand. 6. Soziales Training
8
Soziales Training (vgl. Rdn. 4) kann auf ärztliche Empfehlung durchgeführt werden. Es betrifft z. B. verhaltensgestörte Strafgefangene ebenso wie Langbestrafte, die im Rahmen ihrer Entlassungsvorbereitung einer vorsichtigen, stufenweisen Wiedereingliederung bedürfen.
III. Beispiel 9
Der Wunsch nach Entfernung von Tätowierungen an sichtbaren Körperstellen findet sich häufig bei Gefangenen, deren Entlassung absehbar ist. Darstellungen obszönen Inhalts, Nachbildungen von Injektionsspritzen bei Drogenabhängigen oder auch sog. Ganoven- oder Knastpunkte (dazu Laubenthal 2001, 104) in Jochbeinhöhe oder über der Daumenwurzel können eine soziale Wiedereingliederung und Arbeitssuche erheblich erschweren. Ihre Entfernung stellt daher eine mögliche Maßnahme nach § 63 dar und wird heute in den Vollzugskrankenhäusern praktiziert.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 65 Satz 1 BayStVollzG entspricht § 63 Satz 1 StVollzG. Art. 65 Satz 2 und 3 BayStVollzG lauten: „Die Kosten tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen.“
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§ 64
Aufenthalt im Freien
In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: Art. 65 Satz 2 BayStVollzG geht „. . . im Grundsatz entsprechend dem Äquivalenzprinzip von einer Kostentragung der Gefangenen aus. Unter den Voraussetzungen des Satzes 3 ist eine Kostenübernahme durch die Justizvollzugsanstalt möglich. Es ist kein Grund ersichtlich, finanziell leistungsfähige Gefangene anders zu behandeln als gesetzlich Krankenversicherte. Durch die Möglichkeit der Kostenübernahme kann der besonderen Haftsituation und dem Behandlungsauftrag hinreichend Rechnung getragen werden.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 64). 2. Hamburg
11 § 61 Satz 1 HmbStVollzG entspricht § 63 Satz 1 StVollzG. § 61 Satz 2 und 3 HmbStVollzG lauten: „Die Kosten tragen die Gefangenen. Sind sie dazu nicht in der Lage, kann die Anstalt die Kosten in begründeten Fällen in angemessenem Umfang übernehmen.“ 3. Niedersachsen § 61 NJVollzG entspricht, abgesehen von der geschlechterspezifischen Formulierung, 12 § 63 Satz 1StVollzG. Eine Entsprechung zu § 63 Satz 2 und 3 findet sich in der niedersächsischen Regelung nicht (vgl. zur Kostenbeteiligung nach dem NJVollzG die Kommentierung bei § 50 Rdn. 12).
§ 64 Aufenthalt im Freien Arbeitet ein Gefangener nicht im Freien, so wird ihm täglich mindestens eine Stunde Aufenthalt im Freien ermöglicht, wenn die Witterung dies zu der festgesetzten Zeit zulässt. Schrifttum: Heipertz Sportmedizin, Frankfurt 1976; Leppmann Der Gefängnisarzt, Berlin 1909.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Bedeutung für den Gefangenen 2. Fakultativer Charakter . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . .
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Rdn. III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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I. Allgemeine Hinweise 1. Bedeutung für den Gefangenen Die Notwendigkeit eines möglichst täglichen Aufenthalts eines Gefangenen im Freien 1 aus gesundheitlichen Gründen ist eine alte Erkenntnis (so bereits Leppmann 1909, 13 zu § 31 ReichsStGB). § 64, der zum Teil als Ausprägung der allgemeinen Fürsorgepflicht der Anstalt angesehen wird (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 170), ermöglicht dem Gefangenen mindestens eine Stunde Aufenthalt im Freien, sofern dieser nicht draußen arbeitet. Einschränkend wird ausgeführt, dass der Aufenthalt nur dann möglich ist, wenn die Witterung dies zur
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§ 64
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
festgesetzten Zeit zulässt. Der Zeitraum von einer Stunde wird allenfalls in bestimmten Vollzugseinrichtungen, wie z. B. Anstalten des offenen Vollzuges, Justizvollzugsanstalten mit besonderem Behandlungscharakter oder Behandlungsabteilungen oder auch bei schulischen Maßnahmen überschritten. Sonst stehen in der Regel personelle Gründe einer allgemeinen Ausweitung des Aufenthaltes von Gefangenen im Freien entgegen. Regelmäßige Bewegungen im Freien führen zu physiologischer Ermüdung und bringen Entspannung sowie Beruhigung des vegetativen Nervensystems mit sich, besonders dann, wenn der Bewegungsablauf noch zusätzlich durch sportliche Betätigung gekennzeichnet ist (Heipertz 1976, 8). Durch Bewegungsarmut ergeben sich nicht nur eine eingeschränkte Leistungsbreite des Organimus, sondern auch Erregungsstörungen im vegetativen Nervensystem. Die aufgrund von Bewegung erfolgende Vertiefung der Atmung fördert durch das bessere Sauerstoffangebot den Stoffwechsel, verbessert den Muskeltonus und erhöht die allgemeine Abwehrkraft. Außerdem tritt in vielen Fällen eine Beruhigung der Psyche ein. Das aktive Sichaufrichten beim Gehen beugt einem Haltungsfehler vor. Aus ärztlicher Sicht ist daher Aufenthalt und Bewegung im Freien bei jeder Witterung anzustreben. Mitunter fehlt es aus finanziellen Gründen an ausreichender Schlechtwetterkleidung. Grundsätzlich sollten die Gefangenen wegen der großen Bedeutung der Bewegung im Freien für ihre Gesundheit stärker motiviert werden, an der täglichen Freistunde teilzunehmen. 2. Fakultativer Charakter
2
Der Gefangene ist zur Teilnahme am Aufenthalt im Freien nicht verpflichtet; es handelt sich für ihn vielmehr um ein Angebot der Vollzugsbehörde, von dem er Gebrauch machen kann, aber nicht muss. Tatsächlich nehmen stets eine nicht geringe Anzahl Inhaftierter nur unregelmäßig oder gar nicht am Aufenthalt im Freien teil. Als Ursache hierfür kommen Haftreaktionen bei aktuellen persönlichen Konflikten mit depressiven Verstimmungen, Versagenszustände seelischer Art in Form von Neurosen und regressive Zustände in Frage, die der Beobachtung bedürfen. Ebenso häufig verbleiben die Gefangenen aus Bequemlichkeit oder Faulheit auf ihren Hafträumen. Gelegentlich verweilen die Gefangenen aber auch auf ihren Stationen, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Soweit Gefangene deshalb nicht an der Freistunde teilnehmen, weil sie Übergriffe und Belästigungen durch andere Gefangene befürchten, hat die Vollzugsbehörde durch organisatorische Maßnahmen die angstfreie Teilnahme zu gewährleisten (Arloth 2008 Rdn. 3).
II. Erläuterungen 3
§ 64 steht im Abschnitt über die Gesundheitsfürsorge. Die Norm enthält eine Mindestgarantie (s. auch C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Celle Beschl. v. 16.11.1984, Az.: 3 Ws 401/84). Auch bei geringfügiger Verkürzung hat der Gefangene einen Anspruch auf Nachgewährung (KG NStZ 1984, 355). Eine durch organisatorische Schwierigkeiten um zwölf Minuten verkürzte Freistunde muss „in angemessener Frist“ nachgeholt werden (OLG Koblenz NStZ 1997, 426). Dies trifft allerdings nicht zu, wenn die Freistunde durch eine etwa gleichzeitig stattfindende ärztliche Untersuchung verkürzt wird, weil es sich auch hier um eine notwendige Maßnahme des Gesundheitsschutzes handelt, die der Gefangene nach § 56 Abs. 2 unterstützen muss (KG aaO). Aus personalorganisatorischen Gründen können am Wochenende der Aufenthalt im Freien und die Sportstunde gleichzeitig abgehalten werden (OLG Hamm NStZ 1994, 378). In der Regel wird aber, wegen ihrer Bedeutung für die Erhaltung der Gesundheit des Gefangenen die Bewegung im Freien den Vorrang genießen. Aus gesundheitlichen Gründen kann
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der Aufenthalt im Freien daher auch über die festgesetzte Zeit von einer Stunde hinaus angeordnet werden. Häufig wird dies in Form einer sog. zweiten Freistunde erfolgen. Deren Durchführbarkeit ist allerdings ebenfalls von Personalsituation und Witterung abhängig. Die Festlegung der Freistunde auf eine bestimmte Tageszeit, wie der SA des Bundestages (BT-Drucks. 7/3998, 28) dies zunächst vorgesehen hatte, ist aus personellen und Sicherheitsgründen nicht möglich. Ein Wegfall des Hofganges ist nur bei extremen Wetterlagen möglich (KG NStZ 1984, 355 F; Arloth 2008 Rdn. 2). Für besondere Tätigkeitsbereiche (z. B. Küchenarbeiter) muss die Behörde zusätzliche Termine zur Verfügung stellen, selbst dann, wenn technische Schwierigkeiten bestehen.
III. Landesgesetze 1. Bayern
4
Art. 66 BayStVollzG entspricht bis auf die Abfassung im Plural § 64 StVollzG. 2. Hamburg
§ 62 HmbStVollzG lautet: „Den Gefangenen wird ermöglicht, sich täglich mindestens 5 eine Stunde im Freien aufzuhalten, wenn die Witterung dies zulässt.“ 3. Niedersachsen § 62 NJVollzG entspricht bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung § 64 6 StVollzG.
§ 65 Verlegung (1) Ein kranker Gefangener kann in ein Anstaltskrankenhaus oder in eine für die Behandlung seiner Krankheit besser geeignete Vollzugsanstalt verlegt werden. (2) Kann die Krankheit eines Gefangenen in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden oder ist es nicht möglich, den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen, ist dieser in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen. Ist während des Aufenthalts des Gefangenen in einem Krankenhaus die Strafvollstreckung unterbrochen worden, hat der Versicherte nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf die erforderlichen Leistungen.* * § 65 Abs. 2 Satz 2 tritt durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3).
VV (1) In einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges ist eine Bewachung durch Vollzugsbedienstete bei Fortdauer der Strafvollstreckung nur dann erforderlich, wenn eine Flucht aufgrund der Persönlichkeit des Gefangenen oder der besonderen Umstände zu befürchten ist. Wenn auf eine Bewachung ausschließlich im Hinblick auf den Krankheitszustand verzichtet wurde, ist das Krankenhaus zu ersuchen, der Anstalt eine Besserung des Befindens mitzuteilen, die eine Flucht möglich erscheinen lässt. (2) Kann die sachgemäße Behandlung oder Beobachtung eines Gefangenen nur in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges, das die gebotene Fortdauer der Bewachung nicht zulässt, durchgeführt werWolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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den, so sind bei der Entscheidung über eine Verlegung des Gefangenen in dieses Krankenhaus die Dringlichkeit der Krankenhausunterbringung und die Entweichungsgefahr sowie die Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Eine nicht unverzüglich erforderliche stationäre Behandlung ist danach unter Umständen aufzuschieben. Schrifttum: Bisson Statement (zu: Psychisch Kranke im Strafvollzug), in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 159–168; Boetticher Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 61–79; Foerster Psychisch Kranke im Strafvollzug, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 143–154; Keppler Haftfähigkeit – Medizinische Grundlagen, in: Keppler/ Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009a, 63–68; Keppler Die Versorgung in Krankenhäusern des Justivollzuges, in: Keppler/Stöver 2009b aaO, 246–251; Konrad Psychiatrie, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 208–222; Lehmann Medizinische Dokumentation im deutschen Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 272–276; Rex Aufsichtsstrukturen, Beschwerde- und Klagewege, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 96–100; Witzel Psychiatrischer Konsildienst, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 223–227.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–5 1. Verlegungsgrundlagen . . . . . . 1–2 2. Sicherheitsaspekte bei Verlegung . 3–5 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 6–14 1. Bewachungsaspekte . . . . . . . . 6 2. Haftunterbrechung nach Verlegung 7 3. Verlegungsprobleme . . . . . . . 8–12 4. Verlegung in eine besser geeignete Vollzugsanstalt . . . . . . . . 13
Rdn. 5. Verlegung bei psychiatrischer Erkrankung . . . . . . . . . III. Beispiele . . . . . . . . . . . . 1. Probleme bei Verlegung . . . 2 Neue Versorgungsmodelle . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. 14 . 15–17 . 15–16 . 17 . 18–20 . 18 . 19 . 20
I. Allgemeine Hinweise 1. Verlegungsgrundlagen
1
Die Vorschrift bestimmt, dass kranke Gefangene in diejenige vollzugliche Einrichtung gelangen, in der ihre medizinische Behandlung und Heilung am besten bewerkstelligt werden kann. Der vom Gesetz verwendete Begriff „Verlegung“ umfasst hier sowohl die dauerhafte Verlegung unter Abweichung vom Vollstreckungsplan (§ 8 Abs. 1) – wenn etwa der Gefangene der ständigen Pflege und Behandlung in einem Vollzugskrankenhaus bedarf – als auch, die häufiger vorkommende kurzfristige Überstellung (§ 8 Abs. 2) für einen operativen Eingriff oder eine intensive Untersuchung, auf die alsbald die Rückkehr in die nach dem Vollstreckungsplan zuständige Anstalt erfolgt (AK-Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1). Die Verlegung (bzw. Überstellung) aus Krankheitsgründen nach Abs. 1 basiert nicht nur auf medizinischen Überlegungen; einzubeziehen sind vielmehr auch Aspekte der vollzuglichen Behandlung sowie Wirtschaftlichkeits- und Sparsamkeitserwägungen (Arloth 2008 Rdn. 3). Aus diesem Grund handelt es sich um eine vollzugliche Entscheidung, die vom Anstaltsleiter und nicht etwa vom Anstaltsarzt getroffen wird. Die Anstaltsleitung kann die Entscheidung jedoch delegieren. Die Verlegung ist vor allem dann geboten, wenn die Möglichkeiten, einen erkrankten Gefangenen in der für ihn nach dem Vollstreckungsplan zuständigen Justizvollzugsanstalt zu beobachten und zu behandeln, nicht ausreichen und ambulante Behandlungsmaßnahmen, etwa im Wege von Ausführungen, nicht in Betracht kommen. Grundlage für die Verlegung ist zunächst die in § 56 und in § 58 Nr. 1 angespro-
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chene Verpflichtung der Vollzugsbehörde und des Arztes, einen erkrankten Gefangenen ausreichend und angemessen nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu behandeln. Das Ausmaß und die Schwere eines Krankheitsbildes können daher die Verlegung des Betroffenen in ein Anstaltskrankenhaus oder in eine für seine Pflege besser geeignete Vollzugsanstalt erfordern. Der Gefangene hat kein Recht darauf, eine Verlegung in ein Anstaltskrankenhaus zu verlangen, wenn er dies nach seiner subjektiven Ansicht für geboten hält (C/MD 2008 Rdn. 2). Dies gilt ebenso für die subsidiäre Verbringung eines Gefangenen in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges nach Abs. 2. Über die medizinischen Gesichtspunkte befindet vorbereitend der Anstaltsarzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Dabei verbleibt ein Ermessensspielraum, der nur einer eingeschränkten (gerichtlichen) Kontrolle zugänglich ist (KG StV 1988, 539). Seine Entscheidung muss aber dennoch im Hinblick auf sachgerechte medizinische Erwägungen nachvollziehbar sein (so OLG Koblenz Beschl. v. 11.5.1983, Az.: 2 Vollz (Ws) 28/83). Ein Ermessensspielraum verbleibt ihm jedoch nicht, wenn jede andere Entscheidung als eine Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs medizinisch unvertretbar ist (OLG Frankfurt NStZ 1987, 359; KG aaO). Infolge der Ermessensreduzierung auf Null kann sich der bloße Anspruch auf eine medizinisch-sachgemäße Ermessensentscheidung je nach Lage zu einem Recht auf Untersuchung und Behandlung durch einen externen Facharzt verändern. Unterbleibt die Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges, obwohl die er- 2 forderliche medizinische Versorgung in der Vollzugsanstalt nicht gewährleistet ist, und tritt deshalb ein gesundheitlicher Nachteil ein, kann der Betreffende den Ersatz des materiellen wie auch des immateriellen Schadens (Schmerzensgeld) verlangen (BGH BlStV 4/5/1994, 10 f). Die Schwierigkeit liegt hierbei darin, zu bewerten, inwieweit mangelnde Kooperation des Gefangenen ausschlaggebend für den gesundheitlichen Schaden ist. Querschnittslähmungen mit Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen bspw. erfordern nämlich auch bei sachgerechtem therapeutischen Angebot eine konstruktive Mitarbeit des inhaftierten Patienten. Es bleibt ein Dilemma, dass neutrale Gutachter, die den Vollzug im einzelnen nicht kennen, die Vollzugsuntauglichkeit bescheinigen und beim Betroffenen Hoffnungen auf Haftvermeidung wecken (vgl. Keppler 2009a, 63 ff; Rex 2009, 96 ff). Wenn die tatsächlichen Behandlungsgegebenheiten jedoch ausreichen und der Anstaltsarzt dies feststellt, ist eine Konfliktkonstellation zwischen ihm und dem inhaftierten Patienten unvermeidlich. Ein Gefangener hat Anspruch auf Behandlung in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges, gleichgültig, ob es sich um „Krankenbehandlung oder um Heilbehandlung“ handelt (OLG Frankfurt NStZ 1987, 359 F). Gemeint ist hier die sog. Anschlussheilbehandlung nach überstandener plötzlicher schwerer Erkrankung zur psychischen und körperlichen Bewältigung der gesundheitlich eingeschränkten Lebensperspektive (z. B. Krebsleiden, Herzinfarkt, Schlaganfälle). Sie ist nicht mit einer sog. Kurbehandlung zu verwechseln, die nur dem Gesundheitszustand eines Menschen ohne aktuellem Krankheitsbefund dient. Dagegen ergibt sich kein Anspruch auf Verlegung in eine psychiatrische Klinik, wenn eine aus Gründen der Resozialisierung angezeigte sozialtherapeutische Behandlung dort lediglich eher als in der Strafvollzugsanstalt zu verwirklichen ist (a. A. Plähn Anm. zu LG Lüneburg StV 1983, 25). Ist allerdings eine vollzugsexterne psychiatrische Langzeittherapie die einzige erfolgversprechende medizinische Maßnahme, die zu einer positiven Sozialprognose (und damit zur Möglichkeit der Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe zur Bewährung) führen kann, so muss sie dem Gefangenen ermöglicht werden (BVerfG NStZ 1996, 614). Eine ambulante Interferontherapie zur Behandlung einer Hepatitis-C-Erkrankung ist auch in der Haft durchführbar (in der Sache überholt OLG München StV 1997, 262, mit Anm. Kunisch).
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Die Unterbringung nach § 65 Abs. 2 ist ausschließlich aus therapeutischen Gesichtspunkten heraus möglich. Grds. kommen dafür alle (Fach-)Krankenhäuser einschließlich psychiatrischer Kliniken in Betracht (Arloth 2008 Rdn. 6). Die Überstellung eines Gefangenen zur Vorbereitung eines psychiatrischen Gutachtens in eine psychiatrische Klinik bedarf daher einer anderen Rechtsgrundlage (a. A. OLG Celle NStZ 1991, 598 f geht von Amtshilfe aus; dazu abl. Anm. Wohlers NStZ 1992, 347 f, der einen Gerichtsbeschluss nach § 81 StPO für erforderlich hält). 2. Sicherheitsaspekte bei Verlegung
3
Die Ausführungen der VV zu § 65 beziehen sich ausschließlich auf Sicherheitserwägungen, die sich aus der Verlegung eines etwa fluchtgefährdeten Gefangenen in ein freies Krankenhaus außerhalb des Vollzuges ergeben. Wenn dort etwa eine gebotene Bewachung des Gefangenen durch Vollzugsbedienstete nicht zugelassen wird, ist demnach bei der Entscheidung über die Verlegung die Dringlichkeit der Krankenhausunterbringung gegen die Entweichungsgefahr sowie die Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwägen. Insoweit ist allerdings zu beachten, dass der Gefangene bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges gebracht werden muss. 4 Selbst wenn die Rspr. einen Gefangenen zum Teil schon dann als vollzugsuntauglich einstuft, wenn seine körperliche oder geistige Erkrankung weder in einer Vollzugsanstalt ambulant noch außerhalb der Anstalt in einem Vollzugskrankenhaus, sondern nur noch stationär in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges behandelt werden kann (OLG Hamm Beschl. v. 4.1.1982 Az.: 7 VAs 99/81), ergibt sich daraus keinesfalls zwangsläufig eine Haftunterbrechung für den Betroffenen. Die Vollzugsbehörde muss vielmehr lediglich einem erkrankten Gefangenen die angemessene und erforderliche Behandlung gewähren (OLG München NStZ 1981, 240; vgl. § 58 Rdn. 3). Wird ein Gefangener daher nach § 65 Abs. 2 in ein freies Krankenhaus außerhalb des Vollzuges verlegt, so muss die Behörde seine Bewachung anordnen, wenn Sicherheitsbedenken gegeben sind. Die Dauer des Krankenhausaufenthaltes wird in diesen Fällen auf die Strafzeit angerechnet (AK-Boetticher/Stöver 2006 § 65 Rdn. 15). Die Strafunterbrechung kann (muss aber nicht) von der Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft) unter den Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 StPO angeordnet werden, wenn der Gefangene in Geisteskrankheit verfällt, wegen einer Krankheit von der weiteren Vollstreckung der Strafe eine nahe Lebensgefahr für den Gefangenen zu besorgen ist oder wenn der Gefangene sonst schwer erkrankt ist, deshalb in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges untergebracht werden muss und zu erwarten ist, dass die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Im letzteren Falle darf aber die Vollstreckung der Strafe nicht unterbrochen werden, wenn schwerwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen. 5 Auch das Fluchtrisiko tritt hinter dem Gebot, die Gesundheit wiederherzustellen oder dauernde Schmerzen durch einen medizinischen Eingriff zu lindern, zurück (LG Hamburg NStZ 1981, 249 und ZfStrVo SH 1979, 65). Zumal gesicherte statistische Erkenntnisse über ein verstärktes Fluchtverhalten bei aus ärztlichen Gründen gebotenen Lockerungen der Sicherheit der Unterbringung, die etwa Gefangene mit höheren Strafresten betreffen, nicht existieren. Außerdem hat der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Flucht im Falle einer Verlegung des Gefangenen in eine Krankeneinrichtung außerhalb des Vollzuges in Kauf genommen, da eine Vorschrift wie in § 11 Abs. 2 nicht in den § 65 aufgenommen wurde.
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II. Erläuterungen 1. Bewachungsaspekte Die Bewachung eines erkrankten Gefangenen, der sich in einem freien Krankenhaus be- 6 findet, gestaltet sich oft problematisch. Es ist zu bedenken, dass Bewacher am Krankenbett oder vor der Sichtscheibe eines Krankenzimmers fast zwangsläufig einen negativen psychologischen Effekt auf den Untergebrachten und seine Umgebung haben. Dies wird besonders gravierend, wenn das Krankenhaus zum Zeitpunkt des dortigen Aufenthaltes des Gefangenen nicht über genügend Einzelräume verfügt oder wenn neben der Bewachung noch zusätzliche Sicherungsmaßnahmen (§ 88 Abs. 2), z. B. Fesselung, angeordnet sind. Grundsätzlich wird die Bewachung auch von Seiten der Krankenhausmitarbeiter als belästigend angesehen. Auf Grund dieser beiden Aspekte gerät der einweisende Anstaltsarzt nicht selten in das Spannungsfeld zwischen Vollzugsbehörde und den verantwortlichen Ärzten des freien Krankenhauses, die derartige Sicherungsmaßnahmen häufig ablehnen, nicht zuletzt auch im Interesse anderer, dort untergebrachter freier Kranker. VV Abs. 2 Satz 2 zu § 65 erhält mit der Aussage, dass eine nicht unverzüglich erforderliche stationäre Behandlung unter Umständen aufzuschieben ist, auch in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht. Zumeist haben sich an den Vollzugsstandorten Arbeitsbeziehungen zwischen der Anstaltsmedizin und den ortsansässigen Krankenhäusern entwickelt. Wenn nötig werden dann die Gesamtsituation des Einzelfalls umfassende, klärende Gespräche zwischen Anstaltsarzt und behandelndem Arzt oder auch leitendem Arzt möglich sein. 2. Haftunterbrechung nach Verlegung Stimmt die Strafvollstreckungsbehörde bei Unterbringung eines Gefangenen in einem 7 freien Krankenhaus einer Haftunterbrechung zu, so ergibt sich eine Änderung der Kostendeckung seines Krankenhausaufenthaltes. Die Vollzugsbehörde tritt dann für die Finanzierung der erbrachten Leistungen nicht mehr ein. Vielmehr kommt nun der Sozialhilfeträger oder die Krankenkasse für die entstehenden Krankenhauskosten auf (vgl. auch Dargel ZfStrVo 1983, 336). Der Gesetzgeber hatte eigentlich vorgesehen, dass dann, wenn während des Aufenthaltes eines Gefangenen in einem Krankenhaus die Strafvollstreckung unterbrochen werden muss, der Gefangene nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf die erforderlichen Leistungen hat. Diese Regelung ist aber bisher aus Kostengründen nicht in Kraft getreten. Nach § 198 Abs. 3 ist vorgesehen, dass sie eventuell zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt durch ein besonderes Bundesgesetz Geltung erlangt. Andere Verhältnisse gelten für Gefangene, die sich in einem freien Beschäftigungsverhältnis befinden. Hier tritt für die Begleichung der Krankenhauskosten der für den Versicherten zuständige freie Träger (Krankenkassen, Sozialämter, Berufsgenossenschaften) ein. Die Strafvollstreckung bei Verlegung eines Gefangenen in ein öffentliches Krankenhaus ist erst dann unterbrochen, wenn die diesbezügliche Mitteilung allen Beteiligten – d. h. dem Patienten, dem Krankenhaus und der Justizvollzugsanstalt – von der Strafvollstreckungsbehörde bekannt gegeben worden ist. Zu diesem Zeitpunkt muss der Gefangene von der Justizvollzugsanstalt regulär entlassen werden. 3. Verlegungsprobleme Die Verbringung eines erkrankten Gefangenen in eine andere Anstalt nach § 65 bedeutet 8 in aller Regel einen vorübergehenden Anstaltswechsel (Überstellung, § 8 Abs. 2) und keine (dauerhafte) Verlegung i. S. d. § 8 Abs. 1 (AK-Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 2; ähnlich C/MD 2008 Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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Rdn. 1; a. A. Arloth 2008 Rdn. 1, differenzierend nach der Dauer der Verbringung). Für den Gefangenen ist dieser Ortswechsel häufig ein angstbesetztes (bei Verbringung in eine andere Anstalt oder in ein Krankenhaus der Justiz), gelegentlich aber auch ein erwünschtes Ereignis (etwa bei Verbringung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges). In Fällen schwerer, akuter Erkrankung muss nicht nur über die Verbringung des Erkrankten in ein Krankenhaus überhaupt entschieden werden, sondern auch über seine Transportfähigkeit. Ist eine Transportfähigkeit aktuell nicht gegeben, so ist auch eine Einweisung in ein Krankenhaus des Vollzuges nur dann möglich, wenn sich Krankenhaus und JVA in unmittelbarer Ortsnähe befinden (zum sog. Patienten-Tourismus und zum OP-post-OP-Splitting vgl. Keppler 2009b, 246 ff). 9 Die Sachlage gestaltet sich dann besonders schwierig, wenn der Gefangene bei gegebener Transportfähigkeit die notwendige Verbringung in ein Vollzugskrankenhaus ablehnt. Realängste, fehlendes Vertrauen in die Fähigkeiten des Justizkrankenhauses, das nunmehr allein für die Wiederherstellung seiner Gesundheit zuständig ist oder die Hoffnung, durch Verweigerung der Behandlung im Vollzugskrankenhaus eher in eine freie Krankeneinrichtung zu gelangen und dann in den Genuss einer Vollzugsuntauglichkeit zu kommen, sind einige der zahlreichen Gründe für dieses Verhalten. Gefangene streben häufig Vollzugsuntauglichkeit oder Haftunterbrechung an und bewerten diese als Vorteil. Oftmals wird dabei der Nachteil für den Gefangenen übersehen, dass die im Krankenhaus verbrachten Tage bei Haftunterbrechung und bei absichtlich herbeigeführter Krankheit in Abweichung vom Grundsatz des § 461 Abs. 1 1. Halbs. StPO nicht mehr als Hafttage zählen und nachverbüßt werden müssen, § 461 Abs. 1 2. Halbs., Abs. 2 StPO. Bei Behandlungsverweigerung muss der Anstaltsarzt den Patienten über die Situation und die möglichen Gefahren aufklären und dies auch dokumentieren. Aufklärung und Dokumentation müssen dabei die üblichen Anforderungen erfüllen (vgl. Boetticher 2005, 61 ff; Lehmann 2009, 272 ff). a) Behandlungsverweigerung vor Verlegung
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Tritt ein Verweigerungsfall vor der beabsichtigten Verlegung ein, so wird der Anstaltsarzt den Gefangenen nicht nur über das gesundheitliche Risiko, das mit der Verweigerungshaltung verbunden ist, aufklären müssen, sondern auch darüber, dass der Betroffene auf diese Weise nicht erreicht, in ein freies Krankenhaus verlegt zu werden oder Haftunterbrechung zu erhalten. b) Behandlungsverweigerung nach Verlegung in ein Krankenhaus des Justizvollzuges
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Ist die Verlegung des erkrankten Gefangenen in ein Vollzugskrankenhaus erfolgt, kann dennoch in Einzelfällen eine Entwicklung eintreten, die seiner Behandlung ein vorzeitiges Ende setzt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Gefangene die Krankenhausordnung nachhaltig stört oder die weitere Behandlung verweigert. In diesen Fällen kann die vorzeitige Rückverlegung des Gefangenen in seine zuständige Vollzugsanstalt erfolgen, ohne dass eine befriedigende Wiederherstellung der Gesundheit stattgefunden hat. Selbst wenn gewichtige ärztliche Gründe einer solchen Rückverlegung zunächst nicht entgegenstanden, tritt oftmals eine erneute Verschlechterung des Gesundheitszustandes ein. Der Anstaltsarzt wird dann mit dem leitenden Arzt des Vollzugskrankenhauses erwägen müssen, ob der Gefangene trotz Ablehnung der Behandlung gleichwohl erneut in das Justizvollzugskrankenhaus verlegt werden kann. Die gesundheitlichen Risiken bei akuter Verschlechterung sind im Krankenhaus zumindest geringer als bei regulärer Unterbringung in einer JVA. Nicht selten
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ändert der Gefangene auch nach einiger Zeit seine Haltung und kooperiert mit den zuständigen Ärzten des Justizvollzugskrankenhauses. Insbesondere dann, wenn die Meinung des Gefangenen auf Behauptungen Mitgefangener basiert und er in der Realität dann feststellt, dass das Justizvollzugskrankenhaus leistungsfähig ist und das Personal dort engagiert arbeitet. Gelegentlich drängen Gefangene auch auf schnelle Rückverlegung aus einem öffentlichen Krankenhaus in die JVA. Gründe hierfür sind z. B. die sehr viel stärkeren Restriktionen beim Rauchen, das im Krankenhaus zumal bei Bettlägrigkeit und/oder mit Bewachung kaum noch möglich ist. c) Rückverlegung Ist mit der Verlegung eines Gefangenen in ein freies Krankenhaus aus Sicherheitsgrün- 12 den eine Bewachung des erkrankten Gefangenen verbunden, so bedeutet diese vor allem bei länger andauerndem Aufenthalt oft ein erhebliches personelles Problem für die Justizvollzugsanstalt (vgl. Keppler 2009b, 246 ff). Es ist daher notwendig, dass der Anstaltsarzt mit dem behandelnden Arzt des Krankenhauses in Verbindung bleibt und auf die baldmögliche Rückführung des Gefangenen oder auch auf eine schnelle Verlegung in ein Vollzugskrankenhaus zur Nachbehandlung hinwirkt. Hierfür sprechen zudem Kostengründe. 4. Verlegung in eine besser geeignete Vollzugsanstalt Die Verlegung eines Gefangenen in eine für seine Behandlung besser geeignete Voll- 13 zugsanstalt kann unterschiedliche Gründe haben. Ein Gefangener kann z. B. bei Bestehen einer chronischen Erkrankung aus einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges in eine andere Vollzugsanstalt ähnlicher oder abweichender Zuständigkeit verlegt werden, wenn diese über eine besondere Krankeneinrichtung verfügt, die zur Pflege und Behandlung des Gefangenen besser geeignet ist (§ 8 Abs. 1 Nr. 2). Auch eine Rückverlegung aus dem offenen Vollzug in eine Anstalt des geschlossenen Vollzuges mag notwendig werden, wenn ärztliche Betreuung durch die mangelnde Präsenz eines hauptamtlichen Anstaltsarztes dort nicht gegeben ist, sich im Falle des betroffenen Gefangenen aber als notwendig erweist. Auch der umgekehrte Fall kommt vor. Gefangene mit besonderer Persönlichkeitsstruktur und Bewegungsdrang können auch bei gravierenden Herz- und Kreislauferkrankungen im offenen Vollzug besser untergebracht werden als im geschlossenen Vollzug. Außerhalb der Haft sind sie in der Regel auch nicht dauerhospitalisiert. Voraussetzung ist allerdings der normale allgemein-medizinische Standard in der betreffenden Krankenabteilung und die übliche notärztliche Versorgung am Ort. 5. Verlegung bei psychiatrischer Erkrankung Auch bei der Verlegung eines Gefangenen, der an einer ernsthaften geistigen Störung er- 14 krankt ist, können sich Besonderheiten im Ablauf ergeben. Problemlos gestaltet sich die Verlegung dann, wenn das betreffende Bundesland über eine vollzugseigene psychiatrische Krankenhauseinrichtung verfügt. Dies ist jedoch nicht immer der Fall, obwohl zunehmend psychiatrische Abteilungen innerhalb des Justizvollzuges entstehen (zu dieser Entwicklung vgl. Bisson 2005, 159 ff; Foerster 2005, 143 ff; Keppler 2009b, 246 ff; zur allgemeinen psychiatrischen Betreuung im Justizvollzug s. Foerster 2005, 143 ff; Konrad 2009, 208 ff; Witzel 2009, 223 ff). Die Verlegung eines so erkrankten Gefangenen nach § 65 Abs. 2 stößt bei den Leitern der öffentlichen psychiatrischen Krankenhäuser oft auf massive Sicherheitsbedenken, da nicht alle Einrichtungen genügend gesichert sind, um eine Flucht des Gefangenen auszuschließen. Liegt eine Geisteskrankheit vor und stellt der Erkrankte eine Gefahr für sich Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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und seine Umgebung dar, so muss der Anstaltsarzt – ggf. mit Hilfe eines Fachpsychiaters (vgl. Witzel 2009, 223 ff) – entscheiden, ob eine Verlegung erforderlich ist.
III. Beispiele 1. Probleme bei Verlegung
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Ein Gefangener muss aufgrund seines Krankheitszustandes in ein Vollzugskrankenhaus verlegt werden (§ 65 Abs. 1). Dem Verlegungsbeschluss ist eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgte Untersuchung und Diagnosestellung bei dem Erkrankten vorausgegangen. Der Arzt muss außerdem entscheiden, ob der krankenhausbedürftige Gefangene transportfähig ist. Diese Entscheidung erlangt vor allem dann Bedeutung, wenn der Transportweg in ein Vollzugskrankenhaus einen Zeitaufwand von mehreren Stunden nach sich zieht. Ungeeignet sind für diesen Fall hochakute Erkrankungen (z. B. frischer Herzinfarkt), es sei denn, der Transportweg ließe sich durch Hubschraubereinsatz abkürzen. Diese Lösung scheitert aber in der Regel aus Kostengründen. Der leitende Arzt des in Frage kommenden Krankenhauses muss der Verlegung zugestimmt haben. Außerdem ist der Anstaltsleiter zu verständigen. Boetticher/Stöver (AK- Boetticher/Stöver 2006 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 1) weisen daraufhin, dass aufgrund der zunehmenden Spezialisierung des Gesundheitswesens eine optimale Behandlung oft nur in ganz bestimmten Kliniken oder Spezialeinrichtungen angeboten werden kann, z. B. Herz- und Gefäßchirurgie, Handchirurgie, Rehabilitationskliniken. Der Eintritt von Lebensgefahr wird zumeist keine längeren Transportwege mehr zulassen, gelegentlich würde auch die dann erst einsetzende Hilfe für den Gefangenen zu spät kommen. Besteht die Möglichkeit, dass sich eine Erkrankung zu einer lebensbedrohlichen entwickelt, so wird sich, wenn möglich, eine rechtzeitige Verlegung des Patienten vor Eintritt einer Lebensgefahr in das entsprechende Vollzugskrankenhaus anbieten. Ohnehin sollte die Vollzugsbehörde in einem Fall von schwerwiegender Erkrankung dem Gefangenen die Möglichkeit der fachärztlich-stationären Behandlung anbieten, wenn diese in der Vollzugsanstalt nicht möglich ist. 16 Kompliziert wird eine Krankenhausverlegung, wenn der Gefangenen sie ablehnt. Bei solchen Ablehnungen steht vielfach nicht allein die Angst etwa vor einem operativen Eingriff im Vordergrund, viel wichtigere Gründe sind die Aufgabe der gewohnten Umgebung, des Haftraumes, die Trennung von Mitgefangenen, der Verlust einer bestimmten Hausarbeitertätigkeit, die Unterbrechung einer Ausbildung oder die strengere Hausordnung, die vielleicht mühsam erlangte Erleichterungen wieder aufhebt. Auch die Hoffnung auf Verlegung in ein freies Krankenhaus, verbunden mit einer Haftunterbrechung, mag zum Anlass für die Verweigerungshaltung des Gefangenen werden. In diesem Falle muss der Anstaltsarzt den Gefangenen darüber aufklären, dass dieser durch seine Weigerung nicht erreicht, in ein freies Krankenhaus verlegt oder vollzugsuntauglich zu werden. Wenn der Gefangene beharrlich die Behandlung verweigert oder die Krankenhausordnung nachhaltig stört, wird er in seine zuständige Justizvollzugsanstalt zurückverlegt, wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. 2. Neue Versorgungsmodelle
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Ein neues Modell, bisher nur in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg praktiziert, beinhaltet die Lösung vieler Probleme, die bei notwendig werdender Verlegung/Überstellung auftauchen: Bewachungs-/Sicherheitsaspekte; Haftunterbrechung; aus Gefangenensicht vorhandene Diskrepanz zwischen der Betreuung im Gefängniskrankenhaus bzw.
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im freien Krankenhaus; Ärztemangel; Verweigerung, sich im Gefängnis behandeln zu lassen; das Vorhalten selten genutzter Ressourcen; das „Problem der kleinen Zahlen“ usw. (vgl. Keppler 2009b, 246 ff). Bei diesen neuen Modellen wurden innerhalb von regulären, freien Krankenhäusern gesicherte Stationen geschaffen, in denen stationär behandlungsbedürftige Gefangene untergebracht werden können. Beim Städtischen Klinikum Brandenburg, in dem sich eine solche gesicherte Station mit 6 Zimmern (Doppelbelegung möglich) befindet, handelt es sich um ein Akademisches Lehrkrankenhaus mit maximaler Versorgung (vgl. insgesamt zu diesen neuen Modellen Keppler 2009b, 246 ff).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 67 BayStVollzG entspricht, abgesehen von der Formulierung im Plural, § 65 18 StVollzG. Art. 67 Abs. 2 BayStVollzG wurde um die Möglichkeit der Überstellung ergänzt. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift entspricht § 65 StVollzG, wobei klargestellt wurde, dass neben einer Verlegung auch eine Überstellung in Betracht kommt.“ (LT-Drucks. 15/8101, S. 64). 2. Hamburg § 63 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Kranke Gefangene können in das Zentralkrankenhaus 19 der Untersuchungshaftanstalt überstellt oder in eine für die Behandlung ihrer Krankheit besser geeignete Anstalt verlegt werden.“ § 63 Abs. 2 HmbStVollzG entspricht, bis auf redaktionelle Änderungen, § 65 Abs. 2 StVollzG. § 63 Abs. 3 HmbStVollzG lautet: „Wird während des Aufenthaltes der Gefangenen in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges die Strafvollstreckung unterbrochen, so tragen die Vollzugsbehörden die bis zum Beginn der Strafunterbrechung angefallenen Kosten.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 3 stellt klar, dass die Vollzugsbehörden für die Kosten einer externen Krankenhausbehandlung nur aufkommen, solange der Gefangene seinen Status als Strafgefangener behält. Wird die Strafe während eines solchen Krankenhausaufenthaltes unterbrochen und besteht deshalb der Anspruch des Gefangenen auf Gesundheitsfürsorge gegen die Vollzugsbehörde nicht länger, weil er nicht mehr Strafgefangener ist, so tragen die Vollzugsbehörden auch die Kosten für die Krankenhausbehandlung nicht länger.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 45). 3. Niedersachsen § 63 NJVollzG lautet: „(1) Eine kranke Gefangene oder ein kranker Gefangener kann in 20 ein Anstaltskrankenhaus oder in eine für die Behandlung der Krankheit besser geeignete Anstalt überstellt oder verlegt werden. (2) Kann eine Krankheit in einer Anstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden oder ist es nicht möglich, die Gefangene oder den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu überstellen oder zu verlegen, so ist sie oder er in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es zu den Abweichungen: „Der Entwurf dehnt gegenüber der Vorschrift des § 65 StVollzG den Anwendungsbereich auch auf Überstellungen aus, so dass bei einer nur kurzfristigen krankheitsbedingten Abwesenheit die Habe der Gefangenen in der zuständigen Anstalt verbleiben kann.“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 141).
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§ 66
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 66 Benachrichtigung bei Erkrankung oder Todesfall (1) Wird ein Gefangener schwer krank, so ist ein Angehöriger, eine Person seines Vertrauens oder der gesetzliche Vertreter unverzüglich zu benachrichtigen. Dasselbe gilt, wenn ein Gefangener stirbt. (2) Dem Wunsche des Gefangenen, auch andere Personen zu benachrichtigen, soll nach Möglichkeit entsprochen werden. VV (1) Der Tod des Gefangenen wird der Aufsichtsbehörde angezeigt. (2) Das Guthaben des verstorbenen Gefangenen bei der Anstaltszahlstelle und seine Habe werden an den Berechtigten ausgehändigt. Schrifttum: Bennefeld-Kersten Suizide in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublick Deutschland in den Jahren 2000–2004: Kriminologischer Dienst Niedersachsen im Bildungsinstitut des Niedersächsischen Justizvollzuges, Celle 2005; Bertolote WHO und International Association for Suicide Prevention; Suizidprävention: Ein Leitfaden für Mitarbeiter des Justizvollzugsdienstes, Genf 2007; Dünkel/Rosner Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970, Freiburg 1982; Gesundheitsberichterstattung des Bundes Todesursachen, Suizid, http://www.gbe-bund.de/; Konrad Der Gefängnissuizid, in: Kröber/Dölling/Leygraf (Hrsg.) Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. 3. Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie, Darmstadt 2006; Lehmann Suizide und Suizidprävention in Haft, in: Keppler/Stöver Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 240–245; Lehmann/Weiss/Jesse Suizidprävention in der Jugendstrafanstalt Hameln, in: ZfStrVo. 2007; 177–81; Missoni/Rex Strukturen psychiatrischer Versorgung der Gefangenen im deutschen Justizvollzug, in: ZfStrVo,1997; 336–339; Schmidt/Gastpar/Falkai/Gaebel Evidenzbasierte Suchtmedizin: Behandlungsleitlinie Substanzbezogenen Störungen, Köln 2006; Statistisches Bundesamt Deutschland: Todesursachen in Deutschland – Fachserie 12 Reihe 4, Wiesbaden 2006. Witte Suizide oft vermeidbar? DMW 2007, 863–864.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Allgemeine Fürsorgepflicht der Vollzugsbehörde im Krankheitsund Todesfall . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen beim Tod eines Gefangenen . . . . . . . . . . . 3. Statistik . . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Benachrichtigung nahestehender Angehöriger . . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
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1–3
.
1
. . .
2 3 4–6
2. Besondere Aufklärungsnotwendigkeit bei Todesfällen im Justizvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3. Tod ausländischer Gefangener . . 6 III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 7 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 8–10 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 8 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 9 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . . 10
.
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I. Allgemeine Hinweise 1. Allgemeine Fürsorgepflicht der Vollzugsbehörde im Krankheits- und Todesfall
1
Die allgemeine Fürsorgepflicht der Vollzugsbehörde erstreckt sich auch auf die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen, Personen des Vertrauens oder gesetzlichen Vertreter bei schwerer Erkrankung oder Todesfall des Gefangenen. Es handelt sich hierbei um eine
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Benachrichtigung bei Erkrankung oder Todesfall
§ 66
Interessenwahrnehmung für den Gefangenen, die der Gesetzgeber der Vollzugsbehörde als Pflicht auferlegt hat (BT-Drucks. 7/918, 73). Dabei soll dem Wunsch eines Schwerkranken weitgehend entsprochen werden, wenn er auch noch die Benachrichtigung weiterer Personen eingeleitet wissen möchte. 2. Maßnahmen beim Tod eines Gefangenen Bei Tod eines Gefangenen führt der Anstaltsarzt die Leichenschau durch und vermerkt 2 die Todeszeit und die Todesursache. Die Aufsichtsbehörde ist gem. VV Abs. 1 zu unterrichten. In jedem Fall ist die Staatsanwaltschaft zu informieren (Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 2 f) mit der Fragestellung, ob eine Obduktion angeordnet werden soll. Die Vollzugsanstalt ist verpflichtet, sich der Hinterlassenschaft des Verstorbenen anzunehmen, VV Abs. 2. Ein Todesfall im Vollzug liegt auch dann vor, wenn ein Gefangener der gemäß § 65 Abs. 2 ohne Strafunterbrechung in ein freies Krankenhaus verlegt wurde, dort verstorben ist. 3. Statistik Dünkel/Rosner (1982, 130 ff) haben festgestellt, dass im bundesdeutschen Justizvollzug in 3 den Jahren 1969 bis 1979 jährlich etwa 125 Insassen verstorben sind, davon im Schnitt 74 durch Selbstmord (vgl. insbesondere zur im Strafvollzug deutlich erhöhten Suizidrate die Kommentierung bei § 56 Rdn. 5).
II. Erläuterungen 1. Benachrichtigung nahestehender Personen Mit der Benachrichtigung nahestehender Personen für einen schwerkranken Gefange- 4 nen übernimmt die Behörde eine humanitäre Pflicht. Im Zusammenwirken von Arzt und Justizbehörde soll entschieden werden, ob und vor allem wie Besuche in solchen Fällen durchgeführt werden. 2. Besondere Aufklärungsnotwendigkeit bei Todesfällen im Justizvollzug Todesfälle in einer Justizvollzugsanstalt sind in besonderer Weise aufklärungsbedürftig. 5 Nicht selten geraten der betreuende Arzt und die Justizvollzugsanstalt aus der Sicht der betroffenen Angehörigen in den Verdacht einer unterlassenen Hilfeleistung oder der nicht ausreichenden Behandlung bis hin zum Kunstfehler. Die Dokumentation von Krankheitsverlauf und Tod und die genaue ärztliche Untersuchung des Toten gewinnen in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht, da ein ausführlich niedergelegter Krankheitsbericht in den meisten Fällen eindeutig über Ausmaß und Angemessenheit der ärztlichen Untersuchung und Behandlung vor dem Todesfall Auskunft gibt. Bei Todesfällen im Vollzug erscheint es geboten, Staatsanwaltschaft bzw. Polizei hinzuzuziehen und eine Obduktion durchzuführen. 3. Tod ausländischer Gefangener Beim Tod ausländischer Gefangener ist nach Art. 37 des Wiener Übereinkommens vom 6 24. April 1963 über konsularische Beziehungen (BGBl 1969/II, 1585; in Kraft getreten für die Bundesrepublik Deutschland: BGBl. 1971/II, 1285) unverzüglich die konsularische Vertretung des Heimatstaates zu benachrichtigen.
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§ 66
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Beispiel 7
Ein seit Jahren an Asthma leidender Gefangener verstirbt in einem freien Krankenhaus zwei Stunden nach seiner Einlieferung aus einer Justizvollzugsanstalt. Der in der Justizvollzugsanstalt diensthabende Nachtwachenpfleger hatte zuvor den Anstaltsarzt davon unterrichtet, dass die ärztlich angeordnete Asthmamedikation bei dem Gefangenen während eines starken Anfalles von Atemnot ohne Wirkung geblieben war. Der Arzt veranlasste daraufhin eine Noteinweisung in das städtische Krankenhaus. Die von dem sehr dramatischen Ereignis beeindruckten Mitgefangenen, die mit dem Verstorbenen im gleichen Haftraum untergebracht waren, beschuldigten den Krankenpfleger der unterlassenen Hilfeleistung, da er den Gefangenen im Zustand eines Herzinfarktes ohne die erforderliche Versorgung gelassen habe. Die Obduktion des Verstorbenen ergibt jedoch eine massive Lungenstauung bei Herzversagen, ein Herzinfarkt lässt sich ausschließen. Das Ermittlungsverfahren gegen den Beamten wird eingestellt. Eine zusätzliche Entlastung erbringt in diesem Fall die genaue Dokumentation in der Gesundheitsakte des Verstorbenen. Der Patient war mit allen notwendigen Medikamenten – insbesondere mit Herzmitteln – versorgt worden. Er hatte gegen ärztlichen Rat sein exzessives Rauchen nicht eingestellt und seine Verlegung in das zuständige Vollzugskrankenhaus mehrfach abgelehnt.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 68 BayStVollzG entspricht, bis auf die Formulierung im Plural, § 66 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 67 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Erkranken Gefangene schwer oder versterben sie, so sind ihre Angehörigen oder die gesetzlichen Vertreter unverzüglich zu benachrichtigen.“ § 67 Abs. 2 HmbStVollzG entspricht § 66 Abs. 2 StVollzG. § 67 Abs. 3 HmbStVollzG normiert: „Beim Tod ausländischer Staatsangehöriger ist die zuständige Auslandsvertretung zu verständigen.“ Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Absatz 3 berücksichtigt die nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 (BGBl. 1969 II S. 1585, in Kraft für Deutschland: BGBl. 1971 II S. 1285) bestehende Verpflichtung, beim Tod ausländischer Gefangener unverzüglich die konsularische Vertretung des Heimatstaates zu benachrichtigen.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 45). 3. Niedersachsen
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Im NJVollzG gibt es kein Äquivalent zu § 66 StVollzG.
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Allgemeines
§ 67
ACHTER TITEL
Freizeit § 67 Allgemeines Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich in seiner Freizeit zu beschäftigen. Er soll Gelegenheit erhalten, am Unterricht einschließlich Sport, an Fernunterricht, Lehrgängen und sonstigen Veranstaltungen der Weiterbildung, an Freizeitgruppen, Gruppengesprächen sowie an Sportveranstaltungen teilzunehmen und eine Bücherei zu benutzen. VV Die VV Nummer 2 Abs. 4 Satz 1 und Nummer 3 Abs. 4 Satz 1 zu § 39 StVollzG gelten entsprechend. Schrifttum: Bauer/Lipka Plastisches Gestalten – Das Erlernen einer neuen Sprache, in: ZfStrVo 1988, 335 ff; Becker Gefangenenchor in der JVA St. Georgen-Bayreuth, in: ZfStrVo 1979, 241 ff; Behnke Sport im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1980, 25 ff; Berger/Opaschowski Animative Freizeitpädagogik als notwendige Ergänzung einer präventiven Kriminalpolitik, in: Schwind/Berckhauer/Steinhilper (Hrsg.), Präventive Kriminalpolitik, Heidelberg 1980, 209 ff; Bierschwale/Detmer/Köhler/Kramer Freizeitgestaltung im niedersächsischen Strafvollzug, in: ZfStrVo 1995, 83 ff; Bode Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, in: Schwind/Blau 1988, 313 ff; Böhm 25 Jahre Strafvollzugsgesetz, in: BewHi 2002, 92 ff; Brandenburgischer Kulturbund eV/Helmes Seelenbilder, JVA Brandenburg 2000; Drewitz (Hrsg.), Schatten im Kalk – Lyrik und Prosa aus dem Knast, Stuttgart 1979; Dünkel Empirische Forschung im Strafvollzug, Bonn 1996; Eberle Didaktische Grundprobleme der Bildungsarbeit im Justizvollzug, in: ZfStrVo 1982, 99 ff; Echtler Jugendliche in Untersuchungshaft – Ergebnisse einer zwei Jahre dauernden Fragebogenaktion, in: ZfStrVo 1982, 150 ff; Gerken Handball hinter Gittern – damit das Leben wieder lebenswert wird, in: ZfStrVo 1990, 33 f; Goldberg Freizeit und Kriminalität bei Jugendlichen. Zu den Zusammenhängen zwischen Freitzeitverhalten und Kriminalität, Baden-Baden 2003; Haselbauer Sport fällt im Knast genauso oft aus wie in der Schule, in Forum Strafvollzug 5/2007, 196 f; Herkert Freizeitgestaltung im Jugendstrafvollzug, in: Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskommission, Bonn 1978, Bd. IV, 1 ff; Herkert/ Nickolai Freiheit – eine Belastung? Therapeutische Reisen mit jugendlichen Delinquenten, in: ZfStrVo 1978, 81 ff; Herrmann Freizeit und Bildung im Strafvollzug; in: Rollmann (Hrsg.), Strafvollzug in Deutschland, Frankfurt 1967, 87 ff; Hötter Gefangene und die Regeln des Sports, in: ZfStrVo 1986, 94 ff; Hucht DLRG-Rettungswache mit jugendlichen Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1986, 92 ff; Ittel/Erzhöfer Erfahrungen mit dem offenen Vollzug, in: ZfStrVo 1980, 135 ff; Kellerhals Sportlehrgänge für Insassen von Jugendvollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1982, 13 ff; Klein/Koch (Hrsg.) Gefangenenliteratur. Sprechen, Schreiben, Lesen in deutschen Gefängnissen, Hagen 1988; Kofler Sport und Resozialisierung, Schorndorf 1976; ders. Der Stellenwert des Sports im Vollzug des Landes Baden-Württemberg, in: ZfStrVo 1981, 77 ff; Lenk Voraussetzungen für eine sinnvolle Umsetzung des Sports im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2006, 76 ff; Ludemann Strafgefangene stellen aus. Motto: „Schöpferisches Tun trotz Gitter“ – Vorurteile wurden abgebaut, in: ZfStrVo 1978, 105 ff; Mörs Das Freizeitproblem im deutschen Erwachsenenstrafvollzug, Stuttgart 1969; Müller-Ebeling Naikan – neue Wege im Justizvollzug, in: Forum Strafvollzug 4/2008, 183 ff; Müller-Marsell Ehrenamtliche Arbeit im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2003, 161 ff; Nahrstedt Freizeitpädagogik in der nachindustriellen Gesellschaft. Voraussetzungen, Aufgaben, Perspektiven, Neuwied 1973; Neuenhausen Ich grabe nach verschütteter Kreativität – Erfahrungen mit Kunst im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1979, 236 ff; Nickolai/Sperle Resozialisierung durch Bergsteigen? in: ZfStrVo 1980, 34 ff; dies. Erlebnispädagogik mit Jugendlichen im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1993, 162 ff; Ommerborn/ Schuemer Einige empirische Befunde und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Fernstudiums im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1997, 195 ff; Remky Wandmalereien hinter Gittern, in: ZfStrVo 1994, 91 ff; Rotthaus Partner im sozialen Umfeld des Vollzuges – Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit, in: Kury (Hrsg.) Strafvollzug und Öffentlichkeit, Freiburg 1980, 155 ff; Ruf Das Freizeit- und Kultur-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
programm der Sozialtherapeutischen Anstalt Ludwigshafen, in: ZfStrVo 1992, 179 ff; Ruppelt Kontaktgruppen im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1980, 216 ff; Schröder Chancen und Möglichkeiten des Einsatzes von Spiel, Sport und Bewegung im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1987, 140 ff; ders. Gesundheit und Sport im Justizvollzug, in: ZfStrVo 1992, 352 ff; ders. Zur Situation des Sports in den Niedersächsischen Justizvollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1997, 143 ff; ders. Bewegung, Spiel und Sport in der Sozialtherapie, in: ZfStrVo 2005, 332 ff; Schriever Behandlungsvollzug – Anforderungen und Herausforderungen, in: ZfStrVo 2001, 329 ff; Stieglitz Theater in der SOTHA. Ein Projekt in der JVA Kassel II, in: ZfStrVo 1990, 231 f; Voigt-Rubio Kunst und Kreativität während der Haft. Therapeutische Potenzen der Kunst, in: ZfStrVo 1986, 20 ff; dies. Literatur als Kunst-Form des Lebens, in: ZfStrVo 1986, 228 ff; dies./Schmalenberg Kunst und Kultur im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1988, 203 ff; Walter Resozialisierung durch darstellendes Spiel in der Vollzugsanstalt, Diss. jur. Hamburg 1970; Wattenberg Kreatives Training und künstlerisches Gestalten als Behandlungsmaßnahme in der Sozialtherapie, in: ZfStrVo 1992, 181 ff; ders. Kunst im Strafvollzug – 16 Jahre Erfahrung in der Arbeits- und Beschäftigungstherapie, in: ZfStrVo 1994, 288 ff; Weiß Radrennsport im Rudolf-Sieverts-Haus, in: ZfStrVo 1988, 211 ff; Weiß Sozialtherapie und Erlebnispädagogik – Eine Alpentour mit jugendlichen Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1992, 177f; Risse im Fegefeuer – Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene, Hagen 1989.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–2 1. Regelung der Freizeit in der Unfreiheit . . . . . . . . . . . . . 1 2. Die Tradition der Freizeitbeschäftigung im deutschen Strafvollzug 2 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 3–15 1. Das Recht zur Freizeitbeschäftigung 3 2. § 67 enthält kein Freizeitprogramm 4 3. Die Verpflichtung, ein Freizeitangebot zu machen . . . . . . . . 5 4. Das Freizeitangebot als Behandlungsmaßnahme . . . . . . . . . 6–10 a) Die Unfähigkeit der Gefangenen, sich in der Freizeit zu beschäftigen . . . . . . . . . . . . . . 7 b) Die Gefahr des Tagträumens . . 8 c) Die Gefahr der Knastkünstlers . 9 d) Die Gefahr des Zeit Totschlagens 10 5. Der Freizeitgestaltungsauftrag des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . 11 6. Die Möglichkeiten der Vollzugsverwaltung zu sinnvoller Freizeitgestaltung . . . . . . . . . . . . . 12 7. Die Verpflichtung, sozial erwünschtes Freizeitverhalten anzuregen . . . 13
8. Das Verbot von Rechtsnachteilen durch Freizeitausschluss . . . . . 14 9. Die Angebote in § 67 Satz 2 . . . 15 III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . 16–25 1. Freizeitgestaltung durch Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Freizeitgestaltung durch Sport . 18 3. Fernunterricht in der Freizeit . . 19 4. Weiterbildungsveranstaltungen in der Freizeit . . . . . . . . . . 20 5. Freizeitgruppen . . . . . . . . . 21 6. Gruppengespräche in der Freizeit 22 7. Therapeutisch ausgerichtete Freizeitangebote . . . . . . . . . . . 23 8. Soziales Training . . . . . . . . 24 9. Nutzung von Anstaltsbüchereien und Fernleihe . . . . . . . . . . 25 10. Besondere Formen der Freizeitgestaltung . . . . . . . . . . . . 26 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 27–29 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 28 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 29
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Das Strafvollzugsgesetz fasst vier Paragraphen unter dem Titel Freizeit zusammen. Zur kriminologischen Bedeutung der Freizeit vgl. Goldberg 2003 und K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 183 ff. Die im 8. Titel zusammen gefassten §§ 67–70 des Gesetzes sind nicht die einzigen Vorschriften, welche Regelungen für die Freizeit der Gefangenen enthalten. Den Freizeitbereich der Inhaftierten betreffen bei näherem Hinsehen eine Vielzahl von Vorschriften
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Allgemeines
§ 67
des Gesetzes z. B. die §§ 8, 11, 12, 13, 15, 17, 19–22, 23, 24, 26, 28, 32, 33, 42, 53–55, 73, 80, 81–85, 124, 134, 160. Mittelbar betrifft auch der 4. Abschnitt in seinem 1. und 3.Titel die Freizeit der Gefangenen. Die organisatorische und bauliche Gestaltung der Anstalten sowie das bereitgehaltene Anstaltspersonal stecken die Grenzen der Freizeitbeschäftigung für die Inhaftierten ab. Die in Deutschland bisher noch in den meisten Bundesländern gültigen vollzugsgesetzlichen Regelungen (StVollzG) entsprechen inhaltlich vollauf den Empfehlungen des Europarates, vgl. die Ziffern 27.1 bis 27.7 der REC (2006) 2 vom 11. Januar 2006. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die effektiv bestehenden Freizeitgestaltungsmöglichkeiten der Inhaftierten hat in vielen Anstalten auch die Vielfalt des in der jeweiligen Vollzugsanstalt bestehenden „multikulturellen Bevölkerungsgemisches“. Bei bis zu 100 Nationalitäten und Ausländeranteilen von zuweilen über 35 % an der Gefangenenpopulation reduziert sich das Freizeitangebot nicht nur für die nationalen oder ethnischen Minderheiten, sondern auch für viele deutsche Inhaftierte auf die Möglichkeiten des Fernseh- oder Rundfunkempfangs sowie der Lektüre von Büchern und Zeitschriften. Die in der Vorauflage bereits skizzierte generelle Lagebeurteilung gilt auch heute noch. Kontinuierlicher Personalabbau und die stärkere Gewichtung der Anstaltssicherheit hat die Zahl der für die Betreuung der Gefangenen zur Verfügung stehenden Kräfte des allgemeinen Vollzugsdienstes deutlich geringer werden lassen als sie zur Zeit des Inkrafttretens des Strafvollzugsgesetzes vorhanden waren. Die besonderen Fachkräfte des psychologischen Dienstes und des Sozialdienstes werden seit der Strafrechtsänderung von 1998 stärker als früher zur Begutachtung und zur Behandlung von „Sexual- und Gewalttätern“ herangezogen und stehen dem gemäß für Freizeitangebote nur noch in geringem Umfang zur Verfügung. In vielen deutschen Justizvollzugsanstalten werden die über Sport, Fernsehempfang im Haftraum und „Umschluss“ zur Nachbarzelle hinausgehenden Freizeitangebote nur noch von externen Kräften angeboten. Ehrenamtliche Betreuer (dazu Müller-Marsell 2003, 161–163) sind insoweit die Hoffnungsträger für die Zukunft, denn andere freie Träger, welche bisher Freizeitaktivitäten im Kreativbereich oder nach der Art der Volkshochschulen angeboten haben (dazu Walter 1999, Rdn. 281), werden in Folge des in allen Bundesländern durchgeführten „Subventionsabbaus“ ihre Angebote reduzieren müssen. Die zunehmende Verödung des Freizeitbereichs der Gefangenen (so auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 196 und 197 und Haselbauer Forum Strafvollzug 5/2007, 196 f) trifft den deutschen Strafvollzug in einer Phase, die bei einer zunehmenden Zahl von Inhaftierten durch eine deutliche Verlängerung ihrer realen Verbüßungszeiten, durch verminderte Chancen auf eine vorzeitige Entlassung und bei den so genannten „gefährlichen Tätern“ oftmals durch das Nichtvorhandensein einer realistischen Entlassungsperspektive gekennzeichnet ist. Außerdem ist die Zahl der Gefangenen, denen weder ein lebensnaher Arbeitseinsatz noch eine angemessene Beschäftigung im Sinne der Regelung in § 37 Abs. 1 und 4 angeboten werden kann, als Folge der Entwicklung auf dem freien Arbeitsmarkt immer noch sehr hoch. Zwischen 25 und 50 % der jeweiligen Gefangenenpopulation sind in den meisten Strafanstalten des geschlossenen Vollzuges nach Auskunft der Landesjustizverwaltungen „unverschuldet ohne Arbeit“ und erhalten deshalb in der Regel Taschengeld (§ 46). Schulische oder berufliche Bildungsmaßnahmen können entweder nicht in ausreichendem Umfang angeboten werden oder sind im konkreten Einzelfall wegen der Begabungsschwächen der Inhaftierten nicht sinnvoll. In manchen Justizvollzugsanstalten ist für einen Teil der Gefangenen das so genannte Jobsharing und damit die Halbtagsarbeit eingeführt worden. In vielen Anstalten werden den arbeitswilligen aber beschäftigungslosen Inhaftierten während der Arbeitszeit „arbeitstherapeutische“ Maßnahmen angeboten. Diese umfassen oft Tätigkeitsfelder die dem entsprechen, was man früher als Bastelarbeiten bezeichnete.
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§ 67
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Solche auf den Angaben von Anstaltsleitern beruhende Situationsschilderung kann durch den Hinweis ergänzt werden, dass es einer kleineren Gruppe von Anstalten trotz personeller Engpässe gelungen ist, für beschäftigungslose Gefangene die Freizeitangebote während der Tageszeit auszuweiten. So wird eine zweistündige (!) Bewegung im Freien mit Sportangeboten kombiniert oder es wird für mehrere Stunden am Tag die künstlerische Betätigung der Inhaftierten durch Spielen von Musikinstrumenten, Proben für Theateraufführungen oder das Malen von Bildern bzw. das Fertigen anderer Kunstwerke ermöglicht. Neuerdings sind oft auch moderne elektronische Spielgeräte zugelassen. Gerade in der für viele Inhaftierte trostlosen Lage ist es besonders wichtig auf den gesetzlichen Auftrag hinzuweisen, dass Freizeitangebote im Strafvollzug in ein Behandlungskonzept zu integrieren sind (so richtig C/MD 2008 Rdn. 1). Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers zerfällt der Tageslauf der Gefangenen in Arbeit bzw. arbeitsähnliche Aus- und Fortbildung, in Ruhezeit und in Freizeit (s. C/MD 2008 Rdn. 5 und AK-Boetticher 2006 Rdn. 1). Das Strafvollzugsgesetz enthält jedoch keine Vorschrift, welche die zeitliche Gliederung des Tagesablaufs vorschreibt. Allerdings sind die Vollzugsbehörden verpflichtet, die Bedeutung der Freizeitgestaltung für die Behandlung der Gefangenen in weitest möglichem Umfang zu beachten (so auch C/MD 2008 Rdn. 5). Ein starres Festhalten am früher üblich gewesenen Tagesrhythmus widerspricht in heutiger Zeit nicht nur dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) sondern vernachlässigt bei etlichen Gefangenen auch den Integrationsgrundsatz (§ 3 Abs. 3). Arbeitszeit und Freizeit – sowie bei Schichtarbeit auch die Ruhezeit – können in unterschiedlichster Weise variiert werden (so auch C/MD 2008 Rdn. 5; eher skeptisch Arloth 2008 Rdn. 2). Das in § 67 Satz 1 formulierte Angebotskonzept muss bei sozialstaatlicher Auslegung der Vorschrift als Teil des im Gesetz enthaltenen Behandlungsauftrages interpretiert werden, so dass sowohl der „Angleichungsgrundsatz“ (§ 3 Abs. 1) als auch der „Gegensteuerungs- und der Integrationsgrundsatz“ (§ 3 Abs. 2 und 3) zu beachten sind. Die als Folge des Freiheitsentzuges zwangsläufige Reduzierung des Freizeitbereichs der Gefangenen wird allerdings vom Gesetzgeber unterstellt (§ 3 Abs. 1: . . . „soweit als möglich“ . . .). Urlaubs- und Bildungsreisen sowie die meisten der bei freien Bürgern besonders beliebten Vergnügungen – mit und ohne Alkohol – sind innerhalb von Justizvollzugsanstalten nicht möglich. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, dass für viele ausländische Gefangene das in ihren Herkunftsländern übliche Freizeitverhalten oft nicht einmal ansatzweise ermöglicht werden kann. Dies zu akzeptieren fällt manchen „Inhaftierten mit Migrationshintergrund“ schwer.
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2. Vor Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes wurden Strafgefangene in vielen geschlossenen Justizvollzugsanstalten in ihrer arbeitsfreien Zeit oft nur in ihre Hafträume eingesperrt und hatten neben der „Bewegung im Freien“ wenige Angebote zur Freizeitgestaltung. Das Lesen von Büchern, in geringem Umfang das Basteln und der Besuch von Gottesdiensten oder anderen religiösen Gruppen waren die wenigen Möglichkeiten, Freizeit aktiv zu verbringen. Im Blick auf diese Tradition der „quälenden Langeweile“ (vgl. Bode 1988, 327) setzte § 67 neue Akzente hinsichtlich der Freizeitgestaltung der Strafgefangenen. Der Konzeption des Gesetzgebers lag die Erkenntnis zu Grunde, dass Menschen, denen es gelingt, ihre Freizeit mit sie zufriedenstellender Beschäftigung zu füllen, eine größere Chance haben, ein straffreies Leben zu führen, als Menschen, die sich in ihrer Freizeit nicht oder nur schlecht selbst beschäftigen können (im Ergebnis ähnlich Calliess 1992, 138 und Walter 1999, Rdn. 281). Für die meisten Strafgefangenen ist eine als sinnvoll empfundene Freizeitbeschäftigung etwas Neu zu Erlernendes (s. die Angaben von einzelnen Gefangenen bei Echtler 1982, 150 ff, 153). Sie sollen nach ihrer Entlassung Möglichkeiten kennen, einer
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zufriedenmachenden Freizeitbeschäftigung nachzugehen. Dies wird die Gefahr mindern, sich in Gruppen Gleichgesinnter zu flüchten. In solchen Gruppen werden – wie langjährige Erfahrungen bei der Durchführung von Behandlungsuntersuchungen in der Einweisungsanstalt Hagen/Westfalen (§ 152 Abs. 2) ergeben – vielfach neue Straftaten geplant. Unter Beachtung solcher Erkenntnisse vergrößerten die Anstaltsverwaltungen nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes das Freizeitangebot beträchtlich. In den letzten Jahren ist diese Entwicklung allerdings rückläufig. Die hohe Belegung in den Anstalten mehrerer Bundesländer (§ 146 Rdn. 5) führt zum Einrichten von Notgemeinschaften und zur „Reaktivierung“ von zeitweilig als Freizeiträume zur Verfügung gestellten früheren Hafträumen. Parallel dazu entwickelt sich in etlichen Justizvollzugsanstalten ein anderer ungünstiger Trend: trotz steigender Belegung erfolgt eine geringere Zuweisung von Planstellen für Bedienstete wegen der Verknappung der Haushaltsmittel. Viele Bedienstete müssen oft mehr Überstunden im Rahmen ihrer Pflichtarbeit leisten, so dass ihre Neigung zu freiwilligem Engagement im Freizeitbereich der Gefangenen nachlässt. Die (schon erwähnte) frühere Tradition der „quälenden Langeweile“ hat sich wieder verbreitet. In Folge der Möglichkeiten ständigen Fernsehempfangs und der Nutzung anderer Unterhaltungsgeräte gestaltet sich die Langeweile nicht mehr so quälend für die betroffenen Gefangenen. Sie stellt sich angesichts des Verurteilt Seins zu nur passiver Rezeption der oft gleichartigen Fernsehprogramme und der längerfristig eintönigen Angebote der Unterhaltungselektronik im Laufe der Haft dann doch bald ein. Diese Entwicklungstrends sind nach wie vor zu beklagen, obwohl § 67 neue Akzente für die Freizeitgestaltung der Gefangenen hat setzen wollen. In der Vollzugspraxis wird oft vergessen, dass die Rechtslage seit 1977 (bis auf die dürftiger ausgestaltete Neureglung des Freizeitkonzepts in den §§ 64 bis 67 NJVollzG) unverändert geblieben ist.
II. Erläuterungen 1. Der Gefangene „erhält Gelegenheit“, sich in seiner Freizeit zu betätigen. Diese For- 3 mulierung enthält gemessen an der Tradition des custodialen deutschen Strafvollzuges keine Selbstverständlichkeit, sondern schafft dem Gefangenen eine Rechtsposition. Der Gesetzgeber verpflichtet die Strafgefangenen nicht, sich in ihrer Freizeit zu betätigen, sondern er gibt das Recht, dies zu tun. Die Gefangenen haben jedoch nicht das Recht, an bestimmten gemeinschaftlichen Freizeitveranstaltungen teilzunehmen (OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 253 f). Bietet eine Justizvollzugsanstalt allerdings Freizeitgruppen an, die den besonderen Neigungen oder Begabungen einzelner Gefangener entsprechen, so hat der Gefangene grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf Teilnahme (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 52; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315–317); dies gilt insbesondere für den grundrechtlich geschützten Bereich der Kunst (OLG Nürnberg ZfStrVo 1989, 374 mit Anm. Matzke/Bartl ZfStrVo 1990, 54) sowie der religiösen Betätigung (OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 54 ff) aber auch für Fortbildung (OLG Celle vom 28.11.2002 1 Ws 336/02). Auch die Ziffern 27.3 bis 27.7 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze enthalten entsprechende Vorgaben. § 67 trägt der Tatsache Rechnung, dass der Strafgefangene nach seiner Entlassung das Problem haben wird, sich freiwillig in seiner Freizeit zu beschäftigen. Er soll diese Fähigkeit während des Vollzuges nicht nur nicht verlernen, sondern muss sie oft erst erlernen (so auch AK-Boetticher 2006 Rdn. 5). Zur Mitwirkung des Gefangenen grundsätzlich § 4 Rdn. 2 ff. 2. Der Gesetzgeber stellt in § 67 kein detailliertes Programm für eine geplante Freizeit 4 auf (so auch Laubenthal 2008 Rdn. 609). Die gesetzliche Regelung setzt aber voraus, dass auch für inhaftierte Menschen die Freizeit ein Lebensbereich ist, den sie so ausfüllen sollten,
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dass sie mit ihrer Lebensführung zufriedener sind als diejenigen, deren Leben durch Phantasielosigkeit und Langeweile bestimmt wird (ausführlich dazu Goldberg 2003).
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3. Die Vollzugsverwaltung ist deshalb verpflichtet, den Gefangenen im Rahmen des in einer Strafanstalt Möglichen das Angebot zu machen, sich in ihrer Freizeit zu beschäftigen (so auch die REC (2006)2 Zif. 27.3 bis 27.6 und C/MD 2008 Rdn. 3). Diese Verpflichtung ist ein Unterfall der in § 4 Abs. 1 Satz 2 geregelten Motivationspflicht der Vollzugsverwaltung (§ 4 Rdn. 7). Die Freizeitangebote im Vollzug müssen deshalb attraktiv sein und vor allem Aktivitäten ermöglichen, die für den Gefangenen nach seiner Entlassung in die Freiheit ebenfalls realisierbar sind (im Ergebnis ähnlich AK-Boetticher 2006 Rdn. 5, Laubenthal 2008 Rdn. 608 und Walter 1999 Rdn. 281). Zur Motivierung vgl. ferner § 2 Rdn. 11; § 4 Rdn. 8.
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4. Die Zielsetzung des Strafvollzugsgesetzes hinsichtlich der Ausgestaltung der Freizeit der Strafgefangenen wird in vielen Justizvollzugsanstalten heute mehr als in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes außer acht gelassen. In Niedersachsen hat der Landesgesetzgeber unter Ausnutzung seiner neuen Zuständigkeit ein kümmerliches Freizeitangebot gesetzlich fixiert (§§ 64 bis 67 NJVollzG) hat allerdings in § 128 NJVollzG für junge Gefangene eine der Regelung in § 67 StVollzG inhaltlich entsprechende Verpflichtung der Vollzugsvewaltung normiert (nach Arloth 2008 Rdn. 1 ein bloßer Programmsatz). Unabhängig von Überbelegung und Personalknappheit führen weitere durchaus vermeidbare Organisationsmängel oft zur Verschlechterung des Freizeitangebots. So werden viele der verbliebenen Freizeitgruppen manchmal unter dem Vorwand von „Sicherheitsbedenken“ überreglementiert, so dass zu wenige Gefangene zu den angesetzten Gruppenstunden „hintrotten“ dürfen und die meisten in der Zelle vor dem Radio- oder Fernsehgerät sitzen bleiben müssen. Doch nicht nur das „Ausdünnen“ der Freizeit der Inhaftierten ist ein der gesetzlichen Intention widersprechendes Verhalten von Bediensteten, sondern auch das mittelbare Fördern von Freizeitverhalten, welches die Gefangenen in ihrer Lebensuntüchtigkeit bestärkt.
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a) Die Unfähigkeit der Freizeitgestaltung könnten die Vollzugsbediensteten bei vielen Gefangenen aufspüren. Manche Inhaftierte suchen keine Gelegenheit, sich in ihrer Freizeit zu beschäftigen. Die von ihnen vor der Inhaftierung bevorzugten Freizeitgewohnheiten können sie in der Haft nur unvollkommen fortsetzen. In Gemeinschaftshafträumen oder beim „Umschluss“ auf der Nachbarzelle pflegen sie als Ersatz für Kneipengespräche prahlerisch über ihre Abenteuer zu sprechen oder sie versuchen sich bei sog. „Lollo-Parties“ mit aufputschendem Kaffeegetränk und zunehmend auch mit Rauschgiften anderer Art ein Ersatzmilieu für eine Kneipe zu schaffen. Andere Inhaftierte verbringen fast ihre gesamte Freizeit dösend im Bett. Nehmen die Vollzugsbediensteten dieses Gefangenenverhalten tatenlos hin, so wird den betroffenen Gefangenen faktisch kein Freizeitangebot im Sinne des § 67 nahe gebracht.
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b) Jeder Vollzugsbedienstete kennt die Tagträumer, die ihre Haftsituation dadurch zu verbessern versuchen, dass sie in ihrer Freizeit von einer besseren Zukunft träumen. Solche Träume werden zuweilen angeregt durch rührselige Romanliteratur oder auch durch pornografische Zeitschriften und Fernsehfilme. Auch können Gespräche in Gemeinschaftshafträumen dem gemeinsamen Tagträumen dienen. Lassen die Vollzugsbediensteten das Tagträumen der Gefangenen kommentarlos zu, weil der träumende Gefangene ein bequemer, ein „ruhiger Gefangener“ ist, so unterlassen sie ebenfalls das vom Gesetz gewünschte Freizeitangebot (Rdn. 5).
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c) Ein die Sozialisation förderndes Freizeitangebot setzt voraus, dass die Bediensteten 9 eine lediglich haftspezifische Motivation für sinnvolles Freizeitverhalten der Gefangenen nicht nur schweigend hinnehmen sondern thematisieren. In Einzelfällen kann das Resozialisierungsziel ein Verbot von Freizeitaktivitäten (z.B. Gewaltvideos) rechtfertigen (zutr. Arloth 2008 Rdn. 4) jedoch ist die primäre Aufgabe des Vollzugsstabes den Gefangenen sinnvolle Freizeitaktivitäten nahe zu bringen. In vielen Justizvollzugsanstalten gibt es Gefangene, die in durchaus sinnvoller Weise ihre Freizeit nutzen zugleich jedoch berichten, dass sie nach ihren früheren Haftentlassungen die in der Haft praktizierten Freizeitbeschäftigungen niemals aufgegriffen haben. Fast alle Justizvollzugsanstalten kennen die sog. „Knastkünstler“. Solche Künstler erstellen oft recht wertvolle Bastelarbeiten aus Holz, Ton, Kupfer, Blei oder anderen Werkstoffen (vgl. Ludemann 1978 und Remky 1994). Andere Gefangene schreiben Kurzgeschichten oder verfassen Gedichte (vgl. Drewitz 1979). Mancher Inhaftierte schreibt auch seine Lebenserinnerungen oder verfasst längere, sehr lebendige Briefe an Angehörige und Freunde, die einem Tagebuch gleichkommen. Die skizzierten Freizeitbeschäftigungen bringen nicht nur Abwechselung in den als eintönig empfundenen „Knastalltag“, sondern sie verschaffen den Gefangenen z. T. auch zusätzliche finanzielle Einkünfte und Ansehen bei Vollzugsbediensteten und Mitgefangenen. Hohe Anerkennung in der Strafanstalt verschafft auch die Tätigkeit des „Rechtsbeistandes“, der für Mitgefangene Anträge, Eingaben und Beschwerden aller Art formuliert (zur Rechtsberatung für Mitgefangene OLG Hamm NStZ 1982, 438; vgl. auch § 115 Rdn. 8). Entspringen diese Freizeitbeschäftigungen lediglich haftspezifischer Motivation, so sind die Bediensteten gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 verpflichtet, mit den Gefangenen den Sinn ihres Freizeitschaffens zu erörtern. d) Das Besprechen von Freizeitaktivitäten ist auch dann erforderlich, wenn Freizeit- 10 beschäftigung in der Strafanstalt von Gefangenen nur dazu benutzt wird, „die Zeit totzuschlagen“. „Die Zeit geht besser rum“, sagen die Gefangenen und nehmen Freizeitangebote nur wahr um „mal aus der Hütte raus zu kommen“. Gespräche mit Kontaktgruppen freier Bürger, die mit Tabakwaren und Kaffee in die Anstalt kommen und für Abwechselung sorgen, die Gelegenheit geben, junge attraktive Frauen aus der Nähe zu betrachten und ihnen schöne Augen zu machen, Gesprächsgruppen mit den Fachkräften des Vollzuges, in denen man diese Fachkräfte für sich einnehmen kann, um dadurch die Hilfe des Psychologen, des Sozialarbeiters oder Pfarrers für besondere Problemlagen zu gewinnen, sind Beispiele solch haftspezifischen Freizeitverhaltens. Nur wenige Hinweise des Personals reichen oft, um bei Kontakten zu den Fachkräften des Vollzuges sowie zu Mitgliedern von Kontaktgruppen aus der zunächst vordergründigen Motivation der Gefangenen einen positiven Entwicklungsprozess werden zu lassen. Nach solchen Gesprächen werden die meisten Inhaftierten selbstkritischer und realitätsbezogener (ähnlich AK-Boetticher 2006 Rdn. 14 u. 17). 5. Das Strafvollzugsgesetz lässt es entsprechend rechtsstaatlichen Grundsätzen zwar 11 zu, dass Gefangene ihre Freizeit im Rahmen des im Vollzug Zulässigen auch unsinnig gestalten. § 67 enthält aber wie viele andere Vorschriften des Gesetzes einen Behandlungsauftrag (ebenso C/MD 2008 Rdn. 1). § 2 Satz 1 gilt als sozialstaatliche Auslegungsregel auch für § 67, d. h. der Gesetzgeber erwartet vom Vollzugsstab, dass der Gefangene im Rahmen der Freizeitgestaltung lernt, die Freizeit sinnerfüllt zu erleben (zum Vollzugsziel § 2 Rdn. 10 ff). Dazu ist auch erforderlich, den Inhaftierten deutlich zu machen, dass jeder Mensch das Problem der Freizeitbewältigung hat. Wenn Gefangene während des Vollzuges Freude an bestimmten Freizeitbeschäftigungen (z. B. Theaterspielen, aber auch Basteln) gewinnen, und diese dann in der Freiheit weiterführen, so ist dies ein Behandlungserfolg. Es gibt speziell ausgebildete Sozialpädagogen, die solche Erkenntnisse fachkundig vermitteln könn-
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ten. Die Vollzugsverwaltungen der Länder beschäftigen solche Fachkräfte allerdings nach wie vor zu selten (so auch AK-Boetticher 2006 Rdn. 13). Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass in den meisten Bundesländern Bemühungen bestehen, Freizeitkoordinatoren von anderen Dienstgeschäften freizustellen. Solchen Bediensteten kann es durchaus gelingen, mit Hilfe von Honorarkräften und ehrenamtlichen Betreuern zusätzliche Freizeitangebote für Gefangene zu gestalten (vgl. den Überblick bei Bierschale/Detmer/Köhler/Kramer 1995 und bei Wattenberg 1994).
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6. Die meisten Inhaftierten meinen, dass die in § 67 Satz 2 aufgezählten Veranstaltungen wie Fernunterricht, Lehrgänge und sonstige Veranstaltungen der Weiterbildung und auch die Gruppengespräche Veranstaltungen sind, die eine Freistellung von der Arbeitspflicht zur Folge haben müssten, d. h., die Inhaftierten halten diese vom Gesetz als Freizeitbeschäftigung angesehenen Veranstaltungen für so anstrengend, dass sie diese mit Arbeit gleichsetzen. Die Teilnahme an therapeutischen Gesprächen wird nicht nur von Gefangenen, sondern auch von den therapeutischen Fachkräften als arbeitsgleiche Anstrengung empfunden. Deshalb müssten therapeutische Gespräche in der Arbeitszeit erfolgen. Die Formulierung in § 67 Satz 2 lässt einerseits erkennen, dass der Gesetzgeber versucht den Gefangenen die Erfahrung nahe zu bringen, dass es sich lohnt, die Freizeit zur Weiterbildung und zu Gesprächen zu nutzen, welche die Persönlichkeitsentwicklung fördern. Andererseits steht die Regelung in § 67 nicht der Entwicklung eines ganzheitlich pädagogisch ausgerichteten Behandlungskonzepts entgegen, wonach Arbeit und kreative Freizeitgestaltung in Anlehnung an Entwicklungen außerhalb des Vollzuges zeitlich flexibel geordnet werden müssen. Mit Recht weisen C/MD 2008 (Rdn. 5 bis 7) darauf hin, dass eine Flexibilisierung der Arbeitszeit der Gefangenen und eine Verlegung bestimmter Freizeitaktivitäten (z. B. Bildhauerei, Malen, Sport) in die Vormittagszeit therapeutisch indiziert sind. Die Leistungskurve des Menschen hat tageszeitlich gesehen am Vormittag einen Höhepunkt und wird deshalb kreatives Handeln begünstigen. Dies wiederum wird in der Erlebniswelt der Gefangenen Freizeitaktivitäten positiv verankern. Solches entspricht § 2 Satz 1 mehr als bloßes Ermöglichen von Freizeitaktivitäten „nach Feierabend“. Für derartige Umstrukturierungen des Tagesablaufs besteht zur Zeit noch zu wenig Interesse bei den justizpolitisch Verantwortlichen, obwohl die Verknappung von Arbeit in den Anstalten konzeptionell neue Wege nahelegen würde. Es genügt nicht, nur die Freizeitangebote für arbeitslose Gefangene in die Tageszeit zu verlegen. Ein Hemmnis bei der Entwicklung eines zeitlich flexiblen Wechsels von Arbeit und Freizeitangeboten ist die Haltung der Vollzugsbediensteten, möglichst ihren eigenen „Dienst zu ungünstigen Zeiten“ zu vermeiden.
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7. Die Vollzugsverwaltung soll durch ihre Anregungen zur Freizeitgestaltung versuchen, das Freizeitverhalten der Gefangenen so zu beeinflussen, dass sie sozial erwünschtes Freizeitverhalten lernen. Dies muss durch entsprechende Ausgestaltung der Freizeitangebote und durch gezielte Motivationshilfen im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 zu erreichen versucht werden (Rdn. 5).
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8. Aus der Formulierung des § 67 Satz 1 folgt, dass die Nichtteilnahme an angebotenen Freizeitveranstaltungen für Gefangene keine Rechtsnachteile bringen darf (a. A. ohne nähere Begründung z. T. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3). Der zeitweilige Ausschluss von Freizeitveranstaltungen ist hingegen als Disziplinarmaßnahme gem. § 103 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 5 möglich. Die Anwendung dieser Disziplinarmaßnahmen muss allerdings unter Berücksichtigung der aus § 67 Satz 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 2 abzuleitenden Motivationspflicht erfolgen. Unbedenklich kann von den genannten Disziplinarmaßnahmen Gebrauch gemacht werden, soweit Gefangene in bestimmten Freizeitveranstaltungen als Störer auf-
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getreten sind. Dies folgt ausdrücklich aus § 103 Abs. 4 Satz 1. Eine solche Einschränkung der Freizeitbeschäftigung der Gefangenen wirkt nicht demotivierend, weil sie als unmittelbare Folge störenden Verhaltens im Freizeitbereich von dem betroffenen Gefangenen erlebt werden kann. Auch weitergehende disziplinarische Freizeit-beschränkungen sind vertretbar (vgl. § 103 Rdn. 4). In Anbetracht der Tatsache, dass ein Motivieren von Gefangenen zu sinnerfülltem Freizeitverhalten jedoch sehr schwer ist, bestehen gegen jede extensive Anwendung der in § 103 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 5 vorgesehenen Disziplinarmaßnahmen erhebliche Bedenken (so auch AK-Boetticher 2006 Rdn. 9). 9. In § 67 Satz 2 zählt der Gesetzgeber beispielhaft einige Möglichkeiten der Freizeit- 15 gestaltung auf. Die Justizvollzugsanstalten können über die im Gesetz aufgezählten Angebote hinausgehen. Der Gefangene hat allerdings keinen Rechtsanspruch auf Bereitstellung aller in § 67 Satz 2 aufgezählten Freizeitangebote, aber einen Rechtsanspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (ebenso C/MD 2008 Rdn. 2, ähnlich AK-Boetticher 2006 Rdn. 4, vgl. auch § 4 Rdn. 11). Die Vorschrift des § 67 Satz 2 ist lediglich eine Sollvorschrift, weil die Möglichkeiten zu Freizeitangeboten vom Personalbestand und den räumlichen und finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Anstalten abhängen. Dennoch ist jede Anstalt verpflichtet, überhaupt ein dem Gesetz inhaltlich Rechnung tragendes Freizeitangebot zu machen. Gesetzwidrig wäre das Verhalten einer Vollzugsanstalt, die keine nennenswerten Freizeitangebote bereithält, denn solche Anstalten, in denen Gefangene nach der Ausgabe der Mahlzeiten unter „Nachtverschluss“ in ihren Hafträumen gehalten werden, würden die Regelung in § 67 Satz 1 leer laufen lassen. Auch würde ein derartiges Verhalten des Vollzugsstabes die Empfehlungen des Europarates (Ziff. 27.3 bis 27.7) missachten (vgl. Rdn. 2).
III. Beispiele Wenn eine Vollzugsanstalt dem gesetzlichen Auftrag des § 67 Rechnung trägt, müsste 16 sie ihre Bediensteten zu „ungünstigen Dienstzeiten“ verstärkt einsetzen. Der gegenwärtige Trend, Dienstposten abends und am Wochenende „wegen Personalmangels“ abzubauen, missachtet die Zielvorgaben des Gesetzes. In vielen Anstalten hat man den Eindruck, dass es der Justizverwaltung eher um die Verbesserung des Freizeitangebotes für Beamte und kaum noch um eine Verbesserung der Freizeitgestaltung der Gefangenen geht. Nach wie vor wäre es gut, wenn nicht nur der Allgemeine Vollzugsdienst in der arbeitsfreien Zeit der Gefangenen eingesetzt würde, sondern auch die besonderen Fachdienste, denn ein sozialisierendes Freizeitangebot erfordert auch die Anwesenheit geschulter Fachkräfte. Diese Erkenntnis hat einige Landesjustizverwaltungen dazu veranlasst, besondere Dienststundenregelungen für Fachdienste zu erlassen. Im Strafvollzug sind bei entsprechender Planung der Leitungen der Justizvollzugsanstalten für einen Großteil der Gefangenen differenzierte Freizeitangebote möglich (vgl. AK-Boetticher 2006 Rdn. 16–23, sowie ausführlich Mörs 1969 und Bode 1988, 325 ff). Auch für viele ausländische Inhaftierte ist in Sport- oder Musikgruppen ein Minimum an Freizeitangeboten entwickelbar. 1. Unterricht, soweit er nicht schulabschlussbezogen angeboten wird (§ 38 Rdn. 11), 17 soll in der Freizeit stattfinden. Es kann sich dabei um allgemeinbildenden Unterricht handeln, um Sprachunterricht, um Elementarunterricht für ausländische Gefangene in der deutschen Sprache und um Unterricht in Fächern, die in Freiheit von den Volkshochschulen angeboten werden (vgl. Eberle 1982). 2. Sport- und Teilnahme an Sportveranstaltungen werden erfreulicherweise in im- 18 mer mehr Justizvollzugsanstalten ermöglicht. In Niedersachsen ist Sport wahrscheinlich Klaus Koepsel
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demnächst das einzige Freizeitangebot für Gefangene außerhalb der Hafträume (§ 64 NJVollzG). Kraftsport ist in vielen Anstalten ein bei den Gefangenen beliebtes Angebot geworden. Ob die Beliebtheit sinkt, wenn dafür bezahlt werden muss (Thüringer OLG am 11.7.2005 1 Ws 111/05), bleibt abzuwarten. „Sport macht Spaß“ – Aktivitäten, wie sie in Freiheit üblich geworden sind, entwickeln sich auch in Strafanstalten. Auch Sportangebote für ältere Gefangene, Koronar-Patienten, Körperbehinderte und „völlig Ungeübte“ werden zunehmend entwickelt. Dominierend bleiben allerdings Ballspiele mit Wettkampfcharakter und leichtathletische Übungen. Tennis, Minigolf und Fahrradfahren haben sich nur in einigen offenen Anstalten durchgesetzt. Fachkundige Anleitung durch entsprechend aus- und fortgebildete Vollzugsbedienstete kann durchweg sichergestellt werden. Auch ist ein gewisser Versicherungsschutz für die Sport treibenden Inhaftierten gegeben, wenngleich die sog. Billigkeitsentschädigung, die bei Sportunfällen gewährt werden kann, der Höhe nach unzulänglich geblieben ist. Die Sportangebote in vielen Anstalten entsprechen inzwischen durchaus den gesetzlichen Zielvorgaben, wonach Sport einen hohen sozialpädagogischen Stellenwert hat (so auch AK-Boetticher 2006 Rdn. 19). Die Teilnahme an größeren Sportveranstaltungen ist allerdings oft nur außerhalb der Anstalt möglich und setzt deshalb Gefangene voraus, die für entsprechende Ausführungen i. S. des § 11 geeignet sind (vgl. Kofler 1981; Behnke 1980; Kellerhals 1982; Gerken 1990 und § 11 Rdn. 6, 13 ff).
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3. Fernunterricht kann – weitgehend auf Kosten der betroffenen Gefangenen – in großem Umfang gestattet werden. Fernunterricht kann zur Vervollkommnung spezieller beruflicher Kenntnisse dienen, zur Erlangung von Sprachkenntnissen, aber auch zur Pflege eines Hobbys. Möglich ist seit einigen Jahren auch das Fernstudium an der Fernuniversität in Hagen. Im Rahmen dieses Fernstudiums kann der Gefangene sowohl einen akademischen Grad erlangen als auch eine studienbezogene Einzelfachfortbildung betreiben (die Situation schildern Ommerborn/Schümer 1997).
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4. Lehrgänge und sonstige Veranstaltungen der Weiterbildung können in der Freizeit angeboten werden, soweit sie nicht berufsabschlussbezogen sind (Rdn. 17). Als solche Veranstaltungen kommen Erste-Hilfe-Kurse, aber auch berufsbezogene Fortbildungsmaßnahmen in Betracht. Es können jedoch auch Lichtbildervorträge oder Filme sein, auch kann die Teilnahme an bestimmten Bildungsprogrammen der Fernsehanstalten ermöglicht werden (Beispiele bei AK-Boetticher 2006 Rdn. 16). Zulässig ist es, den Gefangenen finanziell an einem verbesserten Fernsehangebot (digital) zu beteiligen (OLG Nürnberg 1.3.2007 2 Ws 73/07). Zum derzeitigen Angebot vgl. § 69 Rdn. 10.
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5. Die Justizvollzugsanstalten sollen Freizeitgruppen anbieten. Unter diesem Begriff lassen sich die vielfältigsten Veranstaltungen subsumieren. Es können Gruppenveranstaltungen sein, die Filme und Fernsehdarbietungen den Gefangenen anbieten, es können in solchen Gruppen Hobbys gepflegt werden wie Basteln, Fotografieren, Malen, Theaterspielen (vgl. Neuenhausen 1979; Stieglitz 1990; Müller-Dietz 1978, 178; Calliess 1992, 137–140). In offenen Justizvollzugsanstalten sind vereinzelt Tanzkurse und Wandergruppen zusammen mit den Ehefrauen der Inhaftierten angeboten worden (vgl. Ittel/Erzhöfer 1980, 137). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang § 154 Abs. 2, nach dem die Vollzugsanstalt verpflichtet ist, mit Einrichtungen zusammenzuarbeiten, die in Gruppenform sinnvolle Freizeitangebote in den Anstalten machen können. (vgl. Müller-Dietz Aufgaben, Rechte und Pflichten ehrenamtlicher Vollzugshelfer in 20 Jahre Bundeshilfswerk für Straffällige e.V., Bonn 1978 und Ruppelt 1980). Die während mehrerer Jahre in der JVA Remscheid zusammen mit kirchlichen Hilfswerken für lockerungsgeeignete Gefangene mit längeren Freiheitsstrafen erfolgreich durch-
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geführten zehntägigen „Segeltörns“ sind inzwischen von „politischer Seite“ untersagt worden, weil sie „bei Bekanntwerden zu Irritationen in der Bevölkerung führen würden“. Der Intention des Gesetzgebers entspricht diese politische Kurskorrektur nicht, wohl aber dem Zeitgeist. Wie demotivierend derartige Entscheidungen bei Vollzugsbediensteten – weit über die betroffene Anstalt hinaus – wirken, kann jeder Fachmann mühelos einschätzen. 6. Gruppengespräche können in themenbezogener und freier Gruppenarbeit stattfin- 22 den. Die Gruppengespräche können bestimmte therapeutische Ziele verfolgen oder auch der bloßen Unterhaltung dienen. Eine sich mehr und mehr ausbreitende Form der Gruppengespräche ist das Gespräch in sog. Kontaktgruppen mit freien Bürgern, die zu Gesprächen über allgemein interessierende Themen in die Anstalten kommen (§ 154 Abs. 2, vgl. Ruppelt 1980). Die Gruppengespräche können der direkten Leitung eines Gesprächsleiters unterliegen, sie können auch in Form der indirekten Gruppenleitung ablaufen (nondirekte Gesprächsführung). Wichtig wäre allerdings, dass die Gruppenleitung durch einen fachlich vorgebildeten Bediensteten oder durch einen entsprechend vorgebildeten freien Bürger erfolgt, der im Rahmen der Möglichkeiten des § 154 Abs. 2 im Vollzug mitarbeitet (vgl. Rotthaus 1980, der die Probleme behandelt). 7. Therapeutisch ausgerichtete Freizeitangebote sind auch möglich wie zum Bei- 23 spiel das aus Japan stammende „Naikan“ (Müller-Ebeling in Forum Strafvollzug 4/2008, 183 ff). 8. Soziales Training In vielen Justizvollzugsanstalten Deutschlands hat sich eine besondere Form methodi- 24 scher sozialer Gruppenarbeit entwickelt, deren Ziel u. a. auch die Erhöhung der sozialen Kompetenz der Gefangenen im Bereich des Freizeitverhaltens und der Freizeitgestaltung ist. Schon 1988 hatte Niedersachsen durch eine AV vom 19. August (NdsRpfl. 1988, 208) in Ergänzung zu § 37 Abs. 3 StVollzG das methodische Vorgehen beim sozialen Training für Gefangene beschrieben. Auch andere Bundesländer haben inzwischen das methodische Lernen und Üben von „nicht kriminellen Fähigkeiten zur Bewältigung von Alltagssituationen“ als Behandlungsangebot übernommen. Strafgefangene, die am sozialen Training teilnehmen wollen, müssen dies in vielen Anstalten in ihrer arbeitsfreien Zeit tun. In solchen Fällen ist die Weiterbildungsmaßnahme des sozialen Trainings eine besondere Form der Freizeitgestaltung (vgl. auch § 63 Rdn. 8 und § 74 Rdn. 12). Für speziell ausgesuchte Gefangene kann das soziale Training aber auch Bestandteil arbeitstherapeutischer oder schulischer Maßnahmen sein und insoweit während der Arbeitszeit stattfinden. Grundsätzlich ist allerdings eine Vergütung i. S. des § 43 für die Teilnahme am sozialen Training ausgeschlossen. Aufgrund eines pädagogisch ganzheitlichen Ansatzes werden mit guten Gründen unterschiedliche Lernfelder im Bereich des Lernens in der Gruppe verknüpft. Umgang mit Geld und Schulden, Umgang mit Suchtverhalten, Gestalten des eigenen Wohnbereichs, Erfassen von besonderen Problemen aus dem Lebensbereich Arbeit und Beruf, Erkennen staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten, Problematisieren von Störungen im Bereich sozialer Beziehungen und in Partnerschaften werden genauso in methodischer Gruppenarbeit anzugehen versucht, wie Defizite von Inhaftierten im Bereich der sportlichen Betätigung und bei der Freizeitgestaltung und Freizeitbewältigung. Die methodische Gruppenarbeit des sozialen Trainings wird von speziell fortgebildeten Trainern und Cotrainern durchgeführt. Neben Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern eignen sich dafür auch besonders fortgebildete Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes. (s. dazu auch Walter 1999, Rdn. 283).
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9. Alle Justizvollzugsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland haben eine Anstaltsbücherei, die nicht nur Unterhaltungslektüre, sondern in gewissem Umfang auch fortbildende Lektüre bereithält. Zum Teil sind diese Büchereien außerordentlich umfangreich und werden von den Gefangenen auch in erfreulichem Maße genutzt. Die Beschränkung der Büchereien auf schöngeistige Literatur würde dem Grundgedanken des § 67 Satz 1 widersprechen. In den meisten Justizvollzugsanstalten ist es möglich, dass Gefangene im Wege der Fernleihe auch andere Büchereien in Anspruch nehmen. Die dagegen von Arloth 2008 Rdn. 4 vorgetragenen „erheblichen Sicherheitsbedenken“ sind nicht überzeugend, bedenkt man, dass Fernuniversitäten und andere Ausleihstellen durchweg von öffentlichrechtlichen Körperschaften betrieben werden. In den Justizvollzugsanstalten lesen vielfach auch solche Inhaftierten regelmäßig Bücher, die nach ihrer Entlassung aus der Haft dann wieder keinerlei Bücher lesen.
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10. Neben diesen, durch die Aufzählung in § 67 Satz 2 nahegelegten, Freizeitangeboten lassen sich in einzelnen Anstalten noch weitere Formen der Freizeitbeschäftigung entwickeln, wie z. B. Wandern (vgl. Nickolai/Sperle 1980 und 1993 und Weiß 1992), Reisen (vgl. Herkert/Nickolai 1978) sowie Darbietungen außerhalb der JVA durch Chöre (vgl. z. B. Becker 1979), Theatergruppen, Dichterlesungen (vgl. z. B. Ingeborg Drewitz 1979; Stieglitz 1990) und sonstige Kunstdarbietungen (vgl. Ludemann 1978; Remky 1994 und Wattenberg 1982 und 1994). Die Phantasie einzelner Anstaltsleiter oder anderer Bediensteter hat Freizeitangebote hervorgebracht, die niemand vorher „im Gefängnis“ für möglich gehalten hatte. Diese Aussage gilt auch für jüngere Führungskräfte des Vollzuges, obwohl die meisten Landesjustizverwaltungen konzeptionell heute weniger Anregungen geben als in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes. Es ist zu hoffen, dass sich auch Mitarbeiter/innen des Allgemeinen Vollzugsdienstes im Freizeitbereich der Gefangenen wieder stärker engagieren als derzeit.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 69 BayStVollzG entspricht inhaltlich der Regelung in § 67 StVollzG, so dass sich eine gesonderte Kommentierung erübrigt. Generell ist die Tendenz feststellbar, dass das neue bayerische Landesrecht nur wenige substantielle Änderungen gebracht hat (vgl. Arloth JA 2008, 561–565). 2. Hamburg
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Auch § 50 HmbStVollzG entspricht inhaltlich der Regelung in § 67 StVollzG. 3. Niedersachsen
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Die inhaltlich kargen Regelungen im Titel „Freizeit“ des NJVollzG müssen gesondert kommentiert werden, denn § 128 NJVollzG der eine dem Konzept des § 67 StVollzG entsprechende Verpflichtung der Vollzugsverwaltung normiert, gilt nur für junge Gefangene. Es muss leider unterstellt werden, dass Niedersachsen im Erwachsenenvollzug nur Sport als wichtiges Freizeitangebot anerkennt, wobei der Umkehrschluss, dass andere Freizeitangebote verboten wären, nicht zwingend ist, da dies der auch in Niedersachsen beibehaltenen Vollzugszieldefinition (§ 5 Satz 1 NJVollzG) widersprechen würde. Dennoch ist die nieder-
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sächsische Regelung unbefriedigend (ähnlich Arloth aaO zu § 64 NJVollzG) und zwar schon deshalb weil sie den neuesten Empfehlungen des Europarates inhaltlich nicht entspricht (REC (2006) 2 Ziff. 27.5 und 27.6).
§ 68 Zeitungen und Zeitschriften (1) Der Gefangene darf Zeitungen und Zeitschriften in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt beziehen. (2) Ausgeschlossen sind Zeitungen und Zeitschriften, deren Verbreitung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Einzelne Ausgaben oder Teile von Zeitungen oder Zeitschriften können dem Gefangenen vorenthalten werden, wenn sie das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erheblich gefährden würden. VV 1 Zeitungen und Zeitschriften können durch die Anstalt, den Gefangenen oder einen Dritten bestellt werden. Sie dürfen in der Regel nur über den Postzeitungsdienst oder im Abonnement bezogen werden. 2 Der Gefangene kann für den Bezug von Zeitungen und Zeitschriften sein Hausgeld, sein Taschengeld und sein Eigengeld verwenden. 3 Die Weitergabe von Zeitungen und Zeitschriften oder von Teilen und Ausschnitten an andere Gefangene kann untersagt werden, wenn sie das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. 4 Gebrauchte Zeitungen und Zeitschriften werden anderweitig verwertet oder vernichtet; sie sind auf Antrag des Gefangenen zur Habe zu nehmen, falls dieser ein berechtigtes Interesse an der weiteren Aufbewahrung hat. 5 Der Gefangene hat die Abbestellung, Umbestellung oder Nachsendung von Zeitungen und Zeitschriften selbst zu veranlassen. Die Anstalt ist zur Nachsendung nicht verpflichtet. Gehen für einen entlassenen oder in eine andere Anstalt verlegten Gefangenen Zeitungen oder Zeitschriften ein, hat der Gefangene der Verwertung oder Vernichtung durch die Anstalt nicht zugestimmt und ist auch eine Nachsendung nicht beabsichtigt, so soll die Anstalt die Annahme verweigern. 6 Werden Zeitungen oder Zeitschriften vom Bezug ausgeschlossen oder einzelne Ausgaben oder Teile von Zeitungen oder Zeitschriften vorenthalten, so wird dies dem Gefangenen mitgeteilt. Hans-Dieter Schwind
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Schrifttum: Baumann Art. 5 GG versus §§ 68 II 2 und 70 II 2 StVollzG, in: StV 1992, 331 ff; Beyler Das Recht des Strafgefangenen auf Besitz von Gegenständen nach § 70 (i. V. m. § 69 II) StVollzG unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen technischen Entwicklung, in: ZfStrVo 2001, 142 ff; Bode Freizeitgestaltung im Strafvollzug, in: Schwind/Blau 1988, 313 ff; Frielinghaus Hörfunk und Fernsehen in Strafhaft (§ 69 StVollzG) – technische, rechtstatsächliche, strafvollzugsrechtliche und verfassungsrechtliche Gesichtspunkte, in: BlStV 4/5/1979, 1 ff; Hassemer Kommunikationsfreiheit in der Haft, in: ZRP 1984, 292 ff; Knobloch Information oder Unterhaltung?, in: NK 2/1997, 6; Kruis/Wehowsky Fortschreibung der verfassungsrechtlichen Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, in: NStZ 1998, 593 ff; Laubenthal Alterskriminalität und Altenstrafvollzug, in: FS für Seebode, Berlin 2008, 498 ff; Lindhorst Über die Zulässigkeit des Besitzes und der Nutzung einer Sony-Playstation 2 im Haftraum während der Verbüßung von Strafhaft, in: StV 2006, 274 ff; Pätzel Einzelfernsehen im Strafvollzug, in: BlStV 6/1993, 1 ff; Schwind Hörfunk und Fernsehen im Strafvollzug (§ 69 StVollzG), in: ZfStrVo 1990, 361 f; Schwind Tiere im Strafvollzug, in: FS für Seebode, Berlin 2008, 551 ff, Vogelsang Kleintierhaltung im Strafvollzug. Das Ergebnis einer Umfrage, in: ZfStrVo 1994, 67 f; Walkenhorst Animative Freizeitgestaltung im Strafvollzug als pädagogische Herausforderung, in: DVJJ-Journal 3/2000, 265 ff; Zeuch/Hillecke Zur musiktherapeutischen Entspannung im Strafvollzug als vitales Medium zur Gestaltung des Alltagslebens, in: ZfStrVo 2003, 265 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–4 Grenzen der Informationsfreiheit im Strafvollzug . . . . . . . . . . . 1–4 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 5–16 1. Voraussetzungen des Bezugs (vgl. Abs. 1) . . . . . . . . . . . . 5–9 a) allgemein zugängliche Quelle 6 b) Vermittlung durch die Anstalt 7–8 c) in angemessenem Umfang . . 9 2. Nicht zugelassene Zeitungen und Zeitschriften (Abs. 2) . . . . . . . 10–16
Rdn. a) Mit Strafe oder Geldbuße bedrohte Presseerzeugnisse (Satz 1) . . . . . . . . . . . . b) Vorenthaltung einzelner Ausgaben (Satz 2) . . . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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. 12–16 . 17 . 18–20 . 18 . 19 . 20
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Möglichkeit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, ist ein in Art. 5 Abs. 1 GG enthaltenes, für die rechtsstaatliche Demokratie entscheidend wichtiges Grundrecht (vgl. z. B. BVerfGE 15, 288, 295). Gemeint sind alle Informationen in Wort, Schrift und Bild, und zwar nicht nur ethisch wertvolle Meinungen (BVerfGE 30, 347; 33, 15). Die Informationsfreiheit des Gefangenen ist aber durch das Strafvollzugsgesetz in verfassungsrechtlich zulässiger Weise eingeschränkt worden (BVerfG ZfStrVo 1981, 63; NStZ 1994, 145 und 1995, 613 = ZfStrVo 1996, 175). Weiteres zur Grundrechtseinschränkung bei § 4 Rdn. 28. Gleichwohl ist es auch für die Wiedereingliederung der Gefangenen von großer Bedeutung, dass sie mit dem Tagesgeschehen sowie der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung konfrontiert werden. Auf der anderen Seite werden die Vollzugsanstalten durch den täglichen Eingang hunderter von Zeitungen und Zeitschriften für die Insassen vor organisatorische Probleme gestellt. Schließlich können Zeitungen und Zeitschriften durch ihren Inhalt auch Sicherheit und Ordnung der Anstalt (zur Verhältnismäßigkeit Rdn. 7, 9 zu § 81) gefährden oder die resozialisierende Behandlung des einen oder anderen Gefangenen erschweren (zur Resozialisierung § 2 Rdn. 13 ff). In diesem Spannungsverhältnis hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, dem Insassen dem Gewicht des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (Informationsfreiheit) entspre-
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chend möglichst freie Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften zu gewähren (inhaltliche Bezugsbeschränkungen führt Abs. 2 auf), ihn aber bei der technischen Form der Zusendung an die Anweisungen der Anstalt zu binden (die entsprechende Regelung enthält Abs. 1). 1. Wegen der großen Bedeutung der Informationsfreiheit sind Einschränkungen des 2 Rechts auf die freie Auswahl von Publikationen sowie Einschränkungen des Bezuges nur dann und insoweit zulässig, als sie „unerlässlich“ sind (RegE, BT-Drucks. 7/918, 74 und Rspr.: OLG Hamburg ZfStrVo 1980, 125 ff; OLG Nürnberg BlStV 1/1982, 7; OLG Koblenz NStZ 1984, 46; OLG Celle ZfStrVo 1985, 184). „Unerlässlichkeit“ setzt ein gesteigertes Maß an Erforderlichkeit voraus (Frielinghaus 1979, 1 ff; Arloth 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 613, 956). Als „unerlässlich“ hat das BVerfG solche grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen bezeichnet, „ohne die der Strafvollzug als Institution zusammenbrechen würde oder durch die der Zweck des Strafvollzuges (vor allem das Bemühen um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft) ernsthaft gefährdet würde“ (BVerfGE 40, 284 im Anschluss an 33, 1, 13); diese ernsthafte (erhebliche) Gefahr muss real sein (BVerfG NStZ 1996, 613; AK-Boetticher 2006 Rdn. 15). Auch schuldhaft nicht arbeitende Gefangene sind vom Bezug von Zeitungen und Zeitschriften nicht ausgeschlossen (OLG Frankfurt INFO 1987, 783; AK-Boetticher 2006 Rdn. 8). 2. Bei den Tatbestandsmerkmalen des § 68 handelt es sich um unbestimmte Rechts- 3 begriffe (dazu Rdn. 21 zu § 115), so dass für eine Ermessensentscheidung des Anstaltsleiters insoweit kein Raum ist (OLG Hamm BlStV 4/5/1980, 17 ff; so auch Arloth 2008 Rdn. 1). 3. Die Druckwerke können nicht nur durch den Gefangenen, sondern auch durch Dritte 4 (Verwandte, Freunde) bestellt werden (vgl. VV Nr. 1). Die Bestellung muss aber über die „Vermittlung der Anstalt“ erfolgen (vgl. dazu Rdn. 7), bei der der Gefangene eine Bezugsgenehmigung beantragen muss (vgl. Rdn. 5 ff). Die Eingriffswirkung betrifft jedoch nur den gefangenen Adressaten, die Zurückweisung (bzw. Vorenthaltung) von Publikationen stellt daher keinen Eingriff in die Freiheitssphäre des Absenders dar (so grundsätzlich auch C/MD 2008 Rdn. 1; vgl. aber OLG Koblenz NStZ 1984, 46).
II. Erläuterungen 1. Nach § 68 Abs. 1 darf der Gefangene Zeitungen und Zeitschriften beziehen, wenn 5 folgende Voraussetzungen erfüllt sind: a) Es muss sich um allgemein zugängliche Quellen handeln: Dies ist im Allgemeinen 6 der Fall, wenn die Informationsquelle technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d. h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis Informationen zu vermitteln (BVerfGE 27, 71, 83; 33, 52, 65; NStZ 1995, 614). Zu Gefangenenzeitschriften § 160 Rdn. 13. § 68 Abs. 1 gilt auch nur für periodisch erscheinende und fortlaufend zu beziehende Zeitungen und Zeitschriften (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1986, 315; OLG Celle ZfStrVo 1986, 377), also (grundsätzlich) nicht für Einzelexemplare (C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 613). Das ergibt sich aus dem Zweck der Vorschrift, der (in Abs. 1) in der Sicherung eines angemessenen Umfangs bei fortlaufend zu beziehenden Druckwerken besteht (OLG Frankfurt NStZ 1992, 208; OLG Karlsruhe aaO). Zugesandte Einzelexemplare (oder Probeexemplare) sind deshalb grundsätzlich als Schreiben im Sinne des § 28 Abs. 1 zu behandeln (C/MD 2008 Rdn. 1), die unter den Voraussetzungen des § 31 angehalten werden können (OLG Koblenz NStZ 1984, 46; OLG Celle
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ZfStrVo 1985, 184; OLG Karlsruhe aaO; OLG Frankfurt aaO; C/MD 2008 Rdn. 1; a. A. OLG Hamm NStZ 1985, 143). Handelt es sich bei dem einmalig oder nur gelegentlich zugesandten Druckwerk allerdings um eine allgemein zugängliche Zeitung oder Zeitschrift oder Teile oder Kopien hiervon (AK-Boetticher 2006 Rdn. 5), so geht § 68 Abs. 2 als die speziellere und weitergehende Eingriffsvoraussetzungen enthaltende Vorschrift dem § 31 vor (OLG Frankfurt aaO; OLG Koblenz aaO; Arloth 2008 Rdn. 2), da in diesen Fällen das Anhalten des „Schreibens“ einen Eingriff in das Grundrecht der Informationsfreiheit darstellt. Einem Schreiben angelegte Zeitungsausschnitte oder entsprechende Fotokopien gelten grundsätzlich als untrennbare Bestandteile des Briefes und sind deshalb nach § 28 Abs. 1 zu behandeln, also als Schreiben, nicht als Zeitung (so auch Arloth 2008 Rdn. 2 und OLG Frankfurt ZfStrVo 1999, 118), vgl. Rdn. 3 zu § 28. Ein zu Verkaufszwecken übersandter Warenhauskatalog dient hingegen nicht (wie ein Brief) dem Gedankenaustausch zwischen Absender und Empfänger (dazu Rdn. 8 zu § 70), sondern nur wirtschaftlichen Zwecken und unterfällt daher weder der Regelung des § 28 (OLG Koblenz NStZ 1991, 304 = NJW 1992, 1337) noch der des § 68 (keine Zeitung oder Zeitschrift), sondern der des § 33 Abs. 1 (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315; OLG Koblenz NStZ 1991, 304; Arloth 2008 Rdn. 2). Werden ganze Bücher in Kopie übersandt, ist § 70 einschlägig (OLG Koblenz NStZ 1984, 46; AK-Boetticher 2006 Rdn 5; Arloth 2008 Rdn. 2).
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b) Der Gefangene muss sich beim Bezug von Zeitschriften und Zeitungen (für die technische Abwicklung) der Vermittlung der Anstalt (Rdn. 4) bedienen. Die Vermittlung durch die Anstalt wird darin bestehen, dass die Vollzugsbehörde vom Gefangenen gewünschte Zeitungen und Zeitschriften für diesen (im Postzeitungsdienst oder im Abonnement etwa bei einem Zeitschriften- und Zeitungsvertrieb) bestellt, worin zugleich eine Bezugsgenehmigung liegt (vgl. OLG Hamm BlStV 4/5/1980, 17); zu den Kosten vgl. VV Nr. 2. § 68 enthält allerdings keine Regelung darüber, welche Folgen das Fehlen eines Antrages zum Bezug der Zeitungen oder Zeitschriften hat, wenn also der Gefangene oder ein Dritter eine Zeitung oder eine Zeitschrift für einen Dauerbezug bestellt hat (vgl. Rdn. 4), ohne die Vermittlung der Anstalt in Anspruch zu nehmen. Insoweit drängt sich auf, dass in diesem Fall dem Gefangenen zunächst Gelegenheit gegeben werden sollte, den Antrag noch nachträglich zu stellen (OLG Celle BlStV 1/1982, 7). Das ergibt sich sowohl aus der Fürsorgepflicht der Anstalt (Vor § 71 Rdn. 1–3) dem Gefangenen gegenüber, als auch aus der Pflicht, die Informationsfreiheit nicht mehr als unbedingt erforderlich einzuschränken (so auch C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Boetticher 2006 Rdn. 12). Wird eine am Samstag erscheinende Tageszeitung aus Zensurgründen erst am folgenden Montag ausgehändigt, liegt im Einzelfall kein Verstoß gegen Art. 5 GG vor (OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 116; C/MD 2008 Rdn. 2; Beispiel Rdn. 17). 8 Der Sinn der Vermittlung über die Anstalt hat mit den besonderen Bedingungen des Vollzuges zu tun. Bei unmittelbarer Zusendung von Zeitungen und Zeitschriften durch Angehörige oder Bekannte müsste jeweils eine Überprüfung daraufhin erfolgen, ob die Druckwerke in Form von Beilagen oder Randnotizen unzulässige Mitteilungen enthalten. Ein solches Verfahren würde jedoch eine Kontrolle bedingen, die mit den personellen Möglichkeiten der Vollzugsanstalt regelmäßig nicht mehr zu bewältigen und zu vereinbaren wäre (OLG Hamm BlStV 4/5/1981, 1; OLG Frankfurt ZfStrVo 1993, 118 LS = BlStV 1/1993, 4). Gleichwohl wird die Vollzugsbehörde auch von der Regel der Vermittlung dann abgehen dürfen, wenn die Kontrolle des Bezuges nicht mehr sinnvoll erscheint: etwa im Freigängervollzug oder in einer Abgangsabteilung. Eine durch äußere Inaugenscheinnahme als Zeitschrift erkannte Post darf die Anstalt, auch wenn es sich um ein „Einschreiben“ handelt, zurückschicken, muss aber (zwecks gerichtlicher Überprüfbarkeit der Zurückweisungsent-
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scheidung) zumindest den Absender und andere Charakteristika der Sendung, die einen eindeutigen Schluss auf den Inhalt der Sendung zulassen, notieren oder eine Kopie des Umschlags der Sendung anfertigen (OLG Brandenburg NStZ 2005, 290). c) Das Recht des Gefangenen auf den Bezug von Zeitungen und Zeitschriften be- 9 schränkt sich auf einen angemessenen Umfang. Demnach darf die Vollzugsbehörde, ohne eine inhaltliche Auswahl zu treffen (AK-Boetticher 2006 Rdn. 7: „keine Bevormundung des Gefangenen“; OLG Hamm BlStV 4/5/1981), den Umfang des Bezugs „angemessen“ beschränken. Was „angemessen“ ist, richtet sich auch nach den räumlichen, organisatorischen und personellen Verhältnissen der Anstalt (C/MD 2008 Rdn. 1; Arloth 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 611; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1 und OLG Hamm NStZ 1987, 574). Würde allerdings ein Insasse sechs Tageszeitungen und acht Wochenschriften beziehen wollen, so wäre es deshalb zulässig, ihn des „angemessenen Umfangs“ wegen auf zwei oder drei Tageszeitungen und drei oder vier Wochenschriften nach seiner Wahl zu beschränken (BVerfG ZfStrVo 1982, 316; ähnlich OLG Hamm ZfStrVo 1987, 375 = NStZ 1987, 248: Beschränkungen auf fünf Zeitungen oder Zeitschriften). Praktische Bedeutung hat die Wortwahl „in angemessenem Umfang“ angesichts der in der Regel beschränkten Mittel der Gefangenen und ihrer Angehörigen grundsätzlich nicht (vgl. dazu VV Nr. 2). Die VV regeln u. a. auch die Verwendung der Zeitungen und Zeitschriften nach der Lektüre. Natürlich können sie aus Gründen der Sicherheit und Ordnung nicht beliebig im Haftraum gelagert werden und auch die Verwahrung für den Insassen bei dessen Habe in der Anstalt stößt auf räumliche Grenzen. Der Insasse muss deshalb regelmäßig dulden, dass Tageszeitungen vernichtet werden, zumal dies ja auch den „Verhältnissen in der Freiheit“ entspricht (so auch Arloth 2008 Rdn. 2). Zum Angleichungsgrundsatz § 3 Rdn. 3 ff. Will der Insasse Teile der Zeitschriften für sich behalten, so muss er die Artikel ausschneiden und sammeln. Fachzeitschriften müssen indessen für den Gefangenen aufbewahrt werden, falls dieser ein berechtigtes Interesse an der Aufbewahrung besitzt (AK-Boetticher 2006 Rdn. 11). Die Weitergabe von gelesenen Zeitungen oder Zeitschriften an andere Gefangene kann die Vollzugsbehörde verbieten oder von ihrer Erlaubnis abhängig machen, wenn sie das Ziel des Vollzugs oder Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. Wenn insoweit keine Bedenken bestehen, können sich auch mehrere Gefangene grundsätzlich zusammenschließen, um gemeinsam nach Art eines Lesezirkels Zeitungen und Zeitschriften kaufweise zu bestellen (so auch Arloth 2008 Rdn. 2; a. A. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Zur Abbestellung, Umbestellung oder Nachsendung von Publikationen vgl. VV Nr. 5. 2. Der Abs. 2 des § 68 (eine gegenüber § 31 strengere Vorschrift) bezieht sich auf solche 10 Bezugsbeschränkungen, die den Inhalt von Zeitungen und Zeitschriften betreffen. Sie werden an dieser Stelle abschließend aufgeführt (AK-Boetticher 2006 Rdn. 14; Laubenthal 2008 Rdn. 613). Ein Ausschluss oder eine Vorenthaltung aus anderen Gründen (z. B. weil die Lektüre keiner sinnvollen Freizeitbeschäftigung diene: OLG Koblenz NStZ 1991, 308 = NJW 1992, 1337) ist daher unzulässig (Laubenthal 2008 Rdn. 613). Der Abs. gilt auch für Publikationen, die nicht über die Anstalt vermittelt worden sind (C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal aaO). a) Nach Satz 1 sind alle solche Zeitungen und Zeitschriften vom Bezug ausgeschlossen 11 (generelles Verbot), deren Verbreitung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. In Betracht kommen vor allem Publikationen i. S. der §§ 86, 86a, 131 StGB. Hierher zählen aber auch pornographische Druckwerke, soweit diese von § 184 erfasst werden (vgl. dazu OLG München ZfStrVo SH 1979, 67 ff; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1996, 249). Hans-Dieter Schwind
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b) Nach Satz 2 können darüber hinaus einzelne Ausgaben oder Teile von Zeitungen oder Zeitschriften vorenthalten werden, wenn sie das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erheblich gefährden würden. Der Eingriff muss jedoch geeignet und erforderlich sein, um diese erhebliche (konkrete) Gefahr, die real sein muss (BVerfG NStZ 1995, 614 = ZfStrVo 1996, 175; OLG Jena ZfStrVo 2005, 79; Laubenthal 2008 Rdn. 613; Arloth 2008 Rdn. 4; AK-Boetticher 2006 Rdn. 19; Kruis/Wehowsky 1998, 595), abzuwehren. Die Anstaltssicherheit wird z. B. durch die bildliche Darstellung von Waffen (Schusswaffen Handgranaten usw.) gefährdet, weil geschickte Gefangene anhand solcher Bilder täuschend ähnliche Attrappen (z. B. aus mit Schuhcreme geschwärztem Brotteig) bauen können (Arloth 2008 Rdn. 5). 13 Zu prüfen ist insoweit (Abwägungsgebot), ob das Druckwerk konkret (AK-Boetticher 2006 Rdn. 19) Flucht- oder Befreiungsvorhaben fördert oder die Gefahr von Schäden für Personen (Gesundheitsbeschädigung, Selbstmord, Gefahr für Anstaltsbedienstete) hervorrufen kann (äußere und innere Sicherheit) oder das geordnete und menschenwürdige Zusammenleben von Gefangenen und Vollzugsbediensteten behindert (Ordnung): vgl. zur Begriffsbestimmung auch Rdn. 7 zu § 81. Ob eine das Vollzugsziel (dazu Rdn. 12 ff zu § 2) erheblich gefährdende Beeinflussung des Gefangenen zu befürchten ist, hängt von dem Inhalt des Artikels, seinem Gehalt, der Ausführlichkeit des Berichts und anderen Einzelheiten ab (OLG Celle 26.11.1979 – 3 Ws 405/79): nicht zuletzt von der Person des Empfängers (so auch Arloth 2008 Rdn. 4); erforderlich ist also eine persönlichkeitsbezogene Prognose (AKBoetticher 2006 Rdn. 19). So macht es z. B. einen Unterschied (heißt es bei Baumann 1992, 332), „ob man eine Stange Dynamit dem Hl. Franziskus oder einem Terroristen in die Hand gibt“. Die Vorenthaltung erfordert also immer eine Prüfung im Einzelfall (OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 116 LS = BlStV 3/1993, 4; AK-Boetticher aaO). 14 Alle drei Gründe die in Satz 2 genannt werden, erlauben es grundsätzlich nicht, den Bezug einer periodisch erscheinenden Zeitung oder Zeitschrift generell zu untersagen (OLG Koblenz NStZ 1984, 46; AK-Boetticher 2006 Rdn. 18; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 193; a. A. OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 39) da es dafür an einer Rechtsgrundlage fehlt (Thüring. OLG NStZ-RR 2004, 317 = ZfStrVo 2005, 179). Ein genereller Bezugsausschluss ist nur unter den Voraussetzungen des Abs. 2 Satz 1 möglich (a. A. offenbar KG ZfStrVo 1987, 251 LS). Deshalb muss für jede eingehende Nummer einer Zeitschrift gesondert geprüft werden, ob ihre Aushändigung das Ziel des Vollzugs (§ 2 Rdn. 12 ff) erheblich gefährdet oder ob Teile der Zeitschrift aus diesen Gründen dem Gefangenen vorenthalten werden müssen (vgl. OLG Nürnberg NStZ 1981, 240). Diese Regelung liegt allerdings nicht im Interesse des Gefangenen, der so möglicherweise sein Geld in das Abonnement einer Zeitschrift investiert, die er, weil jede einzelne Nummer beanstandet wird, dann nicht lesen kann. Bestellt der Insasse ein solches Blatt, so müsste ihm deshalb dieses Risiko vorher mitgeteilt werden (ebenso K/S-Schöch aaO). Wird dem Gefangenen aufgegeben, seinen bisher geduldeten Zeitschriftenbezug zu reduzieren, muß ihm Gelegenheit gegeben werden, Abonnements ordnungsgemäß auslaufen zu lassen (Arloth 2008 Rdn. 2; OLG Hamm NStZ 1987, 248). 15 Kritisiert wird (z. B. von Baumann 1992, 331 f) die formelhafte Verwendung der Begriffe „Sicherheit“, „Ordnung“ und „Vollzugsziel“. Dementsprechend weist auch Boetticher (AK 2006 Rdn. 19) zu Recht darauf hin, dass statt eines formelhaften Gebrauchs der Eingriffsermächtigungen Anstalten und Gerichte in jedem Einzelfall eine substantiierte Subsumtion unter die gesetzlichen Tatbestandsalternativen vornehmen müssen. Der Grundsatz der Informationsfreiheit, nach dem die Einbehaltung der Druckschriften auf das unerlässliche Maß beschränkt werden soll, erfordert jedoch jeweils die Prüfung, ob eine schonendere Maßnahme ausreicht (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), um die Funktions-
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fähigkeit des Strafvollzugs sicherzustellen (BVerfGE 41, 251; Frielinghaus 1979, 5). Vgl. auch § 81 Rdn. 9. Als weniger einschneidende Maßnahme kommt z. B. das Schwärzen einzelner Artikel in Frage (LG Lüneburg 26.7.1977 – 17 StVK 260/77; Laubenthal 2008 Rdn. 613; AK-Boetticher 2006 Rdn. 16), während die zeitweilige Überlassung der Druckwerke mit dem Verbot der Weitergabe (auch wegen der Gefahr der Nichteinhaltung) in der Regel nicht ausreichen dürfte. Wegen der Möglichkeit unerlaubter Weitergabe oder von Tauschgeschäften kommt es für die Zulässigkeit einer Maßnahme nach Abs. 2 Satz 2 im Übrigen nicht darauf an, ob der von der Maßnahme betroffene Gefangene (selbst) zum Kreis derjenigen Gefangenen gehört, deren Resozialisierung durch den Besitz der Zeitschrift gefährdet wäre (LG Regensburg ZfStrVo SH 1977, 30). Sind offenkundig nicht alle Artikel einer angehaltenen Zeitschrift zu beanstanden, so ist es ermessensfehlerhaft, wenn ohne Begründung neben den beanstandeten auch die unbeanstandeten Teile einbehalten werden (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 39; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Boetticher 2006 Rdn. 16). Deshalb erscheint der Beschluss des OLG Nürnberg (NStZ 1981, 240 = BlStV 1/1982, 7; so auch OLG Frankfurt NStZ 1987, 358 und OLG Hamm NJW 1992, 1337 = BlStV 4/1992, 4) nicht unbedenklich, nach dem der Gefangene den Verlust einer nicht beanstandeten Vor- und Rückseite hinnehmen muss, wenn einzelne Teile von beidseitig bedruckten Zeitungen oder Zeitschriften vorenthalten werden (so auch AK-Boetticher 2006 Rdn. 16; a. A. C/MD 2008 Rdn. 1). Auf die Möglichkeit des Schwärzens soll sich die JVA nach dieser Rechtsprechung in solchen Fällen wegen des damit verbundenen Verwaltungsaufwands nicht verweisen lassen zu müssen (so auch Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Jena ZfStrVo 2005, 79); das kann jedoch nicht generell gelten, weil sonst das mildere Mittel des „Schwärzens“ gar nicht in Betracht kommen würde. Eine erhebliche Gefährdung des Vollzugsziels hat die Rspr. z. B. dann bejaht, wenn ein 16 Druckwerk (erste Fallgruppe) eine unmäßig überzogene und böswillige Kritik an den Strafvollstreckungsorganen übt (OLG Hamburg BlStV 3/1978, 1 = ZfStrVo 1980, 125; LG Traunstein NStZ 1984, 431; BVerfG ZfStrVo 1996, 244; krit. AK-Boetticher 2006 Rdn. 21): etwa bei Beleidigungen von Richtern, Staatsanwälten oder Polizeibeamten (OLG Nürnberg 27.1.1987 – Ws 1233/86); sachliche Kritik ist hinzunehmen. Vollzugsziel und Sicherheit und Ordnung werden erheblich gefährdet (zweite Fallgruppe), wenn der beanstandete Artikel in seiner Gesamtschau eine verunglimpfende, agitatorische und zersetzende Tendenz gegenüber Staat und Gesellschaft verfolgt, die Verweigerungs- und Abwehrhaltung erzeugt (OLG Hamm NStZ 1985, 143; KG BlStV 3/1987, 6; vgl. auch Rdn. 11 zu § 70 zum „Ratgeber für Gefangene“ und ähnliche Schriften) bzw. auf entsprechende Solidarisierungsmaßnahmen hinwirkt (OLG Hamm NJW 1992, 1337 m. w. N. = BlStV 4/1992, 4): das ist besonders dann der Fall, wenn (wie z. B. in der „taz“-Ausgabe vom 17.10.1990) Dachbesteigungen, Arbeitsverweigerung und Hungerstreik nach dem Zusammenhang des beanstandeten Artikels als nachahmenswert hingestellt werden (OLG Hamm aaO). Allgemein zugängliche Ausgaben von Zeitschriften mit rechts- oder linksextremistischem Gedankengut können auch dann vorenthalten werden, wenn der Gefangene als „unbelehrbar“ eingeschätzt wird, also als gar nicht mehr beeinflussbar gilt: hier durch die „HNG-Nachrichten“ (KG Berlin vom 9.5.2006 – 5 Ws 140/06; vgl. auch BVerfG NStZ 1995, 613 = ZfStrVo 1996, 175). Eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit und Ordnung wird von Teilen der Rspr. ferner (dritte Fallgruppe) in Bezug auf pornographische Inhalte (zur Definition LG Zweibrücken ZfStrVo 1996, 249) von Druckwerken bejaht. So kann (nach LG Freiburg ZfStrVo 1994, 375) die Aushändigung von Pornoheften mit strafbarem Inhalt (vgl. Rdn. 11) auch aus diesen Gründen abgelehnt werden. Ob das für Sexhefte, die „draußen“ offen über den Ladentisch verkauft werden („Softpornos“ wie „Playboy“, „Penthouse“ oder auch
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„Sexy“) auch gelten soll, ist streitig (abl. LG Freiburg aaO; anders Arloth 2008 Rdn. 5: grundsätzlich zulässig). Das OLG München (ZfStrVo SH 1979, 67 ff) weist darauf hin, dass pornographische Darstellungen nach Inhalt und Zielsetzung nicht oder nur ganz beiläufig Informationsträger sind und daher auch nicht an den Grundrechten der Informationsfreiheit teilnehmen können. Boetticher (AK 2006 Rdn. 22) betont hingegen, dass die fortschreitende sexuelle Emanzipation und Liberalisierung auch vor dem Gefängnis nicht haltmachen darf. Gleichwohl kann eine Vorenthaltung im Einzelfall wegen erheblicher Gefährdung des Vollzugsziels oder der Sicherheit oder der Ordnung der Anstalt durchaus in Betracht kommen (so auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 194); das gilt zumindest für HardcorePornos (Arloth 2008 Rdn. 5): etwa für Bilder nackter oder nur zum Teil bekleideter Frauen, die das Augenmerk des Betrachters in erster Linie auf gespreizte Schenkel und geöffnete Genitalien lenken und damit die abgebildeten Personen zu bloßen austauschbaren Objekten sexueller Triebbefriedigung degradieren (LG Zweibrücken aaO). Dementsprechend können auch einzelne Ausgaben oder Teile einer Homophilenzeitschrift vorenthalten werden (LG Arnsberg BlStV 2/1978, 8; vgl. auch OLG Hamm BlStV 6/1981, 5; OLG Nürnberg ZfStrVo 1984, 188).
III. Beispiel 17
Keinen Verstoß gegen Art. 5 GG stellt die Zurückstellung der Aushändigung einer an einem Samstag erschienenen Tageszeitung zwecks Durchführung der Prüfung einer Vorenthaltung gemäß § 68 Abs. 2 Satz 2 auf den kommenden Montag dar, weil die Dienstzeiten der Beamten und Angestellten an den Wochenenden gewisse Einschränkungen des Anstaltsbetriebes erfordern; das gilt vor allem für solche Druckwerke, die (wie die „taz“) erfahrungsgemäß häufig vorzuenthaltende Artikel oder Leserbriefe enthalten (OLG Nürnberg BlStV 3/1993, 4 f = ZfStrVo 1993, 116).
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 70 BayStVollzG ist grundsätzlich wortgleich mit § 68 StVollzG. Aber statt „wenn sie das Ziel des Vollzuges“ heißt es „wenn sie die Erfüllung des Behandlungsauftrags“. 2. Hamburg
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§ 51 HmbStVollzG entspricht im Wesentlichen dem § 68 StVollzG. In Abs. 1 wird die Kostenfrage zulasten des Gefangenen geregelt. 3. Niedersachsen
20
§ 65 NJVollzG ist überwiegend wortgleich mit § 68 StVollzG. Anstelle von „das Ziel des Vollzugs“ heißt es „das Vollzugsziel nach § 5 Satz 1“. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 142) heißt es u. a., dass die „Regelung der des § 68 StVollzG entspricht“.
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Hans-Dieter Schwind
Hörfunk und Fernsehen
§ 69
§ 69 Hörfunk und Fernsehen (1) Der Gefangene kann am Hörfunkprogramm der Anstalt sowie am gemeinschaftlichen Fernsehempfang teilnehmen. Die Sendungen sind so auszuwählen, dass Wünsche und Bedürfnisse nach staatsbürgerlicher Information, Bildung und Unterhaltung angemessen berücksichtigt werden. Der Hörfunk- und Fernsehempfang kann vorübergehend ausgesetzt oder einzelnen Gefangenen untersagt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerlässlich ist. (2) Eigene Hörfunk- und Fernsehgeräte werden unter den Voraussetzungen des § 70 zugelassen. VV 1 Der Anstaltsleiter kann anordnen, dass Hörfunk- und Fernsehgeräte nur mit Kopfhörern betrieben und dass die Geräte während der Ruhezeit aus dem Haftraum entfernt werden. 2 (1) Hörfunk- und Fernsehgeräte dürfen nur ausgehändigt werden, wenn feststeht, dass sie den geltenden Bestimmungen und Auflagen entsprechen und keine unzulässigen Gegenstände enthalten. Die dazu erforderliche Überprüfung und etwa notwendige Änderungen werden durch die Anstalt auf Kosten des Gefangenen veranlasst. (2) Zur Verhinderung eines Missbrauchs kann die Anstaltsleitung die Verplombung der Geräte anordnen. (3) Reparaturen sind nur durch Vermittlung der Anstalt zulässig. 3 Die Gefangenen haben die notwendigen Anzeigen im Zusammenhang mit dem Betrieb des Hörfunkgerätes und des Fernsehgerätes selbst vorzunehmen und für die Entrichtung der entsprechenden Gebühren zu sorgen, sofern sie nicht von der Gebührenpflicht befreit sind. Hierauf sind sie hinzuweisen. 4 Die Gefangenen dürfen das Hörfunkgerät und das Fernsehgerät ohne abweichende Erlaubnis nur in ihrem Haftraum betreiben. 5 Die Kosten für die Beschaffung, die Überprüfung, eine notwendige Änderung, die Reparatur und den Betrieb des Hörfunkgerätes und des Fernsehgerätes dürfen die Gefangenen aus ihrem Hausgeld, ihrem Taschengeld und ihrem Eigengeld bestreiten. Schrifttum: s. bei § 68
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§ 69
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Subjektiv-öffentliches Recht auf Teilnahme (Abs. 1 Satz 1) . . . 2. Regelung der Programmauswahl (Abs. 1 Satz 2) . . . . . . . . . 3. Einschränkungen (Abs. 1 Satz 3) 4. Voraussetzungen für die Aufstellung eigener Geräte (Abs. 2) a) in Bezug auf eigene Hörfunkgeräte (Abs. 2, 1. HS.) . . . .
Rdn.
Rdn.
. .
1–3 4–12
.
4–5
. .
6 7
b) in Bezug auf eigene Fernsehgeräte (Abs. 2, 2. HS.) . . . . . 10 5. Folgen des Erlaubnismissbrauchs 11 6. Folgen bei Verlegungen . . . . . 12 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 13–15 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 14 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 15
.
8–10
.
9
I. Allgemeine Hinweise 1
Im Rahmen der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) ist nicht nur der Bezug von Zeitungen und Zeitschriften relevant (vgl. Rdn. 1 zu § 68), (zunehmende) Bedeutung besitzen darüber hinaus auch Hörfunk und Fernsehen (bzw. Videogeräte: LG Hamburg ZfStrVo 1994, 121), mit denen sich der § 69 (der verfassungskonform ist: BVerfG Justiz 1980, 489) befasst (vgl. dazu schon Frielinghaus 1979 und Hassemer 1984). 2 § 69 Abs. 2 ist durch das 4. StVollzGÄndG vom 26.8.1998 (BGBl. I, 2461) neu gefasst worden. Bis dahin waren eigene Fernsehgeräte nur in „begründeten Ausnahmefällen“ zugelassen, nach der Neufassung ist die Einschränkung weggefallen (vgl. dazu Schwind 1990, 361 f). Damit ist auch der entsprechende Teil der Rspr. zu § 69 überholt. Mit der Novellierung will der Gesetzgeber „der herausragenden Bedeutung des Fernsehens im Freizeitverhalten von Menschen in Freiheit wie in Haft im Sinne des Angleichungsgrundsatzes Rechnung tragen“ (BT-Drucks. 13/3129, 4) und hofft, dass die „grundsätzliche Zulassung eigener Fernsehgeräte letztlich dazu beitragen wird, einen Ausgleich für das zum Teil zu geringe Freizeitangebot in den Anstalten zu schaffen“ (BT-Drucks. aaO, 5). Mit diesen Sätzen ist allerdings zugleich auch das Eingeständnis verbunden, dass zumindest Teile der Zielsetzung der Etablierung eines Resozialisierungsvollzuges (wie er dem Gesetzgeber des StVollzG vorgeschwebt hat) nicht umgesetzt werden konnten: Sinnvolle Freizeit- und Fortbildungsangebote fehlen weitgehend noch immer (dazu Rdn. 12 zu § 67). Ob „wegen der Gefährdung des Vollzuges“ Fernsehgeräte in Sozialtherapeutischen Anstalten und Abteilungen untersagt werden können, weil sie den Zielen der Sozialtherapie zuwiderlaufen (so Arloth 2008 Rdn. 6), erscheint auch im Hinblick auf den Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) zweifelhaft. 3 Unberührt von der Neufassung des Abs. 2 bleibt die Rspr., nach der ein Strafgefangener, der über ein eigenes Fernsehgerät verfügt, nicht auch noch einen Anspruch auf Teilnahme an einem seitens der Haftanstalt (nicht mehr) angebotenen Gemeinschaftsprogramm hat, und zwar deshalb nicht, weil ein Bedürfnis für kumulative Nutzung nicht anerkannt werden kann (OLG Koblenz NStZ 1994, 103). Das Grundrecht der Informationsfreiheit soll es auch nicht erfordern, einem Gefangenen mittels Zimmerantenne (OLG Hamm ZfStrVo 1995, 179) oder Satellitenantenne mit Receiver (OLG Koblenz ZfStrVo 1996, 54) den Empfang privater Fernsehsender zu ermöglichen oder die Benutzung eines Decoders zu gestatten, der den Empfang des „Erotika“-Kanals ermöglicht (OLG Celle NStZ-RR 1996, 189). Zur Zahlung der Rundfunk- (und Fernseh-) Gebühren durch den Strafgefangenen vgl. VV Nr. 3: eine Befreiung kommt nach dem Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RGebStV) regelmäßig nicht mehr in Betracht (höchstens in besonderen Härtefällen, vgl. § 6 Abs. 3 RGebStV).
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Hörfunk und Fernsehen
§ 69
II. Erläuterungen 1. Abs. 1 Satz 1 gewährt ein subjektiv-öffentliches Recht auf Teilnahme am Hör- 4 funkprogramm bzw. am gemeinschaftlichen Fernsehempfang der Anstalt (vgl. Prot. S. 2106; C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 315). Böhm (2003, Rdn. 213) weist darauf hin, dass dieses Recht an praktischer Bedeutung verliert, weil die Gefangenen inzwischen eigene Geräte im Haftraum besitzen. Im Übrigen geht der Gesetzgeber davon aus, dass jede Anstalt darüber hinaus die Möglichkeiten des Gemeinschaftsempfanges anbieten kann. Ist das in einer Anstalt nicht der Fall, kann der Strafgefangene die Einrichtung einer entsprechenden Gemeinschaftsanlage verlangen (AK-Boetticher 2006 Rdn. 4), aber nur dann, wenn er kein eigenes Fernsehgerät im Haftraum besitzt (C/MD 2008 Rdn. 1; OLG Koblenz NStZ 1994, 103; Laubenthal 2008 Rdn. 614; Arloth 2008 Rdn. 2). Es besteht jedoch kein Rechtsanspruch auf Fernsehempfang außerhalb des Haftraums während der Arbeitszeit (§§ 17 Abs. 1, 82 Abs. 1 Satz 1), weil der gemeinschaftliche Fernsehempfang Teil des Freizeitangebotes ist (Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1); dies gilt auch dann, wenn der Gefangene in unverschuldeter Weise arbeitslos ist (OLG Celle ZfStrVo 1983, 382 = NStZ 1984, 144, 355; krit. AK-Boetticher 2006 Rdn. 5). Wird in schlecht gelüfteten Gemeinschaftsräumen (mit Gemeinschaftsfernsehen) ge- 5 raucht, so ist die Vollzugsbehörde in Erfüllung ihrer Gesundheitsfürsorgepflicht (§ 56) gehalten, geeignete Vorkehrungen zum Schutz von Nichtrauchern gegen das „Passivrauchen“ zu treffen (OLG Hamm ZfStrVo 1982, 183; OLG Hamm NStZ 1984, 571): gerechtfertigt ist auch ein Rauchverbot (OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 191), sofern die Möglichkeit, getrennte Fernsehräume einzurichten, ausscheidet (OLG Zweibrücken NStZ 1986, 426; AK-Boetticher 2006 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 2 zu § 56). Soweit das Hörfunkprogramm in die Hafträume ausgestrahlt wird, muss dafür gesorgt werden, dass der Gefangene den Zellenlautsprecher abstellen kann (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; AK-Boetticher 2006 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 1). Das in Abs. 1 Satz 1 gebrauchte Wort „kann“ räumt dem Anstaltsleiter kein Ermessen ein, sondern gestattet dem Gefangenen, auf die Teilnahme am Anstaltshörfunkprogramm zu verzichten (KG BlStV 3/1987, 7; so auch Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 1): der Gefangene muss also nicht hinnehmen, einer von ihm nicht gewünschten Geräuschkulisse ausgesetzt zu sein. Auf der anderen Seite darf die Vollzugsbehörde eine von ihr zur Verfügung gestellte Anlage (es sei denn zur Instandhaltung bzw. Reparatur) nicht einfach abschalten (KG ZfStrVo 1987, 251). 2. Abs. 1 Satz 2 regelt die Programmauswahl bei Gemeinschaftsprogrammen: die 6 Anstalt wird verpflichtet, ein gemischtes Programm auszuwählen, das sich in objektiver Hinsicht an den Bedürfnissen der Gefangenen orientiert und in subjektiver Hinsicht auch die Wünsche der Gefangenen mit berücksichtigt (so auch C/MD 2008 Rdn. 2; Frielinghaus 1979, 5). Der einzelne Gefangene hat aber keinen Anspruch darauf, eine bestimmte Sendung zu hören oder zu sehen (so auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Er hat jedoch einen Anspruch darauf, dass neben reiner Unterhaltung auch staatsbürgerliche Informationen und bildende Sendungen in das Gemeinschaftsprogramm aufgenommen werden (OLG Frankfurt NStZ 1982, 350; AK-Boetticher 2006 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 2); dazu gehört mindestens eine tägliche Nachrichtensendung (OLG Koblenz NStZ 1988, 199; AKBoetticher aaO; Arloth 2008 Rdn. 3). Die Auswahl kann auch der Gefangenenmitverantwortung (§ 160) bei Vorbehalt durch die Anstaltsleitung übertragen werden (AK-Boetticher 2006 Rdn. 7). Das Gesetz räumt der Gefangenenmitverantwortung aber keinen Vorrang vor dem Individualrecht des Gefangenen aus § 69 Abs. 1 Satz 2 ein (OLG Celle ZfStrVo 1982, 182; 1983, 382). Zur Gewährleistung eines ausgewogenen Programmes in Bezug auf Unterhaltung, staatsbürgerliche Interessen und bildende Sendungen (dazu OLG Frankfurt NStZ Hans-Dieter Schwind
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§ 69
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
1982, 350) verbleibt die Entscheidung über die Programmauswahl also letztlich bei der Vollzugsbehörde (OLG Celle ZfStrVo 1982, 183; OLG Koblenz NStZ 1988, 199 und ZfStrVo 1988, 315). Sie hat lediglich auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gefangenen Rücksicht zu nehmen (zu Einzelheiten OLG Koblenz aaO: z. B. täglich mindestens eine Nachrichtensendung einer überregionalen Fernsehanstalt); vgl. auch § 160 Rdn. 3. Schließlich: kein Gefangener hat einen Anspruch darauf, dass ihm der Empfang eines bestimmten (hier: polnischen) Fernsehsenders ermöglicht wird. Ein solcher Anspruch folgt auch nicht aus den in §§ 2, 3 bestimmten Vollzugsgrundsätzen (KG Berlin ZfStrVo 2005, 311).
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3. Abs. 1 Satz 3: Der Hörfunk- und Fernsehempfang (dessen Dauer im Ermessen der Anstalt steht: Arloth 2008 Rdn. 3) kann von der Vollzugsbehörde eingeschränkt werden, wenn die Beschränkung (unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des § 81 Abs. 2) zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt „unerlässlich“ ist (zu diesem Begriff vgl. auch Rdn. 2 zu § 68). Nach den Prot. des SA (S. 2107) soll das „nur in den seltenen Ausnahmefällen denkbar sein, dass über alle Rundfunk- und Fernsehanstalten Nachrichten oder Aufrufe an Gefangene verbreitet werden, die die Gefangenen zu einem solidarischen Verhalten veranlassen oder zu einem Streik oder zum Aufruhr in der Anstalt“ anhalten. Denkbar sei ein „solcher Fall aber nur, wenn [. . .] von den Massenmedien eine Nachrichtenübermittlung erpresst wird“: z. B. bei einer Geiselnahme mit dem Ziel der Gefangenenbefreiung (Arloth 2008 Rdn. 4).
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4. Abs. 2: Eigene (oder gemietete: OLG Stuttgart ZfStrVo 1993, 312; Arloth 2008 Rdn. 5) Hörfunk- und Fernsehgeräte, die in eigenen Hafträumen aufgestellt werden, dürfen nur unter den Voraussetzungen des § 70 zugelassen werden, also nur dann, wenn nicht (vgl. § 70 Abs. 2) das Ziel des Vollzuges (§ 2 Rdn. 12 ff) oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) gefährdet wird. Das heißt: Hörfunk- und Fernsehgeräte sind wie sonstige Gegenstände der Freizeitbeschäftigung grundsätzlich zugelassen. Im Einzelnen ist zu beachten (dazu auch § 81 Rdn. 9):
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a) bei eigenen Hörfunkgeräten (Abs. 2, 1. HS.): Missbrauchsprobleme (etwa Fluchtvorbereitung, Begehung weiterer Straftaten) bestehen bei Hörfunkgeräten mit UKWTeil, weil dieser zu einem Sender bzw. Empfänger umgebaut werden kann, mit dem man sich nicht nur in den anstaltseigenen, sondern auch in den Polizeifunk einklinken kann (grundlegend OLG Frankfurt 14.11.1979 – 3 Ws 331/78 unter Hinweis auf ein Gutachten der Bundespost; Frielinghaus 1979). Eine entsprechende Gefährdung der Sicherheit der Anstalt ergibt sich vor allem im Frequenzbereich 26–28 MHz, und zwar deshalb, weil in diesem Bereich auch Geräte des sog. „Jedermannfunks“ empfangen und senden können, die im Handel frei verkäuflich sind. Im Schrifttum und in der Rspr. wird insoweit die Meinung vertreten (vgl. C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Frankfurt aaO), dass etwaigen unbefugten Eingriffen bereits dadurch hinreichend entgegengewirkt werden kann, dass das Gerät versiegelt oder hinreichend verplombt wird (vgl. auch VV Nr. 2 Abs. 2). Das „Restrisiko“ sei im Hinblick auf den Angleichungsgrundsatz (des § 3 Abs. 1) noch tragbar (so AK-Boetticher 2006 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Frankfurt aaO). Zutreffend ist, dass differenziert werden muss: Die Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darf nicht nur abstrakt bestehen, sie muss vielmehr konkret festgestellt werden (AK-Boetticher 2006 Rdn. 9). Auch die Beantwortung der Frage, ob das Restrisiko noch vertretbar erscheint, hängt vom Einzelfall ab: so etwa, wenn es um einen Hochsicherheitstrakt geht (a. A. C/MD 2008 Rdn. 3). Auf der anderen Seite ist es grundsätzlich unzulässig, generell den Besitz von solchen Radios zu verbieten, die bestimmte Ausmaße überschreiten und deshalb (schon abstrakt betrachtet) leichter als Versteck (z. B. für Rauschgift, Sägeblätter usw.) missbraucht werden können (C/MD 2008
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Rdn. 3; AK-Boetticher 2006 Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 5). Gleichwohl kann auch bei diesen Entscheidungen nicht unberücksichtigt bleiben, inwieweit die personellen Möglichkeiten der Anstalt den zusätzlichen Kontrollaufwand zulassen (vgl. dazu z. B. OLG Hamm NStZ 1987, 248 in Bezug auf die Kontrolle zugesandter Publikationen). Unzulässig ist es, das Radiohören nachts durch Stromabschaltung mit der Begründung zu verhindern, andernfalls entstünde die generelle Gefahr von Bränden (z. B. durch einen vergessenen Tauchsieder) oder es könnten Störungen der Nachtruhe (für die anderen Gefangenen) eintreten (AK-Boetticher 2006 Rdn. 10; C/MD aaO; a. A. OLG Zweibrücken NStZ 1985, 45). b) bei eigenen Fernsehgeräten (Abs. 2, 2. HS.): die Sicherheit der Anstalt wird nach der 10 Rspr. des OLG Koblenz (ZfStrVo 1996, 114) auch durch Satellitenantennen mit Receivern gefährdet, weil es in dem Receiver Hohlräume gibt, die wegen ihrer Größe mehr als das bei Radioapparaten der Fall ist (vgl. Rdn. 9) als Verstecke missbraucht werden können (vgl. dazu auch Rdn. 5 zu § 70). Missbraucht werden können ferner Fernseher mit Flachbildschirmen, und zwar wegen ihrer nutzbaren Multifunktionalität; gleichwohl soll ein generelles Verbot solcher Modelle nicht in Betracht kommen (OLG Karlsruhe StV 2006, 540). Auch der generelle Ausschluss eingebrachter Fernsehgeräte stößt auf Bedenken; jedenfalls gibt es keine Rechtsgrundlage dafür, einen Gefangenen, der in seinem Haftraum ein eigenes Fernsehgerät betreiben möchte, ausschließlich auf die Anmietung eines Geräts bei einem externen Vermieter zu verweisen (OLG Dresden StV 2008, 89); weitere Beispiele bei Arloth 2008 Rdn. 7. Dass die Erreichung des Vollzugsziels durch die Formulierung des Abs. 2 (vgl. Rdn. 2) erschwert werden würde, war vorauszusehen. Die Angebote des Behandlungsvollzuges vertragen (soweit sie nach der Arbeitszeit durchgeführt werden) in der Regel die Konkurrenz zum Fernsehen nicht; jedenfalls werden nicht wenige Gefangene im Zweifel lieber fernsehen wollen. Die Erhebung einer Stromkostenpauschale für das Betreiben des Fernsehgerätes ist nur dann zulässig, wenn sie zuvor zwischen der JVA und dem Gefangenen schriftlich vereinbart wurde (OLG Koblenz ZfStrVo 2006, 177; OLG Jena NStZ 2006, 697 = StV 2006, 593 mit Anm. Walter). Die Überbürdung der bei eingeschalteten privaten Unternehmern entstehenden Kosten für die technische Sicherheitsüberprüfung (gebrauchter) eingebrachter Hörfunk- und Fernsehgeräte ist hingegen rechtmäßig (OLG Brandenburg ZfStrVo 2005, 312; Arloth 2008 Rdn. 7). Im Übrigen sind Videogeräte keine Fernsehgeräte (a. A. LG Hamburg ZfStrVo 1994, 121), sondern „andere Gegenstände“ i. S. des § 70; sie können dem Gefangenen daher nur unter den Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 vorenthalten werden (OLG Hamm NStZ 1995, 102; AK-Boetticher 2006 Rdn. 14; vgl. Rdn. 9 zu § 70). 5. Wird die Erlaubnis missbraucht (z. B. als Versteck für verbotene Gegenstände), 11 kann die Vollzugsbehörde die Erlaubnis gem. § 69 Abs. 2 i. V. mit § 70 Abs. 3 unter den Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 jederzeit widerrufen (vgl. Rdn. 13 zu § 70 und OLG Hamm NStZ 1986, 143; Arloth 2008 Rdn. 8). 6. Wird der Strafgefangene verlegt, gelten die folgenden Grundsätze dazu auch § 85 12 Rdn. 1: – Erfolgt die Verlegung in (einen anderen Haftraum) derselben Haftanstalt, so sind die dortigen Maßstäbe für die Beurteilung dafür heranzuziehen (OLG Celle ZfStrVo 1990, 307 LS), ob eine erteilte Erlaubnis (z. B. zum Besitz von Lautsprecherboxen) Fortbestand haben kann oder nicht. Insoweit sind Gesichtspunkte der Sicherheit und Ordnung gegen solche des Vertrauensschutzes (begünstigender Verwaltungsakt) abzuwägen. – Wird der Strafgefangene in eine andere Anstalt desselben Bundeslandes verlegt, kommt es darauf an, ob die Erlaubnis (ausdrücklich) nur für die konkrete (Herkunfts-) Anstalt oder generell (ohne diese Einschränkung) erteilt worden ist. Im ersteren Falle erHans-Dieter Schwind
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§ 69
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
lischt sie mit der Verlegung, im zweiten Fall wird sie zwar „mitgenommen“, kann aber in der neuen Anstalt (etwa einer solchen mit höherer Sicherheitsstufe) im Rahmen der Neubewertung der Umstände (vgl. dazu OLG Hamm NStZ 1993, 360 und OLG Celle StV 1993, 7) widerrufen werden; insoweit bedarf es allerdings einer eingehenden Begründung (vgl. dazu auch Rdn. 15 zu § 70 und OLG Karlsruhe ZfStrVo 1990, 376). – Wird der Strafgefangene hingegen in die JVA eines anderen Bundeslandes verlegt, bilden bisherige Regelungen oder Verwaltungsgewohnheiten in dem anderen Bundesland für einen Gefangenen keinen Vertrauenstatbestand (OLG Nürnberg ZfStrVo 1987, 379; OLG Zweibrücken NStZ 1992, 102; a. A. AK-Boetticher 2006 Rdn. 17; C/MD 2008 Rdn. 3; OLG Karlsruhe NStZ 1990, 408). Die Erlaubnis wird dann also in keinem Falle mitgenommen. Zur Zuständigkeit bei Verlegung: § 153.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 71 Abs. 2 BayStVollzG folgt dem Wortlaut des § 69 Abs. 1 Satz 3 StVollzG. Der Abs. 1 lautet: „Eigene Hörfunk- und Fernsehgeräte werden unter den Voraussetzungen des Art. 72 zugelassen. Die Betriebskosten können den Gefangenen auferlegt werden.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, 65) heißt es dazu: „Das Grundrecht der Informationsfreiheit erfordert nicht, dass der Betrieb eines eigenen Fernsehgerätes für die Gefangenen kostenfrei möglich sein muss.“ 2. Hamburg
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Unter der Überschrift „Rundfunk“ heißt es in § 52 HmbStVollzG: Abs. 1: „Die Gefangenen dürfen eigene Rundfunkgeräte unter den Voraussetzungen des § 53 besitzen, soweit ihnen nicht von der Anstalt Geräte überlassen werden. Die Betriebskosten können den Gefangenen auferlegt werden.“ Abs. 2: „Der Rundfunkempfang kann vorübergehend ausgesetzt oder einzelnen Gefangenen untersagt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerlässlich ist.“ Abs. 3: „Ein Anspruch der Gefangenen auf Teilnahme an einem durch die Anstalt vermittelten gemeinschaftlichen Rundfunkempfang besteht nicht.“ In der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 44) wird dazu ausgeführt: „Die Vorschrift, die unter ,Rundfunk‘ sowohl Hörfunk – als auch Fernsehgeräte – versteht, sieht gemeinschaftlichen Fernsehempfang nicht mehr zwingend vor. Der Anspruch der Gefangenen auf ein Mindestmaß an Fernsehempfang wird in der Praxis zuverlässig dadurch erfüllt, dass dem Gefangenen, der ein eigenes Gerät nicht besitzt, entweder befristet kostenlos ein Leihgerät zur Verfügung gestellt wird, oder er Gelegenheit erhält, gegen Kostenbeteiligung ein Gerät zu mieten.“ 3. Niedersachsen
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Der § 69 wurde durch § 66 NJVollzG, der völlig neu formuliert wurde, ersetzt und lautet unter der Überschrift „Hörfunk und Fernsehen“ wie folgt: „(1) Der oder dem Gefangenen wird nach Maßgabe der folgenden Absätze ermöglicht, am Hörfunk- und Fernsehempfang teilzunehmen. (2) Die Vollzugsbehörde hat den Besitz eines Hörfunk- und Fernsehgerätes im Haftraum zu erlauben, wenn dadurch die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 (des
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§ 70
Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung
NJVollzG; der Verf.) oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt nicht gefährdet wird. In der Erlaubnis kann die oder der Gefangene darauf verwiesen werden, anstelle eigener von der Vollzugsbehörde überlassene Geräte zu verwenden; eine solche Bestimmung kann auch nachträglich getroffen werden. Die Erlaubnis kann zur Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt widerrufen werden. (3) Soweit der oder dem Gefangenen ein Gerät im Haftraum nicht zur Verfügung steht, kann sie oder er am gemeinschaftlichen Hörfunk- und Fernsehempfang der Anstalt teilnehmen. Die Sendungen sind so auszuwählen, dass Wünsche und Bedürfnisse nach staatsbürgerlicher Information, Bildung und Unterhaltung angemessen berücksichtigt werden“. Der Hörfunk- und Fernsehempfang soll vorübergehend ausgesetzt oder einzelnen Gefangenen vorübergehend untersagt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt unerlässlich ist. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 13/3565, 142) heißt es dazu: „Die nach Abs. 2 Satz 2 überlassenen (anstaltseigenen) Geräte bieten den Vorteil, dass die Vollzugsbehörde die Missbrauchspotenziale infolge der Standardisierung besser einschätzen und durch besondere Sicherheitsfunktionen auch wirksam bewältigen kann.“
§ 70 Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung (1) Der Gefangene darf in angemessenem Umfange Bücher und andere Gegenstände zur Fortbildung oder zur Freizeitbeschäftigung besitzen. (2) Dies gilt nicht, wenn der Besitz, die Überlassung oder die Benutzung des Gegenstands 1. mit Strafe oder Geldbuße bedroht wäre oder 2. das Ziel des Vollzuges oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. (3) Die Erlaubnis kann unter den Voraussetzungen des Abs. 2 widerrufen werden. Schrifttum: s. bei § 68
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Das Recht auf Besitz bestimmter Gegenstände (Abs. 1) . . . . . . 2. Ausschluss von Gegenständen (Abs. 2) . . . . . . . . . . . . .
. .
1–3 4–15
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5
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6–12
Rdn. 3. Widerruf der Erlaubnis (Abs. 3) III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . . .
. 13–15 . 16–18 . 16 . 17 . 18
I. Allgemeine Hinweise Grundsätzlich darf der Gefangene nur solche Sachen in Besitz haben, die ihm von der 1 Vollzugsbehörde oder mit ihrer Zustimmung überlassen werden (§ 83 Abs. 1 Satz 1). Den Besitz und persönlichen Gewahrsam von Gefangenen regeln darüber hinaus speziell die Vorschriften der §§ 19, 53 Abs. 2 und 3; 68; 69; 70 und 83. Besitz i. S. d. § 70 bedeutet nur Hans-Dieter Schwind
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§ 70
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Verfügungsmöglichkeit über die Gegenstände im Bereich der Zelle, also grundsätzlich nicht im ganzen Anstaltsbereich (Arloth 2008 Rdn. 1; a. A. AK-Boetticher 2006 Rdn 5; C/MD 2008 Rdn. 1). Der Anstalt bleibt es jedoch unbenommen, die Mitnahme gewisser Gegenstände zu erlauben: z. B. die Mitnahme eines Buches zum Lesen beim Hofgang oder eines Schachspiels beim Umschluss.
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1. § 70 Abs. 1 gestattet (in angemessenem Umfang) den Besitz von Gegenständen zur Fortbildung oder zur Freizeitbeschäftigung (vgl. dazu § 67): Das gilt aber nur dann, wenn keiner der Ausschließungsgründe des Abs. 2 vorliegt. Die Aufzählung dieser Gründe, deren Relevanz nicht zuletzt vom Sicherheitsgrad der Anstalt bzw. der Gefährlichkeit ihrer Insassen abhängig ist (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 4), ist abschließend, so dass eine den Besitz einschränkende Maßnahme insoweit nicht auf § 4 Abs. 2 Satz 2 gestützt werden kann (C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Boetticher 2006 Rdn. 8). Die Auswahl der Gegenstände steht unter den Voraussetzungen des Abs. 2 allein dem Gefangenen zu (KG StV 1987, 542). Ihr Bezug wird durch § 70 nicht geregelt, ist deshalb anders als in § 68 Abs. 1 nicht auf die Vermittlung der Anstalt beschränkt (OLG Celle NStZ 1999, 446 M). Im Hinblick auf Bücher, die der Gefangene bestellen möchte, kann die Anstalt daher nicht den Bezug über eine Buchhandlung vorschreiben (C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Boetticher 2006 Rdn. 6; a. A. KG NStZ 1984, 478 mit Anm. Heischel). Nicht § 70, sondern § 68 findet für den Bezug von Zeitungen und Zeitschriften Anwendung; für den Besitz von religiösen Schriften gilt § 52 Abs. 2. Soweit es sich um den Besitz von Gegenständen handelt, die nicht der Fortbildung oder der Freizeitbeschäftigung, sondern der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen dienen, wie z. B. der Besitz einer elektrischen Kaffeemaschine (OLG Hamm ZfStrVo 1990, 151; C/MD 2008 Rdn. 1), richtet sich die Zulassung nach § 19 (anders jedoch OLG Hamm NStZ 1993, 382 B, wo § 70 angewendet wurde). Zur Bedeutung der Freizeitgestaltung für den modernen Behandlungsvollzug vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 608; Walkenhorst 2000; Bode 1988.
3
2. Bei dem Gefahrbegriff des Abs. 2 handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung gerichtlich voll überprüfbar ist (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 189 und NStZ 1996, 253; OLG Nürnberg ZfStrVo 1999, 117); das gilt auch für den Begriff des „angemessenen Umfangs“ (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 189; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 189; OLG Rostock ZfStrVo 2005, 117; Laubenthal 2008, Rdn. 617). Ein Ermessensspielraum besteht hingegen auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen des Abs. 3: die Vollzugsbehörde „kann“ eine einmal erteilte Erlaubnis widerrufen, sie muss es also nicht (vgl. Rdn. 13).
II. Erläuterungen 4
Abs. 1 regelt das Recht auf den Besitz bestimmter Gegenstände, Abs. 2 die Versagungsgründe und Abs. 3 den Widerruf der erteilten Erlaubnis zum Besitz.
5
1. Abs. 1 räumt dem Gefangenen das Recht (OLG Koblenz NStZ 1981, 214 F) auf den Besitz von Gegenständen ein, die der Freizeitbeschäftigung (Oberbegriff) bzw. Fortbildung dienen: als Beispiel dafür werden nur Bücher genannt (auch in Fotokopie: OLG Koblenz NStZ 1984, 46; a. A. Arloth 2008 Rdn. 2). In Betracht kommen aber auch z. B. grundsätzlich Bastelmaterial (OLG Nürnberg NStZ 1989, 426), Kleintierhaltung oder Zeichengeräte usw. Der Gesetzgeber hat den Anspruch jedoch mit einer doppelten Einschränkung versehen; die eine ergibt sich aus Abs. 2 (dazu Rdn. 6 ff), die andere aus der in Abs. 1 gewählten Formulierung: ,,in angemessenem Umfange“. Als „angemessen“ ist grundsätzlich nur der Umfang von Gegenständen zu betrachten, der die Übersichtlichkeit und Durchsuchbarkeit des Haftraumes über das in Strafvollzugsanstalten übliche Maß hinaus nicht erschwert (OLG
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Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung
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Karlsruhe ZfStrVo 2002, 376 = StV 2002, 668; OLG Rostock ZfStrVo 2005, 117; Laubenthal 2008,Rdn. 617; zum angemessenen Umfang auch Beyler 2001, 144). Überdimensional große Gegenstände, wie z. B. Klaviere oder anderes zusätzliches (größeres) Mobiliar können daher nicht erlaubt werden, wohl aber z.B. bis zu neun Stehordner und Ablichtungen von Akten in einem gegen den Gefangenen geführten Ermittlungsverfahren: das ergibt sich aus dem Anspruch des Gefangenen auf wirksame Verteidigung und Gewährung eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens (OLG Karlsruhe aaO). Ein Fernsehgerät mit den Außenmaßen 40 mal 40 mal 42 cm erscheint in der Regel noch angemessen (OLG Rostock ZfStrVo 2005, 117). Die Anstalt wird allerdings nicht gehindert, im Einzelfall auch größere oder kleinere Geräte zuzulassen, wenn besondere Umstände vorliegen: etwa eine Sehbehinderung des Gefangenen oder ein sehr kleiner Haftraum, in dem sich bereits zahlreiche andere (genehmigte) Gegenstände befinden. Für Flachbildfernseher soll eine Bildschirmdiagonale von 42 cm maßgebend sein (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 155). Bei der Beurteilung spielen außer den §§ 2–4 vor allem die Umstände des Einzelfalls (etwa die Größe des Haftraumes: OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 189) sowie die konkreten Anstaltsverhältnisse eine Rolle (OLG Celle BlStV 4/5/1994, 12; vgl. auch KG NStZ 1998, 398): insbesondere die Haftraumsituation, Sicherheitsgrad der Anstalt, die Personalausstattung (Beyler 2001, 145) und die Fortbildungs- und Freizeitmöglichkeiten der Anstalt (C/MD 2008 Rdn. 2). Der Versuch der Objektivierung des „angemessenen Umfangs“ mittels der (in Rheinland-Pfalz eingeführten) REFA-Haftraumkontrolle dürfte vor diesem Hintergrund zu kompliziert (zeitaufwendig) sein und bzgl. der vorgesehenen Punktevergabe eher Streit provozieren (dazu Arloth 2008 Rdn. 2; a. A. OLG Zweibrücken ZfStrVo 2001, 308). Die Beschränkung auf „nur“ 20 Bücher, 5 Leitzordner und 5 Schnellhefter trägt den Bedürfnissen des Gefangenen und dem Anliegen der Anstalt hinreichend Rechnung; sie entspricht auch einem unter den Landesjustizverwaltungen herausgebildeten Erfahrungswert (OLG Koblenz NStZ 1981, 214 F und NStZ 1989, 426). Zugelassen wurde, auch der Besitz von 1000 Blatt Schreibmaschinenpapier (OLG Celle ZfStrVo 1987, 372). Im Rahmen der Angemessenheit ist im Übrigen immer zu prüfen, ob die Gegenstände, die in die Hafträume hineinkommen sollen, aus Gründen sozialer Gleichbehandlung (vgl. dazu OLG Celle NStZ 2000, 466 M; vgl. auch Rdn. 9 zu § 33) hinsichtlich ihres Wertes noch in einem vertretbaren Verhältnis zu dem Besitzstand des Durchschnittsinsassen stehen (OLG Hamm NStZ 1988, 200; Beyler 2001, 145; Laubenthal 2008, Rdn. 617; a. A. C/MD 2008 Rdn. 2 und AK-Boetticher 2006 Rdn. 3). Allerdings sollte insoweit auch die Individualität der Gefangenen berücksichtigt werden. Das gilt z.B. für den Besitz von Musikinstrumenten (BVerfG StV 1996, 683; C/MD 2008 Rdn. 5; vgl. dazu Zeuch/Hillecke 2003). Zum Besitz von religiösen Schriften und Gegenständen des religiösen Gebrauchs vgl. Rdn. 15 und 17 zu § 53. Wenn der Insasse die Angemessenheitsgrenze überschreitet, so ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Anstalt – nach vorheriger vergeblicher Aufforderung – Gegenstände aus dem Haftraum entfernt, um so dem Sicherheitsbedürfnis Rechnung zu tragen (Laubenthal 2008, Rdn. 617; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 189). 2. Abs. 2: Der grundsätzlich zugelassene Besitz von Fortbildungsmitteln und Gegen- 6 ständen zur Freizeitgestalung wird durch die in Abs. 2 genannten Gründe eingeschränkt, wenn die Überlassung oder Benutzung (Nr. 1) mit Strafe oder Geldbuße bedroht wäre (nach den §§ 86, 86a, 131, 184 StGB; BtmG, WaffenG usw.) oder (Nr. 2) das Ziel des Vollzugs oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde. § 70 Abs. 2 enthält eine abschließende Regelung (C/MD 2008 Rdn. 1), so dass z.B. Gefangenen der Bezug von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung nicht deshalb verweigert werden kann, weil sie schuldhaft nicht arbeiten (OLG Frankfurt INFO 1987, 783; AK-Boetticher 2006 Rdn. 9).
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a) Zur Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung: Den Streit darüber, ob es sich bei dem Begriff der „Gefährdung“ – um eine konkrete Gefahr, die von einem Gegenstand ausgeht (z. B. als Versteck benutzt oder in anderer Weise missbraucht zu werden), deren Vorliegen in nachprüfbarer Weise (z. B. aufgrund früherer Missbräuche des Antragstellers, Unzuverlässigkeit des Absenders, besonderer Haftumstände) festzustellen ist, handeln muss (C/MD 2008 Rdn. 3; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 156) oder ob schon – eine abstrakte Gefährlichkeit ausreicht (so alle Vorauflagen), hat das BVerfG (ZfStrVo 1994, 369 und NStZ-RR 1997, 24 sowie NStZ-RR 2002, 128) grundsätzlich zugunsten der Kommentierung dieses Kommentars entschieden und insoweit folgende Grundsätze entwickelt: – ein Versagungsgrund i. S. des § 70 Abs. 2 liegt schon dann vor, wenn der fragliche Gegenstand generell-abstrakt geeignet ist, die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt zu gefährden; auf die einem bestimmten Gefangenen „innewohende Gefährlichkeit“ kommt es danach nicht an (so z. B. im Anschluss auch OLG Karlsruhe BlStV 2/2001, 5); – das Vorliegen einer solchen Gefährdung darf aber nur dann bejaht werden (so auch BVerfG NJW 2003, 2447), wenn diese nur mit einem der Anstalt nicht mehr zumutbarem Kontrollaufwand ausgeschlossen werden könnte: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 81 Abs. 2). So auch OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 156; OLG Hamm ZfStrVo 2001, 185 = StV 2002, 270; OLG Celle NStZ 2002, 111; OLG Rostock ZfStrVo 2003, 56; OLG Jena NStZ-RR 2003, 221 = ZfStrVo 2003, 304 f; vgl. auch Beyler 2001, 145; krit. C/MD 2008 Rdn. 3, weil der Kontrollaufwand „kein gesetzlicher Einschränkungsgrund ist“; – der Versagungsgrund kommt ferner dann nicht in Frage (Grundsatz der Erforderlichkeit), wenn ein milderes Mittel (z. B. die Verplombung des Gegenstandes durch die Anstalt bzw. regelmäßige Kontrollen) geeignet ist, der Gefährdung effektiv zu begegnen. Schließlich ist – im Rahmen der Zumutbarkeit zugunsten des Antragstellers zu beachten, dass wichtige Belange des Gefangenen, etwa ein ernsthaft und nachhaltig verfolgtes Interesse an Aus- und Weiterbildung, es verbieten können, eine nach Schadenswahrscheinlichkeit oder Schadensausmaß geringfügige Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt zum Anlass für die Verweigerung einer Besitzerlaubnis zu machen. Es liegt auf der Hand, dass die Beurteilungen jeweils wiederum (Rdn. 5) von den Verhältnissen in der konkreten JVA abhängig sind (BGH NStZ 2000, 222). Im offenen Vollzug ist großzügiger zu verfahren als im geschlossenen Vollzug bzw. in einer Institution mit hohem Sicherheitsgrad (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 186). Bevorzugungen einzelner Gefangener können gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Im Übrigen ist auch der Angleichungsgrundsatz des § 3 zu beachten (vgl. dazu Beyler 2001, 142: d. h. der technische und gesellschaftliche Wandel sind zu berücksichtigen). Inwieweit die Ergebnisse der bisherigen Rspr. diesen Grundsätzen entsprechen, muss jeweils im Einzelfall überprüft werden. Im Vordergrund stehen (wenn man von den besonderen Umständen jeder Anstalt einmal absieht) die Eignung des jeweiligen Gegenstandes als Versteck, die Möglichkeit des Umbaus zu sicherheitsgefährdenden Zwecken, die Gefahr des Missbrauchs von Speicherfunktionen sowie das Risiko unkontrollierten Informationsaustauschs (Beyler 2001, 146). Im Übrigen ergibt sich insoweit das Bild einer zwar umfangreichen, aber auch z. T. widersprüchlichen Kasuistik (vgl. dazu auch Beyler 2001, 146 ff und die Rspr. bei Rdn. 10 zu § 81). 8 Danach stehen Gründe der Sicherheit oder Ordnung der dauernden Überlassung eines Versandhauskataloges an einen Strafgefangenen (dazu auch Rdn. 6 zu § 68) nicht ent-
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gegen, wenn der Inhalt dieses Kataloges unter Sicherheitsgesichtspunkten unbedenklich ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 187) bzw. der Katalog in Folien verschweißt ist (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315). Nicht zulässig ist es, dem Gefangenen den Besitz juristischer Fachzeitschriften oder Kommentare, die ihm gehören oder die er von seinem Eigengeld beschaffen will, zu untersagen (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 185; das gilt auch für Ergänzungslieferungen zu einer genehmigten Loseblattsammlung (OLG Celle NStZ 1989, 425) und die Aushändigung des StVollzG (OLG Celle NStZ 1987, 44; AK-Boetticher 2006 Rdn. 7). Ein Keyboard ist zuzulassen, wenn es der berufsqualifizierenden Weiterbildung dient (BVerfG NStZ-RR 1997, 24). Eine Briefmarken-Auswahlsendung kann die Sicherheit oder Ordnung einer JVA dann gefährden, wenn die Sendung in größerem Umfang Marken enthält, die noch als Postwertzeichen und somit Handelsobjekt in der JVA verwendet werden können (OLG Hamm BlStV 1/1982, 7). Die Rspr. des OLG Frankfurt (NStZ 1984, 239 = BlStV 1/1984, 6; so auch schon OLG Koblenz ZfStrVo 1983, 315; OLG Dresden, 4.11. 1999 – 2 Ws 401/99: „unumstritten“), nach der Strafgefangene generell kein Recht auf Haltung eines Vogels in der Vollzugsanstalt hat, weil von der Haltung von Kleintieren grundsätzlich eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt ausgehen kann (etwa eine Übertragung von Krankheiten), überzeugt hingegen nicht; zumindest Lebenslänglichen (vgl. Vogelsang 1994, 67) sollte im Rahmen des § 3 Abs. 2 ein solches Recht wenigstens grundsätzlich zustehen, weil die Haltung von Tieren gerade in dieser Haftsituation psychisch und therapeutisch von Nutzen sein kann (s. auch § 19 Rdn. 5; ausführlich zur tiergestützten Pädagogik Schwind 2008). Zum Widerruf einer Genehmigung zur Vogelhaltung vgl. unten Rdn. 13. Bei der folgenden Rspr. stehen als Kriterien primär im Vordergrund: die Eignung eines 9 Gegenstandes als Versteck (z. B. für Rauschgift), der Missbrauch von Speicherkapazitäten, die realistische Möglichkeit der Umfunktionierung eines elektrischen Gerätes zu sicherheitsgefährdenden Zwecken (Bau eines Senders zur Nachrichtenübermittlung nach außen) sowie die Gefahr unkontrollierter Nachrichtenübermittlung nach innen (z. B. über Schallplatten, die nicht durch Vermittlung der Anstalt bezogen werden). Bei zumindest generell-abstrakter Eignung eines Gegenstandes als Versteck (vgl. dazu auch Rdn. 10 zu § 81) wird die Missbrauchsgefahr danach verneint, wenn der Gegenstand verplombt ist: z. B. ein verplombter CD-Player (OLG Frankfurt ZfStrVo 1989, 245; vgl. dazu auch BVerfG ZfStrVo 1994, 376) oder ein batteriegetriebener plombierter Schachcomputer (OLG Nürnberg ZfStrVo 1983, 253); das gilt auch für einen verplombten DVDPlayer ohne Speicherfunktion (OLG Frankfurt ZfStrVo 2005, 185; a. A. OLG Jena NStZ-RR 2003, 222). Umstritten ist, ob die Aushändigung bzw. der Besitz von Spielkonsolen (wie der „Sony-Playstation 2“) verweigert werden kann (dazu Lindhorst StV 2006). Zumindest für Haftanstalten mit hohem Sicherheitsgrad ist das zu bejahen (OLG Brandenburg ZfStrVo 2004, 115; OLG Jena ZfStrVo 2003, 304). Die von solchen Geräten ausgehenden Gefahren für die Sicherheit der Anstalt liegen insbesondere in der Möglichkeit, Daten zu speichern bzw. auch über das Internet einen (unzulässigen) Informationsaustausch mit Externen zu ermöglichen; das erforderliche Modem ist erfahrungsgemäß (OLG Brandenburg aaO) leicht zu beschaffen. Auch das OLG Hamm (ZfStrVo 2005, 119) ist der Auffassung, dass der Besitz einer „Playstation 2“ die Sicherheit oder Ordnung gefährdet (ebenso OLG Saarbrücken ZfStrVo 2005, 122). Das OLG Karlsruhe (ZfStrVo 2003, 244 = StV 2003, 407) hat dann keine Bedenken, wenn der Missbrauchsgefahr wiederum mit einer Versiegelung und Verplombung der Hohlräume und Schnittstellen zureichend begegnet werden kann; inzwischen hat das OLG Karlsruhe diese Rechtsprechung allerdings aufgegeben (NStZ-RR 2007, 192): aber die generelle Gefährdung wird bejaht. Das kann (auch in Anstalten mit weniger Sicherheitsproblemen) aber nur dann gelten, wenn die erforderlichen Einzel-
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prüfungen den Umfang dessen, was die Anstalt nach ihren konkreten Gegebenheiten leisten kann und hinnehmen muss, nicht überschreiten. Gegen den Besitz und die Nutzung der „Sony Playstation 1“ hatten das OLG Nürnberg (NStZ-RR 2002, 191) und das OLG Dresden (NStZ-RR 2000, 222) hingegen keine Bedenken. Bei einer Sony-Playstation ist der Kontrollaufwand übrigens deshalb besonders hoch (vgl. auch Bringewat BewHi 1994, 469 ff), weil außer den Versteckmöglichkeiten (Hohlräumen im Gerät), die Möglichkeit besteht, DVDs mit strafrechtlich relevantem oder sonst verbotenem Inhalt abzuspielen und deshalb stichprobenartige Inhaltskontrollen notwendig sind (vgl. OLG Jena NStZ 2003, 221). Auch dann, wenn die DVDs durch Vermittlung der Anstalt und originalverpackt über den Versandhandel bezogen werden sollen, sind solche Kontrollen deshalb nicht überflüssig (a. A. LG Bochum ZfStrVo 2002, 187), weil DVDs mit verbotenem Inhalt auch auf unerlaubtem Wege in die Anstalt gelangen können. Nicht abgelehnt werden kann nach der Rspr. des OLG Koblenz (NStZ 1999, 446 M) die Zulassung des Videospielgeräts „Game Boy“; zum Besitz eines Telespielgeräts der Marke Nintendo vgl. OLG Karlsruhe BlStV 2/2001, 5 und OLG Karlsruhe NStZ 2007, 707. Untersagt werden können jedoch der Besitz eines elektronischen Graphikschreibers (KG NStZ 1988, 401), einer elektrischen Schreibmaschine (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 381 und NStZ 1988, 200 sowie NStZ 1993, 608), eines Walkman (OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 372), eines Kassettenrecorders (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1987, 303), eines Hi-Fi-Centers (OLG Frankfurt NStZ 1986, 351), eines Schallplattenspielers (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1992, 54; a. A. OLG Celle BlStV 3/1990, 5 und C/MD 2008 Rdn. 5) eines CD-Plattenspielers (OLG Zweibrücken NStZ 1989, 143; a. A. OLG Frankfurt NStZ 1989, 343); differenzierend OLG München NStZ-RR 1996, 352), von Lautsprecherboxen (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1986, 383; OLG Hamm ZfStrVo 1994, 311), eines Handkopiergerätes (OLG Frankfurt BlStV 4/5/1993, 6), einer elektrischen Kaffeemaschine (OLG Hamm NStZ 1993, 382 B; vgl. dazu aber Rdn. 2), eines Videorecorders (OLG Hamm NStZ 1995, 102), eines Epidiaskopes (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 189) sowie generell der Besitz computergesteuerter Geräte (OLG Nürnberg BlStV 2/1984, 6), etwa von Personalcomputern (OLG Bamberg NStZ 1995, 434 B = BlStV 2/1995, 9), Taschencomputern (OLG Hamm NStZ 1990, 304; a. A. C/MD 2008 Rdn. 5). Ferner wird der Besitz nicht gestattet: von PC-Notebooks (OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 156) bzw. Laptops (OLG Frankfurt NStZ 2000, 466; BVerfG NJW 2003, 2447 = NStZ 2003, 621) oder einer elektronischen Schreibmaschine mit Textspeicher (OLG Celle NStZ 1988, 200 und NStZ 2000, 466 M; OLG Rostock ZfStrVo 1997, 172 und BVerfG NStZ-RR 1996, 252 mit krit. Anm. von Bringewat BewHi 1997, 206 ff), und zwar deshalb, weil es die vorhandene Speicherkapazität ermöglicht, Texte einzugeben, deren Inhalt von Bediensteten der JVA, bei denen keine computertechnischen Kenntnisse vorauszusetzen sind, nicht ohne weiteres abgerufen und kontrolliert werden kann (Speicherung von Erkenntnissen z. B. über Fluchtwege, verbotene Außenkontakte und Aufstellungen über die Abgabe von Betäubungsmitteln sowie über andere verbotene Beziehungen zwischen Mitgefangenen: dazu OLG Bamberg aaO; OLG Celle BlStV 4/5/1994, 12). Das hierdurch bedingte erhebliche Sicherheitsrisiko kann nicht durch Auflagen (Verplombung, Plexiglasgehäuse, Kontrolle der Disketten durch externe Stellen) entscheidend gemildert werden (OLG Bamberg aaO). Aus Sicherheitsgründen ist auch eine Fernbedienung mit Videotexttaste nicht erlaubt, weil diese einen unkontrollierten Informationsfluss über Chatrooms auf Videotextseiten verschiedener Fernsehsender (etwa SAT 1 oder VIVA) ermöglicht (OLG Celle NStZ 2002, 111 = Nds.Rpfl. 2002, 124; Arloth 2008 Rdn. 7). Gerechtfertigt soll ferner die Versagung des Besitzes eines Weckers (jedenfalls in Anstalten mit hohem Sicherheitsrisiko) sein, weil die Gefahr nicht auszuschließen ist, dass der Betroffene oder andere Gefangene den Weckmechanismus zum Bau eines Sprengsatzes oder einer ent-
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sprechenden Attrappe benutzen, mit der Ausbruchsversuche unternommen werden können (OLG Hamm BlStV 6/1982, 12). Auch die Überlassung von Musikkassetten (LG Krefeld ZfStrVo 1987, 380; OLG Hamm BlStV 1/1991, 5) sowie von Schallplatten, die nicht durch Vermittlung der Anstalt bezogen werden, kann die Sicherheit (einer geschlossenen Vollzugsanstalt) gefährden: namentlich besteht die Möglichkeit des Einschmuggelns von Drogen und einer Nachrichtenübermittlung. Die Anstalt ist jedenfalls im Hinblick auf ihre übrigen Aufgaben nicht gehalten, personal- und zeitaufwendige Kontrollen durchzuführen, um solche Gefahren auszuschließen (OLG Celle BlStV 4/5/1984, 8; OLG Hamm NStZ 1990, 304). Die Ordnung stören können z. B. quälende Dauerübungen eines unmusikalischen Akkordeonanfängers oder Gitarrespielers (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3). Schließlich kann auch die Unübersichtlichkeit des Haftraumes die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährden. Eine Ausnahme von dieser restriktiven Rechtsprechung dürfte in den Fällen angezeigt 10 sein, in denen die Befürchtung eines Missbrauchs wegen der Verwendbarkeit der Geräte zwar grundsätzlich besteht, aber wegen der Besonderheit der Anstalt sehr gering erscheint (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1989, 425), also etwa dann, wenn der Gefangene nicht im geschlossenen Vollzug untergebracht und seine Zuverlässigkeit nicht in Frage gestellt ist. So auch § 81 Rdn. 10. b) Eine Gefährdung des Vollzugsziels (Abs. 2 Nr. 2) setzt immer eine konkret vor- 11 liegende Gefahr von einigem Gewicht voraus sowie eine persönlichkeitsbezogene Prognose (AK-Boetticher 2006 Rdn. 12). Für Arloth (2008 Rdn. 4), können insoweit auch Ereignisse eine Rolle spielen, die in der Vergangenheit liegen (a. A. AK-Boetticher 2006 Rdn. 14); allein in der Vergangenheit liegende Ereignisse reichen aber nicht aus. Ein Vorrang von Resozialisierungsgesichtspunkten gegenüber der Sicherheit kann vor dem Hintergrund der Belastungen des Strafvollzuges (Überbelegung, Ausländeranteil, OK-Gefangene, Subkultur) im geschlossenen Vollzug grundsätzlich nicht anerkannt werden (Arloth 2008 Rdn. 5). Eine Gefährdung des Vollzugsziels kommt auch dann in Frage, wenn ein Sexualtäter pornographisches Schrifttum besitzen möchte oder besitzt (OLG Brandenburg NJ 2008, 262 zum Film „Please fuck you and my friend“) oder Geräte zur Ersatzbefriedigung (z. B. eine batteriebetriebene Ersatzvagina: OLG Hamburg BlStV 6/1975, 4) oder wenn Gefangene der Anarchistenszene nach entsprechender Literatur verlangen (vgl. auch Rdn. 16 zu § 68). Von der Aushändigung an den Gefangenen generell auszuschließen ist auch der „Ratgeber für Gefangene mit medizinischen und juristischen Hinweisen“ (Verlag Schwarze Seele, Berlin 1985), und zwar wegen einer nach Inhalt und Zielsetzung negativen, durchgängig gegen das Vollzugsziel gerichteten sowie die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdenden Tendenz (OLG Frankfurt ZfStrVo 1983, 314; OLG Hamm ZfStrVo 1989, 57 = NStZ 1988, 332 mit ausführlicher Inhaltsbeschreibung und abl. Anm. Feest und Lesting). Das gleiche gilt teilweise (also nicht durchgängig) für ein „Merkheft mit Musterbegründungen für Anträge und Beschwerden“ (vgl. LG Augsburg NStZ 1988, 358 B und LG Krefeld NStZ 1988, 400 B; a. A. C/MD 2008 Rdn. 4). Das OLG Zweibrücken (ZfStrVo 1989, 117) hat in diesen Fällen zu Recht jedoch eine Teilaushändigung angeordnet. Die Info-Broschüre „Positiv in Haft“, die die Deutsche Aids-Hilfe e.V. herausgibt, informiert (so BVerfG NStZ 2005, 286) hingegen „in juristisch zumindest vertretbarer Weise“ und „begründet ebenso wenig eine Gefahr i. S. des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG wie der Besitz juristischer Fachzeitschriften oder Kommentare, selbst wenn sich die rechtliche Information zu Aspekten des Vollzugs kritisch verhält“ (vgl. auch oben Rdn. 8); zur „Zensurpraxis“ Feest KritJ 1991, 253 ff.
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c) Soweit die Einschränkungsgründe in Abs. 2 weiter reichen als sie in § 68 gefasst sind, gelten sie nicht für den Besitz von Zeitungen und Zeitschriften, da § 68 als Sonderregelung vorgeht (RegE, BT-Drucks. 7/918, 74; C/MD 2008 Rdn. 1).
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3. Nach Abs. 3 i. V. mit Abs. 2 kann die Erlaubnis zum Besitz von Gegenständen (nach Abs. 1) wegen nachträglich eingetretener Umstände (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 59) widerrufen werden, wenn dieser Besitz Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder das Ziel des Vollzuges gefährdet; die entsprechende Darlegungspflicht bezieht sich auf jeden einzelnen Gegenstand, dessen Besitz z. B. als Drogenversteck missbraucht werden kann (OLG Zweibrücken NStZ 1994, 151). Es handelt sich jedoch um eine „Kann“-Bestimmung, d. h. es soll dem Ermessen der Vollzugsbehörde überlassen bleiben (zum pflichtgemäßen Ermessensspielraum: vgl. Rdn. 3), ob sie unter Abwägung aller Umstände und Interessen des konkreten Einzelfalles, insbesondere unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes (BVerfG NStZ 1994, 100 und 1996, 252 mit Anm. Rotthaus; OLG Celle NStZ 2002, 111) überhaupt reagiert (vgl. auch C/MD 2008 Rdn. 1): ob sie z. B. nach einer Geiselnahme (unter Neubewertung der Umstände) die Erlaubnis zum Betreiben einer Stereoanlage mit zwei externen Lautsprecherboxen widerruft oder nicht (BVerfG NStZ 1994, 100 und NStZ 1996, 252) oder ob sie nach Versterben eines Singvogels, dessen Erwerb und Haltung dem Gefangenen erlaubt worden war, den Neuerwerb und die Haltung wegen erhöhter Kontrollaufgaben infolge von zwischenzeitlich eingetretener Überbelegung versagt oder nicht (OLG Dresden, 4.11.1999 – 2 Ws 401/99). Dazu bedarf es jeweils auf den Einzelfall bezogener Abwägungen des Interesses der Allgemeinheit an einem Widerruf der Erlaubnis gegenüber dem Interesse des Strafgefangenen am Fortbestand der ihn begünstigenden Rechtslage (z.B. nach einer Verlegung) im Rahmen des Vertrauensschutzes (OLG Dresden NStZ 2007, 175). Für zulässig wird ein Widerruf z. B. auch dann gehalten, wenn ein Gefangener ein ihm erlaubtes Radiogerät einem Mitgefangenen überlässt, weil das Radio dann Tauschobjekt für unerlaubte Gegenstände oder Leistungen sein kann (LG Bremen BlStV 1/1985, 5); das gilt ebenso für andere Fälle entsprechenden Missbrauchs (dazu OLG Nürnberg StV 1983, 208). Für zulässig gehalten wird ferner der Widerruf zum Besitz einer Schreibmaschine, wenn der Gefangene diese regelmäßig im Rahmen umfänglicher Rechtsberatung benutzt und dadurch unerwünschte Abhängigkeitsverhältnisse entstehen (OLG München ZfStrVo 1981, 380); ob das der Fall ist, muss im Einzelfall festgestellt werden (OLG Celle ZfStrVo 1983, 192; AK-Boetticher 2006 Rdn. 21; a. A. OLG München ZfStrVo 1981, 380). 14 Der pauschale (formelhafte) Hinweis, dass das besondere Interesse an der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt die Individualinteressen des Gefangenen an der Wahrung seines Besitzstandes überwiegt (vgl. dazu auch Baumann StV 1992, 331 f), reicht insoweit nicht aus (BVerfG aaO mit zust. Anm. von Bringewat BewHi 1994, 355 ff). 15 Bei der Verlegung eines Gefangenen in eine andere Anstalt (desselben Bundeslandes) muss differenziert werden (vgl. dazu OLG Celle BlStV 3/1992, 5): nur bei einer unbeschränkt erteilten Erlaubnis „nimmt“ der Gefangene bei der Verlegung die Zustimmung der bisherigen JVA „mit“ (vgl. insoweit auch OLG Celle StV 1993, 207), nicht bei einer Erlaubnis, die auf die bisherige Anstalt ausdrücklich beschränkt worden ist (vgl. ausführlicher Rdn. 12 zu § 69). Im letzteren Fall kann die neue Anstalt im Rahmen der Neubewertung der Umstände (vgl. dazu auch OLG Hamm NStZ 1993, 360 und AK-Boetticher 2006 Rdn. 21) überprüfen, ob die Erlaubnis (unter den Voraussetzungen des § 70 Abs. 2) fortgelten soll oder nicht (so auch Arloth 2008 Rdn. 7). Den Maßstab bilden dann die Grundsätze für die Erlaubniserteilung (vgl. Rdn. 7 ff). Will die neue JVA hingegen eine unbeschränkt erteilte Erlaubnis zurücknehmen, gelten die Grundsätze über den Widerruf (Rdn. 13). Für
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Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung
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eine erleichterte Widerrufsmöglichkeit von Besitzgenehmigungen aus Sicherheitsgründen vgl. OLG Rostock ZfStrVo 1997, 172 (dazu auch BVerfG ZfStrVo 1997, 367). Zur Zuständigkeit bei Verlegung: § 153.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 72 BayStVollzG enthält Veränderungen im Abs. 2. Bei Abs. 2 Nr. 2 wurde der Wort- 16 laut „Ziel des Vollzuges“ durch die Formulierung „Erfüllung des Behandlungsauftrages“ ersetzt. Außerdem wurde an die Nr. 2 folgender Halbsatz angefügt: „eine solche Gefährdung liegt in der Regel bei elektronischen Unterhaltungsmedien vor.“ In der Gesetzesbegr. (LT-Drucks. 15/8101, 65) heißt es dazu: „Elektronische Unterhaltungsmedien tragen vielfache Sicherheitsrisiken in sich (Versteckmöglichkeiten in Hohlräumen, Speichermöglichkeiten, Manipulationsmöglichkeiten) und können zu subkulturellen Zwecken missbraucht werden (Handeltreiben, Erpressen, Wetten). Daher bedarf es besonderer Begründung, diese grundsätzlich in der vollzuglichen Praxis gefährlichen Gegenstände dennoch zuzulassen (z.B. Ausgaben von CD-Spielen mit Sprachkursen).“ 2. Hamburg Der § 53 HmbStVollzG ist überschrieben „Gegenstände der Freizeitbeschäftigung“. Die 17 Vorschrift wurde zwar etwas umformuliert, „entspricht (aber) im Wesentlichen der Regelung des § 70 StVollzG“ (Begr. Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 44). Abs. 2 wurde aber wie folgt verkürzt: „Dies gilt nicht, wenn der Besitz, die Überlassung oder die Benutzung des Gegenstandes das Vollzugsziel oder die Sicherheit oder die Ordnung der Anstalt gefährden würde.“ 3. Niedersachsen Der „entsprechende“ § 67 NJVollzG (Gesetzesbegr. LT-Drucks. 15/3565, 143) lautet wie 18 folgt: „(1) Die oder der Gefangene darf mit Erlaubnis der Vollzugsbehörde in angemessenem Umfang sonstige Geräte der Informations- und Unterhaltungselektronik, Bücher sowie andere Gegenstände zur Fortbildung oder zur Freizeitbeschäftigung besitzen. Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde. Die Erlaubnis kann unter den Voraussetzungen des Satzes 2 widerrufen werden. (2) Im Übrigen gilt § 66 Abs. 2 Satz 2 für Geräte der Informations- und Unterhaltungselektronik entsprechend.“
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NEUNTER TITEL
Soziale Hilfe Vorbemerkungen Schrifttum: a) Zur Entlassungsvorbereitung: Baumann, Einige Modelle zum Strafvollzug, Bielefeld 1979, 84 ff; Becker/Marggraf/Nuissl/Sutter Leitfaden für das Soziale Training, Zwölf Lerneinheiten für die Bildungsarbeit im Strafvollzug, Heidelberg 1988, 41 ff, 63 ff; Beisel/Dölling (Hrsg.), Soziales Training „Recht im Alltag“, Aachen 2000; Best Entlassungsvorbereitung – Eine gemeinsame Aufgabe von Vollzug und den sozialen Diensten in der Strafrechtspflege, in: KrimPäd 1989, 27 ff; ders. Justizvollzug im Wandel, in: KrimPäd 1997a, 41 ff; ders. Der Beitrag des Strafvollzugsgesetzes zur Haftentlassung und Wiedereingliederung – Anspruch und Realität, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger. Eine Bilanz nach 20 Jahren Strafvollzugsgesetz, Freiburg 1998, 136 ff; ders. Keeping prisoners active in an increasingly difficult economic environment, in: Council of Europe, 12th Conference of Directors of Prison Administration (CDAP) 26–28 November 1997, Strasbourg 1999a; Brühl Sozialhilfe für Strafgefangene und ihre Angehörigen, in: ZfStrVo 1988, 291 ff; Buchert/Metternich Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes zur Einrichtung von Behandlungsgruppen im Bereich des Sozialen Trainings mit dem Themenschwerpunkt „Anti-Gewalt-Training“ (AGT), in: ZfStrVo 1994, 327 ff; Calliess Die Neuregelung des Arbeitsentgelts im Strafvollzug, in: NJW 2001, 1692 ff; Cornel/Kawamura-Reind/ Maelicke/Sonnen (Hrsg.) Handbuch der Resozialisierung, Baden-Baden 3. Aufl. 2008; DBH-Bildungswerk, Projekt Lotse, Ausländische Inhaftierte im Strafvollzug 1999; Dolde Spätaussiedler – „Russlanddeutsche“ – ein Integrationsproblem, in: ZfStrVo 2002, 146 ff; Dünkel/Kunkat Zwischen Innovation und Restauration. 20 Jahre Strafvollzugsgesetz – eine Bestandsaufnahme, in: NK 2/1997, 24 ff; Finkbeiner/ Karsten/Meiners Deeskalationsgruppen mit Inhaftierten unterschiedlicher Nationalität und Kultur in der Jungtäteranstalt Vechta, in: ZfStrVo 1993, 343 ff; Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation. Baden-Baden 2001; Hardes Leistungen für Gefangene bei Arbeitslosigkeit, in: ZfStrVo 2001, 139 ff; Hellpap/Wechner Übergangsmanagement vom Strafvollzug zur Nachbetreuung, in: DBH (Hrsg.): Sicherheit und Risiko, Köln 2007, 114 ff; Jekewitz Freiheitsentzug und Abgeordnetenmandat, in: GA 1981, 433 ff; Joppe Arbeitsförderungsgesetz und Strafvollzugsgesetz – ein System der beruflichen Resozialisierung, in: Soziale Arbeit 1977, 1 ff und 2, 94 ff; Kanisch/Aspiron Zehn Jahre „Familienseminar mit Inhaftierten und ihren Partnerinnen“, in: ZfStrVo 1997, 152 ff; Kerner Behandlungs- und Vollzugsorganisation im neuen Strafvollzugsgesetz, in: ZfStrVo 1977, 74 ff; ders. Der Übergang vom Strafvollzug in die Gesellschaft: Ein klassisches Strukturproblem für die Reintegration von Strafgefangenen, in: Bremer Institut für Kriminalpolitik (Hrsg.), Quo Vadis III. Innovative Wege zur nachhaltigen Integration straffälliger Menschen – Reformmodelle in den EU-Staaten. Bremen 2003, 27 ff; Koepsel Resozialisierungsziele auf dem Prüfstand: oder sind neue Sicherheitsstrategien für den Strafvollzug erforderlich?, in: Kriminalistik 1999, 81 ff; Kretschmer Das aktive Wahlrecht der Strafgefangenen, in: ZfStrVo 2002, 131 ff; Kury/Kern Angehörige von Inhaftierten – zu den Nebeneffekten des Strafvollzugs, in: ZfStrVo 2003, 269 ff; Laubenthal Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, in: Feuerhelm/Schwind/Bock (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/New York 1999, 307 ff; Lösel Erziehen-Strafen-Helfen, in: Harrer (Hrsg.) Einmal verknackt- für immer vermauert, Tutzing 1993, 15 ff; Maelicke Arbeitsmarktpolitik und Straffälligkeit, in: Bremer Institut für Kriminalpolitik (Hrsg.), Quo Vadis III. Innovative Wege zur nachhaltigen Reintegration straffälliger Menschen – Reformmodelle in den EU-Staaten, Bremen 2003, 61 ff; Matt Integrationsplanung und Übergangsmanagement. Konzepte zu einer tragfähigen Wiedereingliederung von (Ex-)Strafgefangenen, in FS 2007, 26 ff; Morgenstern Familienarbeit und Strafvollzug, in: ZfStrVo 1984, 92; Müller-Dietz Die Stellung des Behinderten im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1982, 94 ff; Neu Arbeitsentgelt im Strafvollzug: Neuregelung auf dem kleinsten Nenner, in: BewHi 2002, 83 ff; Otto Gemeinsames Lernen durch soziales Training, Lingen 1988; Perwein Dauer und Höhe der Überbrückungsbeihilfe gemäß § 75 StVollzG, in: ZfStrVo 2000, 351 ff; Rehn Sozialtherapie im Strafvollzug: alte und neue Visionen, in: KrimPäd 2002, 23 ff; Rotthaus Sozialtherapie im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2002, 279 ff; Schellhorn Sozialhilfe für Strafgefangene?,
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in: ZfStrVo 1978, 13 ff; ders. Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch – das neue SGB XII, in: NDV 2004, 167 ff; Schwind Nichtdeutsche Straftäter – eine kriminalpolitische Herausforderung, die bis zum Strafvollzug reicht, in: Feuerhelm/Schwind/Bock (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/ New York 1999, 323 ff; Wauro Soziales Training als Betreuungsaufgabe auch für den allgemeinen Vollzug, in: ZfStrVo 1992, 280 ff; Wirth Prävention durch Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt: Cui bono?, in: Kawamura/Helms (Hrsg.), Straffälligenhilfe als Prävention? Freiburg 1998, 55 ff; ders. Arbeitsmarktorientierte Entlassungsvorbereitung. Ein Modellprojekt zeigt Wirkung, in: BewHi 2003, 307 ff; ders. Arbeitslose Haftentlassene: Multiple Problemlagen und vernetzte Wiedereingliederungshilfen, in: BewHi 2006, 137 ff; Worliczka/Zeitler/Feulner Eheseminare im bayerischen Strafvollzug, in: ZfStrVo 1999, 87 ff. b) Zur Sozialarbeit im Vollzug: Asprion Zur Situation im Strafvollzug und zur Perspektive der Sozialarbeit in den Vollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1985, 330 ff; Blum Der Sozialarbeiter, in: Schwind/ Blau 1988, 165 ff; Busch Professionelle Sozialarbeit und „Soziale Arbeit“, in: ZfStrVo 1987, 332 ff; Dünkel Sozialarbeit im Strafvollzug und Perspektiven einer Organisation Sozialer Dienste in der Justiz, in: ZfStrVo 1984, 323 ff; Maelicke Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht und soziale Hilfe im Strafvollzug, in Cornel u. a. (Hrsg.) Handbuch der Resozialisierung, 2. Aufl. 2003, 135 ff; Menges Sozialarbeit im Strafvollzug, München 1982; Müller-Dietz Sozialarbeit im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe, in: MschrKrim 1973, 15 ff. c) Zur Freien Straffälligenhilfe: Beck/Wirth Ausbildungs- und Beschäftigungsprojekte für Strafentlassene in Nordrhein-Westfalen, in: BewHi 1999, 159 ff; Best „Anlaufstellen für Straffällige“ in Niedersachsen, in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982a, 115 ff; ders. Arbeits- und Wohnraumprojekte für Straffällige in Niedersachsen, in: ZfStrVo 1994a, 86 ff; Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) e.V. (Hrsg.), Wegweiser für Inhaftierte, Haftentlassene und Angehörige, 5. Aufl., Bonn 2004; Dünkel Zur Situation und Entwicklung in der Entlassungshilfe, in: ZfStrVo 1981, 202 ff; ders. Die Freiburger Anlaufstelle für Strafentlassene, in: ZfStrVo 1984, 227 ff; Maelicke Auf der Suche nach Strategien zum Abbau der Überbelegung und zu verantwortbarer Haftvermeidung/Haftreduzierung, in: SchlHA 1999, 249 ff; Matt Das Verbundprojekt „Chance“ in Bremen: Konzeption und Praxis. Systematische Betreuung von Straffälligen mit dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, in: ZfStrVo 2003, 81 ff; ders. Die Nachsorge im Rahmen der Wiedereingliederungspolitik. Konzepte, Erfahrungen und Praxis im Lande Bremen, in: BewHi 2008, 134 ff; Rebmann/Wulf Freie Straffälligenhilfe in Württemberg, in: ZfStrVo 1990, 9 ff; Sandmann, Status Quo und Perspektiven der Aufgabenübertragung an Freie/Private Träger im Bereich der Strafjustiz in Schleswig-Holstein, FS 2007, 224 ff; Der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen (Hrsg.), Praktische Kriminalpolitik. Das System der Straffälligenhilfe im Land Bremen, Bremen 1991; Stelly/Thomas Veränderungsdruck durch Privatisierung – Entwicklungstendenzen in der Freien Straffälligenhilfe, in: BewHi 2008, 270 ff. d) Zu den Sozialen Diensten in der Strafrechtspflege: Best Ambulante Soziale Dienste der Justiz, in: Steinhilper (Hrsg.), Soziale Dienste in der Strafrechtspflege, Heidelberg 1984, 7 ff; ders. Projektarbeit in den Sozialen Diensten der Justiz – Sanktionsverwaltung oder mehr? Das Beispiel Niedersachsen, in: BewHi 1992, 377 ff; ders. Ambulante Soziale Dienste der Justiz im Verbund mit der freien Straffälligenhilfe, in: BewHi 1994b, 131 ff; Block Rechtliche Strukturen der sozialen Dienste in der Justiz, 2. Aufl., Wiesbaden 1997; Cornel Die Sozialen Dienste der Justiz in Berlin – Ihre ProbandInnen und Arbeitsweise, Berlin 2005; Dünkel Zur Fortentwicklung von Bewährungshilfe und Strafentlassenenhilfe, in: BewHi 1990, 189 ff; Egg/Jehle/Marks (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in den Sozialen Diensten der Justiz, Wiesbaden 1996; Haverkamp Das Projekt „Elektronische Fußfessel“ in Frankfurt a. M., in: BewHi 2003, 164 ff; Jehle/Sohn (Hrsg.), Organisation und Kooperation der Sozialen Dienste in der Justiz, Wiesbaden 1994; Jehle Soziale Strafrechtspflege vor und nach der Jahrtausendwende, in: BewHi 2003, 37 ff; Jesse/Kramp Das Konzept der Integralen Straffälligenarbeit – InStar – in Mecklenburg-Vorpommern, in: FS 2008, 14 ff; Klug Abgeliefert, aber nicht abgeholt. Zur Frage „durchgehender Interventionsgestaltung“ der Sozialen Dienste der Justiz, in: Forum Strafvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 2008, 9 ff; Kwaschnik Die Führungsaufsicht im Wandel, Hamburg 2008; Neubacher Führungsaufsicht, quo vadis? Eine Maßregel zwischen Sozialkontrolle und Hilfsangebot, in: BewHi 2004, 73 ff; Quensel Bewährungshilfe und Strafvollzug, in: BewHi 1977, 89 ff; Scheerer Fortschritt statt Stillstand. Niedersachsen auf dem Weg zu einem modernen, kompetenten und zukunfts-
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fähigen Justizsozialdienst, in: BewHi 2008, 284 ff; Spieß Soziale Integration und Bewährungserfolg: Aspekte der Situation nach Haftentlassung und ihre Bedeutung für die Legalbewährung, in: Kury (Hrsg.), Prognose und Behandlung bei jungen Rechtsbrechern, Freiburg 1986, 511 ff; Sterzel, D., Privatisierung der Bewährungs- und Gerichtshilfe – Verfassungsrechtliche Grenzen einer Verlagerung von Hoheitsaufgaben im Justizbereich auf Private, in DBH, Privatisierung und Hoheitlichkeit in Bewährungshilfe und Strafvollzug, 2008, 52 ff; Wirth Zusammenarbeit von Bewährungshilfe und Strafvollzug: Von individueller Kooperation zur professionellen Koordination, in: BewHi 1994, 314 ff. e) Zur Schuldenregulierung: Baumeister Schuldnerberatung und Schuldenregulierung im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1988, 323 ff; Best Entschuldungshilfe im Vollzug, in: ZfStrVo 1981a, 333 ff; ders. Schuldenregulierung als Arbeitsfeld der Bewährungshilfe – Ansätze und Perspektiven –, in: BewHi 1981b, 146 ff; ders. Resozialisierungsfonds in Niedersachsen – Entschuldungshilfe für Straffällige, in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982b, 221 ff; Butzkies Die Pfändbarkeit von Geldforderungen an Strafgefangene, in: ZfStrVo 1996, 345 ff; Fluhr Zur Pfändbarkeit der Forderungen des Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1989, 103 ff; Freytag Entschuldungsprogramme für Straffällige. Eine kriminologisch-empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des hessischen „Resozialisierungsfonds“, Bonn 1987; ders. Resozialisierungsfonds in der Bundesrepublik Deutschland – eine Bestandsaufnahme, in: ZfStrVo 1990, 259 ff; Groth Schuldnerberatung. Praktischer Leitfaden für die Sozialarbeit. Frankfurt 1987; Hasselbusch Schuldnerberatung im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1999, 97 ff; Höfler Anwendbarkeit des § 850c ZPO auf das „freie Eigengeld“ des Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1997, 207 ff; Hornung Reform der Pfändung von Sozialleistungen, in: Rpfleger 1988, 213 ff, 347 ff; Kühne Die Schuldensituation bei Strafgefangenen – Eine Untersuchung aus dem niedersächsischen Justizvollzug, in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982, 203 ff; Maelicke Resozialisierungsfonds und Stiftungen der Straffälligenhilfe als unverzichtbare Partner einer „integrierten Resozialisierung“, in: SchlHA 2008, 144 ff; Moll/Wulf Schuldnerberatung im Vollzug, in: ZfStrVo 1986, 323 ff; Schmitt Die Insolvenzordnung – sinnlos für die Klienten der Sozialen Dienste der Justiz?, in: ZfStrVo 1999, 162 ff; Seebode Verbrechensverhütung durch staatliche Hilfe bei der Schuldenregulierung, in: ZRP 1983, 174; Zimmermann Die Verschuldung der Strafgefangenen, Heidelberg/Karlsruhe 1981. f) Zum Täter-Opfer-Ausgleich und zur opferbezogenen Gestaltung des Vollzugs: Bannenberg/Rössner Die Wirklichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) in Deutschland – Eine Zwischenbilanz, in: Kühne u. a. (Hrsg.), FS für Klaus Rolinski zum 70.Geburtstag am 11. Juli 2002, Baden-Baden 2002; Deutsche Bewährungshilfe e.V. Materialien für eine Diskussion, zusammengestellt vom Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung. DBH-Materialien, Nr. 28, Bonn 1995, 21 ff; Finger Die strukturellen und finanziellen Voraussetzungen einer umfassenden Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs, in: ZRP 2002, 514 ff; Gabriel/Müller/Oswald Wiedergutmachung im Strafvollzug: Die Sicht der Inhaftierten. Ergebnisse einer Befragung im Rahmen des Modellprojektes das Kanton Bern (Schweiz), in: MschrKrim 2002, 141 ff; Hartwig Straffälligenhilfe und Opferhilfe, in: ZfStrVo 1991, 106 ff; Kawamura Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung im Strafvollzug? in: ZfStrVo 1994, 3 ff; Kerner (Hrsg.), Bibliographie Täter-Opfer-Ausgleich, Tübingen 1998; Rixen Wiedergutmachung im Strafvollzug?, in: ZfStrVo 1994, 215 ff; Walther Möglichkeiten und Perspektiven einer opferbezogenen Gestaltung des Strafvollzuges, Herbolzheim 2002; Wandrey/Delattre Täter-Opfer-Ausgleich im Gefängnis. Perspektiven und Grenzen von Konfliktregelung und Schadenswiedergutmachung im Strafvollzug; Wulf Opferbezogene Vollzugsgestaltung – Grundzüge des Behandlungsansatzes, in: ZfStrVo 1985, 67 ff. g) Zur Kriminalpolitik allgemein und der Sozialen Hilfe im Kontext der Europäischen Kriminalpolitik: Albrecht/van Kalmthout (Hrsg.), Community Sanctions and Measures in Europe and North America, Freiburg 2002; Best Europäische Kriminalpolitik, in: ZfStrVo 1997b, 259 ff; ders. Europäische Kriminalpolitik auf der Grundlage der Menschenrechtskonvention – die European Rules, in: Feuerhelm/Schwind/Bock (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/New York 1999b, 49 ff; ders. Privatisierung: Kriminalpolitische Perspektiven und Visionen in europäischer Dimension. In: Keicher/Anhorn (Hrsg.), Privatisierung als Chance? Straffälligenhilfe zwischen marktwirtschaftlicher und staatlicher Steuerung. Freiburg 2005, 136 ff; ders. Die amerikanische Strafkultur und die Privatisierung. Kein Vorbild für die europäische Kriminalpolitik, in: FS Schwind, Heidelberg 2006, 1 ff; Bundesminis-
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terium der Justiz Berlin/Bundesministerium für Justiz Wien/Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Bern (Hrsg.) Europäische Strafvollzugsgrundsätze (European Prison Rules). Die Empfehlung des Europarats Rec (2006) 2. Die Neufassung der Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen. Godesberg 2007; Dünkel/Geng Aktuelle Daten zum Strafvollzug in Deutschland, in: FS 2007, 14; Dünkel/Snacken Strafvollzug im europäischen Vergleich: Probleme, Praxis und Perspektiven, in: ZfStrVo 2001 195 ff; Fritsche Vollzugslockerungen und bedingte Entlassung im deutschen und französischem Strafvollzug. Godesberg 2005; Gless, Hauptteile III (EU-Recht) und IV (Schengenzusammenarbeit) in: Schomburg/Lagodny/Gless/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, International Cooperation in Criminal Matters, 4. Aufl., München 2006; Haverkamp/Mayer Die Zukunft der elektronischen Überwachung in Europa, in: MschrKrim 2003, 216 ff; Hamdorf Der Vertrag von Lissabon und seine Bedeutung für die Justiz, in: SchlHA 2008, 74 ff; Jung Die European Rules on Community Sanctions and Measures’, in: Feuerhelm/Schwind/Bock (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/ New York 1999, 69 ff; Kaiser Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive. Wo weicht der Strafvollzug in der Bundesrepublik gravierend ab?, in: Feuerhelm/Schwind/Bock (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/New York 1999, 25 ff; ders. Brauchen wir in Europa neue Konzepte der Kriminalpolitik?, in: ZRP 2000, 151 ff; Kerner/Czerner Die Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug im Kontext europäischer und internationale Instrumentarien zum Schutz der Menschenrechte, in: Freiheitsentzug. Die Empfehlungen des Europarats 1962–2003. Hrsg. Von Deutschland, Österreich und Schweiz, Bad Godesberg 2005, 1 ff; Mayer Elektronische Fußfessel. Chancen und Risiken im Einsatz als Strafvollzugsalternative. In: Konturen – Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 2007, 12 ff; Meier Kriminalpolitik in kleinen Schritten – Entwicklungen im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, in: StV 2008, 263 ff; Mösinger Privatisierung des Strafvollzugs, in: BayVerwBl 2007, 417 ff; Morgenstern Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung von Freiheitsstrafen, in: ZIS 2/2008, 76 ff; Mühlenkamp (Teil-)Privatisierung von Justizvollzugsanstalten – Ökonomische Überlegungen und empirischer Befund –, in: DÖV 2008, 525 ff; MüllerDietz Europäische Perspektiven des Strafvollzugs, in FS Schwind, Heidelberg 2006, 621 ff; Schwind „Chancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen, in: FS für Amelung, Berlin 2009, S. 763 ff; Steinhilper Chancenvollzug und sichere Unterbringung. Ein Paradigmenwechsel in der niedersächischen Strafvollzugspolitik? In: FS Schwind, Heidelberg 2006, 687 ff.
Übersicht Rdn. 1. Soziale Hilfe im Wandel der kriminalpolitischen Konzepte . . . . . . . . 2. Aufgaben der sozialen Hilfe im Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begriff der Sozialen Hilfe . . . . . . 4. Aktivierender Behandlungsvollzug . 5. Chancenvollzug als Konzept der Strafvollzugspolitik . . . . . . . . . . . 6. Soziale Hilfe im Verbundsystem der Straffälligenhilfe . . . . . . . . . .
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Rdn. 7. Neuorganisation der sozialen Dienste der Justiz . . . . . . . . . . . . . . 8. Privatisierungsstrategien bei ambulanten sozialen Diensten . . . . . . 9. Durchgehende Betreuung und Veränderungsbedarf . . . . . . . . . . 10. Informationsmanagement und Privatisierung im Vollzug . . . . . . 11. Soziale Hilfe im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 8 9 10 11
1. Soziale Hilfe im Wandel der kriminalpolitischen Konzepte. Der Gesetzgeber des 1 StVollzG hat bei dem Regelungsbereich „Soziale Hilfe“ auf einen abgeschlossenen Katalog von Maßnahmen verzichtet und wie beim Behandlungsbegriff die Ausgestaltung bewusst offen gelassen, „ohne im Einzelnen in methodische Fragen einzugreifen, die der weiteren Entwicklung in Praxis und Wissenschaft überlassen bleiben müssen“ (BT-Drucks. 7/918, 45). Die Übergangssituation zwischen Unfreiheit und Freiheit zu regeln und gestalten, ist aber nicht nur eine Angelegenheit von der Bewertung von Erkenntnissen und Erfahrungen aus Praxis und Wissenschaft. Aus heutiger Sicht sind verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Vorgaben, internationale Verpflichtungen und europäische EmpfehlunPeter Best
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gen mindestens ebenso bedeutsam. Denn sie alle betreffen die Behandlung der Gefangenen, die „vornehmlich auf ihre Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung hinzielt“ (Art. 10 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II 1553) und damit die Soziale Hilfe in ihrer vollen Bandbreite erfassen. Das Korrektiv der Rechtsprechung wird als Folge der partikularistischen Zersplitterung des deutschen Vollzugs durch Landesgesetze im Zuge der Föderalismusreform zunehmend an Bedeutung gewinnen, zumal der Vollzug durch Parteipolitik zunehmend geprägt wird (Kamann, U., Handbuch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug, 2. Auflage, 2008, Vorw.). Angesichts der Harmonisierungstendenzen in der europäischen justiziellen Zusammenarbeit (vgl. Rdn. 11) und vieler internationaler Projektaktivitäten mit dem Ziel, Aufbauhilfe in einem resozialisierungsorientierten Reformprozess zu leisten, ist es zu bedauern, dass der deutsche Kurs der Vollzugspolitik mit der ,mainstream-policy‘ von Europarat und Europäischer Kommission nicht mehr Schritt halten kann. Die unübersichtliche Ausgestaltung der Sozialen Hilfe und der Sozialen Dienste der Justiz von Bundesland zu Bundesland verwischt auch in der Übergangsphase und Nachsorge die gesamtdeutsche Gemeinsamkeit und verkümmert zu einer regionalspezifischen Einzelmaterie. Die kriminalpolitischen Profile der Landesgesetze von Bayern, Hamburg und Niedersachsen lassen auch eine einheitliche Leitlinie nicht mehr erkennen, was die Soziale Hilfe betrifft. Die Regelungstiefe ist unterschiedlich: Aber noch schwerwiegender ist das Bestreben einzelner Landesgesetze, das Vollzugsziel der Resozialisierung mit der Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, auf eine Stufe der Gleichwertigkeit zu stellen. Daraus ergeben sich konkrete Auswirkungen auf die Umsetzung von Konzepten der Soziale Hilfe, wenn z. B. Sicherheit und soziale Integration als „zwei Seiten einer Medaille“ (vgl. Rdn. 2) gekennzeichnet werden. Im Verbund mit dem Konzept des Chancenvollzugs (vgl. Rdn. 5) könnten sich auf Dauer die bisher auch von dem Bundesverfassungsgericht gesetzten kriminalpolitischen Parameter in der Praxis der Alltagspolitik zum Nachteil der Gefangenen verändern. Andererseits gibt es mit dem Prinzip der durchgehenden Hilfe (vgl. Rdn. 6) und der Regelung der psychologischen Behandlung positive Verstärker in den Landesgesetzen, die zukunftweisend sind. Leider ist die Vollzugsprivatisierung (vgl. Rdn. 10) eher ein negativer Verstärker, zumal weder eine kostengünstigere Durchführung noch ein fachlich qualitativ höherwertiges Angebot erkennbar ist. Die verfassungsrechtlich als Resozialisierungskonzept abgesicherte Soziale Hilfe ist jedenfalls als „privatisierungsfest“ einzustufen. Das StVollzG ist in einer Zeit entstanden, die mit dem Strafrechtssystem ein Sanktionssystem schuf, das dem Resozialisierungsgedanken verpflichtet war. Dieser Kurs versuchte „Resozialisierungsfreundlichkeit mit den Bedürfnissen der Generalprävention auf einer mittleren Linie zu verbinden“ (Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006 § 4 Rdn. 40). Der Ausbau der Sicherungsverwahrung von 1998 bis 2004, die Anhebung der Prognosevoraussetzungen für die Strafrestaussetzung durch Gesetz von 1998 und die gewachsene Bereitschaft der Gerichte, länger dauernde Freiheitsstrafen zu verhängen, sind Markierungspunkte einer Neuausrichtung, die sich auf den wachsenden Belegungsdruck und die Entlassungssituation massiv auswirkt. Strafrecht befindet sich „auf dem Weg zu einem Recht der Gefahrenabwehr“ (Hassemer StV 2006, 325). Mag sich die Sanktionspolitik bisher nicht grundlegend geändert haben, ein schleichender Wandel in Richtung Verschärfung ist unverkennbar (Meier 2008, 265). Umso mehr muss es das Bestreben der Vollzugspolitik sein, nicht in einer Art vorauseilender Gehorsam“ diesem Verschärfungsdenken durch verstärkte Sicherheitsorientierung zu entsprechen. Stattdessen ist eine rationale Kriminalpolitik gefragt, die der Strafjustiz und Politik nachhaltig die „ultima ratio“ – Funktion des Freiheitsentzugs vermittelt und Soziale Hilfe in ihren praktischen Problemlagen verdeutlicht.
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2. Aufgaben der sozialen Hilfe im Vollzug. Die im Neunten Titel geregelte „soziale 2 Hilfe“ wird nach verschiedenen Phasen des Vollzugs unterschieden mit jeweils unterschiedlichen spezifischen Aufgaben. Um aber der Grundsatznorm des § 71 in voller Bandbreite zu entsprechen, ist eine systematische Integrationsstrategie erforderlich, die den Aspekt der Resozialisierung und der Rückfallminimierung deutlich in den Vordergrund rückt. Die soziale Hilfe muss insgesamt als durchgehende und ganzheitliche Betreuung im Rahmen eines Übergangsmanagements konzipiert werden (vgl. Matt 2007, 26 ff). Als Anwendungsfall des Sozialstaatsprinzips (BVerfGE 35, 236) beschreiben die §§ 71 bis 75 ein weites Tätigkeitsfeld, das nicht bis in alle Einzelheiten festgelegt sondern bei Beachtung des verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot als sozialstaatliche Aufgabe ausfüllungsbedürftig ist, hierbei aber einen weiten Gestaltungsraum zulässt. Das BVerfG hat in dem Urteil zur „Gefangenenentlohnung“ vom 1.7.1998 (BVerfGE 98, 169 ff = NJW 1998, 3337) das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot weiter konkretisiert. Dieses verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Der Gesetzgeber ist dabei nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt; vielmehr ist ihm für die Entwicklung eines wirksamen Konzepts ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. Er kann unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisse, namentlich auf den Gebieten der Kriminologie, Sozialtherapie und Ökonomie, zu einer Regelung gelangen, die – auch unter Berücksichtigung von Kostenfolgen – mit dem Rang und der Dringlichkeit anderer Staatsaufgaben in Einklang steht (vgl. BVerfGE 82, 60; BVerfGE 90, 107, 116; BVerfGE 96, 288, 305 f). Wirksame Resozialisierungsmittel müssen eine „angemessene Anerkennung“ beinhalten. Diese Anerkennung muss nicht notwendig finanzieller Art sein. Im Strafvollzug kommen neben oder anstelle eines Lohnentgelts etwa auch der Aufbau einer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft oder Hilfen zur Schuldentilgung in Betracht. Der Gesetzgeber kann bei der Gestaltung des Vollzugs und der Entlassungsvorbereitung neuartige Formen der Anerkennung von Pflichtarbeit – auch unter Einbeziehung privater Initiativen – entwickeln. Sofern general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen, so das BVerfG, kann das Resozialisierungskonzept auch vorsehen, dass durch Arbeit die Haftzeit verkürzt („good time“, „worktime credit“) oder sonst erleichtert wird (zur Neuregelung des Arbeitsentgelts vgl. § 43 Rdn. 3–5). Das BVerfG hat das Resozialisierungsgebot aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft entwickelt, welche die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Den Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Sie sollen sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, ihre Chancen wahrnehmen und ihre Risiken bestehen können. Die Resozialisierung dient auch dem Schutz der Gemeinschaft selbst. Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger und die Gemeinschaft schädigt (vgl. BVerfGE 35, 202, 235 f). Zwischen dem auch als Resozialisierungsziel bezeichneten Vollzugsziel der sozialen Integration und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz (BVerfG NJW 2006, 2095). Unter Hinweis auf diese Grundsatzentscheidung des BVerfG sind im NJVollzG beide Belange als gleichrangige Vollzugsziele wie (die schon oben (Rdn. 1) erwähnten) „zwei Seiten einer Medaille“ nebeneinander gestellt, „ohne dass der Sicherheit der Allgemeinheit von vornherein Nachrang gegenüber der sozialen Integration der Strafgefangenen einzuräumen ist“ (vgl. LT-Drucks. 15/3565, 68 zur Gesetzesbegründung des NJVollzG). Die Begründung des BVerfG lässt aber erkennen, dass nicht ein eigenständiges Vollzugsziel „Sicherheit der Allgemeinheit“ formuliert, sondern
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nur eine zusätzliche Begründung für die in § 2 Satz 1 als alleiniges Vollzugsziel bezeichnete „Resozialisierung“ abgegeben werden sollte unter Hinweis auf die Priorität der Bemühungen um soziale Integration vor anderen Aufgabenstellungen, ebenso C/MD 2008 Rdn. 1 ff zu § 2 m. w. N. und Laubenthal 2008 Rdn. 148 ff, der eine Zielpluralität ausdrücklich ausschließt). Das BVerfG begründet das als Resozialisierungsziel bezeichnete Vollzugsziel der sozialen Integration mit der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen (vgl. BVerfGE 35, 202, 235 f; 45, 187, 238) und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens (vgl. BVerfGE 88, 203, 258). „Mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Gebot, den Menschen nie als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken, sondern stets auch selbst als Zweck – als Subjekt mit eigenen Rechten und zu berücksichtigenden eigenen Belangen – zu behandeln (vgl. BVerfGE 109, 133, 150 f), und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Freiheitsstrafe als besonders tief greifender Grundrechtseingriff nur vereinbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion konsequent auf eine straffreie Zukunft des Betroffenen gerichtet ist (BVerfG NJW 2006, 2095 ff = BVerfGE 116, 69, 85 f). Für die Praxis der Sozialen Hilfe im Übergang von der Unfreiheit in die Freiheit lässt sich bei Annahme einer Gleichwertigkeit der Vollzugsziele von Sicherheit und Resozialisierung (in dieser Reihenfolge) eine eher restriktive Handhabung befürchten. Die Trennung von Vollzugsziel „soziale Integration“ und Vollzugsaufgabe „Schutz der Allgemeinheit“ muss im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot bei der Ausgestaltung der Sozialen Hilfe beibehalten werden. Andernfalls wird ein kriminalpolitisches Kräftefeld geschaffen, das sich aus dem Parameter einer subjektiven Komponente (soziale Integration) und dem Parameter einer objektiven Ausrichtung (Schutz der Sicherheit der Bürger) zusammensetzt (dazu vgl. LT-Drucks. 15/3565, 68 zur Gesetzesbegründung des NJVollzG). Ein solches Kräftefeld erschwert das Bestreben in der Vollzugspraxis, soziale Integration und durchgehende Hilfe nachhaltig zu gewährleisten.
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3. Der Begriff der sozialen Hilfe geht weiter als der traditionelle Begriff der Anstaltsfürsorge: Ziel ist nicht nur die erforderliche Unterstützung bei der Regelung der äußeren Angelegenheiten des Gefangenen, sondern auch die notwendige Hilfe zur Bewältigung persönlicher Probleme. Während früher Gefangenenfürsorge zur Behebung äußerer Notlagen geleistet wurde, steht heute die „sozialpädagogisch orientierte Lebenshilfe“ im Vordergrund (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 200–204). Folgerichtig wird in dem BayVollzG in Abschnitt 10 die Soziale Hilfe um die Psychologische Hilfe ausdrücklich ergänzt. Der Abschnitt „Soziale und psychologiosche Hilfe“ des BayVollzG regelt insbesondere die sozialpädagogischen und psychologischen Angebote zur Lebenshilfe und Behandlungsmaßnahmen. Die Kooperation mit den Art. 175 Abs. 2 bis 4 BayVollzG genannten Stellen und Personen soll den Aufbau eines Hilfesystems ermöglichen, in dem frühzeitig begonnene Maßnahmen nach dem Prinzip der durchgehenden Betreuung in der Zeit nach der Entlassung fortwirken (ebenso § 68 NJVollzG, vgl. dazu III.3 bei § 71 StVollzG). Ein weiterer Schwerpunkt von Sozialer Hilfe und psychologischer Betreuung soll die Betreuung suchtgefährdeter und abhängigkeitskranker Gefangener durch vollzugsexterne Fachkräfte der Suchthilfe, die die Gefangenen über Therapiemöglichkeiten beraten und gegebenenfalls in Therapieeinrichtungen vermitteln, sein (dazu Rdn. 9). Der Bereich der sozialen Hilfe ist nicht einer bestimmten Berufsgruppe innerhalb des Vollzugs zugeordnet, obwohl die Aufgabenerledigung in der Praxis weitgehend dem Sozialdienst vorbehalten ist. Zwar hat sich die soziale Hilfe an der Methodik der professionellen Sozialarbeit/Sozialpädagogik auszurichten, doch ist mehr denn je die Mitwirkung anderer
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Bediensteter erforderlich, zumal das bisher vorhandene Rollenbild innerhalb der Vollzugsorganisation immer mehr durchbrochen wird. Bisherige Arbeitsansätze – insbesondere im Wohngruppenvollzug (§ 7 Rdn. 9 ff; § 143 Rdn. 4) – zeigen die Notwendigkeit auf, ein vollzugliches Verbundsystem der Hilfen zu schaffen, das sich keinesfalls auf die Berufsgruppe der Sozialarbeiter/Sozialpädagogen beschränkt sondern alle in § 154 genannten Personen und Stellen einbezieht. Vorrangig obliegt die Ausfüllung dieses Tätigkeitsfeldes aber dem Sozialdienst und wird damit insbesondere von der personellen Ausstattung und vom Engagement des Sozialdienstes beeinflusst (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 200–204, § 11 Rdn. 20–21). Nur durch eine organisatorisch wie fachlich geordnete Arbeitsteilung i. S. des § 154 Abs. 2 kann die soziale Hilfe konkretisiert werden; zur Neuorganisation der sozialen Dienste der Justiz: Rdn. 8. Die Zulässigkeit der Datenübermittlung ergibt sich aus § 180 Abs. 1 Satz 1; für die Datenübermittlung an die Bewährungshilfe und Führungsaufsicht gilt ferner § 180 Abs. 4 Nr. 1: allgemein zu den Strukturproblemen des Informationsmanagements vgl. Rdn. 9 f und Rdn. 14 zu § 74). Nach § 182 Abs.2 Satz 2 sind Sozialarbeiter/Sozialpädagogen gegenüber dem Anstaltsleiter unter den dort genannten Voraussetzungen offenbarungspflichtig (vgl. auch Art. 200 BayVollzG, § 124 HmbStVollzG; § 192 Abs. 2 Nr. 1 NJVollzG). Andererseits hat der Anstaltsleiter nach VV Nr. 2 zu § 156 in fachlichen Angelegenheiten kein direktes Weisungsrecht, sofern sich diese Angelegenheiten seiner Beurteilung entziehen, sondern ist auf Auskunftsverlangen und Anregungen beschränkt. Die erhebliche Steigerung der Planstellen (1970: ein Sozialarbeiter pro 152 Gefangene; 1980: ein Sozialarbeiter pro 71 Gefangene – Dünkel/Rosner 1982, 280 und 347 –; 1998: 1.160 Planstellen; Länderdurchschnitt: alte Bundesländer 1,60 Stellen je 100 Gefangene, neue Bundesländer: 1,35 Stellen je 100 Gefangene; vgl. Dünkel/Kunkat 1997, 31; Hohage/Walter/ Neubacher ZfStrVo 2000, 136 ff; sollte ein Indiz dafür sein, dass die Berufsgruppe der Sozialarbeiter/Sozialpädagogen zunehmend in der Lage ist, die unterschiedlichen Maßnahmen und Aktivitäten staatlicher Institutionen und freier Träger zu koordinieren und – stärker als bisher – die Rolle des Gestalters anzunehmen (ebenso AK-Bertram/Huchting 2006 Rdn. 19–21). Nur dann kann das vom Gesetzgeber bewusst nicht festgeschriebene Rahmenkonzept der sozialen Hilfe schrittweise den Praxisbedingungen angeglichen werden. Dieses Ziel wird nur dann erreicht, wenn es gelingt, den Sozialarbeiter/Sozialpädagogen beruflich in das gesamte Vollzugsgeschehen (nicht nur auf die soziale Hilfe beschränkt) zu integrieren, „eines der schwierigsten Probleme der Vollzugsreform und der neuen Ausbildungsformen überhaupt“ (Baumann 1979, 84). Im Jahr 2004 standen für je 100 Gefangene im Bundesdurchschnitt: 1,65 Sozialarbeiter, 0,75 Psychologen, 0,48 Pädagogen zur Verfügung, vgl. die vom niedersächsischen Justizministerium am 12.8.2004 erstellte Übersicht; K/S-Schöch 2002, § 11 Rdn. 3 zum Personalschlüssel). Schwierigkeiten bei der Umsetzung der sozialen Hilfe dürfen nicht allein auf die Rahmenbedingungen des Vollzugsgeschehens mit seiner Tendenz zur fremdbestimmten Versorgungsroutine (vgl. dazu Böhm 2003, Rdn. 397) zurückgeführt werden (vgl. § 3 Rdn. 4, 12). Mindestens ebenso bedeutsam ist die Position des sozialen Dienstes, der nicht auf Stabsfunktionen verharren darf, sondern vollzugliche Entscheidungskompetenz übernehmen muss. Sonst wird die Chance vertan, sozialpädagogische Arbeitsprinzipien in die Institution Vollzug insgesamt einbringen zu können. Eine solche Mitgestaltung stellt aber erhebliche Anforderungen an Qualifikation und Berufserfahrung und ist nicht nur eine Angelegenheit der Planstellenerhöhung. Wenn die Mitarbeiter des sozialen Dienstes in den Tagesablauf der Anstalt einbezogen sind und im engen Kontakt mit den übrigen Personalgruppierungen stehen, ist auch die Gefahr geringer, in Resignation bzw. Überaktivität auszuweichen (dazu: Müller-Dietz 1973,
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27; K/S-Schöch 2002 § 11 Rdn. 21; zur Neuorganisation der sozialen Dienste: Rdn. 8). Sozialarbeiter/Sozialpädagogen müssen sich ihre Rolle als Ansprechpartner bzw. Kontaktperson in der für diese Berufsgruppe schwierigen Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Gefangenen erhalten, ohne in einer Abwehrhaltung zu beharren oder in eine Überidentifikation zu verfallen. Das bedeutet aber auch, selbstkritisch Modellfunktionen zu erfüllen, Verhaltensalternativen anzubieten und vorzuleben, Koordinationsaufgaben wahrzunehmen und im Spannungsgefüge einer Gruppe kritisch und ausgleichend zu wirken; eingehend dazu auch Menges 1982; Dünkel 1984, 323; Aspiron 1985, 330; Blum 1988, 165 ff; Busch 1987, 332; Cornel/Maelicke/Sonnen 1995; Klug 2005, 90.
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4. In den Vordergrund rückt das Konzept des aktivierenden Behandlungsvollzugs, das kriminalpolitisch von westeuropäischen Vollzugssystemen beeinflusst ist. Im Mittelpunkt steht hierbei die Strategie der Aktivierung (Best 1999a, 75 ff), die dem Idealbild der problemlösenden Gemeinschaft im Sinne der Zielvorgabe des § 2 Satz 1 am ehesten entspricht (vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 162). Die Gefangenen sollen nicht bloßes Objekt des Vollzuges sein, sondern vielmehr aktiv einbezogen werden in die Bemühungen, ihr Leben sozial- und eigenverantwortlich zu gestalten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Leistungen angeboten, aber auch Leistungen gefordert. Ziel dieser Strategie zur Aktivierung ist es, die Gefangenen aus dem Zustand der Lethargie des „Absitzens“ zu lösen, ihre Eigeninitiative zu wecken und ihre Mitwirkungsbereitschaft zu erhöhen. Aufgabe des Vollzuges ist es, die Behandlungsbemühungen auf jeden Gefangenen zu richten, das Ausmaß der aktiven Mitarbeit aber ständig zu überprüfen. Motivationsaufbau und Motivationskontrolle müssen in gleicher Gewichtung erfolgen. Gefangene, die besondere Leistungen der Anstalt in Anspruch nehmen wollen, müssen Gegenleistungen erbringen, die auch in gemeinnütziger Arbeit wie Gartenpflege, Sportplatzdienste, Renovierungsarbeiten u. a. bestehen können. Das Konzept, das sich in vielen Vollzugsanstalten bereits in der Erprobungs- und Umsetzungsphase befindet, hat erhebliche Auswirkungen auf die sog. Binnendifferenzierung der Anstalten und die Vollzugsgestaltung insbesondere für solche Gefangene, die sich trotz aller Bemühungen nicht als mitarbeitsbereit erwiesen haben. Die Leitidee von Leistung und Gegenleistung hat im Lichte der Diskussion um das Urteil des BVerfG zur „Gefangenenentlohnung“ (vgl. dazu Rdn. 1 vor § 71) eine neue Dimension zur Ausgestaltung „angemessener Anerkennung“ erhalten. Eine arbeitsmarktorientierte Entlassungsvorbereitung entspricht diesen Vorgaben (Wirth 1998, 2003, 2006). Auch im Sozialleistungsrecht setzt sich als neues sozialstaatliches Prinzip der Grundsatz „Fordern und Fördern“ zunehmend durch, vgl. Rdn. 5 zu § 74).
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5. Das ähnlich strukturierte Konzept „Niedersächsischer Chancenvollzug“ vom 1.12.2006 (Steinhilper 2006, 687; zur Definition und Geschichte vgl. Schwind 2009, 764 ff) unterscheidet zwischen einer Grundversorgung mit umfangreichen Betreuungs- und Beratungsleistungen für alle Gefangenen und der Förderung und Therapie (verhaltensändernde Maßnahmen) sowie schulischer und beruflicher Qualifizierung für solche Gefangene, die bereit sind, am Vollzugsziel mitzuarbeiten. Die Eigenverantwortung der Gefangenen und damit ihre Bereitschaft, am Vollzugsziel mitzuarbeiten, wird damit konsequent eingefordert. Qualifizierende und verhaltensändernde Maßnahmen, die über die für alle Gefangenen garantierte Grundversorgung hinausgehen, werden als Chancen für die Gefangenen gesehen, deren Teilhabe auf dem Dreiklang von „Brauchen – Können – Wollen“ beruht. Die Bedürftigkeit als objektive Notwendigkeit eines Angebotes für die Gefangenen wird zunächst auf der Grundlage einer Behandlungsuntersuchung festgestellt und im Vollzugsplan als förderlich und sinnvoll für die Erreichung des individuellen Vollzugs(teil)ziels bezeichnet (Nds. LT-Drucks. 15/3565,
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69, 88 ff). Von den Gefangenen wird erwartet, dass sie nach ihren individuellen Fähigkeiten in der Lage sind, das Angebot für sich zu nutzen, und ferner zur Mitarbeit am Vollzugsziel bereit sind. Alle über die Grundversorgung hinaus gehenden Angebote der Förderung und Therapie sowie der schulischen und beruflichen Qualifizierung werden in einem umfangreichen, ständig aktualisierten Behandlungsatlas dokumentiert. Nach der Gesetzesbegründung zu § 6 NJVollzG (LT-Drucks. 15/3565, 90) soll Wohlverhalten weder „belohnt“ noch fehlende Mitwirkung „bestraft“ werden. Demgegenüber betont der neue Entwurf HmbStVollzG-E (Stand Januar 2009) ausdrücklich – und in gewisser Weise konsequenter – in § 5 Abs. 2 E den Belohnungscharakter des gewollten motivierenden Vollzugs, indem die Bereitschaft zur Mitwirkung durch Maßnahmen der Belohnung und Anerkennung gefördert werden kann, soweit die Beteiligung an Maßnahmen wie auch besonderer Einsatz und erreichte Fortschritte angemessen zu berücksichtigen sind. Ausgangspunkt des Chancenvollzugskonzeptes ist, dass jeder Gefangene einen Anspruch auf soziale Integration hat und sich die Vollzugsbehörden nachhaltig um jeden Gefangenen bemühen müssen. Weil die Erreichung des entsprechenden Vollzugszieles aber notwendigerweise die Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen voraussetzt, sollen deswegen resozialisierende Maßnahmen nicht mehr angeboten oder aufrechterhalten werden müssen, wenn sie mangels Mitarbeitsbereitschaft des Gefangenen endgültig nicht mehr Erfolg versprechend sind. Das Anbieten von Maßnahmen von vornherein von der Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen abhängig zu machen, wäre auch nach diesem Konzept verfassungsrechtlich bedenklich (Gesetzesbegründung NJVollzG LT-Drucks. 15/3565 S. 90, wonach der Chancenvollzug lediglich eine Akzentverschiebung und keine Abkehr von dem Konzept des Behandlungsvollzugs darstellen soll; so auch Schwind 2009, 779). Insgesamt ist aber bei der Ausgestaltung der Sozialen Hilfe darauf zu achten, dass durch den Chancenvollzug bzw. motivierenden Vollzug nicht voreilig statische Zuordnungen erfolgen, die einen „Zwei-Klassen-Vollzug“ befürchten lassen. Strategien zur sozialen Integration einer immer schwieriger werdenden Klientel müssen alle Anstrengungen beinhalten, bei den Gefangenen den Willen zur Änderung ihrer Einstellung und ihres Verhaltens zu wecken und im Einklang mit der Bedürftigkeit die Mitarbeitsbereitschaft in kleinen Schritten dynamisch zu entwickeln. Das gilt insbesondere für antriebsarme Gefangene, die erst durch eine aktivierende und sensibilisierende Förderplanung zu einer solchen Mitwirkung ermutigt werden können. Hieran zeigt sich, dass die Einstufung zwischen „Grundversorgung“ und „Anspruch auf individuelle Behandlung“ (Steinhilper 2006, 687) eine Gratwanderung sein kann. Denn nach der Gesetzesbegründung wird die festgestellte negative Mitarbeitsbereitschaft bei den anzustellenden Prognoseentscheidungen zu berücksichtigen sein, insbesondere bei der Verlegung in den offenen Vollzug, der Gewährung von Vollzugslockerungen und bei den Stellungnahmen der Vollzugsbehörde gemäß § 57 StGB (LTDrucks. 15/3565, 88). Die Beratungs- und Betreuungsangebote der Anstalt müssen aber gezielt darauf gerichtet werden, bei den Gefangenen Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein für ihre Angelegenheiten aufzubauen und zu stärken, um sie dadurch zu befähigen, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (vgl. auch Art. 75 BayVollzG). Zum Umfang und zur Qualität persönlicher Hilfe, auch im Hinblick auf die Abgrenzung zu den Sozialleistungen: Rdn. 5 ff zu § 71. 6. Soziale Hilfe im Verbundsystem der Straffälligenhilfe. Der vom Gesetzgeber 6 eröffnete Handlungsspielraum für die soziale Hilfe kann nur dann genutzt werden, wenn die Vollzugsbehörden die notwendigen Maßnahmen nicht allein erledigen, sondern weitere staatliche und kommunale Institutionen, freie Träger sowie ehrenamtlich tätige Gruppen
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und Personen in die Arbeit einbeziehen. Insoweit muss der Grundsatz der Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten innerhalb und außerhalb der Institution Vollzug (§ 154 Abs. 2) auch für die Auslegung der sozialen Hilfe nach §§ 71 ff Bedeutung haben (Kerner 1977, 79; zur Informationsweitergabe Rdn. 3 und 10). Solche „Orientierungsmarken“ des Gesetzgebers verpflichten die Vollzugsbehörden, in der Praxis Betreuungskonzepte zu erproben und konkrete Umsetzungsarbeit einer durchgehenden Betreuung zu leisten. Es müssen inhaltliche Schwerpunkte gesetzt und koordinierende Absprachen mit der freien Wohlfahrtspflege, der privaten Straffälligenhilfe, den Sozialleistungsträgern, der Bewährungshilfe usw. entwickelt werden. Durch solche Modellvorhaben mit evtl. praxisbegleitender Forschung (vgl. dazu Rdn. 14 zu § 166) könnten Erkenntnisse für die Betreuungsmethodik gewonnen werden, die zur Zeit äußerst vielfältig, aber hinsichtlich Aufwand und Nutzen für die Praxis völlig ungesichert ist (zur Behandlungstypologie K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 16; zum Behandlungsbegriff und -erfolg: K/S-Kaiser 2002 § 3 Rdn. 34 und K/SSchöch 2002 § 5 Rdn. 14–18 sowie § 4 Rdn. 8). Alle zu gewährenden sozialen Hilfen, die gesetzlichen Möglichkeiten der Entlassungsvorbereitung und die Pflicht zur Zusammenarbeit mit Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges müssen konsequent auf die Gewährleistung einer durchgängigen Betreuung der Gefangenen ausgerichtet werden. Es sollte zum gesetzlichen Aufgabenkatalog der Vollzugsbehörden erklärt werden, auf eine durchgängige Betreuung der Gefangenen hinzuwirken und hierbei die Möglichkeiten zur Vernetzung der hierfür erforderlichen Daten soweit wie möglich auszuschöpfen. Die in § 68 NJVollzG schwerpunktmäßig geregelte Verpflichtung der Vollzugsbehörden, auf eine nachgehende, d. h. möglichst durchgehende Betreuung der Gefangenen hinzuwirken, und sich damit um eine verzahnte Zusammenarbeit mit den sozialen Diensten außerhalb des Vollzuges zu bemühen, ist anzuerkennen und entspricht in vollem Umfang der Bedarfslage. Bei der Ausgestaltung der sozialen Hilfe nach §§ 71 ff müssen folgende Grundsätze berücksichtigt werden: – die stärkere Einbindung des Strafvollzugs in das Gesamtsystem der örtlichen/regionalen Straffälligenhilfe (z. B. durch Arbeitsgemeinschaften nach § 4 SGB XII) – ein frühzeitiger Beginn von Maßnahmen der sozialen Hilfe, die nach dem Prinzip der durchgehenden Betreuung (vgl. Böhm 2003 Rdn. 575) in die Zeit nach der Entlassung ausstrahlen (z. B. über Bewährungshilfe oder Anlaufstellen für Straffällige; Rdn. 8 ff zu § 74) – stärkere Gewichtung des sozialen Umfeldes (Familie, Nachbarschaft usw.), um die Eingliederungschancen zu erhöhen (Einsatzfeld für ehrenamtliche Mitarbeit) – stärkere Umsetzung lebenspraktischer Hilfen für Bereiche, die besonders rückfallbelastet sind (z. B. Arbeitslosigkeit, Schulden, Freizeitprobleme, Partnerbeziehungen; zur Schuldenregulierung: Rdn. 7–13 zu § 73; zum Konzept des „Sozialen Trainings“: Rdn. 12 zu § 74). Dieses Rahmenkonzept der sozialen Hilfe kann nur dann verwirklicht werden, wenn die Leistungen innerhalb und außerhalb des Vollzugs organisatorisch gebündelt und anstaltsübergreifende Hilfesysteme gestaltet werden (Rdn. 8 ff zu § 74). Erst bei diesen Rahmenbedingungen könnten dann schrittweise die Störfaktoren der sozialen Hilfe abgebaut werden, die sich neben der ungesicherten Methodik des Behandlungskonzepts vor allem aus dem hohen Prozentsatz von Rückfalltätern in der Gefangenenpopulation, der großen Fluktuation innerhalb der Anstalten mit wachsendem Verwaltungsaufwand für den sozialen Dienst und der stärkeren Belastung durch besondere Randgruppen, insbesondere Drogenabhängige und ausländische Gefangene, sowie aktuellen Mängellagen wie insbesondere der Wohnungsnot, zunehmender Verschuldung, Defiziten im Arbeitsverhalten, steigendem
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Anteil der Sexualstraftäter und wachsender Gewaltbereitschaft ergeben. Vgl. zur Anzahl ausländischer Gefangener im Vollzug § 31 Rdn. 3, § 141 Rdn. 11. Zur Entlassungsvorbereitung bei ausländischen Gefangenen § 74 Rdn. 11. In der aktuellen internationalen Diskussion über den Justizvollzug im Wandel und die notwendigen Veränderungsprozesse wird auch das Rahmenkonzept der sozialen Hilfe von folgenden Aspekten besonders betroffen: Kapazitätsprobleme, bauliche Strukturfragen, personelle Führungs- und Steuerungskonzepte sowie Fragen zu Qualitätsstandards im Sicherheitsbereich und bei der Betreuung von Gefangenen, aber auch die Suche nach Alternativen zum Freiheitsentzug (vgl. Best 1997a, 41). Ein europäisch orientiertes Rahmenkonzept des aktivierenden Behandlungsvollzugs (Rdn. 4) setzt voraus ein: a) vernetztes Übergangsmanagement vom Strafvollzug in den Nachsorgebereich – mit allen relevanten Akteuren unter Aufbau und Nutzung von Strukturen und Netzwerken (Soziale Dienste der Justiz, freie Straffälligenhilfe, Agentur für Arbeit, Bildungsinstitutionen, Kammern, Sozialleistungsträger, soziale Gruppen, etc.) b) kooperatives Wissensmanagement für den Strafvollzug – in überregionalen und auch internationalen Informationsverbünden und transnationalen Netzwerken unter besonderer Berücksichtigung der von Europarat und Europäischer Kommission verfolgten Ziele und praktizierten Projektarbeit (insbesondere die Beachtung der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze „European Prison Rules“( vgl. Rdn. 11): Masterplan zur Gestaltung der rechtlichen, finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen, Verstärkung des Betreuungsvollzugs, Personalentwicklung, Programmentwicklung für Aus- und Fortbildung der Führungskräfte, Projektmanagement u. a.); c) (Ko)Finanzierungsmanagement für innovative Wiedereingliederungsprojekte auf interregionaler und europäischer Ebene (EQUAL- Entwicklungspartnerschaften Strafvollzug, ESF-Projekte -Europäischer Sozialfonds, TAIEX, EUJUST LEX, EuropeAid u. a.) 7. Neuorganisation der sozialen Dienste der Justiz. Ein Bedarf für gesetzgeberische 7 Maßnahmen, die in dem „Diskussionsentwurf des Arbeitskreises sozialdemokratischer Juristen für ein Bundesresozialisierungsgesetz“ (BResoG, Stand: Juni 1988, vgl. Arbeitskreis Rechtswesen der SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen, Dokumentation der Anhörung vom 30.1.1990, Bonn 1990) vorgeschlagen wurden, ist derzeit hinsichtlich der Organisationsstruktur nicht erkennbar, aber wieder aktuell. Denn neuerdings sieht der ADB e.V. als Zusammenschluss der hauptamtlichen Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer in der Neuorganisation als Landeseigenbetrieb mit einer Geschäftsführung aus der eigenen Profession, professionellem Personalmanagement sowie definierten Standards und Methoden die Zukunft der Bewährungshilfe. Sie soll sich als vierte Säule in der Justiz neben Gericht, Staatsanwaltschaft und Vollzug etablieren und nicht länger als ,Fünftes Rad am Wagen der Dritten Gewalt‘ fungieren. Als Vision wird die Neuauflage eines BResoG mit dem Ziel eines bundesweit einheitlichen sozialen Dienstes „statt des gegenwärtigen föderalen Durcheinanders und der Privatisierungsdebatten“ skizziert (vgl. Rdn. 10 ). Die strukturelle Neuorganisation von Sozialarbeit im Vollzug, Bewährungshilfe und Gerichtshilfe sollte die „ultima ratio“ bleiben. Die Frage ihrer Verwirklichung stellt sich erst dann, wenn im Rahmen einer „Strategie des kontrollierten Wandels“ vorhandene Kooperationsmängel analysiert, neuere Ansätze – auch in Flächenstaaten – schrittweise erprobt sind und die Diskussion um die Inhalte der sozialen Arbeit abgeschlossen ist. Verkannt werden darf auch nicht die Gefahr der Bürokratisierung und Hierarchisierung, die sich durch den geplanten Aufbau gesonderter Behörden mit eigener Dienst- und Fachaufsicht ergibt.
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Abzulehnen sind insbesondere Bestrebungen, die Sozialarbeit aus dem Vollzug herauszulösen und nur noch von einem (externen) „Sozialdienst im ambulanten Bereich“ durchführen zu lassen. Dies würde die Einflussmöglichkeiten der Sozialarbeit im Vollzug erheblich schwächen; angesichts der eher negativen Erfahrungen mit der vollständigen Herauslösung der Sozialarbeit aus den Anstalten in England sind gegen eine solche Planung zumindest Vorbehalte anzumelden (ebenso Dünkel 1990, 189). Eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Vollzug und externen Diensten ist vorrangig über eine pragmatische „Reform von unten“ auf Länderebene zu erreichen. Dies um so mehr, als sich der Entwurf des BResoG von der Zielsetzung leiten lässt, den Sozialarbeiter im Vollzug aus der Anstalt und den Bewährungshelfer aus der gesetzlichen Anbindung an den Richter herauszulösen und die richterliche Fachaufsicht durch eine administrative Dienst- und Fachaufsicht zu ersetzen. Die starke Anbindung an den Richter ist aber zugleich eine Gewähr für die Akzeptanz des Rechtsinstituts der Bewährungshilfe. Der erhebliche Anstieg der Fallzahlen – bei gleichzeitigem Anstieg der Gefangenenzahlen – ist ein deutlicher Beleg dafür, dass diesem sozialen Dienst der Strafrechtspflege (auch unter dem Aspekt von Hilfe und Aufsicht) ein wirkungsvoller Rückfall vermindernder Beitrag zugetraut wird (vgl. dazu Rdn. 14 zu § 74). Die Frage, in welcher Rechts- und Organisationsform die nötigen Änderungen zu erfolgen haben, ist insgesamt weniger entscheidend als das Ziel, die fachlichen Bedingungen zu verbessern, neue Methoden und Standards zu entwickeln und flexible Strukturen für die Zusammenarbeit mit den Sozialen Diensten der Justiz und den freien Trägen zu schaffen (Jehle 2003, 50; Klug 2008, 9). Zwischen den Ländern ist eine Art „Wettbewerb der Ideen“ zu verzeichnen, mit welchen Standards und Inhalten „Ambulante Soziale Dienste der Justiz“ im Reformprozess gestaltet werden können. Trotz der unterschiedlichen und höchst unübersichtlichen Ausgestaltung der Strukturen zeichnet sich folgender Trend ab: Einführung eines zentralisierten fachlich-strategischen Managements zur effizienten Steuerung des Ressourceneinsatzes zwecks optimaler Ausschöpfung des Potenzials, fachliche Qualitätskontrolle und Qualitätsmanagement, Bündelung der Dienstaufsicht durch kurze Entscheidungs- und Lenkungswege, Schaffung eines Übergangsmanagements hinsichtlich der Schnittstellenproblematik und Entwicklung neuer fachliche Schwerpunkte für Probanden mit erhöhter Risikoeinstufung. Die Zielsetzung, den Stellenwert der ambulanten Justizsozialarbeit innerhalb der Justizorganisation zu erhöhen und eine eigene „corporate identity“ zu schaffen, ergibt sich aus dem Bestreben der Landesjustizverwaltungen, einen durchstrukturierten Stellenkegel mit Leitungsfunktionen zu entwickeln. Damit soll auch ein „Gegengewicht“ des ambulanten Netzwerks gegenüber der ressourcenstarken Vollzugsorganisation aufgebaut werden (zur Qualitätsentwicklung und einem zentralen Management in den Sozialen Ambulanten Diensten der Justiz z. B. für Bayern: Koordinierungsstelle München 2007; für Berlin: Cornel 2006, S. 99 ff, 2008; für Niedersachsen: Justizministerium 2003, Scheerer 2008, 284; für Rheinland-Pfalz: Justizministerium 2004 und für Sachsen-Anhalt: Ministerium der Justiz 2008). Vereinzelt gibt es auch Strategien zur Verschmelzung von Sozialen Diensten des Vollzuges mit den ambulanten Sozialen Diensten der Strafrechtspflege, die aus der Dienstaufsicht der Gerichte und Staatsanwaltschaften herausgelöst und der Vollzugsbehörde unterstellt wurden (so in Mecklenburg-Vorpommern: Jesse/Kramp 2008, 14). Damit wird die Schwelle des vernetzten Übergangsmanagements überschritten (zu den Gründen der Ablehnung dieser Strategie vgl. Rdn. 12 zu § 74).
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8. Eine neue Dimension hat sich durch die Privatisierungsstrategie bei den Sozialen Diensten der Justiz entwickelt. In Baden-Württemberg hat am 1.1.2007 die gemeinnützige NEUSTART GmbH als freier Träger nach einem zweijährigen Pilotprojekt in den
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Bezirken Stuttgart und Tübingen die Aufgaben der Bewährungs- und Gerichtshilfe landesweit übernommen (vgl. dazu Stelly/Thomas 2008, 276 f). Bei einheitlichen Qualitätsstandards und einer transparenten Fachaufsicht unterstehen der eGmbH, die sich als Dienstleistungsbetrieb versteht und eine „Effizienzrendite“ von 10–15 Prozent erarbeiten muss, derzeit rund 370 haupt- und 250 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jährlich ca. 20.600 Klienten in der Bewährungshilfe betreuen, 2.700 Erhebungen im Kontext der Gerichtshilfe durchführen und in 1.000 Fällen den Täter-Opfer-Ausgleich durchführen. Allerdings ist die erfolgte Übertragung von Dienstherrenbefugnissen (Fachaufsicht, Weisungsbefugnisse) für die beschäftigten beamteten Justizbediensteten an den privaten Träger Gegenstand eines Vorlagebeschlusses des VG Sigmaringen vom 26.6.2008 – 6 K 512/07 an das Bundesverfassungsgericht. Kritisch ist, abgesehen von der Qualität einer hoheitlichen Tätigkeit zur Erfüllung eines gesetzlichen Auftrags, auch zu bemängeln, dass die Landesjustizverwaltung Baden-Württemberg zu einer wissenschaftlichen Evaluation unter dem Aspekt der Qualitätskontrolle und der Kosten-Nutzen Analyse nicht bereit ist. Die Entwicklung in den übrigen Bundesländern macht deutlich, dass Qualitätsverbesserung und kostenbewusstes Management auch unmittelbar von der Justizverwaltung geleistet werden kann. Kernaufgaben der Justiz als Bestandteil eines Resozialisierungskonzepts sollten keinesfalls privatisiert werden, vor allem nicht mit der Zielsetzung, eine Rendite zu erwirtschaften (vgl. Best 2005, 136, 150 ff). Daraus könnten sich auch Sicherheitsrisiken ergeben (zur aktuellen Debatte: DBH 2007; Sterzel, 2008, 52 ff zur Ablehnung einer Verlagerung von Hoheitsaufgaben auf Private aus verfassungsrechtliche Gründen (zur Privatisierung des Vollzugs: Rdn. 10; zur Strukturreform im nationalen und europäischen Kontext vgl. Rdn. 11). Die Akzeptanz der ambulanten Sozialen Dienste der Justiz in Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis ist unbestritten. Der Erste Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung (Berlin 2001, 394 ff) hatte klargestellt, dass sich diese Dienste als zentrale Pfeiler einer auf Vermeidung des Freiheitsentzugs ausgerichteten Kriminalpolitik etabliert und bewährt haben. Allerdings sei das Potenzial, das die Justiz und die justiznahen Einrichtungen, professionelle Hilfesysteme usw., aufweisen würden, noch nicht ausgeschöpft (dazu der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung, Berlin 2006). 9. Im Vordergrund sollten daher zunächst inhaltliche, nicht organisatorische Verän- 9 derungen im Feld der Entlassungsvorbereitung und Nachbetreuung zur Gewährleistung der durchgehenden Hilfe stehen (vgl. auch aus Sicht des Vollzugs: Wirth 1994, 314 ff). Diese ist ohne die Mitwirkung der Ambulanten Sozialen Dienste und die freie Straffälligenhilfe nicht leistbar. Nach dem Prinzip der durchgehenden Betreuung sind Projekte im Stadtstaat Bremen erprobt worden (dazu Der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen 1991; Matt 2003, 81 ff; ders. 2007). In den Flächenstaaten, in denen die Betreuung durch einund denselben Mitarbeiter während der verschiedenen Verfahrensabschnitte vor, während und nach der Entlassung kaum sichergestellt werden kann, richten sich die Anstrengungen auf die inhaltliche Verbesserung der Entlassungsvorbereitung und der Entlassenenhilfe (z. B. für Baden-Württemberg Rebmann/Wulf 1990, 9 ff; für Hessen vgl. die LT-Drucks. 15/3686 vom 21.2.2002; für NRW vgl. AG der Freien Wohlfahrtspflege Dokumentation der vom Justizministerium NRW geförderten Projekte für den Bereich der Straffälligenhilfe, Düsseldorf 2003; für Schleswig-Holstein vgl. Maelicke 1999, 249 ff; für Sachsen-Anhalt vgl. Ministerium der Justiz 2008, 26 ff unter Hinweis auf das duale Hilfesystem von freier Straffälligenhilfe und Sozialen Diensten von Justiz und Justivollzug, SoJus-Projekt, Integrierte Führungsaufsicht und forensische Ambulanz, Zebra-Zentrum für Entlassungshilfe, Beratung, Resozialisierung und Anlaufstelle). Das Konzept „Integrierte Resozialisierung“ setzt eine vollzugs-
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übergreifende Integrationsplanung, die Nachsorge und ein verbessertes Netzwerk-Management voraus, um nachhaltige Eingliederungserfolge mit Reduzierung der Rückfallgefahr realisieren zu können. Für die Kooperation zwischen den ambulanten und stationären Maßnahmen muss ein Netzwerkmanagement für die Schnittstellen sichergestellt sein (Sandmann, FS 2007, 224 ff; vgl. auch Stelly/Thomas 2008, 270 unter Hinweis auf den aktuellen Forschungsbericht „Straffälligenhilfe unter Veränderungsdruck“ mit Angaben zur Zuwendungspraxis in den Ländern). Das Ziel der durchgehenden Betreuung wurde und wird z. B. in Niedersachsen in Form eines landesweiten Schwerpunktprogramms verfolgt (Best 1992, 377; ders. 1994b, 131; Scheerer BewHi 2008, 284; zur gesetzlichen Landesregelung: § 86 Abs. 2 und 5 NJVollzG: dazu auch Abschn. III). Bestandteile waren u. a.: – die verstärkte (möglichst heimatnahe) Unterbringung von Gefangenen im offenen Vollzug (2006 19,1 %) gegenüber 15,9 % im Bundesdurchschnitt, vgl. Dünkel/Geng FS 2007, 16 unter Hinweis auf restriktivere und höchst unterschiedliche Praxis in den Ländern); – die Einrichtung von Entlassungstrainings und Entlassungsabteilungen, auch zur Förderung der Arbeitskontakte mit der Bewährungshilfe und freien Trägern; – die Regelung des Verfahrens zur frühzeitigen Entlassungsvorbereitung bei Aussetzung des Strafrestes mit – je nach Vollzugsdauer – gestaffelten Vorlagefristen für die Abgabe der Stellungnahmen an die Strafvollstreckungskammern (AV des MJ von 8.7.1997 – NdsRpfl. 153); – die ortsnahe Einrichtung von (auswärtigen) Strafvollstreckungskammern; – die Bildung regionaler Arbeitsgemeinschaften für mit der Entlassung befasste Institutionen (Strafvollstreckungskammer, JVA, Bewährungshilfe u. a.); – die verstärkte Fortbildung für Richter von Strafvollstreckungskammern, Vollzugsbedienstete, Bewährungshelfer u. a. i. S. der Außenorientierung des Vollzuges; – die finanzielle Förderung von 14 Anlaufstellen für Straffällige aus Mitteln der Gefangenen- und Entlassenenfürsorge (mit einem Anteil von etwa 40 % am jährlichen Gesamtvolumen der Gesamtausgaben für die Anlaufstellen; zu den Anlaufstellen vgl. Rdn. 9 zu § 74); – die Regelung der Zusammenarbeit zwischen Vollzug und Anlaufstellen (Abschnitt 37 NAV – Nr. 3 zu § 74, AV des MJ von 17.10.2001, NdsRpfl. 450, und v. 21.5.2007, Nds. Rpfl. 214); – die verstärkte Schuldnerberatung und Schuldenregulierung für Strafgefangene unter Mitwirkung von nebenamtlichen Fachkräften (u. a. Bankkaufleute) in Zusammenarbeit mit der Stiftung Resozialisierungsfonds (vgl. Abschnitt 35 NAV Nr. 1 zu § 74, AV des MJ von 17.10.2001, NdsRpfl. 450, und v. 21.5.2007, Nds. Rpfl. 214; Rdn. 10 zu § 73); – der Ausbau der aufsuchenden Sozialarbeit durch externe Träger zur Betreuung von suchtgefährdeten und suchtkranken Gefangenen im Rahmen eines Übergangs zwischen Vollzug und Therapie (vgl. auch Abschnitt 27 NAV Nr. 1 zu § 56: AV des MJ von 17.10. 2001, NdsRpfl. 450); – der Ausbau des sozialen Trainings (vgl. Rdn. 12 zu § 74); – die Verstärkung der ehrenamtlichen Mitarbeit im Bereich der Entlassungsvorbereitung (Abschnitt 51 NAV, Nr. 3 zu § 154: AV des MJ von 17.10.2001, NdsRpfl. 450, und 21.5. 2007, Nds. Rpfl. 214); – die finanzielle Förderung von 12 Wohnheimprojekten als Maßnahme der Entlassungsvorbereitung und Entlassenenhilfe (Best 1994a, 86); – die finanzielle Förderung der aufsuchenden Sozialarbeit in freier Trägerschaft für ausländische Gefangene (vgl. § 74 Rdn. 11);
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– der Aufbau von 29 berufsqualifizierenden Projekten für Probanden der Bewährungshilfe und Haftentlassene, gefördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF), vgl. Best 1994a, 86, vgl. Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung der beruflichen Qualifizierung und Integration von arbeitslosen Straffälligen, Erl. d. MJ v. 23.11.2007, Nds. MBl. 2007, 1724 ff; – ab 1.1.2009 „Ambulanter Justizsozialdienst“, entwickelt aus dem Projekt JustuS (Justiz und Sozialarbeit, (AV AmbSozDienste, AV d. MJ. v. 9.2.2006 (Nds. Rpfl. S. 73); zur Organisation des Qualitätsentwicklungsprojektes vgl. Scherrer 2008, 284; – Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern als Äquivalent zu dem in Bayern entwickelten HEADS mit verpflichtender kollegialer Beratung für sozialarbeiterisches Risikomanagement bei der Arbeit mit Probanden mit erhöhter Risikoeinstufung (vgl. Scherrer 2008, 284, 289; – die gesetzliche Verankerung des Prinzips der durchgehenden Hilfe im Niedersächsischen Vollzugsgesetz (§ 68 NJVollzG) 10. Informationsmanagement und Privatisierungsmodelle. Derartige Aufbauer- 10 fahrungen mit Netzwerken und Verbundsystemen in den einzelnen Ländern sind von der Leitidee bestimmt, dass erfolgreiche Arbeit im Strafvollzug sowohl einer aktivierenden Entlassungsvorbereitung als auch einer umfassenden Nachsorge in der Zeit der frühen Entlassungsvorbereitung bedarf. Dabei kommt sowohl dem Informationsmanagement als auch dem Case Management grundsätzliche Bedeutung zu. Hierbei handelt es sich um die klassischen Strukturprobleme an der Nahtstelle des Übergangs von der Anstalt in die Freiheit. Die Informationserhebung und Weitergabe der gewonnenen Erkenntnisse ist hierbei nur ein Aspekt (zur Frage der Datenweitergabe vgl. Rdn. 3 und Rdn. 14 zu § 73). Entscheidender sind die stärkere Außenorientierung des Vollzugs mit einer fachlichen Kooperation, die intensive Abstimmung von Plänen und die koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten durch Netzwerkbildung. Case Management als Controlling-Aufgabe hat die Bausteine der inhaltlichen Organisation des aktuellen und präsentierbaren Wissens zu verbinden und zu prüfen, ob die Institutionen ihre Planungen abstimmen, wie sie mit dem Risikomanagement umgehen und den Informationsfluss steuern (vgl. Kerner 2003, 30). Hierbei ergeben sich Parallelen zur Personal- und Organisationsentwicklung sowie zum Qualitätsmanagement. Das „Gefängnis als lernende Organisation“ (Flügge/Maelicke/Preusker 2001) ist hierfür das passende Paradigma. Der Übergang vom stationären Vollzug zur ambulanten Betreuung ist bereits jetzt eng mit der Debatte um die Modernisierung vorhandener System verknüpft. Die „Neuen Steuerungsmodelle“, die sich auf die Analyse und Wirkungsorientierung der Maßnahmen ausrichten, erfordern im Rahmen einer solchen rationalen Kriminalpolitik ein ggf. auch umzusteuerndes Management in den Ressourcen, das sich mit dem Effizienzgedanken und den Kosten-Nutzen-Aspekten befasst und möglicherweise auch neuartige ambulante Überwachungsmaßnahmen schafft. Von Länderseite sind in Übereinstimmung mit der europäischen Praxis bereits Suchbewegungen erkennbar (zum hessischen Projekt „elektronische Fußfessel“ als Bewährungsweisung bzw. Haftvermeidung vgl. Mayer 2007, 12 ff; Haverkamp/Mayer 2003, 216 ff).Eine weitere Suchbewegung im In- und Ausland ist die Privatisierung von Haftanstalten (Best 2005, 136 ff). Hierbei ist die Aufteilung zwischen hoheitlichem Kerngeschäft und Übertragung von Aufgaben an Dritte als sog. Outsourcing im Rahmen der deutschen Privatisierungsdebatte verstärkt in die Diskussion gelangt. Die sozialstaatliche Fürsorgepflicht setzt der Privatisierung aber Grenzen. In staatlicher Regie und Verantwortung müssen zumindest solche Aufgabenfelder aus der Leistungsverwaltung bleiben, die zu den Grundpfeilern des Resozialisierungskonzepts gehören. Für die Soziale Hilfe
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kann aufgrund des verfassungsrechtlich eingeforderten Resozialisierungsgebots als sozialstaatliche Dienstleistung (BVerfGE NJW 2006, 2095) die Aussage getroffen werden, dass die Behandlungs- und Resozialisierungsaufgaben grundsätzlich „privatisierungsfest“ sind (ebenso C/MD 2008 § 155 Rdn. 3; Best 2006, 1 ff auch mit Blick auf die Auswirkungen der anglo-amerikanischen Kriminalpolitik durch deren Betreiberfirmen auf die europäische Strafrechts- und Vollzugskultur; zu den Grenzen der Vollzugsprivatisierung Laubenthal 2008 Rdn. 44 ff; Mühlenkamp 2008; DBH 2008; Mösinger 2008). Soweit die Steuerungsmodelle darauf abzielen, durch finanzwirtschaftliche, rechtliche und organisatorische Strukturänderungen die fachliche Arbeit zu verbessern und für neue Aufgabenfelder, aber auch für die Arbeit mit speziellen Tätergruppen einheitliche Methoden und Standards zu entwickeln und flexible Strukturen für die Kooperation zu schaffen (Jehle 2003, 50), sollte der Auftraggeber zu einer wissenschaftlichen Evaluation sowie zu einer dementsprechenden Nachbesserung verpflichtet sein.
11
11. Soziale Hilfe im europäischen Kontext. Die Aspekte der Sozialen Hilfe für Strafgefangene gewinnen auch im europäischen Kontext immer mehr an Bedeutung. Vgl. EuStVollzGrds, hier insbesondere Teil III und Teil IV. Die vom Europarat im Bereich des Vollzuges und der ambulanten Maßnahmen entwickelten Arbeitsschwerpunkte (Kerner/ Czerner, 2005, 1 ff; Albrecht/van Kalmthout 2002; Best 1997b, 259 ff; ders. 1999b, 49 ff; Jung 1999; Kaiser 1999) wirken sich auch verstärkt auf das deutsche Rechtssystem und die Rechtspraxis aus (vgl. z. B. die Empfehlung des Europarats zum Abbau der Überbelegung: Council of Europe, Recommendation No. R (99) 22 and Report „Prison Overcrowding and Prison Inflation“; zur Internationalisierung der Strafverbüßung und zur Überstellung verurteilter Personen in deren Heimatland vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 345 ff; Rdn. 11 zu § 74). Die von Kerner/Czerner (2005) aufbereitete Materialsammlung „Freiheitsentzug – Die Empfehlungen des Europarats 1962–2003“ sind ein kriminalpolitischer Orientierungsrahmen für die mit Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentzug verbundenen Vorstadien, Alternativen und Nachphasen in Europa. Von der Papierform kaum verbesserungsfähig, sind sie Auslegungshilfen für die Praxis, die angesichts der schleichenden Erosion der Menschenrechte durchaus verbesserungswürdig ist. Die ständig neuen und belastenden Anforderungen durch neue Zielgruppen, der Belegungsdruck, ökonomische Sparzwänge und neuartige globale Bedrohungsszenarien stellen hohe Herausforderungen an den Umgang des Staates mit Gefangenen, Probanden und Haftentlassenen. Die europäischen Vereinbarungen und Empfehlungen sollten in Zukunft auch als Gegengewicht zu den partikularistischen Strömungen im Zuge der Föderalismusreform des deutschen Justizvollzuges stärker als bisher auf die landesgesetzlichen Regelungen ausstrahlen. Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (European Prison Rules 2006, vgl. auch Rdn. 6) enthalten in Nr. 107 differenzierte Regelungen zur Entlassungsvorbereitung und der Planung de Nachbetreuung. Während das Bundesverfassungsgericht diese europäischen Empfehlungen in seiner Rechtsprechung zu Vollzugsfragen berücksichtigt (z. B. in BVerfGE 116, 69, Entscheidung vom 31. Mai 2006 – NJW 2006, 2093), sind die Landesgesetze in der Ausgestaltung und Begründung noch nicht in dem erforderlichen Umfang von dem Prozess der Europäisierung erfasst (vgl. dazu Hamdorf 2008, 74 ff). Aus den Erkenntnissen der Praxis in den einzelnen europäischen Staaten lassen sich wertvolle Hinweise für die Verbesserung der inneren Struktur und die äußere Einbindung der Vollzugssysteme in das jeweilige gesamtgesellschaftliche Gefüge ziehen, ebenso wie positive und negative Erfahrungen mit der Privatisierung von Haftanstalten (vgl. zur Vollzugsprivatisierung Rdn. 10 m. w. N.). Die unterschiedlichen nationalen und transnationalen Projekterfahrungen und Strategien vermitteln wertvolle Anregungen, wie flexibel die vollzugliche und kriminalpolitische Praxis auf die vielfältigen Anforderungen und neu auf-
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Grundsatz
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tretende Problembereiche im europäischen Kontext zu reagieren hat (vgl. den Tagungsband „Quo Vadis III“ über Reformmodelle in den EU-Staaten: Bremer Institut für Kriminalpolitik (Hrsg.), Bremen 2003). Die mit europäischen Fördermitteln finanzierten transnationalen Projekte haben vielfältige Anstöße für Experimente und Projekterprobungen ausgelöst, die im weiteren Verlauf auch neue und kombinierbare Sanktionen mit aktiver Ausgleichsleistung betreffen können. Im europäischen Kontext ist das gesetzgeberische Bemühen, die gemeinnützige Arbeit im Strafrecht zur Vermeidung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in stärkerem Maße zur Anwendung kommen zu lassen, in einem besonderen Lichte zu sehen (vgl. BT-Drucks. 15/2725). Die europäischen Varianten der gemeinnützigen Arbeit als selbständige Sanktion und die sog. „intermediate sanctions“ als Sanktionen ohne Freiheitsentzug sollten ein weiteres Erprobungsfeld für neue kriminalpolitische Ansätze sein, insbesondere zur Nutzung vorzeitiger Entlassung aus der Strafhaft (backdoor approach im Vollzug; zur elektronischen Fußfessel Rdn. 10; in Österreich, der Schweiz, England und in den Niederlanden wird die Maßnahme als Strafvollzugslösung im Rahmen der Entlassungsvorbereitung praktiziert). Europäische Netzwerke werden im Rahmen der sich verstärkenden justiziellen Zusammenarbeit innerhalb der erweiterten Union künftig mehr denn je der Auslöser dafür sein, dass sich nationale und europäische kriminalpolitische Strategien weiter annähern (Kaiser ZRP 2000, 151, 157; Dünkel/Snacken 2001, 195 ff; Müller-Dietz 2006, 621 ff). Harmonisierungstendenzen in der verfassungsrechtlichen europäischen Debatte sind unübersehbar. Die transnationale Zusammenarbeit in „Twinning-Projekten“ des Europarats und der EC muss sich an den europäischen Anforderungsprofilen und Grundprinzipien der neugefassten „European Prison Rules“ (Empfehlung Rec (2006) vom 11.1.2006) sowie der „Community Sanctions and Measures“ (vgl. Empfehlung Rec (2000) 22 vom 29.11.2000) orientieren. Auch daraus ergibt sich die Aktualität des Kapitels „Soziale Hilfe“ in seiner gesamten Vielfalt.
§ 71 Grundsatz Der Gefangene kann die soziale Hilfe der Anstalt in Anspruch nehmen, um seine persönlichen Schwierigkeiten zu lösen. Die Hilfe soll darauf gerichtet sein, den Gefangenen in die Lage zu versetzen, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu regeln. Schrifttum: s. Vor § 71
Übersicht Rdn. I. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Rechtsanspruch und Zielvorgabe a) Prinzip der Individualität der Hilfe . . . . . . . . . . . b) Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung von Strafvollzugsrecht und Sozialhilferecht . . . . a) Vorrang des Sozialhilferechts .
. .
1–8 1–4
.
2
.
3–4
. .
5–8 6
Rdn. b) Vorrang des Strafvollzugsrechts c) Rangverhältnis bei Ansprüchen von Angehörigen . . . . . . . . II. Beispiel Weihnachtsbeihilfe-Fall . . . . . . . III. Landesgesetze 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . .
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I. Erläuterungen 1
1. Die Vorschrift gewährt dem Gefangenen einen Rechtsanspruch auf soziale Hilfe und gibt hierfür der Vollzugsbehörde eine klare Zielvorgabe. Danach hat sich die Hilfeleistung an dem Prinzip der Individualität (Rdn. 2) und an dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe (Rdn. 3) zu orientieren.
2
a) Die Hilfe muss zunächst individuell erfolgen. Sie muss methodisch so ausgerichtet sein, dass sie geeignet ist, „seine persönlichen Schwierigkeiten zu lösen“ (Satz 1). Im Mittelpunkt steht also die besondere Lebenssituation des Gefangenen, die nicht nur vom Vollzugsaufenthalt geprägt wird, sondern die Einbeziehung seiner sozialen bzw. familiären Umwelt erfordert. Das Prinzip der Individualität bedeutet daher nicht, sich auf den Gefangenen als Einzelperson zu beschränken und seine sonstigen Lebensbezüge auszuklammern. Vielmehr muss der Gefangene aus einer Objektbeziehung zum Vollzug herausgelöst und durch persönlich angemessene Hilfe auf eine selbstverantwortliche Lebensbewältigung vorbereitet werden. Die Grundsatznorm des § 71 beinhaltet damit auch das Ziel, den Gefangenen zur Änderung seiner Einstellung und seines Sozialverhaltens zu befähigen. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Gefangenen seine bisher fehlgeschlagenen Versuche zur Behebung seiner persönlichen Schwierigkeiten bewusstgemacht und alternative Lösungsangebote vermittelt werden. Die Gefangenen haben zwar keinen Anspruch auf bestimmte Beratungs-, Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen. Die Anstalt ist aber verpflichtet, ein Behandlungsangebot vorzuhalten, das auf ihre Größe und Zuständigkeit zugeschnitten ist (so auch Art. 74 BayVollzG und Art. 167 BayVollzG). Die Landesgesetze lassen unterschiedliche vollzugspolitische Konzepte erkennen. Während HmbStVollzG (ebenso der Entwurf 2009) den motivierenden Vollzug (vgl. Rdn. 4 f vor § 71) außerhalb dieses Abschnitts regelt und keine spezielle Vorschrift enthält, das NJVollzG dagegen neben dem Chancenvollzug (Rdn. 5 vor § 71) die durchgehende Betreuung hervorhebt (vgl. Rdn. 6 vor § 71), setzt das BayVollzG einen zusätzlichen Schwerpunkt mit der in Art. 76 geregelten Psychologischen Behandlung (Art. 76 BayVollzG), die inhaltlich mit dem Bestreben im Einklang steht, die Gefangenen zu unterstützen, ihre persönlichen Schwierigkeiten zu lösen ( zu den Einzelheiten und der Gesetzesbegründung vgl. dazu III.1 bei Art. 75 BayVollzG). Bei aller Vielfalt von Methoden und Modellen wird das Ziel verfolgt, sich dem Idealbild einer problemlösenden Gemeinschaft (Laubenthal 2008 Rdn 161 f) anzunähern. Die in der bayerischen Begründung enthaltene Bezugnahme auf Lösel (Lösel 1993, 15) zeigt die konzeptionelle Richtung: Die Behandlungsmethodik soll mittels eines kognitiven Verhaltenstrainings den Gefangenen zum Abbau von Abwehr- und Leugnungstendenzen bewegen sowie zu einer Änderung seiner „eingefahrenen“ Denkweisen, zur Selbstkontrolle und dem Nachdenken über sich selbst veranlassen. Damit wird ein Ansatz der Intervention propagiert, der positiv verstärkend zur Aktivierung beitragen soll und aus den verzahnten Elementen von „Fördern und Fordern“ besteht. Da die Ursachen krimineller Verhaltensweisen sich aber aus der gesamten Lebenssituation erschließen können, muss der Bereich der persönlichen Schwierigkeiten auch auf materielle Angelegenheiten (z. B. Umgang mit Geld) ausgedehnt werden, weil nur bei einer Verknüpfung von personaler und materieller Hilfe (vgl. auch Rdn. 11 zu § 73) das Hilfeziel erreicht werden kann (ebenso mit konkreten Vorschlägen: AK-Bertram/Huchting 2006 Rdn. 4 und 5). Zur Motivierung des Gefangenen § 2 Rdn. 11; § 4 Rdn. 4, 7; vor § 71 Rdn. 4.
3
b) Das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist in § 71 Satz 2 geregelt. Der Gefangene soll durch die Hilfe nicht in Abhängigkeit von der Anstalt geraten und sich auch nicht darauf verlassen dürfen, dass die Behörde alles für ihn regelt (BT-Drucks. 7/918, 74 zu § 64).
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Damit ist diese Bestimmung den Grundsätzen der Sozialhilfe mit ausdrücklicher Erwähnung in § 1 Abs. 1 SGB I und § 1 Satz 2 SGB XII nachgestaltet: die Hilfe soll den Empfänger der Hilfe soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; hierbei muss er nach Kräften mitwirken. Die Hilfe zur Selbsthilfe (vgl. dazu auch Böhm 2003 Rdn. 577) ist also darauf gerichtet, Motivation und Eigeninitiative beim Gefangenen anzuregen, aufzubauen und soweit zu verstärken, dass er selbst nach Lösungen sucht und diese aktiv mitgestaltet (Rdn. 2, Rdn. 4 und 5 vor § 71). Selbstverantwortlichkeit kann z. B. durch Anleitung beim Ausfüllen von Formularen, beim Schriftverkehr mit Behörden und Gläubigern eingeübt werden (zum Konzept des sozialen Trainings vgl. Rdn. 12 zu § 74; zu Informationsbeschaffung und Datenübermittlung vgl. Rdn. 6 zu § 72; zum Beratungsbegriff vgl. Rdn. 11 zu § 73, Rdn. 2 zu § 74); zum aktivierenden Behandlungsvollzug vgl. Rdn. 4 vor § 71. Durch § 71 wird die Vollzugsbehörde dazu verpflichtet, den Gefangenen entsprechend 4 zu aktivieren (vgl. auch § 4 Abs. 1 Satz 2). Die jeweilige Ausgestaltung des § 71 bleibt ihr überlassen; insofern hat die Anstalt einen gewissen Beurteilungsspielraum der für den Einzelfall notwendigen Maßnahmen (C/MD 2008 Rdn. 1). Die soziale Hilfe muss aber nach den Methoden und Erkenntnissen moderner Sozialarbeit so angeboten werden, dass sie von dem Gefangenen auch tatsächlich angenommen und seine mangelnde Mitwirkung nicht mit angeblichem Desinteresse erklärt wird (vgl. Rdn. 5 vor § 71). Zwar kann nach dem Gesetzeswortlaut der Gefangene die Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn der Gefangene z. B. beim Erstkontakt die ihm angebotene Hilfe direkt ablehnt, darf der „Fall“ nicht aktenmäßig erledigt, die Betreuung andererseits aber auch nicht aufgezwungen werden. Soziale Hilfe ist von ihrem Selbstverständnis her gerade dann gefordert, wenn der Gefangene erklärt, er wolle und brauche keine Hilfe. 2. Zu der Frage, inwieweit Strafgefangene bereits während der Haft Leistungen 5 der Sozialhilfe i. S. von § 28 SGB I beanspruchen können, hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze zur Abgrenzung von Strafvollzugsrecht und Sozialhilferecht entwickelt (zur Vorbereitung für die Zeit nach der Haftentlassung vgl. Rdn. 4 ff zu § 74): a) Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ist für sich kein der Leistung von Sozialhilfe ent- 6 gegenstehender Grund (vgl. BVerwGE 31, 271; BVerwGE 37, 87). Maßnahmen nach dem Strafvollzugsrecht und Leistungen nach dem Sozialhilferecht überschneiden sich zwar in vielen Fällen; im Regelfall führt dies dann zum Ausschluss von Sozialhilfeleistungen, da die Maßnahmen des Strafvollzugs vorrangig sind (§ 2 SGB XII: Nachrang der Sozialhilfe). Trotzdem kann aber im Einzelfall unter dem Gesichtspunkt des Sozialhilferechts ein weitergehender Bedarf vorliegen. Sozialhilfe ist ihrem Wesen nach bestimmt, Lücken in der Betreuung Hilfebedürftiger zu schließen. Es ist in jedem Fall zu prüfen, ob neben dem Vollzug der strafgerichtlichen Entscheidung Maßnahmen der Sozialhilfe möglich und angezeigt bleiben (vgl. BVerwGE 37, 87; bejaht für die Gewährung von Blindenhilfe nach § 67 BSHG a. F.; n. F. § 72 SGB XII, BVerwGE 51, 281; je nach Bedarfslage bejaht bei der Eingliederungshilfe für Behinderte nach §§ 39 ff BSHG a. F.; n. F. §§ 53 ff SGB XII, BVerwGE 37, 87 und vgl. Müller-Dietz 1982, 94 ff; verneint für Taschengeld (OVG Nordrhein-Westfalen, NStZ 1982, 384) und Krankenkostenzulagen, da die Gesundheitsfürsorge von der Vollzugsbehörde sicherzustellen ist, BVerwG ZfStrVo SH 1977, 284; bejaht für ergänzende Hilfen zur Heilbehandlung von Tuberkulose bereits während der Haft für Maßnahmen der Rehabilitation, wie z. B. Wohnungsbeschaffung für die Zeit der Entlassungsvorbereitung, vgl. auch Rdn. 5 zu § 74; zur Übernahme der Mietkosten während der Haftzeit durch den Sozialhilfeträger vgl. auch Rdn. 7 und 12 zu § 72; zum Überbrückungsgeld nach § 51: dieses ist bei der Ge-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
währung von Hilfe zum Lebensunterhalt in voller Höhe bedarfsmindernd zu berücksichtigen, BVerwG NDV 1990, 384, entgegen der Auffassung des Hess VGH ZfStrVo 1987, 115, als Vorinstanz: kein Einkommen i. S. der §§ 76, 77 BSHG a. F.; n. F. §§ 82, 83 SGB XII und damit keine Anrechnung auf Sozialhilfe, aber Vermögen i. S. des § 88 BSHG a. F.; n. F. § 90 SGB XII und somit als „kleiner Barbetrag“ gem. § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG a. F.; n. F. § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII zu bewerten.
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b) Strafvollzugsrecht ist gegenüber dem Sozialhilferecht zumindest insoweit vorrangig, als es um die Finanzierung der persönlichen Bedürfnisse der Strafgefangenen und damit auch um evtl. entstehenden Mehrbedarf geht. Ein Strafgefangener hat auch dann keinen Anspruch auf Weihnachtsbeihilfe im Rahmen des Sozialhilferechts, wenn ihm weder Haus- (§ 47 Rdn. 2) noch Taschengeld zur Verfügung steht (OVG Rheinland-Pfalz ZfStrVo 1982, 55 = NStZ 1982, 220 mit Hinweis, dass für die persönlichen Bedürfnisse der Gefangenen der Strafvollzug aufzukommen habe; ebenso BayVGH ZfStrVo 2000, 180 ff mit Anm. Hammel, vgl. hierzu den Weihnachtsbeihilfe-Fall in Rdn. 9). Die Gewährung von Sozialhilfe in diesen Einzelfällen bezieht sich nur auf den finanziellen Bereich. Die Gewährung persönlicher Hilfe einschließlich der Beratung der Gefangenen obliegt der Zuständigkeit der Vollzugsbehörde. Zur Weihnachtsbeihilfe Schellhorn Rdn. 44 zu § 21 BSHG und Krahmer NDV 1982, 125 mit Nachweisen. Zu beachten ist aber der seit 1.1.2005 geltende Grundsatz, wonach einmalige Leistungen bis auf wenige Ausnahmen in den Regelbedarf einbezogen und damit pauschaliert werden (vgl. § 28 SGB XII).
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c) Bei Ansprüchen von Angehörigen ist allerdings der Sozialhilfeträger gegenüber der Vollzugsbehörde vorrangig verpflichtet. Dies betrifft auch die Übernahme der Fahrtkosten nach den §§ 11 ff BSHG a. F.; n. F. § 27 SGB XII zum Besuch von Angehörigen in den Anstalten. Einen Anspruch auf Übernahme dieser Kosten haben auch Personen, die mit dem Gefangenen in eheähnlicher Gemeinschaft leben (OVG Lüneburg NdsRpfl. 2004, 63 f). Wird die Leistung verweigert und der hilfesuchende Angehörige an Wohlfahrtsverbände verwiesen, haben diese einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen gegen den Sozialhilfeträger. Nur bei tatsächlich und freiwillig gewährter Hilfe eines Wohlfahrtsverbandes ergibt sich das Nachrangprinzip der Sozialhilfe nach § 2 BSHG a. F.; n. F. § 2 SGB XII (insgesamt dazu: Schellhorn Rdn. 7 ff zu § 2 BSHG; Fichtner § 2 SGB XII Rdn. 3, 4, 22 in: Fichtner/Wenzel SGB XII 2009 wegen des Verhältnisses von staatlicher Sozialhilfe und freier Wohlfahrtspflege).
II. Beispiel 9
Der Strafgefangene M., unverschuldet ohne Arbeit in der Vollzugsanstalt R. inhaftiert, beantragt beim Sozialamt R. eine Weihnachtsbeihilfe. Der Antrag wird jedoch abgelehnt. Seine Ehefrau, die in der Stadt O. wohnt, will ihn zu Weihnachten in der Vollzugsanstalt besuchen. Sie beantragt beim Sozialamt O. die Übernahme der Fahrtkosten von der Stadt O. zur Stadt R. Das Sozialamt O. lehnt ab und verweist Frau M. an die Beratungsstelle eines Wohlfahrtsverbandes. a) Das Verwaltungsgericht wies nach erfolglosem Widerspruch die Klage des M. gegen das für die Vollzugsanstalt R. unzuständige Sozialamt R. (vgl. Rdn. 6 zu § 74) auf Gewährung der Weihnachtsbeihilfe ab. Auch die Berufung des M. hatte keinen Erfolg. In der Begründung des OVG Rheinland-Pfalz (ZfStrVo 1982, 55 ff = NStZ 1982, 220) wurde darauf verwiesen, dass nach § 2 Abs. 1 BSHG a. F.; n. F. § 2 SGB XII Sozialhilfe nicht erhalte, wer sich selbst helfen könne oder wer die erforderliche Hilfe von einem anderen erhalte. Dieses das gesamte Sozialhilferecht prägende Nachrangprinzip, das sich auch ein Strafgefangener ent-
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Grundsatz
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gegenhalten lassen müsse, greife hier ein. Denn während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe hätten die Bestimmungen des StVollzG zumindest insoweit Vorrang, als es um die Finanzierung der persönlichen Bedürfnisse des Strafgefangenen und damit auch des anlässlich des Weihnachtsfestes ggf. entstehenden Mehrbedarfs gehe. Das gelte ungeachtet des Umstandes, dass das StVollzG die Gewährung einer Weihnachtsbeihilfe an Strafgefangene nicht vorsehe, da auch § 3 Abs. 1 für sich allein Leistungsansprüche des Strafgefangenen nicht begründen könne. Die Beschränkung des Strafgefangenen auf das Haus- oder Taschengeld stelle eine vom Gesetzgeber gewollte Begrenzung der Mittel dar, die dem Gefangenen zur Verwendung für persönliche Bedürfnisse zur Verfügung stehen sollen. Ein Anspruch auf Weihnachtsbeihilfe entstehe im Rahmen des Sozialhilferechts im Übrigen auch nicht dadurch, dass einem Strafgefangenen weder Haus- noch Taschengeld zur Verfügung stehe; im Ergebnis ebenso BayVGH ZfStrVo 2000, 180 ff m. Anm. Hammel. Soweit Hammel unter Hinweis auf den Beschluss des VG Göttingen vom 23.4.1997 – 2 B 2187/97 – die Auffassung vertritt, das Fehlen einer mit bis zum 31.12.2004 geltendem § 21 Abs. 1 Nr. 7 BSHG vergleichbaren Norm (einmalige Leistung für besondere Anlässe) im StVollzG begründe einen Anspruch auf Zahlung einer Weihnachtshilfe nach BSHG, überzeugt dies nicht. Eine Regelungslücke im StVollzG bei einer vom Inhaftierten nachgesuchten Leistung, die nach dem BSHG jetzt: SGB XII erbracht werden könnte, begründet noch keine Leistungsverpflichtung. Die Annahme, dass dem Vollzugsträger in einem solchen Fall eine unterlassene Leistungserbringung zugerechnet werden muss, die der Sozialhilfeträger als Leistungsverpflichteter zu erfüllen hat, steht im Widerspruch zu dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe, der hier nicht entgegen der Auffassung von Hammel ausgeschaltet werden kann. Im Übrigen hat das ab 1.1.2005 geltende SGB XII in § 28 die einmaligen Leistungen erheblich eingeschränkt, vgl. Rdn. 7. b) Die grundsätzliche Ablehnung des Sozialamts O. der Übernahme der Fahrtkosten für die Angehörigen zum Besuch von M. in der Vollzugsanstalt war fehlerhaft. Das Sozialamt O. hätte die Leistung nicht verweigern und die Angehörigen an Wohlfahrtsverbände verweisen dürfen (vgl. hierzu Rdn. 8).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 74 BayStVollzG als Grundsatznorm zu Beginn des Abschnitts 10 „Soziale und Psy- 10 chologische Hilfe“ ersetzt § 71 Satz 1 StVollzG (vgl. dort Rdn. 2). Sie gibt den Gefangenen keinen Anspruch auf bestimmte Beratungs-, Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen, verpflichtet aber die Anstalt, ein Behandlungsangebot vorzuhalten, das auf ihre Größe und Zuständigkeit zugeschnitten ist (vgl. auch Art. 167). Der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe wird durch eine eigene Vorschrift in Artikel 75, die mit § 71 Satz 2 StVollzG fast wortgleich ist, besonders hervorgehoben (vgl. dort Rdn. 2) Als Art. 26 ist durch eine neue Vorschrift im Hinblick auf die Ergänzung des Abschnitts 10 die Psychologische Behandlung geregelt, die folgenden Wortlaut hat: (2) Die psychotherapeutischen Behandlungsmethoden haben sich an den nach dem Psychotherapeutengesetz anerkannten Verfahren, die sonstigen psychologischen Behandlungsmaßnahmen an den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Behandlung von Straftätern zu orientieren. In der Gesetzesbegründung (S. 71 f) heißt es dazu: „Abs. 1 umschreibt die Voraussetzungen psychologischer Behandlung, ohne den Gefangenen einen Anspruch auf eine bestimmte Behandlungsmaßnahme zu gewähren. Letzteres ergibt sich aus Art. 74. Im Rahmen der
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Behandlungsuntersuchung i. S. d. Art. 8 oder im Laufe des Vollzugs bei der Fortschreibung des Vollzugsplans ist zu prüfen, ob psychologische Behandlungsmaßnahmen angezeigt sind. Jede psychologische oder psychotherapeutische Intervention muss auf einer gründlichen Eingangs- und Verlaufsdiagnostik sowie Prognostik basieren. Sie enthält Informationen über Persönlichkeitsstörungen, klinische Syndrome und spezifische Verhaltensprobleme. Dabei sollen standardisierte Prognoseinstrumente und testpsychologische Verfahren verwendet werden. Zudem sind Behandlungsmotivation und Behandlungsfähigkeit abzuklären. Soweit als möglich sollte sich die Diagnostik auf verschiedene Datenquellen sowie Verhaltensindikatoren stützen. Das gründliche Aktenstudium, möglichst auch der Ermittlungsakten und gegebenenfalls der Vorinhaftierungsakten sowie die Aussage des oder der Gefangenen zur Tat und zu den näheren Tatumständen stellen wichtige Erkenntnisquellen dar. In Abs. 2 werden Standards für die psychologische Behandlung festgelegt, ohne die zur Weiterentwicklung der Behandlung notwendige Methodenvielfalt einzuschränken. Die psychotherapeutischen Behandlungsmethoden haben sich an den nach dem Psychotherapeutengesetz anerkannten Verfahren zu orientieren, wobei auch insoweit die wissenschaftlichen Erkenntnisse speziell über die Behandlung von Straftätern zu berücksichtigen sind, da sich nicht alle nach dem Psychotherapeutengesetz anerkannten Verfahren ohne weiteres auch für eine psychotherapeutische Behandlung im Vollzug eignen werden . . . Andere psychologische Behandlungsmaßnahmen sind unter Berücksichtigung des Stands der Wissenschaft zur Behandlung von Straftätern durchzuführen.“ 2. Hamburg
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Das HmbStVollzG enthält keine in einem besonderen Titel, Kapitel oder Abschnitt aufgeführten Bestimmungen über soziale Hilfen. Der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe wird durch die Vorschrift in § 16 Satz 2 besonders hervorgehoben, wonach die Bereitschaft der Gefangenen, ihre Angelegenheiten soweit wie möglich selbstständig zu regeln, zu wecken und zu fördern ist (vgl. Rdn. 2; zur Einschränkung des Chancenvollzugs die Vorbemerkung vor § 71, Rdn. 5 und Bürgerschafts- Drucks. 19/2533, S. 2). 3. Niedersachsen
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§ 68 NJVollzG als erste Vorschrift des Zehnten Kapitels „Soziale Hilfen, durchgängige Betreuung“ ist in Abs. 1 bis auf die Ergänzung des Hilfebegriffs und die geschlechtsspezifische Differenzierung wortgleich mit § 71 Satz 2 StVollzG. Abs. 2 ist neu und hat folgenden Wortlaut: „Es ist Aufgabe der Vollzugsbehörden, darauf hinzuwirken, dass eine durchgängige Betreuung der Gefangenen sichergestellt ist, die ihnen auch nach der Entlassung hilft, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Abs. 3 ist neu und hat folgenden Wortlaut: „Die Zusammenarbeit mit Stellen und Personen außerhalb des Vollzuges, die besonderen Möglichkeiten dieses Gesetzes für die Entlassungsvorbereitung sowie die Hilfe zur Entlassung sind auf die durchgängige Betreuung auszurichten.“ Abs. 4 ist neu und hat folgenden Wortlaut: „Die Vollzugsbehörden sollen darauf hinwirken, dass die zur durchgängigen Betreuung erforderlichen Informationen über die Gefangenen zwischen ihnen und den nach Absatz 3 zu beteiligenden Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges ausgetauscht werden, soweit dies nach den für die jeweilige Behörde, Person oder Stelle geltenden Vorschriften über den Datenschutz zulässig ist. Soweit für den Datenaustausch nach Satz 1 die Einwilligung der oder des Gefangenen erfor-
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derlich ist, soll sie oder er über die Vor- und Nachteile eines solchen Datenaustauschs aufgeklärt und ermutigt werden, die erforderliche Einwilligung zu erklären.“ Abs. 5 ist neu und hat folgenden Wortlaut: „Die Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges, die in besonderer Weise geeignet sind, an der durchgängigen Betreuung mitzuwirken, sollen über die Vollzugsplanung unterrichtet werden und Gelegenheit erhalten, sich an der Vollzugsplanung zu beteiligen, soweit dies nach Absatz 4 zulässig ist.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, 144 ff) heißt es dazu: „Absatz 1 entspricht in sprachlich vereinfachter Form inhaltlich unverändert dem bislang in § 71 StVollzG enthaltenen Grundsatz für soziale Hilfen. Absatz 2 des Entwurfs ergänzt diesen Grundsatz um die soeben dargestellte Zielsetzung einer durchgängigen Betreuung. Hierauf bereits vor der Entlassung hinzuwirken, ist Aufgabe der Vollzugsbehörden, um die sich anschließende Betreuung durch die sozialen Dienste sicherzustellen. Absatz 3 schreibt vor, dass die bereits bestehenden Verpflichtungen und Möglichkeiten des Gesetzes zur Zusammenarbeit mit anderen Personen und Stellen (vgl. § 174 des Entwurfs, entsprechend § 154 Abs. 2 StVollzG), der Entlassungsvorbereitung (vgl. §§ 18 und 102 des Entwurfs, entsprechend §§ 15 und 124 StVollzG) und der Hilfe zur Entlassung (vgl. § 68 Abs. 3 und § 69 des Entwurfs, entsprechend §§ 74 und 75 StVollzG) in Richtung auf die Zielsetzung nach Absatz 2 auszurichten und zu bündeln sind. Zu Absatz 4: „Eine erfolgreiche Betreuung der Gefangenen durch verschiedene Behörden, Stellen und Personen setzt einen möglichst umfassenden Informationsaustausch voraus. Zwar kann das Land im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz nicht andere Stellen, deren Aufgaben bundesgesetzlich geregelt sind (z. B. die Bewährungshilfe), unmittelbar zu einem Datenaustausch verpflichten. Die Vollzugsbehörden können jedoch verpflichtet werden, im Rahmen des ihnen Möglichen auf eine entsprechende Zusammenarbeit mit Dritten hinzuwirken. Ferner soll es den Vollzugsbehörden zur Aufgabe gemacht werden, die Gefangenen zur Abgabe datenschutzrechtlich notwendiger Einwilligungserklärungen zu bewegen, die eine Vernetzung der vorhandenen Daten erlauben. Dem entspricht die für Absatz 4 vorgesehene Regelung. Auf diese Weise kann auch innerhalb des rechtlich vorgegebenen Handlungsrahmens bereits eine sinnvolle Verknüpfung der verschiedenen vollzuglichen und außervollzuglichen Betreuungsformen erreicht werden. Der gleichen Intention dient die für Absatz 5 vorgesehene Verpflichtung der Vollzugsbehörden, geeigneten Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges im zulässigen Umfang die erforderlichen Informationen über die Vollzugsplanung zukommen zu lassen und ihnen eine Beteiligung daran anzubieten.“
§ 72 Hilfe bei der Aufnahme (1) Bei der Aufnahme wird dem Gefangenen geholfen, die notwendigen Maßnahmen für hilfsbedürftige Angehörige zu veranlassen und seine Habe außerhalb der Anstalt sicherzustellen. (2) Der Gefangene ist über die Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung zu beraten. Schrifttum: s. Vor § 71
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Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–12 1. Beispielfälle der materiellen Versorgung . . . . . . . . . . . . 2 2. Soforthilfen der „Sozialverwaltung“ 3 3. Aufnahmevollzug als Einstiegsphase der Betreuung . . . . . . . 4–8 4. Beratung zur Sozialversicherung 9
5. Rentenversicherung . . . . . . . 10 6. Kranken- und Pflegeversicherung 11 7. Beispiel : Mietkostenfall . . . . . 12 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 13–15 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 14 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 15
I. Allgemeine Hinweise 1
Der Strafantritt ist mit einschneidenden Veränderungen der gesamten Lebenssituation verbunden (K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 7; AK-Bertram-Huchting 2006 § 72 Rdn. 5–7). § 72 berücksichtigt, dass der Gefangene aus seinen sozialen Lebensbezügen herausgerissen worden ist und in aller Regel nicht mehr in der Lage ist, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Der Gefangene selbst ist in dieser Umstellungsphase oft überfordert; nur langsam kann seine stark gebremste Eigeninitiative wieder geweckt und gefördert werden. Dem Gefangenen hierbei behilflich zu sein, ist Sinn dieser Vorschrift.
II. Erläuterungen 2
1. § 72 begründet für die Vollzugsbehörden die Verpflichtung, dem Gefangenen bei der Ordnung seiner Angelegenheiten zu helfen und notfalls die erforderlichen Maßnahmen selbst zu treffen. Was jeweils veranlasst werden muss und welche zuständigen Stellen außerhalb des Vollzugs einzuschalten sind, kann nur im Einzelfall entschieden werden (BTDrucks. 7/918, 75). Das Gesetz nennt beispielhaft die Maßnahmen für hilfsbedürftige Angehörige, die Sicherstellung der Habe des Gefangenen außerhalb der Anstalt und die Beratung über die Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung (wegen § 198 Abs. 3). Der Gesetzgeber hat sich auf wichtige Beispielfälle der materiellen Versorgung beschränkt und bewusst auf eine abschließende Aufzählung verzichtet. Der Grundgedanke der sozialen Hilfe bei der Aufnahme muss aber auch auf sonstige Betreuungserfordernisse erweitert werden (ebenso AK-Bertram/Huchting 2006 Rdn. 12).
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2. Die Hilfe zur Selbsthilfe (§ 71 Rdn. 3) steht auch während der vollzuglichen Eingangsphase im Vordergrund. Gerade im Aufnahmestadium ist von dem sozialen Dienst erhebliche Motivationsarbeit zu leisten, damit sich der Gefangene auf die Vollzugssituation einstellen kann, ohne die Entlassung aus dem Auge zu verlieren. In dieser Phase stehen Soforthilfen der „Sozialverwaltung“ im Blickpunkt; oft lohnt sich ein schnelles und sofortiges Eingreifen, um Schäden materieller und psychischer Art mit Folgewirkung von dem Gefangenen abzuwenden. Eine solche Verbindung von materiellen und personalen Hilfen eignet sich außerdem besonders gut als „Einstiegssituation“ in die gesamte Betreuungsarbeit. Zur Motivierung § 2 Rdn. 11; § 4 Rdn. 4, 7. Zum Beratungsbegriff § 73 Rdn. 11; § 74 Rdn. 2, 4.
4
3. Je nach Einzelfall handelt es sich um folgende Sofortmaßnahmen: Hilfe bei der Erhaltung der Wohnung und der Aufbewahrung von Möbeln (vgl. Rdn. 7) bzw. Verhandlungen zur Sicherung des Arbeitsplatzes; Vereinbarungen mit Gläubigern (vgl. auch Rdn. 7 zu § 73) bei laufenden Zahlungsverpflichtungen (Stundungsabreden); Abklärung bisher er-
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worbener Lohn-, Versicherungs- und Rentenansprüche; Beschaffung von Personal- und Arbeitspapieren; Beratung über Leistungen der Sozialhilfe für Familienangehörige, insbesondere die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40 SGB XII). Speziell zur Übernahme von Schulden: § 34 Abs. 1 SGB XII. Vgl. dazu auch Rdn. 3, 5 zu § 71 und Rdn. 3 zu § 74. Der Bereich dieser Sofortmaßnahmen (in der Praxis leider oft unterschätzt) ist besonders 5 für die spätere Entlassungsvorbereitung unabweisbar notwendig. Was in dieser Phase versäumt wird, kann später nur unter erheblich größeren Schwierigkeiten aufgearbeitet werden (insbesondere die Schuldenregelung; vgl. Rdn. 7 ff zu § 73). Notwendig ist daher schon in diesem Stadium eine systematische Auflistung aller Unterlagen und Informationen, um eine geordnete und gezielte Vollzugsplanung bereits im Aufnahmevollzug zu beginnen und sie als durchgehende Vollzugsmaßnahme konsequent fortzusetzen (vgl. auch § 7 Abs. 2 Nr. 8; dort Rdn. 7). Dies setzt auch den Arbeitskontakt zur Bewährungshilfe und freien Trägern der Straffälligenhilfe voraus, um auf diese Weise unnötige Mehrarbeit der Informationsgewinnung zu vermeiden und – wenigstens ansatzweise – die Betreuung kontinuierlich weiterzugestalten. Bereits in dieser Einstiegsphase können Defizite ermittelt werden, die über den Einsatz von ehrenamtlichen Mitarbeitern bzw. Kursangebote eines Entlassungstrainings wirksam aufgearbeitet werden können (zu dem Inhalt einer Checkliste für ein Aufnahmegespräch: AK-Bertram/Huchting 2006 Rdn. 12). Vgl. auch § 6 Rdn. 16, 22 ff. Bei der Informationsbeschaffung und der Datenübermittlung sind die bereichsspe- 6 zifischen Rechtsgrundlagen für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten in den neu gefassten §§ 179 bis 187 des Fünften Titels des Fünften Abschnittes zu beachten. Die Vollzugsbehörden sind damit in den Stand versetzt, die für Maßnahmen im Vollzug der Freiheitsstrafe notwendigen personenbezogenen Daten auch im Rahmen der Sozialen Hilfe zu erheben, um sachgerechte Entscheidungen treffen zu können. § 179 Abs. 2 Satz 1 enthält den datenschutzrechtlichen Grundsatz, dass personenbezogene Daten bei dem Betroffenen zu erheben sind (§ 179 Rdn. 9). Aus der Eigenart der gesetzlichen Aufgaben des Strafvollzuges kann sich jedoch die Notwendigkeit ergeben, in bestimmten Sachlagen Informationen bei anderen Personen als dem Betroffenen erheben zu müssen. Hierzu gehören beispielsweise Auskünfte über die Wahrnehmungen von Bediensteten über das Verhalten der Gefangenen und Auskünfte von Bezugspersonen über die sozialen Verhältnisse der Gefangenen. Unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 BDSG kann nach § 179 Abs. 2 Satz 2 vom Grundsatz der Erhebung bei dem Betroffenen abgewichen werden. Ein Anwendungsfall, in dem die zu erfüllende Vollzugsaufgabe ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich macht, kann beispielsweise die Fallgestaltung sein, dass entsprechende Informationen bei den Gefangenen selbst nicht zu erhalten sind oder Zweifel an der Richtigkeit der Angaben bestehen (vgl. auch § 179 Rdn. 11). Hinsichtlich der üblichen Verpflichtung zur Angabe des Erhebungszweckes und der Benennung eines Rechtsgrundes bestehen im Vollzug keine bereichsspezifischen Besonderheiten. § 179 Abs. 2 Satz 2 verweist daher bezüglich der Hinweis- und Aufklärungspflichten auf die Regelung des § 13 Abs. 3 und 4 BDSG. Als gesetzliche Regelung zur Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten ist § 180 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 als Rechtsgrundlage für die Datenweitergabe von Amts wegen für die Soziale Hilfe sowie die Entlassungsvorbereitung von besonderer Bedeutung. Abs. 4 Nr. 1 regelt die Übermittlung personenbezogener Daten, soweit dies u. a. für Maßnahmen der Gerichtshilfe, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht erforderlich ist (§ 180 Rdn. 26). Zugleich ergänzt die Regelung in Nr. 1 im Hinblick auf die Führungsaufsicht die Auskunftspflicht nach § 463a StPO, soweit sich die Mitteilung nicht auf die Überwachung des Verurteilten oder die Erfüllung von Weisungen, sondern auf die Hilfe oder Betreuung (§ 68a Abs. 2 StGB) bezieht.
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Nr. 4 betrifft die Entscheidungen über Leistungen, die mit der Aufnahme in einer Justizvollzugsanstalt entfallen oder sich mindern und Nr. 5 die Einleitung von Hilfsmaßnahmen für Angehörige des Gefangenen. Die Vollzugsbehörden sind damit in die Lage versetzt, Mitteilungen, zu denen Gefangene aufgrund des SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende), des SGB XII (Sozialhilfe) oder anderer Gesetze verpflichtet sind, an ihrer Stelle vorzunehmen. Aus der Vollzugspraxis ist auf die Notwendigkeit solcher Mitteilungen hingewiesen worden, die vermeiden sollen, dass durch ein Versäumnis der Gefangenen Situationen entstehen, die ihre Wiedereingliederung erschweren. Nach der Grundsatznorm des § 71 sollte die Vollzugsbehörde aber bemüht sein, die Einwilligung des Betroffenen zu erhalten, da die Auskunftserteilung und Datenübermittlung auch in seinem Interesse liegt (z. B. bei der Geltendmachung von Leistungsansprüchen).
7
a) Zu den notwendigen Maßnahmen i. S. von § 72 kann es auch gehören, dem Inhaftierten die Wohnung zu erhalten. Nach § 4 Abs. 1 der „Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ (DVO zu §§ 67 ff SGB XII) sind Maßnahmen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung vor allem die erforderliche Beratung und persönliche Unterstützung (zur Entlassungsvorbereitung vgl. Rdn. 6 zu § 74). Die Hilfe kann nach Abs. 2 aber auch sonstige Leistungen zur Erhaltung einer Wohnung insbesondere nach § 34 SGB XII umfassen. Wohnungsbeschaffungskosten und Mietkautionen sind in § 29 Abs. 1 Satz 7 SGB XII ausdrücklich benannt. Die Hilfe ist zwar eine Freiwilligkeitsleistung und soll gewährt werden, wenn sie gerechtfertigt und notwendig ist und ohne sie Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Der für die Vollzugsanstalt zuständige örtliche Sozialhilfeträger (vgl. Rdn. 7 zu § 74) hat auch ein Ermessen darüber, ob er die Mietkosten durch die Gewährung einer Beihilfe oder eines Darlehens übernehmen will. Zur Sozialhilfe für Strafgefangene und deren Angehörige: Brühl 1986, 291 sowie Rdn. 8 ff zu § 71. Vgl. das Beispiel unter Rdn. 12. Zur örtlichen Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers Rdn. 8 zu § 74. Sind Angehörige vorhanden, haben diese einen eigenen Anspruch auf Sozialhilfe (s. auch Rdn. 8 zu § 71), der nicht von dem des unterhaltspflichtigen Inhaftierten abgeleitet ist; hier werden in der Regel die Unterkunftskosten schon im Rahmen der Hilfe für diese Angehörigen erbracht (vgl. Schellhorn 1978, 18). Im Rahmen der Hilfe nach § 34 SGB XII können aber auch die Kosten für die Beibehaltung von Mietwohnungen für Insassen von Justizvollzugsanstalten getragen werden, um die Unterkunft für die Zeit nach der Haftentlassung zu sichern (BayVGH ZfStrVo 1981, 243 im Fall einer neunmonatigen Freiheitsstrafe; VG Münster ZfStrVo 2003, 379 ff: Finanzierung der Wohnung eines Untersuchungsgefangenen im Wege der Sozialhilfe wegen der ungewissen Dauer des Aufenthalts in der Haft). Als gerechtfertigt kann die Kostenübernahme zur Beibehaltung einer Wohnung bei kurzfristigem Freiheitsentzug angesehen werden, Wenzel § 34 SGB XII Rdn. 6 m. w. N. in: Fichtner/Wenzel SGB XII 2009; a. A. OVG Berlin FEVS 27, 142, 145; bei längerfristigem Freiheitsentzug müssen besondere Umstände hinzukommen, wie z. B. besonders günstige Resozialisierungschancen, Angemessenheit der Kosten durch Vermeidung höherer Kostenbelastung durch Einlagerung: einschränkend OVG Sachsen FEVS 49, 77 ff; OVG Hamburg NJW 2000, 1587 bei absehbaren Zeitraum der Inhaftierung, ebenso Berlit in LPK-SGB XII § 29, Rdn. 16, der bei Verbüßung einer Freiheitsstrafe allenfalls Leistungen zur Sicherung einer angemessenen Unterkunft und damit zur Vermeidung drohender Wohnungslosigkeit (§ 34 Abs. 1 SGB XII) annimmt; zur Dauer einer übergangsweisen Leistungsgewährung zur Beibehaltung der Unterkunft an Inhaftierte LSG Niedersachsen-Bremen v. 22.9.2005, FEVS 57, 531).
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Die in § 98 Abs. 4 SGB XII enthaltene Zuständigkeitsvorschrift für die Hilfe an Personen in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung zeigt, dass bei Strafgefangenen ein wesentlicher Aspekt der Hilfe die Übernahme der Kosten zur Erhaltung der Wohnung sein kann. In der Regel wird diese Hilfe als Kann-Leistung in Betracht kommen, sodass als Rechtsgrundlage auch § 68 SGB XII in Betracht kommt. Allerdings muss die Maßnahme sinnvoll und wirtschaftlich vertretbar sein (Schellhorn in SGB XII Kommentar 17. Aufl. Rdn. 11 zu § 68). Voraussetzung ist dabei, dass die Miete im Hinblick auf Größe und Entgelt sozialhilferechtlich angemessen ist (OVG Bautzen, FEVS 49, 77), vgl. zur Entlassungsvorbereitung Rdn. 5 zu § 74. Diese Grundsätze gelten auch für die Aufbewahrung von Möbeln (besonders wichtig bei kurzzeitigem Freiheitsentzug), vgl. OVG Lüneburg ZfStrVo 2002, 119 ff: auch bei einem Zeitraum von mehr als sechs Monaten Haft zur „Sicherung der Unterkunft“ i. S. d. §§ 29, 34 SGB XII für die Übernahme der Kosten durch Träger der Sozialhilfe, die durch die Aufbewahrung von Möbeln und sonstiger Habe während der Haftzeit entstehen; Kosten für die Unterstellung von Möbeln und sonstiger Habe rechnen zu den Wohnungserhaltungskosten, so OVG NI 4.12.2000, FEVS 52, 274, a. A. Berlit in LPK-SGB XII § 29 Rdn. 16). b) Es gehört nicht zu den Amtspflichten der Vollzugsbediensteten, sich allgemein um 8 die Vermögensinteressen eines Gefangenen zu kümmern, da ihm dies nach § 72 in erster Linie selbst obliegt. Hat es aber die Anstalt übernommen, sich um das Gepäck eines Gefangenen zu kümmern, muss sie dies in absehbarer Zeit tun, allerdings unter angemessener Berücksichtigung der sonstigen Aufgaben des zuständigen Sozialarbeiters (OLG Braunschweig ZfStrVo 1979, 190); Aufwendungen zur Sicherstellung der Habe hat die Anstalt wenigstens dann nicht zu tragen, wenn der Gefangene zunächst genügend eigene Geldmittel zur Verfügung hatte (OLG Hamburg ZfStrVo 1989, 249). 4. Der Gefangene hat nach § 72 Abs. 2 i. V. mit §14 SGB I einen Rechtsanspruch auf Be- 9 ratung über die Aufrechterhaltung einer Sozialversicherung. Im Einzelnen geht es um die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung (§§ 21 bis 23 SGB I). Da die Beratung mehr bedeutet als bloße Aufklärung und Auskunft und entscheidend abhebt auf die „Aufnahmefähigkeit“ bzw. den („Empfängerhorizont“), wird nicht in allen Fällen eine formularmäßige Belehrung mit Aushändigung des Merkblatts über die Sozialversicherung und die Arbeitslosenversicherung der Gefangenen (Vordruck VG 7) den Anforderungen genügen. Es empfiehlt sich, zumindest den Punkt „Auskunftsstellen“ in einem persönlichen Beratungsgespräch zu erläutern und besonders auch Beratungsgespräche mit den dafür zuständigen Leistungsträgern (Rentenversicherungsträger, Ortskrankenkassen, Ersatzkassen, Arbeitsämter, Versicherungsämter) zu ermöglichen und die Anschriften und Sprechzeiten bekannt zu geben (vgl. dazu auch Rdn. 4 zu § 74). Der Gefangene ist verpflichtet, sich auch selbst um ihn betreffende Gesetzesänderungen im Rentenrecht zu kümmern. Die Anstalt kommt auf jeden Fall ihrer Fürsorgepflicht in ausreichendem Maße nach, wenn sie in einem Merkblatt auf die zuständigen Auskunftsstellen in Rentenangelegenheiten hinweist und der Hafturlaub zum Zwecke der weiteren Information bei der Rentenstelle gewährt wird. 5. Das BVerfG hat in dem Urteil zur „Gefangenenentlohnung“ vom 1.7.1998 (vgl. dazu 10 Rdn. 2 vor § 71) die Nichteinbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung als verfassungsgemäß bewertet. Der Gesetzgeber verfüge bei der Ausgestaltung der Sozialordnung (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) über eine Gestaltungsmacht, Art und Umfang sozialer Sicherungssysteme und den Kreis der hierdurch berechtigten Personen nach sachgerechPeter Best
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ten Kriterien zu bestimmen. Das Gebot einer sozialversicherungsrechtlichen Gleichstellung der Pflichtarbeit mit freier Erwerbsarbeit sei weder aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot noch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs.1 GG) abzuleiten. Im Rahmen der angemessenen Anerkennung der geleisteten Arbeit sei der Gesetzgeber aber frei, die Gefangenen in den Schutz der sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen, wenngleich das Grundgesetz nicht zu einer Ausdehnung dieses Schutzes auf Pflichtarbeit im Strafvollzug zwinge. Ob und inwieweit der Gesetzgeber künftig bei der Ausgestaltung dieses Resozialisierungskonzeptes sozialversicherungsrechtliche Elemente berücksichtigen wird, ist offen. Daher kommt der Beratungsaufgabe erhöhte Bedeutung zu. Mit einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung besteht die Möglichkeit, die Mindestversicherungsdauer für einen Rentenanspruch zu erfüllen oder einen Rentenanspruch zu erhöhen. Zur freiwilligen Versicherung ist grundsätzlich jeder berechtigt, der das 16. Lebensjahr vollendet hat und nicht versicherungspflichtig ist. Versicherte, die vor dem 1.1.1984 die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren erfüllt und jeden Kalendermonat in der Zeit vom 1.1.1984 bis zur Inhaftierung mit einer rentenrechtlichen Zeit belegt haben, können sich die Anwartschaft für eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit durch regelmäßige Zahlung von freiwilligen Beiträgen erhalten.
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6. Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch die Krankenversicherung freiwillig fortgesetzt werden (§ 9 SGB V). Dies empfiehlt sich insbesondere für Gefangene mit Familienangehörigen, die nicht anderweitig gegen Krankheit versichert sind. Für den Gefangenen selbst ruht der Anspruch auf Leistungen aus der freiwilligen Weiterversicherung für die Dauer der Haft (§ 16 SGB V). Hat der Gefangene keine Mittel zur Weiterversicherung und sind seine Angehörigen im Krankheitsfall auf Sozialhilfe angewiesen, empfiehlt es sich, das Sozialamt der Heimatgemeinde – ggf. durch Vermittlung der Vollzugsanstalt – zu bitten, die Zahlung der Versicherungsbeiträge für die Zeit der Inhaftierung zu übernehmen. Auch bei der Pflegeversicherung besteht die Möglichkeit der Weiterversicherung. Hierzu kann auch das Überbrückungsgeld (§ 51) in Anspruch genommen werden. Zum Nachweis der Versicherungspflicht im Rahmen der Arbeitslosenversicherung hat bei der Entlassung in die Freiheit die Anstalt dem Gefangenen eine Bescheinigung über die Zeiten auszustellen, in denen er innerhalb des durch § 312 Abs. 4 SGB III bestimmten Zeitraums als Gefangener nach § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III versicherungspflichtig war (vgl. hierzu und zu den umfassenden gesetzlichen Änderungen Rdn. 4 ff zu § 74). 7. Beispiel
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Der Strafgefangene N. verbüßt in der Vollzugsanstalt L. eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Seine Wohnung in seinem Wohnort H. hat er beibehalten. Er will wissen, welches Sozialamt zuständig ist und ob die Mietkosten übernommen werden können. Die örtliche Zuständigkeit des Sozialamtes ergibt sich aus. § 97 SGB XII und §§ 29, 34 SGB XII i. V. mit § 4 der „Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ (DVO zu §§ 67 ff SGB XII). Zu den Einzelheiten: vgl. Rdn. 6 zu § 74. Sind Angehörige vorhanden, haben diese einen eigenen Anspruch auf Sozialhilfe, der nicht von dem unterhaltspflichtigen Inhaftierten abgeleitet ist; hier werden in der Regel die Unterkunftskosten schon im Rahmen der Hilfe für diese Angehörigen erbracht. Nach § 34 Abs. 1 Satz 3 SGB XII steht es im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Sozialhilfeträgers, ob er die Mietkosten durch die Gewährung einer Beihilfe oder eines Darlehens zur Erhaltung der Wohnung übernehmen will. Im Rahmen der Hilfe nach § 34 SGB XII können
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aber auch die Kosten für die Beibehaltung von Mietwohnungen für Insassen von Justizvollzugsanstalten getragen werden, um die Unterkunft für die Zeit nach der Haftentlassung zu sichern. Als gerechtfertigt kann die Kostenübernahme zur Beibehaltung einer Wohnung bei kurzfristigem Freiheitsentzug (hier: sechs Monate) angesehen werden; bei längerfristigem Freiheitsentzug müssen besondere Umstände hinzukommen, wie z.B. besonders günstige Resozialisierungschancen, Angemessenheit der Kosten durch Vermeidung höherer Kostenbelastung durch Einlagerung. Die in § 98 Abs. 4 SGB XII enthaltene Zuständigkeitsvorschrift für die Hilfe an Personen in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung zeigt, dass bei Strafgefangenen ein wesentlicher Aspekt der Hilfe die Übernahme der Kosten zur Erhaltung der Wohnung sein kann. In der Regel wird diese Hilfe als Kann- Leistung in Betracht kommen, sodass als Rechtsgrundlage auch § 68 SGB XII in Betracht kommt. Allerdings muss die Maßnahme sinnvoll und wirtschaftlich vertretbar sein Voraussetzung ist dabei, dass die Miete im Hinblick auf Größe und Entgelt sozialhilferechtlich angemessen ist (vgl. Rdn. 7).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 77 BayStVollzG ist inhaltsgleich mit § 72 StVollzG. 2. Hamburg
Das HmbStVollzG enthält keine in einem besonderen Titel, Kapitel oder Abschnitt zu- 14 sammengefassten Bestimmungen über soziale Hilfen. Am ehesten entspricht § 16 Satz 2 dem Sinngehalt dieser Vorschrift (siehe III zu § 71). 3. Niedersachsen § 69 Abs. 1 NJVollzG („Hilfen im Vollzug“) ist nahezu wortgleich mit § 72 StVollzG bis 15 auf die geschlechtsspezifische Differenzierung. Abs. 2 entspricht in veränderter Form mit Ergänzungen weitgehend dem § 73 StVollzG (vgl. dort). Abs. 3 entspricht in veränderter Form mit Ergänzungen und Abänderungen weitgehend dem § 74 StVollzG (vgl. dort).
§ 73 Hilfe während des Vollzuges Der Gefangene wird in dem Bemühen unterstützt, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen, namentlich sein Wahlrecht auszuüben sowie für Unterhaltsberechtigte zu sorgen und einen durch seine Straftat verursachten Schaden zu regeln. Schrifttum: s. Vor § 71
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Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Ausübung des Wahlrechts . . . 2. Pflichten . . . . . . . . . . . . a) zur Sorge für die Unterhaltsberechtigten . . . . . . . . . b) zur Wiedergutmachung des Schadens . . . . . . . . . . 3. Schuldenregulierung . . . . . a) Bedarfslage . . . . . . . . . b) Methodische Ansätze . . . . c) Arbeitsweise der Resozialisierungsfonds . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
. . . .
1 2–16 2–3 4–6
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. . . .
6 7–15 7–8 9
d) Aufgabe für die Sozialarbeit . . 11 e) Entschuldungshilfe im Vollzug 12 f) Schuldenbereinigung nach dem neuen Insolvenzrecht . . . . . 13 g) Erteilung von Auskünften an Verletzte einer Straftat . . . . 14 h) Pfändung von Forderungen . . 15 4. Beispiel: Familienseminar-Fall . . 16 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 17–19 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 18 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 19
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I. Allgemeine Hinweise 1
Der in § 73 festgelegte Rechtsanspruch betrifft die soziale Hilfe während des Vollzugs. Inhaltlich konkretisiert er die Grundsatznorm des § 71 (dort Rdn. 1) für die Hauptphase des Vollzugsaufenthalts; äußerlich beschränkt er sich auf die Unterstützung der Gefangenen, ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen zu können. Wegen des weiten Tätigkeitsfeldes der sozialen Hilfe hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, Einzelmaßnahmen zu benennen und – als Mindestverpflichtung der Anstalt (C/MD 2008 Rdn. 1) – einige besonders bedeutsame Hilfen hervorgehoben: das Wahlrecht, die Unterhaltspflicht und die Pflicht zur Regelung des durch die Straftat verursachten Schadens. Damit sind Hilfen erwähnt, die zeitlich über die Haft hinausreichen. Zur Stellung der Gefangenen als Staatsbürger vgl. § 4 Rdn. 1. Der Gesetzgeber hat es der Methodik der Sozialarbeit überlassen, im Einzelfall wirkungsvoll Beistand zu leisten (BT-Drucks. 7/918, 75). Auch bei der Umsetzung dieser Aufgaben ist der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge als Koordinator, Vermittler und Gestalter gefordert (vgl. auch Rdn. 3 vor § 71).
II. Erläuterungen 2
1. Zu den besonders hervorgehobenen Rechten, bei deren Durchsetzung die Gefangenen zu unterstützen sind, gehört das Wahlrecht (ausführlich mit Nachw. Kretschmer 2002, 131 ff). Die allgemeinen Voraussetzungen zur Ausübung des aktiven Wahlrechts sind in § 12 BWG (BundeswahlG) geregelt. Nach § 12 Abs. 4 Nr. 3 BWG gilt für die im Vollzug gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung befindliche Personen sowie für andere Untergebrachte die Anstalt oder die entsprechende Einrichtung als Wohnung i. S. d. Gesetzes, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland keine Wohnung innehaben. Die Anstalt hat zunächst eine Informationspflicht zur Ausübung des Wahlrechts, insbesondere zur Abwicklung der Briefwahl. Sie muss den Gefangenen unter Beachtung der wahl-, melde- und datenschutzrechtlichen Vorschriften (insbesondere bei Befragung der Gefangenen, ob sie an der Wahl teilnehmen wollen oder nicht) die Wahl ermöglichen und sie unterstützen, dass sie am Wahltag ihre Stimme abgeben können. Deshalb hat sie bereits dafür zu sorgen, dass die Gefangenen eine Wahlbenachrichtigung erhalten. Ggf. muss ihnen geholfen werden, die dafür notwendigen Formalitäten zu erledigen. Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts ist, dass der Wahlberechtigte in ein Wählerverzeichnis eingetragen ist oder einen Wahlschein hat. § 16 Abs. 2 Nr. 1c) BWO (BundeswahlO)
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regelt, dass die Wahlberechtigten, die sich in einer Justizvollzugsanstalt oder entsprechenden Einrichtung befinden und nicht nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 BWO von Amts wegen in das Wählerverzeichnis einzutragen sind, auf Antrag in ein solches eingetragen werden. Hintergrund für diese Regelung sind die melderechtlichen Vorschriften der Länder. Die amtlichen Informationen (Merkblätter) der Landeswahlleiter sind rechtzeitig zu verteilen, die Anträge auf Erteilung eines Wahlscheins und die abgegebenen Wahlbriefe unverzüglich abzusenden. Zu den Portokosten vgl. VV zu § 28. Allerdings können Wahlbriefe nach § 36 BWG unentgeltlich eingeliefert werden. Die Kosten trägt im Fall von Bundestagswahlen der Bund. Auch bei Landtagswahlen tragen üblicherweise die Länder entsprechend den Vorschriften in der Landswahlordnung (LWO) das Porto für die Anforderung der Briefwahlunterlagen und für die Wahlbriefe (vgl. § 41 Abs. 6 LWO Baden-Württemberg). Notfalls hat die Anstalt mit der zuständigen Gemeindebehörde abzuklären, ob ein beweglicher Wahlvorstand eingesetzt wird „bei entsprechendem Bedürfnis“ (vgl. z. B. § 57 Nds. LWO für die Landtagswahl). In diesem Fall stellt die Anstalt einen Wahlraum bereit, gibt den Wahlberechtigten mit einem für den Wahlkreis gültigen Wahlschein Ort und Zeit der Stimmabgabe bekannt und sorgt dafür, dass sie zur Stimmabgabe den Wahlraum aufsuchen können. Die Vollzugsbehörde ist allerdings nicht verpflichtet, zuzulassen, dass in den Anstalten Wahlkampf betrieben wird (SA, BT-Drucks. 7/3998, 30). Deshalb können die Gefangenen z. B. nicht verlangen, dass die Anstaltsleitung für Informationen über die Wahlbewerber oder die zur Wahl stehenden Parteien sorgt. Denn die hierfür erforderlichen Informationen können sie sich durch Zeitungen und Zeitschriften (§ 68), Rundfunk und Fernsehen (§ 69) selbst beschaffen. Bewährt hat sich aber die Praxis, Wahlveranstaltungen der Parteien in den Anstalten in Form gemeinsamer Podiumsdiskussionen durchzuführen. Gegen gesonderte Wahlveranstaltungen einzelner Parteien bestehen allerdings Bedenken – in Rechtsanalogie insbesondere zu § 74 Abs. 2 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz. Die Ausübung des Wahlrechts bezieht sich nur auf das aktive Wahlrecht (LG Hamburg 3 ZfStrVo 1979, 63; C/MD 2008 Rdn. 2) und nicht auf das passive Wahlrecht, d. h. die Wählbarkeit (dafür: AK-Bertram/Huchting 2006 Rdn. 12); offen gelassen bei OLG Celle (ZfStrVo 1981, 125). Durch § 73 werden die §§ 11 und 13 nicht berührt. Dementsprechend kommen eine Ausführung, ein Ausgang und ein Urlaub für Zwecke der Wahl nur dann in Betracht, wenn keine Missbrauchs- oder Fluchtgefahr besteht. Dies gilt auch für die Gewährung von Urlaub oder Ausgang aus wichtigem Anlass nach § 35 (OLG Celle ZfStrVo 1981, 125). Für die Ausübung des aktiven Wahlrechts (z. B. zum Besuch von Wahlveranstaltungen außerhalb der Anstalt) sind die allgemeinen Vorschriften über Urlaub, Ausgang usw. ebenfalls heranzuziehen (SA, BT-Drucks. 7/3998, 30). Dies gilt auch für die Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen zur Ausübung eines passiven Wahlrechts (z. B. Bewerbung von Strafgefangenen um ein Bundestags-, Landtagsmandat oder Mandat im kommunalen Bereich). Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) wird zwar bei der Ausübung des passiven Wahlrechts dadurch eingeschränkt, dass Strafgefangene faktisch daran gehindert werden, sich in gleicher Weise wie andere Wahlbewerber um eine Kandidatur zu bemühen. Diese Einschränkung ist jedoch durch einen zwingenden, gegenüber dem Demokratieprinzip und dem passiven Wahlrecht gleichgewichtigen Grund (Sicherung des staatlichen Vollzugsbedürfnisses, Verhinderung weiterer Straftaten zum Schutz der Allgemeinheit, vgl. § 11 Abs. 2) gerechtfertigt (BVerfG NStZ 1982, 83 = GA 1982, 37). Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung klargestellt, dass auch das in Art. 48 Abs. 1 GG garantierte Recht des Bundestagskandidaten auf den zur Vorbereitung seiner Wahl notwendigen Urlaub keine andere Beurteilung zulässt: Art. 48 Abs. 1 GG beziehe sich nur auf Personen, die anderen gegenüber öffentlich- oder privatrechtliche Dienst-
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pflichten hätten und daher „Urlaubsberechtigte“ seien, nicht dagegen auf Strafgefangene. Auch Art. 48 Abs. 2 GG entfalle als Prüfungsmaßstab der in § 11 Abs. 2 normierten Beschränkungen: sein Anwendungsbereich werde nur durch Regelungen berührt, die die Übernahme (oder Ausübung) des Abgeordnetenmandats erschweren oder unmöglich machen sollen. Für Art. 48 Abs. 2 GG unerheblich seien solche Regelungen, die in eine andere Richtung zielen und nur unvermeidlicherweise die tatsächliche Folge der Wirkung einer Beeinträchtigung der Freiheit der Mandatsübernahme (oder -ausübung) hätten (BVerfG NStZ 1982, 83). Vgl. § 13 Rdn. 13. Die Frage, ob sich die den Gefangenen nach § 73 zu gewährenden Hilfen auch auf das passive Wahlrecht beziehen, hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung offen gelassen (bejahend Jekewitz GA 1981, 433 ff, der aber auch von einer auf die Dauer der Strafhaft beschränkten „faktischen Wahrnehmungssperre“ ausgeht: die Voraussetzungen für die Gewährung von Vollzugs-lockerungen sind der allgemeine Vorbehalt; die Ermessensentscheidung muss im Einzelfall unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit erfolgen).
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2. Die neben dem Wahlrecht genannten Pflichten beziehen sich vorwiegend auf finanzielle Angelegenheiten: die Erfüllung der Unterhaltspflichten und die Begleichung der Straftatschulden. Wegen der bisher äußerst geringen Höhe des Arbeitsentgeltes bzw. der Ausbildungsbeihilfe kann diese gesetzliche Zielvorgabe nur in wenigen Einzelfällen verwirklicht werden (§ 200 Rdn. 3; zu den Auswirkungen des Urteils des BVerfG vom 1.7. 1998 – NJW 1998, 3337 – vgl. Rdn. 1 vor § 71). Das sollte die Anstalt aber nicht hindern, das Verantwortungsgefühl des Gefangenen für diesen Bereich zu entwickeln. Wichtige Vorarbeiten können geleistet, finanzielle Folgewirkungen negativer Art verhindert werden (s. Rdn. 7; Rdn. 4 ff zu § 72). Zur Strategie der Aktivierung vgl. Rdn. 4 vor § 71.
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a) Zur Unterstützung der Gefangenen bei der Sorge für ihre Unterhaltsberechtigten gehört eine umfassende Beratung über die Sozialleistungsansprüche (dazu Rdn. 3 zu § 74). Praktische Umsetzung dieser Hilfe wird in vielen Fällen nur durch die Familienarbeit freier Verbände und ehrenamtlicher Mitarbeiter vor Ort erreicht (zu der Kostenfrage von Besuchsfahrten vgl. Rdn. 8 zu § 71; zur Sozialhilfe für Angehörige von Strafgefangenen vgl. Rdn. 8 zu § 71).
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b) Bei der Pflicht zur Wiedergutmachung hat der Gesetzgeber ausdrücklich hervorgehoben, dass diese Rücksichtnahme auf die Belange der Opfer von Straftaten nicht nur allgemeine Bedeutung hat, sondern auch dem Behandlungsziel (§ 2 Rdn. 10 ff) dient: neben einem Abbau der Schulden soll den Gefangenen die Einsicht in die Folgen ihrer Tat für das Opfer geweckt werden (BT-Drucks. 7/918, 75). Der Pflicht der Gefangenen steht die Verpflichtung der Vollzugsbehörde gegenüber, sie im Rahmen der Entlassungsvorbereitung bei der Ordnung ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beraten (§ 74 Satz 1). Aus dem Gesamtzusammenhang beider Vorschriften ergibt sich die Aufgabe der Entschuldungshilfe; vgl. Rdn. 7. Die Opferperspektive sollte während der gesamten Inhaftierungszeit thematisiert werden. Aus dem in § 2 StVollzG geregelten Vollzugsziel, wonach die Gefangenen im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden sollen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, erwächst die Aufgabe, auch Täter-Opfer-Aspekte als Lernfeld sozialer Verantwortung in den Behandlungsvollzug einzubeziehen. Diese Aspekte sollten nicht nur im Rahmen der sozialtherapeutischen Behandlung von Gewalttätern und Sexualstraftätern berücksichtigt werden. Das gesamte Vollzugsgeschehen hat sich mit diesem neuen kriminalpolitischen Paradigma zu befassen, da durch solche aktiven Ausgleichsbemühungen zur Wiedergutmachung die Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung ver-
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ringert und das Sicherheitsgefühl erhöht werden können. Ansatzweise sind bereits freiwillige gemeinnützige Arbeitseinsätze von Gefangenen im Umfeld von Anstalten erprobt worden. Dies entspricht auch der Zielsetzung eines chancenorientierten Behandlungsvollzugs; vgl. Rdn. 4 vor § 71. Der Anwendungsbereich solcher z. T. symbolischer – Ausgleichsbemühungen wird aber während der Freiheitsentziehung erheblich geringer sein als in Freiheit, wo der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) inzwischen als Instrument der Kriminalpolitik allgemein anerkannt ist. Hier kann die Berücksichtigung der Interessen von Tatopfern insbesondere im Rahmen von Lockerungs- und Urlaubsentscheidungen sowie bei Maßnahmen der Schuldenregulierung Bedeutung erlangen. Die Möglichkeiten eines Täter-OpferAusgleichs während des laufenden Strafvollzuges sollten zum festen Bestandteil der Vollzugspraxis gehören. Ziel sollte sein, das Thema in den Vollzugsalltag zu integrieren und eine innere Auseinandersetzung der Gefangenen mit der Opferperspektive zu fördern und zu fordern (vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 165 ff; Bannenberg/Rössner 2002; Finger 2002, 517 f: aus nds. Sicht für eine Neuorganisation unter Einbeziehung des Vollzugs; Hartwig 1991, 106; Kawamura 1994, 3; Kerner 1998; Rixen 1994, 215; Walther 2002; Wandrey/Delattre 1995 und wegbereitend für diese Entwicklung Wulf 1985, 67 ff; zur Sicht der Inhaftierten Gabriel/Müller/Oswald 2002, 141 ff; Art 78 BayVollzG und § 69 Abs. 2 Satz 3 NJVollzG, vgl. dazu III. 1 und 3). 3. a) Die Schuldenregulierung ist lebenspraktische Hilfe zur Rückfallverhütung 7 (K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 202 und § 13 Rdn. 23 sowie K/S-Kaiser 2002 § 4 Rdn. 13). Ihre Bedeutung wird leider in der Vollzugspraxis vielfach völlig verkannt. Dabei wächst gerade der Schuldenberg während des Vollzugsaufenthalts erheblich an: fast 3/4 aller Strafgefangenen haben erhebliche Schulden zwischen 500 und 25.000 Euro; rund die Hälfte ist mit einem Schuldenberg von mehr als 5.000 Euro verschuldet (vgl. dazu für Anfang der 1980 er Jahre Zimmermann 1981, 12 ff, 40 ff, 56 ff; Kühne 1982, 203 ff; aktuell dazu Böhm 2003 Rdn. 210). Da an der Spitze der Gläubiger inzwischen Kreditinstitute/Finanzierungsbüros/InkassoBüros und Geschäftsbanken liegen, steigern sich die Schulden durch zusätzlich aufgelaufene Zinsen in vielen Fällen bis zum doppelten Betrag. In einer 1981 in Niedersachsen durchgeführten Gefangenenbefragung wurde die Ver- 8 schuldung als das zentrale Zukunftsproblem für die Zeit nach der Entlassung ermittelt. Als Gründe wurden angegeben: „Pfändungswettlauf der Gläubiger“ mit ständigen Vollstreckungsversuchen beim Arbeitgeber, verminderte Chancen bei der Arbeitsplatzsuche bzw. Gefährdung des Arbeitsplatzes (Drittschuldnersituation des Arbeitgebers bei Lohnpfändungen). Die Probleme um die Verschuldungsfolgen werden von den Gefangenen umso bewusster erlebt, je näher der Entlassungstermin rückt; beklagt wird allerdings der geringe Umfang der Entschuldungshilfe innerhalb des Vollzugs (mit Diskussion von Lösungswegen: Zimmermann 1981, 110 ff, 121 ff). Besonders aus den Erfahrungen mit Rückfalltätern ergibt sich, dass die im Vollzug eingeleiteten Ausbildungs-, Fortbildungs- und Arbeitsvermittlungsmaßnahmen „leer laufen“, wenn das Schuldenproblem ungelöst bleibt. Zum Verbraucherinsolvenzverfahren vgl. Rdn. 13. b) Als methodische Ansätze der Schuldenregulierung (Best 1981a, 333 f) unterscheidet 9 man die Einzelregulierung (traditionelle Form der ratenweisen Abzahlung nach einem festgelegten Tilgungsplan mit Eigenmitteln) und die Gesamtsanierung (sofortige Tilgung sämtlicher Schulden durch den Einsatz eines Darlehens bei Teilverzicht der Gläubiger). Beide Ansätze können miteinander kombiniert werden, doch setzt sich die Gesamtsanierung immer stärker durch, da gerade der Konsumentenkreditmarkt als Hauptgläubigergruppe zu erheblichen Nachlässen bereit ist (bis zu 70 % – auch nach Beginn des Zwangsvollstreckungsverfahrens, vgl. Rdn. 12).
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c) Nach dem methodischen Ansatz der Gesamtsanierung arbeiten privatrechtlich organisierte Fonds (Nachweise bei Seebode 1983, 174), die zum Teil selbst Darlehen vergeben bzw. Bürgschaften für zinsgünstig gewährte Darlehen öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute übernehmen. Durch die Resozialisierungsfonds mehrerer Landesjustizverwaltungen konnten bisher hohe Schuldensummen mit einem Kreditvolumen von ca. 30 % dieser Summe abgelöst werden (bei durchschnittlich guter Zahlungsmoral der geförderten Haftentlassenen). Allein die Stiftung in Baden-Württemberg hat im Zeitraum 1975–2007 eine Schuldensumme von 88 Mio. Euro bei 20.000 Gläubigern mit einer Gesamt-Sanierungsquote von 23,4 % abgelöst. Als günstig hat sich die Existenz der Fonds auch insofern erwiesen, als neben den privaten Gläubigern gerade die öffentlichen Gläubiger (Gerichtskassen, Finanzämter, gesetzliche Krankenkassen, Arbeitsämter) für erhebliche Nachlässe bzw. Niederschlagung ihrer Kosten gewonnen wurden. Die zunehmende Vergleichsbereitschaft aller Gläubigergruppen ist nicht nur bei der Schuldenregulierung von Vorteil; sie kommt vielmehr den gesamten kriminalpolitischen Bemühungen zur Verbesserung der Startchancen für Haftentlassene zugute. Vorbereitete Musterschreiben, Erlassverträge, Ablaufpläne, Arbeitsübersichten, Informationsberichte über die Vergleichsbereitschaft von Gläubigern und spezielle Fortbildungsveranstaltungen schaffen ein Verbundsystem der Entschuldungshilfe zwischen staatlichen und freien Trägern, das als lebenspraktisches soziales Lernfeld genutzt werden und bestimmt sein muss (Best 1981b, 164, 167). Die Fonds arbeiten mit Stiftungsbeauftragten in den Vollzugsanstalten zusammen, bei denen sich der Gefangene informieren kann (Best 1982b, 221 ff; Freytag 1987; und 1990, 259).
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d) Entschuldungshilfe ist kein technischer Vorgang, sondern ganzheitliche Betreuung bei voller Mitbeteiligung und erhöhter Leistungsbereitschaft des Gefangenen. Sie ist nach ihrem Selbstverständnis ureigene Aufgabe für die Sozialarbeit und sollte möglichst von dem jeweils zuständigen Sozialarbeiter oder in enger Zusammenarbeit mit diesem geleistet werden (vgl. dazu Zimmermann 1981, 112 f; Groth 1987). Nur der ständige Kontakt zu dem Betreuer eröffnet Einsichts- und Einflussmöglichkeiten auch auf sonstige Lebensbereiche und wirkt sich auf die gesamte Betreuungsarbeit stabilisierend aus. Die Beratung, die Unterstützung bei der Aufstellung eines Tilgungsplans einschließlich der Vergleichsverhandlungen mit den Gläubigern für die Strafgefangenen sind daher ein notwendiger Bestandteil der in § 73 konkretisierten sozialen Hilfe. Sofern Rechtsfragen berührt werden, müssen sie in die Beratung einbezogen werden. Dies gilt aber nur für unstreitige Forderungen, wovon auch die Richtlinien der Resozialisierungsfonds ausgehen. Bei rechtlich streitigen Forderungen bzw. einer ungeklärten Rechtslage sollte von der Möglichkeit der Rechtsberatung und Vertretung nach dem Beratungshilfegesetz (BerHG) vom 18.6.1980 (BGBl. I, 689 ff) für Bürger mit geringem Einkommen Gebrauch gemacht werden. Angeboten wird die Beratungshilfe über anwaltliche Beratungsstellen bei den Amtsgerichten, Sprechstunden der örtlichen Rechtsanwaltsvereine in den Anstalten bzw. über Berechtigungsscheine der örtlichen Amtsgerichte bei Rechtsanwälten freier Wahl (Einzelheiten bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht erfragen; vgl. dazu auch Schoreit/Dehn Kommentar zur Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe 8. Aufl., Heidelberg 2004, Rdn. 7 ff zu § 3 BerHG). Die Vollzugsanstalten haben hier zumindest entsprechende Aufklärungspflichten. Es sind die entsprechenden Vordrucke für Anträge der Rechtsuchenden auf Beratungshilfe zu verwenden (vgl. VO vom 2.1.1981, BGBl. I, 29). Auch in den Anstalten können Beratungsstellen der Rechtsanwälte aufgrund einer Vereinbarung mit der zuständigen Landesjustizverwaltung eingerichtet werden.
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Die rechtliche Beratung und schriftliche Geschäftsbesorgung obliegt im Rahmen der sozialen Gefangenenhilfe der Anstaltsleitung und den ihr beigegebenen Sozialarbeitern (OLG München ZfStrVo 1981, 380). Das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts (RBerNG) v. 12.12.2007 BGBl. I S. 2840, das in Art. 1 das Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG) enthält und zum 1.7.2008 in Kraft getreten ist, hat das bisherige Rechtsberatungsgesetz (RBerG) von 1935 abgelöst. Damit ist Rechtsklarheit für die Vollzugsbehörden, Wohlfahrtsverbände und freien Träger der Straffälligenhilfe erreicht worden. Die Frage, ob die Entschuldungshilfe (bei unstreitigen Forderungen) eine „Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten“ i. S. von Art. 1 § 1 RBerG vom 13.12.1935 darstellte, war zumindest zweifelhaft. Zimmermann 1981, 113 begründete diese Auffassung mit der Umgestaltung des Schuldverhältnisses im außergerichtlichen Vergleichswege. Die Debatte betraf das erforderliche Tatbestandsmerkmal der Geschäftsmäßigkeit und die Frage, ob Rechtsangelegenheiten weisungsgebunden oder selbständig erledigt wurden. Das RDG erlaubt Rechtsdienstleistungen, die nicht im Zusammenhang mit entgeltlicher Tätigkeit stehen (unentgeltliche Rechtsdienstleistungen). Nach § 6 RDG können solche Rechtsdienstleistungen außerhalb familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen erbracht werden, wenn sichergestellt ist, dass die Rechtsdienstleistung durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt oder unter Anleitung einer solchen Person erfolgt. Anleitung erfordert eine an Umfang und Inhalt der zu erbringenden Rechtsdienstleistungen ausgerichtete Einweisung und Fortbildung sowie eine Mitwirkung bei der Erbringung der Rechtsdienstleistung, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist. Nach § 8 Abs. 1 RDG sind ausdrücklich Rechtsdienstleistungen erlaubt, die Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts (Nr. 1) sowie Verbände der freien Wohlfahrtspflege i. S. von § 5 SGB XII (Nr. 2) im Rahmen ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs erbringen. Schwerpunkt der Entschuldungshilfe als Teil einer individuell zu leistenden Sozialarbeit ist vielmehr die persönliche Hilfe i. S. des § 11 SGB XII i. V. mit § 3 Abs. 2 DVO zu §§ 67 ff SGB XII i. d. F. vom 1.1.2005, zu der auch „die Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten“ gehört (so auch C/MD 2008 Rdn. 4 zu § 73). Der Betreuungscharakter der durch § 73 und § 74 zur Durchführung übertragenen Entschuldungshilfe ist Teil der Sozialen Hilfe; zum Beratungsbegriff vgl. Rdn. 2 und Rdn. 4 zu § 74; zum Verbraucherinsolvenzverfahren vgl. Rdn. 13. e) Entschuldungshilfe im Vollzug (vgl. Best 1981a, 333–335; Hasselbusch 1999, 97 ff; 12 AK-Bertram/Huchting § 73 Rdn. 16–19) besteht konkret darin, mit den Gläubigern in Verhandlungen zu treten, um zunächst angemessene Tilgungsvereinbarungen zu erzielen. Neben der Auflistung der Verbindlichkeiten und der Ordnung der Unterlagen („SchuldenBeiheft“) müssen Sachstandsanfragen der Gläubiger sorgfältig registriert und diese bereits während der Haft zu einer erheblichen Verringerung ihrer Verbindlichkeiten bewegt werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Gläubigerforderungen vollstreckbar sind oder nicht. Die allermeisten Forderungen, die über die Resozialisierungsfonds (Rdn. 10) mit günstiger Erlassquote in die Gesamtsanierung einbezogen werden, sind tituliert und befinden sich seit Jahren in der Zwangsvollstreckung. Den Gefangenen sind die Probleme und die Verschuldensfolgen bewusst zu machen (Moll/Wulf ZfStrVo 1986, 323; Baumeister ZfStrVo 1988, 323; Hasselbusch 1999, 97). Gut bewährt haben sich hierbei Kursangebote zum Trainingsbereich „Geld“ (vgl. dazu Becker/Marggraf/Nuissl/Sutter 1988, 41 ff, 63 ff). Hier ergibt sich auch ein geeignetes Arbeitsfeld für ehrenamtliche Mitarbeiter, die vielfältige praktische Hilfen (z.B. beim Abfassen von Schreiben) leisten können. Die Schadensregulierung gegenüber dem Opfer oder gegenüber anderen Gläubigern dient auch der Wiedereingliederung der
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Gefangenen. Die Behandlungsmaßnahmen während des Vollzugs verfehlen ihre Wirkung, wenn Gläubiger Strafentlassene bis zur Pfändungsgrenze in Anspruch nehmen (vgl. auch Art. 78 BayVollzG, vgl dazu III. 1).
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f) Von erheblicher Bedeutung für die Entschuldungshilfe im Vollzug ist die Insolvenzordnung (InsO), die am 1.1.1999 in Kraft getreten ist. Damit steht erstmals ein spezielles Verbraucherinsolvenzverfahren (§§ 304 bis 314 InsO) zur Verfügung und die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung, wonach eine natürliche Person von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern befreit werden kann. Der Ablauf des Insolvenzverfahrens bei der Privatinsolvenz lässt sich im Wesentlichen in vier Schritte gliedern: (1) Zunächst muss mithilfe eines Schuldenbereinigungsplans eine außergerichtliche Einigung versucht werden. Im Schuldenbereinigungsplan werden alle Einnahmen und Ausgaben des Schuldners aufgelistet. Es wird festgehalten, wie und in welcher Höhe der Schuldner die offenen Verbindlichkeiten abbauen kann und will. Wird dieser Plan von mindestens einem der Gläubiger abgelehnt oder betreibt ein Gläubiger nach Zustellung des Plans weiter die Zwangsvollstreckung, gilt der Schuldenbereinigungsplan als gescheitert. (2) Nun kann die Schuldnerberatungsstelle das Scheitern des Schuldenbereinigungsplans bescheinigen. Sobald diese Bescheinigung vorliegt, kann beim zuständigen Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt werden (Insolvenzeröffnungsantrag). Das Gericht prüft die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans. Bei Aussicht auf Erfolg werden der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan und das Vermögensverzeichnis den Gläubigern zugestellt. Wird der Plan nicht von mindestens der Hälfte der Gläubiger abgelehnt, kann das Gericht deren Zustimmung auf Antrag des Schuldners ersetzen. Die Hälfte der Gläubiger bestimmt sich hier nicht nach deren Anzahl, sondern nach der Höhe und Anzahl der Forderungen. (3) Wurde auch der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan nicht angenommen, wird das Verfahren der Privatinsolvenz (vereinfachtes Insolvenzverfahren) eröffnet und durch Bekanntmachung verkündet. Das pfändbare Vermögen des Schuldners nach Abzug der Verfahrenskosten verwertet, also an die Gläubiger ausgegeben. Hierzu wird ein Treuhänder eingesetzt. Dieser erstellt eine Aufstellung aus Gläubigern, Forderungshöhen und Forderungsgründen (Insolvenztabelle) und verwaltet das Vermögen des Schuldners. Eine Privatinsolvenz wird in der Regel durchgeführt, um im Anschluss daran eine Restschuldbefreiung zu beantragen und zu erlangen. (4) Das Restschuldbefreiungsverfahren besteht aus einer sechsjährigen so genannten Wohlverhaltensphase, die mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnt. Während dieser Zeit muss der Schuldner den pfändbaren Teil seines Einkommens sowie die Hälfte ihm zufallender Erbteile an den Treuhänder abtreten. Dieser verteilt dann das Geld gemäß der in der Insolvenztabelle festgelegten Quote an die Gläubiger. Der Schuldner kann nach Ablauf der Wohlverhaltensphase die Restschuldbefreiung beantragen. Im Schlusstermin können die Gläubiger allerdings, gestützt auf einen der Gründe in § 290 InsO (falsche Angaben, weitere Schulden, Verletzung von Auskunfts- und Mitwirkungspflichten), die Versagung der Restschuldbefreiung beantragen. Erfolgt kein solcher Antrag, bzw. sind solche Anträge unbegründet, kündigt das Gericht die Restschuldbefreiung an. § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO verlangt vom Schuldner beim Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Vorlage einer Bescheinigung, die von einer geeigneten Person oder Stelle ausgestellt ist und aus der sich ergibt, dass eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubi-
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gern über die Schuldenbereinigung auf der Grundlage eines Plans innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Eröffnungsantrag erfolglos versucht worden ist. In § 305 Abs. 1 Nr. 1 werden die Länder ermächtigt zu bestimmen, welche Personen oder Stellen als geeignet anzusehen sind. Das sozialpolitische Ziel der Insolvenzordnung kann nur erreicht werden, wenn den überschuldeten Privatpersonen bereits im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens ausreichende Hilfe zuteil wird. Der Schuldner wird selbst in der Mehrzahl der Fälle nicht in der Lage sein, einen geordneten Überblick über seine Verschuldungssituation zu erlangen, um eine außergerichtliche oder gegebenenfalls rechtsförmliche Schuldenbereinigung mit seinen Gläubigern herbeizuführen. Er wird außerdem keine ausreichenden Kenntnisse über die gesetzlichen Regelungen und die nach der Insolvenzordnung eröffneten Möglichkeiten haben. Die sinnvolle Ordnung der persönlichen Lebenssituation des Schuldners, die Einigung mit den Gläubigern und die möglicherweise später notwendige Durchführung des gerichtlichen Verfahrens ist für den Schuldner nur gewährleistet, wenn hinreichend geeignete Personen oder Stellen die Schuldenbereinigung vernünftig, in einem entsprechend zeitlichen Rahmen und mit der entsprechenden Kompetenz durchführen. Die Länder haben Landesgesetze zur Ausführung der Insolvenzordnung (AGInsO) erlassen, um von der in § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO enthaltenen Ermächtigung Gebrauch zu machen (vgl. z. B. das Nds. Ausführungsgesetz zur Insolvenzordnung (Nds. AGInsO) vom 30.12.1998, Nds.GVBl. 1998, 710 ff). Ziel dieser Gesetze ist es, dass die Länder bestimmen, welche Stellen als geeignet anzusehen sind. In dem Gesetz sind der Aufgabenbereich einer als geeignet anerkannten Stelle umschrieben, die Anerkennungsvoraussetzung festgelegt und die Grundzüge des Anerkennungsverfahrens geregelt. Das Nds. AGInsO z. B. benennt als geeignet geltende Stellen insbesondere die Schuldnerberatung in der Trägerschaft von Gemeinden und Landkreisen, Kirchen oder den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, aber auch Mitglieder von Rechtsanwaltskammern, Steuerberatungsbüros, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer u. a. Andere Stellen oder Personen, die Schuldnerberatung durchführen bzw. leiten, sind von der zuständigen Behörde auf schriftlichen Antrag des Trägers unter den gesetzlich normierten Voraussetzungen als geeignet anzuerkennen. Eine Ausbildung in den Studiengängen Sozialwesen, Sozialarbeit/Sozialpädagogik oder eine solche im gehobenen Verwaltungs- oder Justizdienst gilt als Erfüllung der Voraussetzungen für das Anerkennungsverfahren. Die Schuldenregulierung im Vollzug kann aber keinesfalls die Schuldenbereinigung im Sinne des § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO ersetzen. Diese bleibt vielmehr den o. a. Einrichtungen, Stellen und Personen vorbehalten, die das Insolvenzverfahren betreiben. Der Vollzug sollte aber über Informationen zur Weitergabe an die Gefangenen verfügen, die Kontakte vermitteln und bei der Vorbereitung aktiv mitwirken. Die Bedeutung der Schuldenregulierung im Vollzug, der Bewährungshilfe und der freien Straffälligenhilfe ist durch das Verbraucherinsolvenzverfahren erheblich gestiegen. Allerdings ist der Anwendungsbereich gering, da die Verbindlichkeiten von Schuldnern aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen, aus Geldstrafen und den in § 39 Abs. 1 Nr. 3 gleichgestellten Verbindlichkeiten nicht berührt werden (dazu Schmitt 1999, 162). Seit den Änderungen der InsO zum 1.12.2001 haben nunmehr aber auch mittellose Personen die bessere Chance auf Restschuldbefreiung: seither können die Kosten in allen Verfahrensschritten auf jeweils gesonderten Antrag gestundet werden (§ 4a InsO), nachdem dies als Grund für die allgemein zu geringe Nutzung des Instituts erkannt worden war (Hergenröder Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (DZWIR) 2001, 404). Zur unzulässigen Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung nach der InsO wegen des zugrunde liegenden gesetzgeberischen Gesamtkonzepts vgl. den Beschluss
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des BVerfG vom 3.2.2003, in: DZWIR 2004,190 mit Besprechung Kocher. Das Konzept sollte erhalten bleiben. Auch in dem Urteil des BVerfG vom 1.7.1998 zur „Gefangenenentlohnung“ (BVerfGE 98,169 ff = NJW 1998, 3337) ist die Hilfe zur Schuldentilgung besonders hervorgehoben worden (vgl. Rdn. 1 vor § 71).
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g) Für die Erteilung von Auskünften an Verletzte einer Straftat über die Entlassungsadresse oder die Vermögensverhältnisse der Gefangenen besteht nunmehr durch § 180 Abs. 5 Satz 2, eine bereichsspezifische datenschutzrechtliche Vorschrift (vgl. § 180 Rdn. 36). Voraussetzung ist, dass die Auskunftserteilung zur Feststellung oder Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit der Straftat erforderlich ist. Die Fallgestaltung betrifft insbesondere die Erteilung von Auskünften an Gläubiger über den Aufenthalt von Gefangenen im Vollzug sowie den Zeitpunkt ihrer Entlassung. Die Befugnis zur Mitteilung wurde nicht durch eine Pflicht zur Ermittlung der erbetenen Angaben erweitert. Die Mitteilungspflicht bezieht sich nur auf die bestimmten, in dieser Vorschrift näher bezeichneten Umstände. Hierdurch soll einerseits dem Interesse des Verletzten an einer ökonomischen Feststellung und Durchsetzung seiner Schadensersatzansprüche und andererseits den datenschutzrechtlichen Interessen der Gefangenen Rechnung getragen werden. Die Regelung geht deshalb von dem Grundsatz der vorherigen Anhörung aus, es sei denn, es ist zu befürchten, dass dadurch die Verfolgung des Interesses des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, was abzuwägen ist.
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h) Bei der Pfändung von Forderungen der Gefangenen wird man unterscheiden müssen, ob sie „normaler Art“ sind (dazu vgl. Fluhr 1989, 103) oder ob es sich um Sozialleistungen handelt (dazu Hornung 1988, 213, 347; bei der Schuldneranhörung (§ 54 SGB) sollten die Vollzugsbehörden behilflich sein). Vgl. auch § 46 Rdn. 9, § 75 Rdn. 13 und Höfler 1997, 207 zur Anwendbarkeit des § 850c ZPO auf das „freie Eigengeld“ des Strafgefangenenen. Im Übrigen müssen die ab 1.1.2002 in Kraft getretenen Pfändungsfreigrenzen beachtet werden (vgl. 850c Abs. 2a ZPO. Die nächste Änderung der Pfändungstabelle wird zum 1.7.2005 erfolgen, danach jeweils alle zwei Jahre). Das Eigengeld (§§ 52, 83 Abs. 2 Satz 2, 3) unterliegt nach Maßgabe der Pfändungsschutzvorschrift des § 51 Abs. 4 Satz 2 der Pfändung. Der Anspruch auf Auszahlung des „freien“ Eigengeldguthabens gegen den Träger der JVA (öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis, kein Verwahrungsverhältnis) ist als Geldforderung (§ 700 Abs. 1 Satz 2, § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB analog; vgl. Stöber Forderungspfändung 13. Aufl. Bielefeld 2002, Rdn. 134) gemäß § 829 ZPO pfändbar, mit Ausnahme des gemäß § 51 Abs. 4 Satz 2 unpfändbaren Teils des Eigengeldes in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem gemäß § 51 Abs. 1 zu bildenden und dem tatsächlich vorhandenen Überbrückungsgeld. Das Pfändungsverbot des § 851 ZPO steht nicht entgegen, weil der Anspruch – soweit nicht § 51 Abs. 4 Satz 2 eingreift – übertragbar ist (vgl. BFH, Urt. v. 16.12.2003, DStrRE 2004, 421). Soweit das gepfändete Eigengeld durch Gutschrift von Arbeitsentgelt gebildet worden ist, das der Gefangene gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 erhält, finden die Pfändungsgrenzen des § 850c ZPO weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung (BGH, Beschl. v. 16.7.2004 – IX a ZB 191/03 = StV 2004, 558). Die Pfändungsgrenzen des § 850c ZPO gelten nur für die Pfändung des in Geld zahlbaren Arbeitseinkommens (§ 850 Abs. 1 ZPO), nicht aber für den Anspruch des Gefangenen auf Auszahlung seiner Gutschrift. Mit der Erteilung der Gutschrift ist der Anspruch erfüllt und erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB analog; vgl. Fluhr ZfStrVo 1989, 103, 106). Mit der als Arbeitseinkommen geschuldeten Forderung erlischt auch der bis dahin für diese Forderung bestehende Pfändungsschutz. Der BGH hat auch die Anwendbarkeit des § 850k ZPO verneint, denn die kontoführende Stelle, die das Gefangenengeld bis zur Entlassung des Gefangenen verwalte, sei kein Geld-
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institut im Sinne dieser Vorschrift. Das Schutzbedürfnis eines Schuldners, der in Freiheit lebe und ein Arbeitseinkommen habe, sei mit dem eines Schuldners, der in Strafhaft gemäß § 43 StVollzG Arbeitsentgelt beziehe, nicht vergleichbar (BGH StV 2004, 588). Soweit der Gefangene mit dem aus Arbeitsentgelt gebildeten Eigengeld Unterhaltsverpflichtungen erfüllen will, kann er über die Regelung von § 52 Abs. 5 hinaus seinen Anspruch auf Auszahlung des künftig aus seinen Bezügen zu bildenden Eigengeldes an Unterhaltsberechtigte abtreten, sofern der Anspruch nicht bereits gepfändet ist. Ein über § 51 Abs. 4 Satz 2 hinausgehender Pfändungsschutz des aus Arbeitsentgelt gebildeten Eigengeldes ist somit aus dem geltenden Recht nicht herzuleiten. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass dieses „als Eigengeld sowohl der Verfügung des Gefangenen als auch dem Zugriff seiner Gläubiger offensteht“ (BT-Drucks. 7/918 S. 71). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob er die Rechtsstellung des Gefangenen gegenüber Vollstreckungszugriffen von Gläubigern verbessern will, etwa durch vollzugsspezifische Pfändungsschutzvorschriften oder durch Erhöhung des pfändungsfreien Hausgeldes (ebenso BGH StV 2004, 558). Dies würde dem gesetzlichen Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit (vgl. dazu BVerfGE 98, 169, 202) und dem Ziel der zu aktivierenden Schuldenregulierung durchaus entsprechen. 4. Beispiel Die kirchliche Heimvolkshochschule in C. veranstaltete ein Familienbildungsseminar 16 für Familien mit Strafgefangenen und ihre Angehörigen. Seminarthema war „Umgang mit Geld“, „Schuldenregulierung und Unterhaltsleistungen“ sowie „Soziale Beziehungen“. Unter Mitarbeit der ebenfalls teilnehmenden Sozialarbeiter aus den Vollzugsanstalten wurden Schuldenregulierungspläne erstellt. Die Ehefrau des Strafgefangenen M. beantragte anschließend bei dem für sie zuständigen Sozialamt, die Seminargebühren einschließlich Unterkunftskosten für sie und ihre Kinder im Rahmen des § 27 SGB XII zu übernehmen. Das Sozialamt R. verneinte seine örtliche und sachliche Zuständigkeit und verwies Frau M. an den überörtlichen Sozialhilfeträger (Landessozialamt bzw. Landeswohlfahrtsverband). Die Rechtsauffassung des Sozialamtes ist unrichtig. Bei Familienangehörigen der Inhaftierten kann für „familiengerechte Leistungen“ ein „besonderer Bedarf“ i. S. von § 28 Abs. 1 i. V. mit § 156 SGB XII und § 1 Abs. 1, § 6 der DVO zu §§ 67 ff SGB XII i. d. F. ab 1.1.2005 anerkannt werden. Außerdem könnten für sie Maßnahmen nach Abschnitt 2 der DVO zu § 72 BSHG eingeleitet werden. Zuständig sind die örtlichen Träger der Sozialhilfe, bei denen entsprechende Anträge zu stellen sind. Die Vollzugsanstalt, nicht die Heimvolkshochschule als Veranstalter, hat hier entsprechende Informations- und Beratungspflichten (zu den Ansprüchen von Angehörigen gegenüber dem Sozialhilfeträger vgl. auch Rdn. 8 zu § 71), um ihren Hilfeauftrag nach § 73 zu erfüllen. Zur Durchführung von Familienseminaren und zur Bedeutung der Arbeit mit Angehörigen vgl. Kanisch/Aspiron ZfStrVo 1997, 152; Worliczka/Zeitler/Feulner ZfStrVo 1999, 87 ff; Kury/Kern 2003, 269; Morgenstern ZfStrVo 1984, 92.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 78 BayStVollzG („Hilfe während des Vollzugs, Täter-Opfer-Ausgleich“) ist im Abs. 1 17 bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen teilweise wortgleich mit § 72 StVollzG, fasst aber den darin enthaltenen Zusatz „und einen durch seine Straftat verursachten Schaden zu regeln“ in einen neuen Abs. 2 zusammen, der folgenden Wortlaut hat:
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„Die Einsicht der Gefangenen in ihre Verantwortung für die Tat, insbesondere für die beim Opfer verschuldeten Tatfolgen, soll geweckt werden. Die Gefangenen sind anzuhalten, den durch die Straftat verursachten Schaden zu regeln. Die Durchführung eines TäterOpfer-Ausgleichs ist in geeigneten Fällen anzustreben.“ In der Begründung (S. 73) heiß es dazu: „Die Bestimmung konkretisiert den in Art. 75 verankerten Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe, wobei die Anstalt gemäß Abs. 2 zur Schadenswiedergutmachung und in geeigneten Fällen zum Täter-Opfer-Ausgleich im weiteren Sinn aktiv an die Gefangenen herantreten und sie zur Mitarbeit motivieren soll. TäterOpfer-Ausgleich kann in einer materiellen Schadensregulierung liegen oder sich auf eine immaterielle Aussöhnung mit dem Opfer beziehen. Die Schadensregulierung gegenüber dem Opfer oder gegenüber anderen Gläubigern dient der Wiedereingliederung der Gefangenen. Die Behandlungsmaßnahmen während des Vollzugs verfehlen ihre Wirkung, wenn Gläubiger Strafentlassene bis zur Pfändungsgrenze in Anspruch nehmen.“ 2. Hamburg
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Das HmbStVollzG enthält keine in einem besonderen Titel, Kapitel oder Abschnitt zusammengefassten Bestimmungen über soziale Hilfen. 3. Niedersachsen
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§ 69 Abs. 2 NJVollzG ist weitgehend identisch mit § 73 StVollzG. Die Vorschrift ergänzt das Anliegen, den durch die Straftat verursachten Schaden zu regeln, durch den folgenden Satz 2 und 3: „Gleiches gilt für die Regelung eines durch ihre oder seine Straftat verursachten Schadens. In geeigneten Fällen sollen der oder dem Gefangenen zur Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs Stellen und Einrichtungen benannt werden.“
§ 74 Hilfe zur Entlassung Um die Entlassung vorzubereiten, ist der Gefangene bei der Ordnung seiner persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten zu beraten. Die Beratung erstreckt sich auch auf die Benennung der für Sozialleistungen zuständigen Stellen. Dem Gefangenen ist zu helfen, Arbeit, Unterkunft und persönlichen Beistand für die Zeit nach der Entlassung zu finden. VV Wird der Gefangene bei der Entlassung einem Bewährungshelfer oder der Führungsaufsicht unterstellt, so hat die Anstalt unverzüglich mit den zuständigen Stellen Verbindung aufzunehmen, um die Betreuungsmaßnahmen für den Gefangenen abzustimmen. Schrifttum: s. Vor § 71
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Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–20 1. Beratungsbegriff . . . . . . . . . 2 2. Art und Umfang der Sozialleistungen . . . . . . . . . . . . . . 3–5 3. Umfang der Hilfen nach § 68 SGB XII . . . . . . . . . . . . . . . . 6–7 4. Sozialleistungsträger . . . . . . . 8–9 5. Der Hilfeauftrag i. S. von § 74 Satz 3 . . . . . . . . . . . . . . . 10–14 6. Sozialpraktische Trainingskurse . 15
7. Besondere Entlassungsmaßnahmen bei Sexualstraftätern . . . 16 8. Vernetzte Kooperationen innerhalb und außerhalb des Vollzugs 17–18 9. Ambulante Soziale Dienste der Justiz . . . . . . . . . . . . 19 III. Beispiel: Kostenersatz-Fall . . . . . 20 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 21–23 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 21 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 22 3. Niedersachsen . . . . . . . . . 23
I. Allgemeine Hinweise Die Textfassung dieser Vorschrift lässt wenigstens in Umrissen erkennen, dass der 1 Gesetzgeber der sozialen Hilfe im Rahmen der Entlassungsvorbereitung einen großen Stellenwert eingeräumt hat. Zahlreiche Einzelbestimmungen, die bereits bei der „Planung des Vollzugs“ ansetzen (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 7), verdichten die Entlassungsvorbereitung zu einer Aufgabe, die bereits mit der Aufnahme beginnen und sich planvoll und gezielt über den Entlassungstermin hinaus fortsetzen muss. Mit Blick auf das Gesamtsystem der angestrebten durchgehenden Hilfen (dazu: Böhm 2003 Rdn. 395–403 f) konkretisiert § 74 als „Nahtstelle“ der Entlassungsphase, was getan werden muss, um die Rückfallgefährdung der Haftentlassenen zu verringern und ihre Eingliederung zu erleichtern (vgl. Rdn. 1 vor § 71). Unterstützungsmaßnahmen kommen namentlich in Betracht bei der – Wohnungssuche, – Suche nach ambulanten Einrichtungen der Straffälligenhilfe, Beratungsstellen oder Kontaktpersonen, – Suche nach einer Ausbildungs- und Arbeitsstelle, – Geltendmachung von Ansprüchen auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Krankenund Kindergeld und anderer Sozialleistungen sowie von Renten- und Unterhaltsansprüchen, – Beschaffung von Personalpapieren, Arbeitsbescheinigungen und Versicherungsunterlagen, – Regelung von Unterhaltsverpflichtungen, Schulden, Wiedergutmachungsleistungen und anderen Zahlungsverpflichtungen.
II. Erläuterungen 1. Die Hilfe bei der Ordnung der persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angele- 2 genheiten der Gefangenen geht von einem weiten Beratungsbegriff aus; er beschränkt sich nicht auf einen Grundbestand von „Maßnahmen der äußeren Sanierung“, sondern will allgemeine Lebenshilfe vermitteln. Die Gefangenen sollen zu angemessenen Problemlösungen befähigt werden und lernen, auftauchende Schwierigkeiten zu verarbeiten. Zur Strategie der Aktivierung vgl. Rdn. 4 vor § 71. Beratungshilfe kann hierbei je nach Art und Beschaffenheit der persönlichen Situation der Gefangenen durch Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit bzw. didaktische Bildungsarbeit (vgl. Blum 1988, 165) geleistet werden. Da bei vielen Gefangenen die Tendenz zu beobachten ist, „die Dinge einfach laufen zu lassen“, setzt die Peter Best
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Regelung dieser Probleme eine gewisse Ordnungsarbeit voraus (insbes. bei der Entschuldungshilfe bzw. Schuldenregulierung: vgl. dazu Rdn. 7–13 zu § 73). Bei Notwendigkeit der Beratung durch Rechtskundige ist die Verweisung der Anstalt an eine anstaltsinterne Rechtsantragstelle nicht (immer) interessengerecht. Die Gefangenen können verlangen, dass ihnen die Anstalt bei der Gewinnung entsprechender Informationen behilflich ist. Dabei geht es allerdings nicht um eine Rechtsberatung, sondern lediglich um die Klärung der Vorfrage, ob und inwieweit der Rechtsrat eines Rechtskundigen benötigt wird. Voraussetzung für diese Klärung ist, dass die Gefangenen genau darlegen, in welcher rechtlichen Angelegenheit sie sachkundigen Rat begehren. Bei der Entscheidung über die Art der Hilfestellung steht der Anstalt ein Beurteilungsspielraum zu. In einfachen Angelegenheiten kann es ausreichen, entsprechende Literatur zur Verfügung zu stellen, anhand derer der Gefangene in der Lage ist, die Aussichten einer Rechtsverfolgung selbst zu beurteilen. Je nach Rechtslage des Einzelfalles, dem Umfang der zu ergreifenden Maßnahmen oder der Art der Hilfestellung bei der Sammlung der Unterlagen kann es geboten sein, sie an eine Rechtsantragstelle oder in schwierigen Fällen an eine außerhalb der Anstalt eingerichtete Rechtsberatungsstelle zu verweisen. Die Inanspruchnahme der unentgeltlichen Rechtsberatung durch eine Rechtsberatungsstelle, in der die Rechtsberatung durch Rechtsanwälte ausgeübt wird, hängt allerdings davon ab, dass die Gefangenen entweder Ausgang erhalten oder zu der Beratungsstelle ausgeführt werden (KG NStZ 1997, 427). Zur Beratungshilfe und zur Rechtsberatung auch in der Entschuldungshilfe Rdn. 11 zu § 73. Bei Problemen der Verweigerung bzw. Kündigung von Girokonten ist die Einschaltung einer Schlichtungsstelle möglich. Die Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses (ZKA) vom Juni 1995 „Girokonto für jedermann“ beinhaltet die Bereitschaft der Kreditinstitute, unabhängig von der Art und Höhe der Einkünfte (z. B. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) ein Girokonto zu führen. Eintragungen bei der Schufa sowie der Umstand der Verschuldung sind allein kein Grund, die Führung eines Girokontos zu verweigern. Die Verpflichtung der Kreditinstitute besteht aber dann nicht, wenn dies im Einzelfall unzumutbar ist. Denkbare Fälle von Unzumutbarkeit werden beispielhaft aufgeführt. Die ZKA-Empfehlung ist in den Periodischen Berichten der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlung enthalten (zuletzt: BT-Drucks. 15/2500 vom 11.2.2004 mit Musterschreiben bei Verweigerung einer Kontoführung zwecks Herbeiführung eines Schlichtungsspruchs).
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2. Die Beratungspflicht in sozialen Angelegenheiten erstreckt sich auch auf die Benennung der für Sozialleistungen zuständigen Stellen. Grundlage hierfür sind die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB), das mit der Aufgabenstellung des § 1 SGB I folgende soziale Rechte als konkrete Leistungsansprüche kennzeichnet: Leistungen der Ausbildungsförderung und Arbeitsförderung, zusätzliche Leistungen für Schwerbehinderte; gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung; Versorgungsleistungen bei Gesundheitsschäden; Kindergeld; Wohngeld; Leistungen der Jugend- und Sozialhilfe; Leistungen zur Eingliederung Behinderter (§§ 18 bis 29 SGB I). Zum Verhältnis von Sozialleistungen zu der sozialen Hilfe Rdn. 5 ff zu § 71; zur Arbeitsförderung vgl. Rdn. 4; zu den aktuellen Gesetzesänderungen vgl. Rdn. 4 ff . 4 Der hier in Umrissen skizzierte Leistungsteil kann nur dann nutzbar gemacht werden, wenn der einzelne Mitarbeiter des sozialen Dienstes die Beratung aktiver gestaltet, als es der Begriff „Benennung“ ausdrückt. Er muss Wegbereiter sein, Ansprüche aufzufinden und im Rahmen sozialanwaltlicher Hilfe durchsetzbar zu machen. Neben Eigeninitiative und Fachwissen ist seine Bereitschaft erforderlich, über Checklisten, Merkblätter, Übersichtstafeln im Rahmen der Rechts- und Amtshilfe (§ 154 Abs. 2) die zuständigen Sozialleistungsträger in das Vollzugsgeschehen zu integrieren (durch Sprechstunden, Arbeitsbesuche, Kursange-
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bote). Hierbei haben sich örtliche bzw. regionale „Arbeitsgemeinschaften für Straffälligenhilfe“ (Rdn. 10) bewährt, die konkrete Absprachen und gegenseitige Informationen vor Ort sicherstellen (zu den Grenzen der Auskunftspflicht von Sozialbehörden vgl. Rdn. 6 zu § 72). Zu den Aufgaben von Arbeitsberatern der Arbeitsämter in den Vollzugsanstalten und zum Anwendungsbereich des AFG: Joppe 1977, 1 ff. Grundlegende Veränderungen ergaben sich durch die Neuordnung der Grundsiche- 5 rung für Arbeitssuchende und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld). Mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz III“) wurde mit Wirkung zum 1.1.2004 (SGB III) neben dem Umbau der Arbeitsverwaltung zur Bundesagentur für Arbeit das Leistungs- und Förderungsrecht erheblich verändert (u. a. Zusammenführung der Eingliederungszuschüsse; Förderung der beruflichen Weiterbildung; Arbeitslosmeldung bereits drei Monate vorher möglich; vereinfachte Anrechnung von Nebeneinkommen; Festsetzung des Bemessungsentgelts abhängig von der Qualifikationsstufe). Wichtig für die Beratung der Gefangenen ist der vorsorgliche Hinweis auf die Verkürzung der Anspruchsdauer (§ 127 SGB III) und die Regelung der Sperrzeiten. Fast verdreifacht hat sich die Zahl der Sperrzeiten für Empfänger staatlicher Leistungen, weil diese ein Beschäftigungsangebot im Zeitraum 2001 bis 2003 abgelehnt haben (BT-Drucks. 15/2811). Das am 1.1.2005 in Kraft getretene Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 – SGB II – (BGBl. I, 2954) bezieht sich auf die in der HartzIV-Reform beschlossene Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum „Arbeitslosengeld II“. Erwerbsfähige langzeitarbeitslose Hilfebedürftige erhalten als Grundsicherung für Arbeitssuchende Arbeitslosengeld II, nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige Sozialgeld (jeweils auf dem Niveau der Sozialhilfe §§ 20 SGB II, pauschaliert mit Regelleistungen). Leistungsbezieher können in größerem Umfang als bisher hinzuverdienen. Es gilt der Grundsatz, dass jede Erwerbstätigkeit zumutbar ist, selbst wenn sie unterhalb des Tariflohns oder des ortsüblichen Lohns vergütet wird (§ 10 SGB II). Die Sanktionen für abgelehnte Arbeitsangebote wurden verschärft. Auf dieses veränderte Förderszenario der aktivierenden Hilfen müssen die Gefangenen vor der Haftentlassung intensiv vorbereitet werden. Auch das Arbeitslosengeld ist betroffen durch verkürzte Bezugsdauer ab 1.2.2006. Die Bezugsdauer wird auf maximal 12 Monate begrenzt, für ältere Arbeitnehmer ab 55 Jahren auf maximal 18 Monate (§ 127 Abs. 2 SGB III). Die Anwartschaftszeit (§ 118 SGB III) erfordert ein vorangegangenes Versicherungspflichtverhältnis von mindestens 12 Monaten. Die Sperrzeiten und Anspruchsminderungen werden ebenfalls geändert. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch das SGB II war eine Umstrukturierung des Rechts der Existenzsicherung. Elemente des Sozialhilferechts und des Arbeitslosenrechts wurden miteinander kombiniert. Die Umsetzung erfolgte nach zwei Arten, das Arbeitsgemeinschaften-System und das Optionsmodell. Die zur Ausführung nach § 44b SGB II gebildeten Arbeitsgemeinschaften aus Arbeitsagenturen und Kommunen stellen nach der Entscheidung des BVerfG vom 20.12.2007 (NJW 2008, 183 ff) eine unzulässige Mischverwaltung dar. Das Arbeitsgemeinschaften-Konzept der 353 Arbeitsgemeinschaften mit einem jährlichen Verteilungsvolumen von 50 Mrd. Euro für über 7 Mio. unterstützten Hilfeempfängern wurde für verfassungswidrig erklärt und der Gesetzgeber zur Nachbesserung verpflichtet, bis Ende 2010 für eine klare Trennung der staatlichen Ebenen in der Verwaltung zu sorgen. Das am 1.1.2005 in Kraft getretene sog. Kommunale Optionsgesetz vom 30.7.2004 (BGBl. I, 2014) ermöglicht kreisfreien Städten und Landkreisen die Aufgabe anstelle der
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Agenturen für Arbeit zu übernehmen. Aufgrund des sog. „Optionsgesetzes“ übernahmen bundesweit 69 Kommunen die gesamte Betreuung in Eigenregie. Mit einer Verfassungsänderung wollen Bund und Länder das Grundgesetz der zu optimierenden gesetzlichen Rechtslage anpassen und das System der Arbeitsgemeinschaften beibehalten, ebenso aber auch das Optionsmodell (vgl. dazu Berlit, Die Hartz IV-Rechtsprechung – geklärte und offene Fragen, in: SchlHA 2008, 370, 373, 377). Nach dem „Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ vom 20.7.2006 (BGBl. I, 1706) wird der Aufenthalt in Haft dem einer stationären Einrichtung gleichgestellt, was vorher nicht unstreitig war (AK Brühl, vor § 190 Rdn. 9). Ausnahme von dem Ausschluss aller Personen in stationären Einrichtungen und aller Inhaftierten aus dem Leistungssystem des SGB II ist, dass Personen in stationären Einrichtungen untergebracht sind und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden die Woche erwerbstätig sind. Für den Maßregelvollzug ist erkannt worden, dass der Leistungsausschluss dann nicht mehr greift, wenn Vollzugslockerungen möglich sind und die verurteilte Person wegen Freigangsberechtigung für eine vollschichtige (!) Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Personen, die bereits Freigänger sind, können dabei unabhängig vom Einrichtungsbegriff und seiner Erweiterung auf Einrichtungen zum Vollzug einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II erhalten (vgl. LSG BW 25.1.2008 – L 12 AS 2544/07). Der Leistungsausschluss soll somit nicht solche Einrichtungen umfassen, „bei denen die Einrichtungsbewohner mit dem Ziel betreut werden, ihre sozialen Schwierigkeiten zu überwinden und im betreuten Kontext auf ein eigenständiges Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden (Berlit Die Hartz IV-Rechtsprechung – geklärte und offene Fragen, in: SchlHA 2008, 370, 378). Freigänger aus dem Strafvollzug können dagegen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, wenn sie einengenden Regelungen der Anstalt unterworfen bleiben, die über Zustimmungserfordernisse oder etwa Befugnisse zur Auflösung von Arbeitsverhältnissen hinausgehen (LSG Berlin-Brandenburg FS 2007, 184; vgl. auch SG Düsseldorf FS 2007, 187: Schonarbeiten für leistungsgeminderte Gefangene unter 15 Stunden wöchentlich entsprechen nicht den Bedingungen des Arbeitsmarktes und gewähren keinen Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II). Das „Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ vom 21.12. 2008 (BGBl. I 2917), in Kraft seit 1.1.2009, regelt die arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Bereich der Arbeitsförderung (SGB III) und die Instrumente zur Arbeitsmarktintegration in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) neu. Die wichtigsten Änderungen, die auch hohe Bedeutung für die Entlassungsvorbereitung haben, sind: a) Agenturen für Arbeit erhalten künftig ein sog. Vermittlungsbudget als Grundlage für eine flexible und unbürokratische Förderung. Die Handlungsspielräume der Arbeitsvermittler/Fall-Manager werden erhöht. b) Eingliederungsvereinbarungen müssen künftig – vergleichbar der Regelung des § 15 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II – auch eine konkrete Regelung darüber enthalten, welche Eigenbemühungen zu seiner beruflichen Eingliederung der Ausbildung- oder Arbeitsuchende in welcher Häufigkeit mindestens unternehmen muss und in welcher Form er diese nachzuweisen hat. Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, sollen die Agenturen die erforderlichen Eigenbemühungen des Arbeitsuchenden per Verwaltungsakt festsetzen. c) § 38 SGB III Abs. 3 regelt die Mitwirkungspflichten, Obliegenheiten und Rechte des Arbeitsuchenden im Vermittlungsprozess. Arbeitsuchende können künftig für die Dauer von bis zu zwölf Wochen von der Arbeitsvermittlung ausgeschlossen werden, wenn sie ihren in der Eingliederungsvereinbarung niedergelegten Pflichten nicht nachkommen. Da-
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mit soll auch für Nichtleistungsbezieher eine wirksame Sanktionsmöglichkeit geschaffen werden. d) Arbeitnehmer erhalten unter den Voraussetzungen des § 77 Abs. 3 SGB III einen Anspruch auf Maßnahmen zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses im Rahmen von Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. e) Personen mit Migrationshintergrund, die nicht über die für eine Erwerbstätigkeit notwendigen Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen, sollen künftig gemäß § 3 Abs. 2b SGB II in der Eingliederungsvereinbarung zur Teilnahme an einem Sprachkurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verpflichtet werden. Die folgenden Informationsschriften des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vermitteln einen guten Einstieg in die unübersichtliche Förderlandschaft und eignen sich auch als Materialien für das Soziale Training: (1) Die Broschüre „Soziale Sicherung im Überblick (2009)“ ermöglicht einen zusammenfassenden Überblick über das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Behandelt werden unter anderem die Renten-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung, die Bereiche Arbeitsförderung, Arbeitsrecht und Erziehungsgeld, die Rehabilitation Behinderter Menschen, Wohngeld und Sozialhilfe. (2) Die Broschüre „Grundsicherung für Arbeitsuchende SGB II: „Fragen und Antworten“ (Stand 2009) erläutert die wesentlichen Begriffe der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Außerdem werden im Kapitel „Fragen und Antworten“ die wichtigsten Fragestellungen aufgegriffen. Beispielrechnungen ermöglichen einen Überblick über die Leistungen nach dem SGB II. Der Text des Sozialgesetzbuches II ist abgedruckt. (3) Die Broschüre „Sozialhilfe und Grundsicherung“ (Stand 2009) gibt einen Überblick über das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene neue Sozialhilferecht im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Das neue Sozialhilferecht umfasst neben den Leistungen und Voraussetzungen der Sozialhilfe nunmehr auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. (4) Das „Statistisches Taschenbuch 2008“ (Broschüre, Stand: 2009) enthält Tabellen zur Arbeits- und Sozialstatistik, u. a. Zahlen zum Bruttosozialprodukt, zum Einkommen, zum Steueraufkommen, zur Bevölkerung, zum Arbeitsmarkt, zur Arbeitszeit, zum Verdienst sowie zur Preisentwicklung von etwa 1960 bis 2008. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland“ beschreibt die Lebenslagen der Menschen in Deutschland auf der Basis statistischer Daten etwa zu Einkommen, Vermögen, Erwerbstätigkeit, Bildungsbeteiligung (Berlin 2008). Zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen zählen Arbeitslose, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Alleinerziehende und Personen mit Migrationshintergrund. Fast ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland sind inzwischen Personen mit Migrationshintergrund. Im Jahr 2005 waren darunter rund 7,3 Mio. Einwohner mit ausländischer Staatsbürgerschaft sowie 7,5 Mio. Eingebürgerte, Spätaussiedler und deren Nachkommen und damit deutsche Staatsangehörige. In der Altersgruppe der Kinder unter sechs Jahren hatten im Jahr 2005 schon mehr als 30 % einen Migrationshintergrund. Diese Zahlen belegen den Wandel in der deutschen Gesellschaft und verweisen auf die Notwendigkeit einer nachhaltigen Integrationspolitik, die die Potenziale der zugewanderten und hier geborenen Menschen mit Migrationshintergrund nutzt und fördert (S. 29). Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an die künftige Arbeitsweise der Vollzugsbehörden im Rahmen der Sozialen Hilfe. Die Gesamtzahl der Leistungsempfänger lag im Jahresdurchschnitt 2007 bei 7,24 Mio. Davon waren 5,28 Mio. erwerbsfähige Hilfebedürftige (72,9 %) und 1,96 Mio. nicht erwerbs-
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fähige Hilfebedürftige (27,1 %). Unter den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen waren 49,3 % männlich, 81,4 % deutsch und 12,5 % alleinerziehend. Von den nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen waren 50,6 % männlich und 84,0 % deutsch. Im Jahr 2007 lebten die insgesamt 7,24 Mio.Leistungsempfänger in 3,73 Mio. Bedarfsgemeinschaften. In mehr als der Hälfte aller Bedarfsgemeinschaften (52,1 %) lebte nur eine Person, in zwei Dritteln nur ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger (66,9 %). Bei knapp einem Drittel (31,4 %) lebte mindestens ein Kind in der Bedarfsgemeinschaft. Im Jahr 2007 lagen die Leistungsansprüche der Bedarfsgemeinschaften bei mehr als 36.597 Mio.Euro. Dabei erhielt jede Bedarfsgemeinschaft durchschnittlich 818,61 Euro pro Monat. Davon entfielen im Durchschnitt 342,11 Euro auf Arbeitslosengeld II, 15,21 Euro auf Sozialgeld, 306,37 Euro auf Leistungen für Unterkunft und Heizung, 150,63 Euro auf Sozialversicherungsbeiträge und 4,28 Euro auf sonstige Leistungen (Bundesagentur für Arbeit: Analytikreport der Statistik 07/200, Arbeitsstatistik 2006/2007).
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3. Besonders bedeutsam für die Zeit nach der Haftentlassung ist auch die in §§ 8, 67–69 SGB XII geregelte Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Das Bundessozialhilfegesetz bezog bis zum 31.7.2001 nach § 72 BSHG i. V. mit der Verordnung (VO) zur Durchführung des § 72 BSHG vom 9.6.1976 (BGBl. I, 1469) ausdrücklich die aus Freiheitsentziehung Entlassenen in den Kreis der Anspruchsberechtigten ein. Zu diesem Personenkreis gehörten nach § 5 VO zu § 72 BSHG „Personen, die aus einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung in ungesicherte Lebensverhältnisse entlassen werden oder entlassen worden sind“. § 5 VO zu § 72 BSHG konnte bereits dann Anwendung finden, wenn die Entlassung zumindest unmittelbar bevorstand (vgl. Schellhorn Rdn. 5 zu § 5 VO zu § 72 BSHG). Aus dem Wortlaut „entlassen werden oder entlassen worden sind“ sollte die Absicht des Verordnungsgebers zu entnehmen sein, auch vorbereitende Maßnahmen und Betreuungshandlungen, die noch während der Zeit der Freiheitsentziehung selbst notwendig werden, mit einzubeziehen (vgl. auch BR-Drucks. 258/76). Nach der „Verordnung zur Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ vom 24.1.2001 (DVO zu §§ 67 ff SGB XII) erfordert die Zuordnung der Haftentlassenen zum Personenkreis der nach § 72 BSHG Leistungsberechtigten eine gesonderte Prüfung (vgl. Roscher in LPK-SGB XII zu § 69 unter Hinweis auf den Faktor Straffälligkeit und die Entlassungssituation; ausführlich dazu Lippert 2002, 57 ff). Hiernach haben auf Seiten der Antragsteller besondere Lebensverhältnisse i. S. von § 1 Abs. 2 Satz 1 DVO zu bestehen und soziale Schwierigkeiten i. S. von § 1 Abs. 3 DVO vorzuliegen, wobei in § 1 Abs. 2 unter den „besonderen Lebensverhältnissen“ die Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung ausdrücklich aufgeführt ist. Ferner müssen die besonderen Lebensverhältnisse und sozialen Schwierigkeiten derart in einem komplexen Wirkungszusammenhang stehen, dass die isolierte Beseitigung eines der beiden vorgenannten Merkmale nicht automatisch zu einer wesentlichen und nachhaltigen Änderung des Tatbestands bei dem anderen Sachverhaltsmerkmal führt. Die Typenbildung ist entfallen (Roscher in LPK-SGB XII zu § 69 Rdn. 1). Erforderlich ist auch, dass der Einzelne nicht in der Lage ist, diese Situation aus eigeneren Kräften und Mitteln heraus zu überwinden. Im Falle von Haftentlassenen ist ein Bestehen sozialer Schwierigkeiten i. S. v. § 1 Abs. 3 DVO zu §§ 67 ff SGB XII dann indiziert, wenn folgende besonders deutlich ausgeprägte Problemsituationen vorliegen: die Bedürftigen verfügen über keinerlei Wohnraum und wirtschaftliche Lebensgrundlage, über keine tragfähigen Beziehungen im familiären Bereich oder Bekanntenkreis usw. Außerdem sind sie auf Hilfen der Beratung und persönlichen Unterstützung (§ 3 DVO zu §§ 67 ff SGB XII) angewiesen (speziell zu den aus Strafhaft Entlassenen: Wolf § 67 ff SGB XII Rdn. 2, 15, in: Fichtner/Wenzel SGB XII 2009).
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Dazu kann auch die Finanzierung „ambulant betreuten Wohnens“ eines Haftentlassenen gehören, wenn im Einzelfall die Vermittlung einer Unterkunft nach §§ 4 ff DVO zu §§ 67 ff SGB XII allein die sozialen Schwierigkeiten nicht zu lösen vermag, vielmehr die Einleitung eines koordinierten Hilfeprozesses erforderlich ist (vgl. OVG Schleswig-Holstein ZfStrVo 2002, 249 ff mit Anm. Hammel). Es ist mit dem Nachranggrundsatz des Sozialhilferechts vereinbar, dass einem Haftentlassenen Eingliederungshilfe (§ 53 SGB XII) und Hilfe nach §§ 67 ff SGB XII gewährt wird (OVG Lüneburg FEVS 51, 84; Sunder NDV 2002, 21). Zu Art und Umfang der Hilfe ist in der amtlichen Begründung zu § 2 Abs. 2 Satz 1 DVO zu §§ 67 ff SGB XII ausgeführt, dass die Hilfe an der besonderen Lebenssituation und an ihren Defiziten zu orientieren ist (BR-Drucks. 734/00, 12). In der Praxis zu berücksichtigen ist das vorrangige Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe für die Dienstleistungen der Beratung und persönlichen Unterstützung bei der Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung, bei der Vermittlung von Ausbildung, bei der Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes sowie beim Aufbau und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und der Gestaltung des Alltags. Während das „alte“ BSHG noch dem Leitprinzip „Fördern und Fordern“ verpflichtet war, steht im „neuen“ SGB klar das „Fordern vor Fördern“ (dies kann als Zeichen einer neuen Sozialstaatlichkeit gewertet werden, vgl. Roscher in LPK-SGB XII Rdn. 8 zu § 2 VO, auch wenn sich das SGB ausdrücklich zum Leitprinzip „Fördern und Fordern“ bekennt (§§ 1–6a SGB II). In der Praxis problematisch kann die jeweilige Begründung zu dem erforderlichen Merkmal der „Nachhaltigkeit“ in § 2 Abs. 2 DVO zu §§ 67 ff SGB XII sein, wonach nach § 72 BSHG nur Maßnahmen in Betracht kommen, die geeignet sind, die sozialen Schwierigkeiten nachhaltig abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Dies kann nicht mit dem Erfordernis einer Prognosebewertung des Hilfebedürftigen und seiner Angehörigen gleichgesetzt werden, zumal erklärtes Ziel des „neuen“ BSHG ist, anstelle der zielgruppenorientierten Typenbildung „aus Freiheitsentziehung Entlassene“ die aktuelle Lebenslagenorientierung zum sozialpädagogischen Bewertungsmaßstab zu machen. Ist auf der einen Seite der Wegfall der stigmatisierenden Typenbildung zu begrüßen, so muss doch in der Praxis darauf geachtet werden, dass das Leistungsgefüge des § 67 SGB XII mit eigenem Selbstverständnis zur Eingliederung sozial schwacher Menschen erhalten bleibt. Zur Grundsicherung für Arbeitssuchende und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hartz IV-Reform, vgl. Rdn. 5). Auch unter Führungsaufsicht stehende Probanden, die aus dem Maßregelvollzug oder 7 Justizvollzug entlassen sind, können einen Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 SGB XII geltend machen. Diese Norm verleiht einen Anspruch auf finanzielle oder geldwerte Leistungen. Mit Blick auf finanzielle oder geldwerte Leistungen ist für das in § 2 Abs. 1 SGB XII niedergelegte Prinzip des Nachrangs von Sozialhilfe nur dann Raum, wenn aus § 68 StGB ein entsprechender Anspruch auf finanzielle oder geldwerte Leistungen folgen würde. Ein solcher Anspruch stände angesichts von § 2 Abs. 1 SGB XII einem Anspruch gegenüber dem Sozialhilfeträger auf der Grundlage von § 67 SGB XII entgegen. § 68 StGB verleiht aber in keiner Weise finanzielle oder geldwerte Ansprüche. Soweit in § 68a Abs. 2 StGB geregelt ist, dass Bewährungshelfer und Aufsichtsstelle im Einvernehmen miteinander den Verurteilten helfend und betreuend zur Seite stehen sollen, folgt daraus ebenfalls nicht ein entsprechender Anspruch auf finanzielle oder geldwerte Leistungen. Hierbei handelt es sich um die Aufgabe der Beratung und persönlichen Betreuung im Sinne von § 68 Abs. 1 SGB XII, die auch die Geltendmachung von Ansprüchen aus Sozialleistungen umfasst, nicht aber die Gewährung materieller Unterstützung. Es entspricht allgemei-
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ner Auffassung, dass Bewährungshilfe und Führungsaufsicht als Soziale Dienste der Strafrechtspflege auf der Rechtsgrundlage des StGB die Aufgaben der Überwachung (§ 68a Abs. 3 StGB i. V. mit § 68b StGB) und der Betreuung wahrnehmen, die keine Anspruch begründenden geldwerten Leistungen beinhalten und somit nicht gegenüber dem SGB XII als vorrangig zu bezeichnen wären. Die Sozialen Dienste der Strafrechtspflege sind somit nicht „Träger anderer Sozialleistungen“ i. S. n. § 2 SGB XII; im Ergebnis ebenso das Nds. OVG (ZfStrVo 2000, 183 f), dessen Auffassung wie folgt zusammengefasst werden kann: Sind bei einer unter Führungsaufsicht stehenden Person finanzielle oder geldwerte Leistungen erforderlich, die im Rahmen der nicht in erster Linie auf die sozialpädagogische und therapeutische Zuwendung ausgerichteten Führungsaufsicht nicht geleistet werden können, schließt das Prinzip des Nachrangs von Sozialhilfe einen Anspruch auf Leistungen auch nach § 67 SGB XII nicht aus. Der dem Beschluss des Nds. OVG zugrunde liegende Einzelfall betraf die Frage der Kostenübernahme bei der Unterbringung eines unter Führungsaufsicht stehenden Haftentlassenen in ein Wohnheim der Straffälligenhilfe (ähnlich zum vergleichbaren Verhältnis zwischen Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 SGB XII und Bewährungshilfe auch OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 20.3.1997 – 13 A 34/95, Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht 1998, 36 f). Die Diskussion um die Gewährung finanzieller Leistungen durch die Sozialhilfeträger gestaltet sich in der Praxis wegen der Tendenz zur Budgetierung und der durch das SGB XII gesetzlich vorgegebenen Leistungsfinanzierung zunehmend schwieriger (vgl. dazu BAG-S (Hrsg.), Leistung – Qualität – Finanzierung in der Freien Straffälligenhilfe. Arbeitshilfe zum Verfahren der Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen nach den §§ 75 ff SGB XII in der Hilfe nach § 67 ff SGB XII). Die Entlassungsvorbereitung kann dadurch im Einzelfall erheblich erschwert werden. Es empfiehlt sich, auf Landesebene koordinierende Absprachen unter Hinweis auf die vom BVerfG konkretisierten Leitlinien zur Resozialisierung als Anwendungsfall des Sozialstaatsprinzips zu treffen (vgl. Rdn. 2 ff vor § 71). Andernfalls steht zu befürchten, dass sich ungeklärte Kostenfragen vor der Aufnahme in Wohneinrichtungen im Einzelfall zu Lasten der Haftentlassenen auswirken.
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4. Die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers ergab sich früher nach § 97 Abs. 1 BSHG aus dem tatsächlichen Aufenthalt der Hilfesuchenden (Justizvollzugsanstalt). Auch ein Ort, an dem Hilfesuchende nur vorübergehend, ungewollt oder fremdbestimmt anwesend waren, galt als tatsächlicher Aufenthalt im Sinne des § 97 BSHG (vgl. BayVGH ZfStrVo 1981, 243; ausführlich dazu Rabe § 98 SGB XII Rdn. 29–33 in: Fichtner/Wenzel SGB XII 2009). Nach § 98 Abs. 4 SGB XII ist für Personen, die sich in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, nunmehr örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt haben. Ist ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bereich dieses Gesetzes nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII. § 106 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gilt entsprechend. Die Vorschrift soll solche örtlichen Träger der Sozialhilfe finanziell entlasten, in deren Bereich sich Vollzugsanstalten befinden (so bereits der Gesetzesbeschluss des Bundestages einer 4. BSHG-Novelle vom 26.6.1980). Örtlich zuständig ist also nicht mehr (wie früher) der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich die Vollzugsanstalt liegt und der auch solche Leistungen zu erbringen hatte, die der Erhaltung der Unterkunft an einem anderen Ort dienten (vgl. Schellhorn 1978, 17). Bei einem unzuständigen Träger der Sozialhilfe gestellte Anträge sind weiterzuleiten (§ 16 SGB I).
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Die von dem örtlich zuständigen Sozialhilfeträger zu erbringenden Leistungen betreffen im Wesentlichen die Übernahme der Mietkosten und Kautionen, Mietrückstände nach § 15a BSHG, Kosten für Lagerung von Hausrat sowie den Regelbedarf i. S. von § 28 SGB XII vgl. dazu Rdn. 7 zu § 72 sowie Schoch in: Bundessozialhilfegesetz. Lehr und Praxiskommentar (LPK-BSHG), Kommentar Baden-Baden 2003 Rdn. 74 zu § 97 BSHG. Von erheblicher Bedeutung ist die Kenntnis des § 103 SGB XII (Kostenersatz bei 9 schuldhaftem Verhalten) vgl. Schellhorn, Rdn. 26 zu § 92a BSHG. Die Voraussetzung eines „sozialwidrigen Verhaltens“ (BVerwGE 51, 61) nach § 92a a. F.; n. F. § 103 SGB XII BSHG liegt bei Personen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt sind, in der Regel vor. Danach wären die Gefangenen/Entlassenen eigentlich ersatzpflichtig. Nach § 103 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kann aber von der Heranziehung zum Kostenersatz abgesehen werden, soweit sie eine Härte bedeuten würde. Die Verpflichtung der Sozialämter, von der Heranziehung zum Kostenersatz abzusehen, besteht insbesondere bei Fällen fortdauernder sozialer Gefährdung, vor allem bei der Resozialisierung Strafgefangener (BT-Drucks. 7/308; dazu: Wolf § 103 SGB XII Rdn. 14, 15 in: Fichtner/Wenzel SGB XII 2009; Schellhorn, Rdn. 23–27, insbesondere 26 zu § 92a BSHG). Vgl. auch Brühl 1986, 291 und das Beispiel Rdn. 15. 5. § 74 Satz 3 verpflichtet die Vollzugsbehörde, den Gefangenen zu helfen, Arbeit, 10 Unterkunft und persönlichen Beistand für die Zeit nach der Entlassung zu finden. Obwohl ergänzende organisatorische Anweisungen fehlen, ist dieser Hilfeauftrag weit auszulegen und bedarfsgerecht auszugestalten. Dieses Ziel kann nur durch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Vollzug und den Einrichtungen der Entlassenenhilfe erreicht werden. Insbesondere muss die Zusammenarbeit zwischen dem Vollzug, den Wohlfahrtsverbänden und den Sozialleistungsträgern verstärkt werden. Die Zielsetzung einer regionalen Bündelung der Hilfeangebote, einer kostengünsti- 11 gen Zentralisierung der Hilfen, der Vermeidung des uneffektiven Gießkannenprinzips und der Mehrfachbetreuung und einer erhöhten fachlichen Betreuung der Haftentlassenenhilfe steht im Vordergrund. Der „Zusammenschluss der Helfenden“ kann nur bei Beteiligung aller staatlichen und privaten Einrichtungen erreicht werden. Anlaufstellen für Straffällige in der Trägerschaft freier Verbände nehmen hierbei folgende Aufgaben wahr: Betreuung von Gefangenen zur Vorbereitung auf die Entlassung durch Einzelberatung, Gruppenarbeit und Vermittlung von Bezugspersonen; ambulante oder gegebenenfalls auch stationäre Betreuung nach der Haftentlassung durch Einzelberatung, Hilfen bei der Schuldenregulierung (Rdn. 7 ff zu § 73); Beschaffung von Wohnraum und Vermittlung von Behördenkontakten; Gewinnen, Anleiten und Fortbilden ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, verbunden mit einer Verständniswerbung in der Öffentlichkeit für die Belange der Straffälligenhilfe (vgl. dazu K/S-Schöch 2002 § 13 Rdn. 31 und 33). Solche örtlichen/regionalen Arbeitsgemeinschaften der Straffälligenhilfe mit ent- 12 sprechenden Kooperationsvereinbarungen öffnen nicht nur institutionalisierte Wege der Wohnungs- und Arbeitsvermittlung, sondern beziehen nach § 68 Abs. 3 SGB XII auch die örtlichen Sozialhilfeträger voll ein und schaffen damit ein regionales Verbundsystem der Hilfen (für Baden-Württemberg: Dünkel 1981, 202 ff; ders. 1984, 227 zur Freiburger Anlaufstelle für Strafentlassene; Rebmann/Wulf 1990, 9; für Niedersachsen zu den Anlaufstellen für Straffällige: Best 1982a, 115 ff; ders. 1998, 136 ff). Eigene Übergangswohngruppen, Begegnungszentren für Haftentlassene und deren ehrenamtliche Betreuer, Kursangebote (vgl. Rdn. 12 zu § 74) eines „Sozialen Trainings in der Übergangshilfe“ (Arbeit – Wohnen – Freizeit – usw.) sowie neu entwickelte gemeinnützige Arbeitsprojekte konkretisieren den Hilfeauftrag des § 74 Abs. 2. Für die Vollzugsbehörden ergibt sich daraus sowohl eine ideelle wie
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auch materielle Verpflichtung, sich gestalterisch und finanziell in enger Zusammenarbeit mit den freien Verbänden der Wohlfahrtspflege und der privaten Straffälligenhilfe am Aufbau und am Erhalt solcher Einrichtungen der Entlassenenhilfe zu beteiligen (vgl. auch BVerfGE 35, 236 und mit Hinweisen zur Situation in den Ländern: Stelly/Thomas 2008, 270 ff). 13 Die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, bereits vor der Entlassung mit Verbänden der freien Wohlfahrtspflege zur Gewinnung eines persönlichen Beistandes Kontakt aufzunehmen, hat der Gesetzgeber deutlich hervorgehoben (SA BT-Drucks. 7/3998, 30). Nach der Gesetzesbegründung „ist die Hilfe nach der Entlassung mindestens ebenso wichtig wie die Fürsorge für den Gefangenen innerhalb der Anstalt“. Die „Anlaufstellen für Straffällige“, die inzwischen über einen erheblichen Personenkreis von ehrenamtlichen Helfern verfügen, haben in diesem Bereich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen (Rdn. 11). 14 Auch ausländische Gefangene sind im Rahmen der Entlassungsvorbereitung bei der Ordnung ihrer persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten einschließlich der Passbeschaffung und Abklärung von Rentenansprüchen zu beraten. Als besonders hilfreich hat sich hierbei die Zusammenarbeit mit spezialisierten freien Trägern der Wohlfahrtsverbände und Kirchen erwiesen. So verfügte z.B. Niedersachsen über eine aufsuchende Sozialarbeit für ausländische Gefangene, die in Abstimmung mit der Ausländerbeauftragten des Landes ab 1993 mit finanzieller Unterstützung der Justizverwaltung eingerichtet und in sechs Schwerpunktanstalten des niedersächsischen Justizvollzuges eingesetzt war. Diese spezialisierten Fachkräfte leisteten die notwendigen Informationen einschließlich der individuellen Beratung und Hilfe. Sprachprobleme wurden mit Dolmetschern bewältigt. Ausländerspezifische Merkblätter mit speziellem Inhalt zur Entlassungsvorbereitung haben sich im Vergleich zu dieser individuellen Beratungsform dagegen nicht bewährt. Hier bietet sich auch für die Ehrenamtliche Mitarbeit ein wirkungsvolles Tätigkeitsfeld (DBH Bildungswerk Projekt Lotse 1999). Im Umgang mit ausländischen Gefangenen ist die Empfehlung R (84) 12 des Europarats vom 21.6.1984 (ZfStrVo 1985, 92) zu beachten. Der unveröffentlichte Bericht des Europarats vom 9.5.1996 zu einer Umfrage über die Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedstaaten – PPC (96) 3 – lässt erkennen, dass der Europarat den Maßnahmen zum Abbau der Isolation und zur Förderung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft besondere Bedeutung zuerkennt. Voraussetzung hierfür ist es, auch interkulturelle Mentalitäten zu berücksichtigen (vgl. dazu Finkbeiner/Karsten/Meiners 1993, 343 zu den Deeskalationsgruppen mit Inhaftierten unterschiedlicher Nationalität und Kultur in der Jungtäteranstalt Vechta; speziell zur Betreuungsarbeit mit Inhaftierten in einer Anstalt mit hoher Ausländerquote Dolde 2002, 146 ff; zur Arbeit mit Spätaussiedlern unter subkulturellen Aspekten; Schwind 1999, 339 ff). Die Hilfe zur Entlassung bei ausländischen Strafgefangenen umfasst aber auch die Prüfung, ob ein Absehen von der Strafvollstreckung gem. § 456a StPO erfolgen kann (vgl. beispielhaft in Niedersachsen die AV vom 30.6.2005 „Absehen von der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung bei Nichtdeutschen §§ 154b, 456a StPO“, in: Nds MBl Nr. 30/205 S. 625). Sofern die Anstalt bei der Vollstreckungsbehörde dies anregt, hat sie einen Bericht beizufügen, der eine sachgerechte Entscheidung ermöglicht. Dazu müssen auch die entsprechenden konkreten Informationen zusammengestellt werden (C/MD 2008 § 73 Rdn. 5 m.w.N.). Der große Anteil ausländischer Strafgefangener stellt den Justizvollzug vor besondere Probleme. Die Rückführung in ihr Heimatland zur weiteren Strafvollstreckung kann bewirken, dass die der Verurteilung zugrunde liegenden Strafzwecke und Vollzugsziele ohne die mit der weiteren Strafvollstreckung im Ausland verbundenen besonderen Belastungen erreicht werden. Das europäische Vollstreckungshilferecht ermöglicht dies durch das
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Gesetz zur Ausführung des Übereinkommens des Europarats vom 21.3.1983 über die Überstellung verurteilter Personen in ihr Heimatland (ÜAG), BGBl. 1991 II, 1954 f, das dem Gesetz zugrunde liegende Übereinkommen vom 21.3.1983 (Überst. ÜbK), BGBl. 1991 II, 1006, 1992 II, 98 sowie durch das erste Zusatzprotokoll vom 18.12.1997 (ZP – Überst. ÜbK, vgl. BT-Drucks. 15/3179): zum Text mit Erläuterungen vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Auflage, München 2006, Abschn. vor II C S. 688, II C 1 S. 728 mit Tabellen der einzelnen Staaten; Laubenthal 2008 Rdn. 337 ff; vgl. die aktuellen Einzelheiten auf der Homepage des Europarates unter www.conventions.coe.int. Als Ziele der europäischen Vollstreckungshilfe sind ausdrücklich benannt die erleichterte Resozialisierung im Heimatland, die Entlastung des Strafvollzugs sowie die Vermeidung von Unvollstreckbarkeit strafrechtlicher Entscheidungen, insbesondere durch Flucht in den oder Aufenthalt im Heimatstaat, der eigene Staatsangehörige sogar von Verfassung wegen nicht zur Vollstreckung an andere Staaten ausliefern kann. Die materielle Regelung der Überstellung eines Verurteilten in sein Heimatland ergibt sich aus § 71 IRG. Nach dieser Vorschrift kann mit dem Vollstreckungshilfeersuchen sowohl das Interesse des Verurteilten wie auch das öffentliche Interesse aufgegriffen werden (§ 71 Abs. 1 Ziff. 1 Nr. 2 IRG). Das Überstellungsübereinkommen (ÜberstÜbk) ändert an dieser Rechtslage nichts. Es nimmt auf die Interessen der Rechtspflege und das Interesse des Verurteilten an seiner sozialen Wiedereingliederung Bezug (vgl. auch die Denkschrift der Bundesregierung zum ÜberstÜbk, BT-Drucks. 12/194, 17) und regelt dazu Einzelheiten des Verfahrens. Äußert der Verurteilte gem. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d ÜberstÜbk den Wunsch, zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Strafe in sein Heimatland überstellt zu werden, so ist es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Interessen des Verurteilten an seiner sozialen Wiedereingliederung und die Belange der Rechtspflege – auch im Hinblick auf die Vollstreckungspraxis des Aufnahmestaats – vollstreckungsrechtlich zu würdigen. Bei der Ermessensausübung hat sie auch den Resozialisierungsanspruch des Verurteilten zu berücksichtigen. Dieser hat ein Recht auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens der Vollstreckungsbehörde. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt insoweit den gerichtlichen Rechtsschutz (BVerfG NJW 1997, 3013 ff = NStZ 1998,140 ff im Fall von türkischen Staatsangehörigen, die sich nach hiesiger Verurteilung wegen BtM-Delikten von der Restverbüßung im Heimatland eine vorzeitige Entlassung nach 42 % der verhängten Freiheitsstrafen erhofften). Generalpräventive Gründe und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts können gegen die Bewilligung eines solchen Antrags sprechen (OLG Zweibrücken ZfStrVo 2000, 313 f). Die Anzahl der tatsächlich aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat überstellten Personen ist mit 158 im Jahre 2005 relativ gering gewesen. Hierfür gibt es eine Reihe von Ursachen. In erster Linie war die fehlende Bereitschaft der verurteilten Person, sich zur weiteren Vollstreckung in ihren Heimatstaat überstellen zu lassen, verantwortlich. An dieser Stelle setzt ein Zusatzprotokoll zum Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 (CETS No. 112) an. Das Zusatzprotokoll ermöglicht eine Überstellung ausländischer verurteilter Personen auch ohne deren Zustimmung in ihre Heimatländer zur Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen. Mit dem bereits am 18.12.1997 unterzeichneten Zusatzprotokoll (CETS No. 167) ist eine Zustimmung der verurteilten Person in denjenigen Fällen nicht erforderlich, in denen gegen sie wegen der Tat, die ihrer Verurteilung zugrunde liegt, eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung vorliegt. Zudem sind Regelungen für den Fall vorgesehen, dass der verurteilte Täter versucht, sich der Verbüßung durch Flucht in sein Heimatland zu entziehen. Da derartige Fallkonstellationen in der Praxis nicht selten vorkommen, eröffnet das Zusatz-
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protokoll die Möglichkeit, solche Straftäter vermehrt zur Strafverbüßung in ihre Heimat zu überstellen. Das Ausführungsgesetz vom 17.12.2006 (BGBl. I 2006, 3175) regelt die praktische Anwendung des Zusatzprotokolls in Deutschland. Für Deutschland wurde das bereits am 18.12.1997 unterzeichnete Zusatzprotokoll nach langem Zögern des Bundesjustizministeriums erst am 17.4.2007 ratifiziert und zum 1. August 2007 in Kraft gesetzt. Nach dessen Artikel 3 kann nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen eine Überstellung zur Haftverbüßung im Heimatland auch gegen den Willen der verurteilten Person ermöglicht werden. Parallel dazu wird eine Intensivierung der Vollstreckungshilfe auf EU-Ebene angestrebt (zu dem Themenkreis: Lemke ZRP 2000, 173 ff; Antwort der Bundesregierung vom 28.7.2000, BT-Drucks. 14/3957 auf eine Große Anfrage „Erleichterungen bei der internationalen Vollstreckungshilfe“ BT-Drucks. 14/2827 mit statistischem Material; Hamdorf SchlHA 2008, 74, 75 f). Nach Art. 29 EUV verfolgt die Union das Ziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mittels der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität (vgl. Gless 2006, 899 ff). Weil bisher der Union keine unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirkende Rechtsetzungsinstrumente zur Verfügung stehen (im Gegensatz zu dem beabsichtigten Vertrag von Lissabon), kommt die in Art. 34 EUV geltenden Regelung über Rahmenbeschlüsse zur Anwendung. Derzeit ist in der Abklärung der „Rahmenbeschluss des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile von Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer „Vollstreckung in der Europäischen Union“, ABl. C 150 vom 21.6.2006, 1–16 (dazu: Morgenstern 2008, 76 ff). Nach dem Rahmenbeschluss sollen verurteilte Straftäter ohne ihre Zustimmung zur Verbüßung der Strafe in ihr EU-Heimatland überstellt werden, wenn sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und dort über familiäre, soziale und sonstige Bindungen verfügen. Dies soll insbesondere der Resozialisierung der Betroffenen dienen. Befindet sich der Straftäter bereits in seinem Heimatstaat, wird das Urteil an den Heimatstaat zur Vollstreckung übersandt. Die Zustimmung des Heimatstaates zur Überstellung des Straftäters oder zur Übersendung des Urteils zum Zwecke der Vollstreckung ist nicht erforderlich. Wesentliche Neuerung des Rahmenbeschlusses gegenüber dem Übereinkommen und dem Zusatzprotokoll ist der Verzicht auf die Zustimmung der verurteilten Person und auf die Zustimmung des Heimatstaats zur Vollstreckung des Urteils im Heimatstaat. Voraussetzung ist, dass die verurteilte Person die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaats hat und auch tatsächlich dort lebt. Der Verzicht auf beide Zustimmungserfordernisse gilt in diesen Fällen unabhängig davon, ob sich die Person gerade im Urteilsstaat oder Vollstreckungsstaat befindet. Ein weiterer Rahmenbeschluss betrifft die Anerkennung und Überwachung von Bewährungsstrafen, alternativen Sanktionen und bedingten Verurteilungen, ABl. C 147 vom 30.6. 2007, 1 ff). Die Stellungnahme der Anstalt im Verfahren gem. § 456a StPO soll Hinweise über die Anschrift der verurteilten Person im Vollstreckungsstaat, ihre sozialen Bindungen, ihre Führung in der Anstalt und ähnliche besondere Erkenntnisse enthalten; andere Ermittlungs- oder Strafverfahren, die in der Anstalt bekannt sind, sind in der Stellungnahme mitzuteilen. Werden nachträglich solche Verfahren bekannt, ist die Vollstreckungsbehörde unverzüglich zu unterrichten. Die Regelungen über die Aussetzung des Strafrestes, über das Absehen von der Strafvollstreckung gem. § 456a StPO (dazu Rdn. 11 und die in NRW zur Anwendung des § 465a StPO durchgeführte Aktenanalyse von Tzschaschel Ausländische Gefangene im Strafvollzug, Herbolzheim 2002) und über die Überstellungsmöglichkeiten nach den Übereinkommen stehen rechtlich selbständig nebeneinander.
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§ 456a StPO bietet in der Regel ein einfacheres Verfahren als die Überstellung nach dem Übereinkommen, da eine Einigung mit einem Vollstreckungsstaat über die Überstellung nicht erforderlich ist. Während nach dem Übereinkommen (Art. 8 Abs. 1) durch die Übernahme der verurteilten Person durch den Vollstreckungsstaat die Vollstreckung im Urteilsstaat ausgesetzt wird, kann im Falle des § 456a StPO die Vollstreckung bei einer Wiedereinreise des Verurteilten häufig durch Vollstreckungshaftbefehl gesichert werden. Sind sowohl die Voraussetzungen des §456a StPO als auch die des Übereinkommens gegeben, hat die Vollstreckungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, welche Maßnahme in Betracht kommt (vgl. Meyer-Goßner § 456a Rdn. 4 f). Bei ausländerrechtlichen Maßnahmen gegen ausländische Strafgefangene sind die rechtlichen Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft für das Ausweisungs- und Abschiebungsrecht zu berücksichtigen. Bei der Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen ist insbesondere der auf das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei aus dem Jahr 1963 zurückgehende „Beschluss des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation“ – ARB 1/80 – von 1980 zu beachten. Insbesondere sind die Regelungen des ARB 1/80 in Artikel 6 (Aufenthaltsrecht für türkische Arbeitnehmer), Artikel 7 (Aufenthaltsrecht für Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer) und Artikel 14 (erhöhter Ausweisungsschutz für nach Artikel 6 oder 7 privilegierte türkische Staatsangehörige) zu berücksichtigen. Der Europäische Gerichtshof hat im Laufe der Zeit aus diesen Bestimmungen eine Angleichung der Rechtsstellung der unter den ARB 1/80 fallenden türkischen Staatsangehörigen mit der von EU-Staatsangehörigen entwickelt. Nach seiner Rechtsprechung sind die Grundsätze über die Freizügigkeit von Unionsbürgern und damit auch die Grundsätze über die Ausweisung soweit wie möglich auf die privilegierten türkischen Staatsangehörigen zu übertragen. Das BVerwG hat im Jahr 2004 grundsätzlich entschieden, dass dieser Personenkreis nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung in Verbindung mit den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ausgewiesen werden darf. Nach dieser Rechtsprechung (BVerwG 1 C 30.02, BVerwGE 121, 315 und BVerwG 1 C 29.02, BVerwGE 121, 315, BVerwG 1 C 45.06 vom 15.11.2007) dürfen Bürger aus den Mitgliedstaaten nur noch nach intensiver Einzelfallprüfung und unter Berücksichtigung ihres Verhaltens nach der Tat abgeschoben werden. Diese Maßstäbe gelten weitestgehend auch für türkische Arbeitnehmer. Das BVerwG berücksichtigt damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg, der eine detaillierte Einzelfallprüfung fordert. Regelausweisungen, wie sie bislang das Ausländergesetz (§ 47) bei schweren Straftaten vorsieht, sind danach nicht mehr möglich. Die strafrechtliche Verurteilung allein kann nicht zu einer Ausweisung oder Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis führen. Vielmehr muss eine „tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung“ vorliegen, die „ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, wie es der Europäische Gerichtshof formuliert. Wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt, so ist eine Ausweisung nicht zulässig. Anders ist es jedoch bei besonders schwerwiegenden Straftaten: Im Bereich der Rauschgiftkriminalität tendieren die Gerichte dazu, eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzunehmen. Hier kann im Einzelfall die Verurteilung wegen einer einzigen Tat die Ausweisung begründen, wenn aufgrund des Verhaltens und der Gesamtpersönlichkeit des Täters die konkrete Gefahr erneuter Verstöße gegen Strafvorschriften besteht. Ausschlaggebend für eine Ausweisung darf lediglich das persönliche Verhalten des Betroffenen sein. Unzulässig ist es daher, wenn ein Staat einen Unionsbürger nur ausweist, um andere Ausländer von gleichem Verhalten abzuschrecken (zur Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen unter Heranziehung von Art. 8
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EMRK: BVerfG, NVwZ 2007, 1300; zur geplanten Änderung des Ausweisungsrechts und zur Statistik vgl. LT BW Drucks. 14/2277 vom 24.1.2008).
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6. Zur Aufarbeitung aktueller Entlassungsprobleme im Rahmen der „Strategie der Aktivierung“ (vgl. Rdn. 4 vor § 71) eignen sich sozialpraktische Trainingskurse (vgl. dazu Böhm 2003 Rdn. 214 f und 395 ff; Becker/Marggraf/Nuissl/Sutter 1988, 41 ff; Beisel/Dölling 2000), die sich nach didaktischen Konzepten der Erwachsenenbildung schwerpunktmäßig mit folgenden Problemkreisen befassen: Verkehr mit Behörden, Umgang mit Geld, Rechtsfragen des Alltags, Partnerschaft usw. Ihr Informationswert ergibt sich aus dem Einüben von Vorstellungsgesprächen, Abfassen von Bewerbungsschreiben, Ausfüllen von Formularen bzw. Vorsprachen bei Behörden und Diskussionen mit Fachleuten (Richter, Bewährungshelfer, Bedienstete des Sozialamts und der Bundesagentur für Arbeit, Gerichtsvollzieher usw.). Solche sozialen Trainingsprogramme ermöglichen es, durch eigenes Erleben und Nachspielen notwendige Lebensbewältigungstechniken zu lernen und in der Praxis zu erproben. Es handelt sich damit um zielorientierte Kurssysteme, nicht um eine lose Ansammlung von sozialen bzw. pädagogischen Begleitmaßnahmen (Zur Planung, Durchführung und Evaluation eines Lernprogramms im Vollzug durch Soziales Training: Otto 1988, sowie die Nachweise bei Rdn. 12 zu § 73; grundlegend die Verwaltungsvorschrift für Niedersachsen: Soziales Training in Justizvollzugsanstalten, Abschnitt: 14 NAV Nr. 1 zu § 37, AV d. MJ v. 17.10.2001 – (Nds. Rpfl. S. 450), zuletzt geändert durch AV vom 21. Mai 2007 (Nds. Rpfl. S. 214); Busch 1987, 87 ff. Zum Sozialen Training als Betreuungsaufgabe auch für den allgemeinen Vollzug: Wauro 1992, 280; zum Themenschwerpunkt „Anti-Gewalt-Training“ im Bereich des Sozialen Trainings Buchert/Metternich 1994, 327); zu Aspekten der Konfliktregelung, der Schadenswiedergutmachung und des Täter-Opfer-Ausgleichs vgl. § 73 Rdn. 6; zur Schuldenregulierung vgl. Rdn. 6–14 zu § 73; zu Problemen bei der Einrichtung eines Girokontos Rdn. 2.
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7. Aus dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGBl. I, 160) und dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26.1.1998 (BGBl. I, 164) haben sich erhebliche Auswirkungen für den Vollzug und die Sozialen Dienste der Justiz ergeben. Bewährungshilfe und Führungsaufsicht sind insbesondere von der intensivierten Überwachung und Betreuung der aus Justizvollzug und Maßregelvollzug entlassenen Sexualstraftäter und anderen gefährlichen Straftäter betroffen. Das Maßnahmepaket enthält u. a. folgende Bestandteile, um der Rückfallkriminalität vorzubeugen: (1) Vermehrte Unterbringung von Sexualstraftätern in Sozialtherapeutischen Anstalten; (2) Schutz der Allgemeinheit bei vorzeitiger Haftentlassung (§ 57 StGB). Bisher bestimmte das Gesetz als Voraussetzung für die Strafrestaussetzung zur Bewährung, dass „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“. In § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist die bisherige Formulierung durch eine Regelung ersetzt worden, wonach eine vorzeitige Haftentlassung nur erfolgen kann, „wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. In § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB, in dem die bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes namentlich zu beachtenden Gesichtspunkte aufgeführt werden, ist zusätzlich ausdrücklich „das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts“ genannt. (3) Obligatorisches Gutachten bei vorzeitiger Haftentlassung von besonders rückfallgefährdeten Tätern; (4) Therapie als Bedingung für eine Strafaussetzung oder Strafrestaussetzung zur Bewährung;
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(5) Pflicht zur Therapie auch bei Führungsaufsicht nach Vollverbüßung; (6) Frühzeitigere und häufigere Anordnung der Sicherungsverwahrung. Die Führungsaufsicht dient der Überwachung und Betreuung von Verurteilten, die ihre Strafe voll verbüßt haben (§ 68 f) oder aus dem Maßregelvollzug, d. h. einer Klinik für psychisch oder suchtkranke Straftäter entlassen wurden. Die Führungsaufsicht gewährleistet eine nachsorgende Betreuung von Täterinnen und Tätern, deren gesellschaftliche Wiedereingliederung nach ihrer Entlassung aus dem Strafoder Maßregelvollzug aus unterschiedlichen Gründen gefährdet erscheint und die daher im Besserungs- und im Sicherungsinteresse in besonderem Maße kontrollierender Begleitung und Unterstützung bedürfen (Kwaschnik 2008 unter besonderer Würdigung der Arbeitsweise der Sozialen Dienste der Justiz). Durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl. I 513) soll eine straffere und effizientere Kontrolle der Lebensführung von Straftätern – vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Entlassung in Freiheit – ermöglicht werden. Die Reform hat damit sowohl eine erhebliche kriminalpolitische als auch eine große praktische Bedeutung und könnte sogar den Belegungsdruck im Strafvollzug und Maßregelvollzug vermindern. Dies setzt aber neben einer Verbesserung des strafrechtlichen Rahmens eine Steigerung der Effizienz der Führungsaufsicht sowie eine Überprüfung und ggf. Verbesserung ihrer Umsetzung in der Praxis durch die Justizverwaltung voraus. Die neuen Instrumente sind geeignet, die Entscheidung für die Entlassung und die Fortsetzung der Therapie in ambulanten Einrichtungen zu fördern. Besonders bedeutsam ist der gezielte Ausbau der Nachsorge nach Entlassung aus dem Straf- und Maßregelvollzug (§§ 68 ff StGB). Das Gericht kann nunmehr auch die verurteilte Person anweisen, sich nachsorgend psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen (§ 68b Abs. 2 S. 2 Therapieweisung). Hierzu werden die forensischen Ambulanzen neben den Aufsichtsstellen und der Bewährungshilfe ausdrücklich genannt (§ 68a). Durch eine neuartige Krisenintervention können kritische Entwicklungen von Probanden noch besser als bisher frühzeitig erkannt und aufgearbeitet werden. So kann jetzt ein mit Strafe bewehrtes Kontaktverbot ausgesprochen werden. Damit kann z. B. verhindert werden, dass der Verurteilte nach seiner Freilassung das Opfer seiner Straftat erneut belästigt oder bedroht. Sexualstraftätern kann unter Strafandrohung auch verboten werden, Kontakte zu fremden Kindern aufzunehmen. Darüber hinaus werden weitere strafbewehrte Weisungen zugelassen: Bestehen Hinweise darauf, dass ein Verurteilter unter Alkoholeinfluss wieder gefährlich werden kann, so kann das Gericht ihm verbieten Alkohol zu trinken. Die Einhaltung dieses Verbots kann z.B. mit Atemalkoholkontrollen überwacht werden. Vor allem können Verurteilte so nachdrücklicher als bisher motiviert werden, einen ersten Schritt in Richtung Therapie zu unternehmen. Es ist zu hoffen, dass es dem therapeutischen Personal gelingt, die erforderliche Mitwirkungsbereitschaft des Betroffenen an der Therapie zu erlangen. Durch das „Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16.7.2007“ (BGBl. I S. 1327) ist eine für die Soziale Hilfe bedeutsame Änderung zur Neuregelung der Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 StGB) erfolgt (vgl. Spiess, Das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt, in: StV 2008, 160). a) Der neu gestaltete Abs. 2 S. 2 des § 67 StGB sieht vor, dass bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren das Gericht bestimmen soll, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen
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ist. Dieser Teil der Freiheitsstrafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 67 Abs. 5 S. 1 StGB möglich ist, § 67 Abs. 2 S. 3 StGB n. F. Die Anordnung des Vorwegvollzuges wirkt sich sonst wie ein zusätzliches Strafübel aus (vgl. BGH NStZ 2007, 30). § 67 Abs. 2 S. 2 und 3 StGB n. F. soll den bisherigen schädlichen Wirkungen des Vorwegvollzugs der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor einer langjährigen Freiheitsstrafe entgegenwirken. Nach der bisherigen Gesetzeslage musste das Gericht in Umkehrung der gesetzlich vorgeschriebenen Reihenfolge der Vollstreckung bestimmen, dass die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Dabei handelt es sich jedoch um eine Ausnahme Vorschrift. b) Durch § 67 Abs. 2 S. 4 StGB n. F. wird dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt, bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anzuordnen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird. Mit der Neuregelung wird die Grundlage für eine Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge bei ausländischen Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus geschaffen.
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8. Wegen der Gesetzesänderungen ist das Erfordernis der Zusammenarbeit zwischen Justizvollzug, Maßregelvollzug und Sozialen Diensten in der Justiz insbesondere im Rahmen der Sozialen Hilfe und der Entlassungsvorbereitung deutlich gewachsen. Die Praxis muss Mittel und Wege finden, um einerseits das zentrale und berechtigte Anliegen dieser Reform nach einem besseren Schutz der Bevölkerung vor rückfälligen Sexual- und Gewaltstraftätern zu erreichen. Andererseits muss der Gefahr der überschießenden Tendenz im Zuge des Rufs nach Verschärfungen entgegengesteuert werden. Es wird der wissenschaftlichen Begleitforschung bedürfen, ob eine Belastung oder eine Entlastung im Strafund Maßregelvollzug,eintreten wird. Hohe Aufmerksamkeit ist auch der Frage zu widmen. ob im Strafvollzug die Strafrestaussetzung zur Bewährung als eine effektive Form der Entlassung durch die scheinbar sicherere Entlassung nach Vollverbüßung schrittweise zurückgedrängt oder gar verdrängt wird. Die Entwicklung mit der Tendenz, die Risikoabwägung zugunsten des Gesellschaftsschutzes und zu Lasten individueller Resozialisierung bei dieser Tätergruppe zu verschieben, trifft sich mit den Vorschlägen, den Sicherungsaspekt als gleichrangiges Vollzugsziel neben der Wiedereingliederung im Strafvollzugsgesetz zu verankern (Jehle 2003, 37 ff, 45). Das Konzept der sog. Integrativen Sozialtherapie (Rehn 2002, 23 ff) rückt dagegen die Verbesserung der Nachbetreuung in den Vordergrund der Arbeit. Untersuchungsergebnisse enthalten die Anregung, die Sozialtherapie auf Gefangene zu beschränken, die in kürzeren Therapieabschnitten, einer gründlichen Entlassungsvorbereitung und einer längeren Begleitung in Freiheit auf ein Leben ohne Straftaten vorbereitet werden können (Rotthaus 2002, 279 ff). Am Tätertyp ausgerichtete bedarfsorientierte Behandlungsprogramme und eine verstärkte Spezialisierung der Anstalten auf bestimmte Tätergruppen könnten die „Kluft“ zwischen Resozialisierungszielen und Sicherheitsstrategien verringern (Koepsel 1999, 81 ff). 18 Die VV zu § 74 konkretisiert die zwingende Verpflichtung der Vollzugsbehörde zur Zusammenarbeit (§ 154 Abs. 2) mit der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht im Rahmen der Entlassungsvorbereitung. Bedeutsam ist dies für den Fall der Strafrestaussetzung zur Bewährung und insbesondere dann, wenn diese vorzeitig Entlassenen der Bewährungshilfe unterstellt werden. Die „vorzeitige Entlassung“ ist ein wesentliches Instru-
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ment moderner Kriminalpolitik. Dasselbe gilt für die Aussetzung der Maßregeln der Besserung und Sicherung. Seit 1998 wird in den Vorschriften über die Strafrestaussetzung zur Bewährung (im Sprachgebrauch: bedingte Entlassung) die Beachtung des Sicherheitsinteresses der Bevölkerung ausdrücklich hervorgehoben. Nach der Strafvollzugsstatistik für 2004 machte die Strafrestaussetzung zur Bewährung nach Teilverbüßung einer Strafe oder Maßregel rechnerisch rund 34 % aller Entlassungen in kontrollierte Freiheit aus. Dabei schwanken die entsprechenden Anteilswerte in den Ländern zwischen 16 % und 51 %. Zu beachten ist, dass sich ganz unterschiedliche Konstellationen hinter der statistischen Auflistung verbergen (zu den Einzelheiten vgl. den Ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung, herausgegeben vom BMI und BMJ, Berlin 2001 sowie den Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht, Berlin 2006, 630 ff). Tendenziell zeichnet sich ein Absinken in der Quote der vorzeitigen Entlassung bei den Deliktsgruppen von Gewaltdelikten einschl. gefährlicher Körperverletzung und Sexualdelikten ab (vgl. Dünkel/Geng 2008, 15; eingehend Fritsche 2005, 234 ff, 255 ff, 260 ff mit Nachweisen auch zur Strafrestaussetzung in europäischen Ländern). Die Strafrestaussetzung ist ein Instrument, das effektiv zur Entlastung des Strafvollzugs und der Reduzierung der Gefangenenzahlen beitragen kann. Dies belegt auch die unterschiedliche Rückfallquote bei „Erstverbüßern“: bei solchen ohne Strafrestaussetzung zur Bewährung betrug sie bis zu 70 %, Entlassene mit Strafrestaussetzung zur Bewährung traten dagegen nur in 44 % der Fälle strafrechtlich in Erscheinung 23 %, was nach empirischen Erhebungen vor allem auf den Einsatz der Bewährungshilfe zurückzuführen war (Fritsche 2005, 255). Insgesamt sind aber die funktionalen Kontakte zwischen dem ambulanten Sozialdienst und dem stationären Vollzug von besonderer Bedeutung (vgl. Quensel 1977, 89 ff). Die Datenübermittlung ist nach § 180 Abs. 1 Satz 1 zulässig. Für die Datenübermittlung an die Bewährungshilfe und Führungsaufsicht gilt auch § 180 Abs. 4 Nr. 1. Für die Arbeit der Führungsaufsichtstellen wäre es sachgerecht, wenn seitens der Anstalten Vorschläge und Anregungen für geeignete Weisungen nach § 68b StGB gegenüber der Staatsanwaltschaft gemacht würden (Arloth 2008 Rdn. 4). Zum strukturellen Informationsproblem zwischen den Sozialen Diensten vgl. Rdn. 10 vor § 71. Die in der VV zu § 74 aufgegebene unverzügliche Kontaktaufnahme zur Abstimmung der Betreuungsmaßnahmen setzt voraus, dass die Anstalt ihrerseits vom Vollstreckungsgericht frühzeitig über die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes informiert wird. § 454a StPO stellt klar, dass eine frühzeitige Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes nicht nur zulässig, sondern erwünscht ist (KG NStZ 2006, 354; Meyer-Goßner 2008 Rdn. 1 zu § 454a). Im Interesse einer verbesserten, die soziale Wiedereingliederung des Verurteilten fördernden Entlassungsvorbereitung liegt es zweifelsfrei, wenn über die Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes früh entschieden wird (BT-Drucks. 10/2720, 9, BT-Drucks. 10/4391, 15). Um dieses Ziel zu erreichen, ist durch landesrechtliche Verwaltungsvorschriften das Verfahren zur frühzeitigen Entlassungsvorbereitung bei Aussetzung des Strafrestes geregelt worden, um die frühzeitige Abgabe einer Stellungnahme durch die Anstalten sicherzustellen (vgl. z. B. für Bayern: Bek. vom 15.1.2003, JMBl. 2003, 30 i. d. F. v. 1.10.2004, JMBl 2004, 132); für Niedersachsen: AV vom 8.7.1997 NdsRpfl. S. 153; Nordrhein-Westfalen: AV d. JM vom 29.4.1986, JMBl. NW S.123; i. V. m. AV vom 31.1.1994, JMBI. NW S.50 und RV v. 14.3.1995; Saarland: AV d. MdJ Ns 7/1987 v. 1.4.1987, geändert durch AV des MiJAGS Nr.32/2007 v. 20.12.2007; Schleswig-Holstein: AV d. JM vom 27.6. 1989, SchlHA S.123; Berlin: AV vom 13.11.1990 Amtsblatt S. 2317; Mecklenburg-Vorpommern: AV vom 16.3.1995, Amtsblatt M-V 1995 S. 200; Brandenburg: AV vom 28.12.1993, JMBl. Bbg. 1994 S. 14; Sachsen-Anhalt: AV JMBl. LSA 1992 S. 1614; Thüringen: VV vom 3.6.1994, JMBl. 1994 S. 87).
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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Dienste der Justiz sollen im Hinblick auf die anstehenden Entlassungsprobleme bei Bedarf frühzeitig mit den Anstalten, namentlich den dort tätigen Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, zusammenarbeiten und bei der Vorbereitung der Entlassung insbesondere dann mitwirken, wenn zu erwarten oder bereits entschieden ist, dass sie Bewährungshilfeaufgaben für den zu Entlassenden übernehmen (§§ 57 Abs. 3 Satz 2, 57a, 67b, 67d StGB und § 88 Abs. 1, 3, 6 JGG). Auf Ersuchen der Vollzugseinrichtungen und mit Einverständnis der Gefangenen sollten sich diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Dienste der Justiz, die mit den Betroffenen bereits befasst waren, zu Umständen und Angelegenheiten, die für die Vollzugsplanung und/ oder die Entlassungsvorbereitung von Bedeutung sind, äußern (so z. B. für Brandenburg die AV v. 30.7.2007 Nr. 7.1 und 10.3, JMBl 2007). Zur Vorbereitung der Entlassungsentscheidung kann sich die Strafvollstreckungskammer oder die Staatsanwaltschaft – als Vollstreckungsbehörde – gem. § 463d StPO der Gerichtshilfe als Teil der Ambulanten Sozialen Dienste der Justiz bedienen. Hierbei handelt es sich um einen sozialen Dienst der Strafrechtspflege, der in den Bundesländern überwiegend bei den Staatsanwaltschaften angesiedelt ist. Die Gerichtshilfe kann im Einzelfall beauftragt werden, z.B. die Angaben zur Entlassungssituation zu ergänzen sowie abzuklären, ob die Bestellung eines Bewährungshelfers geboten ist bzw. ob und ggf. welche Auflagen und Weisungen erteilt werden sollen. Hierbei ist aber zu beachten, dass die Stellungnahme der Gerichtshilfe (vgl. auch § 36 Abs. 2 Satz 3 StVollstrO) nur einzuholen ist, sofern nicht eine Bewährungshelferin oder ein Bewährungshelfer bestellt ist (vgl. § 463d StPO). Die frühzeitige Entlassungsentscheidung ist aber nur dann sinnvoll, wenn die – verlängerte – Entlassungsphase zu verstärkter Entlassungsvorbereitung genutzt wird. Dies berührt sowohl die gesetzliche Pflichtaufgabe des Vollzugs zur Hilfe zur Entlassung nach §§ 15 und 74 StVollzG als auch die Bewährungshilfe. Im Interesse einer lückenlosen Betreuung ist es erforderlich, dass der Bewährungshelfer die Betreuungsarbeit rechtzeitig vorbereitet und so früh wie möglich aufnimmt. Die Bewährungshilfe muss frühzeitig über die voraussichtliche Entlassung und den Stand der Entlassungsvorbereitung bei zu erwartender Bewährungsunterstellung unterrichtet werden. Sodann haben die Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer Kontakt mit der Vollzugseinrichtung und den Inhaftierten aufzunehmen und sich ein möglichst umfassendes Bild von der Person und der Entlassungssituation zu verschaffen. Die Bewährungshilfe unterstützt im eigenen Interesse die Entlassungsvorbereitungen, insbesondere durch Mitteilung ihrer Informationen über Umstände, die für die Entlassung und danach relevant sind. Vollzug und Bewährungshilfe müssen in dieser Entlassungsphase vertrauensvoll zusammenarbeiten. Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis der jeweiligen Arbeitsfelder sowie das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der „Arbeitsteilung“. Für die Bewährungshilfe sollte die Frage der Reisekosten geklärt sein (vgl. für Niedersachsen: § 25 Nr. 3 der AV AmbSozDienste, AV d. MJ. v. 9.2.2006 (Nds. Rpfl. S. 73). Die Bewährungshilfe ist die wichtigste Alternative zum Freiheitsentzug. Gab es 1970 noch rund 39.500 Unterstellungen unter Bewährungsaufsicht, so stieg diese Zahl auf 93.800 zu Ende des Jahres 1980 und auf 131.400 Ende 1990. Bundesweit werden derzeit 165 000 Personen von rund 2 500 Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern betreut. Die durchschnittliche Fallzahlbelastung beträgt – mit steigender Tendenz – rund 80 Personen je Bewährungshelfer-Stelle. Die Erfolgsquote für beendete Unterstellungen liegt bei durchschnittlich 70 Prozent. 66,5 % der Unterstellungen nach allgemeinem Strafrecht betreffen Fälle der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 57 StGB), in 27,8 % der bestehenden Unterstellungen ist eine Strafrestaussetzung der Freiheitsstrafe erfolgt (ohne eine solche nach
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§§ 35, 36 BtMG: rd. 6 %, vgl. Bewährungshilfe-Statistik 2006, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 5, Wiesbaden 2007, 14, 17. 9. Bewährungshilfe, Führungsaufsicht und Gerichtshilfe sind mehr denn je ein 19 unverzichtbarer kriminalpolitischer Bestandteil der sozialen Strafrechtspflege. Diese sozialen Dienste werden in den nächsten Jahren wachsende Bedeutung gewinnen, da nach ernstzunehmenden Prognosen immer mehr Straftäter in Freiheit zu betreuen und zu überwachen sein werden, soweit dies spezial- und generalpräventiv und unter Beachtung des notwendigen Schuldausgleichs kriminalpolitisch vertretbar ist (vgl. Best 1984, 7 ff; zur Frage der Neuorganisation der Sozialen Dienste vgl. Rdn. 8 vor § 71). Sie müssen auch weiterhin innerhalb der Strafjustiz als Teil der sozialen Strafrechtspflege fest verankert bleiben. Keinesfalls sollten sie weder organisatorisch noch von der Dienstaufsicht her den Vollzugsbehörden und deren Aufsichtsbehörden unterstellt werden (so aber die Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern: Jesse/Kamp 2008, 14; vgl. auch Rdn. 7 vor § 71). Soziale Strafrechtspflege und Strafvollzug sind grundverschieden in ihrer Ausrichtung. Für den Strafvollzug steht die Auseinandersetzung mit den Problemlagen des Freiheitsentzugs im Vordergrund. Demgegenüber sind Ambulante Soziale Dienste außenorientiert und zugleich Träger der wichtigsten Alternativen zum Freiheitsentzug. Sie werden als eigene „Spur“ oder auch Säule des modernen Präventionsstrafrechts anerkannt und als ein zentraler Pfeiler der auf die Vermeidung des Freiheitsentzugs ausgerichteten Kriminalpolitik (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung, hrsg. von BMJ/BMI, Berlin 2006, 605). Der zu leistende Beitrag liegt auch in der alltäglichen und oftmals durchaus konfliktbelasteten Sensibilisierung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, was die Anwendung der Sanktionen und ihrer Folgen betrifft. Ambulante Sozialarbeit in der Justiz muss daher ihre strukturelle Eigenständigkeit als sozialer Außendienst der Strafjustiz wegen des gesetzlich erweiterten Aufgabenkatalogs erhalten. Den systemimmanenten Zugriffstendenzen seitens der Vollzugsbehörden im Hinblick auf Übernahme von Tätigkeitsfeldern anstelle der Kooperation sollte die Justizverwaltung entgegensteuern. Auch die Qualität der Arbeit kann Schaden nehmen, wenn Soziale Dienste der Strafrechtspflege sich an die problembelastete Leitkultur von „Sicherheit und sozialer Integration“ und „Chancenvollzug“ anpassen müssen. Der Vollzug als ressourcenstarke und machtvolle Institution ist durchaus in der Lage, aus eigener Kraft seine soziale Integrationshilfe im Rahmen der Entlassungsvorbereitung nach den Neuen Steuerungsmodellen so zu organisieren, dass eine Anschlussfähigkeit an die Kooperation durch die Ambulanten Sozialen Dienste der Justiz gewährleistet wird. Die Anforderungen, die an die Bewährungshilfe gestellt werden, haben sich in den letzten Jahren erheblich erhöht. Nicht nur immer mehr, sondern auch immer schwierigere Probanden werden der Bewährungshilfe unterstellt. Teilweise wird bereits von einer Umschichtung der Probandenstruktur gesprochen. Wohnungsnot, Alkoholmissbrauch, Verschuldung und Arbeitslosigkeit erschweren die Arbeit der Bewährungshilfe in zunehmendem Maße. Die „grenzübergreifende“ Zusammenarbeit zwischen Vollzug und Ambulanten Sozialen Diensten der Justiz hat sich im Einzelfall an der konkreten Lebenslage des Gefangenen bzw. künftigen Probanden zu orientieren. So ist darauf einzuwirken, dass der Gefangene einen Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung dazu nutzt, mit der Bewährungshilfe Kontakt aufzunehmen (zu weiteren „Nahtstellen“ der Zusammenarbeit Best 1989, 27 ff; vgl. zu den Strukturproblemen Rdn. 10 vor § 71; zur Datenübermittlung und Informationsweitergabe vgl. Rdn. 4 und Rdn. 14 zu § 73). Ziel muss es sein, dem Gefangenen zu einer auf die Zukunft gerichteten Lebensbewältigung zu verhelfen. In der Mehrzahl der Fälle ist der Gefangene in hohem Maße mit seiner
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konkreten Lebenswelt im Vollzug beschäftigt. So verdrängt er die Probleme „danach“, von denen er vielleicht innerlich hofft, dass sie sich mit dem Tag der Entlassung („Neubeginn“) in Nichts auflösen. Es kann nur von Vorteil sein, wenn der künftige Bewährungshelfer schon in der Entlassungsphase die „Realität der Freiheit“ mit ihren Belastungen in den Vollzugsablauf einbringt. Dadurch wird der Gefangene angehalten, sich schon vor dem Übergang in die Freiheit, losgelöst von der fremdbestimmten Versorgungsroutine des Vollzugs, den Anforderungen des täglichen Lebens zu stellen; zum aktivierenden Behandlungsvollzug und insgesamt zur Strategie der Aktivierung sowie zum Chancenvollzug und motivierenden Vollzug vgl. Rdn. 4 vor § 71.
III. Beispiel 20
Der Strafgefangene M. verbüßt eine Freiheitsstrafe von neun Monaten. Während dieser Zeit unterstützt das Sozialamt die Familie des M. durch Sozialhilfe. Nach der Entlassung will das Sozialamt den M. zum Ersatz aller Kosten der inzwischen gezahlten Sozialhilfe verpflichten. Das Sozialamt begründet seinen Bescheid mit § 103 SGB XII, weil der M. die Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialhilfe an seine unterhaltsberechtigten Angehörigen durch vorsätzliches Verhalten (strafbare Handlungen!) herbeigeführt habe. Der Bewährungshelfer des M. weist das Sozialamt aber auf § 103 Abs. 1 Satz 3 SGB XII hin. Danach kann von der Heranziehung zum Kostenersatz abgesehen werden, soweit sie eine Härte bedeuten würde: es ist davon abzusehen, soweit die Heranziehung die Fähigkeit des Ersatzpflichtigen beeinträchtigen würde, künftig unabhängig von Sozialhilfe am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Das Sozialamt verzichtet daraufhin auf die Geltendmachung dieses öffentlich-rechtlichen Anspruchs auf Kostenersatz, für den der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben ist. Es verweist hierzu auf die amtliche Begründung des Gesetzestextes, wonach es sich gerade in „Fällen fortdauernder sozialer Gefährdung, vor allem bei der Resozialisierung von Strafentlassenen als wünschenswert erweise, höherrangigen sozialpolitischen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen“. Ziel der Sozialhilfe sei es, den Ersatzpflichtigen auf Dauer zu befähigen, unabhängig von der öffentlichen Hilfe zu leben (Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe; § 71 Rdn. 3), wozu auch gehöre, bei vorauszusehender Aussichtslosigkeit von dem Begehren nach Kostenersatz Abstand zu nehmen (vgl. Rdn. 7).
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 79 BayStVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen fast wortgleich mit § 74 StVollzG. In der Begründung wird ausgeführt (S. 73 f): Wegen des mit der Entlassung verbundenen Wechsels der für die Gefangenen zuständigen Organisationen wird die Vorschrift durch Art. 175 Abs. 2 bis 4 ergänzt, die insbesondere die Zusammenarbeit mit Personen, deren Einfluss die Eingliederung der Gefangenen fördern kann, der Bewährungshilfe und Einrichtungen der Strafentlassenenhilfe regelt. Auch für Art. 79 gilt der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe; es besteht insbesondere kein Anspruch auf staatliche Bereitstellung von Arbeit, Wohnraum oder persönlichen Beistand. Die Entlassungsvorbereitung sollte nach Möglichkeit folgende Maßnahmen umfassen: – Hilfe bei der Suche einer geeigneten Unterkunft, – Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, – Hilfe beim Aufbau eines stützenden sozialen Netzes,
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– Hilfe bei der Schuldenregulierung und – Anregungen für eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Neu ist Art. 81 (Hilfe nach Entlassung), der mit Art. 79 BayStVollzG (Hilfe zur Entlassung) korrespondiert, aber eine Art Auffangvorschrift ist und folgenden Wortlaut hat: „Auf Antrag der Gefangenen kann die Anstalt nach deren Entlassung vorübergehend Hilfestellung im Einzelfall gewähren, soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden kann und der Erfolg der Behandlung der Gefangenen gefährdet ist.“ Die Gesetzesbegründung zu Art. 81 BayStVollzG (S. 74) lautet: „Die Bestimmung ergänzt die Regelungen über die Behandlung der Gefangenen und die Zusammenarbeit mit anderen Stellen im Rahmen der Entlassungsvorbereitung in der Weise, dass die Bediensteten in Einzelfällen auch nach der Entlassung die im Vollzug begonnene Betreuung punktuell fortführen können. Dabei ist an einmalige Beratungsgespräche oder eine nochmalige Kontaktaufnahme mit der Bewährungshilfe, nicht aber an eine kontinuierliche hochfrequente Nachsorge gedacht. Für die Gefangenen, die in einer sozialtherapeutischen Einrichtung behandelt wurden, gilt die spezielle Vorschrift des Art. 119. Voraussetzung ist, dass ein Gefangener oder eine Gefangene nach Entlassung bei der Anstalt Rat oder Hilfe sucht. Ein beratendes Gespräch durch eine Vertrauensperson aus dem Vollzug, insbesondere einen Psychologen oder eine Psychologin oder einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin, kann möglicherweise eine akute Krisensituation entschärfen. Eine Hilfestellung durch die Vollzugsanstalt kann aber nur vorübergehend erfolgen, d. h. sie ist darauf gerichtet, den Übergang zu anderen Betreuungsangeboten zu fördern. Sie wird vor allem im zeitlichen Zusammenhang mit der Entlassung in Betracht kommen, die Festlegung einer bestimmten Frist erscheint insoweit jedoch nicht sinnvoll.“ 2. Hamburg Das HmbStVollzG enthält keine in einem besonderen Titel, Kapitel oder Abschnitt 22 zusammengefassten Bestimmungen über soziale Hilfen. Doch ist § 16 Satz 1, Satz 3–5 HmbStVollzG unter der Überschrift „Entlassungsvorbereitung“ mit § 74 und den VV zu § 74 weitgehend identisch. 3. Niedersachsen § 69 Abs. 3 Satz 1 bis 3 NJVollzG ist identisch mit § 74 StVollzG. Satz 3 ist neu und lautet: 23 „Bei vorzeitiger Entlassung einer oder eines Gefangenen unter Auflagen ist die Bewährungshilfe rechtzeitig zu beteiligen“.
§ 75 Entlassungsbeihilfe (1) Der Gefangene erhält, soweit seine eigenen Mittel nicht ausreichen, von der Anstalt eine Beihilfe zu den Reisekosten sowie eine Überbrückungsbeihilfe und erforderlichenfalls ausreichende Kleidung. (2) Bei der Bemessung der Höhe der Überbrückungsbeihilfe sind die Dauer des Freiheitsentzuges, der persönliche Arbeitseinsatz des Gefangenen und die Wirtschaftlichkeit seiner Verfügungen über Eigengeld und Hausgeld während der Strafzeit zu berücksichtigen. § 51 Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Die Über-
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brückungsbeihilfe kann ganz oder teilweise auch dem Unterhaltsberechtigten überwiesen werden. (3) Der Anspruch auf Beihilfe zu den Reisekosten und die ausgezahlte Reisebeihilfe sind unpfändbar. Für den Anspruch auf Überbrückungsbeihilfe und für Bargeld nach Auszahlung einer Überbrückungsbeihilfe an den Gefangenen gilt § 51 Abs. 4 Satz 1 und 3, Abs. 5 entsprechend. VV 1 (1) Reisekosten sind die zum Erreichen des Entlassungszieles notwendigen Aufwendungen für die Fahrt. (2) Die Höhe der Reisekosten bestimmt sich grundsätzlich nach dem Tarif für die billigste Wagenklasse des in Betracht kommenden öffentlichen Verkehrsmittels. (3) Dem Gefangenen ist möglichst ein Gutschein für eine Fahrkarte auszuhändigen. 2 Der Gefangene erhält auf Wunsch Reiseverpflegung, wenn er das Entlassungsziel erst nach mehr als vier Stunden erreichen kann. 3 Die Überbrückungsbeihilfe soll den Gefangenen in die Lage versetzen, ohne Inanspruchnahme fremder Hilfe seinen notwendigen Lebensunterhalt (Unterkunft, Verpflegung u.ä.) zu bestreiten, bis er ihn aus seiner Arbeit oder aus Zuwendungen auf Grund anderer gesetzlicher Bestimmungen (z.B. SGB III, Bundessozialhilfegesetz) decken kann. Bei der Bemessung soll von den Leistungen ausgegangen werden, die das Bundessozialhilfegesetz für vergleichbare Fälle vorsieht. 4 (1) Der Gefangene soll in eigener Kleidung entlassen werden. Die Bekleidungsstücke werden, soweit erforderlich, auf Kosten des Gefangenen, bei Mittellosigkeit auf Kosten der Anstalt, gereinigt und instandgesetzt. (2) Entspricht die Kleidung nicht den billigerweise zu stellenden Anforderungen oder ist sie so mangelhaft, dass eine Herrichtung sich nicht lohnt, ist der Gefangene anzuhalten, sich rechtzeitig von seinen Angehörigen oder Dritten ausreichende Bekleidungsstücke übersenden zu lassen oder sie durch Vermittlung der Anstalt aus eigenen Mitteln zu kaufen. (3) Können Bekleidungsstücke auf diesem Wege nicht beschafft werden, werden sie von der Anstalt zur Verfügung gestellt. 5 Für die Ausstattung mit den zur Körperpflege notwendigen Gegenständen, mit Koffern u.ä. gilt Nummer 4 entsprechend. Schrifttum: s. Vor § 71
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Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Art des Anspruchs auf Entlassungsbeihilfe . . . . . . . . . 2. Umfang der Entlassungsbeihilfe 3. Art des Anspruchs auf Überbrückungsbeihilfe . . . . . . . a) eigenständige vollzugliche Leistungseinrichtung . . . . b) im Verhältnis zu den Sozialleistungen nachrangig . . . c) rechtliche und praktische Vorbehalte gegen Änderung des
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Auszahlungsverfahrens bei den Sozialleistungen . . . . . . . 10 d) Höhe der Überbrückungsbeihilfe 11 e) Auszahlungsverfahren . . . . 12 f) Vollstreckungsrechtliche Regelung . . . . . . . . . . . 13 III. Beispiel Überbrückungsbeihilfe-Fall . . . . 14 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 15–17 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 16 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 17
I. Allgemeine Hinweise 1. Die Geld- und Sachleistungen der Entlassungsbeihilfe sollen die in § 74 geregelte 1 Beratung und persönliche Hilfe ergänzen. Der Gesetzgeber (BT-Drucks. 7/918, 75) ist davon ausgegangen, dass es dem Gefangenen regelmäßig möglich ist, von seinem Arbeitsentgelt einen hinreichenden Betrag als Überbrückungsgeld anzusparen, das aus Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe bestehen kann (§ 51 Rdn. 5). § 75 will den finanziellen Engpass in der Entlassungsphase abmildern und für die ersten Schritte in der Freiheit den Haftentlassenen neben ihren vollzuglichen Bezügen eine Art Handgeld zur Verfügung stellen (als subsidiäre Sozialleistung vgl. Rdn 7). Die Vollzugsbehörden werden verpflichtet, dem Gefangenen insoweit eine Beihilfe zu den Reisekosten und zur Überbrückung zu gewähren, „soweit seine eigenen Mittel nicht ausreichen“ (§ 75 Abs. 1). Die Nichterfüllung dieser Verpflichtung (dazu OLG Hamm NStZ 1984, 45) kann einen Schadenseratzanspruch gem. Art. 34 GG auslösen (OLG Stuttgart ZfStrVo 1981, 380). Verfügen die Gefangenen aber über ausreichende geldwerte Mittel – z. B. in Fremdwährung oder auf Sparbüchern, Depots oder als Schecks oder Reiseschecks – und weigern sie sich, diese rechtzeitig vor ihrer Entlassung zur Überbrückung und zur Finanzierung ihrer Reisekosten einzusetzen, kann die Verpflichtung der Vollzugsbehörde zur Gewährung von Geld- und Sachleistungen ganz oder teilweise entfallen (vgl. auch die entsprechende Regelung zu § 75 der Hessischen Ausführungsbestimmungen (HAB) zum StVollzG vom 9.7.2003 – JMBl. S. 294; zur Höhe vgl. Rdn. 11). 2. Nach einer bundesweiten Auswertung der Haushaltspläne der Länder im Bereich des 2 Justizvollzugs wurde dieser Ausgabeposten in den meisten Bundesländern seit 1970 prozentual am stärksten angehoben; jedoch sind die Beträge absolut und prozentual immer noch unbedeutend: 1980 wurde in den einzelnen Bundesländern zwischen 0,07 % und 0,68 % des Gesamtetats hierfür veranschlagt; der Bundesdurchschnitt lag bei 0,27 % (Dünkel, F./Rosner, A. Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970 – Materialien und Analysen, Freiburg 1982, 309 ff).
II. Erläuterungen 1. Der Anspruch auf die Entlassungsbeihilfe unter den Voraussetzungen von Abs. 1 3 besteht als staatliche Leistung unmittelbar gegen die Vollzugsbehörde; diese darf den Gefangenen insbesondere nicht an die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verweisen (C/MD 2008 Rdn. 1), auch nicht an die Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe wie die Anlauf-
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stellen (Rdn. 11 ff zu § 74). Sofern diese von sich aus Leistungen erbringen, darf sich die Anstalt nicht um diese Geld- und Sachleistungen haushaltsmäßig entlasten.
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2. Die Einzelheiten der Reisebeihilfe, der Gewährung von Reiseverpflegung, Kleidung, den zur Körperpflege notwendigen Gegenständen, Koffern u. ä. sind in den VV geregelt. Das „Entlassungsziel“ i. S. von VV Nr. 2 orientiert sich einmal – wenn auch untergeordnet – am räumlichen Geltungsbereich des StVollzG, wobei Ausnahmen zulässig sind, wenn besondere Umstände im Einzelfall vorliegen. Weitere Orientierungsmarken für die Auslegung des Begriffs „Entlassungsziel“ ergeben sich aus dem Gesetzeszweck der Vorschrift, eine Lücke im Netz der sozialen Sicherung zu schließen (vgl. Rdn. 6) und vor allem aus den Grenzen des Sozialstaatsprinzips, worauf Arloth 2008 (Rdn. 3) zutreffend hinweist: Es besteht kein Anlass für die Annahme, der Gesetzgeber habe mit § 75 ausländische Sozialleistungsträger entlasten wollen. Diese müssten entsprechend den konsularischen Regeln an die diplomatischen Vertretungen im Inland verwiesen werden, wie dies auch bei in Not geratenen Deutschen im Ausland praktiziert wird. Unter Berücksichtigung dieser kombinierten Auslegung ist die Gegenmeinung, wonach ein feststehender Anspruchs auf Reisekostenbeihilfe gem. § 75 StVollzG auch bei einem Entlassungsziel im Ausland besteht, im Ergebnis als zu weitgehend abzulehnen (dafür C/MD Rdn. 1, 2 zu § 75; Perwein ZfStrVo 1997, 84, wonach „Entlassungsziel“ jeder Ort im In- oder Ausland sein kann und AK-Bertram/Huchting Rdn. 3, die bei Ausländern auch einen Ort in ihrem Heimatland annehmen). Die zur Begründung der Auffassung von AK-Bertram/ Huchting herangezogene Entscheidung des OLG Frankfurt NStZ 1985, 46 betraf den Sonderfall der Gewährung einer Reisebeihilfe an einen nach Österreich abgeschobenen Ausländer. Hinweise auf das Entlassungsziel lassen sich im Übrigen neben den Angaben der Gefangenen notfalls aus ihren früheren Wohnorten, dem Aufenthaltsort der Familie, den sozialen Kontakten, der künftigen Arbeitsstelle und der bisherigen Urlaubsziele während der Entlassungsvorbereitung entnehmen. Die Frage des Lebensmittelpunktes ist im Einzelfall im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung ein nicht unerheblicher Prüfungsfaktor. „Eigene“ Mittel i. S. d. § 75 können auch als Darlehen gewährte Gelder sein, auch wenn diese vom Prozessbevollmächtigten dem Gefangenen geliehen worden sind (OLG Hamburg ZfStrVo 1997, 110: wer die mit einem Darlehensvertrag verbundene Rückzahlungsverpflichtung eingeht, ist grundsätzlich auch in der Lage, dieser Verpflichtung nachzukommen und damit nicht bedürftig). Beförderungskosten bei Abschiebung sind keine Reisekosten i. S. d. § 75 und damit nicht beihilfefähig (Perwein ZfStrVo 1997, 84 ff).
5
3. Abs. 2 regelt in Verbindung mit VV Nr. 3 die Überbrückungsbeihilfe und die Höhe ihrer Bemessung (Rdn. 11). Insbesondere Fragen der Rechtsnatur und des Rangverhältnisses zu anderen gesetzlichen Leistungsansprüchen haben in der Praxis zu erheblichen Problemen geführt (vgl. auch den Beispielsfall Rdn. 14).Streitig ist insbesondere der Überbrückungszeitraum.
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a) Die Überbrückungsbeihilfe ist eine eigenständige vollzugliche Leistungseinrichtung, die für den Übergang aus der Haft eine technisch bedingte Lücke im Netz der sozialen Sicherung schließen will. Von vollzuglichen Bemessungsfaktoren bestimmt (Dauer des Freiheitsentzugs, persönlicher Arbeitseinsatz des Gefangenen und Wirtschaftlichkeit seiner Verfügungen über Hausgeld während der Strafzeit), will sie die Versorgung des bedürftigen Gefangenen ohne Inanspruchnahme fremder Hilfe bis zum Wirksamwerden anderer Leis-
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tungen und Hilfen sicherstellen. Zum Anspruch auf Beihilfe zu den Reisekosten für einen Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung: VV Nr. 6 Abs. 3 zu § 13 und Rdn. 11. Die Überbrückungsbeihilfe nach § 75 darf nicht mit dem Überbrückungsgeld nach § 51 verwechselt werden: § 51 gibt dem Gefangenen, dessen Eigenmittel den monatlichen Regelsatz nach dem BSHG jetzt: SGB XII erreicht haben und damit zur Sicherung des notwendigen Unterhalts ausreichen, keinen Anspruch auf eine Überbrückungsbeihilfe nach § 75 in Höhe des nach § 51 Abs.1 festgesetzten Überbrückungsgeldes (LG Trier ZfStrVo SH 1977, 38). Die Überbrückungsbeihilfe hat damit keine Reservefunktion gegenüber dem Überbrückungsgeld und ist auch nicht für den gleichen Zeitraum von vier Wochen gedacht. Sie hat auch nicht die Aufgabe, die Begleichung finanzieller Verpflichtungen zu gewährleisten, die schon vor der Entlassung bestehen; hierzu rechnen auch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern des Verurteilten. Auch verfolgt die Überbrückungsbeihilfe nicht den Zweck, den Aufbau eines neuen Hausstandes oder einer neuen Existenz zu unterstützen (LG Trier ZfStrVo SH 1977, 38). Zum Überbrückungsgeld vgl. § 51 Rdn. 2 ff, § 71 Rdn. 6 und § 75 Rdn. 7. Sofern ein Gefangener Taschengeld gemäß § 46 StVollzG erhält und diesen begrenzten Betrag ausgibt, ohne eine Rücklage zu bilden, kann ihm dies nicht zum Vorwurf gereichen, unwirtschaftlich gehandelt zu haben (OLG Hamm NStZ 1991, 254); vgl. aber Rdn. 1 im Fall der Weigerung von Gefangenen, vorhandene geldwerte Mittel einzusetzen. b) Schon wegen ihrer vollzuglichen Ausrichtung ist die Überbrückungsbeihilfe im Ver- 7 hältnis zu den Sozialleistungen ausnahmsweise nachrangig. Die Leistungsträger bzw. die einzelnen Sozialleistungen sind in den §§ 11, 12 SGB I abschließend aufgezählt. Die Vollzugsbehörden gehören nicht zu den Leistungsträgern i. S. von § 12 SGB I. Die Vollzugsmaßnahmen sind daher auch nicht mit dem Leistungscharakter der Sozialleistungen nach § 11 SGB I vergleichbar (vgl. Rode in: Wertenbruch u. a. (Hrsg.), Bochumer Kommentar zum Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil, Berlin 1979 Rdn. 6 zu § 11 SGB-AT). Die Zahlung einer Überbrückungsbeihilfe kann daher nicht aufgewertet werden zu einer materiellrechtlichen Leistungspflicht. Rechtlich hätte dies zur Folge, dass die Vollzugsbehörde als Leistungsträger gleichrangig neben die in erster Linie zuständigen Sozialämter und Agenturen für Arbeit gestellt werden müsste, was aber vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt war und der Systematik des Sozialleistungsrechts eindeutig widerspricht. Die Gewährung von Sozialleistungen für die Zeit nach der Entlassung ist grundsätzlich nicht Aufgabe des Strafvollzugs, sondern obliegt den hierfür zuständigen Sozialleistungsträgern (vgl. auch § 74 Satz 2). Mit der Entlassung endet grundsätzlich jede weitere Zuständigkeit der Vollzugsbehörde. Diese Aufgabenverteilung wurde durch § 75 nicht geändert. VV Nr. 3 entspricht der Rechtslage. Sozialhilfeleistungen dürfen daher nicht unter Hinweis auf den Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe (§ 2 SGBXII) verweigert werden; nachrangig ist vielmehr die Überbrückungsbeihilfe; die Sozialhilfe hat insoweit Auffangfunktion (zu den Einzelheiten s. auch Gutachten des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe (Auszug), in: ZfStrVo 1981, 115). Dagegen ist das Überbrückungsgeld nach § 51 bei der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt in voller Höhe bedarfsmindernd zu berücksichtigen (BVerwG NDV 1990, 384). Unter Berücksichtigung dieser Rechtsnatur als nachrangige und subsidiäre soziale Reservefunktion ist die Auffassung, die Überbrückungsbeihilfe müsse für die Dauer von vier Wochen gewährt werden, nicht haltbar (so aber AK-Bertram/Huchting 2006 § 75 Rdn. 4 in der Annahme, vier Wochen sollten veranschlagt werden, bis die erste Zahlung erfolge; Perwein 2000, 351 ff unter Ablehnung einer Reservefunktion der Überbrückungsbeihilfe gegenüber dem Überbrückungsgeld). Perwein, der sich auf die Auslegung der Entstehungs-
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geschichte dieser Vorschrift beruft, ist entgegenzuhalten, dass die Gesetzesmaterialien keinesfalls so eindeutig sind, wie von ihm zur Bestätigung seiner Auffassung angenommen. Vielmehr sind die Widersprüche offensichtlich, da der Sonderausschuss ausdrücklich die unveränderte Übernahme der Abs. 1 und 2 aus dem Regierungsentwurf betont, gleichzeitig aber auch seine Stellungnahme zu Abs. 3 äußerst unklar formuliert hat (ebenso Arloth 2008 Rdn. 4 zu RegE, BT-Drucks. 7/918, 75; SA, BT-Drucks. 7/3998, 30). Auch lässt sich die Auffassung von Perwein, wonach sich die Höhe der Überbrückungsbeihilfe nach der Differenz zum festgesetzten Überbrückungsgeld bemisst, also dem zweifachen Regelsatz nach § 22 BSHG a. F.; n. F. 28 SGB XII, aus dem Gesetz nicht herleiten. Die Gesetzesverweisung in § 75 Abs. 2 Satz 2 auf § 51 bezieht sich nur auf die Auszahlungsform, nicht aber auf VV Nr. 1 Abs. 2 zu § 51, wo der zweifache Regelsatz angesprochen wird (AK-Bertram/Huchting § 75 Rdn. 7). 8 Überwiegend werden inzwischen die Empfehlungen der „Konferenz der obersten Landessozialbehörden“ berücksichtigt, die folgende Verfahrensweise vorgeschlagen hat: aa) Die Vollzugsbehörden sollen die Überbrückungsbeihilfe in ausreichendem Umfang gewähren, bis dem zuständigen Träger der Sozialhilfe die Übernahme der sozialhilferechtlichen Betreuung möglich ist. In der Regel wird dies ein Zeitraum von drei bis sieben Tagen (bei Entlassungen kurz vor Feiertagen) sein. bb) Die Vollzugsbehörden sollen den für den Strafentlassenen zuständigen Sozialhilfeträger rechtzeitig von der bevorstehenden Entlassung benachrichtigen, damit die sozialhilferechtliche Betreuung des Haftentlassenen unmittelbar und ohne Verzögerung einsetzen kann. 9 Um den Zeitraum zwischen Antragstellung, Prüfung der Voraussetzungen und Entscheidung über die Gewährung von Sozialleistungen abzukürzen, sollte im Rahmen der Hilfe von § 74 nach Nr. 52 Abs. 4 VGO die bevorstehende Entlassung den nach der Entlassung jeweils zuständigen örtlichen Sozialhilfeträgern bzw. Agenturen für Arbeit mitgeteilt werden. In nahezu allen Ländern bestehen bereits auf Ressortebene erzielte entsprechende Vereinbarungen, die ein koordiniertes Auszahlungsverfahren bezwecken und Kompetenzstreitigkeiten in der für die Haftentlassenen schwierigen Übergangsphase vermeiden helfen.
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c) Im Auszahlungsverfahren zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe ergaben sich bisher oft erhebliche Schwierigkeiten, da das beantragte Arbeitslosengeld in der Regel nach Ablauf des Zahlungszeitraums überwiesen wurde. Vor Ablauf des eigentlichen Zahlungszeitraums (nachträglich alle zwei Wochen) wurden nur Abschlagszahlungen auf das bisher „aufgelaufene“ Arbeitslosengeld gezahlt. Bis zur Überweisung des Arbeitslosengeldes (nach durchschnittlich zwei bis drei Wochen) nahmen die meisten Haftentlassenen daher Sozialhilfe nach dem SGB XII in Anspruch, da die Abschlagszahlung in keiner Weise ausreichte. Das Sozialamt leitete allerdings nach § 90 BSHG a. F.; n. F. § 93 SGB XII den Anspruch des Haftentlassenen auf Zahlung des Arbeitslosengeldes bis zur Höhe seiner Aufwendung auf sich über. Das Arbeitslosengeld wurde nach Auszahlung sofort um die Barleistung gekürzt, die nach dem BSHG gewährt worden war. Durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige im SGB II und die Neuformierung der Sozialleistungen dürfte sich das Auszahlungsverfahren vereinfacht haben, insbesondere dort, wo kommunale Träger zugleich die Aufgabe der Agenturen für Arbeit übernommen haben, vgl. Rdn. 5 zu § 74.
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d) Die Höhe der Überbrückungsbeihilfe ist unter Berücksichtigung der Bemessungsgrundlage von Abs. 2 und VV Nr. 3 nach Lage des Einzelfalles festzusetzen, wobei im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip, das die gesamte Vorschrift als Orientierungsmarke über-
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strahlt, von den Kürzungsmöglichkeiten nach Abs.2 nur restriktiv Gebrauch gemacht werden sollte Arloth 2008 Rdn. 4; AK-Bertram/Huchting 2006 § 75 Rdn. 5; C/MD 2008 § 75 Rdn. 3). Eine pauschale Regelung verbietet sich daher. Bei dieser Ermessensentscheidung sollte allerdings geprüft werden, „ob der Gefangene seine Mittellosigkeit selbst verschuldet hat“ (BT-Drucks. 7/918, 75; vgl. Rdn. 1). Bei der Bemessung der Höhe ist der Grundsatz der Bedarfsdeckung zu berücksichtigen. Die Kürzungsmöglichkeit nach § 75 Abs. 2 Satz 1 StVollzG wegen nur kurzer Haftdauer, schlechter Arbeitsleistung oder verschwenderischem Umgang sollte – wenn überhaupt – nur in krassen Ausnahmefällen angewendet werden. Art. 80 BayVollzG hat die Kürzungsmöglichkeit nach Abs. 2 mit dem Hinweis nicht übernommen, sie widerspreche dem Sozialstaatsprinzip (vgl. die Gesetzesbegründung S. 74). Nach VV Nr. 3 Satz 2 richtet sich die Bemessung nach den Leistungen, die das SGB für vergleichbare Fälle vorsieht. Daher sind bei der Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Gefangenen zu berücksichtigen (OLG Hamm NStZ 1990, 55). Grundlage für die Prüfung nach VV Nr. 3 Satz 2 sind die Regelsätze nach § 22 BSHG, deren Höhe bzw. Mindestsätze bzw. Rahmensätze von den Landessozialbehörden der jeweiligen Bundesländer festgesetzt werden. Diese sind tageweise in Anlehnung an den Regelsatz der Sozialhilfe für Alleinstehende zu berechnen (zuzüglich der im Einzelfall voraussichtlich notwendigen Kosten für Übernachtungen). Nach der zum 1.1.2005 in Kraft tretenden neuen Regelsatzverordnung soll der Eckregelsatz für Sozialhilfe künftig 345 Euro im Monat für den Haushaltsvorstand und für Alleinstehende betragen. Dieser Betrag deckt pauschal die meisten der bisherigen einmaligen Leistungen für Bekleidung, Wäsche, Schuhe und Hausrat ab und sollte dann tageweise errechnet werden. Dieser Eckregelsatz entspricht auch der im künftigen SGB II geregelten Grundsicherung für (langzeitarbeitslose) erwerbsfähige Arbeitssuchende aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Das neue SGB XII – Sozialhilfe – einschließlich der neuen Regelsatzverordnung kann als Referenzsystem für die Ausgestaltung der Leistungen des neuen Arbeitslosengeld II dienen. Eine davon abgewandelte Berechnungsmethode enthalten die BayVVStVollzG zu § 75 (dafür Arloth 2008 Rdn. 4). Eine Überbrückungsbeihilfe soll bis zum achteinhalbfachen Tagessatz der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG) gewährt werden, wenn und soweit den Gefangenen eigene Mittel in dieser Höhe nicht zur Verfügung stehen. Für 2005 würde dies ein Betrag von 89 Euro sein. Der Anspruch kann entfallen, wenn der nach dem Sozialhilfegesetz angemessene Unterhalt nach Verbüßung einer kurzen Freiheitsstrafe für die ersten drei Tage nach der Entlassung gesichert ist (LG Bonn ZfStrVo 1985, 185). Die Vollzugsbehörde ist bei einem Antrag auf Urlaub zur Entlassungsvorbereitung aufgrund der Selbstbindung durch VV Nr. 6 zu § 13 zur Beachtung des § 75 verpflichtet (OLG Hamm NStZ 1984, 45). e) Im Regelfall wird die Überbrückungshilfe dem Gefangenen am Tag der Entlassung 12 ausgezahlt. Nach Abs. 2 kann sie aber auch von der Vollzugsbehörde entsprechend der Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 2 und 3 ganz oder zum Teil der Bewährungshilfe oder einer mit der Entlassenenbetreuung befassten Stelle zur kurzfristigen Geldverwaltung überwiesen werden. Auch ohne Zustimmung des Gefangenen (anders als nach § 51 Abs. 2 Satz 4) kann die Überbrückungsbeihilfe ganz oder teilweise dem Unterhaltsberechtigten direkt überwiesen werden, um notfalls eine sachgemäße Verwendung der Mittel sicherzustellen. f) Die vollstreckungsrechtliche Regelung von Abs. 3 macht die Beihilfe zu den Reise- 13 kosten (Anspruch bzw. ausgezahltes Geld) unpfändbar. Dasselbe gilt für den Anspruch auf Auszahlung der Überbrückungsbeihilfe nach Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 51 Abs. 4 Satz 1. Ist die Beihilfe ausgezahlt, muss § 51 Abs. 4 Satz 3 entsprechend beachtet werden. Pfändungen we-
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§ 75
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
gen der in § 850d Abs. 1 Satz 1 ZPO bezeichneten Unterhaltsansprüche sind allerdings ausgenommen (Abs. 3 i. V. m. § 51 Abs. 5). Selbst im Fall einer solchen Pfändung hat der Entlassene nach § 51 Abs. 5 Satz 2 einen gewissen Pfändungsschutz. Vgl. § 51 Rdn. 18. Allgemein zur Pfändbarkeit von Geldforderungen an Strafgefangene Butzkies 1996, 345.
III. Beispiel 14
Der Strafgefangene M. aus der Vollzugsanstalt L. erkundigt sich während seines Entlassungsurlaubs bei dem Sozialamt seines künftigen Wohnorts nach dem Umfang der Sozialleistungen für die Zeit nach der Haftentlassung. Sachbearbeiter X. verweist den M. an die Vollzugsanstalt L., die ihm eine höhere Überbrückungsbeihilfe „vorstrecken“ müsse. Da ihm Arbeitslosengeld zustehe, werde die Vollzugsanstalt entsprechend vorleisten und sich den Anspruch gegen die örtliche Agentur für Arbeit abtreten lassen. Das Sozialamt, so erklärt Sachbearbeiter X., sei in keinem Fall zuständig. Die Auffassung des Sachbearbeiters X. ist unrichtig. Eine Vorleistungspflicht der Vollzugsanstalt zur Auszahlung einer höheren Überbrückungsbeihilfe besteht nicht. Als eigenständige vollzugliche Leistungseinrichtung, die keine Reservefunktion gegenüber dem Überbrückungsgeld hat, ist sie im Verhältnis zu den Sozialleistungen nachrangig. Das Auszahlungsverfahren von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe kann nicht durch eine Zwischenfinanzierung seitens der Vollzugsbehörden (für die im Übrigen keine Rechtsgrundlage besteht) verändert werden (zu den Einzelheiten Rdn. 5 bis 12).
IV. Landesgesetze 1. Bayern
15
Art 80 BayStVollzG ist in Abs. 1 bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 75 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 ist neu und lautet: „Die Überbrückungsbeihilfe soll die Gefangenen in die Lage versetzen, ohne Inanspruchnahme fremder Hilfe ihren notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten, bis sie ihn anderweitig decken können“. Abs. 3 ist wortgleich mit § 75 Abs. 2 Satz 2 und 3 Die Gesetzesbegründung zu Art. 80 BayStVollzG lautet: „Die Vorschrift entspricht der Regelung des § 75 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 StVollzG und wird durch Art. 208 BayStVollzG i. V. m § 75 Abs. 3 StVollzG ergänzt. Soweit es den Gefangenen nicht möglich ist, vom Arbeitsentgelt einen hinreichenden Betrag als Überbrückungsgeld anzusparen, ist ihnen eine Entlassungsbeihilfe zu gewähren. Bei der Bemessung der Höhe ist der Grundsatz der Bedarfsdeckung zu berücksichtigen. Die Kürzungsmöglichkeit nach § 75 Abs. 2 Satz 1 StVollzG wegen nur kurzer Haftdauer, schlechter Arbeitsleistung oder verschwenderischem Umgang wurde nicht übernommen, weil sie dem Sozialstaatsprinzip widerspricht.“ 2. Hamburg
16
Das HmbStVollzG enthält keine in einem besonderen Titel, Kapitel oder Abschnitt zusammengefassten Bestimmungen über soziale Hilfen (siehe dazu III zu § 71 und § 74). 3. Niedersachsen
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§ 70 NJVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen mit § 75 StVollzG identisch. Die in Abs. 3 wegen des Anspruchs auf Überbrückungsbeihilfe und für Bargeld
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Vorbemerkungen
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nach Auszahlung einer Überbrückungsbeihilfe an die oder den Gefangenen enthaltene Verweisung auf § 50 Abs. 2 Sätze 1 und 3 und Abs. 3 NJVollzG korrespondiert mit § 51 Abs. 4 Satz 1 StVollzG Abs. 2 (Der Anspruch auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes ist unpfändbar ) und mit § 51 Abs. 4 Satz 2 StVollzG (Unpfändbarkeit des Bargeldes in den ersten vier Wochen nach der Entlassung in Höhe des Überbrückungsgeldes). Die Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift (LT-Drucks. 15/3565, 147) ging davon aus, dass die Verweisung in § 75 Abs. 2 Satz 2 StVollzG auf § 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG, wonach die Überbrückungsbeihilfe auch an die Bewährungshelferin oder den Bewährungshelfer ausgezahlt werden kann, wegen der bundesgesetzlichen Regelung der Bewährungshilfe – wie auch § 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG selbst – als Bundesrecht fort gelten sollte (s. § 193 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Entwurfs)“. Die diesbezügliche Begründung (LT-Drucks. 15/3565, 221) lautete: „§ 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG enthält eine Befugnis, das von den Gefangenen im Vollzug angesparte Überbrückungsgeld, das den notwendigen Lebensunterhalt der Gefangenen und ihrer Unterhaltsberechtigten in den ersten vier Wochen nach der Entlassung sichern soll, nicht an die Gefangenen, sondern an eine Bewährungshelferin oder einen Bewährungshelfer oder eine mit der Entlassenenbetreuung befasste Stelle auszuzahlen. Diese sind dann befugt, über die Verwendung des Geldes in den ersten vier Wochen nach der Entlassung der Gefangenen zu entscheiden, und verpflichtet, das Geld der Gefangenen gesondert von ihrem Vermögen zu halten. Diese Vorschriften gelten gemäß § 72 Abs. 2 Satz 2 StVollzG entsprechend für die Überbrückungsbeihilfe. Da die Bewährungshilfe in § 56d StGB und § 24 JGG geregelt sind, dürfte es sich bei Vorschriften, die die Aufgaben sowie die Rechte und Pflichten der Bewährungshelferinnen und -helfer regeln, nicht um strafvollzugliche Regelungen handeln. Wegen der bestehenden Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz des Landes soll es vielmehr auch hier bei der bundesgesetzlichen Regelung bleiben.“ Nach dem schriftlichen Bericht des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen zu dieser Vorschrift (LT-Drucks. 4325, 28) wurde aber die Aufnahme einer entsprechenden Regelung (Überweisung an einen Bewährungshelfer oder eine mit der Entlassungsvorbereitung befasste Stelle) in den Absatz 2 abweichend von § 75 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nicht für erforderlich gehalten. Auch der Verweis auf diese Vorschrift in § 193 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a der Entwurfsfassung wurde gänzlich zur Streichung und ersatzlosem Wegfall empfohlen. Zu § 193 NJVollzG erfolgte diese Empfehlung des Ausschusses mit dem Hinweis, dass die Regelung zu § 193 NJVollzG insgesamt überflüssig ist (LT-Drucks. 4325, 72).
ZEHNTER TITEL
Besondere Vorschriften für den Frauenstrafvollzug Vorbemerkungen Schrifttum: a) Zur Frauenkriminalität: Albrecht Die sanfte Minderheit. Mädchen und Frauen als Straftäterinnen, in: BewHi 1987, 341 ff; v. den Driesch/Kawamura Straffällige Frauen – Lebenslagen und Hilfsangebote, in: NK 1/1995, 33 ff; Dürkop Zur Geschlechterfrage in der Kriminalpolitik, in: Maelicke/Simmedinger (Hrsg.), Schwimmen gegen den Strom. Um der Überzeugung willen (Festschrift für Helga Einsele), Frankfurt 1990, 31 ff; Franke Frauen und Kriminalität. Eine kritische Analyse kriminologi-
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Vorbemerkungen
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nach Auszahlung einer Überbrückungsbeihilfe an die oder den Gefangenen enthaltene Verweisung auf § 50 Abs. 2 Sätze 1 und 3 und Abs. 3 NJVollzG korrespondiert mit § 51 Abs. 4 Satz 1 StVollzG Abs. 2 (Der Anspruch auf Auszahlung des Überbrückungsgeldes ist unpfändbar ) und mit § 51 Abs. 4 Satz 2 StVollzG (Unpfändbarkeit des Bargeldes in den ersten vier Wochen nach der Entlassung in Höhe des Überbrückungsgeldes). Die Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift (LT-Drucks. 15/3565, 147) ging davon aus, dass die Verweisung in § 75 Abs. 2 Satz 2 StVollzG auf § 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG, wonach die Überbrückungsbeihilfe auch an die Bewährungshelferin oder den Bewährungshelfer ausgezahlt werden kann, wegen der bundesgesetzlichen Regelung der Bewährungshilfe – wie auch § 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG selbst – als Bundesrecht fort gelten sollte (s. § 193 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Entwurfs)“. Die diesbezügliche Begründung (LT-Drucks. 15/3565, 221) lautete: „§ 51 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StVollzG enthält eine Befugnis, das von den Gefangenen im Vollzug angesparte Überbrückungsgeld, das den notwendigen Lebensunterhalt der Gefangenen und ihrer Unterhaltsberechtigten in den ersten vier Wochen nach der Entlassung sichern soll, nicht an die Gefangenen, sondern an eine Bewährungshelferin oder einen Bewährungshelfer oder eine mit der Entlassenenbetreuung befasste Stelle auszuzahlen. Diese sind dann befugt, über die Verwendung des Geldes in den ersten vier Wochen nach der Entlassung der Gefangenen zu entscheiden, und verpflichtet, das Geld der Gefangenen gesondert von ihrem Vermögen zu halten. Diese Vorschriften gelten gemäß § 72 Abs. 2 Satz 2 StVollzG entsprechend für die Überbrückungsbeihilfe. Da die Bewährungshilfe in § 56d StGB und § 24 JGG geregelt sind, dürfte es sich bei Vorschriften, die die Aufgaben sowie die Rechte und Pflichten der Bewährungshelferinnen und -helfer regeln, nicht um strafvollzugliche Regelungen handeln. Wegen der bestehenden Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz des Landes soll es vielmehr auch hier bei der bundesgesetzlichen Regelung bleiben.“ Nach dem schriftlichen Bericht des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen zu dieser Vorschrift (LT-Drucks. 4325, 28) wurde aber die Aufnahme einer entsprechenden Regelung (Überweisung an einen Bewährungshelfer oder eine mit der Entlassungsvorbereitung befasste Stelle) in den Absatz 2 abweichend von § 75 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nicht für erforderlich gehalten. Auch der Verweis auf diese Vorschrift in § 193 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a der Entwurfsfassung wurde gänzlich zur Streichung und ersatzlosem Wegfall empfohlen. Zu § 193 NJVollzG erfolgte diese Empfehlung des Ausschusses mit dem Hinweis, dass die Regelung zu § 193 NJVollzG insgesamt überflüssig ist (LT-Drucks. 4325, 72).
ZEHNTER TITEL
Besondere Vorschriften für den Frauenstrafvollzug Vorbemerkungen Schrifttum: a) Zur Frauenkriminalität: Albrecht Die sanfte Minderheit. Mädchen und Frauen als Straftäterinnen, in: BewHi 1987, 341 ff; v. den Driesch/Kawamura Straffällige Frauen – Lebenslagen und Hilfsangebote, in: NK 1/1995, 33 ff; Dürkop Zur Geschlechterfrage in der Kriminalpolitik, in: Maelicke/Simmedinger (Hrsg.), Schwimmen gegen den Strom. Um der Überzeugung willen (Festschrift für Helga Einsele), Frankfurt 1990, 31 ff; Franke Frauen und Kriminalität. Eine kritische Analyse kriminologi-
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scher und soziologischer Theorien, Konstanz 2000; Funken Frau – Frauen – Kriminelle. Zur aktuellen Diskussion über Frauenkriminalität, Opladen 1989; Gipser Mädchenkriminalität. Soziale Bedingungen abweichenden Verhaltens, München 1975; dies. Probleme der Frauenkriminalität, in: KrimPäd 14/15/1982, 2 ff; Heinz Frauenkriminalität, in: BewHi 2002, 131 ff; Kaiser Das Bild der Frau im neueren kriminologischen Schrifttum, in: ZStW 1986, 658 ff; ders. Kriminologie. Lehrbuch, 3.Aufl., Heidelberg 1996, 495 ff; Keupp Zur Problematik der weiblichen Delinquenz, in: MschrKrim 1982, 219 ff; Kreuzer Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur Diskussion um Frauenkriminalität, in: FS für H. Kaufmann, Berlin 1986, 291 ff; Leder Der Stand kriminologischer Arbeit für Frauen- und Mädchenkriminalität, Heidelberg 1988; Middendorff Die Kriminalität der Frau im Wandel, in: ZStW 1979, 192 ff; Schmölzer Aktuelle Diskussionen zum Thema „Frauenkriminalität“ – ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erklärungsversuchen, in: MschrKrim 1995, 219 ff; Schwind Kriminologie, 19. Aufl., Heidelberg 2009, 78 ff; Traulsen Delinquenz und soziale Benachteiligung der Ausländerinnen, in: MschrKrim 1990, 256 ff; Trube-Becker Frauen als Mörder, München 1974. b) Zum Frauenstrafvollzug: Bernhardt Frauen in Haft, in: KrimPäd 14/15/1982, 27 ff; Cummerow Chancengleichheit? Frauen und Männer im Strafvollzug, in: BewHi: 2006, 158 ff; Dünkel/Kestermann/ Zolondek Internationale Studie zum Frauenstrafvollzug; Bestandsaufnahme, Bedarfsanalyse und „best practice“, Greifswald 2005; Dürkop/Hardtmann (Hrsg.) Frauen im Gefängnis, Frankfurt 1978; Einsele Hauptprobleme der Vollzugsgestaltung für junge weibliche Gefangene, in: BMJ (Hrsg.), Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskommission, Bd. VII, Bonn 1979, 92 ff; dies. Besonderheiten der weiblichen Kriminalität und des Frauenstrafvollzugs, in: ZfStrVo 1971/72, 127 ff; dies. Mein Leben mit Frauen in Haft, Stuttgart 1994; Einsele/Bernhardt Frauenanstalten, in: Schwind/Blau 1988, 58 ff; Einsele/Krüger Frauen im Strafvollzug, in: Kerner (Hrsg.), Deutsche Forschung zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Köln 1983, 2039 ff; Einsele/Rothe Frauen im Strafvollzug. Auf der Suche nach etwas, das besser ist als Strafe, Reinbek 1982; Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.) Frauen in Haft (Loccumer Protokolle 3/1991), Rehburg-Loccum 1992; Fischer-Jehle Frauen im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung über Lebensentwicklung und Delinquenz strafgefangener Frauen, Köln 1991; Geiger/Steinert Straffällige Frauen und das Konzept der „Durchgehenden sozialen Hilfe“. Band 11 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, Stuttgart 1993; Hammann Ausbildung und praktische Mitarbeit im allgemeinen Vollzugsdienst einer Frauenvollzugsanstalt, in: ZfStrVo 1988, 34; Harjes „Frauenfreigang“ zur Versorgung der Kinder und des Haushalts, in: ZfStrVo 1985, 284 ff; Hartmann Zur Situation der langzeitbestraften Frau, in: MschKrim 1981, 361 ff; Jansen/Schreiber „Die Mädchen sind wieder frech geworden“. Zur Bedeutung von Disziplinierung im Strafvollzug an jugendlichen Frauen, in: MschrKrim 1994, 137 ff; Kawamura-Reindl Resozialisierung straffälliger Frauen, in: Cornel/Kawamura-Reindl/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 2. Aufl., Baden-Baden 2003, 373 ff; Köhne Geschlechtertrennung im Strafvollzug, in: BewHi 2002, 221 ff; Krüger Gefangene Mütter – Bestrafte Kinder? Neuwied 1982; Maelicke Der Frauenstrafvollzug in den Bundesländern, in: NK 2/1995, 137 ff; ders. Ist Frauenstrafvollzug Männersache? Eine kritische Bestandsaufnahme des Frauenvollzugs in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1995; Meyer Die besondere Problematik des Strafvollzugs für weibliche Jugendliche, in: BMJ (Hrsg.), Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskommission, Band VII, Bonn 1979, 124 ff; Müller-Dietz Resozialisierung straffälliger Frauen, in: ZfStrVo 1982, 35 ff; Obermöller Reform des Frauenstrafvollzugs durch problemorientierte Rechtsanwendung, Baden-Baden 2002; Quensel Frauen im Gefängnis, in: KrimPäd 14/15/1982, 13 ff; Steinhilper Junge Frauen im Strafvollzug, in: Trenczek (Hrsg.), Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, Bonn 1993, 145 ff; Traxler Erfahrungsbericht eines Modellversuchs zur sozialen Rehabilitation und Berufsausbildung weiblicher Strafgefangener, in: ZfStrVo 1980, 200 ff; Zolondek Lebens- und Haftbedingungen im deutschen und europäischen Frauenvollzug, Mönchengladbach 2007. c) Zu Mutter-Kind-Einrichtungen: s. bei § 80.
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Vorbemerkungen
Übersicht Rdn. I. Frauenkriminalität . . . . . . . . 1. Tatverdächtige, Verurteilte, Strafgefangene . . . . . . . . . . . . 2. Kriminalitätsstruktur . . . . . II. Frauenstrafvollzug . . . . . . . . 1. Statistik . . . . . . . . . . . . . 2. Vollzugseinrichtungen und Vollzugsgemeinschaften . . . . . .
.
1–3
. . . .
1–2 3 4–11 4
.
5
Rdn. 3. 4. 5. 6. 7.
Jugendvollzug . . . . . . . . . . Bildung und Behandlung . . . . Besonderheiten inhaftierter Frauen Inhaftierung von Müttern . . . . Kompensatorische Vollzugspraxis
6 7–8 9 10 11
I. Frauenkriminalität 1. 2007 betrug der Anteil von Mädchen und Frauen an Tatverdächtigen 24,2 % (PKS 1 2008, 72); ihr Anteil an den Verurteilten belief sich auf 18,2 % (Strafverfolgungsstatistik 2006). Jugend- und Freiheitsstrafen mussten im selben Jahr (am 31.3.2008) 3.258 Frauen verbüßen (einschl. vorübergehend abwesende); damit betrug ihr Anteil an allen Strafgefangenen nur noch 5,3 % (Statistik des BMJ). Der ohnehin geringe Frauenanteil wird auf jeder Stufe des Strafverfahrens und mit Zunahme der Eingriffsintensität der Sanktionen immer kleiner (Heinz 2002, 135). Unter den insgesamt 456 Sicherungsverwahrten befanden sich am 3.8.2008 zwei Frauen. Die Deliktsbelastungen von Männern und Frauen nähern sich allerdings mit zuneh- 2 mendem Lebensalter an. So sind 25,3 % der über 60jährigen Verurteilten weiblich, aber nur 18,4 % der unter 25jährigen (Strafverfolgungsstatistik 2006). Der Anteil der Ausländerinnen an der Gesamtzahl weiblicher Verurteilter verzeichnet nach Jahren des Anstiegs einen leichten Rückgang. (1986: 10,0 %, 1990: 15,2 %, 1996: 20,1 %, 2002: 21,2 % und 2006: 20,1 %). Am 31.3.2006 besaßen 15 % der weiblichen Strafgefangenen eine ausländische Staatsbürgerschaft oder waren staatenlos. 2. Die Kriminalitätsstruktur weiblicher Tatverdächtiger ist anders als die männli- 3 cher. Der Anteil von Frauen an der schweren Kriminalität ist gering (Tötungsdelikte 13,6 %, Raub 9,0 %, schwere Körperverletzung 13,9 %, schwerer Diebstahl 9,0 %). Schwerpunkt der Frauenkriminalität ist der „einfache“ Diebstahl (meist Ladendiebstahl). Mit 33,2 % gehört er zu den Delikten mit dem höchsten Anteil weiblicher Tatverdächtiger (PKS 2008, 85). Untersuchungen von Albrecht (1987, 346 ff) sprechen für eine durchschnittlich geringere Tatschwere bei den von Frauen begangenen Straftaten, für mehr Beihilfehandlungen und weniger intensive Täterschaft. Weibliche Tatverdächtige bzw. Verurteilte sind erheblich seltener polizeibekannt bzw. vorbestraft, neigen eher zu Einzelhandlungen und nicht zu wiederholter oder fortgesetzter Tatbegehung. Weibliche Straftäter führen erheblich seltener Schusswaffen mit sich als männliche Straftäter (zu den Erklärungsansätzen für die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung der Geschlechter s. Schmölzer 1995, 219 ff; zusammenfassend Schwind 2009, 81 ff). Auch die Rückfallquote verurteilter Frauen liegt mit 24 % unter derjenigen der Männer mit rund 38 % (s. Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine kommentierte Rückfallstatistik, Berlin 2003, 47).
II. Frauenstrafvollzug 1. Statistik: Am 31.3.2008 waren bundesweit 4.071 Frauen (Aufstellung des Statisti- 4 schen Bundesamtes über den Gefangenenbestand mit vorübergehend Abwesenden) inhaftiert, davon 664 in Untersuchungshaft. Frauen machten damit 5,3 % der gesamten Vollzugs-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
population (N = 76.531) aus. Die meisten weiblichen Strafgefangenen waren am Stichtag 31.3.2007 wegen Diebstahl und Unterschlagung (26,3 %) und wegen Betrug und Untreue (22,2 %) inhaftiert; es folgten Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (17,4 %) und gegen das Leben (7,6 %). Zur Altersverteilung: 36,1 % der weiblichen Strafgefangenen waren 40 Jahre und älter (im Vergleich zu 30,1 % bei den Männern), 16,8 % waren unter 25 Jahre alt (im Vergleich zu 20,0 % bei den Männern). Weibliche Strafgefangene am 31.3.2007 nach Dauer des Vollzuges Vollzugsdauer
Anzahl
Prozent
bis zu 9 Monaten 9 Monate bis 2 Jahre 2 bis 5 Jahre 5 bis 15 Jahre lebenslang
1492 678 625 175 102
44,2 20,1 18,5 5,2 3,0
Zusammen
3377
ca. 100,0
Quelle: Statist. Bundesamt. Fachserie 10, Reihe 4.1.2003, 13.
5
2. Wegen der geringen Zahl inhaftierter Frauen gibt es lediglich fünf selbständige Frauenanstalten (JVA Frankfurt am Main III, JVA für Frauen Berlin, JVA Schwäbisch Gmünd, JVA für Frauen in Vechta, JVA Willich II/NRW). Die übrigen Vollzugseinrichtungen, in denen Frauen untergebracht werden, sind organisatorisch, personell oder räumlich mit Vollzugsanstalten für Männer verbunden oder lediglich unselbständige Abteilungen von Männeranstalten (zum Trennungsgrundsatz Rdn. 4 zu § 140). Die gesetzliche Forderung nach Unterbringung in besonderen Frauenanstalten (§ 140) ist selten erfüllt; die Ausnahmevorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 2 ist in der Praxis die Regel. Vollzugsgemeinschaften (§ 150) haben Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie Berlin und Brandenburg für einzelne Haftformen, das Saarland und Rheinland-Pfalz sowie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen für alle Haftformen. Sie bieten größere Differenzierungsmöglichkeiten, erschweren aber auch die Kontakte zu Bezugspersonen und damit die Entlassungsvorbereitung. Anstalten des offenen Vollzuges für Frauen gibt es nicht. Obwohl die wiederholte Tatbegehung bei Frauen seltener und das Risiko für die Allgemeinheit bei Vollzugslockerung aufgrund der weiblichen Deliktsstruktur geringer ist als bei männlichen Strafgefangenen (Albrecht 1987, 350), waren am 31.3.2008 lediglich 598 Frauen im offenen Vollzug untergebracht; insgesamt verfügte der Frauenvollzug zu diesem Zeitpunkt über 4.386 Haftplätze, davon 741 im offenen Vollzug (Quelle: BMJ).
6
3. Eine besondere Herausforderung für die Vollzugsorganisation stellen die jungen Insassinnen dar, deren schulische und berufliche Ausbildung, Behandlungs- und Betreuungsbedürfnisse oftmals vernachlässigt werden (s. schon Meyer 1979, 124; Jansen/Schreiber 1994, 137 ff). Am 31.3.2008 verbüßten insgesamt 251 weibliche Gefangene eine Jugendstrafe (zum Vergleich: 6.075 männliche Gefangene). Sie sind in Abteilungen oder Wohnfluren der jeweiligen Frauenanstalten untergebracht. Da zentrale Jugendanstalten für weibliche Gefangene (Vollzugsgemeinschaften i. S.d. § 150) weite Entfernungen zum Heimatort zur Folge hätten, andererseits die Situation der Jugendlichen und Heranwachsenden in Anstalten des Erwachsenenvollzugs überwiegend nicht befriedigend ist, liegt die Überlegung nahe, weibliche Gefangene in besonderen Abteilungen der Jugendanstalten für männliche Gefangene unterzubringen (Meyer 1979, 126; a. A. Einsele/Bernhardt 1988, 66 f).
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Vorbemerkungen
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Die Angliederung an Anstalten für männliche junge Gefangene soll die Bildung von Lernund Ausbildungseinheiten Gleichaltriger mit ihren spezifischen altersgemäßen Problemen sichern. Die Vollzugspraxis ist von der Koedukation in gemeinsamen Anstalten allerdings nicht überzeugt; sie hat gute Erfahrungen mit der Angliederung von Abteilungen für junge weibliche Gefangene an Vollzugseinrichtungen für Frauen gemacht (Steinhilper 1993, 146 ff). Die Ländergesetze zum Jugendstrafvollzug greifen den Gedanken insoweit auf, als sie die Teilnahme an gemeinsamen Maßnahmen, insbesondere gemeinsame Schul- und Berufsausbildung, für zulässig erklären, an einer getrennten Unterbringung von weiblichen und männlichen Gefangenen aber festhalten. 4. Auch für den Erwachsenenvollzug gilt, dass Arbeit, schulische und berufliche Aus- 7 und Fortbildung, soziale Hilfen und Freizeitmaßnahmen aufgrund der geringen Zahl inhaftierter Frauen bzw. ihrer relativ kurzen Verweildauer im Vollzug nicht so differenziert angeboten werden wie in Vollzugsanstalten für männliche Gefangene (Brämer/Otte/Schuler/ Pendon ZfStrVo 1986, 331). Nach AK-Bammann/Quensel (2006, Rdn. 6) hat bzgl. schulischer und beruflicher Bildungsmaßnahmen für Frauen in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden. Das Angebot in den Anstalten erweitert sich, u. a. durch Projekte des Europäischen Sozialfonds. Einer Koedukation steht die Vollzugspraxis auch im Erwachsenenvollzug nach wie vor skeptisch gegenüber (vgl. Zolondek 2007, 58). Befürchtet wird, dass sich die Frauen aufgrund des meist unausgewogenen Zahlenverhältnisses und ihres mangelnden Selbstbewusstseins gegenüber den männlichen Mitgefangenen nicht behaupten können. Statt dessen werden schulische und berufliche Maßnahmen auch für kleinste Lerngruppen anstaltsintern durchgeführt. Für eine gemeinsame Unterbringung von männlichen und weiblichen (Straf-) Gefangenen aus rechtlich nicht überzeugenden Gründen Köhne 2002, 221 ff. Nach seiner Auffassung widerspricht die getrennte Unterbringung dem Angleichungs- und Gegenwirkungsgrundsatz (zum koedukativen Vollzug s. auch Obermöller 2002, 133 ff). Sozialtherapeutische Abteilungen (§ 123 Abs. 2) für Frauen fehlen in den meisten 8 Bundesländern. Lediglich in Berlin (18 Plätze), Dresden (9 Plätze) und Alfeld/Niedersachsen (11 Plätze) gibt es Sozialtherapie-Plätze für Frauen. Mit der Neufassung des § 9 im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGB I, 160) hat der Gesetzgeber eine neue Benachteiligung für Frauen geschaffen. Faktisch sind dadurch vorrangig Plätze in der Sozialtherapie für Männer einzurichten (zum Bedarf sozialtherapeutischer Plätze für Frauen und zur Alters- und Deliktstruktur der Klientinnen in der Sozialtherapie s. Zolondek 2007, 111). Auch sind Maßnahmen der Entlassungsvorbereitung, die im Vollzug beginnen und nach der Entlassung fortgesetzt werden (durchgehende Hilfen) in den Flächenstaaten bei zentralen Vollzugseinrichtungen für Frauen erschwert; bei der Entlassenenhilfe mangelt es an frauenspezifischen Angeboten. Vorbildhaft ist die seit 1976 bestehende Anlaufstelle für strafentlassene Frauen in Frankfurt (s. Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Frankfurt (Hrsg.), 10 Jahre Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen, Frankfurt 1987). 5. Bei der Organisation des Frauenvollzuges sind die Besonderheiten inhaftierter 9 Frauen zu beachten. Sie werden häufig als stark belastete Persönlichkeiten beschrieben (vgl. Einsele/Bernhardt 1988, 59, 63), mit früh angelegten Fehlentwicklungen, traumatischen Kindheits- und Jugenderlebnissen (oftmals sexuelle Misshandlungen), mit gestörtem Selbstbewusstsein, ohne Durchhaltevermögen und Lebensperspektive. Zu den sozialen Hintergründen und Problemkarrieren s. ausführlich Geiger/Steinert 1993, 21 ff. Offensichtlich leiden inhaftierte Frauen stärker als männliche Gefangene unter der Einengung im vollzuglichen Alltag (reglementierter Tagesablauf, Einschluss, formalisierte Entscheidungsabläufe, Briefund Paketkontrollen). Viele Insassinnen haben vor ihrer Inhaftierung Gewalt erlebt und rea-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
gieren auf jegliche Formen körperlicher Gewalt empfindlich und aggressiv, auch wenn sie nicht selbst, sondern Mitgefangene betroffen sind. Stärker ausgeprägt als bei männlichen Gefangenen sind wohl auch körperliche Auffälligkeiten; häufig treten Hauterkrankungen, Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden, Magenbeschwerden und andere psychosomatische Störungen auf (zu den gesundheitlichen Problemen von Frauen im Vollzug s. umfassend Zolondek 2007, 203 ff). Zentrales Problem und häufiges Thema in Gesprächen inhaftierter Frauen untereinander ist das Verhältnis zu (Ehe-) Männern, die auch als Unterdrücker und Ausbeuter (Zuhälter und Freier) erlebt worden sind. Anders als im Männervollzug ist auch die Anstaltsatmosphäre. Die wohnlich eingerichteten Hafträume sind in der Regel penibel sauber und lassen ein starkes Bedürfnis nach Individualität und Geborgenheit erkennen. Im Frauenvollzug gibt es kaum Subkulturen; körperliche Aggressivität und Rücksichtslosigkeit sind Ausnahmen. Die Anstaltsatmosphäre wird eher durch Wutausbrüche, seelische Erschütterungen, Schuldprobleme und Verzweiflungstaten der Insassinnen belastet. Erforderlich wäre eine sozialtherapeutische Umgestaltung des gesamten Frauenvollzugs (Einsele/ Bernhardt 1988, 66). Besondere Anforderungen an die Vollzugsgestaltung stellen die Drogenabhängigen, deren Zahl auf über 50 % geschätzt wird (Zolondek 2007, 206). Nach einer repräsentativen Studie des Kriminologischen Dienstes des nds. Justizvollzugs (Celle 2006) haben ca. 40 % der weiblichen Gefangenen in den vier Wochen vor der Inhaftierung illegal Drogen konsumiert; dabei haben sie prozentual häufiger Heroin gespritzt als männliche Gefangene. Besondere Probleme bereiten die langjährig Abhängigen mit vorausgegangener Therapie- und Vollzugserfahrung. Erstmals in der Bundesrepublik hat die JVA für Frauen in Vechta (Niedersachsen) ein Spritzenaustauschprogramm für Drogenabhängige erprobt (Meyenberg/Stöver/Jacob/Pospschill Infektionsprophylaxe im nds. Justizvollzug, Eröffnungsbericht zum Modellprojekt, Oldenburg 1996; zu den frauenspezifischen Aspekten der Infektionsprophylaxe s. auch Jacob/Schaper/Stöver Neue Praxis 1997, Heft 1, 67 ff). 2003 wurde das Programm eingestellt, weil infektionsprophylaktische Effekte nicht nachgewiesen werden konnten. Für den Spritzenaustausch treten demgegenüber nach wie vor Stöver/Nelles (ZfStrVo 2003, 345 ff) ein – freilich ohne überzeugenden empirischen Nachweis dafür, dass sich die Ansteckungsgefahr tatsächlich reduziert (ausführlicher dazu s. Stöver/Nelles aaO und die Erwiderung von Hasenpusch/Steinhilper ZfStrVo 2003, 351 ff). Den Besonderheiten des Frauenstrafvollzugs wurde in der Praxis bisher u. a. dadurch Rechnung getragen, dass Frauen im Gegensatz zu Männern zweckgebundes Eigengeld (§ 52) für den Einkauf (§ 22) von Kosmetika verwenden durften. Das BVerfG (Beschl. vom 7.11.2008 – 2 BvR 1870/07) ist dem entgegen getreten. Es sieht darin einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG). Geschlechtsabhängige Regelungen sind nach Art. 3 Abs. 3 S 1 GG nur erlaubt, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind, oder eine Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht sie ausnahmsweise legitimiert (vgl. BverfG 25.10.2005, 2 BvR 524/01; BVerfGE 114, 357, 364). Eine Besserstellung von Frauen wäre danach nicht zu beanstanden, wenn Gründe der Vollzugssicherheit dies rechtfertigten. Dazu sei im entschiedenen Fall jedoch nichts vorgetragen. Dies gelte auch für die faktische Besserstellung von Frauen, denen im vorliegenden Fall zudem im Gegensatz zu den männlichen Gefangenen wegen der unterschiedlichen Ausstattung der Haftgebäude mit Telefonapparaten die Möglichkeit eröffnet wurde, im Gegenwert von 30 Euro monatlich zu telefonieren.
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6. Ein besonderes Problem im Frauenstrafvollzug ist die Inhaftierung von Müttern (dazu auch AK-Bammann/Quensel 2006 Rdn. 10–14). Nach einer Erhebung von Dünkel/Kestermann/Zolondek (2005) sind ca. 68 % der weiblichen Gefangenen in Deutschland Mütter.
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Schwerwiegenden Erziehungsschäden der nicht schulpflichtigen Kinder inhaftierter Mütter soll durch eine gemeinsame Unterbringung in Mutter-Kind-Einrichtungen entgegengewirkt werden (§ 80); diese Regelung reicht jedoch nicht aus. Zum einen ist eine Unterbringung kleiner Kinder im Vollzug aus pädagogischer Sicht nicht unproblematisch, zum anderen regelt diese Vorschrift nur die Versorgung der Kinder bis zum Eintritt der Schulpflicht (§ 80 Rdn. 1–2). Die Trennung von den Kindern wird vor allem von den Frauen selbst als besonders hart empfunden. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist oft die einzige kontinuierliche Bindung, die auch für die Wiedereingliederung der Straffälligen eine wichtige Rolle spielt (vgl. K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 82). Die Anstalten versuchen, der Entfremdung zwischen Mutter und Kind durch Familienseminare (mehrtägige Veranstaltungen mit Müttern, Kindern, Partnern und anderen Bezugspersonen außerhalb der Anstalt), Familiennachmittagen in der Anstalt und durch Besuchsausgänge (die Frauen können mit ihrer Familie die Anstalten für einige Stunden verlassen, um ungestört mit ihnen zusammen zu sein) entgegenzuwirken. Eine weitere Möglichkeit bietet der Freigang für Mütter zur Versorgung der Kinder und des Haushalts, der sog. (Haus-) Frauenfreigang, der bislang jedoch nur gelegentlich praktiziert wird (Harjes 1985, 284; AK-Bammann/Quensel 2006 Rdn. 7). 7. Die Besonderheiten des Frauenvollzugs haben nur zu einem geringen Teil ihren 11 Niederschlag in besonderen Vorschriften des Gesetzes gefunden (kritisch insoweit auch AKBammann/Quensel 2006 Rdn. 1 vor § 76). Sie haben jedoch die Formulierung der Bestimmungen, z.B. in den Bereichen Unterbringung und Ernährung (§§ 17 bis 22) und Gesundheitsfürsorge (§§ 56 bis 65 und 76 bis 78) beeinflusst, so dass diese Raum für eine flexible Handhabung lassen und den Bedürfnissen des Strafvollzugs für Frauen weitgehend Rechnung getragen werden kann. Ergänzende gesetzliche Regelungen (in diesem Sinne AK-Bammann/Quensel 2006 Rdn. 6) sind weniger drängend als eine „kompensatorische Vollzugspraxis“, die strukturell vorgegebene Benachteiligungen inhaftierter Frauen ausgleicht. Zur besonderen Situation von Frauen im Gefängnis und der Auswirkungen der Inhaftierung von Eltern auf deren Leben in Familie und Gesellschaft s. auch Entschließung des Europäischen Patlaments vom 13. März 2008 (BR-Drucks. 265/08),
§ 76 Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (1) Bei einer Schwangeren oder einer Gefangenen, unlängst entbunden hat, ist auf ihren Zustand Rücksicht zu nehmen. Die Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der erwerbstätigen Mutter über die Gestaltung des Arbeitsplatzes sind entsprechend anzuwenden. (2) Die Gefangene hat während der Schwangerschaft, bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung und auf Hebammenhilfe in der Vollzugsanstalt. Zur ärztlichen Betreuung während der Schwangerschaft gehören insbesondere Untersuchungen zur Feststellung der Schwangerschaft sowie Vorsorgeuntersuchungen einschließlich der laborärztlichen Untersuchungen. (3) Zur Entbindung ist die Schwangere in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen. Ist dies aus besonderen Gründen nicht angezeigt, so ist die Entbindung in einer Vollzugsanstalt mit Entbindungsabteilung vorzunehmen. Bei der Entbindung wird Hilfe durch eine Hebamme und, falls erforderlich, durch einen Arzt gewährt.
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VV Die VV zu § 65 gilt entsprechend. Schrifttum: Buchner/Becker Mutterschutzgesetz, Bundeselterngeld- und Elternteilzeitgesetz (Kommentar), 8. Aufl., München 2008; Kaiser Handbuch zum Mutterschutzgesetz, 17. Aufl., Köln 2005; Meisel/Sowka Mutterschutzgesetz und Erziehungsurlaub. Kommentar zum Mutterschutzgestz, zu den Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft nach der RVO und zum Bundeserziehungsgeldgesetz, 5.Aufl., München 1999; Schnelle Neuregelungen im Recht des Schwangerschaftsabbruchs, in: Die Betriebskrankenkasse 2/1996, 78 ff; Tröndle Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, in: NJW 1995, 3009 ff; Willikowsky Kommentar zum Mutterschutzgesetz, 2. Aufl., Berlin 2007; Winterfeld Mutterschutz und Erziehungsurlaub, München 1986; Zmarzlik/Zipperer/Viethen/Vieß Mutterschutzgesetz – Mutterschaftsleistungen, 9. Aufl., Köln 2006.
Übersicht Rdn. I. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Verpflichtung zur Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorschriften des Mutterschutzgesetzes . . . . . . . . . . . . . a) eingeschränkte Beschäftigung und Beschäftigungsverbot während der Schwangerschaft . b) Beschäftigungsverbot nach der Entbindung . . . . . . . . . . c) Stillzeiten . . . . . . . . . . .
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3–4 5 6
Rdn. 3. Erziehungsurlaub . . . . . . . 4. Medizinische Versorgung . . . 5. Soziale Hilfe und psychologische Betreuung . . . . . . . . . . . 6. Schwangerschaftsunterbrechung 7. Entbindung . . . . . . . . . . II. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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I. Erläuterungen 1
1. Abs. 1 Satz 1 fordert Rücksichtnahme auf Schwangere und Frauen, die unlängst entbunden haben. Das folgt aus Art. 6 Abs. 4 GG, der jeder Mutter „Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft“ als Anspruch und nicht als Programmsatz garantiert (BVerfGE 32, 273, 277). Dem soll das Mutterschutzgesetz (MuSchG) Rechnung tragen. Dieses Grundrecht wird durch das StVollzG ebensowenig eingeschränkt wie das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Kindes einer inhaftierten Mutter vor und nach seiner Geburt (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Verpflichtung zur Rücksichtnahme ist ein übergeordnetes Behandlungsprinzip, das sich aber nicht nur in der Beachtung von Arbeitsschutzbestimmungen und in der Gewährung medizinischer Versorgung erschöpfen sollte. Die Rücksichtnahme gebührt der Schwangeren wegen ihres Gesundheitszustandes und dient letztlich dem Wohl des Kindes.
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2. Für Gefangene, die in einem freien Arbeitsverhältnis stehen (sog. Freigänger), gilt das MuSchG – vom 18.4.1968 (BGBl. I, 315) i. d. Bek. vom 20.6. 2002 (BGBl. I, 2318 zul. g. durch Gesetz vom 5.12.2006 BGBl. I, 2748) – unmittelbar. Das MuSchG war zum 1.1.1997 erheblich geändert worden (Art. 1 des Änderungsgesetzes zum Mutterschaftsrecht, BGBl. I, 2110), u. a. um die EG-Mutterschaftsrichtlinie 92/85 (vgl. dazu Zmarzlik DB 1994, 96 ff) umzusetzen (zu den Gründen im einzelnen vgl. BT-Drucks. 13/2763, 13; s. ergänzend Kossenz DB 1997, 209; Zmarzlik DB 1997, 474 ff und Lenz NJW 1997, 1491 f). Für inhaftierte Frauen, die innerhalb des Justizvollzugs arbeiten, gelten die Bestimmungen des MuSchG nicht unmittelbar, da diese nicht in einem Arbeitsverhältnis i. S. des MuSchG stehen, auch wenn sie
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ein Entgelt erhalten (§ 43; so ausdrücklich BAG 24.4.1969 und 3.10.1978, AP Nr. 18 zu § 5 ArbGG 1953 und AP Nr. 18 zu § 5 BetrVG 1972). Auch eine im Strafvollzug gewährte Berufsausbildung begründet kein Berufsausbildungsverhältnis i. S. des Berufsbildungsgesetzes. Anderes gilt für Freigänger (§ 39; s. LAG Hamm NStZ 1991, 455). Bei Vollzug von Jugendarrest und Jugendstrafe (§§ 90 ff JGG) und Weisungen zu Arbeitsleistungen besteht kein Arbeitsverhältnis; die Schutzvorschriften des MuSchG gelten jedoch entsprechend. Abs. 1 Satz 2 sieht eine entsprechende Anwendung des MuSchG nur für die Gestaltung des Arbeitsplatzes (§ 2 MuSchG) vor. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Pflicht (§ 41), die den Inhalt der Fürsorgepflicht der Anstalt gegenüber der Gefangenen bestimmt. Da es jedoch der Intention der Vorschrift entspricht, die Situation der Gefangenen dem Leben in Freiheit anzugleichen (BT-Drucks. 7/3998), sollten auch die übrigen substantiellen Schutzvorschriften des MuSchG, insbesondere die individuellen und generellen Beschäftigungsverbote vor und nach der Entbindung, Anwendung finden. Für werdende und stillende Mütter hat der Gesetzgeber hierauf in § 41 Abs. 1 ausdrücklich hingewiesen. a) Nach dem MuSchG ist die Beschäftigungsmöglichkeit von Schwangeren einge- 3 schränkt (zu den unterschiedlichen Zeiten, in denen die Schutzvorschriften des MuSchG gelten s. §§ 3 Abs. 1 und 2, 4 Abs. 4, 6 Abs. 1–3, §§ 7–10 MuSchG; zur Berechnung der Zeiträume s. Buchner/Becker, Rdn. 240 ff). Der Arbeitsplatz ist bei werdenden und stillenden Müttern entsprechend auszugestalten (§ 2 Abs. 1 MuSchG i. V.m. der Arbeitsstätten-Verordnung vom 12.8.2004 und der Mutterschutzrichtlinie vom 19.10.1992 und der Mutterschutzrichtlinienverordnung vom 19.4.1997 = BGBl. I, 782; zu Einzelheiten siehe eingehend Buchner/Becker aaO, § 2 Rdn. 10 ff m.w.N.); verboten ist die Beschäftigung unter erschwerenden Arbeitsbedingungen (z.B. Arbeiten mit gesundheitsgefährdenden Stoffen oder Strahlen, hoher Gewichtsbelastung, auf Fahrzeugen, am Fließband u. a.; § 4 Abs. 1 MuSchG). Der Mutterschutz sieht neben den Schutzvorschriften für Schwangere am Arbeitsplatz 4 auch individuelle und generelle befristete Beschäftigungsverbote vor (§§ 3, 6 MuSchG). Auf diese Vorschriften verweist § 76 Abs. 1 Satz 2 nicht. Sie binden daher die Justizverwaltung rechtlich gegenüber beschäftigten schwangeren und stillenden Gefangenen nicht. b) Ausdrücklich aufgehoben ist nur die Arbeitspflicht schwangerer und stillender Ge- 5 fangener (§ 41 Abs. 1 Satz 3). Aus § 76 Abs. 1 ist aber der allgemeine Grundsatz zu entnehmen, dass auf gesundheitliche Belange der Gefangenen während und nach der Schwangerschaft Rücksicht zu nehmen ist. Dies bedeutet in konkreto, dass gefahrengeneigte Tätigkeiten sowie Beschäftigungen und Arbeitszeiten, die die Gesundheit der Schwangeren oder des Kindes beeinträchtigen könnten, zu unterbinden sind. Der Wunsch der Gefangenen ist dabei zu berücksichtigen. Diese wird im Zweifel eine zumutbare Beschäftigung während und nach der Schwangerschaft einer bloßen Untätigkeit im Vollzug vorziehen, da dann auch das Arbeitsentgelt (§ 42) weiter zu zahlen ist und soziale Kontakte erhalten bleiben. Gegebenenfalls ist zum Schutz der Gefangenen der Anstaltsarzt um eine medizinische Beratung zu bitten. c) §§ 2, 6 Abs. 2, 3 und 7 MuSchG fordern auch im Vollzug Rücksichtnahme auf gesund- 6 heitliche Beeinträchtigung nach der Entbindung (z.B. vorübergehende Freistellung von Arbeit) und Stillzeiten. So ist stillenden Müttern u. a. auf ihr Verlangen die zum Stillen erforderliche Zeit (mindestens zweimal täglich eine halbe Stunde oder einmal täglich eine Stunde) freizugeben. Der damit verbundene Arbeitszeitverlust darf nicht zu einem Verdienstausfall führen (§ 7 Abs. 1, 2 MuSchG). 3. Nach dem Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) sollte inhaftierten Müttern, die 7 gemeinsam mit ihren Kindern im Vollzug untergebracht sind (§§ 80, 142) auf Antrag Er-
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ziehungsurlaub analog § 15 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) vom 5.12.2006 (BGBl. I, 2748 – zul. g. 19.8.2007 – BGBl. I, 1970) gewährt werden. Empfehlenswert ist es, wenn während der ersten 6 Monate nach der Entbindung für die Mütter keine Arbeitspflicht besteht, damit diese Zeit für eine intensive Betreuung und Pflege des Säuglings genutzt werden kann. Bei Bedürftigkeit kann den Müttern unter den Voraussetzungen des § 46 StVollzG während der Zeit des Erziehungsurlaubs Taschengeld gewährt werden.
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4. Abs. 2 konkretisiert die Ansprüche auf medizinische Versorgung vor, bei und nach der Entbindung. Gewährleistet sind ärztliche Versorgung und Hebammenhilfe in der Justizvollzugsanstalt. Die Vorschrift entspricht der Versorgung Schwangerer in Freiheit. Der Inhalt der ärztlichen Betreuung orientiert sich an den Mutterschaftsrichtlinien (vom 10.12.1985; BAnz. Nr. 60a (Beilage) vom 27.3.1986, in der zul. g. Fassung vom 13.3.2008 – BAnz Nr. 242 vom 27.6.2008, S. 2261, 2, die nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss (s. zur Neuorganisation dieses Gremiums Hess Gemeinsamer Bundesausschuss in: Rieger/Dahm/Steinhilper (Hrsg.) HK-AKM Heidelberg 2008) zu regeln waren. Zur ärztlichen Betreuung zählen diagnostische und therapeutische sowie vorbeugende Maßnahmen, die der „Sicherung einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Betreuung der Versicherten während der Schwangerschaft und nach der Entbindung dienen“. Der Inhalt der Hebammenhilfe ergibt sich aus dem Hebammengesetz vom 4.6.1985 (BGBl. I, 902 zul. g. durch Art. 7 Gesetz vom 16.7.2003 – BGBl. I, 1442). 9 Über diese medizinische Versorgung hinaus sollte den Gefangenen auch Schwangerschaftsgymnastik zur Vorbereitung auf die Entbindung angeboten werden, da Gefangene häufig unter Bewegungsarmut leiden. Schwangere sollten aus Gründen der Vorsorge grundsätzlich in einer Justizvollzugsanstalt mit ärztlich geleiteter und sachlich und personell entsprechend ausgestatteter Krankenstation untergebracht werden, damit auch eine Betreuung in Sonderfällen (z.B. drohender Abortus) gewährleistet ist. Ein Gynäkologe sollte als Konsiliararzt regelmäßig hinzugezogen werden. Reicht die Versorgungsmöglichkeit in der Krankenstation der Justizvollzugsanstalt nicht aus, ist die Gefangene in ein geeignetes Krankenhaus außerhalb zu verlegen (BT-Drucks. 7/3998, 30).
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5. Soziale Hilfen und psychologische Betreuung fordert das Gesetz nicht ausdrücklich. Inhaftierung und Trennung vom gewohnten sozialen Umfeld, eine ungewollte Schwangerschaft oder sonstige Gründe erschweren es der Gefangenen u. U., sich auf das erwartete Kind einzustellen. Weiß die Gefangene zu wenig über die Schwangerschaft und die mit der Geburt verbundenen Vorgänge oder belastet sie ihre noch ungewisse Zukunft, so können psychologische Beratung und Therapie über die medizinische Versorgung hinaus angezeigt sein.
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6. § 76 verweist nicht auf die Regelungen zur ärztlichen Beratung über Empfängnisverhütung und für Leistungen bei nicht rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch. Ist eine Schwangerschaftsunterbrechung medizinisch-sozial oder kriminologisch indiziert (§ 218a Abs. 2 und 3 StGB; zu den Einzelheiten s. Fischer 2009, § 218a Rdn. 20 ff), so sind die Kosten der medizinischen Behandlung und Krankenpflege nach §§ 58, 65 auch im Vollzug gedeckt. Im Anschluss an das erste Fristenregelungsurteil des BVerfG (NJW 1975, 573) und das ebenfalls verfassungswidrige 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18.5.1976 (BGBl. I, 1213) waren u. a. die Leistungsansprüche bei nicht rechtswidriger Schwangerschaftsunterbrechung durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) vom 27.7.1992 (BGBl. I, 1398) in
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§ 24b SGB V neu geregelt worden (vgl. dazu Bader NDV 1993, 457). Das BVerfG hat auch dieses neue Schwangerschaftsabbruchsrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 88, 203 = NJW 1993, 1751). Als Folge dieses Urteils wurde das Schwangeren-Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) verabschiedet (21.8.1995 – BGBl. I, 1050, Materialien dazu: BT-Drucks. 13/1850, BR-Drucks. 390/95), das zum Teil am 1.10.1995 und in anderen Teilen am 1.1.1996 in Kraft trat (zu diesem Gesetz ablehnend s. Tröndle 1995, 3009 ff und Schnelle 1996, 78 ff; ergänzend s. BVerfGE 98, 265 = NJW 1999, 841, das von der bundesrechtlichen Regelung abweichende landesrechtliche Regelungen für verfassungswidrig erklärt hat; zur Entwicklung der Gesetzgebung, zur Bewertung und zu weiterführender Literatur s. statt aller Fischer 2009, vor § 218 ff Rdn. 6, 9 ff sowie § 218a). Das Schwangerschaftsabbruchsrecht wurde dabei teilweise neu geregelt: Nach § 218a Abs. 1 StGB entfällt unter bestimmten Voraussetzungen schon der Tatbestand des § 218 StGB, nach § 218a Abs. 2 und 3 StGB entfällt die Rechtswidrigkeit, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt (zu den Einzelheiten s. statt aller Fischer 2009 § 218a m. w. N.). § 218c StGB auferlegt dem Arzt, der den Abbruch vornimmt, besondere Berufspflichten. § 219 umschreibt die Inhalte des Beratungsgesprächs. Die Pflicht zur Schwangerschaftsberatung wurde verstärkt (vgl. § 5 Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG vom 27.7.1992 – BGBl. I, 1398 i. d. F. des SFHÄndG, i. d. F. des Art. 1 Nr. 1 Gesetz vom 21.8.1995 – BGBl. I, 1050). Bei einem Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1 StGB (Abbruch binnen 12 Wochen nach der Empfängnis sowie vorangegangene Beratung) sind von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung der Schwangerschaftsabbruch selbst und die medizinische Nachsorge bei komplikationslosem Verlauf ausgeschlossen (§ 24b Abs. 4 SGB V). Ärztliche Leistungen im Vorfeld des Schwangerschaftsabbruchs (z. B. Beratungen) sowie die komplikationsbedingte Nachbehandlung fallen dagegen auch bei einem Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1 StGB in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. dazu § 73 Abs. 2 Nr. 11 SGB V; der Gemeinsame Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen hat Richtlinien für diese Maßnahmen zu beschließen – Grundlage: § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 SGB V i. V.m. § 24b; Richtlinie vom 10.12.1985 – BAnz Nr. 60a, zul. g. am 13.9.2007 – BAnz Nr. 239, 8326). Besteht für die gesetzlichen Krankenkassen keine Leistungspflicht, so ist der Schwangerschaftsabbruch von der schwangeren Patientin grundsätzlich selbst zu tragen (Berechnungsgrundlage: Gebührenordnung für Ärzte = GOÄ). Sind einer Patientin die Kosten für eine privatärztliche Behandlung nicht zumutbar, hat die Schwangere einen Anspruch auf vollständige Behandlung nach dem sog. Sachleistungsprinzip. Bei der Krankenkasse ist die Kostenübernahme zu beantragen. Abzurechnen ist dabei nicht nach GOÄ, sondern auf der Basis des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für Ärzte = EBM-Ä (BSG NZS 2002, 611). Die Länder erstatten den Krankenkassen diese Kosten (§ 1–4 des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen – eingeführt zum 1.1.1996 durch Art. 5 des SFHÄndG; s. ergänzend § 21b SGB I – neu eingeführt durch Art. 9 des SFHÄndG). Bei Schwangerschaftsabbrüchen nach § 218a Abs. 1 und Abs. 2 StGB ist die Gefangene in eine Klinik außerhalb der Justizvollzugsanstalt zu verlegen (§ 65 Abs. 2). Zu den Sicherheitserwägungen siehe § 65 Rdn. 2 bis 6. 7. Nach Abs. 3 soll die Gefangene grundsätzlich außerhalb der Justizvollzugsanstalt 12 entbinden (zurückhaltender die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006 in Nr. 34.3: „Den Gefangenen ist zu gestatten, außerhalb der Justizvollzugsanstalt zu entbinden“). Dadurch sollen eine bessere Versorgung gewährleistet und Komplikationen besser aufgefangen werden; schließlich ist der Stigmatisierung des Kindes wegen seiner Geburt in einer Justizvollzugsanstalt vorzubeugen (BT-Drucks. 7/3998, 31; vgl. auch die Diskussion im SA.
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Prot. 2180/85, 2178). Anzahl der Geburten nach Angaben der Landesjustizverwaltungen: 1992 (34), 1993 (44), 1994 (33), 1995 (26), 1996 (27); BT-Drucks. 13/9329. 13 Das Gesetz selbst lässt eine Entbindung in einer Justizvollzugsanstalt ausnahmsweise zu, wenn besondere Gründe vorliegen, z. B. wenn aus Sicherheits- oder anderen zwingenden Vollzugsgesichtspunkten eine Verlegung in eine Klinik außerhalb und die dort erforderliche Bewachung nicht oder nur mit erheblichen Kosten möglich sind (vgl. BT-Drucks. 7/3998, 31). Nach den Beratungen soll der Wunsch der Gefangenen, in der Anstalt zu entbinden, kein ausreichender Rechtfertigungsgrund für eine anstaltsinterne Geburt sein (Prot. S. 2184). Wird gleichwohl innerhalb der Anstalt entbunden, ist eine Hebamme und erforderlichenfalls ein Arzt hinzuzuziehen (Satz 2). 14 Abs. 3 bedingt, dass der Justizvollzug geeignete Entbindungsstationen zur Verfügung stellt (lediglich das JVK Fröndenberg verfügt über eine entsprechende Möglichkeit); sollen diese modernen medizinischen Erfordernissen genügen, sind sie sicherlich nicht ausgelastet, so dass der erhebliche personelle und sächliche Aufwand kaum gerechtfertigt ist. Auch aus praktischen Gründen wird es daher in der Regel bei der vom Gesetz angestrebten Entbindung in einem externen Krankenhaus bleiben. Selbst wenn mittlerweile bei Entbindungen in der Freiheit die sogenannte „Hausentbindung“ wieder propagiert wird, erscheint fraglich, ob diese bei den zusätzlichen Risiken inhaftierter Schwangerer (z. B. Alkohol- und Drogenabhängigkeit) angezeigt ist. Zu den Risiken für Mutter und Kind s. Weingart/Koubenec/Stauber ZfStrVo 1984, 271 ff und Stauber/Weingart/Koubenec Geburtshilfe und Frauenheilkunde 1984, 731 ff. Eine Unterbrechung der Strafe nach § 45 StVollstrO kommt in der Regel nicht in Betracht, da dessen Voraussetzungen von Abs. 2 und 3 nicht vorliegen. Auch Urlaub zur Entbindung am Heimatort erscheint fraglich, da eine Gefangene kaum für die Entbindungskosten selbst aufkommen kann (§ 60). Im Übrigen scheitert die Urlaubsgewährung an der Zeitgrenze des § 35 Abs. 1 (7 Tage).
II. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 82 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 76 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 66 HmbStVollzG fasst den Regelungsgehalt der §§ 76, 77, 78 und 79 StVollzG zusammen und verweist auf die im HmbStVollzG enthaltenen Bestimmungen zu Art und Umfang der Leistungen, Kostenbeteiligung (§ 60), Überstellung, Verlegung zum Zweck der Behandlung (§ 63) sowie zu Behandlung während Lockerungen, freies Beschäftigungsverhältnis § 65). Die Vorschrift des § 76 StVollzG wird in § 66 Abs. 2 und Abs. 3 HmbStVollzG aufgenommen. Allerdings verzichtet der Gesetzgeber sowohl auf den Programmsatz in Abs. 1 der Bundesregelung als auch auf den Verweis auf die Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der erwerbstätigen Mutter über die Gestaltung des Arbeitsplatzes. Diese gelten ohnehin für weibliche Gefangene gleichermaßen wie für Frauen in Freiheit. Abs. 1 ist inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 76 Abs. 2 StVollzG; der Anspruch auf Arznei-, Verband- und Heilmittel, den das StVollzG in § 77 regelt, wird einbezogen. Abs. 1 lautet: „Weibliche Gefangene haben während der Schwangerschaft sowie bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung und auf Hebammenhilfe in der Anstalt sowie auf die notwendigen Arznei-, Verband- und Heilmittel. Zur ärztlichen Betreuung ge-
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Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft
§ 76
hören insbesondere Untersuchungen zur Feststellung der Schwangerschaft sowie Vorsorgeuntersuchungen einschließlich der laborärztlichen Untersuchungen.“ Abs. 2 entspricht § 76 Abs. 3 StVollzG. Der unbestimmte Hinweis auf eine Vollzugsanstalt mit Entbindungsabteilung wird konkretisiert durch das Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt. Die Bestimmung, dass bei der Entbindung Hilfe durch eine Hebamme und erforderlichenfalls durch einen Arzt gewährt wird, ist in Abs. 1 aufgenommen. Abs. 2 lautet: „Zur Entbindung sind weibliche Gefangene in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs zu bringen. Ist dies aus besonderen Gründen nicht angezeigt, so ist die Entbindung im Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt vorzunehmen.“ 3. Niedersachsen § 71 NJVollzG trägt den Schutzpflichten des Art. 6 Abs. 4 GG zugunsten der Mutter und 17 des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zugunsten des Kindes Rechnung. Die Vorschrift fügt die Regelungen des § 77 StVollzG über die Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln ein. Abs. 1 ist inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 76 Abs. 1 StVollzG. Aus systematischen Gründen wird der Regelungsgehalt des § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG ergänzend an dieser Stelle übernommen. Durch die ausdrückliche Benennung der Vorschriften des Mutterschutzgesetzes über das Bestehen von Beschäftigungsverboten wird klargestellt, dass die im NJVollzG wie auch im Bundesgesetz verankerte Arbeitspflicht für werdende und stillende Mütter nicht gilt. Die im Mutterschutzgesetz vorgesehenen Leistungsansprüche sind für Gefangene ausgeschlossen. Abs. 1 lautet: „Bei einer Schwangeren oder einer Gefangenen, die unlängst entbunden hat, ist auf ihren Zustand Rücksicht zu nehmen. Die Vorschriften des Mutterschutzgesetzes über die Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Bestehens von Beschäftigungsverboten gelten in Bezug auf die Arbeitspflicht entsprechend.“ Abs. 2 entspricht § 76 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 sieht gegenüber § 76 Abs. 3 StVollzG ausschließlich eine Entbindung in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzugs vor, weil in Niedersachsen Anstalten mit einer Entbindungsabteilung nicht vorgesehen sind. Abs. 3 lautet: „Zur Entbindung ist die Schwangere in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen.“ Abs. 4 entspricht § 77 StVollzG. Er regelt die Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln. Abs. 5 ist inhaltsgleich mit § 78 StVollzG. Er verweist ergänzend auf die Regelungen der Reichsversicherungsordnung (§ 179 Nr. 3, §§ 195 ff RVO), die ihrerseits auf die Vorschriften des SGB V weiterverweisen. Keine Anwendung findet § 58 NJVollzG (Krankenbehandlung bei Urlaub oder Ausgang) für die Entbindung, weil diese nach Abs. 3 ohnehin nicht in einem Anstaltskrankenhaus stattfindet. Abs. 5 lautet: „Für Leistungen nach den Abs. 2 bis 4 gelten im Übrigen die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung über Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie die §§ 58, 60 und 63 entsprechend, § 58 jedoch nicht für die Entbindung.“
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§ 78
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 77 Arznei-, Verband- und Heilmittel Bei Schwangerschaftsbeschwerden und im Zusammenhang mit der Entbindung werden Arznei-, Verband- und Heilmittel geleistet. Nach dieser Vorschrift hat die Gefangene bei Schwangerschaftsbeschwerden sowie bei und nach der Entbindung Anspruch auf Arznei-, Verband- und Heilmittel wie eine Schwangere in Freiheit.
Landesgesetze 1. Bayern Art. 83 BayStVollzG entspricht § 77 StVollzG. 2. Hamburg Die Vorschrift des § 77 StVollzG ist in § 66 Abs. 1 Satz 1 aufgenommen. Satz 1 lautet: „Weibliche Gefangene haben während der Schwangerschaft sowie bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung und auf Hebammenhilfe in der Anstalt sowie auf die notwendigen Arznei-, Verband- und Heilmittel.“ 3. Niedersachsen Die Vorschrift ist von § 71 in Abs. 4 übernommen worden.
§ 78 Art, Umfang und Ruhen der Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft Die §§ 60, 61, 62a und 65 gelten für die Leistungen nach den §§ 76 und 77 entsprechend.
I. Erläuterungen 1
§ 78 wurde durch Art. 51 Gesundheitsreformgesetz vom 20.12.1988 (BGBl. I S. 2477) neu gefasst. Inhaltlich hat sich an der bisherigen Regelung nichts geändert. Für die Mutterschaftshilfe gelten die §§ 60 (Krankenbehandlung im Urlaub), 61 (Art und Umfang der Leistungen), 62a (Ruhen der Ansprüche) und 65 (Verlegung) entsprechend. Mutterschaftsgeld, Erziehungsgeld und Pauschbetrag für sonstige Aufwendungen sind dagegen ausgeschlossen. 2 Befindet sich eine Schwangere im Urlaub, kann ihr allerdings nicht zugemutet werden, (lediglich) ärztliche Hilfe in der für sie zuständigen Vollzugsanstalt in Anspruch zu nehmen (AK-Bammann/Quensel 2006 Rdn. 1; zust. C/MD 2008). Zeichnen sich vor der Geburt medizinische Komplikationen ab, so ist die Gefangene nach § 76 Abs. 3, wonach die externe Entbindung die Regel sein soll, in ein Krankenhaus außerhalb der Justizvollzugsanstalt einzuweisen, damit sie dort durchgehend ärztlich betreut werden kann (AK-Bammann/Quensel 2006 Rdn. 4; C/MD 2008).
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Monica Steinhilper
Geburtsanzeige
§ 79
Wird bei einer Gefangenen die Schwangerschaft nach § 218 Abs. 2 StGB unterbrochen, so 3 ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, die Kosten zu übernehmen (zum Abbruch nach § 218a Abs. 1–3 StGB s. § 76 Rdn. 11). Es handelt sich weder um eine Behandlung zur Wiederherstellung der Gesundheit noch um eine Leistung im Rahmen der Mutterschaftshilfe.
4
II. Landesgesetze 1. Bayern Art. 84 BayStVollzG ist inhaltsgleich mit § 78 StVollzG. 2. Hamburg Die Verweisungen des § 78 StVollzG korrespondieren mit den Verweisungen des § 66 Abs. 3 HmbStVollzG. Dort wird auf die §§ 60 Abs. 1 (Art und Umfang der Leistungen, Kostenbeteiligung), 63 (Überstellung, Verlegung zum Zweck der Behandlung) und 65 (Behandlung während Lockerungen, freies Beschäftigungsverhältnis) hingewiesen. Die in diesen Vorschriften enthaltenen Regelungen sind inhaltsgleich mit den Regelungen des Bundesstrafvollzugsgesetzes. 3. Niedersachsen Die Vorschrift ist von § 71 NJVollzG in Abs. 5 übernommen worden.
§ 79 Geburtsanzeige In der Anzeige der Geburt an den Standesbeamten dürfen die Anstalt als Geburtsstätte des Kindes, das Verhältnis des Anzeigenden zur Anstalt und die Gefangenschaft der Mutter nicht vermerkt sein.
1
I. Erläuterungen Da eine Gefangene regelmäßig in einem Krankenhaus außerhalb der Vollzugsanstalt entbinden soll (s. § 76 Abs. 2), hat die Vorschrift keine große praktische Bedeutung (§ 76 Rdn. 9, 14). Soweit ausnahmsweise in der Vollzugsanstalt entbunden wird, darf das Leben eines Kindes nicht dadurch belastet werden, dass die Justizvollzugsanstalt als Geburtsort urkundlich festgehalten wird. Auch in allen anderen Urkunden und Bescheinigungen, die das Kind betreffen, ist zu vermeiden, dass die Geburtsstätte und die Gefangenschaft der Mutter erwähnt werden. Zu beachten ist diese Sorgfaltspflicht auch gegenüber kirchlichen Behörden (Taufurkunde).
2
II. Landesgesetze 1. Bayern Art. 85 BayStVollzG ist inhaltsgleich und nahezu wortgleich mit § 79 StVollzG.
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§ 80
3
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
2. Hamburg Bis auf redaktionelle Anpassungen entspricht § 79 StVollzG § 66 Abs. 4 HmbStVollzG. Abs. 4 lautet: „In der Anzeige einer Geburt an das Standesamt dürfen die Anstalt als Geburtsstätte des Kindes, das Verhältnis der Anzeigenden zur Anstalt und die Inhaftierung der Mutter nicht vermerkt sein.“
4
3. Niedersachsen § 72 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 79 StVollzG.
§ 80 Mütter mit Kindern (1) Ist das Kind einer Gefangenen noch nicht schulpflichtig, so kann es mit Zustimmung des Inhabers des Aufenthaltsbestimmungsrechts in der Vollzugsanstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet, wenn dies seinem Wohl entspricht. Vor der Unterbringung ist das Jugendamt zu hören. (2) Die Unterbringung erfolgt auf Kosten des für das Kind Unterhaltspflichtigen. Von der Geltendmachung des Kostenersatzanspruchs kann abgesehen werden, wenn hierdurch die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind gefährdet würde. Schrifttum: Bieback/Diel/Maelicke Mütter und Kinder in Gefängnissen. Endbericht der Planungsberatung des Mutter-Kind-Heims der Frauenanstalt Frankfurt/M.-Preungesheim, Frankfurt 1986; Birtsch/Riemann/Rosenkranz Mütter und Kinder im Strafvollzug. Forschungsbericht des ISS, Frankfurt 1988; Birtsch/Rosenkranz (Hrsg.), Mütter und Kinder im Gefängnis, Weinheim 1988; Einsele Die Behandlung von Müttern und Kindern im Strafvollzug, in: Unsere Jugend 1967, 194 ff; Götte Die Mitbetroffenheit der Kinder und Ehepartner von Strafgefangenen, Köln 2000; Krüger Mütter mit Kindern im Strafvollzug, in: KrimPäd 14/15/1982, 24 ff; Maelicke Einrichtungen im Strafvollzug zwischen Resozialisierung der Mutter und Wohl des Kindes, in: ZfStrVo 1983, 144 ff; ders. Veränderungsvorschläge und ambulante Alternativen zur gemeinsamen Unterbringung von Müttern und Kindern in Frauenstrafanstalten, in: ZfStrVo 1986, 33 f; ders. Mütter und Kinder im Gefängnis – die Suche nach humanen Lösungen, in: Maelicke/Simmedinger (Hrsg.), Schwimmen gegen den Strom. Um der Überzeugung willen (Festschrift für Helga Einsele), Frankfurt 1990, 73 ff; Maelicke/Maelicke (Hrsg.), Zur Lebenssituation von Müttern und Kindern in Gefängnissen, Frankfurt 1984; Rosenkranz Kinder hinter Gittern, in: ZfStrVo 1985, 77 ff; ders. Mutter und Kind im Strafvollzug, in: Der Kinderarzt 1987, 163 ff; Rosenkranz/Riemann/ Birtsch Gemeinsam inhaftiert, in: Neue Praxis 1987, 151 ff; Wester Die Prüfung des „Wohl des Kindes“ zur Unterbringung von Kindern mit ihren Müttern im Strafvollzug. Forschungsbericht des ISS, Frankfurt 1988.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Schädigungen durch Trennung . 2. Versorgung schulpflichtiger Kinder . . . . . . . . . . . . . 3. Koordination und Kooperation zwischen Justiz und Jugendhilfe
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1–3 1 2 3
Rdn. II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Freiwillige Leistung der Justizvollzugsanstalt . . . . . . . . 2. Eingliederungshilfe für die Mutter . . . . . . . . . . . . . 3. Sorgeberechtigte Väter . . . .
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4–13
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4
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5 6
§ 80
Mütter mit Kindern Rdn. 4. Wohl des Kindes . . . . . . . a) Mitwirkung der Jugendämter b) Prüfung anderer Unterbringungsmöglichkeiten . . . . c) Aufnahmekriterien . . . . d) Alter des Kindes . . . . . .
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7–11 8
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9 10 11
Rdn. 5. Kosten . . . III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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. 12–13 . 14–16 . 14 . 15 . 16
I. Allgemeine Hinweise 1. Nach § 80 können noch nicht schulpflichtige Kinder mit der Mutter in der Vollzugs- 1 anstalt untergebracht werden, wenn dies dem Wohle der betroffenen Kinder entspricht. Die Vorschrift zieht Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die Trennung eines Kindes in den ersten Lebensjahren von seiner ständigen Bezugsperson, in der Regel der Mutter, zu erheblichen Schädigungen in der Persönlichkeitsbildung und sozialen Entwicklung führt. Häufig stehen für Kinder inhaftierter Mütter keine weiteren Bezugspersonen zur Verfügung, so dass die Kinder sonst in Heimen oder Pflegestellen unterzubringen wären. Die Vorschrift ist positiv zu bewerten, soweit sie versucht, den familiären Lebenszusammenhang inhaftierter Frauen zu berücksichtigen und das Problem der Versorgung der Kinder abzumildern. Dies ist um so bedeutsamer, als mehr als die Hälfte der inhaftierten Frauen Kinder haben, die während der Haft versorgt werden müssen. Nach einer Stichtagserhebung in zwei Frauenanstalten (N = 411) waren 18 % der Kinder unter 6, weitere 27 % zwischen 6 und 13 Jahren (Birtsch/Rosenkranz 1988, 129). Die Vorschrift erfaßt aber nur Kinder bis zum schulpflichtigen Alter und auch hier gilt es, in jedem Einzelfall die schädigenden Folgen einer Trennung von der Mutter und die Gefährdungen der Prisonisierung gegeneinander abzuwägen. Die Ergebnisse einer 4jährigen empirischen Studie über die Entwicklung der Kinder in zwei Mutter-Kind-Heimen (Frankfurt am Main III und Schwäbisch Gmünd) des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) legen nahe, Kinder über 3 Jahre vorrangig außerhalb des (geschlossenen) Vollzugs unterzubringen, da ab diesem Alter die Gefahr emotionaler Störungen und von Verhaltensauffälligkeiten zunimmt (Birtsch/Riemann/ Rosenkranz 1988, 427). 2. Die Vorschrift löst nicht die Versorgung schulpflichtiger Kinder inhaftierter Müt- 2 ter. Deshalb sollten auch die Vollzugsbedingungen im Regelvollzug so gestaltet werden, dass inhaftierte Frauen den Kontakt zu ihren Kindern aufrechterhalten können. Um die Gefühlsbindung zwischen beiden zu sichern, sind regelmäßige Besuche für Mutter und Kind notwendig. Günstiger als Besuche in der Anstalt sind Besuche der Mütter in der Umgebung des Kindes. Um den täglichen Bezug zur Familie zu erhalten, ist vor allem der Hausfrauenfreigang gut geeignet (vgl. Rdn. 10 vor § 76). 3. Trennung von der Mutter oder gemeinsame Unterbringung in einem Mutter-Kind- 3 Heim sind stets Kompromisse und nicht ohne Probleme. Nur für Säuglinge und Kleinstkinder ist die Unterbringung mit der Mutter im Mutter-Kind-Heim in den allermeisten Fällen eine zufriedenstellende Lösung. Als Konsequenz aus ihren Forschungsergebnissen fordern Birtsch/Riemann/Rosenkranz eine durch Erlass der Landesjustizverwaltungen der Länder angeordnete obligatorische Beteiligung der Gerichtshilfe, um den familiären Lebenszusammenhang der angeklagten Frauen angemessen berücksichtigen zu können (1988, 414); auch sollte das Jugendamt bereits zu diesem Zeitpunkt zur Prüfung des Kindeswohls herangezogen werden. Nach Maelicke (1986, 33) wird die spezielle Problemlage von Mutter und Kind im Urteil zu wenig bedacht. Die Gefahren der Trennung wie auch die der möglichen Schädi-
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§ 80
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
gung des Kindes bei gemeinsamer Unterbringung im Justizvollzug werden selten bei der richterlichen Entscheidungsfindung abgewogen, obwohl bei der Strafzumessung die Wirkungen für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft – und damit auch seiner Angehörigen – zu berücksichtigen sind. Gefordert werden daher neben einer verbesserten Koordination und Kooperation zwischen Justiz und Jugendhilfe die Entwicklung von ambulanten Alternativen zur Freiheitsentziehung, insbesondere vermehrte Strafaussetzung zur Bewährung, und die Einrichtung von Wohngruppen für unter Bewährung stehende Frauen und ihre Kinder, die dort von Bewährungshelfern in einem resozialisierungsfreundlichen und für die Entwicklung der Kinder günstigen Lebensraum betreut werden (Maelicke 1986, 34; Zolondek 2007, 69 ff).
II. Erläuterungen 4
1. Das Kind kann nur mit Zustimmung des Inhabers des Aufenthaltsbestimmungsrechts aufgenommen werden; die Aufnahme ist keine gesetzliche Pflicht der Justizvollzugsanstalt, sondern eine freiwillige Leistung aufgrund der Ermächtigung nach § 80. Sie darf allein am Wohl des Kindes orientiert werden, von dem Schäden abgewendet werden sollen, die durch die Trennung von der Mutter entstehen würden (so auch Nr. 36.1 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006).
5
2. Darüber hinaus wollte der Gesetzgeber durch Aufbau, Aufrechterhaltung und Pflege einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung die Bedingungen für die Resozialisierung von inhaftierten Müttern verbessern (Integrationsgrundsatz s. § 3 Rdn. 13), die aus Trennung und Beziehungsstörungen resultierenden schädlichen Folgen für die Mutter abwenden (Gegensteuerungsgrundsatz; § 3 Rdn. 11, 12) und deren soziale Verantwortung für die Kinder stärken (Vollzugsziel § 2 Rdn. 10 ff).
6
3. Der Wortlaut des § 80 richtet sich an weibliche Gefangene. Im Lichte des Art. 3 GG (Gleichheitsgrundsatz) ergibt sich die Frage, ob eine Gefangene im Sinne des Gesetzes auch ein sorgeberechtigter Vater sein kann (ablehnend OLG Hamm NStZ 1983, 575; erfolglos auch eine Petition an den Deutschen Bundestag 1987; BT-Drucks. 11/528; in der Praxis wurde in einem Einzelfall (in Frankfurt-Preungesheim) jedoch so verfahren). Nach einer Entscheidung des BVerfG (27.2.1989 – 2 BvR 573/88) verstößt es nicht gegen Grundrechte, wenn das Zusammenleben von Vater und Kind in einer Justizvollzugsanstalt abgelehnt wird (ablehnend dazu und mithin für eine Geltung des § 80 auch für Väter mit Kindern AK-Huchting/Lehmann 2006 § 142 Rdn. 4).
7
4. Ob die Aufnahme des Kindes in die Anstalt tatsächlich seinem Wohl dient und ihm nicht Schaden zufügt, bedarf in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Prüfung, an der nach dem Gesetz auch das Jugendamt mitzuwirken hat (zu den einzubeziehenden Fragen s. Arloth 2008 Rdn. 2; zur Kostenfrage s. unten Rdn. 12, 13).
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a) Die Anhörungspflicht nach § 80 Abs. 1 Satz 2 betrifft die Frage, ob das Kind in eine Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen wird. Die Stellungnahme des für das Kind zuständigen Jugendamts muss neben der Prüfung der Mutter-Kind-Beziehung und der Unterbringungsmöglichkeiten außer der Justizvollzugsanstalt auch berücksichtigen, ob die Unterbringung in der Anstalt den Anforderungen des SGB VIII entspricht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und überörtlichen Erziehungsbehörden hat 1986 „Grundsätze für die Unterbringung von Kindern in Mutter-Kind-Abteilungen in Justizvollzugsanstalten“ vorgelegt (vgl. § 142 Rdn. 6). Danach kann die Unterbringung nur verantwortet werden, wenn die personellen, räumlichen und organisatorischen Bedingun-
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Mütter mit Kindern
§ 80
gen für eine sozialpädagogische Betreuung des Kindes gewährleistet sind. Das Wohl des Kindes ist jedoch nicht nur bei der Aufnahme, sondern regelmäßig auch während des Aufenthalts in der Mutter-Kind-Einrichtung zu prüfen. Dies ergibt sich aus der amtlichen Begründung des § 129 des Regierungsentwurfs zum Strafvollzugsgesetz (jetzt § 142), wonach § 85 Abs. 2 Nr. 6 SGB VIII unmittelbar auch für Mutter-Kind-Einrichtungen in Justizvollzugsanstalten gilt. Während für die Mitwirkung im Einzelfall (§ 80) das örtliche Jugendamt (am Heimatort des Kindes bzw. bei Eilentscheidungen am Ort der Anstalt) zuständig ist, so ist für die Aufsicht über die Einrichtung das Landesjugendamt zuständig (zum Schutze der Kinder; zur Aufsicht durch die Vollzugsbehörde s. § 142 Rdn. 4). b) Das für das Kind zuständige Jugendamt (§ 85 SGB VIII) hat zunächst zu prüfen, ob 9 der Anspruch des Kindes auf Erziehung in der Zeit der Inhaftierung der Mutter nicht bereits von anderen Familienangehörigen voll erfüllt wird. Die Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt ist nur dann zu befürworten, wenn nicht die Herausnahme aus der Restfamilie als schwerwiegenderer Verlust zu bewerten ist als der zeitweilige Ausfall der Mutter als Bezugsperson. Unverantwortlich wäre es, das Kind einer Gefangenen, das bislang in einem Heim oder an einer Pflegestelle untergebracht war, keine Beziehung zu seiner Mutter hat und auch nach der Entlassung nicht bei seiner Mutter leben kann, für die Dauer der Strafverbüßung der Mutter aus seiner bisherigen Umgebung herauszunehmen oder das Kind einer Frau mit einer langen Strafdauer (z. B. lebenslängliche Freiheitsstrafe) zuerst an die Mutter zu gewöhnen, um ihm dann die Trennung zuzumuten. c) Neben dem Bericht des Jugendamts über die bisherige Entwicklung des Kindes mit 10 psychosozialer Diagnose muss vor Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt nach den von einzelnen Landesjustizverwaltungen erlassenen Richtlinien ein ärztliches Attest über den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes, die Kostenübernahmeerklärung für den Tagespflegesatz durch den Träger der Jugendhilfemaßnahme und eine schriftliche Zustimmungserklärung des/der Personensorgeberechtigten für das Kind vorliegen. Grundsätzlich nicht aufgenommen werden Kinder mit erheblichen Organstörungen, die einer ständigen ärztlichen Überwachung bedürfen und Mütter, deren Gesundheitszustand befürchten lässt, dass sie nicht in der Lage sind, selbständig für ihre Kinder zu sorgen. Gegen eine Aufnahme spricht darüber hinaus, wenn die Mutter akut drogenabhängig ist oder sie vor ihrer Inhaftierung das Wohl des Kindes erheblich gefährdet hat (z.B. Kindesmisshandlung) und nicht zu erwarten ist, dass durch die in der konkreten Einrichtung vorhandenen sozialpädagogischen oder sozialtherapeutischen Maßnahmen positive Mutter-Kind-Beziehungen entwickelt werden können. d) Umstritten war bei den Beratungen der Strafvollzugskommission die Frage, bis zu 11 welchem Alter ein Kind in Mutter-Kind-Einrichtungen bleiben soll. Praxiserfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse (Wester 1988, 80) sprechen dafür, dass Neugeborene auf jeden Fall bei der Mutter bleiben sollten, da das erste Lebensjahr für das Kind zum Aufbau seiner Beziehung zur Mutter von entscheidender Bedeutung ist. Für Kinder über 3 Jahre ist vorrangig nach externer Unterbringung zu suchen, da wegen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit die Gefahr einer emotionalen Verunsicherung und der Entwicklung von Verhaltensstörungen steigt. Ist in diesem Alter eine Unterbringung im Vollzug unvermeidbar, sollte dies nur im Rahmen des offenen Vollzugs geschehen (Birtsch/Riemann/Rosenkranz 1988, 427, 428). Zwar ermöglicht der Gesetzgeber die Unterbringung von Kindern in Justizvollzugsanstalten bis zum schulpflichtigen Alter; tatsächlich gibt es jedoch nur drei Einrichtungen (in Fröndenberg/NRW, Frankfurt und Vechta), die Kinder aufnehmen, die beim voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt der Mutter deutlich älter als 3 Jahre sind. Bei einer am Monica Steinhilper
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§ 80
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Wohl des Kindes orientierten Abwägung der Unterbringungsdauer wird nur in seltenen Fällen und nur bei Aufnahme im offenen Vollzug der Verbleib des Kindes bis zu dem im Gesetz als Höchstalter genannten 6.Lebensjahr empfohlen werden können.
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5. Abs. 2 stellt klar, dass der Unterhaltspflichtige die Kosten der Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt tragen muss (Satz 1); an dieser Kostenpflicht soll andererseits die dem Wohle des Kindes dienende Unterbringung nicht scheitern (Satz 2). In der Regel beantragt die Mutter als gesetzliche Vertreterin beim Jugendamt (als örtlichem Träger der Jugendhilfe; § 89 Abs. 1 i. V. mit § 69 Abs. 1 SGB VIII) Leistungen für sich und das Kind nach § 27 i. V.m. § 39 SGB VIII. Zunächst war strittig, ob Mutter-Kind-Einrichtungen (§§ 80, 142) der Jugendhilfe unterfallen (dazu grundlegend Wiesner NDV 1998, 227). Nach Ansicht des BVerwG (Grundsatzentscheidung; BVerwGE 117, 261 = DVBl 2003, 1003 = NJW 2003, 2399) sind Mutter-Kind-Einrichtungen nach § 142 Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Jugendämter müssen daher die Kosten für die Unterbringung des Kindes in der Mutter-Kind-Einrichtung und die Kosten der Erziehung tragen (zustimmend Jutzi, Kostentragung bei gemeinsamer Unterbringung von Mutter und Kind in einer Justizvollzugsanstalt, DÖV, 2004, 26; inzwischen h. A. Maelicke, H. 2004, 119; Zolondek 2007, 72; Arloth 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn 683). Nach Auffassung des Gerichts gibt es kein Rangverhältnis zwischen den Jugendhilfevorschriften des SGB VIII und dem StVollzG. § 80 Abs. 2 sei keine abschließende spezialgesetzliche Kostenregelung. Dies gilt sowohl für die Unterbringungs- als auch für die Betreuungskosten. Begründen lässt sich dies auch aus den Gesetzesmaterialien (BTDrucks. 7/918, 119), wonach durch Gesetz lediglich der Rückgriff auf den tatsächlichen Unterhaltspflichtigen gewährleistet, aber nicht die Hauptlast dem Strafvollzug oder der Jugendhilfe zugeordnet werden soll. Der Pflicht zur Kostentragung durch die Jugendämter steht nach Auffassung des BVerwG auch nicht entgegen, dass das Jugendamt bei der Aufnahme eines Kindes in eine Mutter-Kind-Einrichtung die Jugendhilfe nicht selbst durchführen darf. Ähnliche Auftragsfälle gibt es auch in anderen Bereichen (z. B. Förderung eines Kindes in Tagespflege, vgl. BVerwGE 102, 274 = NJW 1997, 2766). 13 Die Zahlungen des Jugendamtes nach § 27 i. V. m. § 39 SGB VIII sind Vorleistungen, für die der örtliche Träger zuständig ist (sog. Wohnort-Jugendamt). Das Jugendamt bemüht sich dann bei dem tatsächlichen Unterhaltspflichtigen um Erstattung (s. §§ 93, 94 SGB XII). Kann nur auf die Mutter als Unterhaltspflichtige zurückgegriffen werden (z. B. wenn der Kindesvater nicht bekannt ist), kann deren Vermögen oder regelmäßiges Einkommen (z. B. Kindergeld, Rente) für den Unterhalt in Anspruch genommen werden. Von der Kostenerstattung kann nach Abs. 2 Satz 2 abgesehen werden, wenn hierdurch die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind gefährdet würde. Dieser Verzicht dürfte die Regel sein (vgl. C/MD 2008 Rdn. 3).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 86 BayStVollzG regelt die Unterbringung von Müttern und Kindern und trägt (über die Regelung des § 80 hinaus) auch den besonderen Bedürfnissen eines im Vollzug erkrankten Kindes einer Gefangenen Rechnung. Abs. 1 ist inhaltsgleich und nahezu wortgleich mit § 80 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 fügt in Satz 1 die Worte „einschließlich der Gesundheitsfürsorge“ ein, um klarzustellen, dass ein Kind regelmäßig nur dann aufgenommen wird, wenn seine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung (oder eine anderweitige Absicherung) auf Kosten Unterhaltspflichtiger oder Dritter (einschließlich der Sozialbehörden) gewährleistet ist.
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Mütter mit Kindern
§ 80
Satz 2 entspricht § 80 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 2 lautet: „Die Unterbringung einschließlich der Gesundheitsfürsorge erfolgt auf Kosten der für das Kind unterhaltspflichtigen Person. Von der Geltendmachung des Kostenersatzanspruchs kann abgesehen werden, wenn hierdurch die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind gefährdet würde“. Abs. 3 ist eine Ergänzung analog § 65 Abs. 2 StVollzG. Er regelt die Verlegung eines erkrankten Kindes in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges. Abs. 3 lautet: „Kann die Krankheit eines nach Abs. 1 mit der Mutter in der Anstalt untergebrachten Kindes dort nicht erkannt oder behandelt werden, ist das Kind in eine Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu bringen. Soweit die Anwesenheit der Mutter medizinisch erforderlich ist und vollzugliche Gründe nicht entgegenstehen, ist auch die Mutter dorthin zu bringen.“ 2. Hamburg § 21 HmbStVollzG entspricht in weiten Teilen § 80 StVollzG. Er regelt im ersten Absatz 15 die Voraussetzungen für die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern im Justizvollzug und im zweiten Absatz die Kostenfrage. Abs. 1 sieht vor, dass nur Kinder, die noch nicht fünf Jahre alt sind, in einer Anstalt untergebracht werden können, während das StVollzG von „nicht schulpflichtigen“ Kindern spricht. Die zurückhaltende Haltung des Gesetzgebers gegenüber der Unterbringung von Kindern im Justizvollzug wird auch deutlich durch die ergänzende Bestimung, dass es keine Alternative zur gemeinsamen Unterbringung geben darf. Abs. 1 lautet: „Ist das Kind einer Gefangenen noch nicht fünf Jahre alt und gibt es keine Alternative, so kann es mit Zustimmung der Inhaber des Aufenhaltsbestimmungsrechts in der Anstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet, wenn dies seinem Wohl entspricht. Vor der Unterbringung ist das Jugendamt zu hören.“ Abs. 2 ist bis auf die ergänzende Klarstellung, dass der für das Kind Unterhaltspflichtige neben den Kosten für die Unterbringung auch die Kosten für die Gesundheitsfürsorge zu tragen hat, wortgleich mit Abs. 2 StVollzG. Abs. 2 lautet: „Die Unterbringung einschl. der Gesundheitsfürsorge erfolgt auf Kosten der für das Kind Unterhaltspflichtigen. Von der Geltendmachung des Kostenersatzanspruchs kann abgesehen werden, wenn hierdurch die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind gefährdet würde.“ 3. Niedersachsen § 73 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 80 StVollzG. 16 Abs. 1 ersetzt, neben geringfügigen redaktionellen Abweichungen, in Satz 1 das Wort „entspricht“ durch „dient“. Satz 1 lautet: „Ist das Kind einer Gefangenen noch nicht schulpflichtig, so kann es mit Zustimmung der aufenthaltsbestimmungsberechtigten Person in der Anstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet, wenn dies seinem Wohle dient. Vor der Unterbringung ist das Jugendamt zu hören. Abs. 2 ist wortgleich mit § 80 Abs. 2 StVollzG.
Monica Steinhilper
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§ 81
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
ELFTER TITEL
Sicherheit und Ordnung § 81 Grundsatz (1) Das Verantwortungsbewusstsein des Gefangenen für ein geordnetes Zusammenleben in der Anstalt ist zu wecken und zu fördern. (2) Die Pflichten und Beschränkungen, die dem Gefangenen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt auferlegt werden, sind so zu wählen, dass sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen und den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Notwendigkeit und Problematik von „Sicherheit und Ordnung“ . 2. Praktische Beurteilung . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Selbstverantwortung (Abs. 1) . . 2. Subsidiarität . . . . . . . . . .
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1–4
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1 2–4 5–9 5–6 7–9
Rdn. III. Beispiele, Gegenstände, die Gefangenen nicht überlassen werden können IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
10–11 . 12–14 . 12 . 13 . 14
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Das Begriffspaar „Sicherheit und Ordnung“ ist belastet durch die Geschichte des Strafvollzuges, in der eine starke Reglementierung der Gefangenen als Ausdruck des auferlegten Strafübels gesehen und eine an illusorischen Vorstellungen ausgerichtete Ordnung als Garant der Sicherheit gegen Meuterei und Entweichung gewertet wurden. Dahinter trat die Erziehungs- und Resozialisierungsaufgabe zurück, soweit nicht überhaupt die Ansicht vertreten wurde, die Erzwingung einer starren Ordnung und Disziplin sei auch die beste Vorbereitung auf eine Bewährung in Freiheit. Zum pennsylvanischen System vgl. § 17 Rdn. 1. Heute wird Resozialisierung als zentrale Aufgabe des Vollzuges der Freiheitsstrafe angesehen. Die Erkenntnis hat sich zudem durchgesetzt, dass einengende Sicherungsmaßnahmen und eine sterile Ordnung in der Anstalt den Zielen der Resozialisierung eher im Wege stehen. Maßnahmen der Sicherheit und Ordnung sind aber im Strafvollzug nicht zu vermeiden, weil anders das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum nicht zu gewährleisten ist und die Notwendigkeit der Abwehr von Gefahren nicht übersehen werden kann. Die unerlässliche Verwirklichung von Sicherheit und Ordnung steht nicht selten zwangsläufig in Zielkonflikt zu Maßnahmen der Behandlung. (Zur Frage: Was ist eigentlich „Sicherheit“? vgl. Harst ZfStrVo 1981, 161; zur Kritik an der gesetzgeberischen Konzeption vgl. Baumann in: Schroeder/Zipf (Hrsg.) FS für Maurach zum 70.Geburtstag, Karlsruhe 1972, 561 ff; Baumann Sicherheit und Ordnung in Vollzugsanstalten? Tübingen 1972). Zu diesem Zielkonflikt auch § 2 Rdn. 8 f, 20.
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2. Zahlreiche vollzugliche Maßnahmen unterliegen den Kriterien der Sicherheit und 2 Ordnung: gemeinschaftliche Unterbringung (§ 17 Abs. 3 Nr. 3); Ausstattung des Haftraumes (§ 19 Abs. 2); Einkauf (§ 22 Abs. 2); Besuchsempfang (§ 24 Abs. 3, § 25, § 27, § 34 Abs. 1 Nr. 1); Schriftwechsel (§ 28 Abs. 2 Nr. 1); Paketempfang (§ 33 Abs. 1 Satz 4 u. Abs. 3); Teilnahme an religiösen und weltanschaulichen Veranstaltungen (§ 54 Abs. 3; § 55); Bezug von Zeitschriften (§ 68 Abs. 2 Satz 2); Hörfunk und Fernsehen (§ 69 Abs. 1 Satz 2, § 70 Abs. 2 Nr. 2); Besitz von Büchern und Gegenständen (§ 70 Abs. 2 Nr. 2). § 81 enthält eine Grundsatzregelung, die dem in § 2 Satz 1 normierten Vollzugsziel (§ 2 3 Rdn. 12 ff) entspricht. Das Begriffspaar „Sicherheit und Ordnung“ stimmt daher nicht mehr mit dem traditionellen Verständnis von Sicherheit und Ordnung überein (BT-Drucks. 7/3998, 31). Entsprechend dem Angleichungsgrundsatz in § 3 Abs. 1 (vgl. dort Rdn. 3 ff) soll das Leben in der Anstalt in erster Linie nicht von Zwangsmaßnahmen, sondern von der Einsicht des Gefangenen getragen sein. Die Erreichung des Vollzugsziels gebietet es auch, Konflikte im Vollzugsalltag nicht zu unterdrücken, sondern – jedenfalls wo das vertretbar ist – zu bearbeiten, auszutragen und als Chance, erträgliche Formen des Zusammenlebens einzuüben und zu lernen, zu nutzen. Die Vollzugsbehörde ist deshalb gehalten, zunächst mit geeigneten Maßnahmen auf das Verantwortungsgefühl und die Einsicht des Gefangenen einzuwirken, um ihn zu einem ordnungsgemäßen Verhalten zu veranlassen. Erst wenn ihr dies nicht gelingt und die Störungen nicht hinnehmbar erscheinen, soll sie von Ordnungsmaßnahmen Gebrauch machen dürfen. Maßnahmen, die mit den in § 2 bis § 4 niedergelegten Grundsätzen in Widerspruch stehen, können deshalb auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Wahrung von Sicherheit und Ordnung als zulässig angesehen werden (BTDrucks. 7/3998, 31). Zur Mitwirkung des Gefangenen § 4 Rdn. 2 ff und § 11 Rdn. 24. Die Begriffe „Sicherheit und Ordnung“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe (§ 115 4 Rdn. 21), die keinen Beurteilungsspielraum zulassen, also von den Gerichten voll nachgeprüft werden können (C/MD 2008 Rdn. 4). Zum unbefugten Kontakt außenstehender Dritter mit Gefangenen vgl. § 115 OWiG.
II. Erläuterungen 1. Abs. 1 enthält den Grundsatz der Selbstverantwortung. Das bedeutet, dass primär 5 das Verantwortungsbewusstsein des Gefangenen für ein geordnetes Zusammenleben in der Anstalt zu wecken und zu fördern ist. Dem entspricht der Grundsatz des § 4 Abs. 1, wonach die Bereitschaft des Gefangenen, an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels (Rdn. 3) mitzuwirken, zu wecken und zu fördern ist (§ 4 Rdn. 2 ff). – In einer Vollzugsanstalt liegen die Schwierigkeiten für ein „geordnetes Zusammenleben“ u. a. darin, dass es sich um eine Zwangsgemeinschaft von Menschen mit unterschiedlichen Lebensgewohnheiten (z. B. Rauchen) und unterschiedlicher sozialer Herkunft handelt, die für längere oder kürzere Zeit auf verhältnismäßig engem Raum unter ungewöhnlichen Verhältnissen (Trennung von der Familie, Geschlechtertrennung) zusammenleben müssen. Nicht wenige hat ihre Entwicklung auch zu Lebensbewältigungstechniken verleitet, die einem erträglichen Zusammenleben störend im Wege stehen (Ungeduld, Rücksichtslosigkeit, Durchsetzen von Forderungen durch Gewalt oder Täuschung) (vgl. § 2 Rdn. 13). Dabei gibt es naturgemäß viel Konfliktstoff, insbesondere beim Zusammenleben in großen Anstalten mit Überbelegung und noch unzureichenden sanitären Anlagen (nicht nur in den sog. „neuen“ Bundesländern), schlechten Arbeitsbedingungen und unzureichender Personalausstattung. Gänzlich verfehlt erscheint es allerdings, unter ausdrücklicher Einbeziehung des Begriffspaares „Sicherheit und Ordnung“ letztlich sogar die zwangsweise Unterbringung eines Nichtrauchers in einem Dreimannhaftraum zusammen mit zwei Rauchern
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auch nur für möglicherweise gerechtfertigt zu erklären (so aber OLG Celle ZfStrVo 2005, 177; zum Problem der Einzelunterbringung vgl. bereits Ullenbruch Anm. zu OLG Celle in NStZ 1999, 429). 6 Die Maßstäbe dafür, wieweit sich überhaupt das Verantwortungsbewusstsein des Gefangenen bei dieser Sachlage wecken lässt, sind niedrig anzusetzen (AK-BrühlFeest 2006 Rdn. 2; Grunau/Tiesler Rdn. 1). Diese an die Anstaltsleitung gerichtete Forderung lässt sich z. B. dadurch verwirklichen, dass die Gefangenen dazu angehalten werden, anstelle von Rechthaberei und tätlicher Auseinandersetzung Rücksichtnahme und Duldsamkeit zu üben. Förderung gemeinsamer Aktivitäten der Gefangenen und Einräumen von Mitspracherechten in dafür geeigneten Angelegenheiten tragen gleichfalls dazu bei, das Postulat in Abs. 1 zu erfüllen. Konflikte müssen in Wohn- und Behandlungsgruppen offen erörtert und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Bediensteten gelöst werden. Das erfordert mehr Zeit, ist aber auch erfolgversprechender als die Anwendung von Sicherheits- oder Ordnungsmaßnahmen (C/MD 2008 Rdn. 3). Vgl. § 143 Rdn. 4. An die Bediensteten werden daher besondere Anforderungen gestellt. Neben der Bereitschaft, soziales Verhalten geduldig mit den Insassen einzuüben, dürfen sie auch die Gefahren einer negativen Subkultur (§ 3 Rdn. 12), in der gewalttätige Gefangene die anderen in übler Weise unterdrücken, nicht aus dem Auge verlieren. Das verbietet z. B. in der Regel in geschlossenen Anstalten (§ 141 Rdn. 16) die Gewährung von unüberwachter und unkontrollierter Gemeinschaft, von unstrukturierten und wechselnden Gefangenengruppen. Die Bedingungen für eine Erfüllung des gesetzlichen Auftrages sind im offenen Vollzug (§ 141 Rdn. 18) günstiger als im geschlossenen Vollzug, wo der Gefangene ohnehin durch Sicherheitsmaßnahmen mehr oder weniger eingeengt ist. Aber auch dort unterscheiden sich trotz des Angleichungsgrundsatzes in § 3 Abs. 1 (§ 3 Rdn. 3 ff) die Lebensverhältnisse in der Anstalt von denen in der Freiheit so erheblich, dass die Regeln für ein geordnetes Zusammenleben für beide Lebensbereiche nicht dieselben sein können. Stets zu beachten ist im Übrigen die Gefahr, dass ein behandlungsorientierter Vollzug auch unter Hinweis auf § 81 Abs. 1 Züge einer sozialautoritären Verwaltung annimmt (zutreffend insoweit C/MD 2008 § 4 Rdn. 3). Dazu auch § 82 Rdn. 4.
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2. Abs. 2 enthält den Grundsatz der Subsidiarität. Dies bedeutet, dass den Gefangenen dann, wenn durch Appell an das Verantwortungsbewusstsein (Rdn. 5) ein erträgliches Zusammenleben und die Sicherheit der Anstalt nicht erreichbar sind, Pflichten und Beschränkungen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung auferlegt werden dürfen, unter Umständen dann jedoch auch auferlegt werden müssen. Zuvor ist aber stets zu prüfen, ob der Zweck nicht durch Behandlungsmaßnahmen zu erreichen ist (BT-Drucks. 7/3998, 31). Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vgl. LG Köln NStZ 1983, 431. Zur Gewährleistung effektiven (Eil-)Rechtsschutzes bei der Aufrechterhaltung von Maßnahmen über einen längeren Zeitraum BVerfG NStZ 1999, 428 = StV 1999, 551). Begrifflich ist die „Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung“ von dem „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (vgl. § 11 Abs. 2) zu unterscheiden. Während es dort um den spezialpräventiven Strafzweck der Sicherung (äußere Sicherheit = Sicherheit vor Entweichung und vor Begehung von Straftaten) geht (§ 11 Rdn. 16), betreffen die §§ 81 ff die Anstaltssicherheit (innere Sicherheit und Ordnung, vgl. K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 2). Unter dem Begriff „Sicherheit“ ist hier zu verstehen: a) die äußere Sicherheit, welche die Abwendung der konkreten Gefahr für den Gewahrsam, d. h. für die Gewährleistung des Anstaltsaufenthaltes bedeutet (z. B. § 10 Abs. 1, § 11 Abs. 2, § 85, § 86 Abs. 1, § 88 Abs. 1 und Abs. 4, § 100 Abs. 1 Nr. 3, § 141 Abs. 2; vgl. auch die DSVollz, abgedruckt im Anhang,
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b) die innere Sicherheit, welche die Abwendung der Gefahr von Schäden für Personen (Gesundheitsbeschädigung, Selbstmord) oder Sachen bedeutet. Der Begriff der „Sicherheit der Anstalt“ umfasst alle in der JVA aufhältige Personen, also auch die Bediensteten. Das Verbot, dass Bedienstete einem Gefangenen keine Ausbruchswerkzeuge oder Waffen überlassen dürfen, dient gerade dem Schutz der übrigen Bediensteten, da vor allem sie den von diesen Gegenständen ausgehenden Gefahren ausgesetzt sind. Realisiert sich diese Gefahr (z. B. bei einer Überwältigung im Rahmen des Abrückens vom Hofgang), stehen den verletzten Bediensteten Amtshaftungsansprüche (§ 839 BGB) gegen das Land zu. Eigene Pflichtverletzungen der geschädigten Vollzugsangehörigen (z. B. bei der Durchsuchung des Gefangenen, des Haftraumes und seiner Sachen) sind ggf. nur in Gestalt des Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB) zu berücksichtigen (BGH NJW 2005, 3357). Zum Begriff „Sicherheit“ vgl. auch Bungert NStZ 1988, 526 in krit. Anm. zu OLG Celle ZfStrVo 1987, 185 zur Frage, ob Einschmuggeln von Alkohol durch einen Verteidiger als bloße Ordnungswidrigkeit oder als Gefahr für die Sicherheit zu werten ist. Der Begriff „Ordnung“ bezeichnet die Voraussetzungen für ein geordnetes und menschenwürdiges Zusammenleben in der Anstalt (Prot., S. 1910). Zu berücksichtigen ist dabei, dass im Behandlungsvollzug das geordnete verantwortliche Zusammenleben gerade durch die Notwendigkeit und das Austragen von Konflikten gekennzeichnet ist und nicht jede Unbotmäßigkeit bereits einen Ordnungsverstoß darstellt (C/MD 2008 Rdn. 4). Die Maßnahmen müssen der Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt dienen, und zwar bei Vorliegen einer konkreten Gefahr. Allgemeine Befürchtungen reichen nicht aus. Dabei können sich die Maßnahmen jedoch nur auf solche Störungen beziehen, die üblicherweise im Rahmen des Strafvollzuges auftreten können. Eine andere Beurteilung ergibt sich bei Gewalttätigkeiten gegen Sachen oder Personen, die durch eine psychische Krankheit bedingt sind (LG Arnsberg ZfStrVo 1982, 253). Pflichten zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung können dem Gefangenen 8 durch das oder aufgrund des StVollzG auferlegt werden, so z. B. gesetzliche Pflichten gem. §§ 82, 83 oder Pflichten aufgrund der Hausordnung gem. § 161. Bei schuldhaftem Verstoß gegen diese Pflichten können gem. § 102 Abs. 1 Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden (Rdn. 4 zu § 102). Unter „Beschränkungen“ sind die allgemeinen und besonderen Sicherungsmaßnahmen zu verstehen. Allgemeine Sicherungsmaßnahmen sind Durchsuchung (§ 84), erkennungsdienstliche Maßnahmen (§ 86), sichere Unterbringung (§ 85) und Festnahmerecht (§ 87). Die besonderen Sicherungsmaßnahmen sind in § 88 abschließend genannt. Zur Frage, ob die Vollzugsbehörde bei der Wahl der Trennscheibe als Überwachungsmittel nach § 27 Abs. 1 Satz 1 (dazu § 27 Rdn. 14) in der sog. „Abschirmstation für Dealer“ der JVA Tegel den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet hat, vgl. KG NStZ 1984, 94. OLG Hamm (NStZ 1995, 55 = ZfStrVo 1995, 248) stellt klar, dass der Konsum von Drogen und Alkohol einen Pflichtenverstoß darstellt und es für eine Disziplinarmaßnahme jedenfalls nicht eines besonderen Verbots in einer Hausordnung bedarf (dazu auch § 82 Rdn. 3). Zum andauernden Arbeitsentzug vgl. OLG Koblenz NStZ 1989, 342 m. Anm. Rotthaus. Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Anordnung, Privatbesuche nur mit Trennscheibe durchzuführen vgl. OLG Hamm BlStV 4/5/1993, 5 sowie zur Verhältnismäßigkeit von Disziplinarmaßnahmen BVerfG NJW 1995, 383 = NStZ 1994, 300 und NJW 1995, 1016 = NStZ 1994, 357 (dazu auch § 82 Rdn. 3). Sicherungsmaßnahmen sind präventive Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung und dienen der Gefahrenabwehr. Sie sind von Disziplinarmaßnahmen streng zu unterscheiden und dürfen auch nicht im Wege der Umgehung repressiv eingesetzt werden (K/S-Schöch 2002 Rdn. 3). Gem. § 4 Abs. 2 dürfen dem Gefangenen Beschränkungen seiner Freiheit, soweit diese 9 nicht im StVollzG geregelt sind, nur auferlegt werden, wenn sie zur Aufrechterhaltung der
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Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Anstalt unerlässlich (§ 4 Rdn. 3; § 68 Rdn. 2) sind (Rdn. 20 ff zu § 4). Pflichten und Beschränkungen müssen in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen und dürfen den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen (Verhältnismäßigkeitsprinzip und Übermaßverbot). Diese Grundsätze sind bei allen Maßnahmen der Sicherheit und Ordnung zu beachten (vgl. C/MD 2008 Rdn. 6). Für die Frage der Erlaubnis zum Besitz von gefährlichen Gegenständen folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die einem Gegenstand allgemein abstrakt zukommende Eignung, in einer die Sicherheit und Ordnung gefährdenden Weise eingesetzt zu werden, in Beziehung zu den Kontrollmitteln gesetzt werden muss, die der Anstalt zu Gebote stehen und von ihr im Rahmen einer ordnungsgemäßen Aufsicht angewendet werden – so BVerfG in ZfStrVo 1994, 369 zu einer Verfassungsbeschwerde wegen Versagung der Erlaubnis zum Kauf einer Schreibmaschine mit Diskettenlaufwerk und Speicher sowie eines Computers. Im Beschluss vom 10.2.1994 (ZfStrVo 1995, 50 = StV 1994, 432) weist das BVerfG darauf hin, dass der Entzug von mit Zustimmung der Anstalt im Besitz des Gefangenen befindlichen Gegenständen (hier eine gesteppte Tagesdecke, die sich angeblich als Versteck für Drogen oder Geld eignet) ihn wegen Verletzung des Vertrauensgrundsatzes in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzen kann. Zur Abwägung zwischen dem schutzwürdigen Vertrauen auf Fortbestand einer einmal eingeräumten Rechtsposition und dem Interesse des Allgemeinwohls beim Widerruf der Erlaubnis zum Besitz einer Stereoanlage mit Lautsprecherboxen vgl. BVerfG NStZ 1994, 100 und NStZ 1996, 252 m. Anm. Rotthaus. Zum Vertrauensschutz bei Widerruf und Rücknahme s. auch § 14, insbesbesondere Rdn. 11 ff.
III. Beispiele 10
Die Vorenthaltung eines Rundfunkgerätes mit UKW-Teil, die einen Eingriff in das Grundrecht der Informationsfreiheit (Art. 5 GG) darstellt, ist zwar bei einer Gefährdung der Sicherheit der Anstalt zulässig. Ist die Gefahr aber besonders gering und bestehen weitere Möglichkeiten, ihr entgegenzuwirken und sie noch erheblich weiter zu vermindern, so gebieten es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Verpflichtung, das Leben im Vollzug soweit wie möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen anzupassen (§ 3), auf den Eingriff zu verzichten (OLG Celle BlStV 6/1981, 8). Ein generelles Verbot des Kurzwellenempfangs ist mit Art. 5 GG unvereinbar. Lediglich in dem Bereich, in dem sich der sogenannte „Jedermann-Funk“ abspielt (26–28 MHz), kann aus Sicherheitsgründen ein generelles Verbot ausgesprochen werden, wobei bei der Festlegung des Frequenzbereiches auch die Möglichkeiten der Vertrimmung der handelsüblichen Geräte berücksichtigt werden können. Ein verbleibendes Risiko, das sich nur als eine allgemeine Befürchtung darstellt, ist zugunsten einer den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichenen Informationsmöglichkeit hinzunehmen (OLG Frankfurt 24.10.1980 – 3 Ws 600/80). Vgl. auch § 69 Rdn. 9; § 3 Rdn. 4. Die Benutzung eines – von einem Rundfunkgerät getrennten oder darin eingebauten – Mikrofons kann die Ordnung in der Anstalt, nämlich das störungsfreie Zusammenleben, gefährden. Durch die Überlassung eines Mikrofons an Gefangene würde die Möglichkeit eröffnet, Gespräche Dritter ohne deren Wissen aufzuzeichnen, zu manipulieren und missbräuchlich zu verwenden (OLG Frankfurt LS BlStV 6/1981, 7). Eine Zimmerantenne für ein Radiogerät darf in einer Anstalt hohen Sicherheitsgrades untersagt werden (OLG Hamm LS BlStV 6/1986, 10), auch Lautsprecherboxen wegen ihrer Eignung zum Versteck (OLG Zweibrücken LS ZfStrVo 1986, 383) und des erheblichen Kontrollaufwandes (OLG Hamm
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ZfStrVo 1994, 311). Zum Widerruf der Besitzerlaubnis bei Lautsprecherboxen wegen Neubewertung des Sicherheitsaspektes vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1993, 308; s. auch Rdn. 9 a. E. Jegliche Verwendung von Kassettenrecordern (z. B. auch zur Teilnahme an Fremdsprachen-Fernlehrgängen) hat nach Ansicht des OLG Zweibrücken ZfStrVo 1981, 124 (ebenso OLG Koblenz 29.3.1978 – 2 Vollz (Ws) 11/78 und LS BlStV 4/5 1987, 1 sowie OLG Karlsruhe MDR 1975, 72; OLG München ZfStrVo 1984, 127; für Untersuchungsgefangene vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1984, 333) eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt zur Folge. In dieser Allgemeinheit dürfte das unzutreffend sein, zumal dem Gefangenen auf diese Weise ein geeignetes Instrument zur Aus- oder Fortbildung genommen würde. Der Besitz eines Walkman, auch für Zwecke der Fortbildung, kann aus Sicherheitsgründen versagt werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1988, 372); gleichfalls der ungenehmigte und unkontrollierte Gebrauch eines Funktelefons (LG Düsseldorf NStZ 1996, 376 B). Vgl. auch § 70 Rdn. 9. Zur Aushändigung eines CD-Players vgl. BVerfG ZfStrVo 1994, 376, OLG Zweibrücken NStZ 1989, 143 und OLG Frankfurt NStZ 1989, 343; zum Besitz eines Telespielgerätes vgl. BVerfG NStZ-RR 2002, 128 („Sony-Playstation“), OLG Celle BlStV 4/5/1994, 12, OLG Nürnberg NStZ-RR 2002, 191 und OLG Rostock ZfStrVo 2003, 56 = NStZ 2003, 594 M); zur Aushändigung eines Schallplattengerätes s. Vorauflage Rdn. 10. Die Benutzung bestimmter elektrischer Geräte (z. B. Tauchsieder, Höhensonne, Haartrockner) in Hafträumen kann aus Sicherheitsgründen grundsätzlich nicht gestattet werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 186). Die Überlassung einer elektrischen Schreibmaschine gefährdet die Sicherheit der Anstalt, weil diese Maschine sich aufgrund ihrer Bauweise besonders gut zum Verbergen verbotener Gegenstände eignet und Kontrollen nicht zumutbar sind (OLG Hamm NStZ 1988, 200 und LS BlStV 1/1994, 4; anders OLG Frankfurt LS BlStV 1/1986, 6: Es kommt auf die Art der Maschine an). – Eine elektronische Schreibmaschine mit Datenspeicher stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar und gefährdet die Anstaltsordnung, da geheime Nachrichten gespeichert werden können (BVerfG NStZ-RR 1996, 252; OLG Celle NStZ 1989, 426 B; OLG Rostock ZfStrVo 1997, 172; LG Berlin LS BlStV 4/5/1993, 6 – für Untersuchungsgefangene vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1986, 93). Auch ein elektronischer Grafikschreiber kann die Sicherheit der Anstalt gefährden (KG LS BlStV 6/1988, 5) sowie ein Epidiaskop (OLG Hamm ZfStrVo 1985, 189). Die Aushändigung einer elektrischen Kaffeemaschine darf in einer Anstalt mit erhöhtem Sicherheitsrisiko aus Sicherheitsgründen und wegen des nicht leistbaren Kontrollaufwandes versagt werden (LG Kleve LS BlStV 4/5/1986, 6; vgl. aber OLG Hamm NStZ 1990, 151 = ZfStrVo 1990, 304; OLG Celle StV 1994, 436: Missbrauchsmöglichkeit im Einzelfall ist zu prüfen; – für Untersuchungsgefangene vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1986, 93). Bei computergesteuerten Geräten besteht wegen ihrer Eignung als Versteck und unzumutbaren Kontrollaufwandes eine Gefährdung von Sicherheit und Ordnung (OLG Nürnberg LS BlStV 2/1984, 6; vgl. auch LG Karlsruhe LS ZfStrVo 1986, 382: Vom Hersteller verplombte Kleinschachcomputer stellen ein besonderes Sicherheitsrisiko dar). Bei Computern ist auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Missbrauch durch andere Gefangene gegeben (OLG Hamm NStZ 1990, 304) sowie eine Gefährdung durch Dritte wegen der Möglichkeiten der Auswertung und Verknüpfung von gespeicherten Informationen (OLG Celle BlStV 4/5/1994, 12). Zum Besitz eines PC vgl. auch BVerfG ZfStrVo 1994, 369; für Untersuchungsgefangene vgl. OLG Hamm NStZ 1997, 566 mit Anm. Böttger und StV 1997, 197; zum Besitz eines Laptops für Untersuchungsgefangene vgl. OLG Hamm StV 1997, 199 m. Anm. Nibbeling. – In einer Anstalt mit hohem Sicherheitsgrad dürfen Quarzuhren vorenthalten werden, da sie leicht zu Sendegeräten umgebaut werden können (LG Arnsberg LS BlStV 3/1984, 7), ebenso programmierbare Taschenrechner (LG Regensburg 6.9.1983 –
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3 StVK 257/82). – Zur Aushändigung von Schaltungsunterlagen für ein Handfunkgerät für ein Elektronik-Fernstudium vgl. LG Kleve LS ZfStrVo 1987, 308; zur Aushändigung einer Fernbedienung für ein Fernsehgerät vgl. OLG Hamm 7.3.1989 – 1 Vollz (Ws) 36/89. Die Benutzung einer Leselampe beurteilt sich allein nach § 19; bei der Ausübung des Ermessens nach § 19 Abs. 2 ist der Grad der drohenden Gefahr für die Übersichtlichkeit des Haftraumes oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gegen das Interesse des Gefangenen und gegen den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 abzuwägen (OLG Celle NStZ 1981, 238; OLG Koblenz NStZ 1990, 360 = StV 1991, 360). Zum Widerruf der Erlaubnis zum Besitz einer Leselampe wegen Eignung als Versteck für Drogen OLG Zweibrücken ZfStrVo 1994, 175. Zur Abwägung der Interessen des Gefangenen an Besitz und Benutzung eines Keyboards zum Zwecke der Weiterbildung an einer Musikschule gegenüber dem Erfordernis der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung vgl. BVerfG ZfStrVo 1994, 370 = StV 1996, 683. Für die Gewährung von Stromzufuhr während der Nacht kommen als Gesichtspunkte für die Ausübung des Ermessens in Betracht: einerseits das Interesse des Gefangenen sowie der Angleichungsgrundsatz, andererseits etwaige Gefahren für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt, die vom nächtlichen Licht oder bei Steckdosen darüber hinaus auch vom Betreiben etwa vorhandener elektrischer Geräte oder Vorrichtungen ausgehen können (OLG Celle NStZ 1981, 238; OLG Hamm LS BlStV 2/1988, 5 und OLG Koblenz NStZ 1990, 360). Zum Anspruch auf Benutzung eigener Bettwäsche vgl. OLG Karlsruhe NStZRR 2001, 349. Vgl. hierzu § 19 Rdn. 3. Der Besitz eines Stoffaffen kann bei einem gefährlichen Gefangenen eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt darstellen, weil die Möglichkeit des Versteckens von Gegenständen besteht (LG Lüneburg 30.4.1979 – 17 StVK 215/79). Ist der Besitz einer Bratpfanne generell zugelassen, so kann die Anstalt den Gefangenen auf den Bezug beim Anstaltskaufmann verweisen und ihm die Einsendung einer von drei Bratpfannen aus dem eigenen Haushalt verwehren. In dem Stiel der Bratpfanne können gefährliche Gegenstände (z. B. Rauschgift) eingeschmuggelt werden. Die Anstalt braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, sie könne die Bratpfanne auf derartige „Beigaben“ überprüfen (LG Hamburg 20.1.1978 – (98) Vollz 178/77). Auch eine Backhaube kann ein gefährlicher Gegenstand sein (OLG Celle BlStV 3/1992, 6). Zur Aushändigung eines Handkopiergerätes OLG Frankfurt LS BlStV 4/5/1993, 6. Das Tragen einer Anstecknadel in Form eines roten fünfzackigen Sterns (Symbol der RAF) kann wegen des Solidarisierungseffektes bei Mitgefangenen untersagt werden, aber auch wegen Gefährdung der Anstaltsordnung dadurch, dass sich Mitgefangene und Anstaltsbedienstete über die Benutzung eines solchen Symbols empören (OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 185). Dasselbe gilt für ein Abzeichen mit betont provokativem Hinweis auf die Nationalität des Trägers (OLG Hamburg NStZ 1988, 96). Bei der Empfangnahme eines Warenhauskataloges ist eine Sicherheitsgefährdung der Anstalt jedenfalls bei in Folien verschweißten Sendungen nicht erkennbar. Einer Ausuferung des Besitzes von Katalogen und des damit verbundenen Mehraufwandes bei der Kontrolle von Hafträumen kann ausreichend durch eine zahlenmäßige Beschränkung Rechnung getragen werden (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 315; vgl. dazu auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 187 und § 70 Rdn. 6). Wegen der Gefahr des Missbrauchs kann der Besitz von Scheckformularen allgemein untersagt werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 176 f = BlStV 1/1994, 6 und § 83 Rdn. 6). Die rechtliche Beratung von Gefangenen durch einen Mitgefangenen wie auch die Geschäftsbesorgung stellen eine empfindliche Störung der Anstaltsordnung dar, wenn dadurch unter den Gefangenen Autoritätsverhältnisse begründet werden, innerhalb derer die
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jeweils Abhängigen noch dazu vermögenswerte Entgelte zu leisten haben, welche im Sozialgefüge der Anstalt einen erheblichen Wert darstellen (OLG München ZfStrVo 1981, 380). Die gelegentliche Unterstützung von Gefangenen durch einen gewandteren Mitgefangenen stellt kaum eine (schwerwiegende) Störung der Ordnung der Anstalt dar, wohl aber dann, wenn die Hilfeleistung einen geschäftsmäßigen Umfang erreicht und nicht unentgeltlich geschieht (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1982, 249; OLG Hamm NStZ 1982, 438). Die Versagung des Besitzes eines Weckers in Anstalten mit hohem Sicherheitsrisiko ist gerechtfertigt, weil der Weckmechanismus zum Bau eines Sprengsatzes benutzt werden kann (OLG Hamm BlStV 6/1982, 12). Zum Besitz eines Aktenkoffers OLG Celle ZfStrVo 1991, 123 f = NStZ 1991, 379 B und § 84 Rdn. 4. Vgl. auch § 70 Rdn. 9. Erhebliche Schwierigkeiten bei der Feststellung möglicherweise verborgener Gegenstände rechtfertigen es, das Einbringen von Gegenständen davon abhängig zu machen, dass diese direkt vom Fachhandel oder über Versandhäuser bezogen werden (z. B. Versagung der Zusendung von eigenem Schuhwerk an Gefangene der JVA Werl: LG Arnsberg BlStV 6/1981, 5; Nichtaushändigung eines Paketes mit Lebens- und Genussmitteln bei Untersuchungsgefangenen: OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 334; Zusendung von Kondomen: LG Lüneburg 27.7.1987 – 17 StVK 302/87; Nichtaushändigung von Blumentöpfen bei Drogenabhängigen: KG BlStV 1/1982, 5; Nichtaushändigung von Erbsenschoten und Petersilie als Futter für Papagei: OLG Hamm ZfStrVo 1994, 118 = JR 1995, 39 ff mit abl. Anm. Eisenberg; kein Einkauf und Besitz von Pfeffer (KG BlStV 4/5/1993, 5 = NStZ 1993, 380 B) oder sonstiger scharfer oder ätzender Gewürze in Pulverform (OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 323 f = BlStV 4/1992, 1 zum Jugendstrafvollzug). Die Kriterien der Prüfung, inwieweit dem Gefangenen Pflichten und Beschränkun- 11 gen aufzuerlegen sind, können sich im Laufe der Zeit ändern, eine Folge des Angleichungsgrundsatzes. So wirkt sich etwa der allgemeine technische Fortschritt und der damit verbundene veränderte Lebensstandard auch auf das Leben in der Vollzugsanstalt aus (z. B. Benutzung des elektrischen Rasierapparates). Dadurch wird die Sicherheit und Ordnung berührt, zu deren Aufrechterhaltung dann entsprechende Maßnahmen getroffen werden müssen (z. B. nur Aushändigung von durch Vermittlung der Anstalt eingekaufter Elektrorasierer, da zugesandte Geräte sich zur Nachrichtenübermittlung mittels eingebauter Mikrosender und zum Einschmuggeln von Betäubungsmitteln eignen: OLG Nürnberg BlStV 3/1977, 7). In geschlossenen Anstalten mit längerstrafigen Gefangenen werden z. B. eingebrachte Rundfunkgeräte vor Aushändigung fachtechnisch daraufhin überprüft, ob Manipulationen zum Zwecke missbräuchlicher Nachrichtenübermittlung oder Nachrichtenempfanges vorgenommen worden sind. Auch der allgemein zunehmende Betäubungsmittelkonsum erfordert in der Anstalt mehr und mehr gründliche Kontrollen und damit Beschränkungen für den einzelnen Gefangenen (vgl. Grunau/Tiesler Vorbem. zu § 81 Rdn. 6). Die Intensivierung von Freizeit- und Sportaktivitäten und die damit verbundene Zunahme der Bewegung und Zusammenballung einer Vielzahl von Gefangenen innerhalb der Anstalt kann gleichfalls zwangsläufig die Auferlegung von Pflichten und Beschränkungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt zur Folge haben. Zur Frage des Rauchens in Gemeinschaftsfernsehräumen vgl. AK-Brühl/Feest 2008 Rdn. 8. Zur Frage der Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt im Zusammenhang mit der Aushändigung von Zeitungen und Zeitschriften vgl. § 68 Abs. 2 (§ 68 Rdn. 11), von Gegenständen für die Freizeitgestaltung wie Büchern und Sportgeräten vgl. § 19 Abs. 2 (s. auch § 19 Rdn. 6, 7). Nach LG Bielefeld LS BlStV 1/1985, 8 sind Hanteln im besonderen Maße geeignet, Gewalt gegen Menschen und Sachen auszuüben. Nach LG Gießen LS BlStV 6/1985, 6 eignen sich Musikinstrumente, z. B. eine akustische Gitarre, zum Verstecken un-
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erlaubter Gegenstände. Zu Widerruf und Rücknahme einmal erteilter Erlaubnisse s. Rdn. 9 a. E. und § 14, insbesondere Rdn. 11 ff.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 87 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 81 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 68 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 81 Abs. 2 StVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 1 übernimmt wieder die Regelung des § 81 Absatz 2 StVollzG. Die Bestimmung betont die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Eingriffsrechte des gesamten zehnten Abschnitts“ (BürgerschaftsDrucks. 19/2533, 58). Abs. 2 ist weitgehend inhaltsgleich mit § 82 StVollzG, sprachlich jedoch anders gefasst ist. (vgl. § 82 Rdn. 9). 3. Niedersachsen
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§ 74 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 81 Abs. 1 StVollzG. § 4 NJVollzG lautet wie folgt: „Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen ist diejenige zu treffen, die die Gefangene oder den Gefangenen oder die Sicherungsverwahrte oder den Sicherungsverwahrten voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Sie ist nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder nicht mehr erreicht werden kann“.
§ 82 Verhaltensvorschriften (1) Der Gefangene hat sich nach der Tageseinteilung der Anstalt (Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit) zu richten. Er darf durch sein Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben nicht stören. (2) Der Gefangene hat die Anordnungen der Vollzugsbediensteten zu befolgen, auch wenn er sich durch sie beschwert fühlt. Einen ihm zugewiesenen Bereich darf er nicht ohne Erlaubnis verlassen. (3) Seinen Haftraum und die ihm von der Anstalt überlassenen Sachen hat er in Ordnung zu halten und schonend zu behandeln. (4) Der Gefangene hat Umstände, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten, unverzüglich zu melden. Schrifttum: s. bei § 88
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . 1. Einhaltung der Tageszeit . 2. Geordnetes Zusammenleben 3. Gehorsamspflicht . . . . . 4. Platzgebundenheit . . . .
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1 2–7 2 3 4 5
Rdn. 5. Pflege des Haftraumes 6. Meldepflicht . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1 Die Vorschrift nennt sechs Pflichten für den Gefangenen: Sich nach der Tageseinteilung richten! Andere nicht stören! Anordnungen Folge leisten! Den zugewiesenen Bereich nicht verlassen! Haftraum und Sachen in Ordnung halten! Besondere Gefahren melden! Verhaltensvorschriften finden sich auch an anderen Stellen des Gesetzes, so in § 41 Abs. 1 Satz 1 (Arbeitspflicht), § 56 Abs. 2 (Pflicht zur Gesundheitsfürsorge), § 83 Abs. 1 (Verbot des unerlaubten Besitzes von Sachen). Schuldhafte Pflichtverletzungen können gemäß § 102 Abs. 1 disziplinarisch geahndet werden. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
II. Erläuterungen 1. Die in Abs. 1 Satz 1 bezeichnete Pflicht, sich nach der Tageseinteilung der Anstalt zu 2 richten, setzt voraus, dass die Tageszeiten (Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit) – meist geschieht das in der Hausordnung gemäß § 161 Abs. 2 Nr. 2 – festgesetzt sind. Von praktischer Bedeutung ist besonders die Festsetzung der Arbeitszeit, aus der sich die Pflicht ergibt, täglich pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und diesen nicht vorzeitig zu verlassen. Der Beginn der Ruhezeit fällt meist mit dem allgemeinen Einschluss des Gefangenen in seinen Haftraum und für die Bediensteten mit dem Wechsel vom Spät- zum – meist schwächer besetzten – Nachtdienst zusammen. Für die Gefangenen ergibt sich daraus die Pflicht, die Ruhezeit nicht durch Lärm zu stören. – Ruhezeit bedeutet nicht, dass ein Gefangener während dieser Zeit in seinem Haftraum kein Licht haben und nicht lesen darf (OLG Celle NStZ 1981, 238; s. auch § 18 Rdn. 3). 2. Nach Abs. 1 Satz 2 darf der Gefangene durch sein Verhalten gegenüber anderen das 3 geordnete Zusammenleben (vgl. § 81 Abs. 1; dort Rdn. 5 f) nicht stören. Ihm wird dadurch eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf alle Personen, mit denen er in der Anstalt zusammenkommt (Mitgefangene, Bedienstete, ehrenamtliche Mitarbeiter, Besucher), auferlegt, der er allerdings nur nachkommen kann, wenn auch die anderen (Mitgefangene wie Bedienstete) ihm gegenüber Rücksichtnahme zeigen. „Andere Person“ kann nur sein, wer sich in der Anstalt aufhält, in der sich auch der Gefangene befindet. Schutzgut der Vorschrift ist das geordnete Zusammenleben in einer einzelnen Anstalt, nicht etwa innerhalb des gesamten Justizvollzuges. Deshalb verstößt z. B. ein Gefangener, der nach Verlegung in eine andere Anstalt aus dieser einen Brief beleidigenden Inhaltes an die Psychologin der Voranstalt schreibt – unbeschadet der strafrechtlichen Beurteilung – nicht gegen Abs. 1 Satz 2 (zu weitgehend Arloth 2008 Rdn. 3: Vorgesetzte und Arbeitskollegen im Freigang). Zum Kern des Begriffs „Stören“ gehört es, dass die „Störung“ von dem „Störer“ im weitesten Wort-
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sinne ausgeht. Daran fehlt es z. B., wenn ein Strafgefangener, der von einem Bediensteten grundlos in schwerer Weise beleidigt wird, sich darauf beschränkt, auf der Stelle mit Beleidigungen zu reagieren (LG Berlin BlStV 6/1980, 8; wie hier Arloth 2008 Rdn. 3; vgl. auch § 102 Rdn. 8). Als Störung für alltägliche Vollzugsabläufe sieht OLG Frankfurt (LS BlStV 2/1984, 6) an, wenn einzelne Gefangene in mangelhafter oder unhygienischer Kleidung bei der Essenausgabe auf den Flur der Station treten. Zur Störung des geordneten Zusammenlebens durch aktive parteipolitische Tätigkeit vgl. LG Regensburg NStZ 1986, 478; hierzu krit. AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 7. Wird in der Hausordnung der Anstalt bestimmt, dass der Strafgefangene seine Anträge und Eingaben selbst zu schreiben hat (wobei ihm im Bedarfsfalle durch Abteilungsbeamte oder Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes Schreibhilfe geleistet werden soll) und dass die geschäftsmäßige (auch unentgeltliche) Rechtsdienstleistung für andere Strafgefangene gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstößt, so bedeutet dies, dass eine unerlaubte geschäftsmäßige (hier: Gegenleistung in Form von Lebensmitteln, Tabak, Briefmarken) Rechtsdienstleistung für andere Strafgefangene eine Störung des geordneten Zusammenlebens in der Anstalt gemäß Abs. 1 Satz 2 darstellt und Disziplinarmaßnahmen nach sich zieht (BVerfG NStZ 1998, 103; C/MD 2008 Rdn. 2). Der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist jedoch stets zureichend aufzuklären. Erforderlich sind Tatsachenfeststellungen, die eine Subsumtion unter den Begriff der Rechtsdienstleistung i. S. des Rechtsdienstleistungsgesetzes und unter die dort aufgestellten Kriterien für deren Zulässigkeit (§§ 3 ff des Rechtsdienstleistungsgesetzes) erlauben. Auf den Erhalt von Gegenleistungen für die geleistete Beratung kommt es insoweit nicht an. Andererseits kann Gefangenen nicht jede Gegenseitigkeitsbeziehung und damit jede Form des normalen menschlichen Miteinanders als ordnungsstörend verboten sein. Wendet der Betroffene konkret ein, er habe Mitgefangene nur dergestalt unterstützt, dass er von diesen vorbereitete Schreiben durchgesehen und in ordentliches Deutsch übertragen habe, deren gelegentliche Abgabe von Kaffee oder Tabak sei jedoch nicht „direkt für die Hilfe“ geschehen, so bedarf es einer konkreten Auseinandersetzung mit der Frage, ob dem so war und wenn ja, inwiefern nach dem konkreten Charakter dieses Verhältnisses die Gegenseitigkeitsbeziehung tatsächlich ordnungsstörende Abhängigkeitsverhältnisse begründet. Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme auf der Grundlage eines bloßen Verdachts stellt einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar (BVerfG StraFo 2007, 24). OLG Hamm NStZ 1995, 55 f = ZfStrVo 1995, 248 sieht mit Recht auch im nachgewiesenen Konsum von Drogen, Alkohol und anderen Rauschmitteln eine Beeinträchtigung des geordneten Zusammenlebens in der Anstalt und somit einen Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2. Eines besonderen anstaltsinternen Verbots durch Hausordnung oder Hausverfügung bedarf es folglich nicht (anders wohl noch OLG Hamm ZfStrVo 1989, 314). Ein generelles (und grundsätzlich disziplinarisch sanktionierbares) Alkoholverbot ist zumindest im Bereich des geschlossenen Vollzuges nicht nur recht-, insbesondere verhältnismäßig, sondern aus Behandlungs- und Sicherheitsgründen geradezu geboten, sollte allerdings zur Klarstellung in der Hausordnung deutlich sichtbar ausgewiesen werden. Zum einen könnte auch bei einer kontrollierten Abgabe oder kontrolliertem Erwerb von Alkohol aufgrund der Unüberwachbarkeit des so verursachten Alkoholumlaufes die damit verbundene Gefährdung alkoholkranker Gefangener nicht ausgeschlossen werden. Die Erfahrungen davon abweichender Praxis in anderen Ländern können aufgrund der kulturellen Unterschiede im gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der Droge Alkohol und der im jeweiligen Vollzug eingeräumten Freiheiten nicht unbesehen übertragen werden. Zum anderen besteht die Gefahr, dass bereits der Konsum geringer Mengen Alkohols aufgrund der grundsätzlichen Abstinenz und der Persönlichkeitsstruktur eines Teils der Gefangenenpopulation in besonderem Maße zur
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Enthemmung und Gewaltbereitschaft gegenüber Bediensteten und Mitgefangenen führen kann. Zu Recht hat deshalb das OLG Nürnberg (NStZ 1993, 512) bereits den Nachweis eines einzigen Schluckes Alkohols ungeklärter Herkunft in einer Langstrafenanstalt als Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2 gewertet (bestätigt von BVerfG NJW 1994, 1339 = NStZ 1993, 605, allerdings unter Verneinung der Verhältnismäßigkeit der Anordnung von Arrest ohne Hinzutreten weiterer erschwerender Umstände). Nicht jede beleidigende Äußerung eines Gefangenen gegenüber einem Bediensteten stellt auch einen (schuldhaften) Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2 dar (dazu auch § 31 Rdn. 17). Das BVerfG hat wiederholt klargestellt, dass auch Gefangene den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, allerdings gemäß Abs. 2 nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze, die wiederum im Lichte des von ihm eingeschränkten Grundrechtes auszulegen sind, genießen (BVerfG NJW 1995, 383 = NStZ 1994, 300 und NJW 1995, 1016 = NStZ 1994, 357). Dabei sei zunächst zu berücksichtigen, dass das Recht der persönlichen Ehre – neben zivilrechtlichen Ansprüchen – primär durch die §§ 185 ff StGB geschützt werde. Eigentlicher Zweck des § 82 Abs. 1 Satz 2 (und des § 102 Abs. 1) sei hingegen die Sicherung der Voraussetzungen eines auf die Ziele des § 2 StVollzG gerichteten Vollzuges, der wiederum aufgrund der ohnehin in vielfacher Hinsicht eingeschränkten Freiheitsräume und der fast unausweichlich auftretenden Spannungen wenigstens in verbaler Hinsicht die Belassung eines möglichst weiten Spielraumes gebiete. Dem BVerfG ist insoweit zuzustimmen, als die ihm unterbreiteten Sachverhalte jeweils den Verdacht der Anordnung einer unverhältnismäßig harten Disziplinarmaßnahme nahegelegt haben (sieben Tage Arrest und Entzug des täglichen Aufenthaltes im Freien wegen der Äußerung „Seien Sie nicht so vorlaut, Sie hochnäsiger Tropf“ eines gerade in anderer Sache im Arrest befindlichen Gefangenen gegenüber einem Bediensteten, der ihm eine ablehnende Entscheidung des BVerfG aushändigte bzw. zehn Tage Arrest, sieben Tage Entzug des täglichen Aufenthaltes im Freien u. a. wegen schriftlicher Äußerungen wie „hirnverbrannte Kommentare“, „pervers“ u. a. eines Gefangenen in einer Dienstaufsichtsbeschwerde an das Bayerische Staatsministerium der Justiz). Auch ist richtig, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung des Gefangenen gegen die Belange des geordneten Zusammenlebens in der Anstalt erst auf der Grundlage einer sorgfältigen Aufklärung, in welchem Zusammenhang und aus welchem Anlass die beanstandeten Äußerungen gemacht worden sind, abgewogen werden kann. Problematisch ist jedoch, dass die Entscheidungen des BVerfG insoweit missverstanden werden könnten, als dass auch ein Verhalten eines Gefangenen, das später rechtskräftig als Beleidigung eines Bediensteten festgestellt wird, nicht zwangsläufig auch einen „Störfaktor“ i. S. d. Abs. 1 Satz 2 darstellt, weil die Bediensteten es aus übergeordneten Gesichtspunkten hinzunehmen hätten, dass der Vollzug einem Gefangenen unter Umständen den „Spielraum“ für derartige Straftaten (zu ihren Lasten) einräumen müsse. Eine derartige Sichtweise wäre nicht nur für die Schaffung eines Behandlungsklimas fatal. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass das BVerfG bei nächster Gelegenheit seinen Standpunkt auch insoweit „klarstellen“ wird. Umgekehrt ist unbestritten, dass Beleidigungen, die in einem Freiraum fallen, der ihre Qualifizierung als strafrechtlich relevante Beleidigung verbietet, auch keinen Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2 darstellen. Zu ehrverletzenden Äußerungen über Dritte im engsten Familienkreis OLG Hamburg NJW 1990, 1246, 1247 m. w. N. Bei Alleinstehenden, die häufig gleichfalls das Bedürfnis haben, ihrem Herzen einmal Luft zu verschaffen (so zutreffend Tenckhoff JuS 1988, 787, 788), kommt die Schaffung eines straffreien Raumes nur in Betracht, wenn der Adressat der Äußerung nachgewiesenermaßen quasi einen Ersatz für den Ehepartner bzw. seine Familie darstellt, also an die Stelle des von der Verfassung vorgesehenen und im Gesetz verrechtlichten engsten Interaktionszusammenhangs eines Menschen getreten ist. Es muss sich – wie bei der Ehe – um eine Lebensgemeinschaft handeln, die
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dialogisch ausgerichtet, dauerhaft verfestigt und auf gegenseitigen Beistand, Zuspruch und ggf. Unterhalt angelegt ist (OLG Frankfurt NStZ 1994, 404 = StV 1994, 442). Auch aktive Widerstandshandlungen eines Gefangenen gegen die Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung einer rechtswidrigen Anordnung können einen schuldhaften Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2 darstellen. Eine Berufung auf Notwehr gegen Vollstreckungshandlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Vollstreckungsbeamten formell unrechtmäßig handeln, also sachlich oder örtlich nicht zuständig sind und wesentliche Förmlichkeiten – z. B. vorherige Androhung des unmittelbaren Zwanges – außer Acht lassen (vgl. Fischer 2009 § 113 StGB Rdn. 10 ff m. w. N.). Auf die materielle Richtigkeit ihres Handelns kommt es dagegen nicht an (zum Ganzen s. Höflich/Schriever 2003, 142; instruktiv auch Koch Zur Ausübung von Notwehrrechten im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwanges gem. §§ 94 ff StVollzG, in: ZfStrVo 1995, 27, 30 f; weitere Beispiele zur Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit von Anordnungen unter Rdn. 4).
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3. Abs. 2 Satz 1 bestimmt die allgemeine Gehorsamspflicht des Gefangenen. Die JVA von heute ist kein Kasernenhof von gestern. Wo Befehle oder Anordnungen vermieden werden können, hat das zu geschehen. Es ist aber eine Illusion anzunehmen, man komme ganz ohne Anordnungen aus. Eine solche Lebensgestaltung widerspräche auch den „freien Verhältnissen“, in denen (z. B. Arbeit, Schule, Straßenverkehr) häufig Anordnungen getroffen werden müssen. Zum Angleichungsgrundsatz § 3 Rdn. 3 ff. Die Anordnungen der Bediensteten sollten möglichst klar und überzeugend sein, aber auch im angemessenen Ton (etwa in der Form einer Bitte) und nicht provozierend gegeben werden. Umso eher werden sie von Gefangenen befolgt. Es wird sich mitunter auch empfehlen, die Anordnung zu begründen und dem Gefangenen einsichtig zu machen; vor allem dann, wenn der Anlass der Anordnung nicht auf der Hand liegt. So könnte z. B. einem als HIV-positiv erkannten Gefangenen geschlechtlicher Umgang mit anderen Gefangenen verboten werden (vgl. Dargel NStZ 1989, 207 ff, 208). Die Anordnung muss rechtmäßig sein. Die Rechtmäßigkeit kann sich nur aus den besonderen Regelungen des StVollzG oder sonstigen Vorschriften ergeben. Die formale Gehorsamspflicht aus § 82 stellt keine selbständige Rechtsgrundlage für behördliche Anordnungen dar, sie setzt vielmehr eine rechtmäßige Anordnung voraus (OLG Frankfurt BlStV 4/1992, 5 = NStZ 1992, 378 B). Rechtmäßig ist z. B. die Anordnung, sich in bestimmten Abständen wiegen zu lassen, da der Gefangene gemäß § 56 Abs. 2 dazu verpflichtet ist, bei dieser Maßnahme zur Feststellung des allgemeinen Gesundheits- und Ernährungszustandes mitzuwirken (LG Regensburg ZfStrVo 1992, 70, 71 = NStZ 1992, 377 B). Die durch diese Vorschrift begründete Pflicht, schließt auch die Verpflichtung zur Abgabe einer Urinprobe ein (ThürOLG NStZ-RR 2008, 59; OLG Dresden NStZ 2005, 588; OLG Celle, Beschl. vom 13.11.1992 – 1 Ws 296/92 StVollz). Nach OLG Zweibrücken (Beschl. vom 30.3.1994 – 1 Ws 44/94 Vollz) bezweckt diese Anordnung auch die Gesundheitsfürsorge für die Gefangenen, nämlich Feststellung von Drogenfreiheit bzw. Drogenmissbrauch mit sich daraus ergebenen Behandlungsmaßnahmen, wobei die Abgabe im Beisein eines Sanitätsbediensteten erfolgen kann. Entgegen OLG Koblenz (NStZ 1989, 550 = ZfStrV 1990, 51 und LG Augsburg ZfStrVo 1998, 113) scheidet § 101 als Rechtsgrundlage aus, da die Vorschrift einen Sonderfall des unmittelbaren Zwangs darstellt und damit keine Rechtsgrundlage für die Anordnung selbst darstellen kann, sondern nur für deren zwangsweise Durchführung (wie hier Höflich/Schriever 2003, 150). Die durch § 56 Abs. 2 begründete Pflicht des Gefangenen, die notwendigen Maßnahmen zu seinem Gesundheitsschutz zu unterstützen, schließt auch die Verpflichtung ein, bei Verdacht auf Medikamentenmissbrauch beim Arzt zum Zwecke der Belehrung über mögliche Gesundheitsgefahren zu erscheinen (OLG Nürnberg ZfStrVo
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2002, 179 = NStZ 2002, 530 M: Horten von 267 Tabletten). Stets rechtmäßig ist auch die Aufforderung an einen Gefangenen, der einerseits Lockerungen oder Urlaub beantragt, andererseits aber aufgrund konkreter Hinweise im Verdacht des Konsums von oder Handels mit BtM steht, sich einer Urinkontrolle zu unterziehen. Entgegen LG Freiburg (NStZ 1988, 151 = ZfStrVo 1988, 365) und LG Kleve (NStZ 1989, 48) ist Rechtsgrundlage hierfür jedoch nicht § 4 Abs. 2. Die Rechtfertigung für ein derartiges Vorgehen – Gewährung der Lockerung nur unter der Bedingung, durch eine ihm zumutbare Handlung die konkrete Befürchtung zu entkräften – ergibt sich vielmehr bereits aus der betreffenden Lockerungs- (§ 11) bzw. Urlaubsvorschrift (§ 13). Die Schaffung einer eigenständigen Rechtsgrundlage zur Feststellung von Suchtmittelkonsum ist (Art. 94 BayStVollzG, § 72 HmbStVollzG; vgl. Rdn. 8 f) ist nach alledem unnötig, aber unschädlich. Zum Ganzen s. auch § 4 Rdn. 24 und § 13 Rdn. 22. Die Anordnung einer Rektoskopie zum Auffinden von Betäubungsmitteln kann nur dann auf § 101 Abs. 1 gestützt werden, wenn die Gesundheitsfürsorge dies tatsächlich erfordert (OLG Stuttgart BlStV 2/1992, 7 = NStZ 1992, 378 B); s. auch § 84 Rdn. 7). Gem. § 107 Abs. 1 ist der Gefangene verpflichtet, einer Vorführung zum Anstaltsarzt zur Feststellung seiner Arrestfähigkeit Folge zu leisten. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Anstaltsleiter bereits eine entsprechende Disziplinarmaßnahme angeordnet hat. Die Vorführung durch Bedienstete „im Vorgriff“ auf die erwartete Entscheidung reicht nicht aus (Höflich/ Schriever 2003, 142). Rechtswidrig ist auch die Anordnung, ein Gefangener möge sich zu einem Pendelwagen begeben, damit er zur Anhörung im Rahmen einer Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes zur Bewährung beim zuständigen Landgericht vorgeführt werde, wenn der Gefangene zuvor erklärt hat, er wolle den Termin nicht wahrnehmen. Aus § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO ergibt sich nur ein Recht des Gefangenen, angehört zu werden, nicht aber die Pflicht, sich dieser Anhörung zu unterziehen (OLG Celle NStZ 1994, 205 = StV 1994, 442; OLG Düsseldorf NStZ 1987, 524 f; vgl. auch Meyer-Goßner 2008 § 454 StPO Rdn. 30 m. w. N.; zum insoweit in der Regel gegebenen Anspruch auf Erlaubnis zum Tragen eigener Kleidung s. OLG Karlsruhe NStZ 1996, 302). Nicht rechtmäßig ist die Anordnung der Vorführung eines Gefangenen zur Anhörung im Rahmen einer Disziplinarverhandlung gegen seinen Willen oder gar unter Anwendung unmittelbaren Zwanges gemäß § 94 Abs. 1. Entgegen OLG Hamm (NStZ 1991, 509, 510) ergibt sich eine Berechtigung hierzu nicht aus § 106 Abs. 1 Sätze 2 und 3, denen zufolge zur weitmöglichsten Aufklärung des Sachverhaltes ausdrücklich auch der Gefangene zu hören und seine Einlassung zu vermerken ist. Die genannte Vorschrift richtet sich bereits ihrem Wortlaut nach nur an die Vollzugsbehörde und soll inhaltlich die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sicherstellen. Für den Gefangenen begründet sie lediglich ein Recht darauf, dass ihm eine entsprechende Gelegenheit gegeben werden muss, nicht hingegen eine Pflicht, diese auch wahrzunehmen, auch wenn eine Teilnahme aus der Sicht eines behandlungsorientierten Vollzuges wünschenswert ist (wie hier Schriever NStZ 1993, 103 Anm. zu OLG Hamm aaO; vgl. auch OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 152 mit Hinweis auf den Grundsatz des „nemo tenetur“; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4; teilweise a. A. auch § 106 Rdn. 7; zur Problematik sozialautoritärer Verwaltung s. auch § 81 Rdn. 6). Rechtswidrig ist auch die Aufrechterhaltung der Anordnung, Gegenstände aus dem Haftraum herauszugeben, ohne dem Verlangen des Gefangenen auf Aushändigung einer Quittung nachzukommen, zumindest, wenn die ursprüngliche Aushändigung der Gegenstände gleichfalls nur gegen Empfangsbestätigung (hier gegenüber einem externen Berufsbildungswerk) erfolgt ist (OLG Zweibrücken BlStV 2/1991, 6 = NStZ 1990, 512; dazu auch § 83 Rdn. 2). Die Befolgung rechtmäßiger Anordnungen kann der Gefangene nicht verweigern, weil er eine andere Anordnung für sachdienlicher oder richtig
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hält. Auch die Einlegung einer Sach- oder Dienstaufsichtsbeschwerde entbindet ihn nicht von der Gehorsamspflicht (ebenso C/MD 2008 Rdn. 3; zur Dienstaufsichtsbeschwerde § 108 Rdn. 8). Bei Nichtbefolgung rechtmäßiger Anordnungen kann er zur Verantwortung gezogen werden (vgl. z. B. OLG Koblenz NStZ 1989, 550: Die Weigerung, auf Anordnung des Anstaltsleiters eine Urinprobe zur Aufklärung des Verdachts auf Drogenkonsum abzugeben, rechtfertigt die Anordnung einer Disziplinarmaßnahme). Rechtswidrige Anordnungen braucht der Gefangene hingegen nicht zu befolgen (OLG Frankfurt BlStV 4/1992, 5 = NStZ 1992, 378 B); OLG Celle BlStV 1/1996, 7, C/MD 2008 Rdn. 3). Er kann deshalb jedenfalls nicht nachträglich disziplinarrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden (BT-Drucks. 7/918, 76). Zur Frage, inwieweit Widerstandshandlungen gegen rechtswidrige Maßnahmen einen Verstoß gegen Abs. 1 Satz 2 darstellen können vgl. Rdn. 3 a. E.
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4. Gem. Abs. 2 Satz 2 darf der Gefangene einen ihm zugewiesenen Bereich ohne Erlaubnis nicht verlassen. Diese Vorschrift ist erforderlich, um sich der tatsächlichen Anwesenheit des Gefangenen im Bereich der Anstalt ständig vergewissern zu können. Der Umfang des dem Gefangenen zugewiesenen Bereiches richtet sich nach den besonderen Verhältnissen der Anstalt, u. a. den baulichen Gegebenheiten. Je größer der dem Gefangenen eingeräumte Bewegungsspielraum etwa in einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges ist (z. B. Zellenaufschluss, freie Bewegung in einem bestimmten Gebäude oder im gesamten Anstaltsbereich), um so wichtiger ist die genaue zahlenmäßige Überprüfung der Insassen zu einer bestimmten Tageszeit (z. B. nach Beendigung der Arbeitszeit und vor Beginn der Freizeitveranstaltungen). Hält ein Gefangener sich entgegen ausdrücklicher Weisung im Wohnraum eines Mitgefangenen auf, verstößt er gegen seine Pflicht zur Platzgebundenheit (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 251). Das gewaltlose Entweichen stellt keinen Verstoß gegen das Gebot der Platzgebundenheit dar. Sinn der Vorschrift ist allein die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt (im Ergebnis ebenso C/MD 2008 Rdn. 4; AKBrühl/Feest 2006 Rdn. 10; a. A. Arloth 2008 Rdn. 5 und § 102 Rdn. 18). Die Vorschrift hat besondere Bedeutung für Anstalten des offenen Vollzuges mit ohnehin gelockerten Haftbedingungen (z. B. Außenarbeit). Hier soll und kann der Gefangene nicht ständig überwacht werden, so dass der Anstaltsleitung nur das Mittel der Platzgebundenheit bleibt, um etwaigem Missbrauch vorzubeugen. Vgl. Beispiel bei § 102 Rdn. 18. Auch bei Abs. 2 ist der Angleichungsgrundsatz des § 3 zu berücksichtigen. Wieweit die Vollzugsbehörde von den ihr gegebenen Befugnissen, das Verhalten des Gefangenen auch in Einzelheiten zu bestimmen, Gebrauch machen muss, hängt weitgehend vom Sicherheitsgrad der Anstalt ab (BT-Drucks. 7/918, 77). Zur Anwendung dieser Vorschrift im Jugendstrafvollzug vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1986, 120.
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5. Abs. 3 verpflichtet den Gefangenen, seinen Haftraum und die ihm von der Anstalt überlassenen Sachen in Ordnung zu halten und schonend zu behandeln. Damit ist er insoweit für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Anstalt mitverantwortlich.
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6. Nach Abs. 4 hat der Gefangene Umstände, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten, unverzüglich zu melden. Die Befürchtung von Repressalien durch Mitgefangene beseitigt den Pflichtenverstoß nicht (zumindest missverständlich deshalb OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 372). Weil diese Meldepflicht über die allgemeine Hilfspflicht des § 323c StGB hinausgeht, hielt AK-Brühl 4. Aufl. 2000 Rdn. 10 die Vorschrift für verfassungsrechtlich bedenklich. Dem war entgegenzuhalten, dass die besonderen Verhältnisse in der Vollzugsanstalt mit Rücksicht auf das enge Zusammenleben von Gefangenen eine besondere gegenseitige Verantwortung erfordern. Besonders in großen Anstalten mit zahlreichen abgeschlossenen Hafträumen und vielfälti-
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Verhaltensvorschriften
§ 82
gen Arbeitsbetrieben sind Mitgefangene eher als Bedienstete in der Lage, gefährliche Umstände (wie z. B. Feuergefahr, Selbstmordversuch eines Gefangenen) zu erkennen. Im Übrigen werden dem Gefangenen im StVollzG auch sonst weitergehende Pflichten auferlegt als die, keine Straftaten zu begehen (ähnlich nunmehr auch AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 12). Verstößt ein Gefangener gegen die Meldepflicht, so kann – nicht muss (Prot., S. 1917) – eine Disziplinarmaßnahme angeordnet werden (vgl. § 102 Rdn. 5). Die Ablösung von einer Vertrauensperson wegen Verschweigens von Wissen hinsichtlich gewaltloser Ausbruchspläne anderer kann jedenfalls nicht auf einen Verstoß gegen die Meldepflicht gestützt werden (so aber Arloth 2008 Rdn. 7). Nach § 323c StGB strafbar ist der Gefangene natürlich nur, soweit zugleich die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift verwirklicht worden sind. Wegen der aus einer Unterlassung der Meldung entstehenden Schäden haftet der Gefangene nicht zivilrechtlich (a. A. Grunau/Tiesler Rdn. 3). § 82 Abs. 4 ist so wenig ein „Schutzgesetz“ i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB wie § 323c StGB; denn es dient der Ordnung und Sicherheit der Anstalt und nicht dem Schutz anderer Personen (wie hier auch AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 12). Soweit der Vollzugsbehörde auf Grund der nicht rechtzeitigen Meldung Vermögensschäden mittelbar oder unmittelbar entstehen, gilt das gleiche. Ein Fall des § 93 Abs. 1 liegt ohnehin nicht vor.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 88 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 82 StVollzG. 8 Eine im StVollzG nicht enthaltene Regelung zur Feststellung von Suchtmittelkonsum enthält Art. 94 BayStVollzG. Die Vorschrift ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt kann der Anstaltsleiter oder die Anstaltsleiterin allgemein oder im Einzelfall Maßnahmen anordnen, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Diese Maßnahmen dürfen nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden sein“. Abs. 2 hat folgenden Wortlaut: „Wird Suchtmittelmissbrauch festgestellt, können die Kosten der Maßnahme den Gefangenen auferlegt werden“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Die Vorschrift enthält in Abs. 1 eine eigene Rechtsgrundlage, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Maßnahmen anzuordnen, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Hauptanwendungsfall der Vorschrift wird die Feststellung des Konsums von illegalen Drogen im Sinn des Betäubungsmittelgesetzes sein (d. h. Urinproben). Am 31. März 2006 befanden sich in den bayerischen Justizvollzugsanstalten 1588 Strafgefangene, die ausschließlich wegen Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz verurteilt waren. Die Zahl der tatsächlich drogenabhängigen oder suchtgefährdeten Gefangenen dürfte höher sein. Nach der seit Jahrzehnten bewährten bayerischen Vollzugspraxis wird bei der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs die Aufklärung und Beratung der Gefangenen über die Gefährlichkeit von Drogen und Motivation geeigneter Gefangener zu therapeutischen Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Justizvollzugs durch engmaschige Kontrollen zur Verhinderung des Einbringens von Drogen in die Anstalten und die konsequente disziplinäre Ahndung von Drogenkonsum und zugleich strafrechtliche Verfolgung von Drogenbesitz und Drogenhandel ergänzt. Die Möglichkeit, nach Art. 58 Abs. 2 Drogentests aus medizinischen Gründen anzuordnen, bleibt unberührt. Drogenkonsum ist nicht nur ein schwerer Verstoß gegen die Anstaltsordnung, sondern in der Regel auch Anzeichen einer behandlungsbedürftigen Betäubungsmittelabhängigkeit. Die Vorschrift erfasst auch Maßnahmen zur FestThomas Ullenbruch
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
stellung anderer Suchtmittel, wie z. B. die Verwendung von Atemalkoholgeräten. Wird Suchtmittelmissbrauch festgestellt, können nach Abs. 2 die Kosten der Maßnahme den Gefangenen auferlegt werden“ (LT-Drucks. 15/8101, 68). Vgl. auch Kommentierung Rdn. 4. 2. Hamburg
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§ 68 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist inhaltsgleich mit § 81 Abs. 2 StVollzG (vgl. § 81 Rdn. 13). Abs. 2 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 82 StVollzG. Eine im StVollzG nicht enthaltene Regelung zur Feststellung von Betäubungsmittelmissbrauch enthält § 72 HmbStVollzG. Die Vorschrift ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit Art. 94 BayStVollzG (vgl. Rdn. 8). In der ergänzend heranzuziehenden Gesetzesbegründung zum wortgleichen § 73 HmbStVollzG a. F. heißt es hierzu: „Die Vorschrift ist neu und schafft die Rechtsgrundlage für Maßnahmen, die in der vollzuglichen Praxis zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt jederzeit möglich sein müssen, ohne dass es eines medizinisch begründbaren Anlasses bedarf. Gemeint sind in erster Linie so genannte Urinkontrollen. Mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Gefangenen setzt deren Anordnung einen konkreten Verdacht auf Betäubungsmittelmissbrauch voraus. Dieser Verdacht kann sich etwa aus einschlägigen Vorstrafen oder erwiesenem vorangegangenem Betäubungsmittelkonsum während der Haft ergeben. Wird Betäubungsmittelmissbrauch festgestellt, können nach Absatz 2 die Kosten der Maßnahme dem Gefangenen auferlegt werden“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 46). Vgl. auch Kommentierung Rdn. 4. 3. Niedersachsen
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§ 75 NJVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 ist weitgehend inhaltsgleich mit § 82 Abs. 2 Satz 1, fügt in der Formulierung aber zum einen den „Anordnungen“ das Adjektiv „rechtmäßigen“ hinzu, zum anderen wird der Halb- und Zusatz „auch wenn er sich durch sie beschwert fühlt“ ersatzlos gestrichen. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] verzichtet aber auf die [. . .] Selbstverständlichkeit [. . .]“ (LT-Drucks. 15/3565, 148). Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 82 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 82 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 2 Satz 3 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 82 Abs. 1 Satz 2 StVollzG. Abs. 3 und Abs. 4 sind inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 82 Abs. 3 und 4 StVollzG.
§ 83 Persönlicher Gewahrsam, Eigengeld (1) Der Gefangene darf nur Sachen in Gewahrsam haben oder annehmen, die ihm von der Vollzugsbehörde oder mit ihrer Zustimmung überlassen werden. Ohne Zustimmung darf er Sachen von geringem Wert von einem anderen Gefangenen annehmen; die Vollzugsbehörde kann Annahme und Gewahrsam auch dieser Sachen von ihrer Zustimmung abhängig machen.
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Persönlicher Gewahrsam, Eigengeld
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(2) Eingebrachte Sachen, die der Gefangene nicht in Gewahrsam haben darf, sind für ihn aufzubewahren, sofern dies nach Art und Umfang möglich ist. Geld wird ihm als Eigengeld gutgeschrieben. Dem Gefangenen wird Gelegenheit gegeben, seine Sachen, die er während des Vollzuges und für seine Entlassung nicht benötigt, abzusenden oder über sein Eigengeld zu verfügen, soweit dieses nicht als Überbrückungsgeld notwendig ist. (3) Weigert sich ein Gefangener, eingebrachtes Gut, dessen Aufbewahrung nach Art und Umfang nicht möglich ist, aus der Anstalt zu verbringen, so ist die Vollzugsbehörde berechtigt, diese Gegenstände auf Kosten des Gefangenen aus der Anstalt entfernen zu lassen. (4) Aufzeichnungen und andere Gegenstände, die Kenntnisse über Sicherungsvorkehrungen der Anstalt vermitteln, dürfen von der Vollzugsbehörde vernichtet oder unbrauchbar gemacht werden. VV 1 Die zu verwahrenden Sachen sind in ein Verzeichnis einzutragen. Davon kann, außer bei Wertsachen und wichtigen Schriftstücken (z. B. Personalpapiere, Versicherungsunterlagen), abgesehen werden, wenn die Habe verschlossen verwahrt und der Verschluss nur in Gegenwart des Gefangenen oder eines weiteren Bediensteten geöffnet wird. Die verwahrten Sachen werden vor Verwechslung, Verlust und Verderb geschützt. Wertsachen sind von den übrigen Sachen getrennt besonders sicher zu verwahren. Kleidungsstücke und Wäsche werden, soweit erforderlich, gereinigt und desinfiziert. 2 Eingebrachte Sachen, deren Aushändigung bei der Entlassung oder deren Absendung durch den Gefangenen nicht vertretbar erscheint (z. B. Waffen, Diebeswerkzeug), werden der zuständigen Behörde angezeigt. Trifft sie keine Verfügung, so werden die Sachen dem Gefangenen bei der Entlassung ausgehändigt oder zur Absendung freigegeben. § 83 Abs. 4 StVollzG bleibt unberührt. 3 Eigengeld, das für einen Gefangenen zu einer bestimmten Verwendung eingezahlt wird, wird nicht als Überbrückungsgeld behandelt, wenn der Verwendungszweck der Eingliederung des Gefangenen dient. Ein Geldbetrag im Sinne des Absatzes 2 Satz 3 der VV zu § 46 StVollzG wird bis zu dem für den Ersatzeinkauf festgesetzten Höchstbetrag ebenfalls nicht als Überbrückungsgeld behandelt. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–10 1. Besitz muss ausdrücklich gestattet sein . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2. Gestattung vom Sicherheitsgrad der Anstalt abhängig . . . . . . . . . 3 3. Kein allgemeines Tauschverbot . 4 4. Folgen eines Verstoßes . . . . . . 5 5. „Kleiner Tauschhandel“ . . . . . 6
6. Aufbewahrungspflicht der Anstalt 7 7. Behandlung des Eigengeldes . . 8–9 8. Vernichtung von Sachen durch die Vollzugsbehörde . . . . . . . . . 10 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 11–13 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 12 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 13
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
In strengem Sinn gehört nicht all das, was in § 83 bestimmt ist, zur „Sicherheit und Ordnung“. Hier ist vielmehr über die Sachen des Gefangenen in der Anstalt eine zusammenfassende Regelung getroffen (a. A. AK-BrühlFeest 2006 Rdn. 1). In Abs. 1 ist die Bindung der Annahme und des Gewahrsams an die Zustimmung der Anstalt behandelt. Die Abs. 2 und 3 befassen sich mit den in der Anstalt befindlichen Sachen des Gefangenen, die er nicht in seinem unmittelbaren Besitz haben darf, und mit seinem in die Anstalt gelangenden Geld (Eigengeld; § 52). Abs. 4 gibt der Vollzugsbehörde ein besonderes Vernichtungsrecht. – Allgemein zu Eigentum in der Lebenswirklichkeit der Haft Kölbel StV 1999, 498 ff.
II. Erläuterungen 2
1. Abs. 1 regelt die Befugnis der Vollzugsbehörde, den Umfang der Sachen, die der Gefangene in seinem persönlichen Gewahrsam haben darf, zu bestimmen. Grundsätzlich darf der Gefangene nur Sachen in Gewahrsam haben, deren Besitz ihm ausdrücklich gestattet worden ist. Dabei handelt es sich um anstaltseigene Sachen (z. B. Anstaltskleidung, Haftrauminventar) und um dem Gefangenen gehörende Sachen, die er in die Anstalt eingebracht hat oder während des Anstaltsaufenthalts erwirbt (z. B. Einkauf: § 22; Geschenke von Mitgefangenen: § 83 Abs. 1 Satz 2; Pakete von außerhalb: § 33 Abs. 1, VV Nr. 2 zu § 33). Sogar der Brief, den ein Gefangener an einen Mitgefangenen geschrieben hat, ist (auch, aber nicht nur) eine „Sache“ im Sinne der Vorschrift (zur Verfolgbarkeit von „Verstößen“ siehe aber unten Rdn. 6 a. E.). Die Kriterien für die Zustimmung der Vollzugsbehörde zur Überlassung von Sachen an den Gefangenen richten sich dabei zunächst nach den Vorschriften, deren Regelkreis von dem Gewahrsam an der jeweiligen Sache berührt wird (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 349), z. B. also § 19 (Ausstattung des Haftraumes), § 22 (zusätzliche Nahrungs- und Genussmittel), § 53 Abs. 3 (zum religiösen Gebrauch), §§ 68, 70 (zur Information oder Freizeitbeschäftigung). Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität von Sicherheits- gegenüber Behandlungsmaßnahmen in § 81 Abs. 2 (dort Rdn. 7) sowie unter dem Gesichtspunkt des Angleichungsgrundsatzes in § 3 (dort Rdn. 3 ff) sollen Erlaubnisse zur Überlassung eigener Habe großzügig erteilt werden, jedenfalls dann, wenn einer Unübersichtlichkeit der Zelle auf andere Weise entgegengewirkt werden kann (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 187; C/MD 2008 Rdn. 1). Insbesondere im Falle der Annahme eines Gegenstandes von einem Mitgefangenen ohne (vorherige) Zustimmung der Anstalt stellen aber z. B. die Kriterien des § 19 nicht den alleinigen Maßstab für die Erteilung der (nachträglichen) Genehmigung dar. Vielmehr können dafür auch andere Kriterien – wie Unterbindung von Schwarzgeschäften und Abhängigkeiten zwischen den Gefangenen – maßgebend sein (vgl. dazu OLG Hamm NStZ 2002, 613). Beim Recht zum Besitz von Ablichtungen der Ermittlungsakten widerstreiten das Interesse der JVA an der Einhaltung von Sicherheit und Ordnung und der Anspruch des Gefangenen auf wirksame Verteidigung und Gewährung eines rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens. Eine Beschränkung dieses Rechts bedarf deshalb – unabhängig von dem Umfang der Unterlagen – einer gesonderten und auf den Einzelfall bezogenen Begründung (OLG Karlsruhe NStZ 2002, 612; hier: neun „Stehordner“; vgl. dazu auch Beyler ZfStrVo 2001, 142). Sofern ein Gefangener zur Ausstattung seines Haftraumes die Aushändigung eines Gegenstandes begehrt, hat er darauf einen Anspruch, sofern kein Versagungsgrund gem. § 19 Abs. 2 (Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung) bzw. § 88 Abs. 2 Nr. 1 (besondere Sicherungsmaßnahmen) vorliegt. Der Anstaltsleiter hat insoweit keinen Ermessensspielraum. Deshalb ist bei der Prüfung des Anspruchs im Rahmen einer Verpflichtungsklage auch auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
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abzustellen (OLG Celle BlStV 3/1992, 6 = NStZ 1992, 375 B). Die Anstalt kann durch Verweigerung der Zustimmung eine Eigentumsübertragung nicht verhindern, so z. B. bei Übereignung einer Sache, die sich bei der verwahrten Habe des Veräußerers befindet, durch Abtretung des Herausgabeanspruchs gem. § 931 BGB oder durch Besitzkonstitut nach § 930 BGB im Unterschied zur Eigentumsübertragung durch Gewahrsamswechsel nach § 929 BGB (KG BlStV 4/5/1986, 9). Die Anstalt kann auch allgemein anordnen, dass den Gefangenen grundsätzlich nur Armband- oder Taschenuhren bis zu einem bestimmten Wert ausgehändigt werden (OLG München ZfStrVo 1989, 377 m. krit. Anm. Böhm zu dem vom OLG verwendeten Begriff des „Tauschhandels“). Wird die Zustimmung zur Inbesitznahme widerrufen oder ist diese z. B. von vornherein zeitlich befristet, so hat der Gefangene jedenfalls dann einen Anspruch auf eine schriftliche Bestätigung darüber, welche ihm überlassenen Gegenstände in welchem Zustand aus seinem Haftraum wieder entnommen worden sind (Quittung), wenn er seinerseits den ordnungsgemäßen Empfang dieser Sachen hatte schriftlich bestätigen müssen, um sich so vor späteren Schadensersatzansprüchen schützen zu können (OLG Zweibrücken BlStV 2/1991, 6 = NStZ 1990, 512). Im Übrigen folgt aus der in § 83 gestellten besonderen Bedeutung, die die Regelung des persönlichen Gewahrsams des Gefangenen – vor allem im geschlossenen Vollzug – offenkundig für die Ordnung und Sicherheit des Vollzuges hat, dass Entscheidungen und Maßnahmen auf diesem Bereich nicht an private Institutionen abgetreten werden können (s. dazu auch OLG Zweibrücken aaO zu der Konstellation, dass der Vertreter des Berufsbildungswerkes zugleich leitender Bediensteter der JVA ist; dazu auch § 82 Rdn. 4). 2. Je nach dem Sicherheitsgrad der Anstalt und je nach dem, ob es sich um eine An- 3 stalt des geschlossenen, halboffenen oder offenen Vollzuges handelt, kann die Zustimmung für jeden einzelnen Gegenstand oder auch global oder auch mit einzelnen Ausnahmen erteilt werden (C/MD 2008 Rdn. 1). Die Vorschrift entspricht vor allem den Bedürfnissen einer Anstalt hohen Sicherheitsgrades, in der jeder Missbrauch der persönlichen Habe im Haftraum ausgeschlossen werden muss, um das Sicherheitsrisiko zu vermindern. Die Vollzugsbehörde muss in solchen Anstalten die volle Kenntnis des persönlichen Besitzes jedes Gefangenen haben (RegE, BT-Drucks. 7/918, 77). Der Anstaltsleiter braucht seine Zustimmung deshalb nur dann zu erteilen, wenn er die Gegenstände, die (z. B. beim Besuch) eingebracht werden, auch untersuchen kann, und zwar oberflächlich ohne große Mühe und Kontrollaufwand. Das mag z. B. bei einem Petersilienstängel noch möglich sein, aber schon nicht mehr bei einem Bund dieses Gemüses und erst recht nicht bei geschlossenen Erbsenschoten, deren Inhalt manipuliert sein kann (OLG Hamm ZfStrVo 1994, 118 = JR 1995, 39 m. abl. Anm. Eisenberg). Zur Problematik von Anstalten und Abteilungen mit hohem Sicherheitsgrad vgl. auch § 85 Rdn. 3, § 141 Rdn. 17. Dem Gefangenen kann aufgegeben werden, vor Ausgang oder Urlaub seine Zelle von allen beweglichen Gegenständen zu räumen und diese auf die Kammer zu verbringen, sofern dies für ihn zumutbar ist (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 82). Zur Frage, ob die Anstaltsordnung dadurch tangiert wird, dass ein Gefangener im Besitz von Briefpapier mit dem Briefkopf „Underground-Atelier“ ist, vgl. OLG Hamm LS BlStV 1/1987, 8. Zur generellen Untersagung des Besitzes von Schecks vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1994; 176f = BlStV 1/1994, 6 und Rdn. 6. 3. Die Vorschrift enthält kein allgemeines Verbot des Tauschens oder Handelns in 4 einer Vollzugsanstalt. Sie verpflichtet den Gefangenen nur, für den Besitz und die Annahme von Sachen die Zustimmung der Vollzugsbehörde einzuholen. Eine erweiternde Auslegung des Abs. 1 mit dem Ziel, auch die Abgabe von Gegenständen an die Zustimmung der Vollzugsbehörde zu binden, ist unzulässig (OLG Hamm 6.6.1980 – 1 Vollz (Ws) 11/80: Abgabe eines gebrauchten Radiogerätes; OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 313: Abgabe eines Gla-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
ses Pulverkaffee). OLG Nürnberg hat seine frühere Rechtsprechung (vgl. BlStV 2/1986, 3) aufgegeben und geht nunmehr ebenfalls davon aus, dass § 83 das Abgeben von Gegenständen (hier Schreibmaschine) nicht erfasst (BlStV 1/1996, 3). Auch eine Untersagung der Abgabe von Gegenständen an Mitgefangene im Wege der Hausordnung ist nicht möglich. § 4 Abs. 2 Satz 2 kommt als Ermächtigungsgrundlage hierfür nicht in Betracht. Die Gegenansicht (OLG Nürnberg aaO, demzufolge mit § 83 lediglich ein Mindesteingriffstatbestand geschaffen werden sollte, der jedenfalls für Anstalten höchster Sicherheitsstufe jederzeit entsprechend erweitert werden könne) verkennt, dass Abs. 1 Satz 2 eine abschließende Regelung enthält, die eine ausdehnende Auslegung oder Analogie nicht zulässt (ebenso Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 4, vgl. auch OLG Koblenz ZfStVo 1989, 313; s. auch § 102 Rdn. 5); vgl. auch Rdn. 6. Der nicht geltendes Recht gewordene Entwurf des Bundesrates vom 8.12.1988 zur Änderung des StVollzG (BR-Drucks. 270/88) sah deshalb durch Ergänzung des Abs. 1 Satz 2 vor, dass allgemein auch die Abgabe von Sachen an die Zustimmung der Vollzugsbehörde geknüpft ist, um eine Gleichbehandlung der an einem „Geschäft“ beteiligten Gefangenen zu erzielen. Zum sog. „kleinen Tauschhandel“ s. auch Rdn. 6.
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4. Solange ein Gefangener unter Verletzung der Regelung in Abs. 1, die dem Missbrauch persönlicher Habe aus Sicherheitsgründen entgegenwirken will, unbefugt Sachen in seinem Gewahrsam hält, verstößt er gegen die ihm in dieser Vorschrift auferlegte Gewahrsamsbeschränkung (OLG Nürnberg NStZ 1981, 456). Die Vorschrift gilt auch für den Gewahrsam an Medikamenten und berechtigt daher die Vollzugsbehörde, die vom Gefangenen in seinem Haftraum aufbewahrten Medikamente zur Habe zu nehmen oder zu vernichten, um einem Arzneimittelmissbrauch entgegenzuwirken (OLG Hamm NStZ 1981, 158; OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 179 = NStZ 2002, 530 M). Abs. 1 bildet auch die gesetzliche Grundlage dafür, dass das Mitbringen von Lebens- und Genussmitteln sowie sonstigen Gegenständen des persönlichen Bedarfs bei der Rückkehr vom Urlaub oder Ausgang nicht gestattet wird (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1977, 42). Die Vollzugsbehörde kann die Zustimmung zur Aushändigung von im Handel bestellten Gegenständen vom Nachweis der Bezahlung abhängig machen, um den rechtmäßigen Erwerb zu kontrollieren (OLG Hamm LS in BlStV 4/5/1993, 6 = NStZ 1993, 424 B – fünf Tintenpatronen).
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5. Gem. Abs. 1 Satz 2 darf der Gefangene grundsätzlich Sachen von geringem Wert von einem anderen Mitgefangenen annehmen, sofern die Vollzugsbehörde nicht ausdrücklich etwas anderes anordnet. Ein allgemeines Geschäftsverbot – wie früher Nr. 75 Abs. 1 DVollzO – besteht nicht mehr. Der „kleine Tauschhandel“ wird auf diese Weise „legalisiert“, und der Vollzug wird von repressiv wirkenden Kontrollmaßnahmen entlastet (C/MD 2008 Rdn. 2). Der Begriff „geringer Wert“ entspricht dem in § 248a StGB (a. A. Arloth 2008 Rdn. 5). Dabei ist von dem in der Freiheit üblichen Handelswert, nicht von dem überhöhten Tauschwert innerhalb der Anstalt auszugehen (anders OLG Zweibrücken ZfStrVo 1982, 251 = MDR 1982, 871: Die besonderen Verhältnisse in der Anstalt schließen eine Analogie zu § 248a StGB bei der Bemessung der Wertgrenze aus). Sinnvoll ist eine gleitende Wertbestimmung im Rahmen der Hausordnung etwa dergestalt, dass als Obergrenze des „geringen“ Wertes der zweifache Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 bestimmt wird (vgl. auch Arloth 2008 Rdn. 5 zu der unterschiedlichen Handhabung je nach Bundesland). Daraus folgt, dass die Annahme von anderen als geringwertigen Sachen (wertvolle Ringe und Uhren, Schreibmaschinen) ohne Genehmigung verboten ist. Werden einem Gefangenen von einem Mitgefangenen bei dessen Entlassung Unterlagen aus dem Dienstbereich (z. B. Niederschriften über Dienstbesprechungen) ausgehändigt, darf er diese nicht
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behalten, sofern auch bei nur oberflächlicher Sichtung erkennbar ist, dass sie in keinem Falle auf legale Weise in den Besitz von Gefangenen gekommen sein können (OLG Hamm NStZ 1992, 407 = BlStV 1/1993, 7). Darüber hinaus kann die Vollzugsbehörde die Annahme auch von geringwertigen Sachen überhaupt oder teilweise (z. B. Ausschluss von – auch geringwertigen – Uhren oder völliges Annahmeverbot in bestimmten Teilen der Anstalt) von ihrer Genehmigung abhängig machen. Es empfiehlt sich, den kleinen Tauschhandel möglichst überall zuzulassen. Ohnehin sind Geschäfte unter Gefangenen besonders in größeren Anstalten nur schwer zu unterbinden oder überhaupt festzustellen. Tauschartikel sind allerdings oft Alkohol, Drogen, Bargeld, d. h. Gegenstände, die durch die Liberalisierung des Vollzuges (Vollzugslockerungen, Urlaub, unüberwachter Besuchs- und Schriftverkehr) in größerem Umfang als früher in die Anstalt eingeschmuggelt werden können. Auf diese Weise entsteht ein im Vollzug unerwünschter „großer Tauschhandel“, der die Grenzen des Abs. 1 Satz 2 deutlich überschreitet. Ein solches Geschäftemachen mit der Folge des Entstehens von Abhängigkeiten unter Gefangenen begünstigt die Entstehung von Subkulturen und steht damit nicht nur im Gegensatz zu den Vollzugszielen, sondern begründet auch eine erhöhte Gefährdung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt. Die Annahme solcher Gegenstände darf natürlich nicht gestattet werden (vgl. OLG Hamm NStZ 1995, 55, 56 = ZfStrVo, 1995, 248: Rauschmittel – hier Cannabis – sind grundsätzlich nicht Sachen von geringem Wert; OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 176, 177 = BlStV 1/1994, 6: allgemeine Untersagung des Besitzes von Schecks in einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges mit hohem Sicherheitsgrad). Die Vollzugsbehörde kann auch allgemein anordnen, dass in jedem eingehenden Brief nur Postwertzeichen für einen Antwortbrief enthalten sein dürfen, weil Briefmarken Wertgegenstände sind, die leicht als Zahlungs- oder Tauschobjekt verwendet worden können, und die Ansammlung von Briefmarken durch einen Gefangenen geeignet ist, die Ordnung in der Vollzugsanstalt zu beeinträchtigen (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1978, 31). Die Erlaubnis gem. Abs. 1 Satz 1 bezieht sich nur auf den Austausch von Sachen, die die Gefangenen in ihrem unmittelbaren Besitz haben. Da die Gefangenen in der Regel zivilrechtlich geschäftsfähig sind, können sie untereinander wirksame Verträge schließen, beispielsweise auch gegenseitig ihren in der Kleiderkammer der Anstalt befindlichen Besitz tauschen. Die Vollzugsanstalt ist aber nicht verpflichtet, Kleidungstücke, die sich bei der Habe eines Gefangenen befinden und die dieser einem Mitgefangenen geschenkt hat, zu der Habe des Mitgefangenen zu nehmen (LG Lüneburg ZfStrVo SH 1979, 82). Die Schenkung eines Radios an einen Mitgefangenen bedarf nach OLG Frankfurt NStZ 1982, 351 = ZfStrVo 1982, 316 der Zustimmung der Vollzugsbehörde – eine im vollzuglichen Interesse liegende Entscheidung zur Verhinderung des Missbrauchs der persönlichen Habe aus Gründen der Sicherheit und Ordnung, die aber durch § 83 Abs. 1 nicht gedeckt ist, weil die Abgabe von Gegenständen nach dem StVollzG nicht zustimmungspflichtig ist (vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 313; OLG Nürnberg BlStV 1/1996, 3; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 4). Die Abgabe von Sachen von nicht geringem Wert kann demnach auch nicht im Wege der Hausordnung untersagt bzw. von der Zustimmung der Anstalt abhängig gemacht werden (im einzelnen dazu Rdn. 4). Ebenso wenig kann einem als „Geschäftemacher“ bekannten Gefangenen versagt werden, der Schwester eines Mitgefangenen einen ihr geschenkten wertvollen Ring zu senden (a. A. LG Regensburg 17.5.1982 – 3 StVK 15/82), eine aufgrund der bundesrechtlichen Gesetzeslage unbefriedigende Lösung. Insoweit ist allerdings nur die Annahme eines geschenkten Gegenstandes ist untersagt, nicht aber das Angebot der Schenkung (Grunau/Tiesler Rdn. 5). § 83 Abs. 1 Satz 2 2. HS. beschränkt sich außerdem nicht nur auf den Besitzwechsel von einem auf den anderen Gefangenen bei Sachen, die der abgebende Gefangene in seinem Haftraum aufbewahrt; das Annahmeverbot betrifft auch die Zusendung z. B. eines vom Mitgefangenen erworbenen Rundfunkgerätes durch
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Dritte (OLG Zweibrücken NStZ 1991, 208). Nicht nur verfassungsrechtlich problematisch dürfte indes die Qualifizierung des Briefes eines Mitgefangenen als „Sache von geringem Wert“ i.S.d. Abs. 1 Satz 2 sein, mit der Folge, dass der Gefangene bei unbefugtem (d. h. nicht durch die JVA „vermitteltem“) Gewahrsam diszipliniert werden darf (so aber OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 189). Zwei der drei bislang in Kraft getretenen Landesgesetze haben die unbefriedigende Lücke hinsichtlich der Abgabe von Gegenständen geschlossen und das Verbot bzw. den Zustimmungsvorbehalt auch hierauf erstreckt (Art. 90 Abs. 1 BayStVollzG, § 76 Abs. 1 NJVollzG; vgl. Rdn. 11, 13).
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6. Gem. Abs. 2 Satz 1 ist die Justizvollzugsanstalt verpflichtet, von dem Gefangenen eingebrachte Sachen, die er gem. Abs. 1 nicht in Gewahrsam haben darf, für ihn aufzubewahren, aber nur soweit dies nach Art und Umfang der Sachen möglich ist (nicht möglich z. B. bei Umzugsgut, Möbeln, Tieren, Kraftfahrzeugen). Die Vorschrift gilt für Gegenstände, die der Gefangene selbst mit in die Anstalt bringt und die ihm gar nicht erst ausgehändigt werden, aber auch für Gegenstände, die sich bereits auf seinem Haftraum befinden, die jedoch eine Kontrolle derart erschweren, dass die Anstaltsleitung befugt ist, sie entfernen zu lassen (vgl. §§ 19 Abs. 2, 70 Abs. 2, 83 Abs. 2), und zwar auch, wenn die Gegenstände von Mitgefangenen oder sonstigen Personen in die Anstalt eingebracht und an den Gefangenen übergeben worden sind, sofern dieser nicht nur deren Besitz erlangt, sondern auch Eigentum daran erworben hat. Die Vorschrift bezieht sich auch auf Sachen, die ihm während des Vollzuges zugesandt, aber ihm gem. Abs. 1 von der Vollzugsbehörde nicht überlassen werden, so z. B. nicht genehmigte Post- und Paketsendungen (§ 33 Rdn. 9, 11), sofern sie nicht – nach Annahmeverweigerung – an den Absender zurückgesandt werden. Der Gefangene hat Anspruch auf eine Bestätigung darüber, welche ihm überlassenen Sachen in welchem Zustand aus seinem Haftraum entnommen worden sind, z. B. bei Entfernen von überlassenem Ausbildungsmaterial nach Beendigung eines Lehrganges (OLG Zweibrücken BlStV 2/1991, 6 = NStZ 1990, 512; dazu auch § 82 Rdn. 4) Werden am Körper oder auf einem Haftraum unerlaubte Gegenstände festgestellt, die im Eigentum des Gefangenen stehen, dürfen sie ohne dessen Zustimmung nicht vernichtet werden, sondern sind zur Habe zu nehmen. Die Vollzugsbehörde haftet für etwaige Schäden bei Verletzung der Verwahrungspflicht (vgl. dazu K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 205). VV Nr. 1 bestimmt daher näheres über die Art und Weise der Verwahrung. Zum Schadensersatzanspruch eines Gefangenen aufgrund Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG vgl. LG Krefeld StV 1991, 31: Auffinden einer Tischdecke, einer Keks- und einer Tabaksdose sowie eines Holzregales im Rahmen einer Zellendurchsuchung und deren anschließende Zuführung zur Müllverwertung. – Gem. Abs. 2 Satz 3 ist dem Gefangenen Gelegenheit zu geben, seine Sachen, die er während des Vollzuges und für seine Entlassung nicht benötigt, abzusenden. Für die Entscheidung, ob die Weigerung der Vollzugsbehörde, die Versendung von Sachen des Gefangenen an Dritte zuzulassen, rechtmäßig ist, ist die StVK sachlich zuständig. Die Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich. Die Frage, wer Eigentümer ist, ist nur eine privatrechtliche Vorfrage (OLG Brandenburg NJW 2001, 3351; hier: Mobiltelefon und Telefonkarte). Zu beachten ist dabei, dass für das Eigentum des Gefangenen die Vermutung des § 1006 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB streitet. Auf Gesichtspunkte der Sicherheit im weitesten Sinne abstellende Einwände der JVA gegen die Versendung müssen auf eine konkrete, belegbare Gefahr gestützt werden können (OLG Koblenz NStZ 1987, 143). – Gem. Abs. 3 kann die Vollzugsbehörde eingebrachte Sachen, deren Aufbewahrung ihr nicht möglich ist, auf Kosten des Gefangenen aus der Anstalt entfernen lassen, wenn dieser sich weigert, es selbst zu tun. Notfalls muss eine preiswerte Unterstellmöglichkeit gesucht werden, um das zu entfernende Gut anderweitig einzulagern. Auch wenn das Land kein Verwertungsrecht an den Sachen hat, so kann eine
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Einlagerung auf Kosten des Gefangenen nur dann verlangt werden, wenn die dabei entstehenden Kosten in einem vernünftigerweise noch vertretbaren Verhältnis zum Wert der Sache stehen. Es entspricht auch nicht dem Interesse des Gefangenen, dass durch die Einlagerung von objektiv wertlosen Sachen bzw. von Sachen von ganz geringem Wert hohe Kosten verursacht werden. Dabei ist für das beklagte Land auch noch zweifelhaft, ob es bei dem Gefangenen die hierdurch entstehenden Kosten ersetzt erlangt (LG Köln BlStV 3/1991, 6). An einen Untersuchungsgefangenen gesandte Gegenstände kann das Gericht zu seiner persönlichen Habe nehmen oder durch den Absender abholen lassen, wenn es außerstande ist, die nicht mehr überschaubare Masse von Gegenständen so zu überprüfen, dass die Einschleusung nicht genehmigter bzw. die Sicherheit der Anstalt gefährdender Gegenstände ausgeschlossen ist (KG LS BlStV 3/1982, 13). – Da von der Regelung in Abs. 1 Satz 1 eingebrachte Sachen nicht erfasst werden, wollte der nicht geltendes Recht gewordene Entwurf des Bundesrates zur Änderung des StVollzG (BR-Drucks. 270/88) durch Einfügen der Worte „belassen oder“ hinter dem Wort „Zustimmung“ klarstellen, dass auch diese Fälle von dem Erfordernis der Zustimmung durch die Vollzugsbehörde erfasst sind und damit allein die Anstalt darüber entscheidet, was der Gefangene an eingebrachten oder erworbenen Sachen in Gewahrsam haben darf. Ferner sollte durch Streichung des Wortes „eingebracht“ in Abs. 2 Satz 1 zum Ausdruck kommen, dass sämtliche anderen Sachen zur Habe des Gefangenen genommen werden. 7. Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 enthalten auch Bestimmungen über das Eigengeld des Ge- 8 fangenen (anders die bisher in Kraft getretenen Landesgesetze – Art. 90 BayStVollzG, § 70 HmbStVollzG, § 76 NJVollzG –, die diesen Bereich sämtlich an anderer, systematisch überzeugenderer, Stelle lokalisieren; vgl. dazu Rdn. 11 ff). Unter Eigengeld (§ 52 Rdn. 1) sind die für den Gefangenen von der JVA in Verwahrung genommenen, auf einem Eigengeldkonto des Gefangenen befindlichen Geldbeträge zu verstehen; es wird gebildet zum einen aus den dem Gefangenen während des Vollzuges zufließenden Bezügen, soweit diese nicht als Hausgeld, Haftkostenbeitrag, Unterhaltsbeitrag oder Überbrückungsgeld in Anspruch genommen werden, zum anderen aus eingebrachten oder dem Gefangenen während des Vollzuges von außen zufließenden Beträgen (OLG Hamm ZfStrVo 1981, 251). Briefmarken sieht das StVollzG als Ersatzzahlungsmittel nicht vor (OLG Koblenz ZfStrVo 1980, 251). Stellt eine JVA aus Gründen der Rationalisierung und Kostenersparnis ihr Buchungsverfahren auf Computertechnik um, muss der Gefangene hinnehmen, dass Geldbeträge für ihn nur bargeldlos eingezahlt werden können (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 82). Belege, die bei der im Auftrage des Gefangenen von der Anstalt an Dritte vorgenommenen Überweisung vom Eigengeldkonto entstehen, dürfen entsprechend den Vorschriften der Landeshaushaltsordnung von der Anstalt zurückbehalten werden; dem Gefangenen können aber als Nachweis für Verfügungen über sein Eigengeld beglaubigte Abschriften ausgehändigt werden (OLG Celle LS BlStV 1/1989, 9). Das dem Gefangenen abgenommene Geld ist alsbald der Anstaltszahlstelle gegen Quittung zuzuleiten, ebenso Sparbücher und ausländische Währungen. Erreicht das Überbrückungsgeld nicht die in § 51 Abs. 1 bestimmte Höhe, so ist in Höhe des Unterschiedsbetrages auch der Anspruch auf Auszahlung des Eigengeldes unpfändbar (§ 51 Abs. 4 Satz 2). Auch kann ein Gläubiger gegen eine Forderung des Gefangenen auf Auszahlung seines Eigengeldguthabens nicht aufrechnen, wenn und soweit dieses aus Arbeitsentgelt stammt und der nach dem analog anzuwendenden § 850c ZPO nicht pfändbare Betrag des Gesamteinkommens, das nach Maßgabe des § 850e Nr. 3 ZPO unter Berücksichtigung der fiktiven Haftkostenbeiträge zu ermitteln ist, nicht gedeckt ist (so zutreffend OLG Frankfurt BlStV 2/1994, 1 = NStZ 1994, 378 B m. w. N. auch zu abweichenden Auffassun-
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gen). Nur so kann der finanziellen Gesamtsituation eines Inhaftierten (vgl. hierzu Ullenbruch NStZ 1993, 150 ff in Anm. zu AG Freiburg – Unpfändbarkeit des Hausgeldes) angemessen Rechnung getragen und eine Gleichbehandlung mit einem in Freiheit befindlichen Schuldner gewährleistet werden (a. A. BGH StV 2004, 558 und § 52 Rdn. 4; vgl. auch OLG Hamm FamRZ 2004, 1743, demzufolge der Selbstbehalt eines inhaftierten Unterhaltsschuldners, der im offenen Vollzug einer Erwerbstätigkeit nachgeht, gegenüber einem minderjährigen Kind in der Regel monatlich 280 Euro betragen soll, wobei dieser Betrag um den von dem Strafgefangenen zu tragenden Haftkostenbeitrag zu erhöhen sei). 9 Grundsätzlich unterliegt der Gefangene hinsichtlich des Eigengeldes ebenso wenig einer Verfügungsbeschränkung wie hinsichtlich seines sonstigen, außerhalb der Anstalt befindlichen Vermögens. Abs. 2 Satz 3 beinhaltet jedoch eine Beschränkung des Gefangenen hinsichtlich seines Eigengeldes dahin, dass seine Verfügungsbefugnis nur soweit reicht, wie das Eigengeld nicht als Überbrückungsgeld (§ 51 Rdn. 3) notwendig ist. Das Eigengeld ist aber nicht völlig der Verfügung des Gefangenen entzogen, bis das im Einzelfall festgesetzte Überbrückungsgeld in voller Höhe erreicht ist; es muss vielmehr am Ende der Vollzugszeit zur Verfügung stehen. Der Ansatz, das Überbrückungsgeld sei mit allen verfügbaren Bezügen so schnell wie möglich anzusparen, ist rechtlich verfehlt. Will ein Gefangener über sein Eigengeld verfügen, ist vielmehr auf das jeweilige Vollzugsstadium abzustellen und für diesen Zeitpunkt derjenige Teilbetrag des festgesetzten Überbrückungsgeldes zu ermitteln, der bei planmäßiger Aufstockung zum voraussichtlichen Vollzugsende ein Erreichen des vollen Überbrückungsgeldes gewährleistet (OLG Hamm ZfStrVo 1981, 251; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1981, 380; OLG Hamburg NStZ 1981, 39 und 11.12.1980 – Vollz (Ws) 8/80; OLG München ZfStrVo 1980, 122; OLG Zweibrücken NStZ 1984, 479; OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 185; OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 380 und BlStV 4/5/1995, 2 = NStZ 1995, 434 B). Bei der im Wege einer Ermessensentscheidung zu bestimmenden Höhe des in diesem Sinne als Überbrückungsgeld „notwendigen“ Eigengeldes (und der dementsprechend niedriger festzusetzenden Sparrate) kann die konkrete Gefahr, dass der Gefangene mangels Beschäftigung keine Bezüge erhalten wird, berücksichtigt werden; zur Begründung einer derartigen Gefahr reicht indes – jedenfalls bei noch lange andauernder Strafvollstreckung – allein der Umstand, dass der Gefangene vorübergehend unverschuldet ohne Arbeit ist, nicht aus (OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 156). Auch allen sonstigen denkbaren Eventualitäten, die ein weiteres Ansparen verhindern oder eine Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes mit sich bringen könnten, ist grundsätzlich Rechnung zu tragen (insoweit zutreffend OLG Koblenz BlStV 6/1993, 6 = NStZ 1994, 378 B, das allerdings daraus den ohne konkrete Anhaltspunkte zu weitgehenden Schluss zieht, in der Regel sei eine Ansparrate von einem Drittel der Bezüge gerechtfertigt; zu eng auch OLG Hamburg StV 2003, 403 = NStZ 2003, 594 M; i. E. wie hier C/MD 2008 Rdn. 4; a. A. – das Eigengeld ist in der Höhe gesperrt, in der das Überbrückungsgeld noch nicht angespart ist – § 51 Rdn. 7). Der Ansicht, dass eine Inanspruchnahme des Eigengeldes als Überbrückungsgeld trotz des eindeutigen Wortlauts des Abs. 2 Satz 3 nicht zulässig sei (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 255), kann jedenfalls nicht gefolgt werden. Zwar könnte der Gefangene über sein nicht in die Anstalt eingebrachtes Vermögen unbeschränkt verfügen, sich dadurch in einen mittellosen Zustand versetzen und, wenn sein angespartes Überbrückungsgeld nicht ausreicht, Entlassungsbeihilfen nach § 75 und danach Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Gleichwohl ist es sinnvoll und angemessen, diesem Missbrauch wenigstens dann entgegenzusteuern, wenn sich Vermögensteile des Gefangenen (hier als Eigengeld) im Einwirkungsbereich der Vollzugsbehörde befinden. Zur Zulässigkeit der Überweisung von Eigengeld an Angehörige eines Mitgefangenen zum Zwecke der Zuwendung eines Paketes vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 120. Abs. 2 Satz 3 soll verhindern, dass der Gefangene sich seiner Habe, Kleidung und Geldmittel durch Weggabe
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entäußert, während des Vollzuges bedürftig wird und die Anstalt dadurch bei Vollzugsende zur Neueinkleidung und finanziellen Ausstattung zwingt. Die Vorschrift sieht deshalb insoweit eine Beschränkung der Verfügungsfreiheit des Gefangenen vor, als er seine Sachen während des Vollzuges und für seine Entlassung benötigt und sein Eigengeld bei unzureichend angesammeltem Überbrückungsgeld zur Sicherung des Lebensunterhaltes unmittelbar nach der Entlassung notwendig ist (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1981, 380). Die Verwendungssperre kann der Anstaltsleiter – wie bei § 51 Abs. 3 – durchbrechen, wenn der Gefangene das zur Bildung des Überbrückungsgeldes erforderliche Eigengeld für Ausgaben in Anspruch nehmen will, die seiner Eingliederung dienen. Die Rspr. legt insoweit einen strengen Maßstab an (vgl. dazu C/MD 2008 § 51 Rdn. 7 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Bei der Frage, inwieweit Eigengeld zur Begleichung von Rechtsanwaltskosten freizugeben ist, wird allerdings auf den Einzelfall abzustellen sein. Die Verweisung auf einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe, erforderlichenfalls auch unter Beiordnung eines Rechtsanwaltes, mag in dem der Entscheidung OLG Hamm BlStV 2/1995, 6 = NStZ 1995, 433 B zugrundeliegenden Sachverhalt (Eintreibung zivilrechtlicher Außenstände) angängig sein, nicht hingegen z. B. bei der Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes im Zusammenhang mit einem nicht von vornherein aussichtslosen Wiederaufnahmeverfahren. Eine Beschränkung der freien Verfügbarkeit des Gefangenen über sein Eigengeld ist auch aufgrund § 4 Abs. 2 Satz 2 möglich (ebenso Arloth 2008 Rdn. 8). So kann der Antrag auf Überweisung an Angehörige eines Mitgefangenen abgelehnt werden, allerdings nur, sofern konkrete Anhaltspunkte für die beabsichtigte Vertuschung eines unerlaubten Geschäftes unter Gefangenen gegeben sind (OLG Koblenz ZfStrVo 1991, 120 f = BlStV 3/1991, 1 für den Fall der angeblich beabsichtigten Zusendung eines Paketes an einen Gefangenen ohne eigene Angehörige). Vgl. auch § 33 Rdn. 13. Über diese gesetzlich geregelten Beschränkungen hinaus sind in engen Grenzen weitere Beschränkungen des Verfügungsrechts des Gefangenen über sein Eigengeld zulässig. So können z.B die Konten der Gefangenen für die Dauer des Einkaufs „gesperrt“ werden, sofern und solange dies als verwaltungstechnisch notwendige Maßnahme zur Erfüllung der dem Anstaltsleiter obliegenden Aufgabe der Organisation des Einkaufs unbedingt erforderlich ist (zu weitgehend allerdings OLG Koblenz NStZ 1991, 151 = ZfStrVo 1991, 50, das eine „Sperre“ für die Dauer von 15 Tagen für unbedenklich hält und die Maßnahme mit der Erforderlichkeit zur Erreichung des Vollzugszieles „verbrämt“ – krit. insoweit auch Arloth 2008 Rdn. 9; vgl. auch § 22 Rdn. 3); der Hinweis auf das angeblich so erreichte „Sozialtraining“ dürfte ein weiteres Beispiel dafür darstellen, wie schnell ein behandlungsorientierter Vollzug Züge einer sozialautoritären Verwaltung annehmen kann (dazu § 81 Rdn. 6). – Bei ausreichend angespartem Überbrückungsgeld unterliegt der Gefangene keinen Beschränkungen, sofern nicht andere Gesichtspunkte (wie Sicherheit und Ordnung oder § 22 Abs. 1) dem entgegenstehen. – z. B. ist die durch Hausverfügung der Vollzugsbehörde angeordnete Einschränkung, allgemein zugelassene, für den persönlichen Bedarf bestimmte Lichtbilder dürften nur vom Hausgeld bezahlt werden, nicht zulässig (OLG Frankfurt NStZ 1993, 382 B). Nach VV Nr. 3 soll Eigengeld, das für einen Gefangenen zu einer bestimmten Verwendung eingezahlt wird, nicht als Überbrückungsgeld behandelt werden, wenn der Verwendungszweck der Eingliederung des Gefangenen dient (so z. B. Kosten für Zahnersatz, Lehrbücher). Dasselbe gilt für einen Geldbetrag, der statt eines Paketes i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 für einen Gefangenen eingezahlt worden ist, und zwar bis zur Höhe des gem. VV Abs. 2 Satz 2 zu § 46 für den Ersatzeinkauf festgesetzten Betrags. Folgende Beispiele, für welche Zwecke die Verwendung von Eigengeld in der Regel der Eingliederung dient, nennt die AV des Nds. MJ vom 26.11.1993, Nds. Rpfl. 1994, 34: Vollzugslockerungen und Urlaub, Schrift- und Paketverkehr, Ferngespräche und Telegramme, schulische oder berufliche aus-
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oder weiterbildende Maßnahmen, Erwerb von Gegenständen für sinnvolle Freizeitbeschäftigung, Bezug von Zeitungen und Zeitschriften sowie Beschaffung, Überprüfung, Reparatur eines Hörfunk- oder Fernsehgerätes. Vgl. auch Änderung der VV Nr. 3 durch Hinzufügen von Satz 2.
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8. Gem. Abs. 4 dürfen Gegenstände, die Kenntnisse über Sicherheitsvorkehrungen der Anstalt vermitteln, von der Vollzugsbehörde vernichtet oder unbrauchbar gemacht werden. Hier ist zu denken an Aufzeichnungen über den täglichen Dienstablauf, Zeichnungen von Sicherheitseinrichtungen, Lagepläne, Fotos der Anstalt. – Nach VV Nr. 2 müssen von Gefangenen eingebrachte Sachen, deren Aushändigung bei der Entlassung oder Absendung gem. Abs. 2 Satz 2 nicht vertretbar erscheint (z. B. Waffen, Diebeswerkzeug), der zuständigen Behörde (in der Regel der Vollstreckungsbehörde) angezeigt werden; wird von dort keine Verfügung getroffen, sind diese Sachen auszuhändigen oder abzusenden (eine – wie auch Grunau/Tiesler Rdn. 8 bemerken – bedenkliche Regelung). Zur Aushändigung der Habe bei der Entlassung oder an Dritte im Todesfalle, bei Verlegung oder Überstellung sowie zur Aufbewahrung der Habe von entwichenen Gefangenen vgl. z. B. für Niedersachsen AV des MJ vom 26.11.1993, Nds. Rpfl. 1994, 34.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 90 BayStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 1 Sätze 2 bis 3 sind weitgehend inhaltsgleich mit § 83 Abs. 1 Satz 2, erweitern das Verbot und den Zustimmungsvorbehalt aber auf die Abgabe und haben folgenden Wortlaut: „Ohne Zustimmung dürfen sie Sachen weder abgeben noch annehmen, außer solche von geringem Wert. Die Anstalt kann die Abgabe, Annahme und den Gewahrsam auch dieser Sachen von ihrer Zustimmung abhängig machen“. Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 2 Satz 3 1. Alt („Sachen“). Abs. 3 und Abs. 4 sind inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 3 und Abs. 4 StVollzG. § 83 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 2. Alt. („Geld“) StVollzG entfallen (an dieser Regelungsstelle) ersatzlos. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Die Regelungen zum Eigengeld wurden in Art. 52 übernommen“ (LT-Drucks. 15/8101, 68). 2. Hamburg
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§ 69 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 1 Sätze 2 und 3 sind inhaltsgleich mit § 90 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BayStVollzG, lediglich sprachlich etwas anders gefasst (vgl. Rdn. 11). Bereits in der ergänzend heranzuziehenden (vgl. Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 58) Gesetzesbegründung zum wortgleichen § 70 HmbStVollzG a. F. hieß es hierzu: „Absatz 1 greift mit redaktionellen Anpassungen die Regelung in § 83 Absatz 1 StVollzG auf und erweitert sie um die Bestimmung, dass Sachen grundsätzlich nicht nur nicht von anderen Gefangenen angenommen, sondern zukünftig auch nicht an andere Gefangene abgegeben werden dürfen, es sei denn, es handelt sich auch insoweit um Sachen von offensichtlich
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geringem Wert. Neu ist auch, dass die Anstalt nicht nur die Annahme, sondern auch die Abgabe dieser Sachen von ihrer Zustimmung abhängig machen kann. Damit wrd eine aus Sicht der Praxis notwendige Ergänzung in das Gesetz aufgenommen“ (BürgerschaftsDrucks. 18/6490, 45). Absätze 2 bis 4 sind inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 90 Absätze 2 bis 4 BayStVollzG. Auch hier entfallen die Regelungen zum „Geld“ an dieser Stelle und werden in § 50 HmbStVollzG übernommen (vgl. Rdn. 11). 3. Niedersachsen
13 § 76 NJVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Sätze 1 und 2 sind weitgehend inhaltsgleich mit § 83 Abs. 1 StVollzG, erweitern das Verbot und den Zustimmungsvorbehalt aber auf die Abgabe und haben folgenden Wortlaut: „Die oder der Gefangene darf Sachen nur mit Erlaubnis der Vollzugsbehörde in Gewahrsam haben, annehmen oder abgeben. Für Sachen von geringem Wert kann die Vollzugsbehörde ihre Zustimmung allgemein erteilen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] ist vorgesehen, nicht nur den Gewahrsam und die Annahme von Gegenständen, sondern auch die Abgabe von der Zustimmung der Vollzugsbehörde abhängig zu machen. Auf diese Weise wird der einheitliche Lebenssachverhalt des Abgebens und Annehmens von Gegenständen künftig auch rechtlich einheitlich behandelt“ (LT-Drucks. 15/3565, 148). Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 2 Satz 3 1. Alt. („Sachen“). Abs. 3 Sätze 1 und 2 sind weitgehend inhaltsgleich mit § 83 Abs. 3 StVollzG, erweitert die Optionen der Anstalt jedoch unter bestimmten Voraussetzungen um die Möglichkeiten der Verwertung und Vernichtung und haben folgenden Wortlaut: „Weigert sich die oder der Gefangene, eingebrachte Sachen, deren Aufbewahrung nach Art und Umfang nicht möglich ist, aus der Anstalt zu entfernen, so darf die Vollzugsbehörde diese Sachen außerhalb der Anstalt verwahren oder nach Maßgabe des Satzes 2 verwerten oder vernichten. Für die Voraussetzungen und das Verfahren der Verwertung und Vernichtung gilt § 28 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung entsprechend“. Abs. 4 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 83 Abs. 4 StVollzG. § 83 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 2. Alt. („Geld“) entfallen (an dieser Regelungsstelle) ersatzlos (vgl. aber §§ 48, 52 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 NJVollzG).
§ 84 Durchsuchung (1) Gefangene, ihre Sachen und die Hafträume dürfen durchsucht werden. Die Durchsuchung männlicher Gefangener darf nur von Männern, die Durchsuchung weiblicher Gefangener darf nur von Frauen vorgenommen werden. Das Schamgefühl ist zu schonen. (2) Nur bei Gefahr im Verzug oder auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall ist es zulässig, eine mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung vorzunehmen. Sie darf bei männlichen Gefangenen nur in Gegenwart von Männern, bei weiblichen Gefangenen nur in Gegenwart von Frauen erfolgen. Sie ist
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in einem geschlossenen Raum durchzuführen. Andere Gefangene dürfen nicht anwesend sein. (3) Der Anstaltsleiter kann allgemein anordnen, dass Gefangene bei der Aufnahme, nach Kontakten mit Besuchern und nach jeder Abwesenheit von der Anstalt nach Absatz 2 zu durchsuchen sind. VV 1 (1) In geschlossenen Anstalten haben sich die Vollzugsbediensteten durch unvermutete Durchsuchungen laufend davon zu überzeugen, dass die Räume, die von den Gefangenen benutzt werden, und ihre Einrichtungsgegenstände unbeschädigt sind, dass nichts vorhanden ist, was die Sicherheit oder Ordnung gefährden könnte, vor allem, dass keine Vorbereitungen zu Angriffen oder Flucht getroffen werden. Diese Räume sind in kurzen Zeitabständen zu durchsuchen. Bei gefährlichen und fluchtverdächtigen Gefangenen kann eine tägliche Durchsuchung angeordnet werden. Türen, Tore, Gitter und Schlösser sind regelmäßig und besonders sorgfältig zu überprüfen. (2) Gefährliche, fluchtverdächtige und solche Gefangene, bei denen die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung besteht, sind ebenso wie ihre Sachen häufiger zu durchsuchen. 2 Im offenen Vollzug sind die nach der Aufgabe der Anstalt notwendigen Maßnahmen zu treffen. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Durchsuchung ohne Entkleidung (Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsuchung mit Entkleidung (Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 3. Allgemeine Anordnung (Abs. 3) 4. Schonung des Schamgefühls . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung (§ 81 Rdn. 7) gestattet § 84 die Durchsuchung des Gefangenen, seiner Sachen und der Hafträume. Wegen des mit der Durchsuchung verbundenen Eingriffs in die Privatsphäre dürfen männliche Gefangene nur von Männern und weibliche Gefangene nur von Frauen durchsucht werden. Bedienstete des jeweils anderen Geschlechts dürfen aber bei Durchsuchungen, die nicht mit Entkleidung verbunden sind, anwesend sein. Abs. 1 und Abs. 2 sind durch das 4. StVollzGÄndG geändert worden und tragen dem zunehmenden Einsatz von weiblichen Bediensteten in JVAen für Männer Rechnung. Das Gebot, das Schamgefühl zu schonen (Abs. 1 Satz 2), ist für eine Durchsuchung mit Entkleidung von besonderer Bedeutung. – Bei der Durchsuchung ist zu unterscheiden, ob die Maßnahme mit oder ohne Entkleidung erfolgt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 81 Abs. 2) ist zu beachten. Die Durchsuchung ist eine besonders heikle Vollzugsmaßnahme. Das bei ihrer Vornahme zum Ausdruck kommende Misstrauen dem Gefangenen gegenüber gefährdet leicht die zur resozialisierenden Behandlung erwünschte entspannte
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Atmosphäre. Andererseits sind Lockerungen und Hafterleichterungen (unüberwachte Besuche, Freizügigkeit in Anstaltsabteilungen) oft nur verantwortbar, wenn durch mindestens stichprobenweise Durchsuchungen ihr Missbrauch zum Einbringen gefährlicher Gegenstände in Grenzen gehalten wird.
II. Erläuterungen 1. Abs. 1 geht, soweit hier die Durchsuchung des Gefangenen geregelt ist, von einer 2 Durchsuchung ohne Entkleidung aus. Sie besteht in manuellem Abtasten der Kleidung, Durchsuchung der in der Kleidung (Taschen) befindlichen Sachen oder Kontrolle mittels elektronischer Metalldetektionsgeräte (a. A. OLG Nürnberg StV 2002, 669; ebenso Arloth 2008 Rdn. 2 mit der „Behauptung“, es handele sich hierbei nur um eine „allgemeine Überwachungsmaßnahme“; dagegen nunmehr auch im Ergebnis zutreffend C/MD 2008 Rdn. 8 mit allerdings eher polemischer „Begründung“; zu eng wiederum OLG Hamburg vom 21.11.2001 – 3 Vollz (Ws) 95/01 zum Maßregelvollzug; Die bloße elektromagnetische Untersuchung mittels Metallsuchrahmen und Handsonden stellt noch keine Durchsuchung dar; vgl. auch Art. 91 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG – unten Rdn. 8 – und § 77 Abs. 1 Satz 3 NJVollzG – unten Rdn. 10). Für diese Durchsuchung genügt eine allgemeine Anordnung des Anstaltsleiters. Sie findet teilweise mehrfach am Tag, etwa bei Verlassen der Arbeitsstätte (vgl. dazu LG Karlsruhe BlStV 3/1982, 3), beim Ausrücken zur oder der Heimkehr von der Außenbeschäftigung, nach Empfang von Besuch, statt. In geschlossenen Anstalten mit längerstrafigen und kriminell mehr belasteten Gefange- 3 nen sind Durchsuchungen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung besonders wichtig. Gemäß VV Nr. 1 sollen die Vollzugsbediensteten durch unvermutete Durchsuchungen laufend und in kurzen Zeitabständen die von Gefangenen benutzten Räume und Einrichtungsgegenstände kontrollieren. Dabei ist in erster Linie an Arbeits- und Freizeiträume zu denken, in denen sich gerade in größeren Anstalten täglich zahlreiche Gefangene aufhalten. Würde der Haftraum eines Gefangenen tatsächlich „laufend“ durchsucht, wäre eine derart rigide Vorgehensweise – wie AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 2 und C/MD 2008 Rdn. 3 bemerken – mit den Vollzugsgrundsätzen der §§ 2–4 nicht zu vereinbaren. Außerdem verstieße dies gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 81 Abs. 2 (Arloth 2008 Rdn. 3). In der Praxis wird jedoch der Haftraum eines Gefangenen – auch im geschlossenen Vollzug (§ 141 Rdn. 18) – in der Regel nicht mehr als zweimal monatlich durchsucht. Häufigere Kontrollen sind schon aus personellen Gründen und wegen der Dauer der Durchsuchung (Vielzahl von zugelassenen Gegenständen!) kaum möglich. Zur Zulässigkeit des sog. „Refa-Haftraumkontrollsystems“ (formularmäßige Aufstellung der üblichen Haftraumausstattung unter punktemäßiger Bemessung eines Einzelkontrollaufwandes für jeden Gegenstand; Festlegung einer Obergrenze von z. B. 2.400 Punkten pro Gefangenem in der Hausordnung) vgl. OLG Zweibrücken ZfStrVo 2001, 308. Vgl. § 19 Rdn. 6. In der Praxis werden sämtliche Kontrollen innerhalb der Anstalt insgesamt „laufend“ durchgeführt und auch zu unregelmäßigen Zeiten, d. h. unvermutet. Das BVerfG NJW 1996, 2643 = NStZ 1996, 511 sieht im Betreten des Haftraumes durch Vollzugsbedienstete keinen Eingriff in die Grundrechte des Gefangenen; der Gesichtspunkt der Anstaltssicherheit rechtfertigt auch ein Betreten des Haftraumes ohne Anklopfen, zumal der Gefangene durch die Schließgeräusche ausreichend „vorgewarnt“ wird. Eine Grundrechtsverletzung kann jedoch in der Art und Weise liegen, in der die Durchsuchung konkret durchgeführt wird. Eine Haftraumkontrolle auf Betäubungsmittel um 5.50 Uhr mittels eines Spürhundes und eines Hundeführers kann aber im Einzelfall durchaus zulässig sein (OLG Nürnberg bei Kotz/Rahlf NStZRR 1999, 76; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3). Die tägliche „Blickkontrolle“ des
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Beamten, der vor allem die „kritischen“ Teile des Haftraums (Fenster, Tür) etwas genauer in Augenschein nimmt, ist mit „Durchsuchung“ nicht gemeint. Bei gefährlichen und fluchtverdächtigen Gefangenen kann nach VV Nr. 1 Abs. 1 Satz 3 tägliche Durchsuchung angeordnet werden. Diese sowie selbstmordgefährdete Gefangene sind ebenso wie ihre Sachen gemäß VV Nr. 1 Abs. 2 jedenfalls häufiger zu durchsuchen. Zu den Sachen i.S. des § 84 Abs. 1 gehört auch der PKW eines im offenen Vollzug untergebrachten Gefangenen, der bei dessen Rückkehr vom Arbeitsplatz vor der Anstalt abgestellt werden muss und daher von Vollzugsbediensteten durchsucht werden darf (OLG Hamm NStZ 1996, 359). Eine Durchsuchung der außerhalb der JVA von einem Gefangenen (z. B. eines Freigängers) vorgehaltenen Wohnung ist durch § 84 nicht gedeckt und verstößt gegen Art. 13 GG (LG Koblenz NStZ 2004, 231). 4 Die Durchsuchung sollte möglichst schonend durchgeführt werden, d. h. mit Sorgfalt, um nicht unnötige Unordnung in den Haftraum zu bringen, und mit Vorsicht, um Schäden zum Nachteil des Gefangenen zu vermeiden (OLG Nürnberg NStZ 1997, 359). Der Anstaltsleiter sollte seine Bediensteten regelmäßig zu der gebotenen Zurückhaltung bei der Durchführung von Zellenkontrollen anhalten. Sowohl das Übermaß- als auch das Willkürverbot sind strikt zu beachten. So gibt z. B. nicht jeder Verstoß gegen eine Vorschrift in der Hausordnung, Bilder nur an einer Pinnwand anzubringen, den Anstaltsbediensteten das Recht, anderswo befestigte Bilder kurzerhand zu entfernen und sie dabei zu beschädigen. Ohne Anhaltspunkte z. B. für einen Missbrauch als Versteck reicht es vielmehr regelmäßig aus, dass die Anstalt den Gefangenen zunächst unter Setzung einer Frist auffordert, die Bilder selbst in dem dafür vorgesehenen Zellenbereich anzubringen, zumal wenn der bestehende Zustand vorher längere Zeit geduldet worden war (KG NStZ-RR 2005, 281). Zur Schadensersatzpflicht für bei Zellendurchsuchung zerstörte Gegenstände vgl. LG Krefeld StV 1991, 31. Soweit mit dem Zweck der Durchsuchung vereinbar, sollte diese in Anwesenheit des Gefangenen erfolgen. Allerdings ist weder seine Anwesenheit Voraussetzung für die Zulässigkeit der Durchsuchung, noch steht ihm das Recht zu, der Durchsuchung beizuwohnen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 191; ebenso Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. Mitsch Festschrift Schwind 2006, 603, 616). Eine Ausnahme gilt allerdings hinsichtlich Verteidigungsunterlagen sowie dem Schutzbereich des § 29 Abs. 1 unterfallende Urkundensammlungen. Diese dürfen im Interesse eines effektiven Schutzes vor inhaltlicher Kenntnisnahme bei einer Haftraumkontrolle weder aus dem Haftraum entfernt, noch in Abwesenheit des Strafgefangenen der Sichtkontrolle unterzogen werden (KG vom 23.5.2003 – 5 Ws 99/03 Vollz). In der Praxis kann dem z. B. dadurch Rechnung getragen werden, dass der Gefangene zu Beginn der Maßnahme aufgefordert wird, die „Verteidigerpost“ vorzulegen, sodann die Sichtkontrolle in seiner Anwesenheit stattfindet und er schließlich die Unterlagen mit nimmt in den Raum, in dem er ggf. während der weiteren Haftraumkontrolle untergebracht ist (OLG Koblenz vom 15.6.2007 – 1 Ws 243/07). Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung schützt weder den Haftraum eines Straf- noch den eines Untersuchungsgefangenen (Sächsischer VerfGH LS NJW 1995, 2980 zu Art. 30 der LVerf). Auch unter einer „Wohnung“ i. S. d. Art. 13 GG ist allein die räumliche Privatsphäre zu verstehen (BVerfGE 65, 1, 40 unter Hinweis auf BVerfGE 32, 54, 72). Ein Gefangener ist aber nicht Besitzer „seines“ Haftraumes, weil dieser kein von ihm freiwillig gewählter Ort privater Lebensgestaltung ist. Er darf diesen Raum vielmehr lediglich im Rahmen der Weisungen der Anstaltsleitung nutzen (vgl. auch OLG Dresden BlStV 4/5/1995, 10, auf das sich die Entscheidung des Sächsischen VerfGH bezieht; ferner OLGe Frankfurt ZfStrVo 1982, 191 und Stuttgart NStZ 1984, 574 zur Ablehnung eines Anwesenheitsrechts bei Durchsuchungen). Dabei bleibt das Hausrecht der Anstalt unberührt, auf dem die grundsätzliche Befugnis beruht, den Haftraum jederzeit und ohne Einverständnis des Gefangenen zu betreten und zu durchsuchen (OLG Nürnberg
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ZfStrVo 1998, 53). Werden Gegenstände, die der Gefangene nicht in seinem Besitz haben darf, aus dem Haftraum entfernt, ist ihm dies mitzuteilen. Die Sachen sind zu seiner Habe zu nehmen. Soweit zu vermuten ist, dass sie ihm nicht gehören, etwa gestohlen sind, muss der Sachverhalt genau ermittelt werden. Ohne sein Einverständnis oder eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde dürfen die Sachen nicht einem anderen Gefangenen (dem angeblich bestohlenen) gegeben werden. Keinesfalls dürfen „beschlagnahmte“ Gegenstände vernichtet werden. Anstaltsbedienstete sind grundsätzlich auch nicht befugt, anlässlich von Durchsuchungen die Hafträume zu „entmüllen“. Das kann schon deshalb nicht zulässig sein, weil ein Gegenstand keinen Müll oder Abfall darstellt, wenn er zwar objektiv wertlos erscheint, für den Gefangenen jedoch aus subjektiven Gründen Bedeutung besitzt. Diese Bedeutung vermag aber nur der Gefangene selbst zu beurteilen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn von den Gegenständen wegen ihres Zustandes (Beispiel: verdorbene Lebensmittel) eine unmittelbare Gefahr für Sicherheit oder Ordnung der Anstalt ausgeht (KG NStZ-RR 2005, 281). Ein Strafgefangener hat keinen Anspruch (analog § 107 Satz 2 StPO) auf Erteilung einer sog. Negativbescheinigung über eine ergebnislose Haftraumdurchsuchung (KG, Beschl. V. 5.9.2008 – 2 Ws 408/08). – Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, dem Gefangenen die Absendung solcher unerlaubter Sachen zu gestatten, es sei denn, dass das Verlangen des Gefangenen rechtsmissbräuchlich ist oder die Behörde an Straftaten mitwirken müsste (OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 188). Der Gefangene hat kein Recht auf Besitz eines futterlosen, mit Schlüsseln versehenen Aktenkoffers ohne doppelten Boden, auch wenn die Anstalt einen Zweitschlüssel erhält (a. A. OLG Celle ZfStrVo 1991, 123 = NStZ 1991, 379 B). Andernfalls würden durch die Möglichkeit der Weitergabe bzw. der (angeblichen) Entwendung in der Anstalt zahlreiche kleine, faktisch „kontrollfreie“ Räume geschaffen. Den berechtigten Belangen der Gefangenen auf Schutz z. B. gegen Diebstähle seitens Mitgefangener sollte vielmehr durch die Möglichkeit des Erwerbs eines Zusatzschlosses (unter Überlassung eines Zweitschlüssels an die Stationsbediensteten) Rechnung getragen werden. Zur Durchsuchung von Besuchern § 24 Rdn. 15; zur Durchsuchung von Rechtsanwälten, Notaren und Rechtsbeiständen § 26 Rdn. 7, 11. Der Gefangene und von ihm mitgeführte Ordner dürfen auch nach Verteidigerbesuch durchsucht werden, wenn Gegenstände der Suche nicht Vereidigungsunterlagen, sondern von diesen leicht unterscheidbare Kassiber sind (OLG Karlsruhe LS ZfStrVo 1993, 118; vgl. auch die erstinstanzliche Entscheidung LG Karlsruhe BlStV 4/5/1993, 5 = NStZ 1993, 382 B). Haftraumkontrollen sollen nach einem gewissen System erfolgen, und das Ergebnis sollte in einem Zellenrevisionsbuch oder im Protokoll vermerkt werden. Beispielsweise sind zu kontrollieren: a) Fenster (insbesondere Fenstervergitterung), Außenwand, Tür (mit Schloss); b) Innenwände (Abklopfen nach Hohlräumen, Beachten von Schäden an Putz und Farbanstrich, besonders hinter Bildern, Postern, Spiegeln, Zellenmöbeln); c) Fußboden (besonders unter Möbeln und Bodenbelag); d) WC- und Waschbecken (Einführen von Hakendraht in Hohlräume); e) elektrische Anlagen (Überprüfen der Hohlräume in Steckdosen, Schaltern, Lampensockeln); f) Reinigungsgeräte (Überprüfen der Borstenteile von Besen und Handfeger, evtl. doppelter Boden bei Abfalleimern); g) Bett (Überprüfen der Hohlräume in Bettpfosten sowie der Schaumstoffmatratze nach Entfernung des Bezugsstoffes); h) Zellenschrank (eventuell doppelte Wände, Überprüfen des Hohlraumes unter dem Sockel durch Abrücken von der Wand); i) nicht zum Zellenmobiliar gehörende Möbel, z. B. selbst angefertigte Hocker, Tische, Schränkchen (Überprüfen auf Versteckmöglichkeiten);
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j) Schreibmaschinen, Lautsprecherboxen, Plattenspieler u. a. (Überprüfen der Hohlräume); k) Rundfunkgerät (Überprüfen, ob im UKW-Bereich Polizeifunk abgehört werden kann); l) Medikamente (Überprüfen durch Anstaltsarzt); m) Konservendosen (Überprüfen, ob sich unter dem Etikett Lötstellen befinden und in der Dose eventuell Alkohol); n) Leibriemen (Überprüfen der Nähte oder Klebstellen als Versteckmöglichkeit für Geld oder Drogen), Kugelschreiber (Versteckmöglichkeit für Geld). Auf eine Alkohol-Brennanlage in Hafträumen deuten hin: Schraubverschlüsse mit angelöteten Blechrohrnippeln, Kunststoffschläuche (wie bei Aquarien zu verwenden), Zellophan- oder Kunststoffbeutel. Zur Kontrolle von Pulverkaffee-Gläsern vgl. OLG Frankfurt BlStV 4/5/1986, 9. Bei Verdacht von Drogen im Haftraum sollte im Wege der Amtshilfe die Polizei evtl. mit einem Spürhund eingesetzt werden. Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Anordnung der Durchsuchung mit Spürhunden vgl. OLG Nürnberg ZfStrVo 1998, 53. In Einzelfällen, z. B. bei terroristischen Gewalttätern, können bei Durchsuchung des Haftraums und der Sachen Polizeibeamte als Sachverständige herangezogen werden, die rechtlich dann der Aufsicht und Leitung des Anstaltsleiters unterstellt sind (OLG Karlsruhe LS ZfStrVo 1986, 128).
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2. Gem. Abs. 2 ist eine mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung nur bei Gefahr im Verzuge oder aber auch aufgrund einer Einzelanordnung des Anstaltsleiters zulässig (Satz 1). Gem. § 156 Abs. 3 darf diese Befugnis des Anstaltsleiters nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen werden (und zwar in der Regel nur auf Beamte des höheren Dienstes; vgl. Arloth 2008 Rdn. 5 und OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 56). Dem Anstaltsleiter ist nicht nur eine von Fall zu Fall zu treffende Entscheidung gestattet, sondern auch der Erlass einer den einzelnen Gefangenen betreffenden generellen Anordnung, wie z. B. körperliche Durchsuchung mit Entkleidung vor und nach unüberwachtem Verteidiger- oder Langzeitbesuch bei einem als Sicherheitsrisiko eingestuften Gefangenen (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 83; OLG Hamm LS NStZ 1981, 407; LG Hamburg ZfStrVo 2000, 252; krit. dazu AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 6). Für die mehrere Gefangene betreffende Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall genügt es, wenn Ort, Zeit und Kreis der Betroffenen abgegrenzt sind. Eine Namhaftmachung der Gefangenen in der Anordnung ist nicht erforderlich (OLG Celle NStZ 2005, 587; OLG Koblenz ZfStrVo 1996, 55; OLG Bremen NStZ 1985, 143; OLG Nürnberg NStZ 1982, 526; vgl. auch bereits OLG Celle NdsRpfl. 2004, 219). So kann der Anstaltsleiter anordnen, dass sämtliche verspätet in die Anstalt zurückkehrende Gefangenen einer mit Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung z. B. auf Rauschmittel zu unterziehen sind (OLG Bremen NStZ 1985, 143); Auch die Umsetzung einer Anordnung des Justizministeriums nach umfangreichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen des Verdachts illegaler Geschäfte eines Justizbediensteten mit Strafgefangenen durch den Anstaltsleiter dergestalt, dass sämtliche Hafträume zu durchsuchen und sämtliche Strafgefangene einer mit einer Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung zu unterziehen sind, kann im Einzelfall weder willkürlich noch unverhältnismäßig sein, sondern zur Abwendung schwerwiegender Gefahren für Sicherheit und Ordnung der Anstalt erforderlich und angemessen sein (OLG Celle NStZ 2005, 587); zu beachten ist aber stets, dass der Gesetzgeber zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Gefangenen eine Differenzierung der Eingriffsvoraussetzungen zwischen Abs. 2 und Abs. 3 vorgenommen hat. Deshalb verbietet sich z. B. eine schematische Anordnung, die zu einer Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt führt
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(BVerfG NStZ 2004, 227; OLG Koblenz StraFo 2005, 263). Zur Durchsuchung mit Entkleidung bei begründetem Verdacht der Umgehung der Postkontrolle und der geplanten Befreiung eines Gefangenen vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 55. Auch ist eine Verfügung des Anstaltsleiters, nach der an einem bestimmten Tage an jedem dritten Gefangenen, der unter beschränkter optischer Überwachung Besuch empfangen hat, eine mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung vorzunehmen sei, rechtmäßig (OLG Nürnberg NStZ 1982, 526; LG Regensburg NStZ 1982, 486; a. A. LG Mannheim ZfStrVo 1982, 250), die Auswahl kann jedoch nicht völlig in das Belieben des beauftragten Bediensteten gestellt werden (a. A. KG BlStV 1/1995, 6 = NStZ 1994, 379 B). Zur nunmehr bestehenden Möglichkeit des Anstaltsleiters, auch insoweit eine alle Gefangenen betreffende allgemeine Anordnung zu treffen s. Rdn. 6. Unvermutete stichprobenweise körperliche Durchsuchungen sind zulässig bei Gefangenen, die sich vor der Inhaftierung als Dealer betätigt haben (OLG Karlsruhe NStZ 1983, 191), routinemäßig als Einzelmaßnahmen überhaupt darüber hinaus in Anstalten mit hohem Sicherheitsrisiko (OLG Hamm LS BlStV 1/1984, 7), in einer sog. „Abschirmstation für Dealer“ der JVA Tegel (KG NStZ 1984, 94) oder bei terroristischen Gewalttätern (LG Köln BlStV 6/1980, 18). Bei der Durchsuchung mit Entkleidung dürfen im Unterschied zu der Durchsuchung nach Abs. 1 gemäß Abs. 2 Satz 2 (Neufassung des 4. StVollzGÄndG) bei männlichen Gefangenen nur Männer, bei weiblichen Gefangenen nur Frauen anwesend sein. – Ein vorbeugender Unterlassungsantrag gegen die generelle Anordnung von körperlichen Durchsuchungen in bestimmten Fällen, mit dem Ziel des Durchsuchungsverbots, ist unzulässig (OLG Nürnberg BlStV 4/5/1993, 6). Bei „Gefahr im Verzuge“ darf jeder Bedienstete unter den in Abs. 1 Satz 2 und 3 und in Abs. 2 Satz 2 und 3 genannten Bedingungen einen Gefangenen körperlich durchsuchen. „Gefahr im Verzuge“ ist z. B. anzunehmen, wenn aufgrund eines kurz vor Rückkehr eines Gefangenen vom Urlaub gegebenen Hinweises der konkrete Verdacht des Einschmuggelns von Drogen besteht. Zur Anwendung des § 84 Abs. 2 bei Untersuchungsgefangenen vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 55. Zur Durchsuchung mit Entkleidung nach Verteidigerbesuch vgl. OLG Nürnberg BlStV 4/5/1993, 6, LG Karlsruhe BlStV 4/5/1993, 5. 3. Nach der zum 1.12.1998 in Kraft getretenen Neufassung des Abs. 3 gem. des 6 4. StVollzGÄndG (BGBl. I, 2461 ff) steht dem Anstaltsleiter nunmehr die Befugnis zu, mittels einer allgemeinen Anordnung nicht nur die körperliche Durchsuchung aller Strafgefangener bei der Aufnahme (zu Einschränkungen bei Untersuchungsgefangenen vgl. unlängst BVerfG, Beschl. vom 4.2.2009 – 2 BvR 455/08) und nach jeder Abwesenheit von der Anstalt, sondern auch nach Kontakten mit Besuchern zu veranlassen. Auch in den beiden letztgenannten Fallgruppen ist jetzt die Festlegung, dass die Durchsuchung mit der Entkleidung verbunden ist, zulässig (zur Durchsuchung vor einem Besuch oben Rdn. 5). Die Neuregelung trägt insbesondere der verstärkten BtM-Problematik im Justizvollzug Rechnung, soll aber insgesamt dem Einschmuggeln von gefährlichen Gegenständen von außen entgegenwirken. Nach wie vor unzulässig ist z. B. eine allgemeine Anordnung, wonach von den aus Werkbetrieben innerhalb der Anstalt einrückenden Gefangenen etwa zehn bei jeder Rückkehr in den Unterkunftsbereich mit körperlicher Entkleidung durchsucht werden, wobei die Auswahl den zur Kontrolle herangezogenen Bediensteten überlassen ist (OLG Koblenz NStZ 1984, 287). In der Regel genügt es auch, wenn die Gefangenen durch Abtasten der Kleidung und Kontrolle des Tascheninhalts durchsucht werden und unmittelbar anschließend ihre Zivilkleidung in Anstaltskleidung (§ 20) umtauschen. Besteht der begründete Verdacht des Besitzes von gefährlichen Gegenständen (Alkohol, Drogen), darf eine Kontrolle der Körperhöhlen unter den Voraussetzungen des Abs. 2 durchgeführt werden (vgl. C/MD 2008 Rdn. 11). Eine solche Kontrolle, auch wenn sie mit einer Entkleidung ver-
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bunden ist, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und auch nicht gegen die Menschenwürde (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1977, 42). Zur Zulässigkeit stichprobenartiger Kontrollen mit „Herunterlassen“ der Oberhose beim Verlassen des Arbeitsbetriebes in einer geschlossenen Anstalt vgl. LG Karlsruhe BlStV 3/1982, 3. – Zur Frage der Zulässigkeit einer gerichtlichen Überprüfung einer allgemeinen Anordnung OLG Hamm ZfStrVo 1987, 119.
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4. Bei jeder mit Entkleidung verbundenen Durchsuchung ist das Schamgefühl besonders zu schonen. Wenngleich Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, sich im Haftvollzug nicht prinzipiell vermeiden lassen, so hat der Gefangene insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich ohne eingriffsvermeidende Rücksichtsnahmen einfacher gestalten, ist nicht geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen (BVerfG, Beschl. vom 4.2.2009 – 2 BvR 455/08). Deshalb muss z. B. die Durchsuchung in einem geschlossenen Raum (Satz 3) und in Abwesenheit anderer Gefangener durchgeführt werden (Satz 4). Die gesetzliche Regelung dient dem Zweck, das Schamgefühl des zu Durchsuchenden zu schonen (vgl. OLG Frankfurt LS ZfStrVo 1987, 120; C/MD 2008 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 5 jeweils m. w. N.; vgl. auch bereits OLG Hamm BlStV 1/1986, 6). Diesem Zweck wird durch eine Durchsuchung in einem durch massive Wände mit festen geschlossenen Türen umgrenzten separaten Raum, in dem sich keine Mitgefangenen aufhalten, jedenfalls sicher Rechnung getragen. Ob dem auch dann entsprochen wird, wenn sich der Vorgang innerhalb eines besonderen, gegen Einsicht geschützten Bereiches eines geschlossenen Raumes stattfindet, in dem zwar weitere Strafgefangene körperlich anwesend, jedoch am Betrachten der Durchsuchung in dem besonderen Bereich zuverlässig gehindert sind (so OLG Celle NStZ 2005, 587; ähnlich bereits OLG Celle NdsRpfl. 2004, 219) erscheint äußerst zweifelhaft. Die Menschenwürde dürfte nicht erst bei der Frage „tatsächlicher“ Blicke anderer Gefangener tangiert sein, sondern bereits mit der Abhängigkeit des Betroffenen von den Bediensteten als „Beschützer“ seiner Intim- und Schamsphäre. Die bloße Möglichkeit, den Mitgefangenen den Rücken zuzukehren reicht nämlich sicher nicht aus (so auch zutreffend OLG Celle aaO), so dass es ggf. eines Anhaltens der Mitgefangenen, der Szene selbst den Rücken zuzukehren und sich nicht umzusehen sowie einer zuverlässigen Überwachung des Befolgens dieser Vorgaben seitens der Bediensteten bedarf (zur Problematik vgl. auch § 9 HmbStVollzG, unten Rdn. 9). Bei der Behauptung rechtswidriger Entkleidungsdurchsuchungen in Abwesenheit von Mitgefangenen muss im übrigen ein besonderes Feststellungsinteresse nicht dargetan werden, weil eine solche Maßnahme als Verletzung der Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG diskriminierenden Charakter hat (OLG Celle aaO; OLG Frankfurt ZfStrVo LS 1987, 120). Abwesend im Sinne der Vorschrift sind Mitgefangene auch dann, wenn sie sich in dem selben geschlossenen Raum aufhalten, in dem der Betroffene durchsucht wird, ihnen jedoch die Sicht auf die Durchführung sicher verwehrt ist (OLG Celle NdsRpfl. 2004, 219). Die Anwesenheit von Angestellten eines privaten Sicherheitsunternehmens (zu Schulungszwecken) ist aufgrund nicht erforderlicher Beeinträchtigung des Scham- und Selbstwertgefühls des Gefangenen rechtswidrig (LG Gießen ZfStrVo 2006, 247). Ist der Gefangene entkleidet, muss jeder Körperkontakt zwischen Durchsuchenden und Gefangenem unterbleiben. Angesichts der Sensibilität des Eingriffs in die Intimsphäre sollten – auch zur Vermeidung falscher Beschuldigungen – immer zwei Bedienstete zugegen sein (ebenso Arloth 2008 Rdn. 5 und C/MD 2008 Rdn. 9). Das Betasten von Körperöffnungen ist dem Arzt vorbehalten und beschränkt sich – im Rahmen des § 101 – auf Fälle, in denen die Maßnahme aus gesundheitlichen oder hygienischen Gründen angezeigt ist. Das Betasten des Darmausgangs fällt unter den Begriff der
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Durchsuchung (nach § 84 Abs. 2) und ist nicht etwa eine medizinische Untersuchung, so dass der Gefangene diese Maßnahme dulden muss und bei Weigerung eine Disziplinarmaßnahme getroffen werden kann (LG Gießen 16.1.1986 – 1 StVK – Vollz 1172/85, in: Lichtblick 1986, 36; sehr weitgehend auch LG Hamburg ZfStrVo 2000, 252). Die Anordnung einer Rektoskopie zum Auffinden von Betäubungsmitteln kann – vollzuglich – nur dann auf § 101 Abs. 1 gestützt werden, wenn die Gesundheitsfürsorge dies tatsächlich erfordert (OLG Stuttgart BlStV 2/1997, 7 = NStZ 1992, 378 B). Auch eine sog. qualifizierte Durchsuchungsanordnung gem. § 84 Abs. 2 vermag das Suchen nach verschluckten oder sonst im Körperinneren befindlichen Gegenständen in keinem Fall zu umfassen. Ein Eingriff in das haut- und muskelumschlossene Innere kommt auch bei einem Gefangenen nur auf der Grundlage einer von einem Richter angeordneten Untersuchung nach § 81a StPO in Betracht. Liegt eine entsprechende richterliche Anordnung zur rektal-digitalen Untersuchung eines Strafgefangenen nach dessen Rückkehr in die JVA aus einem Hafturlaub vor, kann der Anstaltsleiter insoweit im Wege der Amtshilfe bei der Umsetzung des gerichtlichen Beschlusses tätig werden (Art. 35 Abs. 1 GG i. V. m. – z. B. – § 4 Abs. 1 ThürVwVfG). Der Anstaltsleiter kann hierzu wiederum seinen (beamteten) Anstaltsarzt heranziehen. Hat dieser Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit einer Anordnung, hat er nur die Möglichkeit zu remonstrieren. Hält der Anstaltsleiter (als Dienstvorgesetzter) seine Anordnung aufrecht, ist der Anstaltsarzt aufgrund seiner Weisungsgebundenheit auch verpflichtet, diese zu befolgen. Tut er das nicht, begeht er ein Dienstvergehen – z. B. nach § 58 Satz 2 ThürBG (VG Meiningen MedR 2007, 423, das allerdings übergeht, dass der Anstaltsleiter letztlich selbst nicht mehr „wusste“, was und auf welcher Rechtsgrundlage er eigentlich „angeordnet“ hatte). Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Strafvollzug erlaubt es einem Gefangenen islamischen Glaubens letztlich nicht, eine körperliche Durchsuchung und Entkleidung zu verweigern (ebenso Arloth 2008 Rdn. 5 unter zutreffender Hinweis auch auf die Gefahr des Missbrauchs als lebende „Bunker“ für andere Gefangene; a. A. OLG Koblenz NStZ 1986, 238 mit krit. Anm. Rassow; a. A. auch AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 5). Die noch in der Vorauflage vertretene Auffassung wird aufgegeben.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 91 BayStVollzG ist weitgehend inhaltsgleich und wortgleich mit § 84 StVollzG; neu 8 ist lediglich die Einschränkung der Einschränkung in Absatz 1 Satz 2 a. E., die wie folgt lautet: „dies gilt nicht für das Absuchen der Gefangenen mit technischen Mitteln oder mit sonstigen Hilfsmitteln“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] Klarstellung [. . .], dass auch das Absuchen mit technischen Hilfsmitteln oder sonstigen Hilfsmitteln (z. B. passiv verweisender Rauschgiftspürhund) als milderes Mittel zulässig ist. Der Begriff der Durchsuchung entspricht grundsätzlich dem des Polizei- und Strafprozessrechts. Danach besteht das Durchsuchen der Gefangenen im Suchen nach Sachen oder Spuren in oder unter der Kleidung sowie auf der Körperoberfläche und in Körperhöhlen und Körperöffnungen, die ohne Eingriff mit medizinischen Hilfsmitteln zu sehen sind. Das Absuchen der Gefangenen nach Metallgegenständen mit einem Detektorrahmen oder einer Handdtetektorsonde ist auch eine Durchsuchung im Sinn dieser Vorschrift, darf aber auch von Personen anderen Geschlechts durchgeführt werden“ (LT-Drucks. 15/8101, 68). Siehe Kommentierung Rdn. 2.
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§ 70 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 lautet wie folgt: „Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt dürfen Gefangene, ihre Sachen und die Hafträume jederzeit durchsucht werden, die Sachen und die Hafträume auch in Abwesenheit der Gefangenen. Zur Unterstützung der Durchsuchung dürfen technische Mittel eingesetzt werden, bei der Durchsuchung der Sachen und Hafträume auch Spürhunde. Die Durchsuchung männlicher Gefangener darf nur von Männern, die Durchsuchung weiblicher Gefangener darf nur von Frauen vorgenommen werden. Das Schamgefühl ist zu schonen“. In der ergänzend heranzuziehenden Gesetzesbegründung zum gleichlautenden § 71 HmbStVollzG a. F. hieß es hierzu: „Absatz 1 entspricht weitgehend § 84 Absatz 1 StVollzG. Die Vorschrift stellt ergänzend klar, dass die Sachen der Gefangenen und die Hafträume zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt jederzeit durchsucht werden dürfen und dass zur Unterstützung der Durchsuchung technische Mittel eingesetzt werden dürfen, bei der Durchsuchung der Sachen und Hafträume auch Spürhunde. Dieses Vorgehen entspricht seit Jahren der bewährten Praxis im Hamburger Strafvollzug. Die Neuregelung soll diese Praxis, deren Beibehaltung aus Sicherheitsgründen unverzichtbar ist, nunmehr ausdrücklich legitimieren“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 46). Abs. 2 ist (nunmehr) inhalts- und weitgehend wortgleich mit § 84 Abs. 2 StVollzG. Entsprechend der Gesetzesbegründung „bestimmt Absatz 2, dass körperliche Durchsuchungen mit Entkleidung in einem geschlossenen Raum durchzuführen sind. Die Regelung des derzeit geltenden § 71 Absatz 2 HmbStVollzG, nach dem solche Durchsuchungen auch in einem von Unbeteiligten nicht einsehbaren räumlichen Bereich – der also nicht zwingend ein geschlossener Raum sein muss – durchgeführt werden können, ist für die Schonung des Schamgefühls im Einzelfall nicht ausreichend. So sind die Durchsuchungen häufig auch akustisch zu vernehmen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 58). In der Begründung zu § 71 HmbStVollzG a. F. hatte es demgegenüber geheißen: „Die Vorschrift folgt damit einem dringenden Bedürfnis der Praxis. Sie ist vertretbar, weil auch in diesen Fällen das Schamgefühl zu schonen ist und andere Gefangene nicht anwesend sein dürfen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 46). Abs. 3 ist weitgehend inhalts- und wortgleich mit § 84 Abs. 3 StVollzG, ersetzt die dortige Vorgabe „nach jeder Abwesenheit von der Anstalt“ aber durch „nach jeder Abwesenheit von ihrer Unterkunft in der Anstalt“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 3 übernimmt die Regelung des derzeit geltenden § 71 Absatz 3 HmbStVollzG. In der Praxis wird indes nicht zu verkennen sein, dass die Anstaltsleitung für die allgemeine Anordnung körperlicher Durchsuchungen mit Entkleidung in besonderer Weise den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten hat“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 58). In der ergänzend heranzuziehenden Begründung zu § 71 HmbStVollzG a. F. heißt es: „Absatz 3 entspricht weitgehend der Regelung in § 84 Absatz 3 StVollzG, ermächtigt die Anstaltsleitung jedoch, u. a. nicht erst für jeden Fall der Abwesenheit von der Anstalt Durchsuchungen nach Absatz 2 anzuordnen, sondern bereits für jede Abwesenheit von der Unterkunft der Gefangenen in der Anstalt. Die Vorschrift folgt auch insoweit einem dringenden Bedürfnis der Praxis. In großen Anstalten mit mehreren Hafthäusern und zentralen Arbeitsgebäuden, in denen zahlreiche Gefangene aus unterschiedlichen Anstaltsbereichen regelmäßig zusammentreffen, trägt diese Befugnis zu einer entscheidenden Verbesserung der Sicherheitslage bei“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 46).
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Sichere Unterbringung
§ 85
3. Niedersachsen § 77 NJVollzG ist weitgehend inhaltsgleich und wortgleich mit § 84 StVollzG; neu ist 10 lediglich die Einschränkung der Einschränkung in Abs. 1 Satz 3, der wie folgt lautet: „Satz 2 gilt nicht für das Absuchen mittels technischer Geräte ohne unmittelbaren körperlichen Kontakt“. In der Gesetzesbegründung (S. 268) heißt es hierzu: „Es ist zwar zutreffend, dass das Absuchen von Gefangenen mit Handdetektorsonden oder Detektorrahmen nach wohl herrschender Meinung eine Durchsuchung im Sinne von § 84 StVollzG darstellt [. . .]. Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht. Vielmehr handelt es sich bei dem Absuchen der Gefangenen mit den vorgenannten technischen Mitteln, ähnlich den Sicherheitskontrollen an Flughäfen u. ä., um eine allgemeine Überwachungsmaßnahme, die als solche mangels notwendigen körperlichen Kontaktes noch nicht in die Intimsphäre der Gefangenen eingreift. Erst wenn sich auf Grund des Absuchens ein Verdacht ergibt, der Anlass zu tatsächlichen Durchsuchungshandlungen von Vollzugsbediensteten bei den Gefangenen bietet, ist die Vorschrift einschlägig [. . .]. Dies kann in einer Verwaltungsvorschrift deutlich gemacht werden, um den Bedürfnissen der Praxis Rechnung zu tragen“ (LT-Drucks. 15/3565, 149). Siehe Kommentierung oben Rdn. 2.
§ 85 Sichere Unterbringung Ein Gefangener kann in eine Anstalt verlegt werden, die zu seiner sicheren Unterbringung besser geeignet ist, wenn in erhöhtem Maß Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst sein Verhalten oder sein Zustand eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellt. VV Die Verlegung bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde, wenn der Gefangene in eine nach dem Vollstreckungsplan nicht zuständige Anstalt verlegt werden soll. In Niedersachsen gilt aufgrund der AV d. MJ v. 26.04.1995 – 1240 – 203.6 – Nds. Rpfl. S. 121 – VORIS 31610 00 00 00 005 – folgende Fassung: Die Anstaltsleitung berichtet der Aufsichtsbehörde, wenn Gefangene in eine nach dem Vollstreckungsplan nicht zuständige Anstalt verlegt werden. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
1 2–3 4–6
Rdn. 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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§ 85
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift gibt über die allgemeine Regelung des § 8 hinaus eine weitere Möglichkeit zur Verlegung (vgl. § 8 Rdn. 1 und § 69 Rdn. 11) eines Gefangenen. Sie erlaubt es, solche Gefangene, die auf Dauer eine schwere Belastung für eine Vollzugsanstalt darstellen, in eine andere Anstalt zu verlegen. Als Ausnahmeregelung gehandhabt dient dies erfahrungsgemäß dem zur Erreichung des Vollzugsziels erforderlichen Behandlungsklima in den Anstalten und bietet oft auch dem verlegten Gefangenen in der anderen Anstalt die Chance eines neuen Anfangs. Zu bedenken ist indes, dass die Verlegung eines Strafgefangenen in eine andere Anstalt ohne seinen Willen stets in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG eingreift, wobei dieser Eingriff mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen – alle seine innerhalb der JVA entwickelten sozialen Beziehungen werden praktisch abgebrochen – verbunden sein kann (BVerfG NStZ 2007, 170; BVerfG StV 2006, 146; BVerfG NStZ 1993, 300). Zur Einweisung sog. gefährlicher Gefangener in eine bestimmte Anstalt aufgrund Vollstreckungsplans vgl. OLG Stuttgart LS ZfStrVo 1985, 191. Zur Verlegung innerhalb derselben Anstalt vgl. Rdn. 2 a. E.
II. Erläuterungen 2
1. Voraussetzung ist erhöhte Fluchtgefahr des Gefangenen oder sein Verhalten oder sein Zustand, die eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) darstellen. Diese Gründe entsprechen denen in § 88 Abs. 1 und Abs. 3. Die Gefahr eines Selbstmordes oder einer Selbstverletzung rechtfertigt demnach eine Verlegung (LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1979, 88; a. A. Brühl/Feest 2006 Rdn. 5). Auch der Umstand, dass ein Inhaftierter von Mitinsassen der Anstalt eines bestimmten Verhaltens (z. B. der Beschädigung eines im Freizeitraum befindlichen Billardtisches) verdächtigt wird und hierdurch eine erhebliche Unruhe sowie die Gefahr einer Eskalation mit dem latenten Risiko von Übergriffen entstanden ist, kann grundsätzlich als ein sicherheits- und ordnungsgefährdender Zustand des Verdächtigen aufgefasst werden (OLG Hamburg ZfStrVo 1991, 312 = BlStV 4/1992, 1; wie hier auch Arloth 2008 Rdn. 2; a. A. KG vom 27.8.2007 – 2/5 Ws 376/06 Vollz; offengelassen in BVerfG NStZ 2007, 170). Dabei sind jedoch die Grundsätze rechtsstaatlicher Zurechnung zu beachten. Damit unvereinbar ist es, wenn die Gefahr, dass bestimmte Personen sich in rechtswidriger Weise verhalten, nicht „im Regelfall“ vorrangig diesen Personen zugerechnet und nach Möglichkeit durch ihnen gegenüber zu ergreifenden Maßnahmen abgewehrt wird, sondern „ohne weiteres“ Dritte oder gar die potentiellen Opfer des drohenden rechtswidrigen Verhaltens zum Objekt eingreifender Maßnahmen der Gefahrenabwehr gemacht werden (BVerfG NStZ 2007, 170; BVerfG StV 2006, 146). Rechtsstaatliche Zurechnung muss vielmehr stets darauf ausgerichtet sein, nicht rechtswidriges, sondern rechtmäßiges Verhalten zu begünstigen (vgl. BVerfG DVBl 2006, 910). Dem läuft es „grundsätzlich“ zuwider, wenn Maßnahmen zur Abwehr drohenden rechtswidrigen Verhaltens nicht vorrangig gegen den oder die Störer, sondern „ohne weiteres“ gegen den von solchem rechtswidrigem Verhalten potentiell Betroffenen ergriffen werden. Besondere Umstände, die ein derartiges Vorgehen „ausnahmsweise“ rechtfertigen könnten, sind denkbar, sie müssen jedoch entweder ersichtlich sein oder nachvollziehbar geltend gemacht werden (BVerfG NStZ 2007, 170). – Die Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen steht nicht im Ermessen der Vollzugsbehörde und ist in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar (OLG Celle ZfStrVo 1981, 316 = NStZ 1981, 407; AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 7; a. A. Arloth 2008 Rdn. 2). Die Begriffe „Sicherheit und Ordnung“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die der richterlichen Kontrolle unterliegen. Das Gericht hat insbesondere zu prüfen, ob die Vollzugsbehörde bei ihrer Entscheidung von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen
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Sichere Unterbringung
§ 85
ist (LG Koblenz StV 1998, 42). – Erst wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, hat die Behörde nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, ob der Gefangene verlegt werden soll. Dabei ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Verlegung eines Gefangenen „gegen dessen Willen“ ist daher auch bei Vorliegen einer Gefahr i. S. von § 85 nur zulässig, wenn dieser Gefahr in der JVA nicht mit milderen Mitteln angemessen begegnet werden kann (BVerfG NStZ 2007, 170; vgl. auch BVerfG StV 2006, 146). Die Frage, ob die Anstalt, in die er verlegt werden soll, zu einer sicheren Unterbringung besser geeignet ist, ist ebenfalls vom Gericht in vollem Umfange nachprüfbar (OLG Celle aaO; OLG München ZfStrVo SH 1979, 87). Es kommen Anstalten gleichen Sicherheitsgrades (wenn der Gefangene z. B. von Mitgefangenen getrennt werden soll) oder Anstalten höheren Sicherungsgrades (bei besonders gewalttätigen Insassen und Ausbrechern) in Betracht. Die konstante Weigerung eines Gefangenen, Anstaltskleidung zu tragen, kann eine andauernde Gefahr für die Ordnung der Anstalt und im Einzelfall erhöhte Fluchtgefahr begründen und daher eine Verlegung rechtfertigen, wobei eine erschwerte Besuchsabwicklung hinter der sicheren Unterbringung zurücktreten muss (OLG Bremen LS BlStV 3/1984, 7). – Für die Verlegung in eine Anstalt des Maßregelvollzuges ist nicht § 85, sondern § 9 anzuwenden (RegE, BT-Drucks. 7/918, 77; C/MD 2008 Rdn. 1). Die Rückverlegung aus Behandlungsgründen ist am Maßstab des § 9 Abs. 1 Satz 2, die Rückverlegung aus Sicherheitsgründen am Maßstab des § 85 zu orientieren (vgl. § 9 Abs. 3). – In der Regel wird der Gefangene bei einer Entscheidung nach § 85 in eine nach dem Vollstreckungsplan nicht zuständige Anstalt verlegt. In diesem Falle bedarf die Verlegung nach der VV der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. Wegen der Unterbringung eines entwichenen Gefangenen nach Wiederergreifung KG NStZ 1983, 47. Die Verlegung in einen stärker gesicherten Bereich innerhalb derselben Anstalt stellt in der Regel keine Maßnahme nach § 85 dar und darf vom Anstaltsleiter nach pflichtgemäßem Ermessen angeordnet werden, z. B. bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Drogenhandel (KG NStZ 1999, 446 M; ähnlich bereits KG NStZ 1998, 397, 399 M und KG 1989, 479; Arloth 2008 Rdn. 1). Etwas anderes gilt allerdings bei Verlegungen in eine Zweigstelle, wenn wegen der großen räumlichen Entfernung (z. B. 200 Kilometer) mit der Verlegung eine Unterbrechung der bisherigen Sozialkontakte einhergeht (OLG Celle NStZ-RR 2007, 192; a. A. LG Köln NStZ 1983, 431). 2. Der vom Gesetzgeber in § 85 getroffenen Entscheidung steht die Einrichtung von 3 einer der geschlossenen Anstalt angegliederten Hochsicherheits-(„High Security-“)Abteilung für terroristische Gefangene nicht entgegen, solange sich solche Institutionen nicht nachteilig für die übrigen Gefangenen auswirken und der Behandlungsvollzug nicht beeinträchtigt wird (ebenso Arloth 2008 Rdn. 1). Der Ansicht von C/MD 2008 Rdn. 2, dass solche Abteilungen wie auch sog. „Sicherheitsabteilungen“ (bei Unterbringung aufgrund einer Anordnung gem. § 88) „notwendig auf die gesamte Struktur des übrigen Vollzuges in der Anstalt zurückschlagen“, kann nicht zugestimmt werden. Die Konzentration solcher gefährlicher Gefangenen auf besondere Abteilungen einiger weniger geschlossener Vollzugsanstalten dürfte vielmehr gerade dem Sinn des § 85 entsprechen und erscheint zur Durchführung des Resozialisierungsvollzugs an den anderen Gefangenen geradezu unerlässlich (krit. hingegen AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 4; vgl. auch Grunau/Tiesler Vorb. vor § 81 Rdn. 3). Zur Sinnhaftigkeit eines „Verlegungskarussells“ bei besonders gefährlichen, aggressiven und personalintensiven Gefangenen vgl. Arloth 2008 Rdn. 1; krit. auch dazu AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 3.
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§ 85
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 92 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 85 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 9 HmbStVollzG ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 entspricht im Wesentlichen § 8 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 hat folgenden Wortlaut: „Die Gefangenen dürfen auch verlegt werden, wenn in erhöhtem Maß Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst ihr Verhalten, ihr Zustand oder ihre Kontakte zu anderen Gefangenen eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellen und die aufnehmende Anstalt wegen der mit der Verlegung bewirkten Veränderungen der Haftverhältnisse oder wegen höherer Sicherheitsvorkehrungen zur sicheren Unterbringung der Gefangenen besser geeignet ist“. In der ergänzend heranzuziehenden (vgl. Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 53) Gesetzesbegründung zu § 9 HmbStVollzG a. F. heißt es dazu: „Absatz 2 erfasst entsprechend § 85 StVollzG ausschließlich Verlegungen aus Sicherheitsgründen, erweitert aber den Regelungsumfang. Nach § 9 Absatz 2 dürfen Gefangene über die Voraussetzungen des § 85 StVollzG hinaus auch dann verlegt werden, wenn die Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt aus den Kontakten dieser Gefangenen zu anderen Gefangenen herrührt und die aufnehmende Anstalt unter anderem wegen der mit der Verlegung bewirkten Veränderungen der Haftverhältnisse bereits zur sicheren Unterbringung der Gefangenen besser geeignet ist. Die ergänzende Regelung reagiert auf ein dringendes Bedürfnis der Praxis, Gefangene auch dann verlegen zu dürfen, wenn ihre belegbaren subkulturellen Verflechtungen innerhalb einer Anstalt, etwa im Zusammenhang mit dem anstaltsinternen Handel mit illegalen Drogen oder im Zusammenhang mit zureichenden Anhaltspunkten für Ausbruchsvorbereitungen, die Verlegung geboten erscheinen lassen und die aufnehmende Anstalt in diesen Fällen deshalb zur sicheren Unterbringung der Gefangenen besser geeignet ist, weil die Gefangenen mit der Verlegung aus den vertrauten und im Einzelfall auch beherrschten subkulturellen Strukturen herausgelöst und in einer ihnen fremden vollzuglichen Umgebung mit neuen, ihnen nicht vertrauten Gebäude-, Organisations- und Personalstrukturen untergebracht werden. Allein damit wird die Sicherheitslage bereits nachhaltig verbessert. Es kommt in diesen Fällen nicht mehr darauf an, dass die aufnehmende Anstalt außerdem über höhere Sicherheitsvorkehrungen als die abgebende Anstalt verfügt“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 33). Abs. 3 entspricht im Wesentlichen § 8 Abs. 2 StVollzG. Abs. 4 lautet wie folgt: „§ 92 bleibt unberührt“. In der ergänzend heranzuziehenden Begründung zu § 9 HmbStVollzG a. F. heißt es: „Absatz 4 stellt klar, dass neben einer Verlegung nach § 9 unter den Voraussetzungen des § 93 auch eine Rückverlegung angeordnet werden kann“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 33). Abs. 5 (ausgelassene Regelung zur Ausantwortung an Polizeibehörden). 3. Niedersachsen
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Verlegungen zur sicheren Unterbringung sind in § 10 Absatz 1 Nr. 3 und Nr. 4 NJVollzG geregelt, der folgenden Wortlaut hat: „Die oder der Gefangene kann abweichend vom Vollstreckungsplan in eine andere Anstalt verlegt werden, wenn [. . .] 3. ihr oder sein Verhalten oder Zustand eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt oder eine schwer wiegende Störung
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Erkennungsdienstliche Maßnahmen
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der Ordnung darstellt und diese durch die Verlegung abgewehrt wird, 4. ohne Rücksicht auf ihr oder sein Verhalten oder ihren oder seinen Zustand eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt oder eine schwer wiegende Störung der Ordnung nicht anders abgewehrt werden kann, [. . .]“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Gegenüber der bisherigen Regelung in § 85 StVollzG sind in Absatz 1 Nr. 3 die Möglichkeiten einer Verlegung aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erweitert worden. Aus Ordnungsgründen ist eine Verlegung nur möglich, wenn eine schwer wiegende Störung eingetreten ist und mit der Verlegung auch tatsächlich beseitigt werden kann. In der Regel werden hiervon nur störende Gefangene betroffen sein. Unter die Tatbestandsvariante einer Gefahr für die Sicherheit der Anstalt sind zunächst die Fallkonstellationen des § 85 StVollzG zu fassen. Darüber hinaus genügt aber auch eine abstrakte Gefahrenlage, deren Anknüpfungspunkte zum Beispiel der Fluchtversuch in einer früheren Inhaftierung oder allgemeine Merkmale sein können wie die Vollzugsdauer, die voraussichtliche Straferwartung, die kriminelle Entwicklung oder die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, die in den Straftaten zum Ausdruck kommt, die in der laufenden Inhaftierung zu vollstrecken sind oder wegen denen Haftbefehl erlassen worden ist. Wie Absatz 1 Nr. 2 trägt auch diese Vorschrift dazu bei, eine strukturelle Übersicherung des geschlossenen Vollzuges zu vermeiden. Nachteilige Wirkungen für die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 des Entwurfs sind bei der Ausübung des Ermessens angemessen zu berücksichtigen. [. . .] Nach der bisherigen Regelung in § 85 StVollzG waren die Voraussetzungen für eine Verlegung aus Sicherheitsgründen, wie sie von der Rechtsprechung interpretiert wurden, zu eng. So ist es gegenwärtig Voraussetzung für eine Verlegung nach § 85 StVollzG, dass von dem betreffenden Gefangenen selbst eine konkrete Gefahr ausgehen muss, die sich auch bereits in bestimmten Umständen manifestiert haben muss (z. B. in einem tatsächlichen Fluchtversuch). Durch die vorgesehene Neuregelung soll es ermöglicht werden, auch bereits abstrakte Gefahren [. . .] sowie Situationen zu erfassen, in denen die Gefahr nicht unmittelbar von dem Gefangenen selbst ausgeht. Selbstverständlich werden aber auch weiterhin der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Vollzugsziel der sozialen Integration sowie der Grundsatz zu beachten sein, dass Maßnahmen der Gefahrenabwehr in der Regel gegen die sich rechtswidrig verhaltende Person (den „Störer“) zu richten sind [. . .].Hinsichtlich von Gefahren für die Ordnung der Anstalt sollen die Tatbestandsvoraussetzungen im Übrigen gegenüber § 85 StVollzG noch verschärft werden“ (LT-Drucks. 15/3565, 93 f).
§ 86 Erkennungsdienstliche Maßnahmen (1) Zur Sicherung des Vollzuges sind als erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig 1. die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken, 2. die Aufnahme von Lichtbildern mit Kenntnis des Gefangenen, 3. die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale, 4. Messungen. (2) Die gewonnenen erkennungsdienstlichen Unterlagen werden zu den Gefangenenpersonalakten genommen. Sie können auch in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt werden. Die nach Absatz 1 erhobenen Daten dürfen nur für die in
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§ 86
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Absatz 1, § 87 Abs. 2 und § 180 Abs. 2 Nr. 4 genannten Zwecke verarbeitet und genutzt werden. (3) Personen, die aufgrund des Absatzes 1 erkennungsdienstlich behandelt worden sind, können nach der Entlassung aus dem Vollzug verlangen, dass die gewonnenen erkennungsdienstlichen Unterlagen mit Ausnahme von Lichtbildern und der Beschreibung von körperlichen Merkmalen vernichtet werden, sobald die Vollstreckung der richterlichen Entscheidung, die dem Vollzug zugrunde gelegen hat, abgeschlossen ist. Sie sind über dieses Recht bei der erkennungsdienstlichen Behandlung und bei der Entlassung aufzuklären. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Die Stellung des § 86 im Gesetz macht deutlich, dass die hier geregelten erkennungsdienstlichen Maßnahmen nur zur Sicherung des Vollzuges (allgemein § 81 Rdn. 1) zulässig sind. Die Vorschrift ist die gesetzliche Ermächtigung für die in Nr. 23 VGO erwähnten Maßnahmen. Die Aufnahme, Speicherung und Nutzung von Lichtbildern zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt ist Gegenstand der Folgevorschrift (§ 86a). Die Verpflichtung eines Gefangenen, einen Lichtbildausweis mit sich zu führen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist, ist in § 180 Abs. 1 Satz 2 geregelt (§ 180 Rdn. 10).
II. Erläuterungen 2
1. Die in Abs. 1 bezeichneten Maßnahmen sollen vor allem dazu dienen, die Fahndung und Wiederergreifung flüchtiger Gefangener zu erleichtern. Sie dienen im übrigen nur zur Sicherung des Vollzuges der Freiheitsstrafe, d. h. der Gewährleistung des durch den Freiheitsentzug begründeten Gewahrsams, nicht aber der Schaffung geordneter Verhältnisse innerhalb der Anstalt (OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 56). Die Maßnahmen sind an keine Mindestvollzugsdauer geknüpft (vgl. BT-Drucks. 7/3998, 33: Der SA hatte ein Jahr Mindestvollzugsdauer vorgeschlagen). Aus der Fassung „sind zulässig“ ergibt sich, dass die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet ist, die genannten Maßnahmen zu ergreifen. Dies liegt in ihrem Ermessen. Der Gesetzgeber wollte erkennungsdienstliche Maßnahmen nicht generell zum Bestandteil des Aufnahmeverfahrens machen (vgl. Prot., S. 1923; C/MD 2008 Rdn. 1). Es wäre aber eine Überforderung für die Praxis, in jedem Einzelfalle die Notwendigkeit der Anordnung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu prüfen (so die Ansicht von C/MD 2008 und AK-Brühl/Feest 2008 Rdn. 3), zumal Gründe für eine Fluchtgefahr zu Beginn des Vollzuges in der Regel noch nicht erkennbar sein können. Neben früherer Flucht oder Fluchtversuchen oder Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung ist daher auch längere Vollzugsdauer zur Begründung von Maßnahmen nach § 86 ausreichend (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 29; Arloth 2008 Rdn. 1). Dieser Erkenntnis trägt Nr. 23 VGO Rechnung.
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Erkennungsdienstliche Maßnahmen
§ 86
Nur bei Strafgefangenen mit einer Vollzugsdauer von mehr als einem Monat wird eine Personenbeschreibung aufgenommen. Lichtbilder werden nach einer Anordnung aller Landesjustizverwaltungen seit September 1987 bei der Erstaufnahme von allen Untersuchungs- und Strafgefangenen (nicht nur bei Vollzugsdauer von mehr als einem Jahr – vgl. Nr. 23 Abs. 2 VGO –) und Sicherungsverwahrten aufgenommen und zu den Personalakten genommen. Die Anfügung der Wörter „mit Kenntnis des Gefangenen“ in Abs. 1 Nr. 3 erfolgte durch das 6. StVollzGÄndG mit Wirkung zum 6.10.2002 (BGBl. I, 3954). Sie dient lediglich der Klarstellung. Die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken ist in der VGO nicht vorgesehen und findet in der Praxis auch nicht statt, weil sie sinnlos ist und diskriminierend wirkt (a. A. wohl Arloth 2008 Rdn. 2). Die Abnahme von Fingerabdrücken bei Selbststellern zur Identitätsprüfung – so in ergänzenden Bestimmungen von Hessen zu Nr. 25 VGO vorgesehen – ist durch § 86 nicht gerechtfertigt. Die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale (z. B. Tätowierungen; krit. dazu AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 2) sowie Messungen (Größe, Gewicht) erfolgen ohnehin durch den Anstaltsarzt im Rahmen der Untersuchung gem. § 5 Abs. 2. Allenfalls die Aufnahme eines Lichtbildes könnte bei den Gefangenen zu einer „Abwehrhaltung“ oder „Abneigung gegen Beamte“ führen (so AKBrühl/Feest 2006 Rdn. 4). Nach Aufnahme von Lichtbildern sollte von Zeit zu Zeit überprüft werden, ob diese noch dem Aussehen des Gefangenen entsprechen (Bart, Haarwuchs). Sämtliche bislang in Kraft getretene Landesgesetze sehen zusätzlich die Erfassung biometrischer Merkmale vor (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 BayStVollzG, § 72 Abs. 1 Nr. 2 HmbStVollzG, § 78 Abs. 1 Nr. 2 NJVollzG; vgl. Rdn. 6 ff. 2. Gem. Abs. 2 Satz 1 und 2 werden die nach Abs. 1 gewonnenen Unterlagen zu den 3 Personalakten des Gefangenen (vgl. dazu § 108 Rdn. 9; § 115 Rdn. 7; § 185 Rdn. 1 ff) genommen oder in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt. Eine „Akte“ i. S. d. Vorschrift kann auch in elektronischer Form geführt werden. Entscheidend ist nicht das Medium, auf dem eine Datensammlung geführt wird, also Papier oder elektronisches Ablegen (a. A. OLG Hamm ZfStrVo 2001, 315 = NStZ 2002, 530 M und OLG Celle NStZ 2003, 54). Es kommt auf den Inhalt bzw. die Art der Datensammlung an. Des Rückgriffs auf eine „Analogie“ (so Bothge ZfStrVo 2001, 333) bedarf es nicht. Demzufolge können Lichtbilder durchaus in elektronisch geführte Gefangenenpersonalakten aufgenommen werden, sofern diese den gleichen Zugriffsbeschränkungen wie Personalakten in Papierform unterliegen (wie hier Tolzmann NStZ 2003, 55f in Anm. zu OLG Hamm und OLG Celle aaO). § 86 kann als Rechtsgrundlage aber nur dann herangezogen werden, wenn die Aufnahme zu „erkennungsdienstlichen Zwecken“ erfolgt ist (ausführlich dazu unten Rdn. 4). Gem. Abs. 2 Satz 3 (durch das 4. StVollzGÄndG mit Wirkung zum 1.12.1998 eingefügt) 4 dürfen die nach Abs. 1 erhobenen Daten nur für bestimmte Zwecke verarbeitet und genutzt werden, u. a. für Zwecke der Fahndung und Festnahme nach Entweichung oder Nichtrückkehr vom Urlaub/Ausgang (§ 87 Abs. 2) sowie zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten und solcher Ordnungswidrigkeiten, durch welche die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet wird (§ 180 Abs. 2 Nr. 4). Nach dieser Vorschrift nicht zulässig ist hingegen die Aufnahme von Lichtbildern zu dem allgemeinen Zweck der „Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt“ (insoweit zutreffend OLG Hamm ZfStrVo 2001, 315 und OLG Celle NStZ 2003, 54). Diese Lücke hat der Gesetzgeber inzwischen geschlossen. Durch das 6. StVollzGÄndG wurde mit Wirkung zum 6.10.2002 der dies regelnde § 86a eingefügt. Nach Abs. 3 (Neufassung des 4. StVollzGÄndG) kann der Gefangene nach seiner Entlas- 5 sung die Vernichtung der gewonnenen erkennungsdienstlichen Unterlagen mit Ausnahme von Lichtbildern und der Beschreibung von körperlichen Merkmalen verlangen, sobald die
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§ 86
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Vollstreckung abgeschlossen ist. Der vorzeitig entlassene Gefangene hat erst nach erfolgreicher Beendigung der Bewährungszeit einen Anspruch auf Vernichtung der Unterlagen. Gem. Abs. 3 Satz 2 ist er bei der erkennungsdienstlichen Behandlung und bei der Entlassung über seinen Anspruch aufzuklären (vgl. Nr. 23 Abs. 4 VGO).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Sämtliche erkennungsdienstliche Maßnahmen sind in Art. 93 BayStVollzG geregelt, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Zur Sicherung des Vollzugs, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder zur Identitätsfeststellung sind mit Kenntnis der Gefangenen zulässig 1. die Aufnahme von Lichtbildern, 2. die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale, 3. Messungen, 4. die Erfassung biometrischer Merkmale von Fingern, Händen, Gesicht und Stimme“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Abs. 1 regelt die zulässigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen abschließend. [. . .] Die Erfassung biometrischer Daten ist die sicherste Methode, die Identität einer Person festzustellen. Sie ist technisch ausfereift, einfach handhabbar und wird deshalb außerhalb des Vollzugs in Sicherheitsbereichen bereits angewendet (vgl. z. B. § 4 Abs. 3 Satz 1 PaßG)“ (LT-Drucks. 15/8101, 68). Abs. 2 hat folgenden Wortlaut: „Die hierbei gewonnenen Unterlagen oder Daten werden zu den Gefangenenpersonalakten genommen oder in personenbezogenen Dateien gespeichert. Sie können auch in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt werden. Die nach Abs. 1 erhobenen Daten dürfen nur für die in Abs. 1, Art. 95 Abs. 2 und Art. 197 Abs. 2 Nr. 4 genannten Zwecke verarbeitet und genutzt werden“. § 86 Abs. 3 Satz 1 StVollzG ist ersatzlos entfallen. In der Gesetzesbegründung (S. 79) heißt es hierzu: „Das Recht der Gefangenen auf Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen aus § 86 Abs. 3 Satz 1 StVollzG hat in der Praxis keine Bedeutung erlangt und war außerdem durch Herausnahme der Lichtbilder und der festgestellten körperlichen Merkmale praktisch inhaltsleer. Auf eine entsprechende Regelung wurde daher verzichtet“ (LT-Drucks. 15/8101, 68). 2. Hamburg
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Erkennungsdienstliche Maßnahmen sind in § 71 HmbStVollzG geregelt, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 lautet: „Zur Sicherung des Vollzuges, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder zur Identitätsfeststellung sind mit Kenntnis der Gefangenen zulässig 1. die Aufnahme von Lichtbildern, 2. die Erfassung biometrischer Merkmale von Fingern, Händen, Gesicht und Stimme, 3. die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale, 4. Körpermessungen.“ In der ergänzend heranzuziehenden Gesetzesbegründung zu § 72 HmbStVollzG a. F. heißt es hierzu: „Absatz 1 regelt die zur Sicherung des Vollzuges, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder zur Identitätsfeststellung zulässigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen abschließend“ (Bürgerschafts-Drucks. 16/6490, 46).
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Thomas Ullenbruch
Erkennungsdienstliche Maßnahmen
§ 86
Abs. 2 lautet: „Die gewonnenen Unterlagen und Daten werden zu den Gefangenenpersonalakten genommen oder in personenbezogenen Dateien gespeichert. Sie können auch in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt werden. Sie dürfen nur für die in Absatz 1, in § 73 Absatz 2 und § 120 Absatz 2 Nummer 4 sowie Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 fünfte Alternative und Satz 2 Nummer 2 genannten Zwecke verarbeitet werden“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 2 regelt nicht mehr die „Verarbeitung und Nutzung“ der durch die erkennungsdienstlichen Maßnahmen gewonnenen Daten und Unterlagen, sondern nur noch die Verarbeitung. Nach § 4 Absatz 2 Satz 1 des Hamburgischen Datenschutzgesetzes ist das Nutzen von Daten ein Unterfall der Datenverarbeitung. Weiter schränkt Absatz 2 aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Verarbeitung der durch die erkennungsdienstlichen Maßnahmen gewonnenen Daten und Unterlagen ein. Diese dürfen nur für Zwecke der Fahndung und der Festnahme entwichener oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhaltender Gefangener, zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhinderung oder Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, durch welche die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet werden, für Maßnahmen der Führungsaufsicht, zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung bei Hinweisen auf eine fortbestehende erhebliche Gefährlichkeit der Gefangenen für die Allgemeinheit oder für die in Absatz 1 genannten Zwecke verarbeitet werden“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 59). Abs. 3 lautet: Die in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten sind spätestens drei Jahre nach der Entlassung oder Verlegung der Gefangenen in eine andere Anstalt zu löschen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Absatz 3 enthält eine kürzere bereichsspezifische Löschungsfrist. Der Unterschied zu den Löschungsfristen nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen des vierten Teils ergibt sich aus der besonderen Sensibilität dieser Daten“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 59). 3. Niedersachsen Erkennungsdienstliche Maßnahmen sind in § 78 NJVollzG geregelt, der wie folgt auf- 8 gebaut ist: Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Zur Sicherung des Vollzuges, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder zur Identitätsfeststellung sind mit Kenntnis der oder des Gefangenen zulässig 1. die Aufnahme von Lichtbildern, 2. die Erfassung biometrischer Merkmale von Fingern, Händen, Gesicht, 3. Stimmaufzeichnungen, 4. Messungen des Körpers sowie 5. die Feststellung äußerlicher körperlicher Merkmale“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „In [. . .] ist nunmehr vorgesehen, unter welchen Voraussetzungen die Erhebung bestimmter Daten bei den Gefangenen zulässig ist. Der Katalog der Merkmale, die erfasst werden dürfen, wird in Absatz 1 Nr. 2 gegenüber § 86 Abs. 1 StVollzG um biometrische Daten von Gesicht und Stimme erweitert, Dies trägt den aktuellen Entwicklungen im Bereich erkennungsdienstlicher Maßnahmen auch in anderen Rechtsgebieten Rechnung“ (LT-Drucks. 15/3565, 150). Abs. 2 lautet wie folgt: „Die hierbei gewonnenen Unterlagen oder Daten werden zu der Gefangenenpersonalakte genommen oder mit dem Namen der oder des Gefangenen sowie deren oder dessen Aliasnamen, Geburtsdatum und Geburtsort in Dateien gespeichert. Sie können auch in kriminalpolizeilichen Sammlungen verwahrt werden. Die nach Absatz 1 er-
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§ 86a
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
hobenen Daten dürfen nur für die in Absatz 1, § 80 Abs. 2 und § 191 Abs. 3 Nr. 4 genannten Zwecke verarbeitet werden“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „[. . .] enthält allgemeine Regelungen über die Aufbewahrung oder sonstige Speicherung dieser Daten (Sätze 1 und 2; vgl. § 86 Abs. 2 Sätze 1 und 2 sowie § 86a Abs. 1 Satz 1 StVollzG) sowie die Zulässigkeit ihrer weiteren Verarbeitung und Nutzung (Satz 3; vgl. § 86 Abs. 2 Satz 3 StVollzG)“ (LT-Drucks. 15/3565, 150). § 86 Abs. 3 Satz 1 StVollzG ist ersatzlos entfallen (vgl. auch oben Rdn. 6). Eine Sonderregelung zur Nutzung der Daten ist in § 79 NJVollzG enthalten, der folgenden Worlaut hat: „Wenn es die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erfordert, kann die oder der Gefangene verpflichtet werden, einen Ausweis mit den in § 78 Abs. 1 genannten Daten mit sich zu führen oder eine erneute Erhebung der in § 78 Abs. 1 genannten Daten zum Zweck des Abgleichs mit nach § 78 Abs. 2 Satz 1 gespeicherten Daten zu dulden. Ausweise nach Satz 1 sind bei der Verlegung oder Entlassung der oder des Gefangenen zu vernichten“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „ [. . .] Sonderregelung über die Nutzung der in § 78 Abs. 1 aufgeführten Daten für Zwecke der Identitätsfeststellung innerhalb der Anstalt. Vorgesehen ist, dass die Gefangenen zu diesem Zweck verpflichtet werden können, Ausweise, d. h. in erster Linie Lichtbildausweise im Sinne des § 180 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, mit sich zu führen oder einen Datenabgleich (z. B. in Form eines Iris-Scans) zu dulden (Satz 1). Derartige Ausweise sind nach der Entlassung oder Verlegung zu vernichten (vgl. § 86a Abs. 3 StVollzG)“ (LT-Drucks. 15/3565, 150).
§ 86a Lichtbilder (1) Unbeschadet des § 86 dürfen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Lichtbilder der Gefangenen aufgenommen und mit den Namen der Gefangenen sowie deren Geburtsdatum und -ort gespeichert werden. Die Lichtbilder dürfen nur mit Kenntnis der Gefangenen aufgenommen werden. (2) Die Lichtbilder dürfen nur 1. genutzt werden von Justizvollzugsbediensteten, wenn eine Überprüfung der Identität der Gefangenen im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung erforderlich ist, 2. übermittelt werden a) an die Polizeivollzugsbehörden des Bundes und der Länder, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für erhebliche Rechtsgüter innerhalb der Anstalt erforderlich ist, b) nach Maßgabe des § 87 Abs. 2. (3) Die Lichtbilder sind nach der Entlassung der Gefangenen aus dem Vollzug oder nach ihrer Verlegung in eine andere Anstalt zu vernichten oder zu löschen. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . .
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Rdn. III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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Lichtbilder
§ 86a
I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift wurde durch das 6. StVollzGÄndG zum 6.10.2002 in Kraft gesetzt 1 (BGBl. I, 3954). Sie schafft eine Rechtsgrundlage für die Speicherung und Nutzung von Gefangenenlichtbildern in anstaltsinternen Dateien auch zum Zwecke der Identitätsfeststellung von Gefangenen durch die Vollzugsbediensteten. § 86 erlaubt entsprechende Aufnahmen nur zur Sicherung des Vollzuges, also z. B. bei Fluchtgefahr (vgl. § 86 Rdn. 4). Zur (sicheren) Steuerung und Verwaltung der Gefangenenbewegungen innerhalb einer modernen (d. h. „nach innen“ weitgehend „offenen“) JVA ist es aber häufig unverzichtbar, dass der (große) Mitarbeiterstab bei der schnellen Identifikation der Gefangenen auch auf Lichtbilder (in elektronischen Datenverarbeitungssystemen) zugreifen kann. Diese Lücke schließt die Vorschrift (zum Ganzen vgl. auch BT-Drucks. 14/9197 und 14/9423).
II. Erläuterungen 1. Die in Abs. 1 bezeichneten Maßnahmen sollen vor allem dazu dienen, den Bedienste- 2 ten die Identifizierung aller Gefangenen zu ermöglichen, um so einen möglichst reibungslosen Vollzugsalltag zu gewährleisten (Rdn. 1). Satz 1 ermächtigt die JVA deshalb zunächst zur Aufnahme von Lichtbildern zum Zwecke der „Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt“. Er erweitert den Adressatenkreis damit über die bereits von § 86 erfassten (Flucht-)Gefährlichen auf alle Gefangenen. Gleichzeitig stellt er zumindest klar, dass Lichtbilder nicht nur in Papierform in Gefangenenpersonalakten abgelegt, sondern auch in Gestalt (der elektronischen) Speicherung verarbeitet werden dürfen (zum Streitstand bei § 86 vgl. dort Rdn. 3). Er enthält schließlich eine (datenschutzrechtliche) Einschränkung dahingehend, dass das Lichtbild nur mit dem Namen sowie dem Geburtsdatum und -ort (nicht z. B. der Konfession) verbunden werden darf. Satz 2 stellt (wie § 86 Abs. 1 Nr. 2 n. F., s. dort Rdn. 2) außerdem klar, dass die Lichtbilder nur mit Kenntnis des Gefangenen aufgenommen werden dürfen. 2. In Abs. 2 Nr. 1 ist die Nutzung der gem. Abs. 1 aufgenommenen und verarbeiteten 3 Lichtbilder geregelt. Demnach darf auf diese nur von Justizvollzugsbediensteten (also z. B. nicht von ehrenamtlich in der JVA tätigen Betreuern) zugegriffen werden, nur zur Überprüfung der Identität der Gefangenen (also z. B. nicht aus Neugier, ob gerade zufällig ein Bekannter inhaftiert ist) und nur, soweit dies im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung erforderlich ist (also z. B. nicht aus Schikane). Durch die betont restriktive Festlegung soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden. 3. In Abs. 2 Nr. 2 ist geregelt, an welche Adressaten außerhalb der JVA und unter wel- 4 chen Voraussetzungen eine Übermittlung der gem. Abs. 1 aufgenommenen Lichtbilder zulässig ist. In Betracht kommen zum einen die Polizeivollzugsbehörden des Bundes und der Länder, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für erhebliche Rechtsgüter innerhalb der JVA erforderlich ist (Buchst. a)). In Betracht kommen zum anderen Polizei und Staatsanwaltschaft, sofern dies zur Wiederergreifung eines entwichenen oder aus einer Lockerung oder einem Urlaub nicht zurückgekehrten Gefangenen erforderlich ist (Buchst. b) i. V. m. § 87 Abs. 2). Die Regelung ist enumerativ. 4. In Abs. 3 ist geregelt, wann die nach Abs. 1 aufgenommenen Lichtbilder zu vernich- 5 ten oder zu löschen sind. Dies muss (unverzüglich) nach der Entlassung des Gefangenen aus dem Vollzug oder nach der Verlegung in eine andere JVA erfolgen; und zwar selbst dann, wenn eine Rückverlegung absehbar ist (Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 6). Thomas Ullenbruch
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§ 87
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Landesgesetze 6
Die Regelung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen ist in allen drei bislang in Kraft getretenen Ländergesetzen in einer Vorschrift zusammengefasst (vgl. § 86 Rdn. 6 ff).
§ 87 Festnahmerecht (1) Ein Gefangener, der entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhält, kann durch die Vollzugsbehörde oder auf ihre Veranlassung hin festgenommen und in die Anstalt zurückgebracht werden. (2) Nach § 86 Abs. 1 erhobene und nach §§ 86a, 179 erhobene und zur Identifizierung oder Festnahme erforderliche Daten dürfen den Vollstreckungs- und Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden, soweit dies für Zwecke der Fahndung und Festnahme des entwichenen oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhaltenden Gefangenen erforderlich ist. VV (1) Entweicht ein Gefangener, ist er unverzüglich und nachdrücklich zu verfolgen. Reichen die Mittel, die der Anstalt zur Verfügung stehen, nicht aus, so ist die Hilfe der Polizei und gegebenenfalls anderer Stellen in Anspruch zu nehmen. Führt die unmittelbare Verfolgung oder die von der Anstalt veranlasste Fahndung nicht alsbald zur Wiederergreifung, so sind weitere Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde zu überlassen. (2) Die Entweichung und die Maßnahmen, die zur Wiederergreifung des Entwichenen getroffen worden sind, zeigt der Anstaltsleiter unverzüglich – in der Regel fernmündlich voraus – der Aufsichtsbehörde an. Der Anstaltsleiter unterrichtet die Aufsichtsbehörde auch über die Wiederergreifung oder die freiwillige Rückkehr eines entwichenen Gefangenen. (3) Der Hergang der Entweichung ist festzustellen. Die Ermittlungen müssen sich darauf erstrecken, ob der Entwichene Helfer hatte und ob die Flucht auf pflichtwidriges Verhalten von Bediensteten oder auf Mängel von Anstaltseinrichtungen zurückzuführen ist. Der Anstaltsleiter berichtet der Aufsichtsbehörde schriftlich über das Ergebnis der Ermittlungen und die getroffenen Maßnahmen. Schrifttum: s. bei § 88
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift stellt klar, dass ein Gefangener, der entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Anstalt aufhält, durch die Vollzugsbehörde festgenommen werden kann, ohne dass es eines Vollstreckungshaftbefehls nach § 457 StPO bedarf. Das Festnahmerecht gemäß Abs. 1 ergibt sich daraus, dass das Gewaltverhältnis, in dem der Gefangene sich
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Thomas Ullenbruch
Festnahmerecht
§ 87
befindet, fortdauert, wenn dieser entwichen ist oder aus dem Urlaub, Ausgang, Freigang nicht zurückkehrt (für den Urlaub vgl. z. B. § 13 Rdn. 25). In der Praxis besteht häufig ein Bedürfnis für schnelles Handeln, dem bei der Notwendigkeit der Erwirkung eines Vollstreckungshaftbefehls nicht entsprochen werden kann (vgl. Prot., S.1924). Der mit Wirkung zum 1.12.1998 durch das 4. StVollzGÄndG (BGBl. I, 2461 ff) eingefügte Abs. 2 betrifft den Datenschutz. Die mit Wirkung zum 6.10.2002 durch das 6. StVollzGÄndG erfolgte Neufassung (BGBl. I, 3954) trägt der zeitgleich erfolgten Einfügung des § 86a Rechnung.
II. Erläuterungen 1. Da es sich in den Fällen des § 87 Abs. 1 nicht um die erstmalige Begründung des 2 Gewahrsams handelt, sondern um die Aufrechterhaltung des in gelockerter Form fortbestehenden Gewahrsamverhältnisses, kann die gesetzliche Regelung nur einen engen Zeitraum betreffen, in dem der Zusammenhang mit dem Vollzug noch gegeben ist (Prot., S. 1925). Dieser Zusammenhang besteht auch während des Urlaubs, da der Urlaub nach § 13 Abs. 5 die Strafvollstreckung nicht unterbricht (dort Rdn. 4). Die in den Fällen des § 87 Abs. 1 zu treffenden Maßnahmen sind in Nr. 47 VGO erwähnt. Demnach ist zu unterscheiden: a) bei Entweichung aus der Anstalt (auch von der Außenarbeit, Ausführung, Vor- 3 führung), Nr. 47 Abs. 1 und Abs. 2 VGO: aa) Nacheile: Solange diese noch Erfolg verspricht (d. h. die Chance der Wiederergreifung des Flüchtigen), besteht zur Nacheile eine Verpflichtung des Anstaltsleiters. Welche Maßnahmen dafür getroffen werden, ist Ermessensfrage, wobei z. B. zu berücksichtigen ist, ob Bedienstete zur Nacheile zur Verfügung stehen oder von anderen Dienstposten für diesen Zweck abgezogen werden können. Die Bediensteten haben keine polizeilichen Befugnisse gegen Dritte, etwa für eine Hausdurchsuchung. Es empfiehlt sich daher, bei der Nacheile die Polizei zu beteiligen (ebenso Arloth 2008 Rdn. 2). Wie lange der Zeitraum für eine Nacheile durch Vollzugsbedienstete zu bemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. Prot., S. 1925; bei Überschreiten der Urlaubszeit von sechs bis acht Stunden kann man noch von Nacheile sprechen). Das Festnahmerecht erlischt, wenn sich die Beziehung des geflohenen oder vom Urlaub nicht zurückgekehrten Gefangenen zur Anstalt durch Zeitablauf (vgl. Grunau/Tiesler Rdn. 1: spätestens nach zwei Wochen) oder räumliche Entfernung aufgelöst hat. Dann bedarf es eines Vollstreckungshaftbefehls für die Wiederergreifung (Grunau/Tiesler Rdn. 1). Zur Abgrenzung zwischen Festnahme- bzw. Rückführungsrecht der Vollzugsbehörde und Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde s. auch Hauf ZfStrVo 1994, 138, 140, 143. bb) Fernmündliche und schriftliche Bitte an die Polizei zum Zwecke der Fahndung, und zwar ohne Abwarten des Ergebnisses der Nacheile. Der Polizei sind dazu u. a. eine Personenbeschreibung und möglichst ein Lichtbild (aufgrund der gemäß § 86 Abs. 1 getroffenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen) zu geben. Sie ist Vollstreckungsbehörde i. S. von Abs. 2. b) Bei Nichtrückkehr vom Urlaub, Freigang, Ausgang, Strafunterbrechung (Nr. 47 4 Abs. 3 VGO): Anstaltsleiter hat über Art und Umfang der zu treffenden Maßnahmen zu entscheiden. Nacheile erscheint nur dann sinnvoll, wenn man davon ausgehen kann, dass der Gefangene sich noch in der Nähe der Anstalt aufhält (z. B. Bahnhof, Gaststätte). – Für Niedersachsen vgl. AV vom 14.8.1995, Nds. Rpfl. 1995, 265: Bei nicht rechtzeitiger Rückkehr von Vollzugslockerungen, Urlaub oder Vollstreckungsunterbrechung ist in Fällen, in denen
Thomas Ullenbruch
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§ 87
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
die Erstentscheidung der Anstaltsleiter zu treffen hat, bei Sicherungsverwahrten u. a. die Fahndung sofort einzuleiten, sonst am Ende des dem vorgesehenen Rückkehrtage folgenden Tages.
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2. VV Abs. 1 Satz 1 bestimmt, dass ein entwichener Gefangener unverzüglich und nachdrücklich zu verfolgen ist. Der Meinung von AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 2, dass diese Vorschrift mit dem Gesetzestext nicht zu vereinbaren sei, da die Anstalt bezüglich Festnahme und Rückbringung eine Ermessensentscheidung zu treffen habe, kann im Hinblick auf den Zweck des § 87 (vgl. oben Rdn. 1) nicht zugestimmt werden (wie hier Arloth 2008 Rdn. 2). Reichen die der Anstalt zur Verfügung stehenden Mittel nicht aus, so ist gem. VV Abs. 1 Satz 2 die Hilfe der Polizei und gegebenenfalls anderer Stellen in Anspruch zu nehmen. Diese Regelung entspricht dem Gesetzestext „auf ihre Veranlassung hin festgenommen“. (Zur Inanspruchnahme der Amtshilfe der Polizei vgl. Grunau/Tiesler Rdn. 2). Die Polizei ist von sich aus zur Festnahme eines entwichenen Gefangenen nur auf Veranlassung der Vollzugsbehörde im Rahmen des § 87 Abs. 1 oder aufgrund eines Vollstreckungshaftbefehls befugt (C/MD 2008 Rdn. 2). Zur Rechtmäßigkeit des Handelns eines Polizeibeamten, der bei der Verfolgung eines entwichenen und steckbrieflich gesuchten Strafgefangenen, der wegen Vergehen (Einbruchsdiebstählen) einsaß, eine Schusswaffe einsetzt und dabei den Verfolgten tötet: LG Ulm NStZ 1991, 83 m. Anm. Arzt. VV Abs. 1 Satz 3 verpflichtet die Vollzugsbehörde, bei erfolgloser Nacheile die weiteren Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde zu überlassen. Für die Fahndung mit Hilfe der Medien haben die Landesjustizverwaltungen Richtlinien erlassen. Erkennt ein Vollzugsbediensteter in der Öffentlichkeit einen am Vortage entwichenen oder nach Nichtrückkehr vom Urlaub „überfälligen“ Gefangenen, bleibt ihm nur die Möglichkeit, unverzüglich die Polizei zu benachrichtigen, da ihm in diesem Falle ein Festnahmerecht nicht zusteht. Der Rechtsgedanke des § 87 Abs. 1 – für Ausnahmefälle darf die Einschaltung der (gewöhnlich zuständigen) Polizei unterbleiben – lässt sich in engen Grenzen auch auf andere Bereiche übertragen. So kann z. B. bei begründetem Verdacht auf umfangreichen Missbrauch der gewährten Vollzugslockerungen eines im offenen Vollzug untergebrachten Gefangenen die Durchsuchung dessen vor den Toren der Anstalt geparkten Pkws gerechtfertigt sein, wenn eine derartige Maßnahme effizient nur im Wege einer Art „Nacheile“ ohne Polizei durch Justizvollzugsbeamte möglich ist (vgl. OLG Hamm NStZ 1996, 359 und § 84 Rdn. 3).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 95 BayStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 87 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 73 HmbStVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 87 StVollzG. 3. Niedersachsen
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§ 80 NJVollzG ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 87 StVollzG.
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§ 88
Besondere Sicherungsmaßnahmen
§ 88 Besondere Sicherungsmaßnahmen (1) Gegen einen Gefangenen können besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach seinem Verhalten oder auf Grund seines seelischen Zustandes in erhöhtem Maße Fluchtgefahr oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung besteht. (2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen sind zulässig: 1. der Entzug oder die Vorenthaltung von Gegenständen, 2. die Beobachtung bei Nacht, 3. die Absonderung von anderen Gefangenen, 4. der Entzug oder die Beschränkung des Aufenthalts im Freien, 5. die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände und 6. die Fesselung. (3) Maßnahmen nach Abs. 2 Nr. 1, 3 bis 5 sind auch zulässig, wenn die Gefahr einer Befreiung oder eine erhebliche Störung der Anstaltsordnung anders nicht vermieden oder behoben werden kann. (4) Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung auch dann zulässig, wenn aus anderen Gründen als denen des Abs. 1 in erhöhtem Maße Fluchtgefahr besteht. (5) Besondere Sicherungsmaßnahmen dürfen nur soweit aufrechterhalten werden, als es ihr Zweck erfordert. VV (1) Mehrere besondere Sicherungsmaßnahmen können nebeneinander angeordnet werden, wenn die Gefahr anders nicht abgewendet werden kann. (2) Es ist in angemessenen Abständen zu überprüfen, ob und in welchem Umfang die besonderen Sicherungsmaßnahmen aufrechterhalten werden müssen. (3) Die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum und die Fesselung sind der Aufsichtsbehörde unverzüglich mitzuteilen, wenn sie länger als drei Tage aufrechterhalten werden. Schrifttum: Bottke Suizid, das Recht auf Suizid und das Recht der Suizidprävention, in: Bd. 5 der Interdisziplinären Gesellschaftspolitischen Gespräche der Universität Augsburg, 1997, 117 ff; Dünkel/ Rosner Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970, 2. Aufl., Freiburg 1982; Hoffmann Isolation im Normalvollzug. Normative Entwicklung und Rechtswirklichkeit besonders angeordneter Einzelunterbringung im Strafvollzug, Pfaffenweiler 1990; Konrad Suizid in Haft – Europäische Entwicklungen, in: ZfStrVo 2001, 103 ff; Schmitt Verhütung von Suizid und Suizidversuchen im Justizvollzug, in: BewHi 2006, 291 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Abgrenzung zu allgemeinen Sicherungsmaßnahmen . . . . . 2. Abschließende Regelung der bes. S. 3. Voraussetzungen der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . .
1–5 1 2 3
Rdn. 4. Kumulative Anordnungen . . 5. Zuständigkeit für den Eingriff II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Eingriffsgründe (Abs. 1) . . . 2. Die einzelnen Sicherungsmaßnahmen (Abs. 2) . . . . . . .
Hans-Dieter Schwind
. . .
. . . .
4 5 6–19 6–9
. . 10–16
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§ 88
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe Rdn.
3. Maßnahmen aus anderen Gründen (Abs. 3) . . . . . . . . . . . . 4. Fesselung bei Ausführung, Vorführung und Transport (Abs. 4) . 5. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Abs. 5) . . . . . . . . . . . . . .
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Rdn. III. Landesgesetze . . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . . 3. Niedersachsen
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. 20–22 . 20 . 21 . 22
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I. Allgemeine Hinweise 1
Im Gegensatz zu den Disziplinarmaßnahmen (§ 103) gelten die Sicherungsmaßnahmen nicht repressiven, sondern präventiven Zwecken (zu den Disziplinarmaßnahmen vgl. § 102 Rdn. 1). Sie setzen deshalb auch kein Verschulden des Gefangenen voraus, sondern nur eine Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt. Wegen ihres präventiven Charakters dürfen Sicherungsmaßnahmen nicht für Disziplinierungs- bzw. Strafzwecke eingesetzt werden (Arloth 2008 Rdn.1; K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 3). 1. Das StVollzG unterscheidet zwischen allgemeinen Sicherungsmaßnahmen (= allg. S.) und besonderen Sicherungsmaßnahmen (= bes. S.: §§ 88–92). Zu den allg. S. gehören die Durchsuchungen des Gefangenen, der Hafträume und des persönlichen Gewahrsams (§§ 83, 84), ferner erkennungsdienstliche Maßnahmen (§ 86). Zwischen den allg. S. und den bes. S. sind die Verlegung in eine sichere Anstalt (§ 85) und das Festnahmerecht (§ 87) einzuordnen.
2
2. Die bes. S. werden in Abs. 2 abschließend aufgezählt (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 714) und betreffen fast ausschließlich den geschlossenen Vollzug (AK-Brühl 2006 Rdn. 10). Sie können angeordnet werden, um die in Abs. 1 befürchteten erheblichen Störungen zu verhindern: aber auch nur dann, wenn weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen (BVerfG BlStV 3/1997, 6; Arloth 2008 Rdn. 12). Diese Regelung dürfte damit zu tun haben, dass bei einem entsprechenden Vorfall im offenen Vollzug möglicherweise eine sofortige Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug erfolgt. Zur Zahlenentwicklung vgl. Hoffmann 1990 und Walter 1999 Rdn. 502 m. w. N. Im geschlossenen Erwachsenenstrafvollzug schwankt die Zahl der Anordnungen von bes. S. pro Jahr (bezogen auf 100 Gefangene) zwischen fünf (Niedersachsen 1994) und 43 (Brandenburg 1996): vgl. Walter aaO. Soweit Steigerungen für die 1990er Jahre feststellbar sind, führt Walter (aaO) diese auf die schwieriger gewordene Klientel (Stichworte: Sucht, Drogen, Migranten, Subkultur) zurück. Die Aufzählung enthält aber nicht die Einschränkungen, die gleichfalls aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung angeordnet werden können, die aber an anderer Stelle des Gesetzes geregelt sind (RegE, BT-Drucks. 7/918, 78), wie z. B. die Beschränkungen des Einkaufs (§ 22), des Besuches (§ 25), des Schriftwechsels (§ 28 und § 31) usw. Die Anordnung von bes. S. ist in § 91 geregelt.
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3. Die angeordnete Maßnahme (Abs. 2 Nr. 1–6) muss zur Abwendung der in Abs. 1 aufgeführten Störungen erforderlich sein (vgl. zu diesem Kriterium Rdn. 19). Sämtliche zu verhängenden oder verhängten bes. S. unterliegen im Übrigen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 88 Abs. 5 i. V. mit § 81 Abs. 2): dazu OVG Lüneburg ZfStrVo 1987, 109. Sie dürfen deshalb den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen (OLG Frankfurt BlStV 6/1987, 3 = ZfStrVo 1987, 381): dazu § 81 Rdn. 9. Da es sich um äußerste Notmaßnahmen handelt, sind sie nach Möglichkeit durch Ausschöpfung aller anderen, milderen Mittel zu vermeiden (KG Berlin StV 2005, 669).
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Hans-Dieter Schwind
Besondere Sicherungsmaßnahmen
§ 88
4. Bei einer kumulativen Anordnung (vgl. VV Abs. 1) mehrerer bes. S. muss seitens der 4 Vollzugsbehörde die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert begründet werden (AK-Brühl 2006 Rdn. 10; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2). In solchen Fällen mehrfacher Einschränkung sind im Hinblick auf die Mittel-Zweck-Relation äußerst strenge Maßstäbe an die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit anzulegen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155). 5. Zuständig für die Anordnung bes. S. ist der Anstaltsleiter (§ 91 Abs. 1 Satz 1), der 5 jedoch seine Befugnis nach § 156 Abs. 3 mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde auf andere Beamte (etwa einen Abteilungsleiter) übertragen kann (vgl. dazu auch OLG Hamm ZfStrVo 2000, 179); das gilt auch für die Fälle der §§ 89 bis 92 (OLG Hamm aaO; Laubenthal 2008 Rdn. 718), weil diese nur besondere Ausgestaltungen der in § 88 benannten Maßnahmen darstellen. Sonstige Beamte können Eingriffe nur bei Gefahr im Verzug und auch nur vorläufig anordnen (§ 91 Abs. 1 Satz 2). Gefahr im Vollzug liegt vor, wenn sich beim Abwarten der Entscheidung des vorrangig entscheidungsbefugten Anstaltsleiters die durch die Sicherungsmaßnahmen zu verhütende Gefahr zu verwirklichen droht bzw. wenn eine bereits eingetretene Störung mit nachteiligen Folgen fortdauern würde (KG StV 2005, 670; Laubenthal 2008 Rdn. 718).
II. Erläuterungen 1. Abs. 1 führt die Eingriffsvoraussetzungen für die bes. S. auf: Fluchtgefahr und 6 Gefahr der Gewalttätigkeit gegen andere, gegen sich selbst oder gegen Sachen; alles unbestimmte Rechtsbegriffe. Ob diese der uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung unterliegen (so noch die Vorauflage sowie OLG Nürnberg NStZ 1982, 438; OLG Celle BlStV 1/1991, 5; AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 21; Böhm 2003 Rdn. 343) ist streitig; Arloth (2008 Rdn. 1) will der Anstalt bei der Feststellung dieser Tatbestandsmerkmale zutreffend einen Beurteilungsspielraum zugestehen, „da es sich insoweit um eine Prognoseentscheidung handelt, in die eine Fülle vollzuglicher Erfahrungen und Menschenkenntnis des Vollzugspersonals einzufließen hat, die einer vollen gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglich sind“ (so auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155; C/MD 2008 Rdn. 2). Unter „Gefahr“ ist in diesem Rahmen der unmittelbar drohende Eintritt des unerwünschten Erfolges zu verstehen (C/MD aaO). Es muss sich aber immer um eine im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem möglichen Stand der Ermittlungen erkennbare substantielle, mit konkreten Anhaltspunkten belegbare („massive“: KG Berlin StV 2005, 669) auf den Einzelfall bezogene Gefahr handeln (OLG Celle ZfStrVo 1985, 480 und NStZ 1989, 144; OLG Nürnberg NStZ 1982, 438; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1994, 177; OLG Frankfurt NStZ 1994, 256; OLG Koblenz NStZ 2000, 467 M; Arloth 2008 Rdn. 2); bloße Befürchtungen oder gar bloßer Verdacht genügen nicht (OLG Celle aaO; OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 249); auch nicht die bloße Ablehnung einer Urinprobe. Vielmehr bedarf es hierzu in der Regel des Hinzutretens weiterer Umstände (OLG Koblenz NStZ 1999, 446 und 2000, 467), wozu einschlägige Vorstrafen, insbesondere aber ein erwiesener vorausgegangener Betäubungsmittelkonsum während der Strafhaft in der JVA gehören können. Durch das Zusammentreffen (z. B.) mehrfach festgestellten Betäubungsmittelmissbrauchs mit der Verweigerung der Abgabe einer Urinprobe zur Durchführung eines Drogentests („entscheidende Indizwirkung“) zweier Zellengenossen verdichtet sich der Anfangsverdacht des (gemeinschaftlichen) Btm-Konsums (Gefahr der Selbstverletzung) in einem solchen Maße, dass nicht mehr von bloßen Vermutungen gesprochen werden kann, sondern ein durch konkrete Tatsachen ausreichend substantiierter dringender Tatverdacht angenommen werden muss (OLG Koblenz ZfStrVo 1995, 249).
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a) Mit der Formulierung „in erhöhtem Maße Fluchtgefahr“ ist eine Gefahr des Entweichens aus der Anstalt gemeint, die über die bei Gefangenen naheliegende allgemeine Fluchtvermutung hinausgeht (so auch Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Brühl 2006 Rdn. 6; OLG Celle NStZ 1985, 80): eine solche, die größer ist als diejenige Fluchtgefahr, die für die Versagung von Vollzugslockerungen und Urlaub oder für den Ausschluss vom offenen Vollzug nach §§ 10 Abs. 1, 11 Abs. 2, 13 Abs. 1 Satz 2 ausreichen würde (OLG Celle NStZ 1989, 143; OLG Koblenz NStZ 2000, 467 M; Arloth 2008 Rdn. 2). Erhöhte Fluchtgefahr liegt also vor, wenn man davon ausgehen muss, dass der Gefangene jede Gelegenheit zur Flucht nutzen wird (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1). Deshalb ist die Fluchtgefahr individuell – also aus der Person des jeweiligen Strafgefangenen heraus – zu beurteilen (OLG Saarbrücken ZfStrVo 1985, 58 = NStZ 1985, 307) und muss durch konkrete Anhaltspunkte belegbar sein (so auch OLG Celle NStZ 1985, 80; OLG Saarbrücken aaO; BGH NJW 1991, 2652): z. B. durch Flucht oder Fluchtversuch bei einer Ausführung, Aufzeichnungen über die Sicherheitseinrichtungen der Anstalt, konkrete Absprachen mit Gefangenen, Bediensteten oder Dritten, Vorhandensein von Werkzeugen (C/MD 2008 Rdn. 2). Vorverhalten kann jedenfalls ein wichtiger Anhaltspunkt für aktuelle Verhaltensweisen darstellen (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2). Fluchtgefahr kann auch mit seelischen Zuständen zu tun haben: etwa mit Informationen über die Untreue der Ehefrau oder Verlobten (C/MD aaO). Ein allgemeiner Anstieg der Entweichungsquote kann nicht zu Lasten des Einzelnen berücksichtigt werden (OLG Saarbrücken BlStV 4/5/1985, 17); eine lange Restfreiheitsstrafe soll allein noch nicht zwingend die Annahme einer Fluchtgefahr begründen (OLG Celle BlStV 1/1991, 5; LG Heilbronn ZfStrVo 1988, 368). Man wird im Übrigen davon ausgehen können, dass die Fluchtgefahr mit der Annäherung an den Zeitpunkt einer vorzeitigen Entlassung (z. B. an den 2/3-Termin: § 57 Abs. 1 StGB) gewöhnlich abnimmt (AK-Brühl 2006 Rdn. 6; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1985, 58). Die Auffassung, dass frühere Ausbrüche zur Feststellung von Fluchtgefahr nicht genügen sollen, kann nicht geteilt werden; man wird hier vielmehr jeweils auf den Einzelfall abstellen müssen. Zur Begründung der Fluchtgefahr darf die Anstalt in Verbindung mit weiteren unterstützenden Indizien auch auf vertrauliche Informationen von Mitgefangenen zurückgreifen, ohne dass sie verpflichtet wäre, deren Identität preiszugeben (OLG Nürnberg NStZ 1982, 438; C/MD aaO). Lassen sich vertrauliche Hinweise (des LKA) hingegen nicht binnen weniger Tage überprüfen, sind sie nicht geeignet, bes. S. zu begründen oder über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten (OLG Frankfurt NStZ 1994, 256). Auf dauerhafte Sicherungsrisiken ist möglichst mit einer Verlegung nach § 85 zu reagieren (Arloth 2008 Rdn. 2; vgl. auch Rdn. 19).
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b) Die Gefahr von Gewalttätigkeiten bezieht sich auf Leibes- oder Lebensgefahr für andere (Mitgefangene, Bedienstete oder Dritte wie z. B. Besucher) und auf die Zerstörung oder Beschädigung von dem Gefangenen nicht gehörenden Sachen, wie z. B. der Zellenausstattung im Verlaufe von Tobsuchtsanfällen: sog. „Haftkoller“ (C/MD 2008 Rdn. 2) bzw. „Zuchthausknall“ (AK-Brühl 2006 Rdn. 7). Die bloße Ankündigung eines Durst- und Hungerstreiks lässt für sich allein noch keine Gewalttätigkeit besorgen (OLG Frankfurt 24.10. 1979 – 3 Ws 810/79 (StVollz)), es sei denn, diese ist mit der ernstzunehmenden Drohung verbunden, es handele sich um den Beginn einer Eskalation (a. A. AK-Brühl aaO; krit. C/MD 2008 Rdn. 2).
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c) Bei Selbstmordversuchen oder Selbstverletzungen, die meist einen Hilferuf darstellen, sollte die psychologische/medizinische Betreuung sichergestellt sein. Die Selbstverletzung umfasst auch innere Verletzungen, die z. B. durch das Schlucken von Gegenständen (Messer, Rasierklingen usw.) entstehen (C/MD 2008 Rdn. 2). Eine Wiederholungsgefahr
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kann in manchen Fällen durch Angehörigenbesuch oder Vollzugslockerungen herabgesetzt werden oder durch die Anordnung gemeinschaftlicher Unterbringung in der Ruhezeit (§ 18 Abs. 1 Satz 2). 2. Abs. 2 zählt die einzelnen bes. S. abschließend auf (vgl. oben Rdn. 2): es handelt sich 10 nicht um Straf- oder Disziplinar-, sondern um Sicherungsmaßnahmen. a) Nr. 1: Mit Entzug ist hier Wegnahme gemeint, mit „Vorenthaltung“ die Nichtaus- 11 händigung (von Gegenständen). Gemeint sind Gegenstände, die der Flucht förderlich oder der Gewalttätigkeit dienlich sind (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2); darüber hinaus kommen aber auch solche Gegenstände in Betracht, die den Selbstmord oder die Selbstverletzung erleichtern, wie z. B. Hosengürtel, Spiegel (Scherben), Bestecke, Rasierklingen usw. (vgl. Böhm 2003, Rdn. 344). Zur Wahrung der Menschenwürde ist jeweils Ersatz zu leisten: z. B. Hose mit Gummizug statt Gürtel (Arloth 2008 Rdn. 4; AK-Brühl 2006 Rdn. 11). Ob angeordnet werden kann, dass ein Fluchtverdächtiger abends seine Kleidung aus der Zelle gibt, da er im Nachthemd kaum entweichen würde (so Böhm aaO), erscheint zweifelhaft. Die zeitliche Dauer der Maßnahmen hängt von ihrer Erforderlichkeit ab, für die der Rat des Anstaltspsychologen eingeholt werden sollte. Die Maßnahme dürfte jedoch nicht länger als einen Monat zulässig sein (C/MD 2008 Rdn. 5). b) Nr. 2: Eine Beobachtung bei Nacht (übliche Schlafenszeit in der Anstalt, in der Re- 12 gel 22 bis 6 Uhr: Arloth 2008 Rdn. 5), mit der eine in unregelmäßigen Abständen stattfindende Nachschau gemeint ist (Böhm 2003 Rdn. 344), kommt insbesondere bei Selbstmordund Selbstverletzungsgefahr in Betracht; entweder wird bei jeder Nachschau das Licht angemacht oder die Beleuchtung wird abgedunkelt (Böhm aaO), damit der Gefangene Ruhe finden kann (so auch Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Brühl 2006 Rdn. 12; a. A. Arloth 2008 Rdn. 6). Eine Dauerüberwachung mit Hilfe von Fernsehkameras ist nur in Ausnahmefällen zulässig (so auch C/MD 2008 aaO). Die Anordnung gegenüber Strafgefangenen im geschlossenen Vollzug, den Sichtspion an der Tür ihres Haftraumes freizuhalten, bedarf der Einzelfallprüfung (BGH NJW 1991, 2652 = NStZ 1991, 452 = JR 1992, 173 mit Anm. Böhm; BVerfG NStZ 1996, 511). Keine bes. S. ist es, wenn der Beamte im Nachtdienst aus dienstlichem Anlass (z. B. wenn er verdächtige Geräusche vernommen hat) in einen Haftraum Einblick nimmt (Böhm JR 1992, 173; Böhm 2003 Rdn. 344). c) Nr. 3: „Absonderung“ bedeutet die bedingungslose Isolierung (Trennung) von an- 13 deren Gefangenen zum Zwecke der Vermeidung von Risiken für Sicherheit und Ordnung in der Anstalt (OLG Bremen ZfStrVo 1985, 178; vgl. auch Rdn. 1 zu § 89). Die Absonderung erstreckt sich auf die Arbeitszeit, die Freizeit und Ruhezeit und begründet eine Ausnahme vom Grundsatz der gemeinschaftlichen Unterbringung (§ 17); die Verlegung in einen stärker gesicherten Bereich ist keine Absonderungsmaßnahme; eine solche Verlegung liegt (mangels spezieller gesetzlicher Grundlage) im pflichtgemäßen Ermessen des Anstaltsleiters (KG NStZ 1998, 399). Zur Teilnahme am Gottesdienst trotz Anordnung von bes. S. vgl. Rdn. 21 zu § 54. Zu unterscheiden sind folgende Fälle: – einfache Absonderung (Fall der Nr. 3): vorübergehende Trennung von anderen Mitgefangenen, die in einem besonders gesicherten, aber normal ausgestatteten Haftraum durchgeführt wird. Diese kurzfristige „Krisenintervention“ (Böhm 2003 Rdn. 345), die nicht länger als 24 Stunden andauern sollte (C/MD 2008 Rdn. 5; Arloth 2008 Rdn. 6; OLG Koblenz NStZ 1989, 342), kann auch im Ausschluss von der Arbeit in Gemeinschaft bestehen (C/MD aaO). Typische Anwendungsfälle: bei gefährlichen Ausbrechern oder extrem gewalttätigen Insassen (Böhm aaO).
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– Unterbringung in einer sog. Beruhigungszelle (Fall der Nr. 5; vgl. Rdn. 15): Dauer und Art der Sicherung wie bei der einfachen Absonderung (vgl. aber VV Abs. 3); hinzu kommt jedoch, dass der Haftraum (gut einsehbar) so eingerichtet werden muss, dass eine Selbsttötung oder Selbstverletzung des Gefangenen so weit wie möglich ausgeschlossen wird. Der Aufenthalt kann dort je nach Unterbringungsnotwendigkeit mehrere Tage dauern (Laubenthal 2008 Rdn. 717). Typische Anwendungsfälle: bei gewalttätigen Insassen und hoch erregten Gefangenen, bei denen Suizid- oder Selbstverletzungsgefahren bestehen (Böhm 2003 Rdn. 346). – Einzelhaft (§ 89): „unausgesetzte“ (mehr als drei Monate: § 89 Abs. 2) Absonderung (wie bei der einfachen Absonderung in einer normalen Zelle). Typische Anwendungsfälle: normalerweise nur in Anstalten mit hoher Sicherheitsstufe z. B. nach einer Meuterei (Böhm 2003 Rdn. 345). Die Verlegung eines Gefangenen in einen stärker gesicherten Bereich innerhalb derselben Anstalt (etwa wegen Drogenhandels) ist weder eine Maßnahme nach § 85 noch nach § 88 Abs. 2 Nr. 3 (KG NStZ 1984, 94; Arloth 2008 Rdn. 6). Die Verlegung darf angeordnet werden, wenn der Anstaltsleiter z. B. mindestens konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung des Gefangenen am Drogenhandel innerhalb der Anstalt besitzt (KG NStZ 1999, 446 M; vgl. auch Rdn. 6). Räumt der Anstaltsleiter dem Gefangenen die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Unterbringung nur unter der Bedingung ein, Anstaltskleidung zu tragen (§ 20 Abs. 1), liegt weder eine einfache noch eine unausgesetzte Absonderung vor (OLG Bremen ZfStrVo 1985, 178).
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d) Nr. 4: Was hier mit „Entzug“ gemeint ist, ist streitig. Arloth (2008 Rdn. 7) versteht unter diesem Begriff „die vollständige Vorenthaltung des Aufenthalts im Freien“. C/MD (2008 Rdn. 5) widersprechen, weil die Maßnahme dann einen an dieser Stelle (wegen des präventiven Charakters der Maßnahme) unzulässigen Strafcharakter erhalten würde. Also Redaktionsversehen des Gesetzgebers? Schüler-Springorum, einer der Väter des StVollzG, meint sich (auf Nachfrage) erinnern zu können, dass der Gesetzgeber die Definition von Arloth im Sinn gehabt hat. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass die Vorschrift aus heutiger Sicht verfassungswidrig sein dürfte. Dem Gefangenen die „frische Luft“ zu entziehen, dient nicht der Gesundheit und dürfte dem Grundgesetz widersprechen. Vielleicht könnte sich das BVerfG (bzw. der Gesetzgeber) mit der Formulierung der Vorauflage anfreunden. Dort hieß es: „Gemeint ist nicht der Entzug oder die Beschränkung des Aufenthalts im Freien schlechthin, sondern nur die Einschränkungen des gemeinsamen Aufenthalts im Freien zusammen mit anderen Gefangenen“ (so richtig C/MD 2008 Rdn. 5). Die Beschränkung kann in der Einzelfreistunde bestehen, die auch bei Gefahr von Übergriffen gegen Mitgefangene angebracht ist. § 92 Abs. 2 ist zu beachten.
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e) Nr. 5: Gemeint ist die sog. Beruhigungszelle (vgl. Rdn. 13), die z. B. bei Randale in Betracht kommt und so auszustatten ist („Gummizelle“), dass eine Selbstverletzung oder -tötung des Gefangenen zuverlässig verhindert werden kann (Arloth 2008 Rdn. 8; AK-Brühl 2006 Rdn. 15). Nur im äußersten Fall kommt eine Verbindung der Unterbringung mit einer Fesselung nach Nr. 6 in Betracht: eine Fesselung am mitten im Haftraum stehenden Bett (Arloth aaO). Eine zeitliche Beschränkung der Maßnahme sieht die Vorschrift nicht vor. Indirekt ergibt sich aber aus § 91 Abs. 1 Satz 1, dass sie auch mehrere Tage andauern darf (Arloth aaO; a. A. C/MD 2008 Rdn. 5). Die Unterbringung nach Nr. 5 ist aber, wenn sie länger als drei Tage aufrechterhalten wird, der Aufsichtsbehörde mitzuteilen (VV Abs. 3).
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f) Nr. 6: Die Fesselung (speziell § 90) stellt die für den Gefangenen als schwerste empfundene bes. S. dar (OLG Celle NdsRpfl. 1991, 279). Sie wird aber auch nur im äußersten
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Notfall und nur zum Schutz der in Abs. 1 genannten Rechtsgüter eingesetzt und ist insoweit mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vereinbar (vgl. Schüler-Springorum 1969, 106). Formen der Fesselung sind: die sog. „Acht“ (Handschellen), die Knebelkette (an der Hand), Hand- und Fußfessel, die Fixierung ans Bett, sowie die Sprungkette; letztere (1,20m lang) wird von der gefesselten rechten Hand in der Hosentasche durch ein Loch in dieser zum entgegengesetzten Bein geführt, so dass dem Gefangenen nur kleine Schritte möglich sind. Fesselungen sind z. B. zum Schutz selbstmordgefährdeter Gefangener, die der „Haftkoller“ (Tobsuchtsanfall) erfasst hat, mitunter nicht zu umgehen (Rdn. 9). Art und Umfang der Fesselung werden durch § 90 bestimmt. Die ärztliche Überwachung ergibt sich aus § 92. Nach VV Abs. 3 ist die Fesselung unverzüglich der Aufsichtsbehörde mitzuteilen, wenn sie länger als drei Tage aufrechterhalten wird. Rechtsprechung: Die Beamten des Justizwachtmeisterdienstes dürfen einen zum Gericht durch Justizvollzugsbeamte ausgeführten und dort an sie übergebenen Strafgefangenen grundsätzlich nur dann fesseln, wenn die JVA darum ausdrücklich ersucht hat (OLG Celle ZfStrVo 1992, 68 = NStZ 1991, 559 mit ergänzender Anm. Hartwig ZfStrVo 1992, 196). Bei dauergefährlichen Gefangenen darf die Fesselung (etwa der Hände auf dem Rücken beim Hin- und Rückweg zum Freistundenhof und zum Duschen) über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten bleiben, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der insoweit verschärften Prüfungsanforderungen unterliegt, gewahrt bleibt (BVerfG BlStV 3/1997, 6). Den Hauptgrund für die Fesselung bildet eine (akute) Selbstmord- oder Selbstverletzungsgefahr (Rdn. 9). Aus diesen Gründen ist die Fesselung auch z. B. in den psychiatrischen Krankenhäusern zulässig (vgl. PsychKG der Länder; Rüping JZ 1982, 744 ff); es handelt sich also nicht um eine bes. S., die nur im Strafvollzug angewandt wird. Ihre Anordnung trägt dazu bei, dass die Zahl der Selbstmorde oder Selbstverletzungen, die in Justizvollzugsanstalten verübt werden, nicht höher ausfällt: sie liegt bei inhaftierten Männern um das 4,5fache und bei Frauen um das elffache höher als in der Gesamtbevölkerung (vgl. Bottke 1997, 118; Dünkel/Rosner 1982, 140; Walter 1999, Rdn. 270). Jährlich begehen etwa 100 Gefangene in deutschen JVAen Selbstmord (vgl. auch Rdn. 1 zu § 5); die Zahl der misslungenen Versuche wird auf rund 400 im Jahr geschätzt (Walter aaO). Im geschlossenen Vollzug haben sich zwischen 2000 und 2005 in der Bundesrepublik 494 männliche Häftlinge erhängt, 27 haben sich die Pulsader geöffnet und sieben haben sich mit Hilfe von Medikamenten umgebracht (Kriminologischer Dienst Niedersachsen, zit. nach DER SPIEGEL 20/2008, S. 45). Besonders gefährdet sind U-Gefangene und Erstverbüßer im ersten Haftmonat (vgl. Pecher/ Nöldner/Postpischil ZfStrVo 1995, 347 ff; Schmitt 2006, 294 f). Die Selbstmord-, Selbstmordversuchs- und Selbstverletzungszahlen im Vollzug sind jedoch mit den entsprechenden Zahlen der Gesamtbevölkerung (2006: 9765 Suizide: Destatis, zit. nach DER SPIEGEL 17/2008, S. 86) kaum vergleichbar (dazu Laubenthal 2008 Rdn. 230), und zwar aus folgenden Gründen: erstens werden nicht alle solche Fälle, die außerhalb des Vollzuges vorkommen, bekannt (Problematik des Dunkelfeldes), während im Strafvollzug solche Ereignisse grundsätzlich immer bekannt (und registriert) werden. Zweitens kommen im Justizvollzug gedrängt Menschen mit speziellen (sozialen bzw. psychischen) Problemen zusammen, eine Situation, die in der übrigen Bevölkerung nicht ihr Spiegelbild findet. Wer die Selbstmordzahlen allein auf die Verhältnisse im Strafvollzug schiebt, wird sich daher leicht vorhalten lassen müssen, dass er zu wenig differenziert denkt (vgl. auch § 56 Rdn. 5). Von der mitgeteilten Statistik (Tabelle St 7/8 des BMJ gem. Nr. 75 VGO) werden die Todesfälle, die sich während der Untersuchungshaft ereignen, nicht erfasst. Dort kommen aber die meisten Selbstmorde vor. Da sich im U-Haftvollzug die Insassenpopulation ständig ändert, wäre im Übrigen die richtige Bezugszahl nicht die Durchschnittsbelegung, sondern die Zahl der durchlaufenden Gefangenen, die etwa viermal höher liegt als die der Durchschnittsbelegung.
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3. Abs. 3 enthält eine von Abs. 1 unabhängige Regelung: während nach Abs. 1 nur solche Gründe für die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen in Betracht kommen, die in der Person des Gefangenen liegen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155), braucht die nach Abs. 3 vorausgesetzte Störung der Anstaltsordnung nicht von dem betreffenden Gefangenen selbst auszugehen. Eine Absonderung von anderen Gefangenen kann deshalb z. B. auch dann erforderlich werden und zulässig sein, wenn der betroffene Gefangene von anderen bedroht wird und deshalb Auseinandersetzungen zu befürchten sind (Arloth 2008 Rdn. 10). Die Störung der Anstaltsordnung kann auch von außen erfolgen (z. B. durch Banden-Komplizen): insoweit stellt die Gefahr der Befreiung einen Unterfall einer „erheblichen Störung der Anstaltsordnung“ dar (vgl. SA, BT-Drucks. 7/3998, 33). Durch die Hervorhebung dieses Beispielsfalles wird gleichzeitig eine Auslegungshilfe gegeben (C/MD 2008 Rdn. 3). Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass immer nur besonders gravierende Fälle der Störung der Anstaltsordnung gemeint sind (SA aaO, 34). Das Verstecken von Drogen zum Eigenkonsum stellt eine solche Gefahr noch nicht dar (OLG Zweibrücken NStZ 1994, 151, 152 = StV 1994, 149; ebenso AK-Brühl 2006 Rdn. 17). Die Beobachtung bei Nacht und eine Fesselung kommen nach dem Gesetzeswortlaut im Rahmen der Fälle des Abs. 3 nicht in Frage (Arloth 2008 Rdn. 10).
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4. Abs. 4: Eine Fesselung kommt über die in Abs. 1 genannten Gründe auch dann in Betracht, wenn der Gefangene Widerstand leistet oder ein fluchtverdächtiger Gefangener ausgeführt oder dem Gericht vorgeführt werden muss (RegE, BT-Drucks. 7/918, 78; vgl. OLG Hamm BlStV 2/1995, 10; C/MD 2008 Rdn. 3) oder sich ein solcher Gefangener auf Transport befindet (Laubenthal 2008 Rdn. 716). Bei Selbststellern mit kurzem Strafrest wird man grundsätzlich von einer Fesselung bei der Ausführung absehen können (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; AK-Brühl 2006 Rdn. 18).
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5. Abs. 5: Bes. S. dürfen nur zur Bewältigung zeitlich aktuell begrenzter Gefahrensituationen eingesetzt werden (vgl. auch oben Rdn. 3); im Falle der Dauergefahr gilt § 85 (C/MD 2008 Rdn. 4; OLG Zweibrücken NStZ 1994, 151; Arloth 2008 Rdn. 2). Abs. 5 weist noch einmal nachdrücklich auf die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (dazu oben Rdn. 3) hin, nach dem die Beschränkungen den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen dürfen (BVerfG StV 1999, 551). Die bes. S. sind daher aufzuheben, wenn ihre Notwendigkeit nicht mehr besteht; der Gefangene hat darauf einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155; AKBrühl 2006 Rdn. 19). Das heißt: bes. S. dürfen nur solange Bestand haben, als aus in der Person des Gefangenen liegenden Gründen im erhöhten Maße Fluchtgefahr oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten besteht und die angeordneten Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich sind (dazu BVerfG NStZ 1999, 429). Für die entsprechenden Prognosen kommt es auf die Entwicklung des Gefangenen im Vollzug an, die unter Hinzuziehung der Fachdienste (insbesondere von Stellungnahmen des psychologischen und/oder psychiatrischen Personals) im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beurteilen ist (OLG Frankfurt aaO). Je länger die bes. S. andauern, desto mehr werden die Grundrechte des Strafgefangenen beeinträchtigt (K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 12).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 96 BayStVollzG ist bis auf einige redaktionelle Änderungen wortgleich mit § 88; in: Abs. 2 Satz 2 wurde die Formulierung „Beobachtung bei Nacht“ durch die Worte „ständige Beobachtung auch mit technischen Mitteln“ ersetzt; damit wird „geregelt (heißt es in
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Einzelhaft
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der Gesetzesbegr. LT-Drucks. 15/8101, 69), dass auch die Kameraüberwachung z. B. bei Selbstmordgefahr der Gefangenen zulässig ist. Die Beschränkung der Beobachtung auf die Nachtzeit wurde aufgehoben, da die zu verhindernden Gefahren auch tagsüber bestehen.“ 2. Hamburg Die bes. S. sind in Hamburg in § 74 HmbStVollzG geregelt. Die Vorschrift wiederholt 21 zunächst den Text des § 88 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 und 3 bis 6. Die Nr. 2 des Abs. 2 wurde wie folgt neu gefasst: „2. die Beobachtung der Gefangenen, in besonderen Hafträumen auch mit technischen Hilfsmitteln, insbesondere auch durch den Einsatz von optisch-elektronischen Einrichtungen (§ 119)“. In der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 59) heißt es dazu: „In der vollzuglichen Praxis hat sich gezeigt, dass Gefährdungssituationen unabhängig von der Tageszeit eintreten können [. . .]. Der Entwurf beschränkt diese Befugnis (der Videoüberwachung, der Verf.) auf besondere Hafträume wie besonders gesicherte Hafträume nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 5 oder spezielle Beobachtungsräume.“ Danach geht es in Satz 2 der Vorschrift weiter: „Eine Fesselung nach Satz 1 Nummer 6 von nach § 70 Abs. 2 entkleideten Gefangenen darf nur erfolgen, wenn und solange dies unerlässlich ist (. . .)“. Abs. 3 wiederholt den Text aus § 89 Abs. 1 und 2 StVollzG fügt dann aber noch folgenden Satz hinzu: „Während des Vollzuges der Einzelhaft sind die Gefangenen in besonderem Maße zu betreuen.“ Abs. 4 lautet: „Maßnahmen nach Abs. 2 Satz 1 Nummern 1 und 3 bis 5 sind auch zulässig, wenn die Gefahr einer Befreiung oder eine erhebliche Störung der Anstaltsordnung anders nicht vermieden oder behoben werden kann.“ Abs. 5: „Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung auch zulässig, wenn zu befürchten ist, dass die Gefangenen sich dem Vollzug entziehen werden (einfache Fluchtgefahr).“ Abs. 6: „Fesseln dürfen in der Regel nur an den Händen oder an den Füßen angelegt werden. Im Interesse der Gefangenen kann die Anstaltsleitung eine andere Art der Fesselung anordnen.“ 3. Niedersachsen § 81 NJVollzG ist inhaltsgleich mit § 88 StVollzG mit folgenden Ausnahmen: Nach § 81 22 Abs. 4 NJVollzG reicht statt einer „erhöhten Fluchtgefahr“ eine (einfache) Fluchtgefahr aus. Die in § 88 Abs. 5 StVollzG enthaltene Regelung ist weggefallen, weil der „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an dieser Stelle keiner ausdrücklichen Begründung bedarf“ (Gesetzesbegründung LT-Drucks. 15/3565, 151).
§ 89 Einzelhaft (1) Die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen (Einzelhaft) ist nur zulässig, wenn dies aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, unerlässlich ist.
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(2) Einzelhaft von mehr als drei Monaten Gesamtdauer in einem Jahr bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. Diese Frist wird nicht dadurch unterbrochen, dass der Gefangene am Gottesdienst oder an der Freistunde teilnimmt. VV In den Fällen des § 89 Abs. 2 ist der Aufsichtsbehörde so rechtzeitig zu berichten, dass eine Entscheidung vor Ablauf der Frist möglich ist.
I. Erläuterungen 1
1. Bei der Einzelhaft gem. § 89 handelt es sich um einen Unterfall der Absonderung von anderen Gefangenen gem. § 88 Abs. 2 Nr. 3. Deshalb kann der Anstaltsleiter die Befugnis, Einzelhaft anzuordnen, nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde (einem Abteilungsleiter) übertragen (§ 156 Abs. 3; OLG Hamm NStZ 2000, 467 M = ZfStrVo 2000, 179). Einzelhaft besteht in der „unausgesetzten“ räumlichen Absonderung (Trennung) eines Gefangenen von seinen Mitgefangenen, und zwar nicht nur in der Ruhezeit, sondern auch in der Arbeits- und Freizeit (vgl. auch Rdn. 13 zu § 88). Die Vorschrift begründet damit eine Ausnahme von der Regel des § 17, nach der Gefangene tagsüber während der Arbeitsund Freizeit gemeinsam untergebracht werden müssen. Die nur „vorübergehende“ Absonderung ist in § 88 Abs. 2 Nr. 3 geregelt (§ 88 Rdn. 13). Einzelhaft soll nicht zur Isolation führen; deshalb dürfen die Kontakte zum Vollzugspersonal (zu Seelsorgern vgl. Rdn. 21 zu § 54) und zur Außenwelt (in Form von Besuchen) nicht unterbunden werden; möglich ist auch (vgl. Abs. 2) die Teilnahme an der täglichen Freistunde (Aufenthalt im Freien: vgl. § 64) und am Gottesdienst (Abs. 2 Satz 2). Im Gegensatz zum Arrest (Disziplinarmaßnahme nach § 104 Abs. 4 Satz 1) bleiben bei der bes. S. der Einzelhaft die Befugnisse zur Ausgestaltung des Haftraumes, Kleidung, Einkauf, Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk, Fernsehen, Besitz von Büchern und anderen Gegenständen für Freizeitbeschäftigung und Fortbildung unberührt (AK-Brühl 2006 Rdn. 2).
2
2. Die Anordnung der Einzelhaft muss aus Gründen, die ausschließlich in der Person des Gefangenen liegen, „unerlässlich“ sein (Abs. 1). „Unerlässlich“ ist die Einzelhaft nur dann, wenn sie nicht durch weniger einschneidene Maßnahmen ersetzt werden kann (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2; OLG Celle ZfStrVo 1980, 191; OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 381; BVerfG StV 1999, 551 = NStZ 1999, 428). Dazu zählen insbesondere ärztlich-psychiatrische bzw. psychologische Maßnahmen oder Sozialarbeit (RegE, BT-Drucks. 7/918, 78; Arloth aaO; C/MD aaO; AK-Brühl 2006 Rdn. 2); beachte auch § 91. Welche Gründe in Betracht kommen, ergibt sich in erster Linie aus § 88 Abs. 1 (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 83; OLG Nürnberg NStZ 1982, 438). Es kommen aber auch z. B. eine ansteckende Krankheit oder ständige Gewalttätigkeiten gegen Mitgefangene in Betracht (AK-Brühl 2006 Rdn. 3). Ebenso wie bei § 88 (dort Rdn. 6) steht der Anstalt auch bei § 89 bzgl. der Tatbestandsmerkmale ein Beurteilungsspielraum zu und ein Ermessen bei der Entscheidung (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2a; vgl. auch OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 186). Eine kumulative Anordnung von Einzelhaft mit anderen bes. S. ist zulässig, muss aber bzgl. jeder einzelnen bes. S. besonders sorgfältig begründet werden (C/MD 2008 Rdn. 2a; vgl. auch schon § 88 Rdn. 4).
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3. Aus Abs. 2 ergibt sich, dass die Einzelhaft zeitlich nicht begrenzt ist (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3) sie darf jedoch nur solange Bestand haben, als die in der Person des Gefangenen liegenden Voraussetzungen vorliegen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155). Wenn sie im Jahr eine Gesamtdauer von drei Monaten übersteigt, ist die Zustimmung der
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Hans-Dieter Schwind
Fesselung
§ 90
Aufsichtsbehörde einzuholen (Abs. 2 Satz 1). In Anbetracht der Schwere des Eingriffs sollte sie in der Regel jedoch entsprechend § 126 Abs. 2 Nr. 1 AE-StVollzG (zusammenhängend) nicht länger als vier Wochen andauern (so auch AK-Brühl 2006 Rdn. 5). Um negative Auswirkungen (erheblicher Art), die die Reduktion von Umweltreizen auslösen kann, nicht zu übersehen, ist die regelmäßige Überwachung der Maßnahme durch einen Arzt (C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Brühl 2006 Rdn. 3) bzw. Psychologen geboten.
II. Landesgesetze 1. Bayern In Art. 97 BayStVollzG wurde auf Abs. 2 Satz 2 des § 89 StVollzG („entsprechend der bis- 4 herigen Rechtsprechung“) verzichtet (Gesetzesbegründung LT-Drucks. 15/8101, 69) 2. Hamburg In Hamburg ist die Einzelhaft primär in § 74 Abs. 3 und 4 HmbStVollzG geregelt (vgl. 5 dazu Rdn. 21 zu § 88 StVollzG). 3. Niedersachsen
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Der Wortlaut des § 89 wurde in § 82 NJVollzG übernommen.
§ 90 Fesselung In der Regel dürfen Fesseln nur an den Händen oder an den Füßen angelegt werden. Im Interesse des Gefangenen kann der Anstaltsleiter eine andere Art der Fesselung anordnen. Die Fesselung wird zeitweise gelockert, soweit dies notwendig ist. VV (1) Der gefesselte Gefangene wird während des Aufenthaltes im Freien von nicht gefesselten Gefangenen getrennt gehalten. (2) Zur Einnahme der Mahlzeiten und zur Verrichtung der Notdurft werden Handfesseln, nötigenfalls nach Anlegen von Fußfesseln, abgenommen oder so gelockert, dass der Gefangene nicht behindert ist.
I. Erläuterungen 1. Die Vorschrift trifft in Ergänzung zu § 88 Abs. 2 Nr. 6 besondere Regelungen über 1 die Modalitäten der Fesselung (vgl. auch § 95 Abs. 3). Danach dürfen (so Satz 1) grundsätzlich nur die Hände oder die Füße gefesselt werden. Zulässig ist aber auch (vgl. Arloth 2008 Rdn. 2) die Fesselung an Gegenstände (z. B. an das Bett bei Krankenhausbehandlung oder an Fahrzeugteile beim Transport) oder an Bedienstete (Arloth aaO). Zu den Formen der Fesselung vgl. § 88 Rdn. 16, zur Anordnung vgl. § 91 Rdn. 1, zur ärztlichen Überwachung vgl. § 92 Rdn. 1 und 2, zur Dauer vgl. unten Rdn. 4, zu (zeitweisen) Lockerungen vgl. VV Abs. 2. 2. Eine andere Art der Fesselung (Satz 2), z. B. die Verwendung einer Zwangsjacke 2 oder die Fixierung mit Gurten auf einem Bett, wird meist einen noch stärkeren Eingriff in
Hans-Dieter Schwind
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§ 91
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
die körperliche Bewegungsfreiheit des Gefangenen bedeuten als die in Satz 1 beschriebene – regelmäßige – Art der Fesselung (SA, BT-Drucks. 7/3998, 34). Diese darf nur im Interesse des Gefangenen Anwendung finden und ist nur dann zulässig, wenn sie geboten und geeignet ist, den Gefangenen vor solchen erheblichen Selbstverletzungen zu bewahren, die z. B. durch die Hand- oder Fußfesseln im Zustand hochgradiger Erregung („akuter Haftknall“: AK-Brühl 2006 Rdn. 3) entstehen können. Nach VV Abs. 1 nimmt der gefesselte Gefangene nicht am gemeinsamen Aufenthalt im Freien teil; in Betracht kommt eine Einzelfreistunde, sofern nicht der vollständige Entzug nach § 88 Abs. 2 Nr. 4 angeordnet ist (vgl. zur Auslegung dieser Vorschrift aber schon Rdn. 14 zu § 88). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 88 Abs. 5 und § 81 Abs. 2) ist, je stärker der Eingriff ist, strikt zu beachten (SA aaO; Arloth 2008 Rdn. 3). – Weiteres zur Fesselung bei § 88 Rdn. 16 und Rdn. 18.
3
3. Die Fesselung muss nach Satz 3 zeitweise gelockert werden, soweit dies notwendig ist: wann dies notwendig ist, ist im Gesetzgebungsverfahren nicht bestimmt worden. Bei Klagen des Gefangenen über eine zu harte Fesselung müssen die Fesseln jedenfalls überprüft werden. Eine Lockerung der Fesseln muss immer dann erfolgen, wenn sie der Arzt, der immer zu hören ist (§ 91 Abs. 2 Satz 1), befürwortet; sie resultiert aus Sachzwängen wie Essen, Waschen, Toilette (vgl. VV Abs. 2).
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4. Die zeitliche Grenze der Fesselung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 und § 88 Abs. 5. Die ununterbrochene Fesselung sollte nicht länger als 24 Stunden andauern (AK-Brühl 2006 Rdn. 6); nach dieser Frist ist die Fesselung zumindest versuchsweise aufzuheben (so auch AE-StVollzG 1973, 193; Zettel in: Schwind/Blau 1988, 201).
II. Landesgesetze 1. Bayern
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Wortgleich geregelt in Art. 98 BayStVollzG. 2. Hamburg
6
Vgl. dazu den Text bei Rdn. 21 zu § 88 StVollzG. 3. Niedersachsen
7
In § 83 NJVollzG nur redaktionelle Veränderungen.
§ 91 Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (1) Besondere Sicherungsmaßnahmen ordnet der Anstaltsleiter an. Bei Gefahr im Verzuge können auch andere Bedienstete der Anstalt diese Maßnahmen vorläufig anordnen. Die Entscheidung des Anstaltsleiters ist unverzüglich einzuholen. (2) Wird ein Gefangener ärztlich behandelt oder beobachtet oder bildet sein seelischer Zustand den Anlass der Maßnahme, ist vorher der Arzt zu hören. Ist dies wegen Gefahr im Verzuge nicht möglich, wird seine Stellungnahme unverzüglich eingeholt.
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Hans-Dieter Schwind
Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen
§ 91
I. Erläuterungen 1. Abs. 1 Satz 1: Dass die Anordnung der besonderen Sicherungsmaßnahmen (bes. S.) 1 dem Anstaltsleiter vorbehalten wurde, entspricht der einschneidenden Bedeutung dieser Maßnahmen für die Gefangenen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 78). Nach § 156 Abs. 3 kann die Befugnis mit (personenbezogener) Zustimmung der Aufsichtsbehörde jedoch (z. B. auf Beamte des höheren Dienstes bzw. Abteilungsleiter) übertragen werden (Arloth 2008 Rdn. 1: nicht auf den Sicherheitsinspektor). Sinn dieser Regelung ist die Prüfung des Sachverhalts ohne Zorn und Eifer durch einen übergeordneten Bediensteten, und zwar einen der an dem – häufig emotional aufgeladenen – Konflikt nicht beteiligt war (KG StV 2005, 669). Die für diese Delegation erforderliche Zustimmung der Aufsichtsbehörde kann abstrakt und vorab erteilt werden. Jedenfalls ist dem Wortlaut des § 156 Abs. 3 nicht zu entnehmen, dass die Aufsichtbehörde jeder einzelnen Übertragung gesondert zustimmen müsste (LG Hildesheim, 18.12.2006 – 23 StVK 566/06). In jedem Fall sollte sich der Befugte bei so schwerwiegenden Eingriffen wie der Beobachtung bei Nacht, der Einzelhaft, der Unterbringung in der Beruhigungszelle und der Fesselung selbst durch Augenschein über die Art der Durchführung informieren; er sollte darüber hinaus bei länger andauernden Maßnahmen in kurzen Abständen prüfen, ob die Maßnahme noch gerechtfertigt ist (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3; vgl. dazu auch AK-Brühl 2006 Rdn. 2). 2. Abs. 1 Satz 2: Die Sonderregelung für Gefahr im Verzuge trägt den Erfordernissen 2 der Praxis Rechnung (RegE, BT-Drucks. 7/918, 78). Gefahr im Verzuge liegt vor, wenn ohne Intervention nachteilige Folgen drohen bzw. nachteilige Folgen fortdauern (Arloth 2008 Rdn. 1). Gefahr im Verzuge liegt aber nur vor (Abs. 1 Satz 2), wenn die Entscheidung des Anstaltsleiters (vom Dienst) auch telefonisch nicht (mehr) eingeholt werden kann (AK-Brühl 2006 Rdn. 4; KG NStZ 2006, 414): in solchen Fällen können auch andere Bedienstete (wie z. B. der Inspektor für Sicherheit oder in der Nachtzeit der Inspektor vom Dienst) bes. S. anordnen (a. A. Arloth aaO); dass insoweit grundsätzlich nur solche Bedienstete in Betracht kommen, die Weisungsbefugnisse besitzen, ergibt sich in sprachlicher Hinsicht schon aus dem Wort „anordnen“ (ebenso AK-Brühl aaO). Die Annahme von „Gefahr im Verzuge“ muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Lediglich spekulativ-hypothetische Erwägungen oder auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus (BVerfG NJW 2001, 1121 und KG NStZ 2006, 415; vgl. auch Rdn. 8 zu § 88). 3. Abs. 1 Satz 3: Haben andere Bedienstete bes. S. vorläufig angeordnet, so ist die Ent- 3 scheidung des Anstaltsleiters (vom Dienst) über ihr Fortbestehen unverzüglich einzuholen. Aus dem Wort „unverzüglich“ (nach der Legaldefinition in § 121 Abs. 1 BGB: „ohne schuldhaftes Zögern“) folgt, dass die Entscheidung des Anstaltsleiters (oder des sonst Befugten nach § 156 Abs. 3) auch außerhalb der allgemeinen Dienststunden, sogar zur Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen eingeholt werden muss (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; a. A. Arloth 2008 Rdn. 1: regulärer Dienstbeginn des Befugten darf abgewartet werden): gerade an Wochenenden, an denen i. d. R. Behandlungs- und Freizeitangebote fehlen, können Vorkommnisse eintreten, die die Anordnung von bes. S. erfordern (Tobsuchtsanfälle, Suizidversuche, Aggressionen gegen andere usw.). 4. Abs. 2: Eine generelle Pflicht des Anstaltsleiters, den Arzt vor der Anordnung von 4 bes. S. zu hören, besteht nur in den Fällen, die in Abs. 2 genannt werden, also dann, wenn sich der Gefangene ohnehin in ärztlicher Behandlung befindet oder (z. B. wegen seines Geisteszustandes) beobachtet wird oder wenn der seelische Zustand den Anlass der bes. S. bildet (C/MD 2008 zu § 91). In der Begründung des SA (BT-Drucks. 7/3998, 34) wird jedoch die Hans-Dieter Schwind
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§ 92
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Erwartung geäußert, dass der Anstaltsleiter vor der Anordnung der bes. S. auch in anderen Fällen jedenfalls dann einen Arzt hinzuziehen wird, wenn bestimmte Anhaltspunkte dies zweckmäßig erscheinen lassen; dies ergibt sich auch aus der allgemeinen Fürsorgepflicht des § 56 Abs. 1. Da der Arzt nach Abs. 2 nur „zu hören“ ist, liegt die endgültige Entscheidung über Anordnung und Fortdauer der Maßnahmen allein beim Anstaltsleiter (oder dem sonst Befugten nach § 156 Abs. 3).
II. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 99 BayStVollzG. Die Übertragung der Anordnungsbefugnis (mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde) auf andere Bedienstete ist in § 177 Abs. 3 geregelt. „Abs. 2 regelt die Anhörung des Anstaltsarztes oder der Anstaltsärztin, der oder die allerdings keine Mitentscheidungsbefugnis hat“ (Gesetzesbegründung LT-Drucks. 15/8101, 69). 2. Hamburg
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In Hamburg geregelt in § 75 HmbStVollzG. Der dortige Abs. 1 ist wortgleich mit § 91 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 lautet: „Die Entscheidung wird den Gefangenen von der Anstaltsleitung mündlich eröffnet und mit einer kurzen Begründung schriftlich abgefasst.“ Abs. 3: „Besondere Sicherungsmaßnahmen sind in angemessenen Abständen daraufhin zu überprüfen, ob und in welchem Umfang sie aufrechterhalten werden müssen.“ Abs. 4: „Besondere Sicherungsmaßnahmen nach § 74 Abs. 2 Satz 1 Nummern 5 und 6 sind der Aufsichtsbehörde unverzüglich mitzuteilen, wenn sie länger als drei Tage aufrechterhalten werden.“ Die Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 59) dazu: „Absätze 3 und 4 greifen den (. . .) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf und wirken der Gefahr entgegen, dass die Anordnung von besonderen Sicherungsmaßnahmen über ihre präventive Funktion hinaus Straf- oder Disziplinarcharakter erhält.“ 3. Niedersachsen
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In § 84 NJVollzG nur redaktionelle Änderungen gegenüber § 91 StVollzG.
§ 92 Ärztliche Überwachung (1) Ist ein Gefangener in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht oder gefesselt (§ 88 Abs. 2 Nr. 5 und 6), so sucht ihn der Anstaltsarzt alsbald und in der Folge möglichst täglich auf. Dies gilt nicht bei einer Fesselung während einer Ausführung, Vorführung oder eines Transportes (§ 88 Abs. 4). (2) Der Arzt ist regelmäßig zu hören, solange einem Gefangenen der tägliche Aufenthalt im Freien entzogen wird.
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Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
§ 92
Ärztliche Überwachung
VV (1) Der Anstaltsarzt ist von der Fesselung eines Gefangenen innerhalb der Anstalt oder von der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum unverzüglich zu unterrichten. (2) Ist der Arzt nicht anwesend, sucht ein im Sanitätsdienst erfahrener Bediensteter den Gefangenen auf. (3) Jeder Besuch und der erhobene Befund sind zu vermerken. Schrifttum: Hillenkamp Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg 2005, 11–30; Laubenthal Lexikon der Knastsprache, Berlin 2001; Lehmann Suizide und Suizidprävention in Haft, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 240–245; Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (Hrsg.) Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen, Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW. 2008, http://www.samw.ch/docs/Richtlinien/d_RL_Inhaftierte_def.pdf.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Die ärztliche Überwachung in Fällen des § 92 Abs. 1 . . . . . 2. Die ärztliche Überwachung in Fällen des § 92 Abs. 2 . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Bifunktionalität des Arztes . 2. Voraussetzungen und Gründe
. .
1–2
. .
1
. . . .
. . . .
2 3–5 3-4 5
Rdn. III. Beispiele . . . . . . . . . . . 1. Aggressiver Gefangener . . 2. Beenden oder Aussetzen der Maßnahme . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachen . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
6–8 7 8 9–11 9 10 11
I. Allgemeine Hinweise 1. Gemäß § 88 kann der Anstaltsleiter besondere Sicherungsmaßnahmen anordnen, 1 wenn bei einem Gefangenen Fluchtgefahr, Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen oder Selbstmord- sowie Selbstbeschädigungsgefahr bestehen. Neben dem Entzug oder der Vorenthaltung von Gegenständen, der Beobachtung bei Nacht, der Absonderung von anderen Gefangenen, dem Entzug oder der Beschränkung des Aufenthaltes im Freien sind auch die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände und die Fesselung möglich. § 88 erwähnt den Arzt zunächst nicht. Wie in §§ 91, 92 ausgeführt, kann aber seine Mitwirkung erforderlich werden. § 92 Abs. 1 regelt die ärztlichen Pflichten bei den besonderen Sicherungsmaßnahmen, die für den Inhaftierten den stärksten Eingriff bedeuten. Das ist zum einen die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum, zum anderen die Fesselung. Zu den ärztlichen Pflichten gehört in diesen Fällen, dass der Gefangene alsbald (also innerhalb der nächsten ein bis zwei Stunden) aufgesucht wird und bei Verbleib im besonders gesicherten Haftraum möglichst täglich überwacht wird. Voraussetzung für eine rasch einsetzende und regelmäßig erfolgende ärztliche Überwachung ist die unverzügliche Unterrichtung des Arztes bei Anordnung einer Fesselung oder bei Verbringen des Gefangenen in einen besonders gesicherten Haftraum (dazu VV Abs. 1). Bei Abwesenheit des Arztes kann dessen Überwachungspflicht vorübergehend auf einen Sanitätsbediensteten delegiert werden (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008; krit. und differenzierend AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 2; vgl. auch § 58 Rdn. 6). Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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§ 92
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Die Überwachung hat in regelmäßigen Abständen zu erfolgen, muss aber bei Abwesenheit des Arztes nicht zwingend täglich geschehen („möglichst“). Dem erfahrenen Sanitätsbediensteten wird von VV Abs. 2 bei Verlegung in den besonders gesicherten Haftraum bzw. bei Fesselung in Abwesenheit des Arztes zur Sofortreaktion eine Vertretungsfunktion zugewiesen. Insofern ist eine Abwesenheit des Arztes an zwei Wochenendtagen vertretbar, wenn ein erfahrener Sanitätsbediensteter den Gefangenen aufsucht (vgl. zur Häufigkeit auch Arloth 2008 Rdn. 1).
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2. Die ärztliche Beteiligung in den Fällen des § 92 Abs. 2 ist weniger brisant. Zudem sind diese Fälle selten. Der Entzug des Aufenthaltes im Freien steht aber zu der Regelung des § 64 im Widerspruch. Die Gründe für die Anordnung der Maßnahme müssen daher gravierend sein. Als ärztliche Beteiligung bei der Überwachung wird gefordert, dass der Arzt regelmäßig gehört werden muss; er hat in diesem Zusammenhang eine Feststellung zu treffen, was erfordert, dass er den Patienten gesehen hat. Anderenfalls begibt er sich auf das problematische Feld der Diagnostik und Beurteilung aus der Ferne („Telefondiagnose“; zum „Fernsehdoktor“ vgl. Laubenthal 2001, 62).
II. Erläuterungen 3
1. Dem Gefangenen steht unter besonderen Haftbedingungen ein Rechtsanspruch auf eine spezifizierte ärztliche Betreuung zu (AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 6). Dieser dient dabei sowohl der Bewahrung der geistigen und körperlichen Gesundheit des Gefangenen, wie auch der ständigen Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Sicherheitsmaßnahme auch aus ärztlicher Sicht. Der Arzt hat somit eine Dienstleisterfunktion sowohl gegenüber dem Gefangenen als auch gegenüber dem Vollzug (ausführlich Hillenkamp 2005, 11 ff; vgl. auch § 158 Rdn. 1, 3 ff). 4 In der Praxis wandelt man regelmäßig bei Ablehnung der Arrestfähigkeit durch den Arzt, den Arrest in eine Einzelunterbringung getrennt von anderen Gefangenen um. Da für Einzelunterbringung kein ärztliches Votum erforderlich ist, kann der Vollzug somit durch Änderung der Bezeichung die Disziplinarstrafe verbüßen lassen, ohne dass sich die Situation für den Gefangenen erkennbar ändert.
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2. Für die ärztliche Betreuung ist von Bedeutung, ob eine Sicherungsmaßnahme i. S. d. § 88 Abs. 2 StVollzG aufgrund des Verhaltens oder des seelischen Zustands des Inhaftierten angeordnet wurde und welcher der genannten Anordnungsgründe (Fluchtgefahr, Gefahr von Gewalttätigkeit gegen Personen oder Sachen, Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung) in Frage kommt. Individuelles Verhalten wird am ehesten zu Fluchtgefahr und zu Gewalttätigkeit gegen Personen oder Sachen führen. Auf individuellem Verhalten basierende Handlungen, die Selbstmord oder Selbstverletzung nach sich ziehen, sind eher selten, wenngleich sie auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden können. Der seelische Zustand bzw. eine psychische Erkrankung wird weniger zu Fluchtgefahr als vielmehr zu Selbstmord und Selbstverletzung (vor allem im Zusammenhang mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ) führen. Im Rahmen einer angstbetonten, paranoiden Psychose kann es auch zu Aggressivität gegen Sachen und Personen kommen, vorwiegend dann, wenn diese in die paranoiden Inhalte eingebaut werden. Diese Unterscheidung zwischen verhaltensbedingten Gründen und solchen, die auf dem Hintergrund einer psychischen Alteration beruhen, ist auch für die ärztliche Betreuung handlungsleitend. Liegen die Gründe für die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum
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Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
Ärztliche Überwachung
§ 92
im Verhalten des Gefangenen (z. B. gewalttätiger Gefangener, der seine Position im Vollzug durch Gewalt gegen Mitgefangene zu stärken versucht, oder der im Rahmen von Drogengeschäften körperliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzt), so wird die ärztliche Betreuung in erster Linie darauf zu achten haben, dass sich keine gesundheitlichen Schäden aus der Unterbringung (etwa infolge der Isolierung) oder aus der Fesselung (bspw. Minderdurchblutung der Extremitäten) ergeben. Hat ein Gefangener hingegen eine psychische Erkrankung und verübt in diesem Zusammenhang Gewalt gegen Personen (z. B. im Zusammmenhang mit einer paranoiden Psychose, bei der ein Mitgefangener als bedrohlich in den Verfolgungswahn integriert war), kommt es ist in diesem Zusammenhang zu Selbstverletzungen (bspw. im Rahmen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung) oder zu einer echten suizidalen Krise mit echten suizidalen Impulsen, so hat die ärztliche Betreuung darauf abzuzielen, die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum bei diesen Gefangenen so schnell wie möglich zu beenden und für sie eine qualifizierte psychiatrische Betreuung (stationär oder wenn vertretbar auch konsiliarisch-ambulant) sicher zu stellen.
III. Beispiele Ein hochaggressiver Gefangener, der nach Schlägereien mit Mitgefangenen und Ver- 6 wüsten seines Haftraumes Bedienstete angegriffen hat, wird mit unmittelbarem Zwang in den besonders gesicherten Haftraum verbracht. Er droht damit, sich durch Anrennen mit dem Kopf gegen die Wand selbst zu schädigen. Zudem hat er die Wände und den Boden des Haftraums mit seinem Kot verunreinigt. Die ärztliche Überwachung von im besonders gesicherten Haftraum untergebrachten Gefangenen kann dabei die Art der Unterbringung, den Zustand des Haftraumes, die allgemeine Hygiene, gesundheitliche Gesichtspunkte und auch die Dauer der Maßnahme betreffen. 1. Bei hochaggressiven Abreaktionen bspw. wird die besondere Art der Unterbringung 7 einen Haftraum erfordern, der durch seine Reizarmut geeignet ist, einen beruhigenden Effekt auf den Untergebrachten auszuüben, und der aufgrund seiner Ausstattung Selbstverletzungen möglichst ausschließt. Stehen dagegen eher Selbstmord- oder Selbstbeschädigungsgefahr im Vordergrund, wird oft die Unterbringung in einem einfach ausgestatteten Haftraum genügen, der vor allem eine ausreichende Beobachtungsmöglichkeit des Gefangenen bietet (vgl. Lehmann 2009, 240 ff). In besonders gravierenden Fällen ist eine vorübergehende Fesselung zusätzlich notwendig. Protestreaktionen der Inhaftierten führen in Einzelfällen zu besonderer Verunreinigung der Hafträume. Hier wird sich der Arzt um die nötige Beachtung der Hygiene zu kümmern haben. Das Verbringen eines aggressiven Gefangenen in einen besonders gesicherten Haftraum erfolgt oftmals unter heftiger Gegenwehr des Betroffenen, die eine Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich werden lässt. Hierbei kommt es nicht selten zu Zerrungen, Prellungs- und auch Schürfungsverletzungen, die der genauen Diagnostik, Behandlung und Dokumentation bedürfen. Ernsthaftere Verletzungen sind seltener, aber nicht ausgeschlossen. Der Arzt muss dann entscheiden, in welcher Form die erforderliche weitere Behandlung stattzufinden hat. 2. Gelegentlich wird der gesundheitliche Zustand des Gefangenen auch Anlass zum 8 Aussetzen der Maßnahme geben (zur gerichtlichen Aussetzung § 114 Rdn. 3). Dies trifft vor allem bei Vorliegen von Geisteskrankheiten zu. Oft täuscht auch ein alkoholisches Entzugsdelir zunächst einen mit einer aggressiven Abreaktion verbundenen, hochgradigen Erre-
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§ 93
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
gungszustand vor. Kranke dieser Art in einem besonders gesicherten Haftraum zu belassen, kommt aber einem ärztlichen Kunstfehler gleich, da hier wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auch, klinische und differenzierte Behandlung in einer geeigneten Krankeneinrichtung geboten ist. Hat ein beruhigender Effekt in befriedigender Weise eingesetzt und der Gefangene seine Steuerungsfähigkeit wieder erlangt, so wird der Arzt dem Anstaltsleiter die Aufhebung der Maßnahme empfehlen.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 100 BayStVollzG entspricht § 92 StVollzG und ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen und die geänderte Verweisung in das BayStVollzG. 2. Hamburg
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§ 76 HmbStVollzG lautet: „(1) Werden Gefangene ärztlich behandelt oder beobachtet oder bildet ihr seelischer Zustand den Anlass für die Anordnung einer besonderen Sicherungsmaßnahme, ist vorher eine ärztliche Stellungnahme einzuholen. Ist dies wegen Gefahr im Verzug nicht möglich, wird die Stellungnahme unverzüglich nachträglich eingeholt. (2) Sind Gefangene in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht oder nach § 74 Absatz 2 Satz 1 Nummer 6 gefesselt, so sucht die Anstaltsärztin oder der Anstaltsarzt sie unverzüglich und sodann täglich auf. (3) Die Ärztin oder der Arzt sind regelmäßig zu hören, solange den Gefangenen der tägliche Aufenthalt im Freien entzogen wird oder Einzelhaft (§ 74 Absatz 3) andauert.“ In der Gesetzesbegründung heißt es zu den Abweichungen: „Die Vorschrift übernimmt die Regelungen in § 91 Absatz 2 und § 92 StVollzG, fasst sie zusammen, passt sie redaktionell an und ändert sie teilweise [...] Absatz 2 greift die Regelung in § 92 Absatz 1 Satz 1 StVollzG auf, verpflichtet den Anstaltsarzt jedoch hiervon abweichend, die Gefangenen wegen der besonderen Situation nicht möglichst, sondern unbedingt täglich aufzusuchen“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 46). 3. Niedersachsen
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§ 85 NJVollzG entspricht, von redaktionellen Anpassungen abgesehen, § 92 StVollzG.
§ 93 Ersatz von Aufwendungen (1) Der Gefangene ist verpflichtet, der Vollzugsbehörde Aufwendungen zu ersetzen, die er durch eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Selbstverletzung oder Verletzung eines anderen Gefangenen verursacht hat. Ansprüche aus sonstigen Rechtsvorschriften bleiben unberührt. (2) Bei der Geltendmachung dieser Forderungen kann auch der den Mindestbetrag übersteigende Teil des Hausgeldes (§ 47) in Anspruch genommen werden.
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Alexander Böhm/Klaus Laubenthal
§ 93
Ersatz von Aufwendungen
(3) Für die in Absatz 1 genannten Forderungen ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. (4) Von der Aufrechnung oder Vollstreckung wegen der in Absatz 1 genannten Forderungen ist abzusehen, wenn hierdurch die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung behindert würde. VV (1) Bestehen Zweifel an der Verantwortlichkeit des Gefangenen, ist hierzu eine Stellungnahme des Anstaltsarztes einzuholen. Dies gilt insbesondere bei Gefangenen, die sich eine Selbstverletzung zugefügt haben. (2) Wird der Gefangene in eine andere Anstalt des Landes verlegt, ist dieser die Forderung zur weiteren Einziehung mitzuteilen. Wird der Gefangene in eine Anstalt eines anderen Landes verlegt, ist die aufnehmende Anstalt um die weitere Einziehung der Forderung im Wege der Amtshilfe zu ersuchen. Schrifttum: Dargel Ersatz von Aufwendungen bei Selbstverletzung Gefangener (§ 93 II StVollzG), in: ZfStrVo 1982, 271 ff; Puhl Zur Haftung des Strafgefangenen gemäß § 93 StVollzG bei Selbstverletzungen, in: NStZ 1989, 354 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Zivilrechtlicher Aufwendungsersatzanspruch . . . . . . . . . . 2. Sonstige zivilrechtliche Ansprüche II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich (Abs. 1) . . . 2. Inanspruchnahme von Hausgeld (Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . .
1–2 1 2 3–9 3–4 5
Rdn. 3. Rechtswegzuweisung (Abs. 3) . 4. Absehen von Aufrechnung bzw. Vollstreckung (Abs. 4) . . . . . 5. Zuständigkeit bei Verlegung . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
.
6
. 7–8 . 9 . 10–12 . 10 . 11 . 12
I. Allgemeine Hinweise 1. Die Vorschrift räumt der Vollzugsbehörde eine zusätzliche Anspruchsgrundlage 1 zur Geltendmachung von Aufwendungsersatzansprüchen ein, die primär die Kosten medizinischer Versorgung betrifft (BT-Drucks. 7/3998, 35). Von Bedeutung ist dieser Anspruch, u. a. weil die Legalzessionen der §§ 116 SGB X, 67 VVG keine Anwendung finden. Da verletzte Gefangene nach §§ 56 ff im Vollzug der Freiheitsstrafe die erforderliche ärztliche Betreuung erhalten, entstehen ihnen insoweit keine Unkosten. Verletzt ein Insasse den anderen vorsätzlich oder grob fahrlässig derart, dass er in der Anstalt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen muss, könnte die Anstalt ihre Aufwendungen gegen den Schädiger nicht durchsetzen. Auch wegen der schuldhaft herbeigeführten Selbstverletzung hätte die Vollzugsbehörde möglicherweise keinen Anspruch gegen den Gefangenen (BGH NJW 1990, 1604 str.; vgl. auch OLG Koblenz Justizblatt Rheinland-Pfalz 1997, 514). Um hier eine den freien Verhältnissen entsprechende Lage zu schaffen, begründet § 93 Abs. 1 einen eigenen zivilrechtlichen Aufwendungsersatzanspruch der Vollzugsbehörde gegen Gefangene (Arloth 2008, Rdn. 2; C/MD 2008, Rdn. 1; Grunau/Tiesler Rdn. 1). Ein Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit nimmt den Rechtsgedanken aus dem Arbeitsrecht der Beschränkung des Rückgriffs des Arbeitgebers auf den Arbeitnehmer bei einer betrieblichen Tätigkeit (Palandt-Weidenkaff § 611 Rdn. 156–158) auf. Die Ansprüche sind zivilrechtlicher Natur, weshalb für ihre Feststellung gem. Abs. 3 die Zivilgerichte zuständig sind (Rdn. 6).
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§ 93
2
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
2. § 93 verändert und beeinträchtigt nicht die Ansprüche, die der Vollzugsbehörde aus anderen Rechtsvorschriften gegen den Gefangenen zustehen. Dies sind vor allem Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung (etwa wegen der Beschädigung von Anstaltseigentum oder der Verletzung von Anstaltsbediensteten, soweit deren Ansprüche gegen den Schädiger auf den Dienstherrn übergegangen sind, § 52 BRRG). Diese Ansprüche werden ebenfalls vor ordentlichen Gerichten geltend gemacht. § 93 betrifft auch nicht Ansprüche, die Gefangenen gegeneinander zustehen (z. B. Schmerzensgeld; Ersatz von Schäden, die nicht durch die in der Vollzugsanstalt erfolgte Behandlung ausgeglichen werden; Vermögenseinbußen, beispielsweise durch Ausfall von Arbeitsentgelt). Diese Ansprüche kann der Geschädigte auf dem Zivilrechtswege geltend machen und durchsetzen. Dabei kommt ein Zugriff auf das Hausgeld des Schädigers, das der Pfändung nicht unterworfen ist, nicht in Betracht. Ebenso betrifft § 93 nicht die Ansprüche dritter Personen wie Anstaltsbediensteter, Besucher oder Außenstehender, die von einem Gefangenen, während dieser die Freiheitsstrafe verbüßt, geschädigt worden sind.
II. Erläuterungen 3
1. Abs. 1 normiert einen zivilrechtlichen Aufwendungsersatzanspruch. Voraussetzung ist rechtswidriges und vorsätzliches oder grob fahrlässiges (BGHZ 10, 14, 16; 69, 74) Handeln des Gefangenen. Erfasst werden nur die tatsächlichen Aufwendungen (wie z. B. Kosten für Verbandsmaterial, Arzneimittel, besondere Zuziehung eines Facharztes, Fahrt im Anstalts-Pkw zum Unfallarzt). Nicht hierzu gehören die anteiligen Aufwendungen für das Gehalt des Anstaltsarztes und des Sanitätsbeamten oder die der Vollzugsbehörde durch den Arbeitsausfall des verletzten Gefangenen entstandenen Verluste; auch nicht die dem verletzten Gefangenen etwa gewährte Ausfallentschädigung oder das Taschengeld. Der Anspruch nach § 93 Abs. 1 beschränkt sich auf die zusätzliche Leistung, welche die Vollzugsbehörde zur Heilbehandlung während des Strafvollzugs nach §§ 56 ff zu gewähren verpflichtet ist. 4 Der Begriff der Verletzung i.S. der Vorschrift entspricht dem des § 223 Abs. 1 StGB (dazu Fischer 2009 § 223 Rdn. 3 ff). Der systematischen Stellung der Vorschrift entsprechend werden nur solche Handlungen des Gefangenen erfasst, die mit dem Ziel der Störung von Sicherheit und Ordnung ausgeführt werden (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2). Das sind z. B. die bei einer mutwilligen Schlägerei, einer Gefangenenmeuterei oder einer Selbstbefreiung empfangenen und anderen Gefangenen zugefügten Verletzungen (C/MD 2008, Rdn. 4). Die Selbstverletzung umfasst nicht nur Verletzungshandlungen am eigenen Körper wie durch Alkohol- oder BtM-Intoxikation oder das Schlucken von Gegenständen verursachte Beschädigungen, die ohne Selbsttötungsabsicht begangen werden, sondern auch die bei fehlgeschlagenen Suizidversuchen entstandenen Selbstbeschädigungen. Wenig hilfreich und daher abzulehnen sind Differenzierungen zwischen Selbstverletzungen, die mit dem Vorsatz einer Störung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt begangen werden und pathogenen Autoaggressionen ohne weiter gehende Störungsabsichten (OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 250; Arloth 2008, Rdn. 2 unter Verweis auf § 56 Abs. 2; Dargel 1982, 271; K/SSchöch 2002 § 7 Rdn. 211; Puhl 1989, 354 ff; a. A. AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 5 ff; Grunau/Tiesler Rdn. 1). Daher stellen auch der Hungerstreik, das Trinken von selbst angesetztem Alkohol oder das Einnehmen von Aufputschmitteln (wie etwa einer sog. Kaffeepeitsche), soweit sie Heilmaßnahmen erforderlich machen, Selbstverletzungen i.S.d. § 93 dar. Allerdings muss hier besonders festgestellt werden, ob der Gefangene die Herbeiführung eines behandlungsbedürftigen Zustandes voraussehen konnte und damit vorsätz-
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Ersatz von Aufwendungen
§ 93
lich oder grob fahrlässig gehandelt hat. Das wird für viele derartige Fälle erst bei Wiederholung oder nach besonderer Abmahnung angenommen werden dürfen. Erforderlich ist ferner eine sorgfältige Prüfung der Verantwortlichkeit des Gefangenen, ggf. unter Heranziehung des Anstaltsarztes, VV Nr. 1. Aufwendungen der Vollzugsbehörde muss der Gefangene auch dann ersetzen, wenn sie im Hinblick auf seinen durch die Selbstverletzung eingetretenen Zustand nur erforderlich erscheinen. Ob sie im Nachhinein betrachtet tatsächlich notwendig gewesen sind, ist unerheblich (OLG Koblenz, ZfStrVo 1990, 248, 250). 2. Für die Ansprüche aus § 93 Abs. 1 Satz 1 erlaubt Abs. 2 eine teilweise Inanspruch- 5 nahme des Hausgeldes (BGHSt 36, 80; OLG Frankfurt BlStV 2/1992, 11). Eine Anwendung dieser Vorschrift auf andere Ansprüche der Vollzugsbehörde, die mit den in § 93 Abs. 1 geregelten Fällen vergleichbar sind, kommt wegen der eindeutigen und abschließenden Regelung nicht in Betracht (OLG Celle NStZ 1981, 78 zu Aufwendungen für Verletzung eines Bediensteten; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 351; OLG Hamm NStZ 1989, 392; OLG Karlsruhe NStZ 1985, 430 zur Beschädigung von Sachen eines Bediensteten; OLG München NStZ 1987, 45 zur Beschädigung von Anstaltseigentum; AK-Brühl/Feest 2006 Rdn. 6; C/MD 2008, Rdn. 9; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 211). Ebenso ausgeschlossen bleiben auf andere Rechtsgrundsätze gestützte Ausnahmen, wie z. B. dem Gefangenen aufgrund von Treu und Glauben die Berufung auf ein Aufrechnungsverbot bzgl. des Hausgeldanspruchs zu versagen (offen gelassen von BGHSt 36, 80, 82; OLG Hamburg NStZ 1993, 256; a. A. OLG Dresden NStZ 1999, 447 M; Arloth 2008 Rdn. 4). Da es sich um einen Eingriff in ein Recht des Gefangenen, über sein Hausgeld zu verfügen, handelt, müsste eine nicht im StVollzG geregelte Beschränkung den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 standhalten. Daran fehlt es, weil zum einen die gesetzliche Regelung des § 93 abschließend ist und es zum anderen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung nicht unerlässlich ist, das Hausgeld in diesen Fällen in Anspruch zu nehmen. Die Vollzugsbehörde kann indessen wegen ihrer Ansprüche aus § 93 Abs. 1 Satz 1 auch alle anderen Vermögenswerte des Gefangenen heranziehen, soweit sie pfändbar sind. Die Inanspruchnahme des Hausgelds des Gefangenen steht im Ermessen der Vollzugsbehörde. Das gilt nicht nur für die Frage, ob überhaupt das Hausgeld in Anspruch genommen wird, sondern auch, in welcher Höhe dies geschieht. Der in Abs. 2 genannte Betrag muss dem Gefangenen in jedem Fall verbleiben. 3. Die Prüfung des Bestehens und der Höhe der Ansprüche nach § 93 Abs. 1 Satz 1 liegt 6 gem. Abs. 3 bei den ordentlichen Gerichten. Rechnet die Vollzugsbehörde mit einer ihr nach § 93 Abs. 1 Satz 1 zustehenden Forderung gegen das Hausgeld des Gefangenen auf und bestreitet der Gefangene Grund oder Höhe der Forderung, so ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff statthaft. Die Vollstreckungskammer darf dann über Bestehen und Höhe des Anspruchs nach Abs. 1 aufgrund von § 120 i. V. m. § 262 Abs. 1 StPO als Vorfrage selbst entscheiden und muss das Verfahren nicht bis zur Klärung durch das Zivilgericht aussetzen. (OLG Stuttgart NStZ 1986, 47; OLG München NStZ 1987, 46; OLG Dresden NStZ 1999, 446 M; Arloth 2008 Rdn. 5; a. A. OLG Hamm NStZ 1987, 190 ff; KG NStZ-RR 2003, 317, 318). 4. Gem. Abs. 4 muss die Vollzugsbehörde von der Aufrechnung bzw. der Voll- 7 streckung der in Abs. 1 genannten Forderungen absehen, wenn hierdurch die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung behindert würde. Die Vorschrift bindet die Behörde hinsichtlich der Ausübung ihres Ermessens. Obwohl sich die Vorschrift ausdrücklich nur auf die Forderungen nach Abs. 1 bezieht, gilt allgemein, dass die Vollzugsbehörde mit ihren Maßnahmen die Behandlung und Eingliederung des Gefangenen nicht behindern darf; nur die Sicherungsaufgabe erlaubt insoweit Abstriche. Deshalb sind Schadenser-
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satzansprüche wegen Sachbeschädigung oder Verletzung von Bediensteten in das pfändbare Vermögen des Gefangenen nicht zu vollstrecken, soweit ihre Durchsetzung die finanzielle Basis des Inhaftierten bei seiner Entlassung (etwa im Hinblick auf seine sonstige Schuldenlast) auf lange Zeit derart schmälert, dass er aus diesem Grund zusätzlich gefährdet erscheint (OLG München NStZ 1987, 45, 46). 8 In den Fällen der Aufrechnung kann der Gefangene die Berücksichtigung der in Abs. 4 aufgeführten Gesichtspunkte durch die Vollzugsbehörde im Verfahren nach §§ 109 ff überprüfen lassen. Das ist wegen der zu prüfenden materiellen Fragen (z. B. Beachtung des Vollzugsziels) zweckmäßig (OLG Hamm ZfStrVo 1981, 249, 250).
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5. Wird der Gefangene verlegt, nachdem sich das den Anspruch begründende Geschehen ereignet hat, ist für die Einziehung der Forderung sowie die Entscheidung nach Abs. 2 und 4 die aufnehmende Anstalt zuständig (VV Abs. 2).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 89 Abs. 1 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural, weitgehend dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 der bayerischen Norm stimmt, abgesehen von der geänderten Verweisung auf Art. 46 Abs. 2 S. 2 BayStVollzG, mit dem Abs. 2 der bundesrechtlichen Vorschrift überein. Abs. 3 und 4 der bayerischen Norm entsprechen dem Wortlaut des Bundesgesetzes. 2. Hamburg
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§ 77 Abs. 1, 2 und 3 HmbStVollzG entsprechen, abgesehen von der Abfassung im Plural sowie der geänderten Verweisung in Abs. 2, § 93 Abs. 1, 2 und 4. Der Abs. 3 der bundesrechtlichen Regelung ist entfallen. 3. Niedersachsen
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§ 86 NJVollzG lautet: „Auf den Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen der Vollzugsbehörde, die die oder der Gefangene durch eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Selbstverletzung oder eine Verletzung einer oder eines anderen Gefangenen verursacht hat, findet § 93 Abs. 1 Satz 1 StVollzG Anwendung.“. Eine Entsprechung zu § 93 Abs. 1 Satz 2 Abs. 2–4 StVollzG findet sich in der landesrechtlichen Regelung nicht. Die Gesetzesbegründung schweigt dazu.
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Allgemeine Voraussetzungen
§ 94
ZWÖLFTER TITEL
Unmittelbarer Zwang § 94 Allgemeine Voraussetzungen (1) Bedienstete der Justizvollzugsanstalten dürfen unmittelbaren Zwang anwenden, wenn sie Vollzugs- und Sicherungsmaßnahmen rechtmäßig durchführen und der damit verfolgte Zweck auf keine andere Weise erreicht werden kann. (2) Gegen andere Personen als Gefangene darf unmittelbarer Zwang angewendet werden, wenn sie es unternehmen, Gefangene zu befreien oder in den Anstaltsbereich widerrechtlich einzudringen, oder wenn sie sich unbefugt darin aufhalten. (3) Das Recht zu unmittelbarem Zwang aufgrund anderer Regelungen bleibt unberührt. VV (1) Den bei der Anwendung von unmittelbarem Zwang Verletzten ist Beistand zu leisten und ärztliche Hilfe zu verschaffen, sobald die Lage es zulässt. Diese Verpflichtung geht den Pflichten nach den Absätzen 2 und 3 vor. (2) Ist jemand durch Anwendung unmittelbaren Zwanges oder durch sonstige Gewaltanwendung getötet oder erheblich verletzt worden, so sind am Ort des Vorfalls nach Möglichkeit keine Veränderungen vorzunehmen. Das gleiche gilt bei jeder Verletzung, die durch den Gebrauch einer Schusswaffe in Anwendung unmittelbaren Zwanges bei sonstiger Gewaltanwendung verursacht worden ist. (3) Jeder Fall der Anwendung unmittelbaren Zwanges ist dem Anstaltsleiter unverzüglich zu melden und aktenkundig zu machen. Über jeden Gebrauch von Waffen (§ 95 Abs. 4 StVollzG) ist der Aufsichtsbehörde zu berichten. Schrifttum: Bothge Nochmal: Die Anwendung unmittelbaren Zwangs in: ZfStrVo 2001, 335 ff; Grommek Unmittelbarer Zwang im Strafvollzug, Köln 1982; Korndörfer Aspekte der Sicherheit im Justizvollzug, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Sicherheit und Behandlung – Strafvollzug im Wandel, Hannover 2002, 188 ff; Radtke/Britz Zur Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Vollzugsbeamte, in: ZfStrVo 2001, 134 ff; Suhrbier Sicherheit im Justizvollzug, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Strafvollzug in Europa, Hannover 2001, 98 ff.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise: Bedeutung des unmittelbaren Zwanges . . . . . . 1–3 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 4–15 1. Die anwendungsberechtigten Bediensteten . . . . . . . . . . . . 4 2. Die Anwendungsvoraussetzungen 5–7 a) Durchsetzung von Vollzugsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 5 b) Durchsetzung von Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . 6 c) Die Anwendungsvoraussetzung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme . . . . . . . . . . . . . 7
3. Unmittelbarer Zwang gegen andere Personen . . . . . . . . . . . . . 8 4. Unmittelbarer Zwang aufgrund anderer Regelungen . . . . . . . 9 5. Abgrenzung: Unmittelbarer Zwang nach dem Strafvollzugsgesetz und Zwangsmaßnahmen nach anderen Regelungen . . . . . . . . . . . 10–14 a) Problem der Überschneidung von Handlungsermächtigungen 11 b) Grundsatz: für Vollzugsbedienstete gilt die Regelung des StVollzG . . . . . . . . . . . . 12
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§ 94
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
c) Unmittelbarer Zwang zur Abwendung von Störungen des Vollzuges . . . . . . . . . . . . . d) Abs. 1 und Abs. 2 als lex specialis 6. Die VV zu § 94 . . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
13 14 15
III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 16–17 1. Die Abwehr bewaffneter Eindringlinge . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Die Abwehr von Demonstranten . 17 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 18
I. Allgemeine Hinweise 1
Das Strafvollzugsgesetz hat den Vollzugsbediensteten die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwanges gegenüber Inhaftierten (Abs. 1) und bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen auch gegenüber nichtinhaftierten Personen (Abs. 2) eingeräumt. Die sehr ausführlichen und inhaltlich aufeinander abgestimmten Regelungen des Gesetzes machen deutlich, dass die Justizvollzugsbediensteten innerhalb der Anstalten Befugnisse erhalten sollen, die außerhalb von Justizvollzugsanstalten der Polizei obliegen. Insoweit nimmt der Gesetzgeber die Tradition des deutschen Strafvollzuges auf, wonach den Strafvollzugsbediensteten dem Grundsatz nach die Polizeigewalt innerhalb der Justizvollzugsanstalten zusteht (so auch AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 2). Die Polizei kann grundsätzlich in Justizvollzugsanstalten nur tätig werden, wenn sie vom Anstaltsleiter im Wege der Amtshilfe um Mitwirkung gebeten wird (Ausnahmen bei Rdn. 3 zu § 24; a. A. Arloth 2008 Rdn. 5). Ein solches Amtshilfeersuchen ist nach den allgemeinen Regeln der Amtshilfe nur zulässig, soweit der ersuchenden Behörde die sächlichen oder personellen Mittel zur Bewältigung der anstehenden Verwaltungsaufgabe fehlen. Für den Bereich der Anwendung unmittelbaren Zwanges bedeutet dies, dass der Leiter einer Justizvollzugsanstalt die Polizei nur um eine Amtshilfe bitten kann, wenn er einer Gefahrensituation innerhalb der Anstalt nicht mit eigenen Kräften wirksam genug begegnen kann. Ein solcher Polizeieinsatz kann z. B. bei größeren Meutereien oder bei Geiselnahmen in Betracht kommen (zum Fall der Geiselnahme vgl. auch § 99 Rdn. 7). Amtshilfe kann als Folge der vorrangigen „Polizeigewalt“ der Vollzugsbediensteten in den Anstalten auch vom Vollzug gefordert werden, wenn z. B. rechtmäßige Anordnungen von Strafverfolgungsbehörden innerhalb einer Justizvollzugsanstalt, wie etwa bei der zwangsweisen Vorführung zur Entnahme einer Speichelprobe zum Zwecke der DNA-Analyse durchgesetzt werden (s. Radtke/ Britz 2001, 134 ff; kritisch zur geltenden Regelung vollzuglicher Amtshilfe Bothge 2001, 335 ff). Das Strafvollzugsgesetz regelt in den §§ 94–101 und in § 178 für die Justizvollzugs2 anstalten die Rechte und Pflichten der Bediensteten bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges. Diese Vorschriften ermächtigen und verpflichten unter bestimmten Umständen die Vollzugsbediensteten zur Anwendung unmittelbaren Zwanges. Sie schaffen keine eigene Rechtsgrundlage für selbständige Eingriffe (so zutreffend Radtke/Britz für den Fall der Vorführung zur Speichelprobe 2001, 135), regeln aber abschließend (§ 4 Rdn. 24) die Voraussetzungen und Mittel für die zwangsweise Durchsetzung rechtmäßiger Maßnahmen, soweit Vollzugsbedienstete in ihrer dienstlichen Eigenschaft unmittelbaren Zwang anwenden (Grundsatz der Akzessorietät, so auch K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 13 und Walter 1999 Rdn. 498). Auch für Vollzugsbedienstete bleiben gemäß Abs. 3 Regelungen gültig, die jeden Bürger zu Zwangsmaßnahmen berechtigen. Weil jede Anwendung unmittelbaren Zwanges ein starker Eingriff in die Rechte des Betroffenen ist, hat der Gesetzgeber die Anwendung unmittelbaren Zwanges auf nicht anders lösbare Fälle beschränkt und hinsichtlich der Intensität der Zwangsanwendung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aus dem allgemeinen Polizeirecht übernommen (vgl. Rdn. 5 bis 7). Im Strafvollzug der Gegenwart lassen sich viele Alltagsprobleme in den Vollzugsanstalten ohne Anwendung unmittelbaren
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Allgemeine Voraussetzungen
§ 94
Zwanges regeln. Mit Recht wird in der Fachdiskussion stets der Vorrang der Behandlung betont (s. Suhrbier 2001, 105; AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 2; K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 1). Ein entspanntes Arbeitsklima entsteht, wenn das Sicherungskonzept der jeweiligen Anstaltsleitung den Vorrang sozialer Sicherheit vor der administrativ kontrollierten Sicherheit enthält (für Gleichrangigkeit von administrativer und sozialer Sicherheit Korndörfer 2002, 188 ff). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es in behandlungsintensiven oder offenen Vollzugseinrichtungen die Fälle der Anwendung unmittelbaren Zwanges relativ selten gibt, wobei in solchen Anstalten auch besondere Sicherungsmaßnahmen selten angeordnet werden (zur Ursache und Statistik vgl. § 88 Rdn. 2). Die Anstaltsbediensteten derartiger Einrichtungen kennen deshalb die gesetzlichen Regelungen in den §§ 94 ff oft nicht besonders gut. Das ist gefährlich, denn wenn unmittelbarer Zwang angewendet werden muss, sind die Auswirkungen solcher Vollzugsmaßnahmen in der Regel außerordentlich schwerwiegend. Rechtmäßiges Handeln der Vollzugsorgane ist deshalb besonders wichtig, rechtmäßig handeln kann aber am ehesten, wer die gesetzlichen Regelungen genau kennt. Die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges 3 sind in der Rechtsprechung kaum behandelt worden (OLG Hamm NStZ 1991, 509 f mit Anm. von Schriever NStZ 1993, 103 f) und werden in der einschlägigen Fachliteratur in der Regel nur kurz kommentiert (vgl. K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 13 und 14, Walter 1999, Rdn. 498, Calliess 1992, 175 f und Hauf 1994, 121. Etwas ausführlicher behandeln Höflich/Schriever 1996 die Problematik, vgl. § 16). Ausführlich geht Grommek 1982 in seinem für Vollzugsbedienstete geschriebenen Lehrbuch auf diesen Themenkreis ein, der den Bediensteten nicht nur den Gesetzestext erläutern will, sondern den Bezug der §§ 88–92 und 94–101 zum Verfassungsrecht herstellen möchte. Die gesetzlichen Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwanges sind sehr präzise formuliert worden. Der Gesetzgeber hat in den §§ 94–100 in wesentlich detaillierterer Form als in den sonstigen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes Handlungsermächtigungen und Handlungspflichten der Vollzugsbediensteten beschrieben (so auch Arloth 2008 Rdn. 1). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Bayern, Hamburg und Niedersachsen in ihren neuen Strafvollzugsgesetzen die bisherige Regelung des StVollzG inhaltlich bis auf wenige redaktionelle Änderungen übernommen haben.
II. Erläuterungen 1. Nur Bedienstete der Justizvollzugsanstalten dürfen unmittelbaren Zwang ge- 4 genüber Gefangenen bzw. anderen Personen anwenden. Andere Vollzugsbedienstete (z. B. Bedienstete von Aufsichtsbehörden) dürfen dies nicht. Der Gesetzgeber möchte durch diese Regelung die Anwendung unmittelbaren Zwanges speziell aus- und fortgebildeten Bediensteten vorbehalten. Wer Vollzugsbediensteter in einer Justizvollzugsanstalt ist, regelt § 155. Der Gesetzgeber geht in § 94 davon aus, dass alle Bediensteten der Justizvollzugsanstalten ausgebildet und geübt sind, prinzipiell unmittelbaren Zwang anzuwenden. Weitere Einschränkungen werden allerdings bei der Anwendung von Schusswaffen in § 99 Abs. 2 gemacht. Es würde der gesetzlichen Regelung widersprechen, wenn Bedienstete der Aufsichtsbehörden, soweit sie weisungsberechtigte Vorgesetzte des Anstaltsleiters sind, konkrete Zwangsmaßnahmen befehlen würden (AK-Brühl/Feest 2006 § 93 Rdn. 3; a. A. Arloth 2008 Rdn. 3 für zulässig). Zulässig wäre jedoch die generelle Weisung in einer Gefahrensituation von den im Gesetz eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch zu machen. 2. Welche Form des unmittelbaren Zwanges die Vollzugsbediensteten anwenden dür- 5 fen, wird in den folgenden Paragraphen geregelt (vgl. insb. § 96). § 94 regelt zunächst die Anwendungsvoraussetzungen. Klaus Koepsel
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a) Unmittelbarer Zwang darf nur angewendet werden, wenn rechtmäßige Vollzugsmaßnahmen durchzuführen sind und der damit verfolgte Zweck auf keine andere Weise erreicht werden kann. Die zwangsweise Durchsetzung von Vollzugsmaßnahmen wird in der Praxis selten vorkommen, da viele Vollzugsmaßnahmen von der Sache her nur in Übereinstimmung mit dem Gefangenen durchgeführt werden können. Es sind aber auch Fälle möglich, in denen Gefangene notwendigen Vollzugsmaßnahmen uneinsichtig begegnen (z. B. Verlegungen nach § 8) oder sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte befinden. Diese Vollzugsmaßnahmen werden notfalls im Wege des unmittelbaren Zwanges durchgesetzt werden müssen. Wichtig ist es, dass bei der zwangsweisen Durchsetzung von Vollzugsmaßnahmen besonders gründlich geprüft wird, ob der mit der Vollzugsmaßnahme verfolgte Zweck überhaupt erreicht werden kann, wenn die betroffenen Gefangenen nicht freiwillig zur Mitarbeit bereit sind. Wird nämlich der Zweck einer Vollzugsmaßnahme durch die Anwendung unmittelbaren Zwanges genauso wenig erreicht wie ohne seine Anwendung (§ 96 Rdn. 2), so muss die Anwendung unmittelbaren Zwanges auch dann unterbleiben, wenn durch die Nichtdurchführung der Vollzugsmaßnahmen sinnvolle Maßnahmen unterbleiben (im Ergebnis ähnlich AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 7).
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b) Unmittelbarer Zwang darf auch angewendet werden, wenn der Zweck von Sicherungsmaßnahmen (§ 88 Rdn. 1) nicht auf andere Weise erreicht werden kann. Solche Sicherungsmaßnahmen können sich gegen Gefangene richten (z. B. §§ 84 ff) oder können Sicherungsmaßnahmen sein, die zur Aufrechterhaltung der sicheren Verwahrung der untergebrachten Gefangenen generell getroffen worden sind. In der Praxis des Vollzuges sind eine Vielzahl von Fällen denkbar, in denen Gefangene sich Sicherungsmaßnahmen widersetzen wollen oder in denen sie generelle Maßnahmen der Anstalt nicht beachten: sei es, dass sie sich in aus Sicherheitsgründen besonders gesperrten Bereichen der Anstalt aufhalten, oder dass sie sich gegen Maßnahmen, die sie selbst betreffen, zur Wehr setzen. Nicht immer ist die Abgrenzung der Sicherungsmaßnahmen von den Vollzugsmaßnahmen leicht, z. B. ist der gegen den Willen betroffener Gefangener durchgeführte Abbruch einer Gruppenveranstaltung überwiegend eine Vollzugsmaßnahme zur Aufrechterhaltung eines geordneten Vollzuges und keine Sicherungsmaßnahme (Beispiel: die für eine Fernsehgruppe im Rahmen des Dienstbetriebes vertretbare Zeit ist abgelaufen, die Live-Übertragung eines Fußballspieles aber noch nicht beendet).
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c) Vollzugsmaßnahmen und Sicherungsmaßnahmen dürfen nur dann im Wege des unmittelbaren Zwanges durchgesetzt werden, wenn sie rechtmäßig (vgl. dazu Schriever Anm. zu OLG Hamm in: NStZ 1993, 103) sind. Das bedeutet, dass diese Maßnahmen auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhen müssen. Im Vollzugsalltag kann das Problem auftreten, dass Bedienstete zwar keine besonders sinnvollen, aber durchaus rechtmäßige Anweisungen geben. Manche Gefangene verweigern dann die Befolgung solcher Anordnungen. In diesem Fall können zur Aufrechterhaltung der Autorität der Vollzugsverwaltung Zwangsmaßnahmen nur angeordnet werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) unerlässlich (§ 4 Rdn. 3; § 89 Rdn. 2) ist, weil § 4 Abs. 2 Satz 2 zu beachten ist.
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3. Unmittelbarer Zwang darf auch gegen andere Personen als Gefangene angewendet werden. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass diese Personen Gefangene befreien wollen oder widerrechtlich in den Anstaltsbereich einzudringen versuchen (Beispiel: Eindringen eines Panzerfahrzeugs in die JVA Schwalmstadt), oder sich unbefugt, d. h. ohne Erlaubnis, darin aufhalten. Relativ häufig kommt es vor, dass randalierende oder angetrunkene Besucher oder auch ehemalige Gefangene, welche die Anstalt nicht freiwillig verlassen wollen, zwangsweise entfernt werden müssen. Beachte auch Rdn. 16 f.
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Allgemeine Voraussetzungen
§ 94
4. In Abs. 3 ist zusätzlich aufgeführt, dass das Recht zur Anwendung unmittelbaren 9 Zwanges aufgrund anderer Regelungen unberührt bleibt. Gedacht ist hier an gesetzliche Regelungen, wie sie z. B. in § 32 und § 34 StGB oder § 127 StPO enthalten sind. Von solchen rechtlichen Regelungen, die zur Anwendung von unmittelbarem Zwang ermächtigen, kann jedermann – also auch der im Dienst befindliche Beamte – Gebrauch machen. 5. Schwierig kann es im Einzelfall sein, die Befugnisse, auf die Abs. 3 hinweist, von den 10 Befugnissen abzugrenzen, welche nur den Vollzugsbediensteten gemäß Abs. 1 und Abs. 2 eingeräumt werden (vgl. dazu OVG Münster ZfStrVo 1990, 311 f). a) In dem durch Abs. 1 gesteckten Rahmen gilt für dienstlich tätige Vollzugsbeamte 11 zunächst die Regel, dass unmittelbarer Zwang unter Beachtung der Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes anzuwenden ist. Wäre der Beamte in der konkreten Situation z. B. in Notwehr auch nach anderen Vorschriften zur Gewaltanwendung berechtigt, so bekommt Abs. 3 Bedeutung. Das Verhalten eines berechtigterweise Notwehr übenden Beamten kann rechtlich zulässig sein, obwohl die Voraussetzungen von § 94 Abs. 1 nicht beachtet werden z. B. weil der verfolgte Zweck auch auf eine andere Weise hätte erreicht werden können. Ähnliches gilt für das Festnahmerecht nach § 127 StPO, wobei dieses allerdings innerhalb einer geschlossenen Justizvollzugsanstalt nur selten praktisch werden kann. b) Schwieriger ist es, die Befugnisse der Vollzugsbediensteten aus Abs. 2 deutlich von 12 Rechten aus Notwehr, Nothilfe und § 127 StPO zu unterscheiden, wenn im Einzelfall die Gewaltanwendung (oder auch Androhung) sowohl nach Abs. 2 als auch nach § 32 StGB bzw. § 127 StPO möglich wäre. Grundsätzlich muss der Justizvollzugsbedienstete auch in solchen Fällen prüfen, ob die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen, denn nur diese Vorschrift ermöglicht ihm planvolles und nachhaltiges Vorgehen. § 32 StGB oder § 127 StPO ermächtigen zu Sofortmaßnahmen in Akutfällen, in solchen Fällen ist bald möglichst polizeiliche Hilfe angezeigt; Abs. 2 stellt hingegen grundsätzlich auf die Fähigkeit der Selbsthilfe durch Vollzugsorgane ab. c) § 94 hat als Schutzgut allerdings den störungsfreien Vollzugsverlauf, d. h. werden 13 in Anstalten Straftaten begangen, die diesen nicht tangieren (z. B. aus einer offenen Anstalt wird der Pkw eines Bediensteten gestohlen), so gilt primär § 127 StPO als Handlungsermächtigung für die anwesenden Bediensteten. d) Die Schwierigkeit, die Befugnisse aus Abs. 1 und Abs. 2 von den aus anderen Regelun- 14 gen folgenden Befugnissen in gewissen Einzelfällen abzugrenzen, darf nicht zu der Auffassung führen, dass Abs. 1 und Abs. 2 einen geringen Bedeutungsumfang haben. Der dienstliche Einsatz von Vollzugsbediensteten muss sich – abgesehen von spontanen Aktionen einzelner i. S. von § 32 StGB oder § 127 StPO handlungsberechtigter Bediensteter – immer nach Abs. 1 oder Abs. 2 richten, die für die Vollzugsorganisation als jeweilige lex specialis anzusehen sind. 6. Die VV schreibt den Bediensteten die Einhaltung gewisser formaler Pflichten vor. Die 15 Formulierung der VV Abs. 1 zeigt, dass das Beistandleisten gegenüber Verletzten als eine wichtigere Pflicht anzusehen ist als die eher formalen Beweissicherungspflichten und Meldepflichten, die in der VV Abs. 2 und 3 festgelegt worden sind. Die Bediensteten trifft die Hilfspflicht der VV Abs. 1 Satz 1 jedoch erst dann, wenn „die Lage es zulässt“. Aus dieser Formulierung folgt, dass die Gefahrensituation, die zur Anwendung unmittelbaren Zwanges geführt hat, beendet sein muss (so im Ergebnis auch C/MD 2008 Rdn. 4).
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§ 95
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Beispiele 16
1. In den letzten Jahren wächst in den besonders gesicherten Justizvollzugsanstalten der Länder der Bundesrepublik Deutschland die Furcht, dass der Abs. 2 in größerem Umfange als bisher praxisrelevant werden könnte. Rechts- wie linksradikale „Revolutionäre“ planen immer wieder die gewaltsame Befreiung von Gesinnungsgenossen und auch spezielle z. T. ausländische berufskriminelle Kreise planen das gewaltsame Herausholen von inhaftierten Kumpanen. Beispiele für – allerdings überwiegend nicht durchgeführte – Pläne liegen inzwischen auch in Deutschland in mehreren Fällen vor. Verständlicherweise werden entsprechende polizeiliche Erkenntnisse zwar regelmäßig den betroffenen Justizvollzugsverwaltungen übermittelt, jedoch der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Die in Abs. 2 enthaltene Ermächtigung kann für die eingesetzten Bediensteten zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Eindringlingen und Vollzugsbediensteten führen. Besonders problematisch wäre eine solche Auseinandersetzung zwischen gewaltsam vorgehenden Gefangenenbefreiern und Vollzugsbediensteten dann, wenn sie zu einer Tageszeit erfolgen müsste, in der die Anstalt nur mit wenigen Bediensteten besetzt ist und wenn die Eindringlinge über moderne Waffen verfügen würden. Das Strafvollzugsgesetz ermächtigt die Bediensteten in solchen Situationen zu allen im Gesetz enthaltenen Zwangsmaßnahmen, die geeignet sind, den Angriff abzuschlagen. Gerade derartige Fälle machen jedoch in der Regel Amtshilfe durch Spezialisten der Landes- oder Bundespolizei notwendig, so dass die Vollzugsbediensteten in der Regel nur die ersten Abwehrmaßnahmen treffen müssten. Besonders schwierig ist die Abwehr einer Gefangenenbefreiung vom Hubschrauber aus, denn das Beschießen eines Hubschraubers birgt das Risiko einer Explosion und wäre deshalb gem. § 96 rechtswidrig. Vgl. auch Rdn. 8.
17
2. Aus anderen Gründen könnte die Lage der Bediensteten dann schwierig werden, wenn das Eindringen in die Justizvollzugsanstalt in Form einer Massendemonstration geschehen sollte. In solchen Fällen können politische Erwägungen die Verantwortlichen dazu bringen, die Eindringlinge nicht gewaltsam aus dem Anstaltsbereich zu vertreiben. An dieser Fallkonstellation wird deutlich, dass Abs. 2 keine Pflicht zur Gewaltanwendung enthält, sondern die Vollzugsorgane lediglich zur Anwendung der für erforderlich gehaltenen Zwangsmaßnahmen ermächtigt. Der Verzicht auf eine rechtlich mögliche Gewaltanwendung könnte auch auf einer Weisung von Vorgesetzten des Anstaltsleiters beruhen.
IV. Landesgesetze 18
Art. 101 BayStVollzG entspricht inhaltlich der Regelung in § 94 StVollzG. § 79 HmbStVollzG entspricht inhaltlich der Regelung in § 94 StVollzG. § 87 NJVollzG entspricht ebenfalls inhaltlich der Regelung in § 94 StVollzG.
§ 95 Begriffsbestimmungen (1) Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen. (2) Körperliche Gewalt ist jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen.
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Begriffsbestimmungen
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(3) Hilfsmittel der körperlichen Gewalt sind namentlich Fesseln. (4) Waffen sind die dienstlich zugelassenen Hieb- und Schusswaffen sowie Reizstoffe. Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Unmittelbarer Zwang: Einwirkung auf Personen oder Sachen . 2. Einwirkung durch körperliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . 3. Einwirkung unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln . . . . . . . . 4. Einwirkung durch Waffen . . .
Rdn.
Rdn.
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2
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3
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4 5–8
a) Mit zugelassenen Hiebwaffen . 6 b) Mit zugelassenen Reizstoffen . 7 c) Mit zugelassenen Schusswaffen 8 5. § 95 als reine Definitionsnorm . . 9 III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 10–11 1. Unterschiedliche Schusswaffenausstattung der Anstalten . . . . 10 2. Einsatz von Hunden . . . . . . . 11 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 12
I. Allgemeine Hinweise In § 95 beschreibt der Gesetzgeber die Formen der Anwendung unmittelbaren Zwanges, 1 die den Vollzugsbediensteten zur Verfügung stehen.
II. Erläuterungen 1. Unmittelbarer Zwang wird zunächst in Abs. 1 beschrieben als Einwirkung auf Per- 2 sonen oder Sachen. Unmittelbarer Zwang ist meist ein Tätigwerden von Vollzugsbediensteten; eine Einwirkung auf Personen oder Sachen kann auch durch Untätigbleiben von Vollzugsbediensteten erfolgen, allerdings nur in Situationen, in denen auf die Gefangenen infolge eines solchen Untätigwerdens eingewirkt wird (z. B. einem von Mitgefangenen bedrohten Gefangenen wird nicht geholfen, ein vom Inhaftierten zerschlagenes Haftraumfenster wird trotz kalter Jahreszeit nicht repariert). Wenn Vollzugsbedienstete allerdings einen tobenden Gefangenen in seinem Haftraum nur verbleiben lassen, wenden sie keinen unmittelbaren Zwang an. Unmittelbarer Zwang kann nach der Vorstellung des Gesetzgebers aber auch ausgeübt werden, indem auf Sachen eingewirkt wird. Eine solche Einwirkung auf Sachen muss das Ziel verfolgen, mittelbar auf Gefangene oder andere Personen, gegen die unmittelbarer Zwang zulässig ist, einzuwirken. Zerstört also ein Bediensteter Gegenstände (z. B. für anstößig gehaltene Bilder), die einem Gefangenen gehören, so ist dies keine Anwendung unmittelbaren Zwanges, wohl aber liegt unmittelbarer Zwang gegenüber Gefangenen vor, wenn durch das Zudrücken von Haftraumtüren oder durch das Errichten von Absperrungen Gefangene zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden sollen. 2. Die Einwirkung auf Personen kann durch körperliche Gewalt geschehen. Unmit- 3 telbarer Zwang liegt gem. Abs. 2 dann vor, wenn der Vollzugsbedienstete unmittelbar, d. h. von Körper zu Körper, auf Personen oder Sachen einwirkt. Diese Anwendung unmittelbaren Zwanges ist im Vollzugsalltag die gebräuchlichste. Widerstand leistende Gefangene werden mit einigen Handgriffen in besonders gesicherte Hafträume verbracht; die diese Hafträume sichernde Tür wird gegen den körperlichen Widerstand des Gefangenen verschlossen. Diese
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Form der Anwendung unmittelbaren Zwanges ist um so wirksamer, je besser die Bediensteten ausgebildet worden sind.
4
3. Die Vollzugsbediensteten können sich bei der Anwendung körperlicher Gewalt gewisser Hilfsmittel bedienen. Das hauptsächliche Hilfsmittel, das der Gesetzgeber vor anderen möglichen Hilfsmitteln aufzählt, sind Fesseln. Fesseln werden im Bereich des Strafvollzuges oder der Untersuchungshaft oft aber nicht nur zur Anwendung unmittelbaren Zwanges, sondern zugleich als besondere Sicherungsmaßnahmen verwendet (§ 88 Rdn. 2 f): z. B. um die befürchtete Entweichung eines Gefangenen anlässlich einer Ausführung zu verhindern, wird der Gefangene gefesselt. Dennoch ist dies zugleich die Anwendung unmittelbaren Zwanges, da die Bewegungsfreiheit des Gefangenen durch die Fesselung eingeschränkt wird und die Fessel (z. B. durch Schmerz) auch unmittelbar auf den Körper einwirken kann. Fesseln müssen auch zuweilen verwendet werden, um tobende Gefangene an rechtswidriger Aktivität zu hindern. Bei selbstmordgefährdeten Gefangenen wird die Fesselung in der Regel allerdings primär eine besondere Sicherungsmaßnahme im Sinne des § 88 Abs. 2 Nr. 6 darstellen, da die Selbsttötung nicht rechtswidrig ist. Das Anlegen von Fesseln ist aber immer dann auch unmittelbarer Zwang, wenn durch die Fesselung auf die Person des Gefangenen zur Durchsetzung rechtmäßiger Vollzugs- oder Sicherungsmaßnahmen unmittelbar eingewirkt werden soll. Der Gesetzgeber lässt in Abs. 3 offen, welche anderen Hilfsmittel die Vollzugsverwaltung verwenden kann. Denkbar wären alle gegen Widerstand leistende Menschen in anderen Bereichen verwendete Hilfsmittel. Viele solcher Hilfsmittel (wie z. B. Zwangsjacken und Beruhigungsspritzen) erscheinen als menschenunwürdig und damit gemäß Art. 1 GG als rechtlich bedenklich (so auch AKBrühl/Walter 2006 Rdn. 5 und C/MD 2008 Rdn. 2). Solche Fragen sind im Einzelfall jedoch oft nicht so einfach zu entscheiden. Welche Hilfsmittel wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) unzulässig sind, kann oft nur unter Abwägung widerstreitender Interessen entschieden werden. Wann ein Verstoß gegen die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG anzunehmen ist, lässt sich oft nur im konkreten Fall eindeutig feststellen (vgl. Dürig Art. 1 GG Rdn. 28 in: Maunz/Dürig Lieferungsstand 10/2008). Bei extremem Verhalten von Personen kann z. B. der Einsatz eines Wasserschlauches vertretbar sein (z. B. Zurückdrängen einer Menge), in anderen Situationen nicht (z. B. „Herunterspritzen“ eines Eindringlings vom Dach der Vollzugsanstalt oder „Bespritzen“ eines tobenden Gefangenen im Haftraum). Der erst in § 96 geregelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wirkt dem gemäß über Art. 1 GG schon auf die Frage ein, welches Hilfsmittel rechtmäßig verwendet werden darf. Generelle Aussagen lassen sich nur hinsichtlich der in jeder denkbaren Lage menschenunwürdigen Hilfsmittel (z. B. Elektroschockgeräte, Dunkelzellen, Hundepeitsche) machen (vgl. Dürig aaO Rdn. 30). Vgl. § 96 Rdn. 3.
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4. Die Einwirkung auf Personen oder auf Sachen kann auch durch besonders herausgehobene Hilfsmittel, nämlich durch Waffen, erfolgen. Der Gesetzgeber erklärt jedoch nur drei Waffenarten für zulässig:
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a) Zugelassene Hiebwaffen sind in den Justizvollzugsanstalten bisher im Wesentlichen die sog. Gummiknüppel. Die Hiebwaffe muss dienstlich zugelassen sein. Die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch abgebrochene Stuhl- oder Tischbeine ist infolge der Regelung des Abs. 4 nicht zulässig, wohl aber können solche Gegenstände im Rahmen der Notwehr zur Selbstverteidigung der Beamten verwendet werden. Dies ist für die Bediensteten der Vollzugsanstalten wichtig zu wissen, denn die Notwehrsituation endet dann, wenn der Angriff des Gefangenen abbricht, während auch danach noch die Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Verbringung eines Gefangenen in einen besonders gesicherten Haft-
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Begriffsbestimmungen
§ 95
raum sinnvoll sein kann. Zu diesem Zweck dürften nur die dienstlich zugelassenen Hiebwaffen, d. h. Gummiknüppel, verwendet werden. Die Landesjustizverwaltungen sind unter Beachtung und im Rahmen des Verfassungsrechts (Rdn. 4) darin frei, welche Hiebwaffen sie dienstlich zulassen. Der Gesetzgeber beschreibt keine ausdrücklichen Grenzen. Dennoch ist diese Ermächtigung bei verfassungskonformer Anwendung nicht verfassungswidrig (krit. AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 9), weil der Gesetzgeber die Entwicklung vertretbarer Hilfsmittel nicht voraussehen konnte und deshalb der Verwaltung einen Handlungsspielraum eingeräumt hat. b) Als Waffen werden auch Reizstoffe vom Gesetzgeber anerkannt. Auch diese müssen, 7 wie sich zwar nicht aus dem Wortlaut, wohl aber aus dem Sinn der Vorschrift unzweideutig ergibt, dienstlich zugelassen werden, d. h. die Justizvollzugsanstalten können nicht alle erwerbbaren chemischen Kampfstoffe verwenden, sondern müssen sich auf die dienstlich zugelassenen Reizstoffe beschränken (Rdn. 4, 6). In der Praxis werden Tränengaswurfkörper oder Tränengaspatronen am meisten verwendet. In einigen Justizvollzugsanstalten ist auch die von der Polizei zum Teil verwendete sog. „chemische Keule“ mit Billigung der Aufsichtsbehörden erprobt worden. Die bei besonderen Polizeieinsätzen zunehmend verwendeten Blendgranaten könnten künftig auch im Vollzug zugelassen werden. Aber erst wenn solche Reizstoffwaffen rechtmäßig zugelassen sind, dürfen die Vollzugsbediensteten sie auch verwenden. c) Erlaubte Waffen für die Vollzugsbediensteten zur Anwendung unmittelbaren Zwan- 8 ges sind auch die dienstlich zugelassenen Schusswaffen. Auch hier dürfen die Bediensteten nicht alle Schusswaffen verwenden, sondern nur die dienstlich zugelassenen. Hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs stellt das Strafvollzugsgesetz in den folgenden Vorschriften noch zusätzliche Voraussetzungen auf. Beachte die Ausführungen zu § 99; § 100 und Rdn. 10. 5. § 95 schildert die gesetzlich zugelassenen Hilfsmittel und Waffen bei der Anwen- 9 dung unmittelbaren Zwanges. Diese Vorschrift regelt nicht die Frage, welche Waffe in der konkreten Situation die geeignetste ist. Das ergibt sich aus den weiteren Vorschriften. Vgl. die allgemeinen Ausführungen zu § 96 Rdn. 3.
III. Beispiele 1. In den Justizvollzugsanstalten der Länder der Bundesrepublik Deutschland sind 10 Schusswaffen in unterschiedlichem Umfang zugelassen. Während einige Bundesländer (z. B. Nordrhein-Westfalen) neben Pistolen und Gewehren auch automatische Waffen (weittragende Schnellfeuergewehre) zugelassen haben, haben andere Bundesländer (z. B. Berlin) neben Pistolen oder Revolvern Handfeuerwaffen nur dann zugelassen, wenn diese nicht automatisch bedient werden können. Der Gesetzgeber bindet im Strafvollzugsgesetz die Landesjustizverwaltungen an keine besonderen Voraussetzungen in bezug auf die Frage, welche Schusswaffen sie zulassen dürfen. Auf die sich aus dem Polizeirecht ergebenden Grenzen weist AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 9 allerdings mit Recht hin. 2. Der Einsatz von abgerichteten Hunden kann in Zukunft eine größere praktische 11 Bedeutung erlangen. Dies gilt zum einen für die Fälle der Rauschgiftsuche mit abgerichteten Tieren (§ 84 Rdn. 4), aber auch für mögliche Einsätze von Hundeführern mit abgerichteten Hunden im Bewachungsbereich außerhalb der Hafthäuser bzw. vor der Anstaltsmauer. Der Hund würde dann als zugelassenes Hilfsmittel verwendet (wie z. B. in Schweizer Strafanstalten).
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§ 96
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
IV. Landesgesetze 12
Art. 102 BayStVollzG entspricht § 95 StVollzG. § 78 HmbStrVollzG entspricht inhaltlich der Regelung in § 95 StVollzG. § 88 NJVollzG entspricht im Wesentlichen der Regelung in § 95 StVollzG, wobei Diensthunde und Betäubungsstoffe ausdrücklich als zulässige Hilfsmittel erwähnt werden. Sachlich ist dies keine Neuerung.
§ 96 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges sind diejenigen zu wählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen. (2) Unmittelbarer Zwang unterbleibt, wenn ein durch ihn zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht. VV Ist der Zweck einer Zwangsmaßnahme erreicht oder kann er nicht erreicht werden, so ist ihr Vollzug einzustellen. Schrifttum: s. bei § 94
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Verbot unmöglicher Maßnahmen 2. Verbot ungeeigneter Maßnahmen 3. Gebot der Geringstbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . .
1 2–6 2 3
Rdn. 4. Klarstellungen in der VV . . . 5. Der erkennbar unverhältnismäßige Einsatz . . . . . . . III. Beispiel: Schusswaffeneinsatz bei Ausbrüchen . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . .
. .
5
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6
. . . .
7 8
4
I. Allgemeine Hinweise 1
§ 96 hat den auch im Polizeirecht bekannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Strafvollzugsbedienstete übernommen. Aber nicht nur dieser Grundsatz ist in der Vorschrift enthalten, sondern § 96 regelt auch die Frage, mit welchen Mitteln Vollzugsbedienstete die Anwendung unmittelbaren Zwanges durchzusetzen haben. Zu den Anwendungsvoraussetzungen § 94 Rdn. 5 ff.
II. Erläuterungen 2
1. Die geplante Maßnahme muss zur Durchsetzung des unmittelbaren Zwanges möglich sein, wobei der Gesetzgeber davon ausgeht, dass oft mehrere Möglichkeiten bestehen. Die Anwendung unmittelbaren Zwanges ist dem gemäß nicht zulässig, wenn die in Aus-
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
§ 96
sicht genommenen Maßnahmen sich mit den vorhandenen Bediensteten nicht realisieren lassen. 2. Die geplanten Zwangsmaßnahmen müssen geeignet sein, um den angestrebten Er- 3 folg zu erreichen. Ungeeignet sind z. B. Maßnahmen gegen Gefangene, welche zwar auf Gefangene einwirken könnten, durch die jedoch die Bediensteten mehr beeinträchtigt würden als die Gefangenen, z. B. Anwendung von Tränengaswurfkörpern, wenn die Räumlichkeiten zu klein sind. Auch kann die Anwendung von Schusswaffen im Hinblick auf bestimmte räumliche Gegebenheiten völlig ungeeignet sein, eine Einwirkung auf das Verhalten der Gefangenen zu erzielen (z. B. die Anwendung einer Maschinenpistole in engen Räumen). Oft ist auch die Anwendung des Schlagstockes zur Durchsetzung des unmittelbaren Zwanges ungeeignet. Der Schlagstock eignet sich zum Zurückdrängen größerer Mengen von Menschen oder sonst zum Zurückschlagen eines tätlichen Angriffs. Der Schlagstock ist aber keine geeignete Waffe, um einen randalierenden Gefangenen zu bewegen, einen besonders gesicherten Haftraum freiwillig aufzusuchen. Hier wäre der Schlagstock keine Waffe zur unmittelbaren Einwirkung auf Personen, sondern ein Prügelinstrument, bei dessen Einsatz die Hoffnung besteht, dass durch Verprügeln der Gefangenen eine mittelbare Einwirkung auf die Person erzielt wird. Eine solche Praxis, die in der Vergangenheit in Hamburg, Köln und Mannheim zu Übergriffen geführt hat, ist durch das Strafvollzugsgesetz nicht gedeckt (so auch AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 1; vgl. § 95 Rdn. 4). Mit dem Schlagstock könnte einem randalierenden Gefangenen nur „gedroht“ werden, um ihn von einem Angriff auf Bedienstete abzuhalten. Das Verprügeln von Gefangenen darf nicht angedroht werden, da auch ein Androhen von Folter rechtswidrig wäre. 3. Sind mehrere Maßnahmen möglich und geeignet, dann soll diejenige Maßnahme er- 4 griffen werden, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Der handelnde Bedienstete muss hier eine Wahrscheinlichkeitsrechnung anstellen: er darf nicht einfach die Maßnahme wählen, die ihn selbst am wenigsten gefährdet, sondern muss die Interessen dessen mitbedenken, gegen den unmittelbarer Zwang angewendet werden soll und muss auch die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigen. 4. In der VV haben die Landesjustizvollzugsverwaltungen noch gemeint, klarstellen zu 5 müssen, dass eine Zwangsmaßnahme eingestellt werden müsse, wenn der Zweck erreicht ist. Dieses Übermaßverbot ergibt sich bei genauerem Lesen schon aus dem Wortlaut des Gesetzes. Auch das in der VV ausdrücklich niedergelegte Gebot, Zwangsmaßnahmen einzustellen, wenn deutlich wird, dass der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann, folgt aus der gesetzlichen Regelung in Abs. 1. Erweist sich nämlich eine Maßnahme als nicht mehr geeignet, so kann sie nicht als rechtmäßige Durchführung unmittelbaren Zwanges fortgesetzt werden. Zur Rechtsnatur der Verwaltungsvorschriften § 4 Rdn. 15 ff; § 115 Rdn. 23. 5. Eine tendenziell rückversichernde Einschränkung der Befugnis zur Anwendung von 6 unmittelbarem Zwang hat der Gesetzgeber in Abs. 2 niedergelegt. Nur erkennbar unverhältnismäßige Maßnahmen zwingen zum Einhalt. Für den einzelnen Vollzugsbediensteten kann § 96 eine in ihrem Anwendungsbereich schwer abschätzbare Vorschrift werden (vgl. das Beispiel Rdn. 7). Wie soll er in einer kritischen Situation ermessen, ob der zu erwartende Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht? Oft weiß man dies erst nach der Durchführung der Zwangsmaßnahme. Wird z. B. gegen Widerstand leistende Gefangene mit Reizstoffen, zugelassenen Hiebwaffen oder Schusswaffen vorgegangen, so ist unter bestimmten Umständen möglich, dass ein schwerer Schaden entsteht. Sowohl Reizstoffe als auch Hiebwaffen und insbesondere Schusswaffen können eine schwere Verletzung oder den Tod des betroffenen Gefangenen zur Folge haben. Im Ergebnis steht
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§ 97
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
dann der Schaden außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg, der möglicherweise darin bestanden hat, dass der Gefangene an einer Entweichung gehindert wird. Besonderer Sorgfalt bedürfte es bei der Auswahl der Schusswaffen, wenn Vollzugsbedienstete zum finalen Rettungsschuss ermächtigt werden sollten. Die Landesjustizverwaltungen haben die Justizvollzugsanstalten allerdings bisher angewiesen, die für Fälle der Geiselnahme besser ausgebildete und bewaffnete Polizei zur Hilfe zu holen (vgl. auch § 99 Rdn. 7).
III. Beispiel 7
Es gibt im Alltag des Vollzuges Situationen, die einen schweren Schaden für den Gefangenen erwarten lassen, wenn unmittelbarer Zwang angewendet würde. Wenn etwa ein ausbrechender Gefangener ein höheres Gebäude erklettert oder sich gerade auf einer hohen Anstaltsmauer befindet, kann jede Anwendung von Schusswaffen dazu führen, dass der Gefangene vor Schreck oder aus Panik abstürzt und sich schwer verletzt. Würde nun jeder Bedienstete, der mit einer Schusswaffe ausgestattet ist und einen Postenstand besetzt hält, von dem aus der Ausbruch von Gefangenen verhindert werden soll, unter Berufung auf Abs. 2 in solchem Falle die Anwendung von Schusswaffen vorsorglich unterlassen, dann würde die Wirksamkeit dieses Postenstandes erheblich beeinträchtigt. Diese Behinderung der Vollzugsbediensteten bei der rechtmäßigen Wahrnehmung ihres Amtes kann nicht der Sinn des Abs. 2 sein. Vielmehr macht die Formulierung in der genannten Vorschrift deutlich, dass unmittelbarer Zwang nur dann unterbleiben muss, wenn ein erkennbar ungewöhnliches Missverhältnis zwischen dem angestrebten Erfolg und dem zu erwartenden Schaden besteht. Dieses ungewöhnliche Missverhältnis würde bestehen, wenn mit Schusswaffen in einer offenen Anstalt auf flüchtende Gefangene geschossen würde. Deshalb ist die Regelung in § 100 Abs. 1 letzter Satz eine konsequente Detailregelung, die den Grundsatz des Abs. 2 aufnimmt (§ 100 Rdn. 4). Die Anwendung von Schusswaffen zur Verhinderung von Ausbrüchen aus geschlossenen Anstalten kann jedoch nur in Ausnahmefällen gem. Abs. 2 unzulässig sein, und zwar nur dann, wenn dem unmittelbaren Zwang anwendenden Bediensteten zufällig bekannt ist, dass ein für die Allgemeinheit ungefährlicher Gefangener den Ausbruch unternimmt. Zu Abs. 2 s. Rdn. 6.
IV. Landesgesetze 8
Art. 103 BayStVollzG entspricht § 96 StVollzG. § 80 HmbStVollzG entspricht § 96 StVollzG. Im NJVollzG findet sich zwar keine ausdrückliche Erwähnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, es wird wahrscheinlich unterstellt, dass dieser aus dem Verfassungsrecht in Bezug auf Eingriffe in Grundrechte abzuleitende Grundsatz auch im Strafvollzugsrecht angewendet werden muss.
§ 97 Handeln auf Anordnung (1) Wird unmittelbarer Zwang von einem Vorgesetzten oder einer sonst befugten Person angeordnet, sind Vollzugsbedienstete verpflichtet, ihn anzuwenden, es sei denn, die Anordnung verletzt die Menschenwürde oder ist nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden.
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Handeln auf Anordnung
§ 97
(2) Die Anordnung darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Vollzugsbedienstete sie trotzdem, trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird. (3) Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung hat der Vollzugsbedienstete dem Anordnenden gegenüber vorzubringen, soweit das nach den Umständen möglich ist. Abweichende Vorschriften des allgemeinen Beamtenrechts über die Mitteilung solcher Bedenken an einen Vorgesetzten (§ 38 Abs. 2 und 3 des Beamtenrechtsrahmengesetzes) sind nicht anzuwenden. VV 1 (1) Werden mehrere Vollzugsbedienstete gemeinsam tätig, so ist nur der den Einsatz Leitende befugt, unmittelbaren Zwang anzuordnen oder einzuschränken. Ist ein den Einsatz leitender Bediensteter nicht bestimmt oder fällt er aus, ohne dass ein Vertreter bestellt ist, tritt der anwesende dienstranghöchste, bei gleichem Dienstrang der dienstältere und bei gleichem Dienstalter der der Geburt nach älteste Vollzugsbedienstete an seine Stelle. Ist dies in dringender Lage nicht sofort feststellbar, darf jeder der hiernach in Betracht kommenden Vollzugsbediensteten die Führung einstweilen übernehmen. Die Übernahme der Führung ist bekannt zu geben. (2) Das Recht höherer Vorgesetzter, unmittelbaren Zwang anzuordnen oder einzuschränken, bleibt unberührt. 2 (1) Wer sich nicht am Ort des Geschehens befindet, darf eine Anordnung über unmittelbaren Zwang nur treffen, wenn er sich ein genaues Bild von den am Ort des Geschehens herrschenden Verhältnissen verschafft hat, so dass ein Irrtum über die Voraussetzungen nicht zu befürchten ist. Ändern sich zwischen der Anordnung und ihrer Ausführung die tatsächlichen Verhältnisse und kann der Anordnende vor der Ausführung nicht mehr verständigt werden, so entscheidet der örtlich leitende Bedienstete über die Anwendung unmittelbaren Zwanges. Der Anordnende ist unverzüglich zu verständigen. (2) Der Gebrauch von Waffen darf nur am Ort des Geschehens angeordnet werden. Schrifttum: s. bei § 94
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Die Gehorsamspflicht und das Widerstandsrecht . . . . . . 2. Die Widerstandspflicht . . .
. . . .
1 2–5
. . . .
2 3
Rdn. 3. Die Pflicht zur Geltendmachung von Rechtsbedenken . . . . . . . 4. Die VV . . . . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise Der besonderen Regelungen in § 97 bedurfte es, weil das Beamtenrecht Vollzugsbediens- 1 teten zur Aufgabe macht, die Rechtmäßigkeit der von ihnen verlangten obrigkeitlichen Maßnahmen zu prüfen. Das Beamtenrechtsrahmengesetz kennt Widerstandsrechte und Widerstandspflichten der handelnden Beamten. Die Übernahme dieser im allgemeinen Beamtenrecht vertretbaren Regelungen auf den Bereich des Strafvollzuges würde die Ineffek-
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§ 97
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
tivität der Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Folge gehabt haben. Der Gesetzgeber hat deshalb besondere Regelungen (vergleichbar denen bei Militär und Polizei) hinsichtlich der Fragen, die beim Handeln auf Anordnung entstehen, getroffen.
II. Erläuterungen 2
1. Grundsätzlich ist jeder Vollzugsbedienstete verpflichtet, die von seinem Vorgesetzten oder einer anderen zur Anordnung unmittelbaren Zwanges ermächtigten Person befohlene Maßnahme auszuführen. Die VV Nr. 1 Abs. 1 beschreibt diese Personen näher (vgl. z. B. OLG Hamm NStZ 1982, 220 = ZfStrVo 1982, 186; s. auch C/MD 2008 Rdn. 2). Von seiner Gehorsamspflicht ist der Vollzugsbedienstete nur dann befreit, wenn die Anordnung die Menschenwürde verletzen würde oder erkennbar nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist. Wann unmittelbarer Zwang die Menschenwürde verletzen könnte, hängt von der Situation des Einzelfalles ab (§ 95 Rdn. 4). Die Menschenwürde eines Gefangenen ist nicht immer dann verletzt, wenn der betroffene Gefangene aus seiner Sicht infolge der Anwendung unmittelbaren Zwanges „gedemütigt, bloßgestellt, erniedrigt, grausam behandelt, in seiner Intimsphäre verletzt“ wird, „oder sein Willen gebrochen werden soll“ (Beschreibung von Folter in Art. 5, Abs. 2 AMRK auf die sich das Folterverbot in Art. 3 EMRK bezieht), denn bei Zwangsmaßnahmen ist es die zwar nicht beabsichtigte, aber sachnotwendige Folge, dass sie den betroffenen Gefangenen das Gefühl vermitteln, man würde sie demütigen, bloßstellen oder erniedrigen. Aus der Sicht Betroffener kann eine Zwangsmaßnahme auch grausam wirken. Auch die Verletzung der Intimsphäre ist nicht auszuschließen, z. B. dann nicht, wenn ein Gefangener, der sich mit Kleidungsstücken strangulieren will, gewaltsam entkleidet wird. Nahezu jede Verbringung in einen besonders gesicherten Haftraum hat bei tobenden Gefangenen auch das Ziel, den Willen des Gefangenen in der konkreten Situation zu brechen. Gegen die Menschenwürde verstoßen Zwangsmaßnahmen nur dann, wenn sie gezielt grausam (etwa i. S. des § 211 StGB) wären oder die Demütigung, Erniedrigung oder der Bruch der Intimsphäre Ziel der Maßnahmen wäre. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegt im Falle der Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Vollzuge nicht immer schon dann vor, wenn sich betroffene Gefangene nicht als besonders würdig behandelt fühlen (im Ergebnis ähnlich AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 2). Vielmehr will Abs. 1 den Schutzgedanken des Art. 1 GG aufgreifen, dass jeder Mensch Mindestansprüche auf eine Behandlung als Mensch hat. Nach heutiger Vorstellung überschreitet z. B. das Foltern immer diese Grenze. Der Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GG verfolgt das Ziel, Missbrauch des Menschen als bloßes Objekt von Staatsmaßnahmen zu verhindern. Nur wenn ein solcher Missbrauchsfall erkennbar vorliegt, muss der Justizvollzugsbedienstete Anordnungen zur Anwendung unmittelbaren Zwanges nicht befolgen.
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2. Während Abs. 1 das Widerstandsrecht regelt, beschreibt Abs. 2 die Fälle, in denen der Vollzugsbedienstete zur Nichtausführung der Anordnung verpflichtet ist. Eine solche Widerstandspflicht besteht nur, wenn durch die Ausführung des angeordneten unmittelbaren Zwanges eine Straftat begangen würde. Zum Schutz des Bediensteten, der oft in einer schwierigen Situation schnell handeln muss, räumt das Gesetz dem betroffenen Bediensteten auch dann einen Schuldausschließungsgrund ein, wenn er nicht erkannt hat, dass durch die Anwendung unmittelbaren Zwanges eine Straftat begangen wird, es sei denn, es war nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich. In der Praxis des Vollzuges wird es nur selten offensichtlich sein, dass durch den angeordneten unmittelbaren Zwang eine Straftat begangen werden soll. Fälle einer solchen offensichtlichen Straftat liegen vor, wenn Gefangene durch Prügel oder ähnliche Maßnahmen „bestraft“ werden sollen. Hier liegt für
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§ 98
Androhung
jeden Bediensteten erkennbar eine Körperverletzung im Amte vor (so auch AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 4). Vgl. dazu auch § 99 Rdn. 7. 3. In Abs. 3 nimmt der Gesetzgeber Regelungen aus dem allgemeinen Beamtenrecht 4 auf, wonach nämlich, wenn die Widerstandspflicht i. S. des Abs. 2 nicht besteht, der Bedienstete die Pflicht hat, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung dem Anordnenden gegenüber vorzubringen. Dies ist eine wichtige Pflicht mitdenkender Beamter. Sie besteht allerdings nur, soweit ihre Erfüllung den Umständen nach möglich ist. Mit dieser Einschränkung berücksichtigt der Gesetzgeber, dass in der Praxis eine Diskussion über die Anwendung unmittelbaren Zwanges oft nicht möglich sein wird, weil Eile geboten ist. 4. Die VV stellen noch einige organisatorische Fragen klar, sie sind durchweg aus sich 5 heraus verständlich. Missverständlich ist lediglich die VV Nr. 1 Abs. 2. Es könnte der Eindruck entstehen, dass auch über dem Anstaltsleiter stehende Vollzugsbedienstete das Recht haben, unmittelbaren Zwang anzuordnen oder Anordnungen des Anstaltsleiters einzuschränken. Dies kann die VV nicht regeln, denn die Anordnung und Durchführung unmittelbaren Zwanges ist Bediensteten von Vollzugsanstalten vorbehalten (§ 94 Abs. 1). Die Aufsichtsbehörden haben gem. § 151 nicht das Recht, Dienstgeschäfte der Bediensteten von Vollzugsanstalten selbst wahrzunehmen. Allerdings könnte die Aufsichtsbehörde in konkreten Einzelfällen einen kommissarischen Behördenleiter ernennen und dies könnte im Einzelfall auch der zuständige Minister oder ein ihm nachgeordneter hoher Beamter sein. Zum Selbsteintritts- und Durchgriffsrecht der Aufsichtsbehörde vgl. vor § 151 ff Rdn. 2 f.
III. Landesgesetze Art. 104 BayStVollzG entspricht inhaltlich im Wesentlichen § 97 StVollzG, statt auf das 6 BeamtenrechtsrahmenG des Bundes wird auf das bayr. LBG verwiesen. § 81 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 97 StVollzG. § 89 NJVollzG entspricht inhaltlich § 97 StVollzG, enthält lediglich den Hinweis auf das niedersächische Beamtenrecht.
§ 98 Androhung Unmittelbarer Zwang ist vorher anzudrohen. Die Androhung darf nur dann unterbleiben, wenn die Umstände sie nicht zulassen oder unmittelbarer Zwang sofort angewendet werden muss, um eine rechtswidrige Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, zu verhindern oder eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden. Schrifttum: s. bei § 94
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Die Androhungspflicht als Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen von der Androhungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Umstände lassen sie nicht zu
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Rdn. b) Eine Straftat muss verhindert werden . . . . . . . . . . . . c) Eine gegenwärtige Gefahr ist abzuwenden . . . . . . . . . III. Beispiel: Androhung unmittelbaren Zwanges ist keine „Nötigung“ . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . .
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§ 98
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
§ 98 nimmt Regelungen in das Strafvollzugsrecht auf, wie sie auch für andere Verwaltungen, die zur Anwendung unmittelbaren Zwanges berechtigt sind, gelten.
II. Erläuterungen 2
1. Die Anwendung unmittelbaren Zwanges ist im Regelfall vorher anzudrohen. Mit dieser Androhungspflicht für die Vollzugsbediensteten trägt § 98 dem Grundgedanken des Strafvollzugsgesetzes Rechnung, dass zunächst auf die Vernunft des Gefangenen eingewirkt werden muss (vgl. auch AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 1, Arloth 2008 Rdn. 1 und C/MD 2008 § 94 Rdn. 2). Der Gefangene soll wissen, dass er für den Fall der nicht vorhandenen Gesetzestreue mit Zwangsmaßnahmen rechnen muss. In der täglichen Praxis in den Vollzugsanstalten genügt oft die Androhung der Anwendung unmittelbaren Zwanges, um das gewünschte Verhalten von den Gefangenen zu erreichen. Gewaltsame Auseinandersetzungen sind im deutschen Strafvollzug – im Gegensatz zur Vollzugspraxis in manchen anderen Ländern der Erde – relativ selten. Dieser Erfahrungssatz trifft trotz des zunehmenden Anteils betragensauffälliger Gefangener generell auch heute noch zu, obwohl Gefangene aus einigen wenigen Ländern der Erde unverhältnismäßig oft Gewaltanwendung durch Gewalttätigkeiten gegen Bedienstete und Mitgefangene „provozieren“. Die meisten Gefangenen wissen, dass von Seiten der Bediensteten Gewaltanwendung als das letzte Mittel angesehen wird, welches zum Einsatz gelangt. Zum Verhältnis von Androhung und § 240 StGB vgl. Rdn. 7.
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2. Der Gesetzgeber ermächtigt die Vollzugsbediensteten in Satz 2, von der Androhung unmittelbaren Zwanges unter bestimmten Voraussetzungen abzusehen.
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a) Die Androhung kann unterbleiben, wenn die Umstände sie nicht zulassen (solche Fälle soll es nach AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 2 kaum geben).Im konkreten Einzelfall muss entschieden werden, ob die Androhung unmittelbaren Zwanges den Umständen nach nicht erforderlich ist. Oft sind dies Situationen, in denen zur Verhinderung von Schäden bei Menschen oder an Sachen schnelles Handeln geboten ist. Tobende Gefangene, die erkennbar nicht Herr ihrer Sinne sind, sind durch sofortige Gewaltanwendung zur Ruhe zu bringen. Andere Umstände, welche die Androhung unmittelbaren Zwanges als sinnlos erscheinen lassen, könnten darin gesehen werden, dass die Anwendung unmittelbaren Zwanges zu spät käme, wenn sie zunächst angedroht würde, so z. B. bei Geiselnahmen oder bei entweichenden Gefangenen, denen die Entweichung fast schon geglückt ist. Andererseits ist auch bei Ausbrüchen aus geschlossenen Anstalten zuweilen die bloße Androhung unmittelbaren Zwanges, die z. T. durch einen Warnschuss unterstützt werden kann, ausreichend, um den Ausbruch zu verhindern.
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b) Die Androhung unmittelbaren Zwanges kann unterbleiben, wenn eine Straftat durch sofortigen Zugriff verhindert werden muss. Als solche Straftat kommt nicht nur der Ausbruch (z. B. in Form der Gefangenenmeuterei), sondern vor allem auch das gewaltsame Eindringen Dritter in die Justizvollzugsanstalt (Hausfriedensbruch oder Landfriedensbruch) oder die gewaltsame Gefangenenbefreiung in Betracht. Auch tätliche Angriffe auf Bedienstete oder Mitgefangene sind Straftaten, die eine sofortige Anwendung unmittelbaren Zwanges erforderlich machen.
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c) Der Gesetzgeber lässt den Verzicht auf die Androhung der Anwendung unmittelbaren Zwanges auch dann zu, wenn eine „gegenwärtige Gefahr abzuwenden“ ist. Hier
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Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch
§ 99
ist nicht an Straftaten oder Notwehrsituationen gedacht, denn da ist die Androhung unmittelbaren Zwanges ohnehin überflüssig, sondern es kann Fälle geben, in denen den betroffenen Gefangenen selbst unmittelbar Gefahr droht, ohne dass deshalb Straftaten begangen würden. Auch in diesen Fällen lässt der Gesetzgeber ein sofortiges Eingreifen zu. Solche Fälle liegen vor, wenn Gefangene sich selbst verletzen oder töten wollen (weitere Beispiele bei Arloth 2008 Rdn. 1).
III. Beispiel Die Androhung unmittelbaren Zwanges wird von redegewandten Gefangenen oft als 7 Nötigung im Sinne des Strafgesetzbuches bezeichnet. Zuweilen wird in solchen Fällen der Gesetzestext des § 240 StGB zitiert. Um solchen sachlich ungerechtfertigten Vorwürfen wirksam begegnen zu können, sollte jeder Vollzugsbedienstete wissen, dass eine Straftat i. S. d. § 240 StGB nicht vorliegen kann, wenn von einer gesetzlich erteilten Ermächtigung (z. B. § 98) Gebrauch gemacht wird.
IV. Landesgesetze 8
Art. 105 BayStVollzG entspricht § 98 StVollzG. § 82 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 98 StVollzG. § 90 NJVollzG entspricht § 98 StVollzG.
§ 99 Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch (1) Schusswaffen dürfen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges bereits erfolglos waren oder keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist ihr Gebrauch nur zulässig, wenn der Zweck nicht durch Waffenwirkung gegen Sachen erreicht wird. (2) Schusswaffen dürfen nur die dazu bestimmten Vollzugsbediensteten gebrauchen und nur, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Ihr Gebrauch unterbleibt, wenn dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet würden. (3) Der Gebrauch von Schusswaffen ist vorher anzudrohen. Als Androhung gilt auch ein Warnschuss. Ohne Androhung dürfen Schusswaffen nur dann gebraucht werden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben erforderlich ist. Schrifttum: s. bei § 94
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§ 99
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise: Die Bedeutung der Schusswaffen . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Gebrauchsmonopol für besonders bestimmte Vollzugsbedienstete . 2. Anwendung unmittelbaren Zwanges als letztes Mittel . . . . 3. Ziel der Anwendung von Schusswaffen: angriffs- oder fluchtunfähig machen . . . . . . . . .
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Rdn. 4. Verbot des Schusswaffeneinsatzes bei großer Gefährdung Unbeteiligter . 5. Die Androhungspflicht und die dazu ergangenen Ausnahmeregelungen . . . . . . . . . . . . . . III. Beispiel: Schusswaffengebrauch bei Geiselnahmen . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
§ 99 und ergänzend § 100 enthalten wegen der erheblichen Auswirkungen, die ein Schusswaffengebrauch haben kann, besondere Regelungen über die Anwendung von Schusswaffen (so auch Arloth 2008 § 99 Rdn. 1). Die Vollzugsbediensteten sind in den Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Vollzuges in den meisten Bundesländern mit zeitgemäßen Schusswaffen ausgestattet (§ 95 Rdn. 8 und 10). Neben Pistolen gibt es automatische Gewehre mit zum Teil beträchtlicher Reichweite und Zielgenauigkeit. Solche Waffen sind in der Hand Ungeübter wegen ihres hohen Wirkungsgrades gefährlich. Noch mehr Übung braucht jemand, der „Dumm-Dumm-Geschosse“ oder Blendgranaten einsetzen soll. Deshalb sind derartige Waffen im Vollzug bislang nicht zugelassen.
II. Erläuterungen 2
1. Schusswaffen dürfen nur von „dazu bestimmten Vollzugsbediensteten“ gebraucht werden (vgl. § 94 Rdn. 2). Bei der Auswahl dieser Vollzugsbediensteten muss darauf geachtet werden, dass nur im Umgang mit der Waffe geübte Bedienstete die Waffe anwenden. Die Ausbildung der Vollzugsbediensteten im Umgang mit Schusswaffen ist nicht immer ausreichend. Insbesondere sind die Übungsintervalle oft zu groß. So muss z. B. der Bedienstete, der automatische Waffen sachgerecht bedienen soll, mindestens in zweiwöchigem Abstand trainiert werden. Wenigstens sollte er jeden Monat Schießübungen machen können. Diese der Polizei geläufige Erkenntnis wird im Strafvollzug oft vernachlässigt und führt dann in den Fällen, in denen von Schusswaffen Gebrauch gemacht wird, zuweilen zu tragischen Folgen. Entweder werden Unbeteiligte verletzt oder der Schütze verfehlt sein Ziel so deutlich, dass die Wirksamkeit bewaffneter Bediensteter in den Augen der ausbruchsgeneigten Gefangenen stark herabgesetzt wird. Beides will der Gesetzgeber vermeiden, indem er darauf hinweist, dass es Vollzugsbedienstete in den Anstalten geben muss, die zum speziellen Gebrauch von Schusswaffen ausgebildet sind und dann auch zu deren Anwendung bestimmt werden können. Die Bestimmung dieser Bediensteten ist gemäß § 156 dem Anstaltsleiter vorbehalten; sinnvoll wäre, wenn er im Vorwege für den Fall kritischer Situationen festlegt, welche Bediensteten mit welchen Waffen ausgerüstet werden dürfen. Der Einsatz unzulänglich ausgebildeter Bediensteter an Schusswaffen könnte auch verfassungsrechtlichen (Art. 1 Abs. 1 GG) und damit beamtenrechtlichen Bedenken begegnen, da es menschenunwürdig sein kann, als Ungeübter von Schusswaffen Menschen gegenüber Gebrauch machen zu müssen.
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Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch
§ 99
2. Auch bei der Benutzung von Schusswaffen nimmt der Gesetzgeber in Abs. 1 den 3 Grundsatz wieder auf, dass die Anwendung unmittelbaren Zwanges das letzte Mittel sein soll, welches zum Einsatz kommt (§ 96 Rdn. 4 ff). Diesen Grundgedanken beschreibt der Gesetzgeber dadurch, dass er a) Schusswaffengebrauch nur zulässt, wenn andere Zwangsmittel erfolglos waren oder keinen Erfolg versprechen und b) den Schusswaffengebrauch gegenüber Personen davon abhängig macht, dass das Ziel der Anwendung unmittelbaren Zwanges nicht auch durch Waffenwirkung gegen Sachen erreicht werden kann (z. B. Schießen auf ein Fluchtfahrzeug). 3. Schusswaffen dürfen nur angewendet werden, „um angriffs- oder fluchtunfähig 4 zu machen“. Mit dieser Formulierung wird vom Gesetzgeber eindeutig beschrieben, mit welcher Zielrichtung Vollzugsbedienstete Schusswaffen anwenden dürfen. Es darf nicht auf Personen geschossen werden, die nur Sachwerte beschädigen, z. B. Diebe oder Zellenzertrümmerer in Justizvollzugsanstalten. Die gesetzliche Regelung muss allerdings dahingehend interpretiert werden, dass dem Gesetzgeber das Risiko bewusst war, dass jeder auf einen Menschen gerichtete Schuss eine schwere Verletzung oder den Tod des Beschossenen herbeiführen kann. Vollzugsbedienstete sind zwar nicht zur Abgabe eines gezielten Todesschusses ermächtigt, wohl aber dürfen sie auf Menschen schießen, um diese angriffs- oder fluchtunfähig zu machen (zur Abgrenzung von Notwehr vgl. § 94 Rdn. 12 und unten Rdn. 7). Mit dem Schusswaffengebrauch soll der Bedienstete das Ziel verfolgen, die Entweichung eines Gefangenen, das gewaltsame Eindringen in eine Justizvollzugsanstalt oder eine Gefangenenbefreiung wirksam zu verhindern. Dabei hat der Vollzugsbedienstete zunächst zu prüfen, welche Anwendung der ihm zur Verfügung stehenden Schusswaffen die geeignetste Form zur Verhinderung des Ausbruchs oder zur Abwehr des Angriffs ist. Er hat darauf zu achten, dass der angerichtete Schaden möglichst gering bleibt und dass das Risiko einer schweren Verletzung oder der Tötung eines Menschen nicht über das Normalmaß hinausgeht. Tritt der nicht beabsichtigte Erfolg infolge eines Missgeschicks oder anderer widriger Umstände dennoch ein, so war der Schusswaffengebrauch trotzdem rechtmäßig, solange der Vorsatz des Vollzugsbediensteten sich nicht auf den eingetretenen Erfolg erstreckte (zur Problematik des dolus eventualis vgl. unten Rdn. 7). 4. Der Gesetzgeber schreibt in Abs. 2 Satz 2 vor, dass Schusswaffengebrauch zu unter- 5 bleiben hat, „wenn dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden“. Wichtig für die Vollzugsbediensteten ist, dass sie diese Vorschrift sehr genau kennen. Die Unbeteiligten müssen als solche erkennbar sein. Wenn sich z. B. Journalisten in Ausübung ihres Berufes einer Gruppe von Menschen anschließen, die gewaltsam in eine Justizvollzugsanstalt eindringen (wie es in Berlin-Moabit bei einer Teilbesetzung der Anstalt vor einigen Jahren der Fall gewesen sein soll), so können sie nicht damit rechnen, erkennbar Unbeteiligte zu sein. Der Schusswaffengebrauch muss unterbleiben, wenn Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet würden, d. h. es genügt nicht die bloße Möglichkeit der Gefährdung Unbeteiligter, es genügt nicht einmal, dass die Gefährdung Unbeteiligter wahrscheinlich ist, sondern es muss ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorliegen. Um abschätzen zu können, was mit diesen Begriffen gemeint ist, sollten mit den Vollzugsbediensteten, die für die Anwendung von Schusswaffen in Betracht kommen, immer wieder Modellsituationen durchgesprochen werden, in welchen solche Gefährdungssituationen für Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit vorliegen können. Die Benutzung von Handfeuerwaffen auf belebten Straßen, in Fluren von Krankenhäusern oder an anderen Orten, wo sich viele Menschen sichtbar aufhalten, ist gemäß Abs. 2 Satz 2 unzulässig. Diese Vorschrift ist aber nicht so zu verstehen, dass immer dann, wenn Unbetei-
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
ligte in der Nähe stehen, der Schusswaffengebrauch zu unterbleiben hat. Gerade die Anwendung von Pistolen oder Revolvern ist für den geübten Schützen auch möglich, wenn in einiger Entfernung Menschen stehen. Im konkreten Fall kann die Entscheidung der aufgeworfenen Fragen für den einzelnen Beamten sehr schwierig sein, so z. B. wenn ein gefährlicher Gefangener bei einer Ausführung zur Beerdigung naher Angehöriger auf dem Friedhof wegläuft. Hier kann der Schusswaffengebrauch durchaus zulässig sein, er kann sich aber auch in der konkreten Situation wegen zu vieler unbeteiligter dritter Personen, die in der Schussbahn stehen, verbieten. Die gesetzliche Formulierung in Abs. 2 macht deutlich, dass der Gesetzgeber den Vollzugsbediensteten ein hohes Maß an Sicherheit geben möchte. Der Beamte braucht nicht zu befürchten, dass jeder Irrtum bei der Verkennung der Situation zu seinen Lasten geht, vielmehr muss der Irrtum so groß sein, dass er bei Anwendung normaler Sorgfalt unterblieben wäre. Zur Zulassung von Schusswaffen § 95 Rdn. 10.
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5. In Abs. 3 trifft der Gesetzgeber eine Regelung, die den § 98 für die Fälle des Schusswaffengebrauchs ergänzt. Auch der Schusswaffengebrauch ist wie jede Anwendung unmittelbaren Zwanges vorher anzudrohen. Der Warnschuss wird als spezielle Form der Androhung ausdrücklich erwähnt (Abs. 3 Satz 2). Bei flüchtenden Gefangenen wird der Warnschuss in der Regel notwendig sein. Der Schusswaffengebrauch ohne vorherige Androhung ist deutlich an sehr viel engere Voraussetzungen geknüpft, als dies für die Anwendung der anderen Zwangsmittel in § 98 geregelt ist. Der Schusswaffengebrauch muss erforderlich sein, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwenden, d. h., es müssen Menschen konkret gefährdet sein. Die Gefährdung von Sachwerten genügt niemals. Zum Beispiel darf ein seinen Haftraum zertrümmernder Gefangener auch dann nicht mit Schusswaffen bekämpft werden, wenn andere Formen der Anwendung unmittelbaren Zwanges wegen der ungeheuren Körperkräfte des Gefangenen als aussichtslos erscheinen. Die Abgabe eines Warnschusses könnte in einer solchen Situation allerdings zulässig sein, wenn die Gefahr besteht, dass der Gefangene Bedienstete angreift. Solche Situationen kommen selten vor, sind aber bei körperlich kräftigen Gefangenen denkbar, wenn zu wenige Bedienstete im Dienst sind, um die konkrete Gefahr anders als durch Schusswaffengebrauch abzuwenden. Der Warnschuss ist gem. Abs. 3 Satz 2 in der Regel überflüssig, wenn ein bewaffneter Angriff auf eine Justizvollzugsanstalt vorgetragen wird. Denn hier besteht die gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben von Bediensteten und unbeteiligten Gefangenen, so dass ohne Vorwarnung gezielt geschossen werden darf.
III. Beispiel 7
Ein besonderer Fall, in dem ein Warnschuss nicht angebracht ist und im Einzelfall sogar sehr gefährlich werden kann, ist der Fall der Geiselnahme durch bewaffnete Geiselnehmer. In solchen Fällen haben alle Landesjustizverwaltungen in Absprache mit den Innenministerien die Regelung getroffen, dass Spezialkräfte der Polizei so schnell wie möglich zum Einsatz kommen. Kann wegen der Eilbedürftigkeit im konkreten Fall nur der gezielte Befreiungsschuss der vor Ort eingesetzten Vollzugsbeamten die Geiselnahme rechtzeitig beenden, so kann auch dieser gezielte Befreiungsschuss ein zulässiges Mittel der Gefahrenabwehr sein, wenn der Bedienstete, der sich zu einem solchen Schuss entschließt, durch seine Ausbildung und Fortbildung das Risiko, das Leben der Geiseln zu gefährden, auf ein vertretbares Maß mindern kann. Der gezielte Befreiungsschuss führt – je nach Lage des Einzelfalles – nicht zwangsläufig zum Tode des Geiselnehmers. Dies hat sich bei vielen Fällen polizeilichen Schusswaffengebrauchs gezeigt. Viele Vollzugsbedienstete sind aufgrund ihrer relativ geringen Übung im Schusswaffengebrauch jedoch nicht in der Lage, im Falle
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Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch
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einer Geiselnahme durch bewaffnete Geiselnehmer einen gezielten Befreiungsschuss abzugeben. Bei Geiselnahmen richtet sich die Antwort auf die Frage, wann die speziell eingesetzten Polizeikräfte einen gezielten Befreiungsschuss abgeben dürfen, nach den besonderen Vorschriften der jeweiligen Landespolizeigesetze. Das Strafvollzugsgesetz hat für solche besonderen Gefahrenlagen keine Regelungen treffen wollen, sondern in § 94 Abs. 3 ausdrücklich auf ergänzend wirksam werdende Rechtsvorschriften hingewiesen. Die vom Gesetz getroffene Regelung ist sinnvoll. Im Falle einer Geiselnahme geht es für die Geisel und auch den Geiselnehmer um Leben und Tod. Aufgrund des verfassungsrechtlich hohen Ranges des Rechtes auf Leben, das jedem Menschen zugebilligt wird, ist nicht nur eine gründliche Güter- und Pflichtenabwägung in der konkreten Einzelsituation erforderlich, sondern die maßvollste Anwendung von staatlichen Zwangsmaßnahmen geboten. Im Falle einer bewaffneten Geiselnahme in einer Justizvollzugsanstalt steht unter Beachtung dieser verfassungsrechtlichen Grundregeln nur im Gebrauch von Schusswaffen besonders ausgebildeten Bediensteten das Recht zur Abgabe eines gezielten Befreiungsschusses zu. Über seine Befähigung kann der betroffene Bedienstete nicht selbst entscheiden; vielmehr sind insoweit die generellen Verwaltungsvorschriften der Landesjustizverwaltungen, die in Ergänzung des Strafvollzugsgesetzes ergangen sind, zu beachten (den gezielten Befreiungsschuss nur der Polizei vorbehalten wollen K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 14 und auch AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 6 ). Unabhängig von der Frage, wann Vollzugsbedienstete zur Abgabe des gezielten Schusses befugt sind, ist allerdings das Problem der Strafbarkeit beim Schusswaffengebrauch innerhalb von Justizvollzugsanstalten zu prüfen, in der Regel können Vollzugsbedienstete infolge der vorliegenden Notwehr- oder Nothilfesituation mit Straffreiheit rechnen (diesen Gesichtspunkt allein wollen Arloth 2008 Rdn. 3, C/MD 2008 Rdn. 2, Calliess 1992, 176 und Laubenthal 2008 Rdn. 723 als Rechtfertigung von Befreiungsschüssen anerkennen). Gerade in speziellen Gefahrenlagen stellt sich für Vollzugsbedienstete die Frage nach ihrer Berechtigung zum Schusswaffengebrauch. Sowohl zur Verhinderung eines Ausbruchs aus geschlossenen Justizvollzugsanstalten als auch zur Verhinderung von Meutereien, Geiselnahmen und Angriffen auf Vollzugsbedienstete und Gefangene kann es geboten sein, die Schusswaffe auf einen Menschen zu richten. Nicht berechtigt ist der Vollzugsbedienstete zur Abgabe eines gezielten Todesschusses (so auch K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 14, Arloth 2008 Rdn. 3, AK-Brühl/Walter 2006 Rdn. 6 und C/MD 2008 Rdn. 2). Andererseits birgt jeder auf einen Menschen gerichtete Schuss das Risiko, dass der Tod eines Menschen herbeigeführt wird, ohne dass dies vom Schützen beabsichtigt wird. Es reicht nicht aus, die Vollzugsbediensteten hinsichtlich dieses Risikos auf die Straffreiheit der Nothilfe zu verweisen (so Arloth 2008 Rdn. 3, C/MD 2008 Rdn. 2; Calliess 1992, 176 und Laubenthal 2008 Rdn. 723). Vielmehr muss auch in solchen Fällen der Vollzugsbeamte die Gewissheit haben, dass er aufgrund der für ihn geltenden gesetzlichen Regelungen auf Menschen schießen darf. Rechtlich schwierig zu lösen ist das Problem dann, wenn der Bedienstete einen Schuss abgibt und dabei den Tod des Opfers billigend in Kauf nimmt, denn in solchen Fällen könnte ein mit Eventualvorsatz abgegebener Todesschuss unterstellt werden. Diese Bewertung des Verhaltens von Vollzugsbediensteten ist nicht richtig, wenn sie sich zur Abgabe von Schüssen auf Menschen in besonders im Gesetz beschriebenen Gefahrensituationen entschließen, dabei jedoch die Zielsetzung nur das Flucht- und Kampfunfähigmachen des Opfers ist. Wird durch ein Missgeschick oder andere unglückliche Umstände mehr als dieses Ziel, nämlich der Tod eines Menschen bewirkt, so kann der von dem Vollzugsbediensteten abgegebene Schuss nicht schon deshalb als vorsätzlicher Todesschuss angesehen werden, weil der handelnde Beamte das generell bei einem
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§ 100
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
auf Menschen gerichteten Schuss gegebene Tötungsrisiko in Kauf nimmt. Dieses mit jedem auf einen Menschen gerichteten Schuss verbundene Tötungsrisiko wird vom Gesetzgeber anerkannt, wenn er Bedienstete zur Abgabe eines Schusses in besonderen Gefahrensituationen ermächtigt.
IV. Landesgesetze 8
Die Vorschrift des Art. 106 BayStVollzG entspricht § 99 StVollzG. § 83 HmbStVollzG regelt – inhaltlich den §§ 99 und 100 StVollzG entsprechend – den Schusswaffengebrauch im Erwachsenenvollzug, für den in einem neuen Landesgesetz geregelten Jugendstrafvollzug gibt es – ebenfalls in einem § 83 – eine inhaltlich dem Erwachsenenvollzug entsprechende Regelung allerdings ohne Befugnisse des Schusswaffengebrauchs bei Flucht und Wiederergreifung von Gefangenen. § 91 NJVollzG entspricht § 99 StVollzG.
§ 100 Besondere Vorschriften für den Schusswaffengebrauch (1) Gegen Gefangene dürfen Schusswaffen gebraucht werden, 1. wenn sie eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug trotz wiederholter Aufforderung nicht ablegen, 2. wenn sie eine Meuterei (§ 121 des Strafgesetzbuches) unternehmen oder 3. um ihre Flucht zu vereiteln oder um sie wiederzuergreifen. Um eine Flucht aus einer offenen Anstalt zu vereiteln, dürfen keine Schusswaffen gebraucht werden. (2) Gegen andere Personen dürfen Schusswaffen gebraucht werden, wenn sie es unternehmen, Gefangene gewaltsam zu befreien oder gewaltsam in eine Anstalt einzudringen. VV Bei bestimmten Haftarten gelten für den Schusswaffengebrauch die besonderen Vorschriften des § 178 Abs. 3 StVollzG. Schrifttum: s. bei § 94.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Schusswaffengebrauch gegen bewaffnete Gefangene . . . 2. Schusswaffengebrauch bei Meuterei . . . . . . . . . .
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Rdn. 3. Schusswaffengebrauch bei Flucht aus geschlossener Anstalt . . . . . 4. Schusswaffengebrauch gegen andere Personen als Gefangene . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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Besondere Vorschriften für den Schusswaffengebrauch
§ 100
I. Allgemeine Hinweise Der Schusswaffengebrauch durch Vollzugsbedienstete ist eine besonders gefährliche 1 Form der Anwendung unmittelbaren Zwanges. Das Strafvollzugsgesetz hat deshalb die zulässigen Fälle der Anwendung von Schusswaffen so präzise wie möglich und zugleich abschließend geregelt, d. h. andere Anwendungsfälle wären unzulässig (so auch C/MD 2008 Rdn. 1).
II. Erläuterungen 1. Gefangene, die mit einer Waffe oder einem anderen gefährlichen Werkzeug be- 2 waffnet sind und diese trotz wiederholter Aufforderung nicht ablegen, müssen mit dem Gebrauch von Schusswaffen rechnen. Zwingend vorgeschrieben ist allerdings die wiederholte Aufforderung, Waffen bzw. Werkzeug abzulegen. Darin liegt eine besondere Form der Androhung des Schusswaffengebrauchs. Diese kann allerdings unterbleiben, wenn es zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben eines Bediensteten erforderlich ist. Unzweckmäßig könnte z. B. die wiederholte Aufforderung eine geladene Schusswaffe abzulegen sein, wenn der Gefangene damit erkennbar sofort schießen will. Auch für den Fall des Abs. 1 Nr. 1 gilt die Grundregelung in § 99 (dort Rdn. 3). Sinn der Regelung in Abs. 1 Nr. 1 ist, den Vollzugsbediensteten beispielhaft vor Augen zu führen, wann Schusswaffengebrauch besonders naheliegend sein kann. 2. Die Meuterei von Gefangenen wird außerdem ausdrücklich als ein Fall erwähnt, in 3 dem Schusswaffen angewendet werden dürfen. Wann eine Meuterei vorliegt, ergibt sich aus § 121 StGB. Nicht jeder Fall, der in § 121 StGB erwähnt wird, rechtfertigt allerdings die Anwendung von Schusswaffen, bedacht werden muss immer, dass andere Mittel keinen Erfolg mehr versprechen dürfen, sonst sind andere Zwangsmittel anzuwenden. So war es durchaus folgerichtig, das bei den größeren Meutereien in den Jahren 1990/1991 in den Justizvollzugsanstalten Rheinbach, Hamburg-Fuhlsbüttel, Straubing und Bernau keine Schusswaffen gegen Gefangene eingesetzt worden sind. 3. Die Flucht aus einer geschlossenen Anstalt darf durch Schusswaffengebrauch ver- 4 eitelt werden und das Wiederergreifen von Gefangenen, die aus geschlossenen Anstalten ausgebrochen oder geflohen sind, darf zum Schusswaffengebrauch führen. Ein solches Wiederergreifen kann im Rahmen einer Festnahme gemäß § 87 erfolgen. Von der bayerischen Landesjustizverwaltung ist in einer Länderumfrage die Frage aufgeworfen worden, ob der Schusswaffengebrauch gegen Gefangene, die für den offenen Vollzug geeignet waren (§ 10 Rdn. 6 ff) und auch in einer offenen Anstalt untergebracht waren, auch dann unzulässig bleiben würde, wenn diese Gefangenen sich vorübergehend, etwa zur Wahrnehmung von Gerichtsterminen oder auf Transporten, nicht in einer offenen Anstalt befinden. Bei sinngemäßer Auslegung des § 100 muss die Anwendung von Schusswaffen gegen Gefangene unterbleiben, wenn diese Gefangenen sich wegen ihrer besonderen Eignung gemäß § 10 zuständiger Weise in einer offenen Anstalt befinden. An dem Status eines Gefangenen des offenen Vollzuges ändert sich i. S. des § 10 auch dann nichts, wenn der Gefangene vorübergehend in einem Gefangenentransportfahrzeug oder in einer geschlossenen Anstalt untergebracht ist. Im letzteren Fall ist der Schusswaffengebrauch allerdings nur dann unzulässig, wenn der die Schusswaffe nutzende Beamte erkannt hatte, dass der Gefangene ein solcher des offenen Vollzuges war. Vgl. dazu auch § 96 Rdn. 7. Andererseits darf ein Gefangener, der sich zwar räumlich noch in einer offenen Anstalt befindet, für diese aber (z. B. wegen begangener schwerer Straftaten) nicht mehr geeignet Klaus Koepsel
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ist, durch Schusswaffengebrauch an einer Entweichung gehindert werden. Dies ergibt sich aus dem Sinn der Regelung des Abs. 1 Satz 2, der nur aus der Zusammenschau mit § 10 richtig zu verstehen ist.
5
4. Die Anwendung von Schusswaffen gegenüber anderen Personen als Gefangenen ist zulässig, wenn sie es unternehmen – d. h. es genügt der Versuch –, Gefangene gewaltsam zu befreien oder gewaltsam in eine Anstalt einzudringen. Der Gesetzgeber macht in Abs. 2 deutlich, dass Justizvollzugsanstalten für ihn ein Territorium darstellen, in welches das Eindringen auch mit Waffengewalt verhindert werden kann. Nur wenigen Justizvollzugsbediensteten ist die Tragweite dieser Vorschrift vollen Umfangs bekannt, denn glücklicherweise ist in der Bundesrepublik Deutschland bisher nur selten versucht worden, in Justizvollzugsanstalten einzudringen (Fälle in den JVAen Berlin-Moabit, Schwalmstadt, Werl und Wuppertal wurden bekannt).
III. Landesgesetze 6
Art. 107 BayStVollzG entspricht inhaltlich § 100 StVollzG. Das Hamburgische Strafvollzgsgesetz hat die Regelungen der §§ 99 und 100 StVollzG in einer Vorschrift zusammen gefasst (§ 83 HmbStVollzG) und hat in § 83 JStrVollzG für den Jugendstrafvollzug Entsprechendes geregelt – allerdings für Fälle der Fluchtvereitelung und Wiederergreifung den Schusswaffengebrauch ausgeschlossen. § 92 NJVollzG entspricht inhaltlich § 100 StVollzG.
§ 101 Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (1) Medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung sind zwangsweise nur bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zulässig; die Maßnahmen müssen für die Beteiligten zumutbar und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Zur Durchführung der Maßnahmen ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. (2) Zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene ist die zwangsweise körperliche Untersuchung außer im Falle des Absatzes 1 zulässig, wenn sie nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist. (3) Die Maßnahmen dürfen nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden, unbeschadet der Leistung erster Hilfe für den Fall, dass ein Arzt nicht rechtzeitig erreichbar und mit einem Aufschub Lebensgefahr verbunden ist. VV (1) Erklärungen des Gefangenen, die im Zusammenhang mit ärztlichen Zwangsmaßnahmen von Bedeutung sein können, sollen schriftlich festgehalten und von dem Gefangenen unterzeichnet werden. Verweigert der Gefangene seine Unterschrift, wird dies ebenfalls aktenkundig gemacht. Mündliche Willensbekundungen sollen in Gegenwart von Zeugen aufgenommen und in einem Vermerk festgehalten werden, der von dem oder den Zeugen zu unterzeichnen ist. Die schriftliche Erklärung oder der Vermerk über die mündliche Äußerung ist zu den Gesundheitsakten und zu den Gefangenenpersonalakten zu nehmen.
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(2) Der Anstaltsarzt belehrt den Gefangenen in Anwesenheit eines Zeugen über die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahmen und die Möglichkeit einer zwangsweisen Behandlung sowie über die gesundheitlichen Folgen einer Nichtbehandlung. Die Belehrung ist aktenkundig zu machen. (3) Ein Gefangener, der beharrlich die Aufnahme von Nahrung verweigert, wird ärztlich beobachtet. Schrifttum: Arloth Statement (zur Zwangsbehandlung), in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin Heidelberg 2005, 239–245; Arndt/v. Olshausen Grenzen staatlicher Zwangsbefugnisse gegenüber Untersuchungshäftlingen, in: JuS 1975, 143 ff; Baumann Zwangsweise Lebenserhaltung im Strafvollzug, in: ZRP 1978, 35 f; Becker Medizinische und ethische Aspekte der Zwangsernährung, in: Anästhesiologie und Intensivmedizin 28 (1987), 90–94; Bemmann Zur Fragwürdigkeit der Zwangsernährung, in: FS für Klug 1983, 563 ff; Boetticher Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 61–79; Böhm Grenzen staatlicher Zwangsbefugnisse gegenüber Untersuchungshäftlingen, in: JuS 1975, 287 f; Bottke Das Recht auf Suicid und Suicidverhütung, in: GA 1982, 346 ff; Bühring Rechtsprobleme der Urinkontrolle auf Drogenmißbrauch, in: ZfStrVo 1994, 271 ff; Center for Constitutional Rights The Guantanánamo Prisoner Hunger Strikes & Protest. http://www. ccr-ny.org/v2/legal/September_11th/docs/Gitmo_Hunger_Strike_Report_Sept_2005.pdf; Dargel Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener, in: NStZ 1989, 207 ff; Foerster Psychisch Kranke im Strafvollzug, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 143–154; Frädrich/Pfäfflin Zur Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen bei Strafgefangenen. 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Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen, Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW. 2008, http://www.samw.ch/ docs/Richtlinien/d_RL_Inhaftierte_def.pdf; Sigel Grenzen der ärztlichen Aufklärungspflicht im Strafvollzug, in: NJW 1984, 1390–1391; Tröndle Zwangsernährung und Rechtsstaat, in: Anästhesiologie und Intensivmedizin 28 (1987) 95–100; Wagner Die Neuregelung der Zwangsernährung. Zur politischen Genese einer rechtlichen Fehlkonstruktion, in: ZRP 1976, 1–5; Weichbrodt Die Pflichten beamteter Ärzte bei der Abwendung eines Hungerstreiks, in: NJW 1983, 311 ff; Weiß Der
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Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen. Hamburg 1982; Williams Medical ethics manual. The World Medical Association, 2005, [email protected]; Witzel/Bausch-Hölterhoff/Skirl Zur Situation des psychisch Kranken in Haft in Nordrhein-Westfalen, in: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie 2004; 3:53–67; Witzel Psychiatrischer Konsiliardienst, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 223–227; World Medical Association Declaration on Hunger Strikers, 2006. http://www.wma.net/e/policy/h31.htm; Zettel Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung, in: Schwind/Blau 1988, 193 ff; Zieger Stellungnahme zum StVollzÄndG, in: StV 1985, 127–129.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Historie . . . . . . . . . . . . . 2. Hauptmängel . . . . . . . . . . a) Standort . . . . . . . . . . . . b) Kollision mit Grundrechten . . c) Eingriffsverpflichtung gem. Abs. 1 Satz 1 . . . . . . . . . . d) Widerspruch in der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . e) Entbehrlichkeit . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. § 101 Absatz 1 . . . . . . . . . . a) Die Art der Zwangsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Zwangsmaßnahmen c) Eingriffstatbestände . . . . . . 2. § 101 Absatz 2 . . . . . . . . . . 3. § 101 Absatz 3 . . . . . . . . . .
1–10 1–4 5–10 6 7 8 9 10 11–24 11 12 13–16 17–20 21 22–23
Rdn. 4. Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . III. Beispiele möglicher Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individueller oder kollektiver Hungerstreik . . . . . . . . . . . 2. Suizid/Suizidversuch und Selbstverletzung . . . . . . . . . . . . 3. Urinkontrolle zum Nachweis von Drogen . . . . . . . . . . . . . . 4. Psychiatrische Patienten . . . . . 5. Infektionskrankheiten (HIV, HCV, TBC) . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der medizinisch zwingend erforderliche Heileingriff . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
24 25–44 26–27 28 29–32 33–38 39–43 44 45–47 45 46 47
I. Allgemeine Hinweise 1. Historie
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§ 101 war in den 1980er Jahren eine der umstrittensten Vorschriften des StVollzG (Nöldecke/Weichbrodt 1981, 285 zur a. F.; zur n. F.: Zieger 1985, 127 ff). Historisch ist das nicht verwunderlich, da er vor allem im Zusammenhang mit den politisch motivierten, kollektiven Hungerstreiks der RAF zur Anwendung kam. Mittlerweile hat er an Brisanz verloren, da kollektive Hungerstreiks zur Seltenheit geworden sind. Damals hingegen war jede Regelung politisch brisant, ethisch heikel und medizinisch wie vollzuglich schwer oder gar nicht praktizierbar. Das hat sich vor allem bei den kollektiven Hungerstreiks der 80er Jahre gezeigt. Da2 mals traten wiederholt wegen terroristischer Gewalttaten inhaftierte Gefangene in gemeinsame, zeitgleiche und lang andauernde Hungerstreiks (Februar bis April 1981, Dezember 1984 bis Februar 1985 und Februar bis Mai 1989). Gefordert wurde u. a.: Änderung der Haftbedingungen und Zusammenlegung in große Gruppen. Obwohl diese Ziele, insbesondere die Zusammenlegung, nicht erreicht werden konnten, brachen die Gefangenen die Hungerstreiks – zum Teil in hochkritischem Gesundheitszustand – jeweils ab. Über die Abbruchsgründe kann nur gemutmaßt werden. 1981, aber auch beim Hungerstreik 1984/1985 (persönliche Berichte Romkopf, Poschev, Seifen) wurden die Gefangenen zum Teil gegen ihren Willen und Widerstand zwangsernährt. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrun-
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gen während dieser Hungerstreiks hat der Gesetzgeber die Vorschrift geändert (Rdn. 4). Damit war (auch) die Erwartung verbunden, die Gesetzesänderung könne solche Hungerstreiks verhindern. Der letzte kollektive Hungerstreikverlauf (1989) – Beginn und Abschlussvereinbarung – aus dem Blickwinkel des Justizvollzugskrankenhausarztes erlaubt folgende Darstellung: Trotz Streichung der Vorschrift über die Eingriffspflicht bei akuter Lebensgefahr rechneten die Gefangenen (z. T. durch ideologische Verblendung) nicht mit einer Änderung der Vollzugspraxis. Die neue abwartende Reaktion des Vollzuges erschwerte die Mobilisierung der Sympathisanten und Familienangehörigen. Da die Gefangenen nicht sterben wollten und die Justizbehörden, dank eines geänderten politischen Klimas, Stehvermögen bewiesen, wurde der Hungerstreik verkürzt und abgebrochen. Eine weitere wichtige Voraussetzung für das geänderte Verhalten der Justizbehörden war die damals verbesserte medizinische Versorgung in einzelnen Justizvollzugsanstalten und Vollzugskrankenhäusern (Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen). Inzwischen ist es um § 101 stiller geworden. Die Ablehnung ärztlicher Zwangsmaßnah- 3 men durch die Ärzteschaft dürfte aber fortbestehen. Dies wird von Ärzten, die im Strafvollzug arbeiten, zunehmend mit ihrem Behandlungsmonopol begründet. Bei fehlender freier Arztwahl muss der Anstaltsarzt ein Mindestmaß an Vertrauen bei den gefangenen Patienten genießen. Dies verträgt sich nicht mit der gleichzeitigen Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen durch dieselbe Person. Ein ähnlich gelagertes Problem stellt sich bei § 81a StPO. 1985 hat der Gesetzgeber den § 101 erheblich verändert. In Abs. 1 Satz 2 wurde der letzte 4 Halbsatz: „Es sei denn, es besteht akute Lebensgefahr.“ gestrichen (StVollzÄndG vom 27.2.1985, BGBl. I, 461). Dadurch ist die Pflicht der Vollzugsbehörde entfallen, Zwangsmaßnahmen gegen den ausdrücklichen Willen des Gefangenen durchzuführen (krit. Deutsches Ärzteblatt 1985, 305 ff: „Halbherzige Absage an die Zwangsernährung“ und Zieger 1985, 127 ff). § 101 enthält aber auch in der neuen Fassung noch vermeidbare Mängel. Als Motive für medizinische Zwangsmaßnahmen kommen historisch etwa die Ermöglichung der (weiteren) Strafe, Erhaltung der Wehr- oder Arbeitskraft, medizinische Experimente, politische Gründe, Notwendigkeit der Behandlung zur Resozialisierung, Schutz Dritter (z. B. vor ansteckenden Krankheiten), Anstaltssicherheit oder der Schutz des Kranken selber in Betracht (Laue 2005, 217 ff). 2. Hauptmängel Hauptmängel bestehen im systematischen Standort, im Widerspruch zu grundgesetz- 5 lich geschützten Rechten des Inhaftierten, in der Unklarheit bei Eingriffsermächtigung bzw. -verpflichtung und im Widerspruch in der Kompetenzzuweisung. a) Standort Der Gesetzgeber begreift § 101 zwar als eine Spezialregelung des unmittelbaren 6 Zwanges. Adressat ist aber gem. Abs. 3 der Arzt. „Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge“ betreffen grundsätzlich medizinisch zu beurteilende Fragen; ihre Regelung sollte deshalb im Titel „Gesundheitsfürsorge“ zu finden sein und nicht im Kontext stehen mit z. B. dem Schusswaffengebrauch, §§ 99 ff. b) Kollision mit Grundrechten Die nach Abs. 1 Satz 1 zwangsweise zulässige medizinische Untersuchung, Behandlung 7 und Ernährung bei Lebensgefahr und bei schwerwiegender Gefahr für seine Gesundheit tangiert die grundgesetzlich garantierten Rechtspositionen der Menschenwürde, der körWolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
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perlichen Unversehrtheit sowie der freien Selbstbestimmung, Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 u. 2 GG (vgl. BVerfGE 47, 82) und kollidiert zudem mit ärztlichen Werten (zur Ethik vgl. Pont 2009a und b, Williams 2005, World Medical Association 2006, Becker 1987, Tröndle 1987, Peel 1997, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2008). Zudem bleibt die aktuelle Diskussion um die sog. Patientenverfügung und deren mögliche Wirkung auch auf den Zeitraum einer nicht mehr möglichen Selbstbestimmung unberücksichtigt. Problematisch im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 GG erscheint § 101 bei Fällen, in denen aus religiöser Motivation heraus Behandlungen abgelehnt werden und es erkennbar ist, dass eine Behandlung auch dann nicht gewünscht wird, wenn die Möglichkeit zur freien Selbstbestimmung verlorengegangen ist. c) Eingriffsverpflichtung gem. Abs. 1 Satz 1
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Bei freier Willensbestimmung ist die Vollzugsbehörde gem. Abs. 1 Satz 2 zum Eingreifen nicht verpflichtet. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus eine Eingriffsverpflichtung bei fehlender freier Willensbestimmung des Gefangenen. Da indes zur Behandlung Bewusstloser Zwang nicht erforderlich ist und diese Konstellationen demnach bereits von der allgemeinen Regelung des § 56 erfasst werden, bleiben für Abs. 1 Satz 2 allein Fälle schwerwiegender psychischer Krankheiten von Relevanz (Arloth 2008 Rdn. 4, 5). d) Widerspruch in der Kompetenzzuweisung
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Während Abs. 1 Satz 2 noch die Vollzugsbehörde als Adressat der Ermächtigung zur Durchführung der Maßnahmen nennt, stellt Abs. 3 auf den Arzt als Adressaten für die Anordung und die Durchführung ab. Das Verhältnis des § 101 zur allgemeinen Verantwortung und Leitungsbefugnis des Anstaltsleiters gemäß § 156 Abs. 2 Satz 2 ist strittig (Arloth 2008 Rdn. 7). Da § 156 Abs. 2 Satz 2 allerdings auch einschränkend festlegt, „ . . . soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verantwortung anderer Vollzugsbediensteter oder ihrer gemeinsamen Verantwortung übertragen sind“, ist das Tätigkeitwerden nach § 101 als ein typischer Bereich gemeinsamer Verantwortung i. S. von § 156 Abs. 2 Satz 2. Damit erfordern Maßnahmen nach § 101 eine Übereinstimmung von Anstaltsleitung und Arzt, d. h. der Arzt darf die Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen verweigern; § 101 stellt insoweit lex specialis gegenüber § 97 dar. Umgekehrt kann die Anstaltsleitung dem Arzt die Durchführung von Zwangsmaßnahmen nach § 101 verbieten (Arloth 2008 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 727). e) Entbehrlichkeit
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Es stellt sich die Frage, ob der § 101 nicht generell entbehrlich wäre (Arloth 2008 Rdn. 3). In aller Regel wird ein Gefangener, der ärztliche Behandlung in der Anstalt beharrlich und ernsthaft verweigert und dadurch in schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr gerät, nach § 65 Abs. 2 in ein öffentliches Krankenhaus zu verlegen sein, wenn ein leistungsfähiges Vollzugskrankenhaus nicht zur Verfügung steht. Ob es daher für die noch verbleibenden Anwendungssituationen: Psychiatrische Behandlung und Suizid einer besonderen, gesetzlichen Regelung durch den § 101 bedarf, bleibt diskussionswürdig. Vgl. zu möglichen Anwendungsfällen Rdn. 25 ff.
II. Erläuterungen 11
§ 101 regelt die Art der Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit dieser Zwangsmaßnahmen, die Eingriffstatbestände und die Kompetenzverteilung.
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1. § 101 Abs. 1 a) Art der Zwangsmaßnahmen Als Zwangsmaßnahmen werden in Abs. 1 die medizinische Untersuchung, Behandlung 12 sowie die Ernährung genannt. Damit sind ausschließlich medizinische Sachverhalte gemeint. Unter den Begriff Untersuchung fallen alle diagnostischen Maßnahmen, auch unter Einsatz diagnostischer Hilfsmittel und schließt dazu notwendige körperliche Eingriffe ein. Als solche kommen z. B. in Betracht: Röntgenaufnahmen (OLG Celle ZfStrVo 1979, 187; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 381), EKG, EEG; auch Wiegen bei Hungerstreik (OLG Frankfurt vom 26.1.1982 – 3 Ws 796/81). Auch bei der Behandlung hat der Gesetzgeber auf die Nennung der Maßnahmen verzichtet. Behandlung bezweckt die Aufrechterhaltung des Lebens und die Wiederherstellung der Gesundheit, bspw. Zwangsmedikation. Sie richtet sich nach den Regeln ärztlicher Kunst (Arloth 2008 Rdn. 4). Ernährung im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen meint die sog. Zwangsernährung. Auch hierunter verstehen sich medizinische Maßnahmen (z. B. die parenterale Ernährung als Ernährung durch Infusionen oder das Legen einer Magensonde mit Ernährung über diese). Die Gleichstellung der Zwangsernährung mit Untersuchung und Behandlung erklärt sich aus dem historischen Kontext der Norm (vgl. Rdn. 2). Eine Maßnahme erfolgt zwangsweise, wenn sie gegen den (ausdrücklich oder konkludent erklärten) Willen des Gefangenen mit Mitteln i. S. d § 95 durchgeführt wird. Maßnahmen an einem bewusstlosen Inhaftierten fallen damit nicht unter § 101, weil insoweit die Anwendung von Zwang nicht notwendig wird. In diesen Fällen greift bereits § 56 ein; zudem gelten die Regeln der mutmaßlichen Einwilligung (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 3). Da der § 101 in den genannten Maßnahmen ausschließlich auf medizinische Maßnahmen rekurriert, schlägt es sicher fehl, den § 101 als Legitimation für vollzuglich angeordnete und vollzuglich verwertete Drogenscreenings aus dem Urin zu nutzen. b) Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Zwangsmaßnahmen Genannt sind in Abs. 1 Satz 1 die Lebensgefahr und die schwerwiegende Gesundheitsge- 13 fahr bei dem zu Behandelnden sowie die Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Andere Personen können neben Mitgefangenen auch Bedienstete oder Besucher sein (Arloth 2008 Rdn. 4). Lebensgefahr erfordert den konkret und unmittelbar drohenden Tod des Inhaftierten; schwerwiegende Gefahren für die Gesundheit des Inhaftierten liegen vor, sofern wichtige Funktionen des Körpers von einer dauerhaften Schädigung bedroht sind. Die Abstufung zwischen schwerwiegender Gefahr für den Betroffenen und einfacher Gefahr für Dritte ist gerechtfertigt. Bei Gefährdung Dritter muss eher gehandelt werden können, da die Abwägung zwischen Verhinderung gewollter Selbstgefährdung und freier Selbstbestimmung hier keine Rolle spielt. Gefahren für Dritte sind z. B. Seuchen- und schwere Infektionsgefahren; ebenfalls eingeschlossen sind Angriffe mit Verletzungen, bei denen geklärt werden muss, ob vom Angreifer Infektionsgefahren ausgehen können. Bagatellfälle meint die Norm indes nicht (C/MD 2008 Rdn. 7). Lebens- und Gesundheitsgefahr sind medizinische Indikationen. So kann z. B. eine Rek- 14 toskopie zum Auffinden von Betäubungsmitteln nur dann auf Abs. 1 gestützt werden, wenn die Gesundheitsfürsorge dies tatsächlich erfordert (OLG Stuttgart ZfStrVo 1991, 308 und BlStV 2/1992, 7). D. h. ärztliche Untersuchungen gegen den Willen des Gefangenen aus
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anderen Gründen, etwa der Sicherheit oder Ordnung (z. B. zur Feststellung, ob Drogen im Körper verborgen sind), können nicht auf § 101 gestützt werden (BT-Drucks. 11/3964, 11). Anders verhält es sich, wenn die Behandlung auch wegen schwerwiegender Gesundheitsgefahr erforderlich ist. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang ein Szenario, bei dem im Darm inkorporierte Drogenpakete zu platzen drohen oder bereits geplatzt sind und diese deshalb mittels einer Darmspiegelung geborgen werden müssen. 15 Als weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen werden die Zumutbarkeit für die Beteiligten und die Verhältnismäßigkeit genannt. Die Maßnahmen müssen nicht nur für den betroffenen Gefangenen, sondern für alle Beteiligten zumutbar sein. Als Beteiligte müssen daher im Falle des Eingriffs bei Lebensgefahr oder schwerwiegender Gesundheitsgefährdung des Gefangenen neben diesem mindestens auch der Arzt, das ärztliche Hilfspersonal und das für die Durchsetzung der Zwangsmaßnahme evtl. erforderliche Aufsichtspersonal gelten. Weitere Personen sind denkbar (Psychologe, Suchtberater, Sozialdienst, Pfarrer). Im Falle der Gefahr für die Gesundheit anderer Personen ist der Personenkreis noch auf die betroffenen Dritten zu erweitern. Die Regelung der Zumutbarkeit hat ihren historischen Hintergrund bei der Zwangsbehandlung während kollektiver Hungerstreiks. Bei den jetzt praktisch vorkommenden Maßnahmen nach § 101 dürften Zumutbarkeitsprobleme nur noch eine eher untergeordnete Rolle spielen. 16 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt, dass solche Eingriffe nicht zulässig sind, die gleiche oder größere Gefahren mit sich brächten, als diejenigen, denen begegnet werden soll. Grundsätzlich dürfen aber Zwangsmaßnahmen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. c) Eingriffstatbestände
17
Abs. 1 regelt die Eingriffstatbestände der Eingriffsverpflichtung und der Eingriffsermächtigung. 18 Die Vollzugsbehörde ist zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen auch gegen den ausdrücklichen Willen des Gefangenen berechtigt, wenn die übrigen Voraussetzungen, also insbesondere Lebens- oder Gesundheitsgefahr vorliegen. Durch diese Regelung muss im Einzelfall nicht zwingend geklärt werden, ob die Willensbestimmung gerade noch oder so eben nicht mehr gegeben ist. Es kann darauf abgestellt werden, ob insbesondere die Lebensgefahr oder die schwerwiegende Gesundheitsgefahr, so gravierend sind, dass der „Unwille“ gegen eine Behandlung vernachlässigt werden kann. 19 In Abs. 1 Satz 2 legt der Gesetzgeber fest, dass die Vollzugsbehörde zum Eingriff nicht verpflichtet ist, solange von einer freien Willensbestimmung ausgegangen werden kann. Insofern klärt das Gesetz nicht, ob die Vollzugsbehörde im Umkehrschluss zur Durchführung von Maßnahmen verpflichtet ist, wenn die freie Willensbestimmung des Gefangenen ausgeschlossen ist (vgl. zu dieser Frage auch Laue 2009, S. 238). Dies mag zum einen auf Bewusstlosigkeit beruhen, da hier eine Willensbildung nicht möglich ist; zum anderen kann die freie Willensbestimmung bei spezifischen psychiatrischen Erkrankungen und hirnorganischen Veränderungen fehlen, soweit diese die Einsichts- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigen (vgl. dazu auch Boetticher 2005, S. 74). Bei Bewusstlosigkeit als dem eindeutigsten Fall des Fehlens freier Willensbestimmung wird indes Zwang nicht erforderlich sein und daher anstelle § 101 zunächst die allgemeine Regelung des § 56 zur Anwendung gelangen (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 3). Der zuvor geäußerte Wille, sich nicht behandeln zu lassen, wird insoweit außer Acht gelassen. 20 Grundsätzlich lassen sich, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, fünf Szenarien unterscheiden:
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– Der Gefangene hat freien Willen, er stimmt einer notwendigen Behandlung bzw. Eingriff zu. Hier spielt § 101 keine Rolle, die medizinische Behandlung bzw. der Eingriff kann nach entsprechender Aufklärung und Einwilligung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ablaufen. – Der Gefangene hat freien Willen, er lehnt eine notwendige Behandlung bzw. Eingriff ab. Hier greift der § 101, die Vollzugsbehörde wäre berechtigt, aber nicht verpflichtet medizinisch tätig zu werden. (vgl. zur Kollision mit Grundrechten Rdn. 7). – Der Gefangene hat keinen freien Willen, hat aber zuvor eine notwendige Behandlung bzw. Eingriff nicht abgelehnt. Hier spielt § 101 keine Rolle, die medizinische Behandlung bzw. der Eingriff kann auf Grundlage einer mutmaßlichen Einwilligung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ablaufen. – Der Gefangene hat keinen freien Willen (mehr), hat aber zuvor eine notwendige Behandlung bzw. Eingriff eindeutig abgelehnt auch hier greift nicht § 101 sondern vielmehr § 56 ein, weil Zwang zur Durchführung der Behandlung nicht erforderlich wird. – Der Gefangene hat keinen freien Willen, hat aber zuvor eine notwendige Behandlung bzw. Eingriff eindeutig abgelehnt und diese Ablehnung im Sinne einer Patientenverfügung auch für die Zeit einer nicht mehr möglichen freien Willensentscheidung ausdrücklich verfestigt. Hier würden die Inhalte des § 101 massiv mit den Grundrechten nach Art. 1 und 2 GG kollidieren. Allerdings ist die öffentliche und juristische Diskussion um die sog. Patientenverfügung noch relativ jung und nicht abgeschlossen. Gleichwohl scheint sich die Patientenverfügung als verbindliche Richtschnur für ärztliches Handeln immer mehr zu verfestigen. Liegt also eine Patientenverfügung vor, wird es schwer fallen, § 101 in Verbindung mit § 56 stärker zu werten als den erklärten Willen des Patienten im Zusammenhang mit den grundgesetzlich garantierten Rechten, Art. 1 und 2 GG, der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Nach derzeitiger Rechtslage kommt einer Patientenverfügung in strafrechtlicher Hinsicht allerdings keine über eine mündliche Erklärung hinausgehende Bedeutung zu. Aus diesem Grund darf der Sachverhalt im Kontext des § 101 insofern nicht anders beurteilt werden, als bei vor vor Wegfall der freien Willensbestimmung mündlich geäußertem entgegenstehenden Willen. 2. § 101 Abs. 2 Abs. 2 erweitert als eigenständige Befugnisnorm die in Abs. 1 genannten Zulässigkeits- 21 voraussetzungen insoweit, als zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zwangsweise körperliche Untersuchung zulässig ist; hier braucht also Gesundheits- oder Lebensgefahr nicht vorzuliegen. Andererseits schränkt Abs. 2 den Rahmen des Zulässigen erheblich ein, indem er mit körperlichen Eingriffen verbundene Maßnahmen ausschließt. Gemeint ist damit nur die ärztliche Ganzkörper-Untersuchung und nicht darüberhinausgehend die weitere mögliche Diagnostik, z. B. Röntgen, Blutentnahme (a. A. Arloth 2008 Rdn. 6). Zumal eine verwertbare Röntgenaufnahme beim unkooperativen Patienten durch die Bewegungsunschärfe ohnehin nicht zu erreichen ist. Untersuchungen wie Magenspiegelung, Blutentnahmen o. ä. sind durch das Gesetz als körperliche Eingriffe per se nicht gestattet. Die Ganzkörper-Untersuchung umfasst in der Regel: die Inspektion der Körperoberfläche; die orientierende Beurteilung von Hör- und Sehvermögen; die Inspektion von Mund und Rachen; die Beurteilung der Beweglichkeit von Wirbelsäule und Extremitäten; die Auskulta-
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tion von Herz und Lunge; die Untersuchung des Abdomens; die orientierende Untersuchung von Motorik, Sensibilität und Durchblutung; die Erhebung des Reflexstatus; die orientierende Untersuchung der psychischen Verfassung. Gesundheitsschutz speziell aber Hygiene hat immer auch Auswirkungen auf die Umgebung und damit auf Dritte (Mitgefangene, Bedienstete, Besucher). Dieser Aspekt wird daher bei einer möglichen Anwendung des Abs. 2 im Vordergrund stehen. 3. § 101 Abs. 3
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In Abs. 3 sind die Anordnungs- und die Durchführungsbefugnis geregelt. Während in Abs. 1 Satz 2 die Vollzugsbehörde als Adressat genannt wird, ergibt sich aus Abs. 3, dass der Arzt die Anordnungsbefugnis hat und die Maßnahmen auch durchführt oder deren Durchführung leitet. Die Frage der Anordnungskompetenz ist umstritten. Zum Teil wurde dabei zwischen Anordnungs- und Definitionskompetenz unterschieden. Über das „Ob“ sollte der Anstaltsleiter entscheiden, über das „Wie“ der Arzt (s. Nöldekke/Weichbrodt 1981, 285). Heute wird weitgehend eine Übereinstimmung zwischen Anstaltsleitung und Arzt gefordert (s. Rdn. 9). 23 Die Durchführungsbefugnis liegt unstreitig beim Arzt. Selbstverständlich ist die persönliche Anwesenheit des Arztes bei Anordnung und Durchführung von Zwangsmaßnahmen erforderlich. Ohne Anwesenheit des Arztes beschränkt der Gesetzgeber die Tätigkeiten anderer Personen auf die sog. Erste Hilfe. 4. Die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften
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Die Verwaltungsvorschriften enthalten in Abs. 1 Regelungen zur Beweissicherung, in Abs. 2 Belehrungs- und in Abs. 3 ärztliche Beobachtungspflichten. Sie beschreiben allerdings nur die ohnehin im normalen Umgang mit Patienten erforderlichen Pflichten des Arztes, wichtige Dinge in jedem Fall sorgfältig zu dokumentieren. Im Zweifel gilt uneingeschränkt der Satz: was nicht dokumentiert wurde, wurde auch nicht gemacht.
III. Beispiele möglicher Anwendungsfelder 25
Mögliche, zur Diskussion stehende Anwendungsfelder für den § 101 sind: Individuelle und kollektive Hungerstreiks, Suizide/Suizidversuche und Selbstverletzungen, die Anordnung und zwangsweise Durchsetzung von Urinkontrollen, psychiatrisch oder hirnorganisch erkrankte Patienten, Infektionskrankheiten wie HIV-Infektion/AIDS aber auch Hepatitis C und Tuberkulose sowie der medizinisch zwingend erforderliche Heileingriff. 1. Individueller oder kollektiver Hungerstreik
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Kollektive Hungerstreiks kommen in Deutschland schon seit längerem nicht mehr vor. Grundsätzlich sind aber kollektive Hungerstreiks unter bestimmten Bedingungen wieder vorstellbar, wie das Beispiel Guantanamo (s. Center for Constitutional Rights) zeigt. 27 Individuellen Hungerstreiks sollte nicht mit Zwangsmaßnahmen auf Grundlage des § 101 begegnet werden, sondern mit anderen Mitteln (Riekenbrauck 2009). Bereits bei den letzten kollektiven Hungerstreiks haben Zwangsmaßnahmen bereits keine Rolle mehr gespielt. An deren Stelle trat die ärztliche Beobachtung (nicht zwingend Untersuchung), um im Notfall intensiv-medizinisch eingreifen zu können. Während dieser Beobachtung kann sich ein Übergang von der Eingriffsermächtigung zur Eingriffsverpflichtung ergeben. Falls der zuständige Arzt sich dann beim Auftreten von Somnolenz mit wechselnden und un-
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scharfen Bewusstseinslagen und der prinzipiellen Möglichkeit von dauerhaften Organschäden (Herz, Niere) zur Behandlung entschließen würde, handelte es sich um eine Maßnahme nach § 101. Zu den praktischen Vorgehensweisen bei individuellen Hungerstreiks s. das Beispiel bei Riekenbrauck 2009 vgl. § 56 Rdn. 7. 2. Suizid/Suizidversuch und Selbstverletzung Insbesondere die reinen Selbstverletzungen ohne suizidale Absichten sind im Rahmen 28 einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline-Störung) ein Sonderfall der psychiatrischen Störungen. Während Suizidversuche lebensgefährlich und/oder gesundheitlich schwerwiegend sein können, sind rein autoaggressive Selbstverletzungen (sog. Ritzen) zwar oftmals entstellend und stigmatisierend für das ganze Leben, aber nur in seltenen Fällen gesundheitlich schwerwiegend oder gar lebensgefährlich. Der § 101 gilt daher als Legitimation für Zwangsmaßnahmen bei Suizidalität, nicht aber bei Selbstverletzungen (zur Prävention suizidaler Handlungen und zum Umgang mit suizidalen Handlungen sowie zur Literatur zum Thema Suizid in Haft vgl. Lehmann 2009). 3. Urinkontrolle zum Nachweis von Drogen Kein unmittelbarer Zwang liegt vor, wenn der Anstaltsleiter anordnet, der im Verdacht 29 des BtM-Missbrauchs stehende Gefangene solle eine Urinprobe abgeben, verweigere er dies, erfolge eine disziplinarische Ahndung. Dieser mittelbare Zwang genügte zwar dem OLG Koblenz, um „in dem Vorgehen des Anstaltsleiters auch eine nach § 101 zu beurteilende Zwangsmaßnahme zu sehen“ (ZfStrVo 1990, 51, 52). Damit wird aber § 101, der im Abschnitt über die Anwendung unmittelbaren Zwangs verortet ist, überdehnt, so dass es sich richtigerweise um eine Maßnahme nach § 56 Abs. 2 handelt (so auch C/MD 2008 Rdn. 4; Arloth 2008 Rdn. 4). Urinkontrollen werden üblicherweise vom Anstaltsleiter oder seinen nachgeordneten 30 Mitarbeitern angeordnet. Sie dienen in der Regel ausschließlich vollzuglichen Interessen (Prüfung der Lockerungseignung, Feststellung von Verstößen gegen die Pflicht zum Unterlassen von Drogenkonsum (auch Alkoholkontrollen) innerhalb der Anstalt). Die genannten Gründe für Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge nach § 101 sind neben anderen zum einen die erhebliche eigene Gesundheitsgefährdung zum anderen die Gefährdung anderer. Diese Gründe liegen bei vollzuglich angeordneten Urinkontrollen regelmäßig nicht vor. Medizinische Gründe für Urinkontrollen auf Drogen sind lediglich Intoxikationszustände und die Substitutionsbehandlung. Zur Abgabe einer Urinprobe sind Gefangene mangels gesetzlicher Grundlage nicht ver- 31 pflichtet. Eine Verpflichtung zur Abgabe einer Urinprobe ergibt sich auch nicht aus § 101 Abs. 1 StVollzG (Thüringer OLG, Beschl. v. 31.1.2005 Az. 1 Ws 409/04; OLG Dresden, Beschl. v. 12.5.2004 Az. 2 Ws 660/03; abweichend OLG Rostock Beschl. v. 2.5.2004 Az. VAs 1/04). Nach § 101 sind medizinische Zwangsmaßnahmen nur bei Lebensgefahr oder schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen zulässig. Bei der Urinprobe zur Feststellung eines Betäubungsmittelmissbrauchs handelt es aber nicht um eine medizinische Maßnahme auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge (vgl. OLG Saarbrücken NStZ 1992, 351). Auch eine Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit ist bei einem Drogenscreening aus dem Urin regelmäßig nicht erkennbar. Das OLG Dresden führt aus, dass im Falle einer Verpflichtung zur Abgabe einer Urinkontrolle durch die Anstalt allein schon die Voraussetzungen des § 101 Abs. 3 nicht vorliegen, weil eine auf diese Norm gestützte Zwangsmaßnahme auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden
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darf, was nicht der Fall ist (OLG Dresden NStZ 2005, 588–590). Abweichend davon argumentiert noch das OLG Rostock (ZfStrVo 2005, 115–117). 32 Insgesamt gesehen schlägt es fehl, § 101 zur Legitimierung von erzwungenen Urinkontrollen zu bemühen. Die Gesamtproblematik „Urinkontrolle“ sollte daher endgültig aus dem Bereich des § 101 herausgenommen werden. In der gesamten Diskussion zum Urinscreening ist eine Differenzierung zwischen illegalen und legalen Drogen bisher nicht erfolgt. Zur Legitimierung von Urinkorntollen durch § 56 StVollzG vgl. § 56 Rdn. 8. 4. Psychiatrische Patienten
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Zwei Tatsachen führen dazu, dass der § 101 zunehmend als Grundlage für Zwangsbehandlungen ins Blickfeld geraten wird. Erstens steigen die Zahlen psychiatrisch kranker Patienten im Justizvollzug gravierend (Frädrich 2000; Schönfeld et al. 2006; Witzel et al. 2004; Foerster 2005 auch mit Hinweisen zur Situation international und in Deutschland im Vergleich; Konrad 2009). Zweitens hat der Vollzug angesichts dieser Tatsache in den letzten Jahren zunehmend stationäre Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der Gefängnisse geschaffen (z. B. im JVK Fröndenberg/NRW: Umwandlung chirurgischer Betten in psychiatrische; im JVK Lingen/Niedersachsen Schaffung einer neuen psychiatrischen Abteilung). 34 Zudem hat er das dafür benötigte ärztliche und pflegerische Personal soweit möglich eingestellt und sich neben den stationären Behandlungsmöglichkeiten auch um ambulante, konsiliarärztliche Betreuung bemüht (Konrad 2007; Witzel 2009). Diese Schaffung von vollzugseigenen Ressourcen war aus verschiedenen Gründen auch dringend erforderlich. Die Grundfrage, ist ein psychiatrisch erkrankter Gefangener ein kranker Gefangener (und gehört damit in den Strafvollzug) oder ein gefangener Kranker (und gehört damit in die Psychiatrie) ist offensichtlich so alt wie das Gefängnis. 35 Zumindest gibt es bereits seit 1909 (Leppmann 1909) und aus den 1920iger Jahren (Weiß 1982) Hinweise auf diesen Konflikt. Perpetuiert wird dieser Grundkonflikt durch die Tatsache, dass Gefangene mit psychiatrischer Erkrankung vom Vollzug primär in ihren psychischen Anteilen und damit als arbeitsintensiv und oft bedrohlich wirkend, als unangenehm, gefährlich und angstauslösend wahrgenommen werden. Die psychiatrischen Fachkliniken hingegen nehmen eher die Gefangenen-Merkmale wahr (Gefährlichkeit, Fluchtgefahr, fehlende Information über die gesetzlichen Erfordernisse der Unterbringung etc.). Um diesen Befürchtungen vorzubeugen, übernehmen psychiatrische Krankenhäuser Patienten aus dem Strafvollzug oft nur dann, wenn seitens des Vollzuges eine zusätzliche Bewachung zugesichert wird. Muss diese Bewachung geleistet werden, ist die Verlegung in ein externes psychiatrisches Krankenhaus wiederum eine zusätzliche personelle Belastung, was dazu geführt hat, dass der Vollzug sich um eigene Unterbringungsmöglichkeiten bemüht. Über allem schwebt dann noch eine öffentliche Diskussion darüber, ob die Unterbringung von psychisch kranken Straftätern in Justizvollzugsanstalten grundsätzlich menschenwürdig ist. 36 Das Bemühen des § 455 StPO (Haftunfähigkeit bei Geisteskrankheit) ist auch nicht in der Lage, das Dilemma zu lösen, da andere Gründe namentlich der öffentlichen Sicherheit einer Haftentlassung trotz gravierender psychiatrischer Erkrankung entgegenstehen können. Wird die Strafe tatsächlich unterbrochen, so ist der Kranke ein freier Bürger, für § 101 ist kein Raum. Die entsprechenden Vorschriften der PsychKGe müssen wenn erforderlich angewendet werde. Bei Verlegungen nach § 65 Abs. 2 bleibt der Kranke aber ein Strafgefangener (s. Pohlmann et al. 2001) mit der Folge, dass § 101 grundsätzlich anwendbar ist. Zur Zwangsmedikation eines Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 126a StPO s. OLG Hamm Beschl. v. 7.8.2001 Az. 3 Ws 250/01 und Heide 2001, 81.
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Psychisch erkrankte Patienten (z. B. bei einer schizophrenen Psychose) können soweit in 37 ihrer Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingeschränkt sein, dass es zu erheblichen Selbstund/oder Fremdgefährdungen kommt. Zudem besteht oft ein erheblicher Leidensdruck, bei dem aber dennoch typischerweise aufgrund der begleitenden wahnhaften Vorstellungen und Ängste keine Behandlungsbereitschaft beteht. Auch zu aggressiven Durchbrüchen kann es im Rahmen dieser meist angstbesetzten Erkrankung kommen. Nicht nur diese aggressiven Durchbrüche sondern auch der hohe Leidensdruck zwingen den psychiatrischen Facharzt auch gegen den Willen des Patienten mit einer Behandlung zu beginnen. Der § 101 ist dafür eine adäquate Grundlage. Die schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen besteht, er ist schwer erkrankt. Gefahr für die Gesundheit Dritter kann bestehen (aggressive Durchbrüche). Selbst Lebensgefahr kann bestehen (z. B. bei der sog. Katatonie). Behandlungsmaßnahmen auch gegen den Willen des Kranken sind in der Psychiatrie üblich, insofern dürften sie auch zumutbar sein. Die Maßnahmen werden von einem Facharzt für Psychiatrie angeordnet und durchgeführt bzw. geleitet. Der fragliche (s. Rdn. 9) bzw. tatsächliche Kompetenzvorbehalt des Anstaltsleiters (zu Bayern vgl. Rdn. 45) mag hier zwar unpraktikabel erscheinen, gilt aber dennoch uneingeschränkt. Grundsätzlich ist § 101 eine gute und notwendige Grundlage, der Rechtssicherheit bei 38 Zwangsbehandlung in der Gefängnispsychiatrie schafft. Dennoch scheint er nicht unentbehrlich, da Regelungsmöglichkeiten über das Betreuungsrecht und die Psychiatrischen Krankengesetze der Länder bestehen würden. 5. Infektionskrankheiten (HIV, HCV, TBC) Vor allem bei Angehörigen von Risikogruppen ist der Vollzug erheblich an der Frage 39 interessiert, ob eine HIV-Infektion vorliegt, insbesondere dann, wenn der Betreffende zu infektionsgefährlichen Handlungen neigt. Eine – auch zwangsweise – Blutentnahme für den sog. Antikörpertest liegt nahe. Indessen bietet § 101 dafür keine Rechtsgrundlage: Erstens reicht die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht zur Begründung einer konkreten (Ansteckungs-)Gefahr wie sie § 101 fordert (Laubenthal 2008 Rdn. 727; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4), weil die bloße Gruppenzugehörigkeit eben nur die abstrakte Vermutung für eine HIV-Infektion darstellt (Boetticher 2005, 77 ff). Und zweitens wird sich kaum konkret darlegen lassen, dass der zwangsweise zu Untersuchende (mindestens) dazu neigt, auch in Kenntnis seiner Infektion gefährliche Übertragungspraktiken vorzunehmen. Noch allgemeiner ablehnend OLG Koblenz (ZfStrVo 1989, 182): Angesichts der nach heutigem Erkenntnisstand eingeschränkten Möglichkeiten einer Infizierung mit AIDS-Viren ist eine Gefahr i. S. d. § 101 Abs. 1, die eine zwangsweise HIV-Untersuchung rechtfertigen würde, selten gegeben. Auch „heimliche“ HIV-Tests, etwa mit einer zu anderen Zwecken entnommenen Blutprobe, sind nicht zulässig. Auf solche Weise gewonnene Erkenntnisse sind in den Gesundheitsakten zu löschen (OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 182). In der Vollzugspraxis werden seit längerem Neuzugängen freiwillige Tests angeboten. 40 Davon wird recht unterschiedlich Gebrauch gemacht. Eine freiwillige Untersuchung der Gefangenen auf HIV-Antikörper und sonstige Krankheitserreger im Blut ist zwar uneingeschränkt statthaft. Allerdings bleibt die Freiwilligkeit derartiger Untersuchungsmaßnahmen fraglich, wenn im Weigerungsfalle mit vollzugsinternen Nachteilen, wie der Behandlung als HIV-positiv, gerechnet werden muss (so AK-Boetticher/ Stöver vor § 56 Rdn. 40; anders Arloth 2008 § 56 Rdn. 3). § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG statuiert zusätzlich gegenüber Personen, die in eine Justizvoll- 41 zugsanstalt aufgenommen werden, die Pflicht zur Duldung ärztlicher Untersuchungen auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lunge. Ob hierunter
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auch Blutuntersuchungen fallen, erscheint nicht unzweifelhaft. Obwohl die Frage in der neueren Literatur bejaht wird (C/MD 2008 § 56 Rdn. 10; Arloth 2008 § 56 Rdn. 3; Laubenthal 2008, Rdn. 727), gilt es doch zu bedenken, dass die nicht mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbundene Röntgenuntersuchung im Gesetz ausdrückliche Erwähnung findet, die das Rechtsgut berührende Blutentnahme aber nicht. Berücksichtigt man allerdings, dass durch § 36 Abs. 5 IfSG das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Einschränkung erfährt und Blutentnahmen per se weniger gefährlich sein dürften als die mit einer Strahlenbelastung verbundene Röntgenuntersuchung, wird man jedoch von einer Zulässigkeit derartiger Tests auf der Basis des das StVollzG ergänzenden Infektionsschutzgesetzes auszugehen haben (Laubenthal 2008 Rdn. 727). 42 In der bisherigen Diskussion und in den Kommentierungen spielte fast ausschließlich die Frage nach zwangsweisem HIV-Test eine Rolle. Diese Verkürzung ist aus medizinischer Sicht in keiner Weise gerechtfertigt. Mindestens Hepatitis C und Tuberkulose müssen in diesen Problemkomplex mit eingeschlossen werden (Raduhn et al. 2007; Schulte et al. 2008; Hauer 2001 und 2007; Meyer et al. 1999; Lehmann et al. 2009). 43 Beispiel: Ein afrikanischer Gefangener aus einem Herkunftsland mit hoher HIV-Prävalenz droht mit Selbst- und Fremdgefährdung und benutzt Scherben eines zerschlagenen Spiegels als Waffe. Bei der Überwältigung kommt es zu oberflächlichen Kratzverletzungen bei einigen Bediensteten. Der Gefangene wird auf Grundlage von § 101 Abs. 1 Satz 1 (Gefahr für andere Personen) eine auch zwangsweise Blutentnahme dulden müssen, bei der dann eine Abschätzung des Infektionsrisikos vorgenommen werden kann. 6. Der medizinisch zwingend erforderliche Heileingriff
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Für den medizinisch zwingend erforderlichen Heileingriff (z. B. Operation bei akuter Blinddarmentzündung oder bei einer akuten Blutung) sollten die gleichen Kriterien gelten wie außerhalb des Strafvollzuges (vgl. AK Feest 2006 Rdn. 18, Boetticher 2005, 73 ff). Damit stellen sich alle bereits oben erörterten Problematiken hier in gleicher Weise.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 108 Abs. 1 und 2 BayStVollzG entsprechen weitgehend § 101 Abs. 1 und 2 StVollzG. Allerdings enthält Art. 108 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG hinsichtlich Untersuchung und Behandlung den Zusatz der „hierfür erforderlichen Ausführung“. Art. 108 Abs. 1 BayStVollzG greift damit zugleich § 12 StVollzG auf. Die Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, S. 69) rekurriert insoweit auf die systemwidrige Verortung dieser Norm, die nun durch Art. 108 Abs. 1 BayStVollzG zusammen mit Art. 37 Abs. 4 BayStVollzG ersetzt wird. Wichtigster praktischer Anwendungsfall dürften Konstellationen sein, in denen Gefangene aus gesundheitlichen Gründen dringend ambulant einem Arzt außerhalb der Anstalt vorgestellt werden müssen, sie hierzu jedoch nicht bereit sind (so im Zshg. mit § 12 AK-Lesting 2006 § 12 Rdn. 2; a. A. C/MD 2008 § 12). Abs. 3 der bayerischen Norm enthält – abgesehen von der geschlechterspezifischen Differenzierung – das zusätzliche Erfordernis des Einvernehmens zwischen Anstaltsleitung und Arzt bzw. Ärztin. In Art. 108 Abs. 1 wird wie auch im StVollzG die Behörde als Adressat genannt, in Art. 108 Abs. 3 die Anordnungs- und Durchführungsbefugnis des Arztes fixiert und zudem ein Einvernehmen mit der Anstaltsleitung gefordert. Nach der Gesetzesbegründung soll hierdurch das Verhältnis zu Art. 177 BayStVollzG klargestellt werden, der Verantwortung und
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Voraussetzungen
§ 102
Leitungsbefugnis der Anstaltsleitung festschreibt. Die Letztentscheidung liegt damit beim Anstaltsleiter bzw. der Anstaltsleiterin (LT-Drucks. 15/8101, S. 69; vgl. zum Kompetenzkonflikt aber oben Rdn. 9). 2. Hamburg § 84 HmbStVollzG entspricht, abgesehen von redaktionellen Änderungen im Wortlaut, 46 § 101 StVollzG. 3. Niedersachsen § 93 NJVollzG entspricht dem § 101 StVollzG. § 93 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und 3 47 NJVollzG sind bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit den entsprechenden Teilen von § 101 StVollzG. § 93 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG wurde verändert und lautet nun: „Bei Lebensgefahr, schwer wiegender Gefahr für die Gesundheit der oder des Gefangenen oder Gefahr für die Gesundheit anderer Personen sind medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung zwangsweise zulässig.“ Zu den Motiven für die marginalen Änderungen heißt es in der Gesetzesbegründung zum NJVollzG: „Sprachlich präziser gefasst wurde schließlich § 93 Abs. 1 des Entwurfs gegenüber § 101 Abs. 1 StVollzG. Inhaltliche Änderungen sollten damit jedoch nicht verbunden sein“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 152).
DREIZEHNTER TITEL
Disziplinarmaßnahmen § 102 Voraussetzungen (1) Verstößt ein Gefangener schuldhaft gegen Pflichten, die ihm durch dieses Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes auferlegt sind, kann der Anstaltsleiter gegen ihn Disziplinarmaßnahmen anordnen. (2) Von einer Disziplinarmaßnahme wird abgesehen, wenn es genügt, den Gefangenen zu verwarnen. (3) Eine Disziplinarmaßnahme ist auch zulässig, wenn wegen derselben Verfehlung ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet wird. Schrifttum: Bammann Tätowierungen und das Recht, in: Bammann/Stöver (Hrsg.), Tätowierungen im Strafvollzug, Oldenburg 2006, 79 ff; Baumann Sicherheit und Ordnung in Vollzugsanstalten? Tübingen 1972; Böhm Zu den Disziplinarmaßnahmen und dem Disziplinarverfahren nach dem Strafvollzugsgesetz, in: Ebert u. a. (Hrsg.), FS für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, 457 ff; Diepolder Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug, Bemerkungen zu den §§ 102–107 StVollzG, in: ZfStrVo 1980, 140 ff; Heghmanns Die Anhörung des Gefangenen im vollzugsrechtlichen Disziplinarverfahren, in: ZfStrVo 1998, 232 ff; Hohmeier Hausstrafverfahren in der gegenwärtigen Form dysfunktional, in: ZfStrVo 1973, 24 ff; Laubenthal Disziplinierung unbotmäßigen Verhaltens im Vollzug von Freiheitsstrafe nach dem Bayerischen Strafvollzugsgesetz, in: Laubenthal (Hrsg.): FG für Rainer Paulus, Würzburg 2009, 97 ff; Neuland Disziplinarmaßnahmen („Hausstrafen“) und Vergünstigungs-
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Voraussetzungen
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Leitungsbefugnis der Anstaltsleitung festschreibt. Die Letztentscheidung liegt damit beim Anstaltsleiter bzw. der Anstaltsleiterin (LT-Drucks. 15/8101, S. 69; vgl. zum Kompetenzkonflikt aber oben Rdn. 9). 2. Hamburg § 84 HmbStVollzG entspricht, abgesehen von redaktionellen Änderungen im Wortlaut, 46 § 101 StVollzG. 3. Niedersachsen § 93 NJVollzG entspricht dem § 101 StVollzG. § 93 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und 3 47 NJVollzG sind bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit den entsprechenden Teilen von § 101 StVollzG. § 93 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG wurde verändert und lautet nun: „Bei Lebensgefahr, schwer wiegender Gefahr für die Gesundheit der oder des Gefangenen oder Gefahr für die Gesundheit anderer Personen sind medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung zwangsweise zulässig.“ Zu den Motiven für die marginalen Änderungen heißt es in der Gesetzesbegründung zum NJVollzG: „Sprachlich präziser gefasst wurde schließlich § 93 Abs. 1 des Entwurfs gegenüber § 101 Abs. 1 StVollzG. Inhaltliche Änderungen sollten damit jedoch nicht verbunden sein“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 152).
DREIZEHNTER TITEL
Disziplinarmaßnahmen § 102 Voraussetzungen (1) Verstößt ein Gefangener schuldhaft gegen Pflichten, die ihm durch dieses Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes auferlegt sind, kann der Anstaltsleiter gegen ihn Disziplinarmaßnahmen anordnen. (2) Von einer Disziplinarmaßnahme wird abgesehen, wenn es genügt, den Gefangenen zu verwarnen. (3) Eine Disziplinarmaßnahme ist auch zulässig, wenn wegen derselben Verfehlung ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet wird. Schrifttum: Bammann Tätowierungen und das Recht, in: Bammann/Stöver (Hrsg.), Tätowierungen im Strafvollzug, Oldenburg 2006, 79 ff; Baumann Sicherheit und Ordnung in Vollzugsanstalten? Tübingen 1972; Böhm Zu den Disziplinarmaßnahmen und dem Disziplinarverfahren nach dem Strafvollzugsgesetz, in: Ebert u. a. (Hrsg.), FS für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, 457 ff; Diepolder Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug, Bemerkungen zu den §§ 102–107 StVollzG, in: ZfStrVo 1980, 140 ff; Heghmanns Die Anhörung des Gefangenen im vollzugsrechtlichen Disziplinarverfahren, in: ZfStrVo 1998, 232 ff; Hohmeier Hausstrafverfahren in der gegenwärtigen Form dysfunktional, in: ZfStrVo 1973, 24 ff; Laubenthal Disziplinierung unbotmäßigen Verhaltens im Vollzug von Freiheitsstrafe nach dem Bayerischen Strafvollzugsgesetz, in: Laubenthal (Hrsg.): FG für Rainer Paulus, Würzburg 2009, 97 ff; Neuland Disziplinarmaßnahmen („Hausstrafen“) und Vergünstigungs-
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denken, in: Schwind/Blau 270 ff; Pachmann Der Disziplinarvorfall in der Praxis, in: ZfStrVo 1979, 226 ff; Ostendorf Das Verbot einer strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Ahndung der Gefangenenbefreiung, in: NStZ 2007, 313 ff; Skirl Die Zulässigkeit von Disziplinarmaßnahmen nach Drogenkonsum eines Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1995, 93 ff; J. Walter Disziplinarmaßnahmen, besondere Sicherungsmaßnahmen oder Selbstbeschädigungen – Indikatoren für die Konfliktbelastung einer Vollzugsanstalt? in: ZfStrVo 1988, 195 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Aufgabe der Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 2. Subsidiarität . . . . . . . . . . 3. Rechtsgrundlagen . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Pflichtverstoß des Gefangenen 2. Schuldhafte Begehung nötig . . 3. Ermessensentscheidung des Anstaltsleiters . . . . . . . . . . .
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Rdn. 4. Mehrere Verstöße, „Verjährung“, Dauerpflichtverstoß . . . . . . 5. Möglichkeit der „Doppelbestrafung“ nach Abs. 3 . . . . . . . 6. Verfahrensgrundsätze . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. 12–14 . 15 . 16 . 17–18 . 19–21 . 19 . 20 . 21
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Während die Sicherungsmaßnahmen befürchteten Gefahren für Sicherheit und Ordnung vorbeugen, präventiv wirken sollen, die Zukunft sichern, und die Zwangsmaßnahmen dazu dienen, die gerade eingetretene gegenwärtige Gefahr zu bekämpfen und zu bannen (§ 88 Rdn. 1), haben die Disziplinarmaßnahmen mit der Ahndung vergangener Angriffe auf Sicherheit und Ordnung zu tun. Ihre Aufgabe ist repressiv. Allerdings sollen auch die Disziplinarmaßnahmen präventiv wirken. Generalpräventiv wirken sie, indem ihre maßvolle Verhängung den in der Justizvollzugsanstalt befindlichen Personen (den Insassen und den Bediensteten) die Verbindlichkeit der ein unter den Bedingungen des Vollzugs der Freiheitsstrafe erträgliches Zusammenleben ermöglichenden Vorschriften verdeutlicht und so zu deren Befolgung ermuntert. Insoweit werden die Maßnahmen auch „im Blick auf andere“ (Neuland 1988, 274; Pachmann 1979, 228) angeordnet. Spezialpräventiv sind sie erfolgreich, wenn der disziplinierte Gefangene sich künftig eines Pflichtverstoßes enthält, wobei die Disziplinarmaßnahme eine (abschreckende) Warnwirkung entfalten kann (Laubenthal 2008 Rdn. 728).
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2. Ein Erfolg im Sinne des Behandlungsziels wird durch die Disziplinarmaßnahmen i. d. R. nicht herbeigeführt (Böhm 2003 Rdn. 355; Hohmeier 1973, 24). Deshalb wird zu Recht die Subsidiarität der Disziplinarmaßnahmen hinter behandelnder Einflussnahme (AKJ. Walter 2006 Rdn. 27 und vor § 102 Rdn. 11; C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 693; Müller-Dietz 1978, 210) betont. Angesichts der Realität des Lebensalltags in den Justizvollzugseinrichtungen mit nahezu alltäglichen Regelverstößen bis hin zur Gewaltausübung in den vollzuglichen Subkulturen (s. dazu Laubenthal 2008 Rdn. 213 ff) kann allerdings nicht auf ihren Einsatz verzichtet werden. Ein vorwiegend auf Konfliktvermeidung ausgerichteter Vollzug entspricht nicht den Strafvollzugsgesetzen, weswegen sich die Qualität einer Anstalt oder eines Vollzugssystems nicht an der Häufigkeit der zu verhängenden Disziplinarmaßnahmen messen lässt. Disziplinarmaßnahmen ermöglichen es, leichtere, in der Justizvollzugsanstalt begangene Straftaten, durch die auch die Ordnung gestört wurde (Beleidigung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, kleinere Diebstähle oder Widerstands-
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handlungen), zu ahnden, ohne ein den Insassen stärker belastendes Strafverfahren zu verursachen (Rdn. 15). Der geschädigte Mitgefangene oder Bedienstete verzichtet auf die Strafanzeige angesichts der Disziplinarmaßnahmen; die Staatsanwaltschaft stellt im Hinblick auf die Disziplinarmaßnahme gem. §§ 153, 154 StPO das Verfahren ein – s. Baumann 1972, 37, 38; Walter 1999 Rdn. 519. 3. Die Voraussetzungen für die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen, das Diszipli- 3 narverfahren sowie die zulässigerweise verhängbaren Disziplinarfolgen sind in §§ 102 bis 107 normiert. Auf der landesrechtlichen Ebene enthalten Art. 109 ff BayStVollzG (dazu Laubenthal 2008, 97 ff), §§ 94 ff NJVollzG weitgehend inhaltsgleiche Bestimmungen.
II. Erläuterungen 1. Wie das auch sonst in Disziplinarordnungen der Fall ist, hat das StVollzG keine be- 4 sonderen Tatbestände geschaffen, deren Verwirklichung Disziplinarmaßnahmen nach sich zieht (hierzu krit. AK-J. Walter 2006 vor § 102 Rdn. 16). Die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen ist vielmehr zulässig bei der schuldhaften Verletzung von Pflichten, die dem Gefangenen durch das StVollzG oder aufgrund des Gesetzes auferlegt sind. Das StVollzG legt dem Gefangenen z. B. die Pflicht auf, Anstaltskleidung zu tragen (§ 20 5 Abs. 1), beim Besuch Gegenstände nur mit Erlaubnis zu übergeben oder in Empfang zu nehmen (§ 27 Abs. 4 Satz 1), Absendung und Empfang seiner Schreiben durch die Anstalt vermitteln zu lassen und die eingehenden Schreiben unverschlossen zu verwahren (§ 30 Abs. 1 und 3), eine ihm zugewiesene, seinen körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit oder Beschäftigung auszuüben (§ 41 Abs. 1), die Zustimmung, auch über drei Monate hinaus Hilfstätigkeiten nach § 41 Abs. 1 Satz 2 ausüben zu wollen, nicht zur Unzeit zurückzunehmen, die Zustimmung zur Teilnahme an berufsbildenden Maßnahmen nicht zur Unzeit zu widerrufen (§ 41 Abs. 2 Satz 2), die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen (§ 56 Abs. 2); z. B. sich wiegen zu lassen, den Arzt zu einer medizinischen Belehrung aufzusuchen, sich nach der Tageseinteilung der Anstalt zu richten (§ 82 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 161 Abs. 2 Nr. 2), durch sein Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben nicht zu stören (§ 82 Abs. 1 Satz 2; etwa durch Beleidigung von Bediensteten, durch Konsum von Drogen oder von Alkohol), rechtmäßige Anordnungen von Vollzugsbediensteten zu befolgen, auch wenn er sich durch sie beschwert fühlt (§ 82 Abs. 2 Satz 1), einen ihm zugewiesenen Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen (§ 82 Abs. 2 Satz 2), seinen Haftraum und die ihm von der Anstalt überlassenen Sachen in Ordnung zu halten und schonend zu behandeln (§ 82 Abs. 3), Umstände, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten, unverzüglich zu melden (§ 82 Abs. 4) und nur Sachen in Gewahrsam zu haben oder anzunehmen, die ihm von der Vollzugsbehörde oder mit ihrer Zustimmung überlassen werden (§ 83 Abs. 1 Satz 1; dagegen verstößt ein Gefangener nicht gegen seine Pflichten, der einem anderen Gefangenen einen Gegenstand schenkt. Nur die Annahme von Gegenständen, nicht deren Abgabe untersagt § 83; OLG Koblenz NStZ 1988, 528). Keine Pflichtverletzung stellt dar eine fehlende Mitwirkung des Inhaftierten an der Gestaltung seiner Behandlung und der Erreichung des Sozialisationsziels, weil diese gem. § 4 Abs. 1 nicht erzwingbar ist, sondern die Anstalt die Bereitschaft dazu wecken und fördern soll. Aufgrund des Gesetzes können dem Gefangenen besondere Pflichten auferlegt 6 werden, die etwa die Tageseinteilung der Anstalt oder das geordnete Zusammenleben i. S. von § 82 Abs. 1 Satz 2 genauer bestimmen. Hierbei geht es einmal um generelle Regelungen,
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die im StVollzG ihre Legitimationsgrundlage finden, wie etwa eine Hausordnung (§ 161). Pflichten werden zudem durch Einzelweisung begründet, wenn diese sich auf das Gesetz stützt. So kann die Hausordnung das Werfen von Gegenständen aus dem Haftraumfenster verbieten (LG Trier 25.4.1990 – 57 Vollz 33/90), oder als besonderen Unterfall der Störung geordneten Zusammenlebens die geschäftsmäßige Rechtsberatung für andere Gefangene, die im Vollzug zu unerwünschten Abhängigkeitsverhältnissen führen mag (OLG Koblenz NStZ 1997, 428 M; BVerfG NStZ 1998, 103). Weitere Pflichten werden den Gefangenen durch die Weisungen auferlegt, die der Anstaltsleiter für Lockerungen und Urlaub erteilt: § 14 Abs. 1 – etwa pünktlich in die Anstalt zurückzukehren (LG Hamburg ZfStrVo 1979 S H 84; OLG Celle NStZ 1983, 288 = ZfStrVo 1983, 317, 318 mit Anm. Skirl und Dertinger NStZ 1984, 192; AK-J. Walter 2006 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 6; Diepolder 1980, 141; K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 27). Sofern die Weisung keinerlei Bezug zu Sicherheit und Ordnung der Anstalt ausweist, sondern nur das Verhalten des Gefangenen während der Vollzugslockerung zum Inhalt hat – z. B. den Bewährungshelfer aufzusuchen oder keine Straftaten zu begehen –, können Verstöße nicht mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden. Sie können freilich zum Widerruf der Lockerung führen (§ 14 Rdn. 14, 15). Das StVollzG muss die Ermächtigung, dem Gefangenen Pflichten aufzuerlegen, ausdrücklich enthalten (§ 4 Rdn. 13 ff) und die auferlegten Pflichten müssen dem der einzelnen gesetzlichen Bestimmung zugrunde liegenden Sinn (bei Lockerungen etwa: nicht den Vollzug bei Rückkehr durch Trunkensein zu stören: LG Hamburg ZfStrVo 1978, 250, 251) entsprechen (BVerfG NStZ 1998, 103). 7 Streitig ist, ob der Gefangene durch eine Selbstbeschädigung bzw. einen Suizidversuch gegen seine Pflichten verstößt. Einerseits wird auf das Fehlen einer ausdrücklichen Pflicht hingewiesen (AK-J. Walter 2006, Rdn. 7; Stuth ZfStrVo 1981, 83, 84). Auch wenn der Gefangene insoweit ergangenen Anweisungen entgegen handle, fehle es an einem Pflichtverstoß, weil er in erster Linie sich schädige (Diepolder 1980, 141). Andererseits werden Fälle geschildert, in denen solche Handlungen das geordnete Zusammenleben in der Anstalt erheblich stören (OLG Celle 10.1.1980 – 3 Ws 395/79 zum Hungerstreik; Rotthaus ZfStrVo 1980, 53). Es kommt auf den Einzelfall an. Ein Pflichtenverstoß liegt dann vor, wenn der Gefangene die Selbstbeschädigung als Nötigungsmittel einsetzen will oder eine Störung der Ordnung (§ 81 Rdn. 7) anstrebt (Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 731). Dagegen dürfte der Selbstmordversuch in aller Regel kein Pflichtenverstoß sein. Auch wenn der Gefangene bei dieser Tat Sachen der Anstalt beschädigt, ist wegen der psychischen Ausnahmesituation des Insassen eine disziplinarische Behandlung des Vorfalls unzulässig (Stuth ZfStrVo 1981, 83, 84). Unerlaubtes Tätowieren (dazu Bammann 2006, 83 ff) gefährdet zwar die Sicherheit der Anstalt nicht, vermag jedoch das Zusammenleben in der Anstalt insoweit zu stören, dass es zu einer Beeinträchtigung der aus § 56 Abs. 2 folgenden Verpflichtung führt, für den Schutz der Gesundheit Sorge zu tragen (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 176; Arloth 2008, Rdn. 4 f). Der Verstoß gegen das Verbot, sich in der Anstalt parteipolitisch zu betätigen, kann nur geahndet werden, wenn er das Zusammenleben in der Anstalt stört (OLG Nürnberg ZfStrVo 1987, 252). Zur Frage, ob das gewaltlose Entweichen aus der (geschlossenen) Vollzugsanstalt eine Pflichtverletzung ist, Rdn. 17, 18.
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2. Der Pflichtverstoß muss schuldhaft begangen sein. Das setzt voraus, dass der Gefangene auf seine Pflichten, wenn sie nicht ganz selbstverständlich sind (dass man z. B. auf andere Menschen nicht einprügelt oder Gegenstände zerstört), in verständlicher Form hingewiesen wird (§ 5 Rdn. 7). Die Aushändigung eines Exemplars des StVollzG und der Hausordnung genügt i. d. R. nicht, besonders bei Ausländern oder Gefangenen, die Mühe mit Lesen und Verstehen von Vorschriften haben (vgl. auch § 161 Rdn. 3). Schuldhaft han-
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delt nur, wer verantwortlich ist. So wird ein Gefangener, der volltrunken vom Ausgang zurückkommt und in diesem Zustand in der Anstalt randaliert, Personen angreift und Sachen beschädigt, diese Folgen seines Alkoholkonsums nicht schuldhaft begangen haben. Sein schuldhafter Pflichtverstoß könnte aber in dem weisungswidrigen Alkoholgenuss während des Ausgangs liegen. Bestehen Zweifel an der Verantwortlichkeit zur Tatzeit, so ist der Arzt zu hören. I.d.R. ziehen nur vorsätzliche Pflichtverstöße Disziplinarmaßnahmen nach sich. Es dürften aber auch fahrlässig begangene Pflichtverstöße ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen (insoweit a. A. AK-J. Walter 2006 Rdn. 15), vor allem dann, wenn dadurch erhebliche Verletzungen oder Gefährdungen eingetreten sind. Bei Fahrlässigkeit liegen i. d. R. aber ein Absehen von einer Disziplinarmaßnahme und das Aussprechen von Verwarnungen nach Abs. 2 nahe (C/MD 2008 Rdn. 13; Laubenthal 2008 Rdn. 734). Weder der Versuch eines Gefangenen, gegen eine Pflicht zu verstoßen, noch Vorbereitungshandlungen (zu weitgehend OLG Zweibrücken ZfStrVo 1982, 251, 252) können eine Disziplinarmaßnahme auslösen (AK-J. Walter 2006 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 2). Eine unzulässige Umgehung der gesetzlichen Regelungen würde es bedeuten, wollte man den Versuch eines Verstoßes ausreichen lassen, wenn sich bereits daraus eine Gefahr für das geordnete Zusammenleben in der Anstalt ergibt (so aber Arloth 2008 Rdn. 3). Auch die Beteiligung am Pflichtenverstoß eines anderen (OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 313, 314: notwendige Teilnahme) genügt nicht. Da § 102 Abs. 1 einen Bezug der Pflichtwidrigkeit zur Person des Täters und seinem Pflichtenkreis verlangt, unterfallen mangels eigener Pflichtverstöße auch bloße Teilnahmehandlungen eines Inhaftierten an Pflichtwidrigkeiten von Mitgefangenen nicht dieser Norm. Schon am Verstoß gegen eine Pflicht fehlt es, wenn der Gefangene gerechtfertigt gegen den Wortlaut einer Vorschrift handelt, etwa einer ihm von einem Bediensteten zugerufenen Weisung zuwider den Angriff eines Mitgefangenen in Ausübung seines Notwehrrechts abwehrt (vgl. Müller-Dietz 1978, 191) oder sich weigert, eine seine Gesundheit gefährdende Arbeit zu leisten (LG Bonn NStZ 1988, 575). Zu weiteren Fällen nicht schuldhafter Arbeitsverweigerung vgl. auch § 41 Rdn. 5. 3. Der Anstaltsleiter (s. hierzu § 105) kann Disziplinarmaßnahmen bei einem schuld- 9 haften Pflichtverstoß anordnen. In keinem Fall muss der Anstaltsleiter von seiner Disziplinarbefugnis Gebrauch machen, vielmehr kann er sich auch auf eine nach der Sachlage gebotene Sicherungsmaßnahme beschränken (OLG Koblenz NStZ 1989, 342, 343 mit Anm. Rotthaus). Das liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Diese Ermessensentscheidung berührt aber nur die Frage, ob er die Rechtsfolge eintreten lässt oder nicht. Sein Ermessen erstreckt sich nicht auch darauf, ob er einen schuldhaften Pflichtverstoß annehmen will oder nicht. Diese Voraussetzung für seine Ermessensentscheidung muss vielmehr zweifelsfrei erwiesen sein und unterliegt der vollen Nachprüfung im Verfahren nach §§ 109 ff (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 57; BVerfG ZfStrVo 2004, 301, 302; vgl. auch OLG Hamm ZfStrVo 1988, 114; ZfStrVo 1989, 314, 315). Ein bloßer Verdacht genügt nicht zur Verhängung einer Disziplinarmaßnahme (BVerfG StraFo 2007, 24). Da es sich um strafähnliche Reaktionen handelt und deshalb für Disziplinarmaßnahmen der Schuldgrundsatz gilt, darf der Anstaltsleiter keine Disziplinarmaßnahmen anordnen, welche die Schuld des Gefangenen übersteigen oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz außer Acht lassen (BVerfG ZfStrVo 1995, 53; LG Hamburg ZfStrVo 2001, 50). Der Anstaltsleiter wird sich bei seiner Entscheidung zudem an dem Grundsatz der Subsidiarität ausrichten. Dieser kommt in Abs. 2 zum Ausdruck. Demnach wird von einer Disziplinarmaßnahme insbesondere dann abgesehen, wenn es genügt, den Gefangenen zu verwarnen. Die Verwarnung ist eine nichtförmliche Belehrung oder Zurechtweisung als Ausdruck 10 der Missbilligung. Sie kann mündlich und schriftlich ausgesprochen werden. Die Verwar-
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nung darf auch von einem dem Anstaltsleiter nachgeordneten Bediensteten ausgesprochen werden. Obwohl sie keine Disziplinarmaßnahme ist, kann sich der Gefangene dagegen beschweren. Es kommt ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Betracht, wenn sie aktenkundig gemacht ist. Denn dann kann sie sowohl für andere Vollzugsentscheidungen (beispielsweise zur Begründung von Arrest bei mehrfach wiederholten Verfehlungen – § 103 Abs. 2) als auch für Vollstreckungsmaßnahmen (Führungsberichte der Anstalt zum Antrag auf Entlassung zur Bewährung nach § 57 StGB) von Bedeutung sein (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1978, 40, 41; C/MD 2008 Rdn. 13). 11 Ob der Anstaltsleiter die Sicherheit und Ordnung eher durch eine Disziplinarmaßnahme oder etwa durch den Widerruf einer erteilten Erlaubnis herstellt oder ob er beide Maßnahmen nebeneinander anordnet, hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. So kann er z. B. einem Insassen, der einer Anweisung zuwider mit der ihm genehmigten Schreibmaschine gegen Entgelt in Tabak den Schriftverkehr anderer Insassen erledigt, wodurch unerwünschte Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, eine Disziplinarmaßnahme auferlegen (C/MD 2008 Rdn. 6), aber auch ihm den Besitz der Schreibmaschine nach § 70 Abs. 2 Nr. 2 entziehen. Er könnte sogar den Besitz der Schreibmaschine als Disziplinarmaßnahme nach § 103 Abs. 1 Nr. 4 bis zu drei Monate untersagen. Das wäre milder als eine (unbefristete) Maßnahme nach § 70 Abs. 2 Nr. 2 (vgl. auch KG 4.5.1981 – 2 Ws 383/80 Vollz). Vielleicht ist es aber für die Fortbildung des Gefangenen wichtig, dass er eifrig seine Schreibmaschine benutzt. Dann wäre zur Erreichung des Vollzugsziels die Belassung der Schreibmaschine vordringlich. Der Anstaltsleiter müsste dann eine andere Disziplinarmaßnahme auswählen. Der Gefangene, der seine Arbeitspflicht in der Weise verletzt, dass er sich außerhalb der vorgesehenen Pausen im Hof sonnt und auf die Ermahnungen des aufsichtsführenden Beamten nicht reagiert, kann sowohl neben einer Disziplinarmaßnahme als auch unter Absehen von einer Disziplinarmaßnahme wegen Unzuverlässigkeit von der Hofkolonne abgelöst werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 123; vgl. auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 114). Da der Einzelfall entscheidet, wie der Anstaltsleiter handelt, kann der Betroffene aus dem Umstand, dass gegen andere Gefangene in gleich oder ähnlich gelagerten Fällen von Disziplinarmaßnahmen abgesehen wurde, keinen Rechtfertigungsgrund oder Entschuldigungsgrund herleiten (OLG Saarbrücken ZfStrVo SH 1978, 40) oder Gleichbehandlung fordern.
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4. Mehrere gleichzeitig bekannt gewordene Pflichtverstöße eines Gefangenen werden mit einer Disziplinarmaßnahme geahndet (vgl. VV Nr. 2 zu § 106). Das ist wichtig, weil die Höchstgrenzen, die in § 103 Abs. 1 für die einzelnen Maßnahmen vorgesehen sind, nicht überschritten werden dürfen. Die Vorschrift des § 103 Abs. 3 gewährt insoweit genügend Flexibilität. 13 Es gibt keine Vorschrift, die die Verjährung von Verstößen regelt. Es ist in aller Regel unnötig, lange zurückliegende Verfehlungen durch Disziplinarmaßnahmen zu ahnden (vgl. hierzu OLG Hamburg ZfStrVo 2004, 240). Verfehlungen, die keine strafbaren Handlungen darstellen, sollten nach drei Monaten verjähren (ähnlich OLG Nürnberg NStZ 1989, 246; AK-J. Walter 2006 Rdn. 11; Arloth 2008 Rdn. 7). 14 Der Vollzug einer Disziplinarmaßnahme stellt eine Zäsur dar; wird der Pflichtverstoß vom Strafgefangenen fortgesetzt, darf er auch erneut geahndet werden (Arloth 2008 Rdn. 7). Setzt etwa ein Gefangener die Arbeitsverweigerung nach der deswegen verhängten und vollzogenen Disziplinarmaßnahme fort, so begeht er einen neuen Pflichtverstoß (Dauerpflichtverstoß; OLG Nürnberg bei Pachmann ZfStrVo 1981, 88; für fortgesetzten unbefugten Besitz von Sachen OLG Nürnberg NStZ 1981, 456, s. § 103 Rdn. 4). Bei der erneuten Dis-
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ziplinarmaßnahme ist der Anstaltsleiter nicht genötigt, die Höchstgrenze der Disziplinarmaßnahmen nach § 103 Abs. 1 in der Weise zu beachten, dass die neue und die alte Disziplinarmaßnahme zusammengenommen sich in deren Rahmen halten müssen (Pachmann ZfStrVo 1981, 86; a. A. AK-J. Walter 2006 Rdn. 10; Schaaf ZfStrVo 1980, 146). 5. Nicht jede Straftat eines Gefangenen während des Vollzugs ist ein Pflichtverstoß 15 i. S. d. § 102 Abs. 1. Wenn etwa beim Besuch ein Gefangener seinem Besucher Tipps zum Begehen einer Straftat gibt, in einem Brief Beleidigungen über Anstaltsbedienstete ausspricht (C/MD 2008 Rdn. 4; vgl. aber K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 28; OLG Frankfurt NStZ 1994, 404) oder wenn ein Gefangener im Strafurlaub Straftaten begeht (selbst wenn ihm dies der Anstaltsleiter durch ausdrückliche Weisung untersagt haben sollte: so aber OLG Nürnberg ZfStrVo 1984, 377 mit zutr. abl. Anm. Skirl 378 f, s. auch C/MD 2008 Rdn. 4, 6; Skirl ZfStrVo 1983, 147). Straftaten sind Verstöße gegen die für jedermann durch das Strafgesetz auferlegten Pflichten. Die Strafgefangenen machen sich daher wie jeder andere strafbar. Umgekehrt sind viele Pflichtverstöße i. S. d. § 102 Abs. 1 kein strafbares Unrecht. Es ist aber möglich, dass ein Pflichtverstoß nach § 102 Abs. 1 zugleich einen Straftatbestand erfüllt, wenn der Gefangene beispielsweise einen fremden Gegenstand zerstört, einen Mitgefangenen bestiehlt, einen Bediensteten gewaltsam an der Ausübung seiner Dienstpflichten hindert oder Haschisch oder Heroin besitzt. In diesen Fällen ist eine Disziplinarmaßnahme auch zulässig, wenn wegen derselben Verfehlung ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet wird. Es handelt sich nicht um einen Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung des Art. 103 Abs. 3 GG (BVerfGE 21, 378 ff), weil dieses nicht das Verhältnis von Disziplinarmaßnahme und Kriminalstrafe betrifft. Es genügt, wenn bei dem späteren Eingriff die frühere, wegen desselben Verstoßes erlittene, Rechtseinbuße berücksichtigt wird (C/MD 2008 Rdn. 14); der strafzumessende Tatrichter muss eine vorangegangene disziplinarische Ahndung berücksichtigen. Allerdings sollte die doppelte (disziplinäre und strafrechtliche) Ahndung die Ausnahme bleiben (AK-J. Walter 2006 Rdn. 30). Sie ist nur angemessen, wenn die Schwere der Ordnungsstörung einerseits eine Disziplinarmaßnahme an Ort und Stelle verlangt, weil sonst der innere Friede der Anstalt gestört ist, gleichzeitig aber das strafrechtliche Gewicht des Vorfalls so ist, dass eine Verfolgung trotz der Disziplinarmaßnahme unerlässlich erscheint (Gefangenenmeuterei, erhebliche Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt, gröbere Körperverletzungen, Besitz von Drogen). Handelt es sich um leichtere Straftaten, so sollte im Hinblick auf die Disziplinarmaßnahme das Strafverfahren eingestellt werden (Rdn. 2). Ein Freispruch im Strafverfahren, weil sich etwa ein Rechtfertigungsgrund (Notwehr) des Angeklagten nicht ausschließen lässt, verbietet die Ahndung des Vorfalls mit einer Disziplinarmaßnahme (OLG München ZfStrVo 1989, 185), d. h. ein wegen desselben Sachverhalts anhängiges Disziplinarverfahren ist einzustellen. Erfolgt der rechtskräftige Freispruch erst nach Abschluss des Disziplinarverfahrens, kann der Betroffene bei schon vollstreckter Disziplinarfolge bei der Strafvollstreckungskammer die Rechtswidrigkeit feststellen lassen (OLG München Beschl. v. 2.8.2007 – 3 Ws 451/07 R). 6. Der strafähnliche Charakter (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1986, 383; BVerfG NStZ 16 1993, 605; StV 2004, 613) der Disziplinarmaßnahme, die einen nicht unerheblichen Eingriff in das Freiheitsrecht des Gefangenen darstellt (BVerfG ZfStrVo 1995, 371), verlangt eine lückenlose Ermittlung des Sachverhalts (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 124; BVerfG ZfStrVo 1995, 53), eindeutige Feststellung der Schuld (LG Wuppertal NStZ 1989, 295; OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 152; BVerfG ZfStrVo 2004, 301 f) und ein faires Verfahren (OLG Hamm BlStV 2/1989, 4; NStZ 1989, 552). Die verhängte Maßnahme darf die Schuld des Gefangenen nicht übersteigen und muss verhältnismäßig sein. Die persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls sind einzubeziehen und mit Anlass und Auswirkungen der
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zu verhängenden Disziplinarmaßnahme abzuwägen (BVerfG ZfStrVo 1995, 53 und 55). Wegen ihrer Folgewirkung für künftige Disziplinarmaßnahmen, Lockerungsentscheidungen und Stellungnahmen zu Anträgen nach § 57 StGB besteht auch nach dem Vollzug der Disziplinarfolge sowie bei Verlegung in eine andere Anstalt ein Feststellungsinteresse daran, die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1986, 383; KG StV 1987, 541; OLG Hamm BlStV 1/1990, 5; OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 246; bei Verhängung von Arrest schon wegen des schwerwiegenden Eingriffs: BVerfG ZfStrVo 2004, 301, 302). Nicht in jedem Fall tritt aber mit dem Vollzug der Disziplinarmaßnahme eine Erledigung i. S. von § 115 Abs. 3 (s. § 115 Rdn. 17) ein (wenn etwa die Rechtswidrigkeit auf die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren gestützt werden soll, denn Verfahrensverstöße bewirken keine endgültige Rechtswidrigkeit einer Maßnahme). Dann kann dem Begehren des Gefangenen ausnahmsweise über den Weg des Anfechtungs- und Verpflichtungsantrags Rechnung getragen werden (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 314). Beruht die Fehlerhaftigkeit einer Disziplinarmaßnahme darauf, dass die Tatsachengrundlagen der Entscheidung falsch oder ungenügend ermittelt sind, so schließt dies die Verhängung einer neuen Disziplinarmaßnahme – unter Berücksichtigung des Verschlechterungsverbots – nicht aus (OLG Hamm BlStV 2/1989, 4; ZfStrVo 1993, 314).
III. Beispiel 17
Der Gefangene A entweicht aus dem geschlossenen Vollzug. Er zwängt sich in dem Unternehmerbetrieb, in dem er zur Arbeit eingesetzt ist, aus dem WC-Fenster und klettert über den die Anstalt sichernden Zaun. Nach Wiederergreifung verhängt der Anstaltsleiter eine Disziplinarmaßnahme von 7 Tagen Arrest. Das OLG München (23.5.1978 – 1 Ws 335/78; LS ZfStrVo 1979, 63) hat die Entscheidung des Anstaltsleiters bestätigt. „An einer ausdrücklichen Vorschrift, dass der Strafgefangene die Vollzugsanstalt bis zum Vollstreckungsende nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfe, fehlt es im StVollzG allein deshalb, weil sie unausgesprochen der gesetzlichen Neuregelung des Strafvollzugs zugrunde liegt und daher als selbstverständlich gelten kann . . . Um das vorgeschriebene Vollzugsziel der Resozialisierung nicht von vornherein zu vereiteln, muss sich der Strafgefangene den gesetzlichen Behandlungsmaßnahmen zur Verfügung halten. Wenn das StVollzG darüber hinaus dem Gefangenen die Pflichten auferlegt, ihm zugewiesene Beschäftigungen auszuüben, sich nach der Tageseinteilung der Anstalt zu richten und durch sein Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben nicht zu stören, die Anordnungen der Vollzugsbediensteten zu befolgen und den ihm zugewiesenen Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, so führt jedes noch vertretbare Gesetzesverständnis zur Annahme auch der Grundpflicht des Strafgefangenen, nicht zu entweichen. Flucht und Fluchtversuche vermögen zudem die Anstaltsordnung schwerwiegend zu beeinträchtigen, da diese Ordnung unter den vielfältig gesteigerten Ansprüchen des neuen Strafvollzugsrechts für Störungen viel anfälliger geworden ist, zugleich aber eine der grundlegenden Voraussetzungen des Strafvollzugs bleibt und deshalb nun erst recht des schnellwirkenden disziplinarrechtlichen Schutzes bedarf.“ Auch das OLG Hamm (NStZ 1988, 296) hält dies mit Teilen der Literatur (AK-J. Walter 2006 Rdn. 8; Arloth 2008 Rdn. 6; Böhm 2003, 189; ders. in Vorauflage § 102 Rdn. 18; Grunau/Tiesler Rdn. 3; K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 29; M. Walter 1999, 447) für rechtmäßig. 18 Dieser Ansicht steht jedoch entgegen (anders auch Calliess 1992, 171; C/MD 2008 Rdn. 11; Ostendorf 2007, 315 ff; OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 153), dass nach dem strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzip die Flucht bzw. das Entweichen aus der geschlossenen Anstalt ohne Fremdschädigung sowie entsprechende Versuchshandlungen gem.
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§ 103
§§ 120, 258 Abs. 5 StGB straflos bleiben, solange es nicht zu Gewalttätigkeiten i. S. d. § 121 StGB kommt. Zudem fehlt es an einer im StVollzG ausdrücklich normierten Verpflichtung des Gefangenen zum Verbleib in der Justizvollzugsanstalt. Eine solche folgt auch nicht konkludent aus § 82 Abs. 2 Satz 2, wonach der Inhaftierte einen ihm zugewiesenen Bereich nicht ohne Erlaubnis verlassen darf. Denn diese Normen betreffen nicht den Anstaltsbereich als Ganzes, sondern lediglich Untergliederungen innerhalb des Anstaltsgeländes (C/MD 2008 Rdn. 4).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 109 BayStVollzG ist, bis auf die Abfassung des Abs. 1 im Plural, wortgleich der bun- 19 desrechtlichen Regelung entnommen worden. 2. Hamburg § 85 Satz 1 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 102 Abs. 1 und 2. § 85 Satz 2 Hmb- 20 StVollzG lautet: „Satz 1 gilt nicht für Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten der Gefangenen nach § 5 Absatz 1.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Über diese Regelung hinaus stellt Satz 2 klar, dass die Befugnis, Disziplinarmaßnahmen anzuordnen, nicht für Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten der Gefangenen nach § 5 Absätze 1 und 2 sowie § 53 Absatz 3 gilt.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 47). 3. Niedersachsen § 94 NJVollzG wurde, abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzierung in 21 Abs. 1 und 2, weitgehend wortlautgleich aus der bundesrechtlichen Regelung übernommen.
§ 103 Arten der Disziplinarmaßnahmen (1) Die zulässigen Disziplinarmaßnahmen sind: 1. Verweis, 2. die Beschränkung oder der Entzug der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs bis zu drei Monaten, 3. die Beschränkung oder der Entzug des Lesestoffs bis zu zwei Wochen sowie des Hörfunk- und Fernsehempfangs bis zu drei Monaten; der gleichzeitige Entzug jedoch nur bis zu zwei Wochen, 4. die Beschränkung oder der Entzug der Gegenstände für eine Beschäftigung in der Freizeit oder der Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen bis zu drei Monaten, 5. die getrennte Unterbringung während der Freizeit bis zu vier Wochen, 6. – gestrichen – 7. der Entzug der zugewiesenen Arbeit oder Beschäftigung bis zu vier Wochen unter Wegfall der in diesem Gesetz geregelten Bezüge,
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§ 103
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8. die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt auf dringende Fälle bis zu drei Monaten, 9. Arrest bis zu vier Wochen. (2) Arrest darf nur wegen schwerer oder mehrfach wiederholter Verfehlungen verhängt werden. (3) Mehrere Disziplinarmaßnahmen können miteinander verbunden werden. (4) Die Maßnahmen nach Absatz 1 Nr. 3 bis 8 sollen möglichst nur angeordnet werden, wenn die Verfehlung mit den zu beschränkenden oder zu entziehenden Befugnissen im Zusammenhang steht. Dies gilt nicht bei einer Verbindung mit Arrest.
Schrifttum: s. bei § 102
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Spiegelungsprinzip . . . 2. Arrest bei schwerer Verfehlung 3. Nachträgliche Änderung . . .
. . . .
1 2–6
. . . . . .
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Rdn. 4. Problematik einzelner Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die Vorschrift zählt die zulässigen Disziplinarmaßnahmen abschließend auf. Andere Rechtsbeschränkungen dürfen dem Gefangenen aus disziplinären Gründen nicht auferlegt werden (§ 4 Rdn. 14). Das gilt vor allem für den Entzug von Vollzugslockerungen (sog. Urlaubssperre: OLG Bremen NStZ 1982, 84; OLG Celle ZfStrVo 1983, 317; OLG Rostock ZfStrVo 1995, 244; Untersagung des Radioempfangs über drei Monate hinaus: OLG Koblenz ZfStrVo 1987, 188; Entzug aller eigenen Gegenstände: OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 182; Verbot der Annahme von Nahrungsmitteln beim Besuch – sog. Automatenzug –: KG NStZ 2002, 613; Verbot der Beteiligung an religiösen Veranstaltungen – bei einer Maßnahme nach Nr. 4 –: OLG Hamm ZfStrVo 1999, 306; krit. Bothge ZfStrVo 1999, 352 f; § 4 Rdn. 14). Auch die Anbindung einer automatischen Sperre für Vollzugslockerungen an bestimmte Disziplinarmaßnahmen (etwa an Arrest) ist unzulässig, weil für die Gewährung von Lockerungen allein die in § 11 Abs. 2 genannten Gesichtspunkte maßgeblich sind (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 15; ZfStrVo SH 1978, 4; vgl. auch OLG Saarbrücken ZfStrVo 1978, 182; OLG Frankfurt ZfStrVo 1985, 377: Abzug der auf die Monate der Nichteignung für Lockerung entfallenden anteiligen Urlaubstage vom Gesamtkontingent). Die Ablösung eines Gefangenen von der Arbeit erst 14 Tage nach dem ihm zur Last gelegten Verstoß spricht für das Vorliegen einer „verkappten“ Disziplinarmaßnahme (OLG Frankfurt Beschl. v. 5.9.1985 – 3 Ws 672–674/85) ebenso, wie die Errichtung einer gesonderten Abteilung für arbeitsverweigernde oder sonst schwierige Gefangene (in verschiedenen Justizvollzugsanstalten) eine Umgehung des Disziplinarrechts darstellen kann (OLG Nürnberg ZfStrVo 1980, 250; LG Hamburg ZfStrVo 2001, 50). Es empfiehlt sich, die verhängten Maßnahmen am Wortlaut der Vorschrift zu orientieren (Beschränkung des Einkaufs auf 30 Euro monatlich für zwei Monate statt Einkaufssperre in Höhe von 60 Euro – bei einer stillschweigend angenommenen monatlichen Hausgeldgutschrift von etwa 60 Euro: OLG Zweibrücken
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Arten der Disziplinarmaßnahmen
§ 103
30.3.1994 – 1 Ws 44/94). Bei der Anordnung „Ausschluss von Auf- und Umschluss“ dürfte es sich um eine Maßnahme nach Nr. 5 handeln: OLG Hamburg ZfStrVo 1978, 248; die Formulierung „Freizeitsperre“ ist ebenfalls zu ungenau: OLG Hamm ZfStrVo 1988, 114 (vgl. auch AK-J. Walter 2006 Rdn. 2). § 103 benennt nicht nur die einzelnen Disziplinarfolgen, sondern beinhaltet auch Vorschriften zu Voraussetzungen der einzelnen Maßnahmen und ihrer Verbindung.
II. Erläuterungen 1. Ahndet der Anstaltsleiter einen schuldhaften Pflichtverstoß (§ 102 Rdn. 4 ff) mit 2 einer Disziplinarmaßnahme, so ist das übergeordnete Zumessungsprinzip – bei Beachtung des Schuldüberschreitungsverbots – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Eingriff in die Rechte des Gefangenen darf umso höher ausfallen, je schwerer der Pflichtenverstoß und das Verschulden des Gefangenen wiegen. Während der Verweis die mildeste Disziplinarmaßnahme darstellt und der Arrest die schwerste (Letzteres ergibt sich aus Abs. 2) – die allerschwerste ist Arrest in Verbindung mit weiteren Maßnahmen (Abs. 4 Satz 2) –, zeigt die Reihenfolge der anderen Maßnahmen keine Schwereskala an. Von diesen bleibt die Beschränkung des Einkaufs nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Die anderen Maßnahmen sollen möglichst in einem Zusammenhang mit den Verfehlungen stehen, derentwegen sie verhängt werden (Abs. 4 Satz 1). Diese Spiegelung soll einen pädagogischen Sinn haben und deshalb dem Vollzugsziel 3 (§ 2 Rdn. 12 ff) besonders entsprechen (C/MD 2008, Rdn. 3). Da aber kaum Streit darüber besteht, dass diese Maßnahmen in aller Regel das Vollzugsziel eher behindern (Baumann bezeichnet sie als „kleinliche, . . . Schikane“: Sicherheit und pädagogische Unordnung, in: Baumann Die Reform des Strafvollzuges, München 1974, 101, 114), ist Abs. 4 Satz 1 als Mahnung zu verstehen, von den Maßnahmen Nr. 3 bis 8 nur sehr vorsichtig Gebrauch zu machen sowie vollzugspädagogische Gründe, im Einzelfall von der Spiegelung abzuweichen, darzulegen (AK-J. Walter 2006 Rdn. 20). Der Zusammenhang, in dem sie mit den Verfehlungen stehen sollen, darf nicht so gesehen werden, dass die Anwendung der Vorschrift zu einer unpädagogischen „Lernsperre“ wird – wie sie für den Vollzug nicht untypisch ist: Neuland 1988, 274; s. auch Böhm 1999, 458. Es ist bedenklich, dem Insassen gerade die Befugnisse zu entziehen, mit denen er nicht zu Rande kommt, denn dadurch kann er ihre Bewältigung nicht lernen (ebenso Müller-Dietz 1978, 212; Walter 1999, Rdn. 515; AK-J. Walter 2006 Rdn. 19). Richtig ist es stattdessen, einen Verstoß etwa gegen die Arbeitspflicht mit einer Beschränkung der Freizeitaktivitäten zu beantworten, weil „Freizeit das Korrelat zur Arbeitszeit ist“ (OLG Nürnberg NStZ 1981, 249 F; vgl. auch Pachmann ZfStrVo 1981, 86, 88). Gerade auch bei Disziplinarmaßnahmen muss neben der Angemessenheit und der Erforderlichkeit der Disziplinarfolge das Proportionalitätsprinzip zur Anwendung gelangen. Danach ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen, ob nicht durch die Auferlegung einer Maßnahme die Erreichung des Sozialisationsauftrags beeinträchtigt wird. Eingriffe, die kurzfristige Sicherungs- und Ordnungserfolge bewirken, müssen unterbleiben, wenn sie die vollzugszielorientierte Behandlung langfristig gefährden (Laubenthal 2008 Rdn. 694). 2. Arrest darf nur bei schweren oder mehrfach wiederholten Verfehlungen verhängt 4 werden. Was eine schwere Verfehlung ist, unterliegt der vollen Nachprüfung durch das Gericht im Verfahren nach §§ 109 ff. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (Treptow ZfStrVo 1980, 67, 69; § 115 Rdn. 21). Schwere Verfehlungen sind regelmäßig eine Rückkehr vom Urlaub in angetrunkenem Zustand (LG Hamburg BlStV 2/1980, 7), beleidi-
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gendes Verhalten gegenüber Vollzugsbeamten (OLG Hamm BlStV 1/1994, 6; hier ist aber eine besonders sorgfältige Abwägung erforderlich: BVerfG NStZ 1994, 300), Einschmuggeln von Psycho-Pharmaka (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 15, 16), Haschischkonsum (OLG Koblenz BlStV 1/1995, 7), Besitz von selbst angesetzten alkoholischen Getränken (OLG Düsseldorf StV 1987, 255), unerlaubtes Tätowieren (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2006, 176). Die Feststellung einer leichten „Alkoholfahne“ bei einem Gefangenen rechtfertigt die Annahme einer schweren Verfehlung noch nicht (BVerfG NStZ 1993, 605; a. A. OLG Nürnberg NStZ 1993, 512). Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht soll angesichts der Verbitterung, mit der viele Gefangene auf den Arrest reagieren, die Disziplinarmaßnahme des Arrestes als Reaktion auf grobe Tätlichkeiten beschränkt bleiben (Diepolder 1980, 144) oder sogar ganz abgeschafft werden (AK-J. Walter 2006 Rdn. 16). In Anbetracht der Realität in den Justizvollzugsanstalten mit eigenständigen subkulturellen Gegenordnungen, die u. a. geprägt sind von der alltäglichen Gewaltausübung sowie der Existenz von Gruppenhierarchien (s. Laubenthal 2008 Rdn. 213 ff), besteht aber durchaus die Notwendigkeit einer nachhaltigen Disziplinierungsmöglichkeit wie dem Arrest als Ultima Ratio (Laubenthal 2008 Rdn. 746). Bei seiner Verhängung sind allerdings Subsidiaritäts-, Verhältnismäßigkeits- und Proportionalitätsprinzip besonders in die Abwägungsentscheidung des Disziplinarbefugten einzubeziehen. So kann selbst bei wiederholten Verfehlungen Zurückhaltung geboten sein. Bedenklich erscheint etwa die Anordnung von Arrest bei hartnäckiger wiederholter Arbeitsverweigerung oder bei unerlaubtem Besitz (OLG Nürnberg BlStV 6/1981, 4; § 102 Rdn. 14). Keine schwere Verfehlung ist im offenen Vollzug der gegen die Hausordnung verstoßende Aufenthalt eines Gefangenen in dem benachbarten Haftraum eines anderen Gefangenen, weil dadurch eine erhebliche Ordnungsstörung, die das Funktionieren grundlegender Arbeitszusammenhänge in der Anstalt gefährdet, nicht vorliegt (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 251).
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3. Der Anstaltsleiter kann eine Disziplinarmaßnahme, deren Vollstreckung sich (etwa wegen des Gesundheitszustandes des Gefangenen) als undurchführbar erweist, durch eine andere Disziplinarmaßnahme, die den Gefangenen aber nicht stärker belasten darf, ersetzen (KG ZfStrVo 1987, 252 LS).
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4. Die gesetzlich normierten Disziplinarmaßnahmen erscheinen nicht unproblematisch. So kann der Entzug der Verfügung über das Hausgeld bzw. die Einkaufssperre zu besonderer Abhängigkeit der so disziplinierten Gefangenen von anderen Insassen auf der subkulturellen Ebene führen. Deshalb sollte eher eine beschränkte Einkaufssperre angeordnet werden (Diepolder 1980, 142). Die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt auf dringende Fälle ist eine die Erreichung des Sozialisationsziel der Reintegration mehr beeinträchtigende Maßnahme. Das über das kärgliche Mindestmaß hinausgehende Beschränken der Kontakte mit der Außenwelt im geschlossenen Vollzug erscheint regelmäßig kaum vertretbar. Missbräuchen, die der Gefangene mit der Erlaubnis des Brief- und Besuchsverkehrs begeht, kann nach § 24 Abs. 3, §§ 25, 27 Abs. 1 und 2, § 28 Abs. 2, § 29 Abs. 3, § 31 ausreichend begegnet werden.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 110 Abs. 1 BayStVollzG ist weitgehend wortlautgleich mit § 103 Abs. 1 StVollzG. Allerdings lautet Abs. 1 Nr. 3 der bayerischen Norm nunmehr: „. . . die Beschränkung oder der Entzug des Hörfunk- oder Fernsehempfangs bis zu drei Monaten“. Weggefallen sind da-
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mit die Möglichkeit eines Entzugs oder einer Beschränkung des Lesestoffs sowie die zeitliche Begrenzung des 2. HS. Die Gesetzesbegründung (S. 70) verweist dabei auf die mangelnde praktische Bedeutung der Beschränkung des Lesestoffs. Bezüglich des nicht übernommenen 2. HS. der bundesrechtlichen Regelung schweigt die Begründung. Ferner kennt Abs. 1 der bayerischen Norm die im Bundesgesetz noch als „weggefallen“ gekennzeichnete Nr. 6 nicht, so dass sich – ohne eine Änderung des Inhalts oder des Wortlauts – die Nr. 7–9 des StVollzG im BayStVollzG als Nr. 6–8 darstellen. Abs. 2 u. 3 der Norm sind wortlautgleich mit dem Bundesgesetz. Das bayerische Gesetz verzichtet auf eine § 103 Abs. 4 StVollzG entsprechende Regelung. Die Gesetzesbegründung (S. 70) führt dazu aus: „Der pädagogische Sinn einer solchen «Spiegelung» erscheint . . . fraglich; werden den Gefangenen gerade die Befugnisse entzogen, mit denen sie nicht zurecht kommen, können sie den Umgang mit ihnen nicht lernen.“ 2. Hamburg § 83 Abs. 1–3 HmbStVollzG entsprechen inhaltlich weitgehend § 103 Abs. 1–3 StVollzG. 8 Weggefallen sind in Abs. 1 allerdings die Möglichkeit eines Entzugs des Lesestoffs sowie die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Der Kontakt mit der Außenwelt ist für die Erreichung des Vollzugsziels von erheblicher Bedeutung und unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung sozialer Bindungen im Rahmen des Möglichen zu fördern.“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 60). § 86 Abs. 4 HmbStVollzG lautet: „Disziplinarmaßnahmen sind unabhängig von der Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahren wegen desselben Sachverhalts zulässig.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Absatz 4 übernimmt inhaltlich die Regelung in § 102 Absatz 3 StVollzG. Auf eine Regelung wie in § 103 Absatz 4 StVollzG – so genanntes Spiegelgebot bei der Anordnung von Disziplinarmaßnahmen – wird auf Empfehlung der Praxis verzichtet.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 48). 3. Niedersachsen § 95 Abs. 1 NJVollzG ist weitgehend wortlautgleich mit § 103 Abs. 1 StVollzG. Allerdings 9 lautet Abs. 1 Nr. 3 der niedersächsischen Norm: „die Beschränkung oder der Entzug des Hörfunk- oder Fernsehempfangs bis zu drei Monaten“. Entfallen sind damit die Möglichkeit eines Entzugs oder einer Beschränkung des Lesestoffs sowie die zeitliche Begrenzung des 2. Hs. der bundesgesetzlichen Vorschrift. Die Gesetzesbegründung (S. 153) führt hierbei die mangelnde praktische Bedeutung der Beschränkung des Lesestoffs an. Hinsichtlich Nr. 3 2. Hs. des Bundesgesetzes äußert sich die Begründung nicht. § 95 Abs. 1 Nr. 4 NJVollzG enthält zudem eine zeitliche Beschränkung der Maßnahme auf die Dauer von vier Wochen. Die Gesetzesbegründung schweigt dazu. Ferner kennt Abs. 1 der niedersächsischen Norm die im Bundesgesetz noch als „weggefallen“ gekennzeichnete Nr. 6 nicht, weshalb den Nr. 7–9 des StVollzG die § 95 Abs. 1 Nr. 6–8 NJVollzG entsprechen, ohne dass damit eine Änderung des Inhalts oder des Wortlauts einherging. Abs. 2–4 sind wortlautidentisch mit der bundesgesetzlichen Regelung.
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§ 104 Vollzug der Disziplinarmaßnahmen. Aussetzung zur Bewährung (1) Disziplinarmaßnahmen werden in der Regel sofort vollstreckt. (2) Eine Disziplinarmaßnahme kann ganz oder teilweise bis zu sechs Monaten zur Bewährung ausgesetzt werden. (3) Wird die Verfügung über das Hausgeld beschränkt oder entzogen, ist das in dieser Zeit anfallende Hausgeld dem Überbrückungsgeld hinzuzurechnen. (4) Wird der Verkehr des Gefangenen mit Personen außerhalb der Anstalt eingeschränkt, ist ihm Gelegenheit zu geben, dies einer Person, mit der er im Schriftwechsel steht oder die ihn zu besuchen pflegt, mitzuteilen. Der Schriftwechsel mit den in § 29 Abs. 1 und 2 genannten Empfängern, mit Gerichten und Justizbehörden in der Bundesrepublik sowie mit Rechtsanwälten und Notaren in einer den Gefangenen betreffenden Rechtssache bleibt unbeschränkt. (5) Arrest wird in Einzelhaft vollzogen. Der Gefangene kann in einem besonderen Arrestraum untergebracht werden, der den Anforderungen entsprechen muss, die an einen zum Aufenthalt bei Tag und Nacht bestimmten Haftraum gestellt werden. Soweit nichts anderes angeordnet wird, ruhen die Befugnisse des Gefangenen aus den §§ 19, 20, 22, 37, 38, 68 bis 70. VV (1) Die Bewährungszeit (§ 104 Abs. 2) kann vor ihrem Ablauf verkürzt oder bis zur zulässigen Höchstfrist verlängert werden. (2) Die Aussetzung zur Bewährung kann ganz oder teilweise widerrufen werden, wenn der Gefangene die ihr zugrundeliegenden Erwartungen nicht erfüllt. (3) Wird die Aussetzung zur Bewährung nicht widerrufen, darf die Disziplinarmaßnahme nach Ablauf der Bewährungsfrist nicht mehr vollstreckt werden. Schrifttum: s. bei § 102.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der sofortigen Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . 2. Aussetzung einer Disziplinarmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfügungsbeschränkung und
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Rdn. Verbot des Verkehrs mit der Außenwelt . . . . . . . . 4. Arrestvollzug . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . .
. . . . . .
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. . . . . .
. 4 . 5–7 . 8–10 . 8 . 9 . 10
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Vorschrift – durch VV ergänzt – befasst sich bis ins Einzelne mit der Vollstreckung der Disziplinarmaßnahmen. Sie ermöglicht auch die Aussetzung der Maßnahmen zur Bewährung.
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Vollzug der Disziplinarmaßnahmen. Aussetzung zur Bewährung
§ 104
II. Erläuterungen 1. Es gilt der Grundsatz der sofortigen Vollstreckung. Gerade angesichts der Auf- 2 gabe der Disziplinarmaßnahmen, das ordnungsgemäße Zusammenleben in der Justizvollzugsanstalt zu sichern, kommt einer zügigen Abwicklung große Bedeutung zu (§ 102 Rdn. 1, vgl. auch OLG Hamburg ZfStrVo 2004, 240). Die Vollstreckung, vor allem, wenn nicht sehr schwere Ordnungsverstöße der Disziplinarmaßnahme zugrunde liegen, ist für den Täter sowie für andere Beteiligte schon wenige Wochen nach ihrer Verhängung kaum noch einsehbar. Deshalb haben auch Beschwerden und Anträge auf gerichtliche Entscheidungen nach § 109 zu Recht keine aufschiebende Wirkung (s. hierzu § 114); in Betracht kommt aber ein Antrag nach § 114 Abs. 2. Der Gefangene, der gegen die Disziplinarmaßnahme vorgehen will, ist über diese Möglichkeit und ihre Voraussetzungen zu belehren. Anstalt und Strafvollstreckungskammer haben für größtmögliche Beschleunigung zu sorgen, damit, wenn nicht schon der Anstaltsleiter den Vollzug der Maßnahme bis zur Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz aufschiebt, dem Gericht die Möglichkeit bleibt, die Maßnahme, noch ehe sie vollzogen ist, auszusetzen. Bei nicht mehr rückgängig zu machenden, sofort zu vollziehenden Disziplinarmaßnahmen wird der Richter unverzüglich eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die Maßnahme auszusetzen ist (BVerfG ZfStrVo 1995, 371 ff; NJW 2001, 3770; § 114 Rdn. 2; vgl. auch AK-J. Walter 2006 § 106 Rdn. 13). Demgemäß muss im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG die Strafvollstreckungskammer unverzüglich Kenntnis von dem Rechtsbehelf erlangen, d. h. das Verhalten der Anstaltsbediensteten darf nicht daraufhin angelegt werden, gerichtlichen Rechtsschutz zu vereiteln oder unzumutbar zu erschweren. Stellt ein Gefangener einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, so hat deshalb die JVA den Antrag unverzüglich weiterzuleiten, um dem Beschleunigungsgebot zu genügen. Kontrolliert die Anstalt ausgehende Briefe, so darf eine dadurch eintretende Verzögerung nicht zu Lasten des Rechtsschutz suchenden Gefangenen gehen. Da ein Inhaftierter insoweit auf die Tätigkeit der Anstalt angewiesen ist, hat diese bei einer Briefkontrolle Vorkehrungen zu treffen, dass ein Antrag das Gericht wie bei einer sofortigen Weiterbeförderung erreicht, z. B. durch Übermittlung mittels Telefax (BVerfG ZfStrVo 1994, 180 ff). Das aus Art. 19 Abs. 4 folgende Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes betrifft nicht nur die vollzugliche, sondern insbesondere auch die gerichtliche Ebene. Dort darf sich der Rechtsschutz nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen. Er muss vielmehr zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (BVerfG NStZ 2004, 225). 2. Die Aussetzung einer Disziplinarmaßnahme ist in Abs. 2 und in VV erschöpfend 3 geregelt. Über die Frage der Aussetzung wird erst entschieden, wenn die angemessene Disziplinarmaßnahme festgelegt ist. Eine Disziplinarmaßnahme höher festzusetzen, weil sie doch zur Bewährung ausgesetzt wird, bleibt unzulässig (KG StV 1986, 446), schon deshalb, weil im Falle des Widerrufs die Disziplinarmaßnahme doch vollstreckt werden muss. Die Aussetzung hat zu erfolgen, wenn die (vollständige) Vollstreckung weder zur Einwirkung auf den Gefangenen noch zur Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung (also gewissermaßen spezialpräventiv) erforderlich erscheint. Auch generalpräventiv wird die bloße Verhängung einer Disziplinarmaßnahme allerdings oft ausreichen. Leitlinie ist also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wegen des Unterschieds zur Kriminalstrafe sind §§ 56, 57 StGB (günstige Sozialprognose) bei der disziplinarrechtlichen Aussetzungsentscheidung (Maßstab: Verhältnismäßigkeitsprinzip) nicht sinngemäß anwendbar (OLG Düsseldorf StV 1987, 255; Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. KG StV 1986, 443). Der Widerruf der Aussetzung zur Bewährung darf nur daraus erfolgen, wenn der Gefangene schuldhaft gehandelt hat. Meistens liegt ein Alexander Böhm/Klaus Laubenthal
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
neuer Pflichtenverstoß gem. § 102 vor. Soweit andere mit der Aussetzung verbundene Erwartungen enttäuscht sind, müssten diese in der Aussetzungsentscheidung ausdrücklich formuliert gewesen sein (etwa: Entschuldigung beim Verletzten, Reparatur eines angerichteten Schadens). Nur ihre schuldhafte Nichterfüllung rechtfertigt den Widerruf (ähnlich AK-J. Walter 2006 Rdn. 3). Dieser ist aktenkundig zu machen, zu begründen und dem Gefangenen zu eröffnen (nicht notwendigerweise durch den Anstaltsleiter, weil es keine Entscheidung i.S.d. § 106 darstellt). Auch der Widerruf kann Gegenstand einer Dienstaufsichtsbeschwerde oder eines Antrags nach § 109 sein. Nach dem Widerruf wird die Maßnahme sofort vollstreckt (§ 104 Abs. 1).
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3. Abs. 3 stellt klar, dass die Verfügungsbeschränkung keine verkappte Geldstrafe bedeutet. Das verdiente Geld bleibt dem Gefangenen als unpfändbares Überbrückungsgeld (Umbuchung des Hausgeldes auf das Eigengeld ist deshalb unzulässig: LG Karlsruhe NStZ 1982, 263) erhalten. Dass der Gefangene von sich aus nicht einkauft, obgleich ihm dies möglich wäre, ist kein Vollzug der Einkaufssperre. Er bestimmt nicht den Zeitpunkt der Vollstreckung und kann einen Irrtum über die Art und Zeit der Vollstreckung durch Rückfrage vermeiden (KG NStZ 1982, 323 F). Das Verbot des Verkehrs mit der Außenwelt darf nicht die Verfolgung rechtlicher Ansprüche des Gefangenen beeinträchtigen (Abs. 4). Es bezieht sich nicht auf den Verkehr mit Behörden und Anwälten. Die dem Gefangenen zu eröffnende Möglichkeit, eine Person von dem Verbot des Brief- und Besuchsverkehrs zu unterrichten, kann unangenehme Vorkommnisse verhindern (wie etwa das Erscheinen von weither angereister Besucher, die von dem Verbot nicht unterrichtet worden sind, am Besuchstag). Auch wegen der Auswirkungen auf Dritte erscheint gerade diese Disziplinarmaßnahme im Regelfall ungeeignet. Zur Problematik einzelner Disziplinarmaßnahmen vgl. § 103 Rdn. 6.
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4. In Abs. 5 ist der Arrest definiert. Er ist Einzelhaft i. S. von § 89, also unausgesetzte Absonderung von anderen Insassen. Es steht der Vollzugsbehörde frei, diese Einzelhaft in dem einem Gefangenen zugewiesenen (Einzel-)Haftraum oder einem besonderen Haftraum zu vollziehen. Letzteres empfiehlt sich vor allem dann, wenn der Gefangene einen gut eingerichteten Raum mit vielen ihm erlaubten Gegenständen besitzt, die ihm für die Arrestzeit entzogen werden sollen. Die besonderen Arrestzellen sind i. d. R. so gelegen, dass sie leichter überwacht und versorgt werden können. Der Strafcharakter der Unterbringung wird dadurch hervorgehoben, dass diese Hafträume aus Sicherheitsgründen oft nur mit einer fest eingebauten Liegemöglichkeit eingerichtet sind und das Tageslicht durch Glasbausteine vermittelt wird (dazu KG NStZ 1984, 240). Der Gefangene kann gegen die Art der Unterbringung als einen seine Rechte beeinträchtigenden Realakt Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen und vortragen, der Haftraum entspreche nicht den Anforderungen des Abs. 5 (OLG Nürnberg NStZ 1981, 249 F). Die tägliche Freistunde (§ 64) bleibt dem Arrestanten erhalten. Der Anstaltsleiter kann aber allgemein anordnen (a. A. AK-J. Walter 2006 Rdn. 7: zulässig nur im Einzelfall), dass der Arrestant die Freistunde nicht mit den anderen Gefangenen verbringt (Einzelfreistunde). Die Teilnahme am gemeinsamen Gottesdienst steht dem Arrestanten zu (§ 54 Abs. 1 vgl. auch § 54 Rdn. 21). Insoweit kommt ein Ausschluss nur nach § 54 Abs. 3 – also nicht aus disziplinären Gründen – in Betracht. 6 Dass, sofern nicht anderes angeordnet ist, die Rechte aus §§ 17, 19, 20, 22, 37, 38, 68 bis 70 ruhen, bedeutet, dass der Gefangene ohne Beschäftigung, ohne Zeitung, Buch, Radio, Fernsehen, Gegenstände der Freizeitbeschäftigung, 23 Stunden in einer kahlen Zelle untergebracht ist und auf die dreimal am Tag erfolgende Ausgabe der normalen, ihm nach § 21 zustehenden Anstaltsverpflegung wartet. Er darf allerdings grundlegende religiöse Schriften bei sich haben (§ 53 Rdn. 15, 16) und – wenn nicht gleichzeitig eine Disziplinarmaßnahme nach § 103 Abs. 1 Nr. 8 ausgesprochen ist – Post empfangen, Briefe schreiben – wozu
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Vollzug der Disziplinarmaßnahmen. Aussetzung zur Bewährung
§ 104
ihm auch technisch Gelegenheit gegeben werden muss (KG NStZ 1984, 240) – sowie ggf. Besuch empfangen. Die gesetzliche Formulierung in Abs. 5 Satz 3 erscheint missverständlich. Obwohl das Recht aus § 20 ruht, ist der Gefangene ausreichend mit Anstaltskleidung ausgerüstet (es ruht nur das Recht aus § 20 Abs. 2). Fraglich ist, ob der Gefangene im Arrest rauchen darf. Das hängt davon ab, wie man das Ruhen des Rechts aus § 22 auslegt: Ob der Gefangene nur von dem in die Arrestzeit fallenden Einkauf ausgeschlossen bleibt oder die beim Einkauf zuvor erworbenen Gegenstände während des Arrests nicht nutzen darf. Es kann nur Letzteres gemeint sein. Es ist dem Gefangenen also regelmäßig verboten, die durch Einkauf erlangten Sachen einschl. Lebens- und Genussmittel in den Arrest mitzunehmen (ebenso Arloth 2008 Rdn. 6). Der Hinweis auf diese Konsequenzen des Arrestvollzuges ist nicht eine eigene anfechtbare Disziplinarmaßnahme (KG ZfStrVo 1985, 252). Erreicht den Gefangenen während der Arrestzeit ein Paket, so darf er dessen Inhalt erst nach Arrestverbüßung in Besitz nehmen. Toilettenartikel in angemessenem Umfang sind dem Arrestanten zu belassen. Das folgt aus § 56. Die durch den Vollzug von Arrest versäumte Arbeitszeit kann bei der Berechnung der Jahresfrist nach § 42 nicht berücksichtigt werden (s. § 42 Rdn. 7) und führt zu einer Unterbrechung der Zwei-Monatsfrist des § 43 Abs. 6 (hierzu § 43 Rdn. 20). Für diese Zeit kann der Gefangene aber zur Bezahlung der Haftkosten herangezogen werden (§ 50 Rdn. 5), allerdings nicht zu Lasten des Hausgeldes (§ 50 Abs. 2 Satz 5). Der Arrestvollzug mit seinen nachhaltigen Einschränkungen für den Betroffenen bleibt 7 nur für einen Zeitraum von wenigen Tagen vertretbar. Mindestens bei einer Woche überschreitender Arrestdauer sollten dem Gefangenen Zeitschriften und Bücher bzw. ein Radiogerät belassen werden. Es ist auch möglich und oft angebracht, die Fortsetzung von Ausbildungsmaßnahmen oder einzelnen Freizeitkursen während des Arrests zu erlauben.
III. Landesgesetze 1. Bayern
8 Art. 111 Abs. 1–3 BayStVollzG sind wortlautidentisch mit § 104 Abs. 1–3 StVollzG. Art. 111 Abs. 4 Satz 1 BayStVollzG ist, bis auf die Abfassung im Plural, wortlautgleich aus der bundesrechtlichen Regelung übernommen worden. Ebenso ist der Wortlaut des Abs. 4 Satz 2, abgesehen von der geänderten Verweisung auf Art. 32 Abs. 1 u. 2 BayStVollzG anstatt auf § 29 Abs. 1 u. 2 StVollzG sowie der geschlechtsspezifischen Differenzierung, dem Bundesgesetz entnommen. Abs. 5 Satz 1 der bayerischen Norm entspricht § 104 Abs. 5 Satz 1 StVollzG. Abs. 5 Satz 2 BayStVollzG ist, bis auf die Abfassung im Plural, ebenfalls wortlautgleich aus der bundesrechtlichen Regelung übernommen worden. Der Wortlaut des Abs. 5 Satz 3 entspricht, abgesehen von der geänderten Verweisung in das BayStVollzG und der Abfassung im Plural, dem Bundesgesetz. 2. Hamburg § 87 Abs. 1 und 2 HmbStVollzG entsprechen § 104 Abs. 1 und 2 StVollzG. In Abs. 3 der 9 landesrechtlichen Regelung wurde folgender Satz 2 angefügt: „Die Festsetzung des Überbrückungsgeldes nach § 47 Absatz 1 Satz 2 ist entsprechend anzupassen.“ In der Begründung heißt es dazu: „. . . wird in Absatz 3 Satz 2 klargestellt, dass bei einer Gutschrift von entzogenem Hausgeld auf dem Überbrückungsgeldkonto die Festsetzung des Überbrückungsgeldes nach § 47 Absatz 1 Satz 2 entsprechend anzupassen ist.“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 60). § 104 Abs. 4 StVollzG ist wegen der Streichung der Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt in § 86 HmbStVollzG entfallen. § 87
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§ 105
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Abs. 4 HmbStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural sowie die geänderten Verweisungen in Satz 3 dem bundesrechtlichen § 104 Abs. 5. 3. Niedersachsen
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§ 96 Abs. 1 u. 2 NJVollzG sind wortlautgleich mit § 104 Abs. 1 u. 2 StVollzG. § 104 Abs. 3 StVollzG ist in § 96 NJVollzG nicht übernommen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die in § 104 Abs. 3 StVollzG geregelte Verwendung des Hausgeldes bei Einschränkungen der Verfügungsbefugnis ist aus systematischen Gründen in die Entwurfsvorschrift des § 46 Abs. 1 Satz 2 eingestellt worden.“ Diese Norm wiederum erweitert allerdings die bundesrechtliche Regelung um den Zusatz „. . . auch soweit dadurch die nach Absatz 2 Satz 2 festgesetzte Höhe überschritten wird.“ Hierzu führt die Gesetzesbegründung aus: „[§ 46] Absatz 1 Satz 2 des Entwurfs entspricht § 104 Abs. 3 StVollzG.“ Der Entwurfsvorschrift § 46 Abs. 1 Satz 2 stellt nunmehr § 47 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG dar. § 96 Abs. 3 entspricht inhaltlich § 104 Abs. 4 StVollzG; allerdings verweist Satz 2 auf § 30 Abs. 3 NJVollzG, anstatt auf Bundesrecht. Abs. 4 entspricht § 104 Abs. 5 StVollzG, der bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung in Satz 2 sowie die Verweisung auf Landesrecht in Satz 3 der Landesgesetzgeber, wortlautgleich übernommen ist.
§ 105 Disziplinarbefugnis (1) Disziplinarmaßnahmen ordnet der Anstaltsleiter an. Bei einer Verfehlung auf dem Wege in eine andere Anstalt zum Zwecke der Verlegung ist der Leiter der Bestimmungsanstalt zuständig. (2) Die Aufsichtsbehörde entscheidet, wenn sich die Verfehlung des Gefangenen gegen den Anstaltsleiter richtet. (3) Disziplinarmaßnahmen, die gegen einen Gefangenen in einer anderen Vollzugsanstalt oder während einer Untersuchungshaft angeordnet worden sind, werden auf Ersuchen vollstreckt. § 104 Abs. 2 bleibt unberührt. VV Für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme ist der Leiter der Anstalt zuständig, der der Gefangene zur Zeit der Verfehlung angehört. Für die nachfolgenden Entscheidungen ist der Leiter der Anstalt zuständig, in der der Gefangene sich zu diesem Zeitpunkt aufhält. Schrifttum: s. bei § 102
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit des Anstaltsleiters . 2. Entscheidung der Aufsichtsbehörde 3. Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme in einer anderen Anstalt . .
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Rdn. III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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§ 105
I. Allgemeine Hinweise Die Disziplinarbefugnis ist dem Leiter der Justizvollzugsanstalt, dem Behördenleiter, 1 zugewiesen. Nach § 156 Abs. 3 darf der Anstaltsleiter diese Befugnis nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde delegieren. Das geschieht i. d. R. bei großen Anstalten, wo dann die Leiter der Abteilungen (Teilanstalts-Leiter) die Disziplinarbefugnis erhalten haben. Sachgemäßer wäre es, nur die schweren Eingriffe als echte Disziplinarmaßnahmen beim Anstaltsleiter zu belassen und in die kleineren Einheiten (z. B. Wohngruppen; § 7 Rdn. 12; § 143 Rdn. 3) die Regelung der alltäglichen Konflikte zu verlegen (vgl. auch Kerner ZfStrVo 1977, 74, 82). Die Auffassung, eine so schwere Disziplinarmaßnahme wie Arrest könne nur von einem Richter verhängt werden (Bemmann NJW 2000, 3116; vgl. auch AK-J. Walter 2006 § 103 Rdn. 14), die Anordnung durch den Anstaltsleiter sei sogar verfassungswidrig, überzeugt nicht. Gemessen an der Einzelhaft nach § 89 als Sicherungsmaßnahme stellt der Arrest keine den Vollzug der Freiheitsstrafe entscheidend verändernde Freiheitsentziehung dar (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 2; K/S-Schöch 2002 § 8 Rdn. 34; BVerfG NJW 1994, 1339).
II. Erläuterungen 1. Wegen der Bedeutung des weiteren Eingriffs in die Rechtsstellung des Gefangenen 2 soll der Anstaltsleiter die Disziplinarmaßnahmen anordnen. Diese Aufgabe kann er mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde gem. § 156 Abs. 3 übertragen. Das geschieht in großen Anstalten regelmäßig, so dass die Inhaber der Disziplinargewalt häufig Teilanstalts- oder Abteilungsleiter sind. Örtlich ist der Anstaltsleiter zuständig, in dessen Anstalt der Gefangene sich während des Verstoßes gegen seine Pflichten gerade befindet (VV Satz 1). Das ist nicht stets sachdienlich. In der Praxis machen Transportgefangene oft disziplinarrechtlich relevante Schwierigkeiten, die einige Tage in einer Anstalt auf den Weitertransport warten. In dieser Anstalt bleibt selten Zeit, die Disziplinarvorgänge aufzuklären, ehe der Gefangene die Einrichtung wieder verlässt. Mitunter werden zudem Gefangene, etwa nach einer Meuterei, sofort aus Sicherheitsgründen in eine andere Anstalt verlegt. Dann müsste durch die Bediensteten der bisherigen Anstalt in der „neuen“ Anstalt der Vorgang ermittelt, der beschuldigte Insasse gehört und vom Leiter der „alten“ Anstalt die Disziplinarmaßnahme in der „neuen“ Anstalt ausgesprochen werden. Auf dem Wege in eine andere Anstalt i. S. d. Abs. 1 Satz 2 bedeutet während des Transports (also etwa im Transportbus), nicht auch in der Einrichtung, in der der Gefangene im Verlaufe eines längeren Transports vorübergehend untergebracht ist. Das folgt aus den VV. Abs. 1 Satz 2 ist auf den Transport an sich zugeschnitten (Arloth 2008 Rdn. 2); nur für die dabei erfolgten Pflichtenverstöße ergibt sich die Disziplinarbefugnis des Leiters der Bestimmungsanstalt. 2. Wer als Vollzugsbediensteter durch einen Disziplinarverstoß selbst betroffen ist, darf 3 aufgrund seiner Befangenheit nicht selbst entscheiden. Dem trägt Abs. 2 Rechnung. Anstaltsleiter i.S. der Norm bedeutet Inhaber der Disziplinargewalt, also ggf. auch Teilanstalts- oder Abteilungsleiter. Auch wenn sich die Verfehlung des Gefangenen gegen sie richtet, muss die Aufsichtsbehörde (nicht etwa der Leiter der Gesamtanstalt) entscheiden. Es bleibt unzulässig, dass in einem solchen Fall der Inhaber der Disziplinargewalt seinen Vertreter im Amt mit dem Fall betraut. Auch wenn es sich zufällig ergibt, dass der Inhaber der Disziplinargewalt kurz nach der gegen ihn gerichteten Verfehlung seinen Urlaub antritt und deshalb sein Vertreter die Disziplinargewalt ausübt, darf dieser nicht entscheiden (C/MD 2008, Rdn. 1). Denn angesichts seiner dienstlichen Abhängigkeit von seinem Vorgesetzten muss er als befangen angesehen werden (Arloth 2008 Rdn. 3; KG NStZ 2000, 111 mit – zu Recht – krit. Anm. J. Walter 447). Alexander Böhm/Klaus Laubenthal
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Nicht befriedigend ist das von der Aufsichtsbehörde in Fällen von Abs. 2 zu betreibende Verfahren geregelt. Es bleibt offen, ob die Verfahrensvorschriften des § 106 entsprechend angewendet werden müssen. Da der Leiter der Aufsichtsbehörde nicht selbst entscheiden wird, stellt sich die Frage: Wer soll die Entscheidung dem Gefangenen eröffnen (§ 106 Abs. 3) Beachte § 106 Rdn. 7. Von der in Abs. 2 eröffneten Möglichkeit sollte also möglichst kein Gebrauch gemacht werden. Das ist auch unnötig. Bei schweren Verstößen empfiehlt sich die Einleitung eines Strafverfahrens. Abgesehen von dem Fall des Abs. 2 ist die Aufsichtsbehörde nicht zur Verhängung einer Disziplinarmaßnahme – etwa im Wege des Selbsteintritts (§ 24 Rdn. 21; § 97 Rdn. 5; Vor §§ 151 f Rdn. 2 f; § 153) – befugt (s. hierzu OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1979, 70, 71). Das verbietet die für die sachgerechte Durchführung des Vollzugs im Gesetz geregelte Zuständigkeit der sachnahen (unteren) Vollzugsbehörde (s. auch Rdn. 14 zu § 156). Soweit die Aufsichtsbehörde im Wege der Dienstaufsicht tätig wird, hebt sie die Maßnahme des Anstaltsleiters auf oder bestätigt sie, regt etwa eine Milderung an, ersetzt die Maßnahme aber nicht durch eine eigene.
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3. Die Vollstreckung einer anderwärts verhängten Disziplinarmaßnahme findet nur auf Ersuchen des jeweils zur Verhängung der Disziplinarmaßnahme Befugten statt. Es können also nicht Teile der Verhängung (etwa die Eröffnung der Disziplinarmaßnahme nach § 106 Abs. 3) einer anderen Anstalt zur Erledigung übertragen werden. Das Ersuchen wird bei gegen Untersuchungsgefangene verhängten Disziplinarmaßnahmen von dem Richter (vgl. zu dessen Zuständigkeit OLG Nürnberg ZfStrVo 1989, 316 = NStZ 1989, 246) auszugehen haben, der die Disziplinarmaßnahmen nach § 119 StPO beschlossen hat. Er muss ausdrücklich verlangen, dass diese Disziplinarmaßnahme jetzt in der Strafhaft vollstreckt wird. § 105 Abs. 3 erlaubt eine Übertragung der Disziplinarmaßnahme von einer Haftart in die andere. Allerdings bleibt die Vollstreckung einer – wegen eines in Strafhaft begangenen Verstoßes – noch im Strafvollzug verhängten Disziplinarmaßnahme in der anschließenden Untersuchungshaft unzulässig (KG NStZ 1982, 46). Wird die Freiheitsstrafe zur Durchführung von Untersuchungshaft unterbrochen und später fortgesetzt, so ist die weitere Vollstreckung einer vor Beginn der Untersuchungshaft verhängten Disziplinarmaßnahme vergleichbar mit dem Fall unzulässig, in dem der Gefangene entlassen wurde und alsbald – etwa durch Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung – zur weiteren Strafverbüßung sich wieder im Freiheitsstrafenvollzug befindet. Die Vollstreckung einer in Untersuchungshaft verhängten Disziplinarmaßnahme auf Ersuchen ist nur zulässig, wenn die Strafhaft unmittelbar der Untersuchungshaft folgt. Der nach Abs. 3 Satz 1 um Vollstreckung ersuchte Anstaltsleiter hat das Recht, die Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme zur Bewährung auszusetzen (Satz 2).
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Art. 112 Abs. 1 Satz 1 u. 2 BayStVollzG sind bis auf die geschlechtsspezifischen Differenzierungen weitgehend wortlautidentisch mit § 105 Abs. 1 Satz 1 u. 2 StVollzG. Abs. 1 der Norm wurde allerdings um Satz 3 ergänzt: „Ist im Fall einer Überstellung die Durchführung des Disziplinarverfahrens dort aus besonderen Gründen nicht möglich, liegt die Disziplinarbefugnis bei dem Leiter oder der Leiterin der Stammanstalt.“ In der Gesetzesbegründung (S. 70) heißt es dazu: „Ergänzt wurde die Regelung der Disziplinarbefugnis bei Überstellungen. Nach Absatz 1 Satz 2 ist für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen überstellte Gefangene grundsätzlich der Leiter oder die Leiterin der Bestimmungsanstalt zuständig. Ist die Durchführung des Disziplinarverfahrens aus besonderem Grund
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Verfahren
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dort nicht möglich (beispielsweise weil der Gefangene bereits rücküberstellt wurde oder dies unmittelbar bevorsteht), liegt die Disziplinarbefugnis beim Leiter oder der Leiterin der Stammanstalt. Im Falle einer Verlegung ist – wie bisher – immer der Leiter oder die Leiterin der Bestimmungsanstalt zuständig. In jedem Fall ist die Anstalt, in der ein Verstoß begangen wurde, verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Aufklärung und Beweissicherung zu treffen.“ Abs. 2 der bayerischen Norm ist wortlautgleich mit § 105 Abs. 2 StVollzG. Art. 112 Abs. 3 BayStVollzG entspricht, bis auf die Abfassung im Plural sowie der geänderten Verweisung auf das BayStVollzG, der bundesrechtlichen Regelung. 2. Hamburg § 88 Abs. 1 Satz 1 und 2 HmbStVollzG entsprechen inhaltlich § 105 Abs. 1 StVollzG. 6 Angefügt wurde folgender Satz 3: „Ist die Durchführung des Disziplinarverfahrens dort nicht möglich, liegt die Disziplinarbefugnis bei der Leitung der Stammanstalt.“ § 88 Abs. 2 und 3 korrespondieren, abgesehen von redaktionellen Änderungen, mit § 105 Abs. 2 und 3 StVollzG. 3. Niedersachsen § 97 Abs. 1–3 NJVollzG entsprechen – bis auf die geschlechtsspezifischen Differenzie- 7 rungen in Abs. 1 u. 2 sowie die geänderte Verweisung auf Landesrecht in Abs. 3 Satz 2 – weitgehend § 105 Abs. 1–3 StVollzG. Allerdings weist Abs. 2 Satz 1 die Zuständigkeit dem Fachministerium zu. Dies ergibt sich aus dessen Eigenschaft als Aufsichtsbehörde, § 184 Abs. 1 NJVollzG.
§ 106 Verfahren (1) Der Sachverhalt ist zu klären. Der Gefangene wird gehört. Die Erhebungen werden in einer Niederschrift festgelegt; die Einlassung des Gefangenen wird vermerkt. (2) Bei schweren Verstößen soll der Anstaltsleiter sich vor der Entscheidung in einer Konferenz mit Personen besprechen, die bei der Behandlung des Gefangenen mitwirken. Vor der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Gefangenen, der sich in ärztlicher Behandlung befindet, oder gegen eine Schwangere oder eine stillende Mutter ist der Anstaltsarzt zu hören. (3) Die Entscheidung wird dem Gefangenen vom Anstaltsleiter mündlich eröffnet und mit einer kurzen Begründung schriftlich abgefasst. VV 1 (1) Der Gefangene wird darüber unterrichtet, welche Verfehlung ihm zur Last gelegt wird. (2) Es sind sowohl die belastenden als auch die entlastenden Umstände zu ermitteln. Die Ermittlungen erstrecken sich erforderlichenfalls auch auf die Frage der Verantwortlichkeit des Gefangenen; insoweit ist der Anstaltsarzt zu hören. (3) Vor der Entscheidung über eine Disziplinarmaßnahme erhält der Gefangene Gelegenheit, sich zu dem Ergebnis der Ermittlungen zu äußern.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
2 Mehrere Verfehlungen eines Gefangenen, die gleichzeitig zu beurteilen sind, werden durch eine Entscheidung geahndet. 3 Der Anstaltsleiter kann mit der Durchführung der Ermittlungen und der Anhörung des Gefangenen einen anderen Bediensteten beauftragen, jedoch nicht den, gegen den sich die Verfehlung richtet. Schrifttum: s. bei § 102
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Aufklärung des Sachverhalts 2. Ermittlung durch besondere Bedienstete . . . . . . . . . 3. Ablauf des Verfahrens . . . . 4. Konferenzbesprechung bei schweren Verstößen . . . . .
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Rdn. 5. Anhörung des Arztes . . . . . 6. Eröffnung der Entscheidung . 7. Keine vorläufigen Maßnahmen III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
§ 106 und die VV regeln das bei der Ermittlung von Verstößen, der Entscheidungsfindung und der Entscheidung selbst zu beachtende Verfahren. Es ist sichergestellt, dass der Gefangene das rechtliche Gehör erhält. Der strafähnliche Charakter der Disziplinarmaßnahmen erfordert – ungeachtet der Notwendigkeit einer zeitnahen Ahndung des Pflichtenverstoßes zur Erzielung eines Lernerfolges – die sorgfältige Beachtung der Verfahrensvorschriften.
II. Erläuterungen 2
1. Der Sachverhalt ist zu klären (Abs. 1 Satz 1). Das ist zwar selbstverständlich, macht aber noch einmal deutlich, dass Unbewiesenes, Vermutungen und Verdacht nicht Grundlagen einer Disziplinarmaßnahme sein dürfen (§ 102 Rdn. 16). Auch die Hintergründe des Vorfalls sind zu ermitteln, einschließlich der den beschuldigten Gefangenen entlastenden Umstände und ggf. seine Verantwortlichkeit (VV Nr. 1 Abs. 2). Wegen der Problematik der Sachverhaltsklärung bei Verlegung. § 105 Rdn. 2. Ob ein Vorfall zu einem disziplinarischen Verfahren führt, entscheidet der Anstaltsleiter. Der Vorfall sollte deshalb nicht schon auf einer Art Disziplinarblatt (gelber Zettel), sondern „neutral“ aufgeschrieben werden (J. Walter 1988, 195).
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2. Im Regelfall ermittelt der Anstaltsleiter nicht selbst. Anderenfalls erschiene er dem Gefangenen leicht als voreingenommen. Meistens gehören die Ermittlungen von Disziplinarverstößen zum festen Tätigkeitsbereich bestimmter Bediensteter. Sie dürfen im Einzelfall nicht selbst durch den Verstoß betroffen sein (VV Nr. 3).
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3. Dem Gefangenen wird der Vorwurf bekannt gemacht (VV Nr. 1 Abs. 1). Hierbei muss er darauf hingewiesen werden, dass es ihm freisteht, ob er sich zu dem Vorwurf
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Verfahren
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äußern will (Heghmanns 1998, 234; BGH StV 1997, 337 = NStZ 1997, 614 mit zust. Anm. Müller-Dietz für den Fall, dass der Vorwurf zugleich ein mit Strafe bedrohtes Verhalten betrifft; in Bayern und in Niedersachsen ist dies ausdrücklich gesetzlich normiert, s. Rdn. 9). Diese Belehrung sollte aktenkundig gemacht werden. Wegen des strafähnlichen Charakters der Disziplinarmaßnahmen darf dem Gefangenen, der dies ausdrücklich wünscht, der Beistand seines Verteidigers nicht versagt werden (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 29, 30; AKJ. Walter 2006 Rdn. 8; Arloth 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 736; weiter gehend – der Gefangene ist auf diese Möglichkeit ausdrücklich hinzuweisen – Heghmanns 1998, 234). Der Gefangene wird zu dem Vorwurf vernommen und seine Einlassung schriftlich niedergelegt (Abs. 1 Satz 3). Nach Abschluss der Ermittlungen erhält der Gefangene Gelegenheit, sich zu dem Ergebnis zu äußern. Das geschieht zweckmäßigerweise im Beisein des Inhabers der Disziplinarbefugnis, der vor seiner Entscheidung einen persönlichen Eindruck gewinnen sollte (AK-J. Walter 2006 Rdn. 9). Er hat eine Art letztes Wort (VV Nr. 1 Abs. 3). 4. Bei schweren Verstößen soll sich der Anstaltsleiter mit Bediensteten, die bei der Be- 5 handlung des Gefangenen mitwirken, in einer Konferenz besprechen. Die Einholung schriftlicher Stellungnahmen im Umlauf oder fernmündlicher Auskünfte wird der Vorgabe „in einer Konferenz . . . besprechen“ gem. Abs. 2 Satz 1 nicht gerecht. Dem Anstaltsleiter steht es frei, andere als schwere Verstöße im Konferenzverfahren zu behandeln. Er darf aber auch bei schweren Verstößen ausnahmsweise, z. B., wenn Eile geboten ist, entscheiden, ohne sich beraten zu lassen. Die Entscheidung über die Disziplinarfolge fällt der Anstaltsleiter in eigener Verantwortung. Deshalb ist es nicht erforderlich, dem Gefangenen mitzuteilen, welche Bediensteten an einer solchen Konferenz mitgewirkt haben (OLG Hamm BlStV 1/1994, 6). Die Konferenzmitglieder besitzen nur beratende Funktion. Die Konferenzmitglieder sind Bedienstete, die an der Behandlung des Gefangenen mitwirken, also der zuständige Sozialarbeiter, ein in der Abteilung oder Wohngruppe, in der sich der Gefangene befindet, tätiger Beamter des allgemeinen Vollzugsdienstes, ggf. der zuständige Werkbeamte. 5. Die Anhörung des Arztes in den Fällen des Abs. 2 Satz 2 vor Anordnung der Diszi- 6 plinarmaßnahmen soll den Kenntnisstand des Anstaltsleiters über den Gesundheitszustand des Gefangenen erweitern sowie vor allem verhindern, dass eine Disziplinarmaßnahme verhängt wird, die aus ärztlichen Gründen nicht vollstreckt werden dürfte. Es handelt sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift. Die Verletzung von Abs. 2 Satz 2 – die Norm dient dem Schutz der Gesundheit des Inhaftierten – führt zur Aufhebung der angeordneten Disziplinarmaßnahme (C/MD 2008 Rdn. 5; Laubenthal 2008 Rdn. 738; OLG Hamburg ZfStrVo 2004, 305; OLG Karslruhe NStZ-RR 2006, 190; a. A. Arloth 2008 Rdn. 3). Wegen der Besonderheiten beim Arrest § 107. 6. Der Anstaltsleiter eröffnet dem Gefangenen die Entscheidung mündlich (Abs. 3). 7 Dem Sinn der Vorschrift entspricht es, dass der im konkreten Fall gem. § 105 mit der Disziplinarbefugnis ausgestattete Anstaltsleiter die Entscheidung eröffnet. Leistet der Gefangene der Aufforderung, sich zum Anstaltsleiter zu begeben bzw. sich zu diesem vorführen zu lassen, keine Folge, begeht er jedoch keine schuldhafte Pflichtverletzung, die wiederum disziplinarisch geahndet werden könnte (AK-J. Walter 2006 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 740; OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 152; NStZ-RR 2004, 157; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4). Die zwangsweise Vorführung des Gefangenen (nach OLG Hamm ZfStrVo 1993, 312 zulässig) wird i. d. R. nicht verhältnismäßig sein. Der Anstaltsleiter kann schriftlich entscheiden und die Begründung dann durch einen nachgeordneten Vollzugsbeamten eröffnen lassen, wenn der Betroffene die Eröffnung durch den Disziplinarbefugten verweigert Alexander Böhm/Klaus Laubenthal
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§ 106
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
und eine Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung nicht angezeigt erscheint (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 4). Entscheidet die Aufsichtsbehörde im Fall des § 105 Abs. 2, dann muss der dort zur Entscheidung befugte Sachbearbeiter selbst den Gefangenen zum Ermittlungsergebnis anhören, die Entscheidung fällen und sie dem Gefangenen mündlich eröffnen. Für eine Disziplinarentscheidung sieht das StVollzG keine förmliche Rechtsbehelfsbelehrung vor. Es empfiehlt sich aber, im Anschluss an die Eröffnung dem Gefangenen eine Rechtsmittelbelehrung zu erteilen oder doch auf die dem Gefangenen zur Verfügung stehenden entsprechenden Vorschriften hinzuweisen. Das ist auch im Hinblick auf die umgehende Vollstreckung (§ 104 Abs. 1) erforderlich, denn der Gefangene muss wissen, dass er den Antrag nach § 114 Abs. 2 umgehend stellen muss, wenn er die Vollstreckung vermeiden will (vgl. auch AK-J. Walter 2006 Rdn. 13; § 104 Rdn. 2). Die Entscheidung wird schriftlich festgehalten und mit einer kurzen Begründung zu den Akten genommen (Abs. 3). Die Begründung muss – ohne Bezugnahme auf Vernehmungsniederschriften – aus sich heraus verständlich sein und einer rechtlichen Subsumtion zugängliche Feststellungen enthalten (LG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 85; NStZ 1982, 323 F; OLG Hamm NStZ 1986, 382). Die Feststellung, der Gefangene habe „keine messbare Arbeitsleistung erbracht“, genügt z. B. nicht (LG Hamburg NStZ 1981, 249 F). Die Frist nach § 112 Abs. 1 wird nur durch Aushändigung des schriftlichen Bescheides in Lauf gesetzt (§ 112 Rdn. 2). Der Gefangene hat einen Anspruch auf Aushändigung des Bescheides. Die Verhängung der Disziplinarmaßnahme ist aber mit der mündlichen Eröffnung bereits gültig erfolgt (OLG Koblenz 2.9.1980 – 2 Vollz (Ws) 32/80).
8
7. Während der disziplinarischen Ermittlungen gibt es keine vorläufigen Maßnahmen (etwa eine der Untersuchungshaft entsprechende Absonderung). So ist die Ablösung eines Gefangenen von der Arbeit aufgrund des Verdachts eines Pflichtenverstoßes als Maßnahme im Rahmen des Disziplinarverfahrens unzulässig (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 58). Allerdings können Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, soweit deren Voraussetzungen vorliegen.
III. Landesgesetze 1. Bayern
9
Art. 113 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG entspricht weitgehend § 106 Abs. 1 StVollzG. Allerdings lautet Satz 2 der bayerischen Regelung: „Vor der Anhörung werden die Gefangenen darüber unterrichtet, welche Verfehlung ihnen zur Last gelegt wird und dass es ihnen freisteht, sich zur Sache zu äußern.“ In der Gesetzesbegründung (S. 70) heißt es dazu: „Neu ist die gesetzliche Klarstellung in Satz 2, dass die Gefangenen im Rahmen der Anhörung darüber zu unterrichten sind, welche Verfehlung ihnen zur Last gelegt wird und dass es ihnen freisteht, sich zur Sache zu äußern. Eine solche Belehrung war de lege lata nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls dann erforderlich, wenn der Vorwurf ein strafrechtlich relevantes Verhalten betraf (BGH, NStZ 1997, S. 614). Da es sich dabei um ein elementares Recht des Beschuldigten handelt, muss dies im strafähnlich ausgestalteten Disziplinarverfahren ebenfalls gelten.“ Abs. 1 Satz 3 der bayerischen Bestimmung lautet: „Die Erhebungen, insbesondere die Einlassungen der Gefangenen, werden schriftlich festgehalten.“ Eine inhaltliche Änderung der bundesrechtlichen Regelung ging mit der Neuformulierung nicht einher. Abs. 2 entspricht § 106 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 StVollzG wurde indes nicht übernommen. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Nicht übernommen wurde die
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Verfahren
§ 106
bloße Ordnungsvorschrift des § 106 Abs. 2 S. 2 StVollzG, wonach vor der Anhörung einer Disziplinarmaßnahme gegen Gefangene, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, oder gegen Schwangere oder stillende Mütter der Anstaltsarzt oder die Anstaltsärztin zu hören ist, da es sich dabei häufig um einen bloßen Formalismus handelt. Vor Vollziehung des Arrestes ist der Arzt oder die Ärztin nach Art. 114 Abs. 1 Satz 1 zu hören. Erscheint eine ärztliche Anhörung schon vor der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme sinnvoll, z. B. bei schwerwiegenden Erkrankungen, erfolgt sie im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung.“ Abs. 3 der Norm ist wortlautidentisch mit § 106 Abs. 3 StVollzG. 2. Hamburg § 89 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Der Sachverhalt ist umfassend zu klären. Die Gefange- 10 nen werden vor ihrer Anhörung über den Inhalt der ihnen zur Last gelegten Pflichtwidrigkeit und über ihr Recht, sich nicht zur Sache zu äußern, belehrt. Die Erhebungen, insbesondere die Ergebnisse der Anhörungen der Gefangenen und anderer Befragter, werden schriftlich festgehalten.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift . . . konkretisiert bzw. präzisiert das Disziplinarverfahren hinsichtlich notwendiger Sorgfalts- und Aufklärungspflichten . . .“. § 89 Abs. 2 und 3 HmbStVollzG korrespondieren mit § 106 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 StVollzG; Abs. 2 Satz 2 der bundesrechtlichen Regelung wurde nicht übernommen. (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 48). 3. Niedersachsen § 98 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG enthält den gleichen Wortlaut wie § 106 Abs. 1 Satz 1 11 StVollzG. In Abs. 1 Satz 2 ist lediglich das Wort „gehört“ durch „angehört“ ersetzt, sowie eine geschlechtsspezifische Differenzierung getroffen. Neu eingefügt sind Abs. 1 Satz 3 u. 4: „Vor der Anhörung wird ihm oder ihr eröffnet, welche Verfehlung ihm oder ihr zur Last gelegt wird. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass es ihr oder ihm freisteht, sich zur Sache zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen.“ In der Gesetzesbegründung heißt es diesbezüglich: „Hinzugefügt ist in Absatz 1 Satz 1 die gesetzliche Klarstellung, dass den Gefangenen vor der Anhörung zu eröffnen ist, welche Verfehlung ihnen zur Last gelegt wird, und dass sie über ihre Aussagefreiheit zu belehren sind. Der BGH hält eine solche Belehrung jedenfalls dann erforderlich, wenn der disziplinarrechtliche Vorwurf auch ein mit Strafe bedrohtes Verhalten betrifft . . . Da es sich bei den Disziplinarmaßnahmen um strafähnliche Sanktionen handelt . . ., muss das im Strafverfahren geltende Belehrungsgebot auch in Disziplinarverfahren gegen Gefangene Anwendung finden.“ Abs. 1 Satz 3 der landesrechtlichen Norm lautet: „Die Einlassung der oder des Gefangenen und Beweiserhebungen werden schriftlich festgehalten.“ Eine inhaltliche Modifizierung ging mit der Änderung des Wortlauts gegenüber dem StVollzG jedoch nicht einher. Abs. 2 ist, abgesehen von der geschlechtsspezifischen Differenzierung in Satz 2, wortlautidentisch mit § 106 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 Satz 1 entspricht, bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung, seinem Wortlaut nach § 106 Abs. 3 StVollzG. Keine Entsprechung im Bundesgesetz findet § 98 Abs. 3 Satz 2 NJVollzG. Die Bestimmung lautet: „Die schriftliche Begründung wird der oder dem Gefangenen auf Verlangen ausgehändigt.“
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§ 107
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 107 Mitwirkung des Arztes (1) Bevor der Arrest vollzogen wird, ist der Arzt zu hören. Während des Arrestes steht der Gefangene unter ärztlicher Aufsicht. (2) Der Vollzug des Arrestes unterbleibt oder wird unterbrochen, wenn die Gesundheit des Gefangenen gefährdet würde. VV Das Ergebnis der ärztlichen Beurteilungen ist aktenkundig zu machen. Schrifttum: s. bei § 102
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Bestimmung geht von einer potenziellen Gesundheitsgefährdung durch Vollzug von Arrest aus. Die Norm regelt in Ergänzung zu § 104 Abs. 5 den Arrestvollzug.
II. Erläuterungen 2
Da der Arrest in den meisten Fällen die körperliche Gesundheit des Gefangenen kaum berührt, hat die ärztliche Anhörung und Aufsicht vor allem auch den Zweck, die seelischen Folgen einer mit Untätigkeit und Fehlen jeder Ablenkung verbundenen Isolierung zu bedenken und im Blick zu behalten. Der betroffene Inhaftierte ist vor der Arrestvollstreckung vom Anstaltsarzt auf seine Arresttauglichkeit hin zu untersuchen. Gem. Abs. 1 obliegt diesem während des Arrestvollzugs die Pflicht zur ärztlichen Überwachung (ggf. durch täglichen Besuch). Hat die Arresttauglichkeitsuntersuchung das Ergebnis, dass eine Gesundheitsgefahr vorliegt, muss der Arrestvollzug nach Abs. 2 unterbleiben. Gleiches gilt nach dieser Bestimmung, wenn die laufende ärztliche Aufsicht eine solche Gefahr feststellt. Dann wird der Arrestvollzug unterbrochen. Eine entsprechende Anwendung der aus § 107 Abs. 1 folgenden Verpflichtung auf eine Disziplinarmaßnahme nach § 103 Abs. 1 Nr. 5 (Ausschluss von gemeinsamer Freizeit) ist nicht angezeigt (LG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 84; a. A. AK-J. Walter 2006 Rdn. 2).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 114 BayStVollzG ist, bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung in Abs. 1 Satz 1, die Bezeichnung des Arztes als Anstaltsarzt sowie die Abfassung des Abs. 2 im Plural, wortlautidentisch mit der bundesrechtlichen Regelung. 2. Hamburg
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§ 90 Abs. 1 HmbStVollzG lautet: „Vor dem Vollzug von Disziplinarmaßnahmen nach § 86 Absatz 1 Nummern 2 bis 7, die gegen Gefangene in ärztlicher Behandlung oder gegen Schwangere oder stillende Mütter angeordnet wurden, ist die Ärztin oder der Arzt zu hören. Während des Arrestes stehen die Gefangenen unter ärztlicher Aufsicht.“
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Vorbemerkungen
Vor § 108
Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Die Vorschrift fasst die Regelungen in § 106 Absatz 2 Satz 2 StVollzG und in § 107 StVollzG zusammen und passt sie redaktionell an.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 48). In § 90 Abs. 2 HmbStVollzG sind die Worte „des Arrestes“ durch „der Disziplinarmaßnahme“ ersetzt, so dass die landesrechtliche Regelung das Unterbleiben oder Unterbrechen des Vollzugs auf sämtliche Disziplinarmaßnahmen erstreckt. 3. Niedersachsen § 99 NJVollzG entspricht – bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung in Abs. 1 5 Satz 1, Abs. 2 sowie die Bezeichnung des Arztes als Anstaltsarzt – dem Wortlaut von § 107 StVollzG.
VIERZEHNTER TITEL
Rechtsbehelfe Vorbemerkungen Schrifttum: Baier Grundzüge des gerichtlichen Verfahrens in Strafvollzugssachen, in: JA 2001, 582 ff; Beschorner Die Außenwirkung innerdienstlicher Maßnahmen im Sozialrecht, in: NVwZ 1986, 361 ff; Böhm, R. Rechte (Rechtsbehelfe) und Pflichten, in: Schwind/Blau 1. Aufl. 1976, 265 ff; Diemer/ Schoreit/Sonnen Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl., Heidelberg 2008; Diepenbruck Rechtsmittel im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1982, 131 ff; Dörr Rechtsschutz gegen vollzogene Durchsuchungen und Beschlagnahme im Strafermittlungsverfahren, in: NJW 1984, 2258 ff; Doller Zwölf Jahre Strafvollstreckungskammer, in: DRiZ 1987, 264 ff; Dopslaff Abschied von den Entscheidungsfreiräumen bei Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielraum im Strafvollzugsgesetz, in: ZStW 100 (1988), 567 ff; Ebnet Rechtsprobleme der Verwendung von Telefax, in: NJW 1992, 2985 ff; Feest Rechtsberatung für Gefangene, in: Strafvollzug in den 90er Jahren, Festgabe für Karl Peter Rotthaus, Pfaffenweiler 1995, 151 ff; Franke Vollzugspraxis und Rechtsprechung in Strafvollzugssachen, in: ZfStrVo 1978, 187 ff; Frehsee Neuere Tendenzen in der aktuellen Kommentar- und Lehrbuchliteratur zum Strafvollzug, in: NStZ 1993, 165 ff; Frellesen Konkretisierung des Strafvollzugsgesetzes durch sachfremde Verwaltungsvorschriften, in: NJW 1977, 2050 ff; Frielinghaus Die Verfassungsbeschwerde, in: Schwind/ Blau 1. Aufl. 1976, 271 ff; Ganter Die Menschenrechtsbeschwerde in Strafvollzugssachen, in: Schwind/ Blau 1. Aufl. 1976, 279 ff; Gräfenstein Menschenrechtsschutz und Strafvollzug in: ZfStrVo 2003, 10 ff; Grunewald/Römermann Rechtsdienstleistungsgesetz, Köln 2008; Haas Anfechtbarkeit einstweiliger Anordnungen im Strafvollstreckungsrecht, in: NStZ 1986, 161 ff; Helmken Vornahmeantrag oder Feststellungsantrag?, in: ZfStrVo 1984, 270 ff; Hennek Form und Fristfragen beim Telefax, in: NJW 1998, 2194 ff; Hötter Verteidiger – Funktion im Sinne des Strafvollzugsgesetzes, in: ZfStrVo 2001, 26 ff; Homann Zur Richterablehnung in Strafvollzugssachen, in: ZfStrVo 1989, 81 ff; Honecker Zur aufschiebenden Wirkung der Rechtsbeschwerde der Vollzugsbehörde gegen einen den Strafgefangenen begünstigenden Verpflichtungsbeschluss, in: ZfStrVo 2005, 101 ff; Justen Unbestimmte Rechtsbegriffe mit „Beurteilungsspielraum“ im Strafvollzugsgesetz, Mainz 1995; Kamann Die Rückkehr des humanen Strafvollzugs? Gedanken zur neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf diesem Gebiet, in: StV 1994, 459 ff; Kösling Die Bedeutung verwaltungsprozessualer Normen und Grundsätze für das gerichtliche Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz, Pfaffenweiler 1991; Konzak Analogie im Verwaltungsrecht, in: NVwZ 1997, 82 ff; Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., München 2008; Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl., München 2007; Kramer Rechtlos in Bayern, in: StV 2004, 288–290; Kröpil Mißbräuchliche Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 2000, 686 ff; Laubenthal Schutz der Gefangenenrechte auf europäischer Ebene, in: FS 600 Jahre
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Vorbemerkungen
Vor § 108
Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Die Vorschrift fasst die Regelungen in § 106 Absatz 2 Satz 2 StVollzG und in § 107 StVollzG zusammen und passt sie redaktionell an.“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 48). In § 90 Abs. 2 HmbStVollzG sind die Worte „des Arrestes“ durch „der Disziplinarmaßnahme“ ersetzt, so dass die landesrechtliche Regelung das Unterbleiben oder Unterbrechen des Vollzugs auf sämtliche Disziplinarmaßnahmen erstreckt. 3. Niedersachsen § 99 NJVollzG entspricht – bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung in Abs. 1 5 Satz 1, Abs. 2 sowie die Bezeichnung des Arztes als Anstaltsarzt – dem Wortlaut von § 107 StVollzG.
VIERZEHNTER TITEL
Rechtsbehelfe Vorbemerkungen Schrifttum: Baier Grundzüge des gerichtlichen Verfahrens in Strafvollzugssachen, in: JA 2001, 582 ff; Beschorner Die Außenwirkung innerdienstlicher Maßnahmen im Sozialrecht, in: NVwZ 1986, 361 ff; Böhm, R. Rechte (Rechtsbehelfe) und Pflichten, in: Schwind/Blau 1. Aufl. 1976, 265 ff; Diemer/ Schoreit/Sonnen Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl., Heidelberg 2008; Diepenbruck Rechtsmittel im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1982, 131 ff; Dörr Rechtsschutz gegen vollzogene Durchsuchungen und Beschlagnahme im Strafermittlungsverfahren, in: NJW 1984, 2258 ff; Doller Zwölf Jahre Strafvollstreckungskammer, in: DRiZ 1987, 264 ff; Dopslaff Abschied von den Entscheidungsfreiräumen bei Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielraum im Strafvollzugsgesetz, in: ZStW 100 (1988), 567 ff; Ebnet Rechtsprobleme der Verwendung von Telefax, in: NJW 1992, 2985 ff; Feest Rechtsberatung für Gefangene, in: Strafvollzug in den 90er Jahren, Festgabe für Karl Peter Rotthaus, Pfaffenweiler 1995, 151 ff; Franke Vollzugspraxis und Rechtsprechung in Strafvollzugssachen, in: ZfStrVo 1978, 187 ff; Frehsee Neuere Tendenzen in der aktuellen Kommentar- und Lehrbuchliteratur zum Strafvollzug, in: NStZ 1993, 165 ff; Frellesen Konkretisierung des Strafvollzugsgesetzes durch sachfremde Verwaltungsvorschriften, in: NJW 1977, 2050 ff; Frielinghaus Die Verfassungsbeschwerde, in: Schwind/ Blau 1. Aufl. 1976, 271 ff; Ganter Die Menschenrechtsbeschwerde in Strafvollzugssachen, in: Schwind/ Blau 1. Aufl. 1976, 279 ff; Gräfenstein Menschenrechtsschutz und Strafvollzug in: ZfStrVo 2003, 10 ff; Grunewald/Römermann Rechtsdienstleistungsgesetz, Köln 2008; Haas Anfechtbarkeit einstweiliger Anordnungen im Strafvollstreckungsrecht, in: NStZ 1986, 161 ff; Helmken Vornahmeantrag oder Feststellungsantrag?, in: ZfStrVo 1984, 270 ff; Hennek Form und Fristfragen beim Telefax, in: NJW 1998, 2194 ff; Hötter Verteidiger – Funktion im Sinne des Strafvollzugsgesetzes, in: ZfStrVo 2001, 26 ff; Homann Zur Richterablehnung in Strafvollzugssachen, in: ZfStrVo 1989, 81 ff; Honecker Zur aufschiebenden Wirkung der Rechtsbeschwerde der Vollzugsbehörde gegen einen den Strafgefangenen begünstigenden Verpflichtungsbeschluss, in: ZfStrVo 2005, 101 ff; Justen Unbestimmte Rechtsbegriffe mit „Beurteilungsspielraum“ im Strafvollzugsgesetz, Mainz 1995; Kamann Die Rückkehr des humanen Strafvollzugs? Gedanken zur neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf diesem Gebiet, in: StV 1994, 459 ff; Kösling Die Bedeutung verwaltungsprozessualer Normen und Grundsätze für das gerichtliche Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz, Pfaffenweiler 1991; Konzak Analogie im Verwaltungsrecht, in: NVwZ 1997, 82 ff; Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., München 2008; Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl., München 2007; Kramer Rechtlos in Bayern, in: StV 2004, 288–290; Kröpil Mißbräuchliche Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 2000, 686 ff; Laubenthal Schutz der Gefangenenrechte auf europäischer Ebene, in: FS 600 Jahre
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Vor § 108
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Würzburger Juristenfakultät, Berlin 2002, 169 ff; ders. 30 Jahre Vollzugszuständigkeit der Strafvollstreckungskammern, in: FS für Reinhard Böttcher, Berlin 2007, 325 ff; Lechner/Zuck Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Aufl., München 2006; Lübbe-Wolff/Lindemann Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Straf- und Untersuchungshaftrecht, in: NStZ 2007, 450 ff; Meyer-Ladewig Ständiger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, in: NJW 1998, 512 ff; Müller Begründung als Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gem. § 109 StVollzG, in: ZfStrVo 1993, 211 ff; Müller Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, in: NJW 1998, 497 ff; Müller-Dietz Die Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern zur Rechtsgültigkeit der VVStVollzG, in: NStZ 1981, 409 ff; ders. Die Strafvollstreckungskammer als besonderes Verwaltungsgericht, in: 150 Jahre Landgericht Saarbrücken, Köln 1985, 335 ff; ders. Grundfragen des heutigen Strafvollzugs, in: NStZ 1990, 305; Neubacher Der internationale Schutz von Menschenrechten Inhaftierter durch die Vereinten Nationen und den Europarat, in: ZfStrVo 1999, 210 ff; ders. Eine bislang kaum beachtete Perspektive: Die Auslegung des Strafvollzugsgesetzes im Lichte der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen, in: ZfStrVo 2001, 212 ff; Piltz Petitionen in Strafvollzugssachen, in: Schwind/Blau 1. Aufl. 1976, 283 ff; Rotthaus Die Rechtsberatung der Gefangenen im Justizvollzug, in: NStZ 1990, 164 ff; ders. Ein Ombudsmann für das deutsche Gefängniswesen, in: BewHi 2008, 373 ff; Rühl Der Umfang der Begründungspflicht von Petitionsbescheiden, in: DVBl. 1993, 14 ff; Rüping Verfassungs- und Verfahrensrecht im Grundsatz des rechtlichen Gehörs, in: NVwZ 1985, 304 ff; Schneider Tempus fugit. Trendwende in der Rechtsprechung zu den unbestimmten Rechtsbegriffen?, in: ZfStrVo 1999, 140 ff; Schoreit/Dehn Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe, 8. Aufl, Heidelberg 2004; Schuler Rechte (Rechtsbehelfe) und Pflichten, in: Schwind/Blau 1988, 255 ff; Schrader Wiedereinsetzung und Rechtsmittelbelehrung, in: NStZ 1987, 447 ff; Seebode Einsicht in Personalakten Strafgefangener, in: NJW 1997, 1754 ff; Sieckmann Beurteilungsspielräume und richterliche Kontrollkompetenzen, in: DVBl. 1997, 101 ff; Smeddinck Der unbestimmte Rechtsbegriff – strikte Bindung oder Tatbestandsermessen, in: DÖV 1998, 370 ff; Treptow Zur Tätigkeit der Strafvollstreckungskammer in Vollzugssachen, in: NJW 1977, 1037 ff; ders. Gerichtliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen und unbestimmten Rechtsbegriffen im Strafvollzugsrecht, in: NJW 1978, 2227 ff; ders. Gerichtliche Kontrolle der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe seitens der Vollzugsorgane – Versuch einer Systematik, in: ZfStrVo 1980, 67 ff; Ullenbruch Vollzugsbehörde contra Strafvollstreckungskammer, in: NStZ 1993, 517 ff; Voigtel Zum Freibeweis bei Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer. Eine Untersuchung zu ausgewählten Fragen des Beweisrechts im gerichtlichen Verfahren in Strafvollstreckungsund Strafvollzugssachen, Frankfurt 1998; Volckart/Pollähne/Woynar Verteidigung in Strafvollstreckung und Strafvollzug, 4. Aufl., Heidelberg 2008; Wegner-Brandt Totale Institution und Rechtsschutz, in: ZfStrVo 1992, 153 ff; Wingenfeld Die Verrechtlichung des Strafvollzugs in ihren Auswirkungen auf die judikative Entscheidungspraxis, Aachen 1999; Wolf/Jabel Strafvollstreckungsordnung und Grundrechtsschutz, in: NStZ 1994, 63 ff.
Übersicht Rdn. 1. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . 2. Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . .
1
1 2
Rdn. 3. Petitionsrecht (Art. 17 GG) . . . . . . . 4. Beratungshilfegesetz . . . . . . . . . .
3 4
1. Der Vierzehnte Titel des StVollzG behandelt die Möglichkeit einer Überprüfung der Tätigkeit von Vollzugsbehörden auf ihre Übereinstimmung mit den maßgeblichen Vorschriften sowie den programmierten vollzuglichen Aufgabenstellungen und Gestaltungsprinzipien, gleichgültig, ob die Vorgänge bereits abgeschlossen sind oder nicht. Dadurch sollen das objektive Recht, das öffentliche Interesse, wie auch die rechtserheblichen Interessen der Betroffenen gewahrt werden (Müller-Dietz 1985). Die Kontrolle der Vollzugsbehörde erfolgt einmal als Selbstkontrolle, d. h. die Überprüfung von Vollzugsmaßnahmen durch die Verwaltung selbst; dies kann durch die erlassende oder die ihr instanzlich übergeordnete Behörde erfolgen. Sie ist verbunden mit der Befugnis, aufhebend oder ändernd einzu-
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Vorbemerkungen
Vor § 108
greifen. Im Gegensatz hierzu steht die Fremdkontrolle, d. h. die gerichtliche Überprüfung von Vollzugsmaßnahmen (Vollzugsverwaltungsakten). Zum Begehren auf Vornahme von Rechtsprechungsakten § 114 Rdn. 8. Zum Rechtsschutz Gefangener bei Schuler 1988, 268; Arloth 2008, Vorbemerkung zu § 108; Baier 2001, 582 ff; Laubenthal 2008 Rdn. 749 ff; Litwinski/Bublies 1989, 98 und 99; Volckart/Pollähne/Woynar 2008, 232 ff. 2. Außerdem kann jedermann – auch der ausländische Gefangene – grundsätzlich nach 2 ergebnisloser Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er glaubt, durch eine Entscheidung der Vollzugsbehörde oder eine Gerichtsentscheidung in seinen Grundrechten verletzt zu werden – Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a GG – (Frielinghaus 1976, 271; Lechner/Zuck 2006 § 90 Rdn. 73 ff; Litwinski/Bublies 1989, 112). Schließlich kann sich gem. Art. 34 EMRK jeder, der sich in einem der nach der Konvention garantierten Rechten durch einen der Mitgliedstaaten verletzt fühlt, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs mit einer Individualbeschwerde wenden. (Laubenthal 2008 Rdn. 849 ff; Walter 1999 Rdn. 430). Der seit dem 1.11.1998 geschaffene ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist als einziges Kontrollorgan nach der EMRK an die Stelle der bisherigen Europäischen Kommission und des bisherigen nicht ständig tagenden EGMR getreten. Über Beschwerden entscheidet nun der neue Gerichtshof; die Europäische Kommission für Menschenrechte besteht nicht mehr. Zum internationalen Schutz von Menschenrechten Gräfenstein 2003, 10 ff; Laubenthal 2002, 169 ff; Neubacher 1999, 210; 3. Artikel 17 GG eröffnet weiterhin Gefangenen die Möglichkeit, Bitten und Beschwer- 3 den außerhalb der im Vierzehnten Titel des StVollzG vorgesehenen Rechtsbehelfe bei der zuständigen Stelle und bei der Volksvertretung außerhalb formaler Rechtsmittel und gerichtlicher Verfahren vorzubringen. Die Ausübung des Petitionsrechts kann sowohl einzeln als auch „in Gemeinschaft mit anderen“ (Sammelpetition) erfolgen. Damit wird kein Anspruch der Gefangenen zum Kontakt mit anderen Gefangenen begründet, um eine Sammelpetition vorzubereiten (Maunz/Dürig/Klein Art. 17 Rdn. 123). Das Petitionsrecht verpflichtet die angegangene Stelle zur sachlichen Prüfung des Vorbringens. Volksvertretung i. S. von Art. 17 GG sind der Deutsche Bundestag, die Landtage bzw. Bürgerschaften in Bremen und Hamburg sowie das Abgeordnetenhaus in Berlin. Die Volksvertretungen haben selbst zwar keine unmittelbare Entscheidungskompetenz, sondern können die Eingabe der Regierung zur Berücksichtigung (das Anliegen war berechtigt), zur Erwägung (das Anliegen nochmals zu überprüfen) überweisen oder für erledigt erklären, wenn das Verhalten der Verwaltung nicht zu beanstanden ist (Arloth 2008, Vorbemerkungen § 108 Rdn. 4). Zur Behandlung der an die Volksvertretung gerichteten Petition bestellt diese einen Petitionsausschuss. Das Petitionsrecht umfasst nicht einen Anspruch, dass das Parlament seinem Bescheid eine Begründung beifügt. Zu einer schriftlichen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Petenten einerseits und dem der Regierung andererseits ist die Volksvertretung nicht verpflichtet (BayVerfGH NVwZ 1988, 820, 821). Zum Umfang des Petitionsrechts BayVerfGH NVwZ 2000, 548, 549. Für die Petition ist eine Beschwer des Petenten nicht erforderlich. Die Berufung auf Art. 17 erfordert nicht die Geltendmachung eigener Rechte. Es genügt ein Eintreten für einen anderen oder das Gemeinwohl. In Rheinland-Pfalz kann auch der Bürgerbeauftragte entweder unmittelbar oder über den Petitionsausschuss des Landtages eingeschaltet werden (Gesetz über den Bürgerbeauftragten vom 3.5.1974 i. d. F. vom 5.11.1974, GVBl.1974, 469). Der Bürgerbeauftragte hat die Aufgabe, im Rahmen der Kontrollrechte des Landtages die Stellung des Bürgers im Verkehr mit den Behörden zu stärken (näheres bei Monz Der Bürgerbeauftragte. Kommentar zum Landesgesetz über den Bürgerbeauftragten des Landes Rheinland-Pfalz, Mainz 1982). Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat eben-
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§ 108
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falls das Amt eines Bürgerbeauftragten eingeführt (Petitions- und Bürgerbeauftragtengesetz vom 5. April 1995). Als Ansprechpartner in vollzuglichen Angelegenheiten gibt es im Bundesland Nordrhein-Westfalen den Ombudsmann für den Justizvollzug. An ihn können sich Inhaftierte, deren nahe Angehörige, Vollzugsbedienstete sowie ehrenamtliche Vollzugshelfer wenden, die durch Anregungen, Beobachtungen und Hinweise dazu beitragen möchten, das Klima in den Hafteinrichtungen zu verbessern (Justizministerium NRW NRW-Justizportal: Justiz-Online [www.justiz.nrw.de]; dazu Rotthaus 2008, 373 ff). Der Ombudsmann hat keine Entscheidungsbefugnis. Seine Aufgaben sind Vermittlung, Empfehlungen und Berichterstattung.
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4. Die Möglichkeit, Hilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz) in Anspruch zu nehmen, steht auch Gefangenen offen, sofern diese nicht durch die Justizvollzugsanstalt entsprechende Hilfe erhalten (AK-Kamann/Volckart 2006 § 120 Rdn. 18; C/MD 2008 § 108 Rdn. 15 und § 120 Rdn. 4; Eschke 1993, 149; Feest 1995, 151 ff; Rotthaus 1990, 164). Die Justizvollzugsanstalt muss dementsprechend durch geeignete Maßnahmen (eventuell Ausführung zum Amtsgericht) die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme der Beratungshilfe schaffen. Diese bezieht sich jedoch nur auf zunächst außergerichtliche Aspekte und umfasst nicht die eigentliche Vertretung des Antragstellers im Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG (Schoreit/Dehn 2004 § 2 BerHG Rdn. 23).
§ 108 Beschwerderecht (1) Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich mit Wünschen, Anregungen und Beschwerden in Angelegenheiten, die ihn selbst betreffen, an den Anstaltsleiter zu wenden. Regelmäßige Sprechstunden sind einzurichten. (2) Besichtigt ein Vertreter der Aufsichtsbehörde die Anstalt, so ist zu gewährleisten, dass ein Gefangener sich in Angelegenheiten, die ihn selbst betreffen, an ihn wenden kann. (3) Die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde bleibt unberührt. VV 1 (1) Der Gefangene kann sich jederzeit schriftlich an den Anstaltsleiter wenden. (2) Sprechstunden von angemessener Dauer sind mindestens einmal wöchentlich einzurichten. Das Nähere regelt die Hausordnung. (3) Dem Vertreter der Aufsichtsbehörde ist bei Besichtigungen (VV zu § 151 Nr. 1 Abs. 2 StVollzG) unaufgefordert eine Liste der Gefangenen vorzulegen, die sich für eine Anhörung nach § 108 Abs. 2 StVollzG haben vormerken lassen. 2 (1) Eingaben, Beschwerden und Dienstaufsichtsbeschwerden, die nach Form oder Inhalt nicht den im Verkehr mit Behörden üblichen Anforderungen entsprechen oder bloße Wiederholungen enthalten, brauchen nicht beschieden zu werden. Der Gefangene ist entsprechend zu unterrichten. Eine Überprüfung des Vorbringens von Amts wegen bleibt unberührt.
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(2) Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Anordnungen und Maßnahmen des Anstaltsleiters, denen nicht abgeholfen wird, sind unverzüglich der Aufsichtsbehörde vorzulegen. 3 Beschwerden, die an eine offenbar unzuständige oder nicht ohne weiteres zuständige Vollzugsbehörde gerichtet sind, leitet der Anstaltsleiter an die zuständige Vollzugsbehörde weiter. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Recht, sich an den Anstaltsleiter zu wenden . . . . . . . . . . . a) Art und Weise . . . . . . . . b) Kein Anspruch auf Anwesenheit eines Verteidigers . . . . 2. Recht, sich an einen Vertreter der Aufsichtsbehörde zu wenden . . 3. Dienstaufsichtsbeschwerde . . . a) formloser Rechtsbehelf . . . b) Adressat der Beschwerde . .
Rdn.
Rdn.
1 2–17
c) Bescheidung des Gefangenen 9 d) Entscheidungen auf Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . 10–13 e) nur in eigenen Angelegenheiten des Gefangenen . . . . 14 f) andere Beschwerdeführer . . 15 g) Formalien . . . . . . . . . . 16–17 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 18–20 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 19 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 20
2–4 2–3 4 5–6 7–17 7 8
I. Allgemeine Hinweise Die Möglichkeit für einen Gefangenen, sich mit Wünschen, Anregungen und Be- 1 schwerden (Eingaben) an den Anstaltsleiter (Abs. 1) oder an einen Vertreter der Aufsichtsbehörde (Abs. 2, § 151) zu wenden, entspricht dem Petitionsrecht aus Art. 17 GG. Damit wird staatlich anerkannt, dass menschliche Sorgen und Nöte neben Beschwerden in geeigneter Form außerhalb formaler Rechtsmittel zur Kenntnis genommen, bearbeitet und geprüft sowie beschieden werden; insoweit kann auch eine gerichtliche Auseinandersetzung vermieden werden. (Arloth 2008, Rdn. 1; C/MD 2008, Rdn. 3; Laubenthal 2008, Rdn. 755; Litwinski/Bublies 1989, 115; Schuler 1988, 256). § 108 Abs. 1 bis 3 StVollzG entsprechende Regelungen enthält Art. 115 Abs. 1 bis 3 BayStVollzG. Gem. § 101 Abs. 1 NJVollzG kann der Inhaftierte seine Wünsche, Anregungen sowie Beschwerden bei der Vollzugsbehörde vorbringen und sich nach § 101 Abs. 2 NJVollzG an den Bediensteten der Aufsichtsbehörde wenden.
II. Erläuterungen 1. a) Abs. 1 Satz 1 gewährt dem Gefangenen ein Recht, sich mit seinem Anliegen an 2 den Anstaltsleiter unmittelbar zu wenden. Dieses Recht kann schriftlich oder mündlich wahrgenommen werden. Insoweit wird durch § 108 das Petitionsrecht aus Art. 17 GG erweitert, das grundsätzlich die Schriftform erfordert (Ausnahme z. B. Art. 16 Hess. Verf., wonach auch landesrechtlich mündliche Petitionen zulässig sind). Das Grundgesetz verbietet zwar nicht die mündliche Anhörung, sie wird nur vom Grundrechtsschutz des Grundgesetzes ausgespart (Maunz/Dürig/Klein Art. 17 Rdn. 61). Zur Möglichkeit, das Gespräch abzubrechen, Rdn. 18. Manfred Schuler/Klaus Laubenthal
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In welcher Art und Weise das Recht aus § 108 im Einzelnen gewährleistet wird, unterliegt der Regelung durch die Vollzugsbehörde im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens. Dazu § 115 Rdn. 20. Schriftlich kann sich ein Gefangener jederzeit an den Anstaltsleiter wenden (VV Nr. 1 Abs. 1). Dies begründet jedoch kein Recht des Gefangenen, sich nach eigener Wahl mit seinem Anliegen schriftlich oder mündlich an den Anstaltsleiter zu wenden. Die Verweisung eines schriftkundigen Gefangenen, sein Anliegen in schriftlicher Form vorzubringen, ist daher zulässig; einem Schreibunkundigen muss jedoch Gelegenheit gegeben werden, auf andere Weise (Schreibhilfe, mündlicher Vortrag) seine Eingabe vorzutragen. Schreib- oder Formulierungshilfe kann ein Vollzugsbediensteter leisten. Hilfe durch Mitgefangene wird in der Praxis geduldet, insbesondere dann, wenn sich die Beschwerde gegen einen Beamten richtet. Wenn ein Gefangener einem anderen unterstützungsbedürftigen Mitgefangenen Hilfe bei der Wahrnehmung seiner Rechte im Einzelfall leistet, beurteilt sich die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens nach dem am 1.7.2008 in Kraft getretenen RDG (BGBl. I 2007, 2840). Gem. § 6 RDG kommt es dabei – im Gegensatz zur vorherigen Regelung im RBerG – auf eine geschäftsmäßige Besorgung fremder Angelegenheiten nicht mehr an. Für die Einordnung als erlaubte oder als unerlaubte Tätigkeit ist nach § 6 RDG relevant, ob die Tätigkeit entgeltlich bzw. unentgeltlich erfolgt. Das ist eine Frage des Einzelfalls (s. Grunewald/Römermann/Müller § 6 RDG Rdn. 6 ff), wobei im Hinblick auf die subkulturellen Abhängigkkeitsverhältnisse allerdings die Erbringung irgendwelcher Gegenleistungen durch den unterstützten Mitgefangenen naheliegen wird. Dann handelt es sich um unerlaubte Tätigkeiten. Kann Entgeltlichkeit nicht festgestellt werden, bleiben die Dienstleistungen statthaft, wenn sie innerhalb familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen erfolgen. Die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 16/3655, S. 58) nennen als Beispiel für derartige persönliche Beziehungen lediglich Arbeitskollegen und Vereinsmitglieder. Es erscheint zweifelhaft, die vollzugliche Zwangsgemeinschaft nachbarschaftlichen oder sonstigen freiwillig eingegangenen persönlichen Beziehungen gleichzustellen (weiter gehend Grunewald/Römermann/Müller § 6 RDG Rdn. 18). In jedem Fall ist zu beachten: Nach § 6 RDG unzulässige Rechtsdienstleistungen erfüllen nur noch dann einen Ordnungswidrigkeitentatbestand, wenn die zuständige Behörde dem Betroffenen die Erbringung von Rechtsdienstleistungen vorher untersagt hat (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 9 Abs. 1 RDG). In der Regel kann deshalb nicht mehr damit argumentiert werden, der Gefangene handele mit seiner Rechtsdienstleistung stets auch ordnungswidrig. Die Antragstellung durch einen Bevollmächtigten ist zulässig. Ein Anspruch auf eine jederzeitige persönliche Anhörung kann aus § 108 Abs. 1 Satz 1 nicht hergeleitet werden. Eine Vollzugsbehörde wäre insoweit organisatorisch überfordert. Die Einrichtung von regelmäßigen Sprechstunden wird daher grundsätzlich gefordert (Abs. 1 Satz 2). Ein Gefangener, der auf einer mündlichen Vorsprache bei dem Anstaltsleiter besteht, kann auf die Sprechstunden verwiesen werden. In diesem Falle muss der Anstaltsleiter den Gefangenen dann persönlich anhören. Ein Gefangener ist jedoch nicht in seinen Rechten verletzt, wenn er wegen Urlaubs des Anstaltsleiters oder anderer zwingender Gründe an dessen Vertreter verwiesen wird (OLG Nürnberg ZfStrVo SH 1979, 93). Zulässig muss es auch sein, dass vor der mündlichen Vorsprache bei dem Anstaltsleiter ein Bediensteter der Anstalt den Gefangenen zunächst anhört, um den Anstaltsleiter sachkundig vorbereiten zu können. Denkbar ist auch, dass durch diese Vorklärung eine weitere Rücksprache bei dem Anstaltsleiter sich erübrigt, weil der Gefangene bei diesem Vorgespräch zufriedengestellt werden konnte. Mit dieser Vorklärung darf aber in keinem Falle der Wunsch, den Anstaltsleiter persönlich zu sprechen, verhindert werden (Abschirmen des Anstaltsleiters) (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 4; Grunau/Tiesler Rdn. 2; Schuler 1988, 257). Bei größeren Justizvollzugsanstalten mit Zweiganstalten und größeren Abteilungen ist dem Recht des Gefangenen aus Abs. 1, sich persön-
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lich an den Anstaltsleiter zu wenden, durch die Vorsprache bei dem Teilanstaltsleiter, Zweiganstaltsleiter Genüge getan. Dies entspricht organisatorischen Bedürfnissen bei großen Vollzugseinrichtungen und gewährleistet eine größere Nähe zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt. Angesichts des eindeutigen gesetzlichen Wortlauts scheidet eine Delegation an weitere nachgeordnete Vollzugsbedienstete aus (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 4; Laubenthal 2008 Rdn. 756; a. A. Arloth 2008 Rdn. 3: auch Abteilungsleiter). In Verantwortungsbereichen, die allein dem Anstaltsleiter vorbehalten sind, ist dieser auch bei Untergliederung der Einrichtung in Teil- bzw. Zweiganstalten der alleinige Adressat (C/MD 2008 Rdn. 4). b) Ein Anspruch auf Anwesenheit eines Verteidigers bei der persönlichen Anhörung 4 des Gefangenen durch den Anstaltsleiter kann zwar nicht aus § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO i. V. mit § 120 Abs. 1 hergeleitet werden, denn § 137 StPO setzt ein förmliches Verfahren voraus. Dennoch hat der Verteidiger ein Recht auf Anwesenheit bei dem Gespräch zwischen dem Anstaltsleiter und seinem Mandanten, soweit der Verteidigungsauftrag sich auf das Dauerrechtsverhältnis des Vollzugs der freiheitsentziehenden Unrechtsreaktion bezieht (C/M 2008 Rdn. 5; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 8; Laubenthal 2008 Rdn. 756; a. A. OLG Nürnberg ZfStrVo SH 1979, 93; Arloth 2008 Rdn. 3). Ferner kann der Gefangene für die einzelne Beschwerde sich anwaltlich beraten und vertreten lassen (Nr. 70.7 Europäische Strafvollzugsgrundsätze). Auch in einem Verfahren nach §§ 109 ff ist bei einer Anhörung dem Verteidiger die Anwesenheit zu gestatten (Voigtel 1998, 283). Im Rahmen eines Disziplinarverfahrens ist ebenfalls die Anwesenheit eines Verteidigers bei der Anhörung des Gefangenen zu gestatten (§ 106 Rdn. 4). Zur anfechtbaren Entscheidung nach § 109 dort bei Rdn. 10 ff. Zum Begriff des Verteidigers Hötter 2001, 26. 2. Nach Abs. 2 muss gewährleistet werden, dass bei einer Besichtigung der Anstalt 5 durch einen Vertreter der Aufsichtsbehörde ein Gefangener seine Anliegen anbringen kann. Daraus folgt nicht, dass der Gefangene einen Anspruch auf den Besuch eines Vertreters der Aufsichtsbehörde hat (Arloth 2008 Rdn. 5). Bei dem Gespräch zwischen dem Vertreter der Aufsichtsbehörde und dem Gefangenen ist die Möglichkeit einzuräumen, dass der Inhaftierte seine Beschwerde in Abwesenheit der Anstaltsbediensteten vortragen kann (C/MD 2008 Rdn. 6; Laubenthal 2008 Rdn. 444; a. A. Arloth 2008 Rdn. 5). Die Möglichkeit der Sprechstunden und die Möglichkeit, sich an einen Vertreter der 6 Aufsichtsbehörde zu wenden, ist in die Hausordnung aufzunehmen (§ 161 Abs. 2 Nr. 3). Näheres ergibt sich aus VV Nr. 1 Abs. 2 und Abs. 3. Die Vollzugsanstalt führt eine Liste, in die sich Gefangene für ein Gespräch mit dem Vertreter der Aufsichtsbehörde eintragen lassen können. 3. a) Einen besonders großen Teil der Eingaben von Gefangenen machen die Be- 7 schwerden aus. Zur Rechtsnatur von Beschwerden OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 381. Beschwerden können sich gegen Entscheidungen des Anstaltsleiters und gegen Entscheidungen anderer Vollzugsbediensteter richten (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 252). Die Rechtsbehelfe dürfen formlos eingelegt werden; sie sind nicht fristgebunden und können demnach auch nicht den Fristablauf bezüglich des Unanfechtbarwerdens einer Maßnahme hemmen. Der formlose Rechtsbehelf ist nicht als Vorverfahren Antragsvoraussetzung i. S. von § 109 Abs. 3. Zum Vorverfahren § 109 Rdn. 31 ff. Ein formloser Rechtsbehelf vermag nicht zugleich in einen Widerspruch gegen eine den Beschwerdeführer belastende Einzelmaßnahme umgedeutet zu werden. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde ist ein selbständiges Verfahren zur Überprüfung einer Maßnahme, das losgelöst und wahlweise neben dem Verfahren nach § 109 zur Verfügung steht und mit der Entscheidung der Aufsichtsbehörde abManfred Schuler/Klaus Laubenthal
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geschlossen wird (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 43 und ZfStrVo 1979, 128; OLG Hamburg NStZ 1991, 560). Beachte auch Rdn. 12 und § 109 Rdn. 34.
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b) Formlose Beschwerden richten sich an die Behörde, der die Organaufsicht über die erlassende Behörde zusteht. Begehrt wird von der Aufsicht führenden Behörde die Aufhebung oder Abänderung einer Maßnahme: Das Vorgehen stellt sich als Sachaufsichtsbeschwerde dar, wenn um Sachprüfung gebeten wird. Es bedeutet eine Dienstaufsichtsbeschwerde (Abs. 3), wenn das persönliche Verhalten eines Bediensteten gerügt und das Ziel eines behördeninternen Einwirkens zu aus Sicht des Beschwerdeführers richtigem Verhalten verfolgt wird. Über Aufsichtsbeschwerden entscheidet der jeweilige Dienstvorgesetzte (Nr. 2 Abs. 2 der VV). Für die Dienstaufsichtsbeschwerde wird in Abs. 3 klargestellt, dass sie unabhängig und neben der Beschwerdemöglichkeit nach Abs. 1 und 2 bestehenbleibt (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 82; OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 381).
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c) Die angegangene Behörde muss den Rechtsbehelf entgegennehmen, und die zuständige Behörde muss die beanstandete Maßnahme in angemessener Frist sachlich überprüfen und den Beschwerdeführer nach Ermessen so bescheiden, dass eine gerichtliche Nachprüfung möglichst vermieden wird. Der Gefangene hat jedoch keinen Anspruch auf Erledigung in seinem Sinne (Kopp/Ramsauer 2008 § 79 Rdn. 19). Die Entscheidung ist zu begründen. Der Gefangene hat einen Anspruch, die Gründe einer für ihn negativen Entscheidung zu erfahren, denn nur dann kann er seine Rechte sachgemäß verteidigen (BVerfG NJW 1957, 297, 298; OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 263; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 8; Rühl 1993, 14). Aus diesem rechtsstaatlichen Grundsatz folgt jedoch nicht, dass die Begründung in jedem Falle von Verfassungs wegen schriftlich erteilt werden muss (BVerfG NJW 1976, 37, 38; LG Hamburg ZfStrVo 1979, 128; OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 62). S. auch § 112 Rdn. 2. Zum Recht auf Akteneinsicht § 185.
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d) Das Beschwerderecht gilt nur gegenüber der zuständigen Stelle. Ein Anspruch auf Reaktion der angegangenen Behörde besteht nicht, wenn diese nicht zuständig ist (BVerfGE 2, 225, 230). Siehe auch VV Nr. 3. 11 Bei einer formlosen Beschwerde fordert die Aufsichtsbehörde von der unteren Behörde eine Stellungnahme (Bericht) an; ggf. ermittelt sie selbst. Hält die Aufsichtsbehörde die Beschwerde für unbegründet, so bescheidet sie den Beschwerdeführer. Ein Anspruch des Beschwerdeführers auf Einschreiten der Aufsichtsbehörde besteht nicht, es genügt der Bescheid, dass sie keinen Anlass zum Einschreiten sehe (BGH NJW 1971, 1699, 1700). Hält die Aufsichtsbehörde die Beschwerde für begründet, so weist sie die nachgeordnete Behörde an, eine neue Entscheidung zu treffen und teilt dies dem Beschwerdeführer mit. Die Aufsichtsbehörde sollte nur solche Maßnahmen der unteren Behörde aufheben oder selbst entscheiden, die sie nach allgemeinen Grundsätzen im Verhältnis zum Beschwerdeführer selbst erlassen darf. Gegen einen ablehnenden Bescheid (z. B. des Anstaltsleiters über eine Beschwerde gegen einen nachgeordneten Bediensteten) kann der Beschwerdeführer weitere Beschwerde bei der nächsthöheren Behörde einlegen. Mit deren Entscheidung ist das Dienstaufsichtsverfahren abgeschlossen. 12 Gegen die Zurückweisung einer Dienstaufsichtsbeschwerde ist ein Antrag auf gerichtliche Überprüfung nach § 109 nicht zulässig, da kein Vollzugsverwaltungsakt vorliegt; es fehlt an einer neuen Regelungswirkung, da Gegenstand des Antrages die vorausgegangene Maßnahme ist (BVerwG NJW 1977, 118; OLG Frankfurt ZfStrVo 1977, 47; KG NStZ 1997, 428 M; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 189; Meyer-Goßner § 23 EGGVG Rdn. 8). Eine Bescheidung der Dienstaufsichtsbeschwerde kann aus den gleichen Gründen nicht nach §§ 109, 113 erzwungen werden (OLG Hamm NStZ 1993, 426 B). Der Anspruch auf Verbescheidung
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einer Dienstaufsichtsbeschwerde ist im Verwaltungsrechtsweg gem. §§ 40 ff VwGO durchsetzbar (Arloth 2008 Rdn. 6; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 14). Nur ein durch die Behörde neu veranlasster Verwaltungsakt kann im Wege der gerichtlichen Überprüfung gem. §§ 109 ff StVollzG angefochten werden. Ausnahmsweise stellt der eine Dienstaufsichtsbeschwerde zurückweisende abschließende Bescheid dann eine gem. § 109 StVollzG anfechtbare Maßnahme dar, wenn er erstmals eine den Insassen betreffende Sachentscheidung enthält (KG NStZ 1991, 382; KG NStZ 1997, 428). Hat aber der Antrag bei Gericht als Begehren die Verbescheidung einer Dienstaufsichtsbeschwerde zum Inhalt, das als solches nicht zu einem Antrag nach § 109 gemacht werden kann, ist die Strafvollstreckungskammer hinsichtlich der Eröffnung des Rechtswegs an eine Verweisungsentscheidung eines Verwaltungsgerichts nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG gebunden (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 189). Wird die Beantwortung einer formlosen Beschwerde nach Abs. 1 und Abs. 2 ausdrücklich 13 oder stillschweigend abgelehnt, kann ein Vornahmeantrag nach § 109 Abs. 1 Satz 2, § 113, § 115 Abs. 4 Satz 1 gestellt werden. Das Petitionsrecht aus Art. 17 GG gibt dem Beschwerdeführer ein einklagbares Recht auf Beantwortung der Eingabe durch die zuständige Stelle; diese darf sich nicht auf eine bloße Empfangsbestätigung beschränken, sondern muss zumindest die Kenntnisnahme von ihrem Inhalt und die Art ihrer Erledigung mitteilen (BVerwG NJW 1976, 637, 638). Es genügt daher, wenn in einem Bescheid lediglich das Ergebnis der sachlichen Prüfung mitgeteilt wird und die Begründung sich in dem Hinweis erschöpft, dass die beanstandete Entscheidung mit der Sach- und Rechtslage übereinstimmt. Nach Abs. 1 ist eine schriftliche Bescheidung eines schriftlich vorgebrachten Anliegens durch den Anstaltsleiter selbst nicht zwingend geboten. Im Rahmen der nach § 156 Abs. 2 zulässigen Geschäftsverteilung kann auch ein nachgeordneter Bediensteter dem Gefangenen antworten. e) Das Recht aus § 108 steht einem Gefangenen nur in eigenen Angelegenheiten zu 14 (Abs. 1 Satz 1, Abs. 2); also nur demjenigen, der sich durch eine Maßnahme (Vollzugsverwaltungsakt) in seinen rechtlich geschützten Interessen verletzt oder durch Unzweckmäßigkeit der Maßnahme sonstwie beeinträchtigt glaubt. Für Beschwerden oder Anliegen zugunsten Dritter sieht das StVollzG keine Regelung vor. Ausnahmen können sich im Einzelfall aus § 160 – Gefangenenmitverantwortung – ergeben. f) Das Recht auf Beschwerde steht nicht nur Strafgefangenen zu, im Einzelfall kann 15 auch ein Dritter (z. B. Besucher oder Briefpartner) durch Entscheidungen der Vollzugsbehörde beschwert sein. Ein Anspruch auf mündliche Anhörung durch den Anstaltsleiter steht einem Nichtgefangenen jedoch nicht zu. In fremder Sprache abgefasste Eingaben und Beschwerden sind zulässig. Art. 17 GG 16 sieht ebenso wie die Strafvollzugsgesetze in dieser Hinsicht keine Einschränkung vor. Art. 17 GG ist auch als Ausländergrundrecht gestaltet (Maunz/Dürig/Klein Art. 17 GG Rdn. 64, 66). Die damit verbundenen technischen Schwierigkeiten (Übersetzungen) sind erheblich. Es ist jedoch zu beobachten, dass diese Schwierigkeiten von Gefangenen, wenn es irgendwie geht, ohnehin vermieden werden (BVerfG ZfStrVo 2004, 46). Bei mündlichen Anhörungen durch den Anstaltsleiter wird ebenfalls ein Dolmetscher heranzuziehen sein. Um den Aufwand hierbei so gering wie möglich zu halten, ist es zulässig, Sprechstunden nach den Einsatzmöglichkeiten der Dolmetscher anzubieten. Diese Aufgaben werden in der Praxis auch vom Sozialdienst der entsprechenden Ausländergruppe übernommen. Vgl. § 109 Rdn. 29. Obwohl nach dem Wortlaut des Art. 17 GG und auch des § 108 das Petitionsrecht keine 17 Schranken vorsieht, hat die Rechtsprechung bestimmte Grenzen ausgearbeitet (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 97; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 9). Die gesetzlich eingeräum-
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ten Rechte zur vollzugsinternen Kontrolle unterliegen dem Verbot missbräuchlicher Ausübung. Eine zulässige Petition liegt dann nicht vor, wenn sie in der Form den Anforderungen nicht entspricht, die an jede bei einer Behörde einzureichende Eingabe zu stellen sind, also etwa beleidigenden, herausfordernden oder erpresserischen Inhalt hat. Wurde eine Beschwerde schon durch einen ordnungsgemäßen Bescheid erledigt worden, so kann eine zweite Eingabe, die den gleichen Inhalt hat und an die gleiche Stelle gerichtet ist, nicht mehr Anspruch auf sachliche Verbescheidungen besitzen (VV Nr. 2 Abs. 1; BVerfGE 2, 225). Durch die Ausübung des Petitionsrechts dürfen nicht unverhältnismäßig die Rechte anderer verletzt und unwahre Behauptungen aufgestellt werden (OLG Düsseldorf NJW 1972, 651). Die Ausübung des Petitionsrechts muss sich im Rahmen des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts halten. Es wäre auch ein Missbrauch staatsbürgerlicher Rechte, wenn der Petent für sich in Anspruch nehmen wollte, im Rahmen einer Petition den Petitionsadressaten zu beleidigen und vorsätzlich sein Ansehen zu untergraben (OLG München NJW 1957, 795 und ZfStrVo 1982, 378). Diese Grundsätze gelten entsprechend für die mündliche Vorsprache beim Anstaltsleiter, der bei ungebührlichem Verhalten eines Gefangenen das Gespräch abbrechen kann. Feststellungen, dass zahlreiche Eingaben von Gefangenen aus Querulanz oder zur Durchsetzung unberechtigter Anliegen eingebracht werden, dürfen jedoch nicht dazu führen, das Petitionsrecht allgemein einzuschränken (Böhm 2003 Rdn. 390, 391; Schuler 1988, 258).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 115 BayStVollzG ist, bis auf die Abfassung des Abs. 1 Satz 1 im Plural sowie die geschlechtsspezifische Differenzierung, wortlautidentisch mit der bundesrechtlichen Regelung. 2. Hamburg
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§ 91 Abs. 1, 3 und 4 HmbStVollzG entsprechen, bis auf einige redaktionelle Änderungen, dem bundesrechtlichen § 108 Abs. 1, 2 und 3. Neu eingefügt wurde § 91 Abs. 2 HmbStVollzG, der lautet: „Die Abwicklung der Sprechstunden nach Absatz 1 Satz 2 kann in Anstalten, die wegen ihrer Größe in Teilanstalten oder in mehrere eigenständige Hafthäuser gegliedert sind, auf die Leitung der Teilanstalten oder die Leitung der Hafthäuser übertragen werden.“ In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die Vorschrift reagiert . . . auf ein dringendes Bedürfnis der Praxis, die sehr aufwendige Abwicklung der regelmäßig abzuhaltenden Sprechstunden in großen und komplexen Anstalten auf mehrere Schultern verteilen zu können, um die mit zahlreichen weiteren Aufgaben der konzeptionellen und betrieblichen Steuerung der Anstalt befasste Anstaltsleitung zu entlasten. Die Regelung, dass für die vorgesehene Aufgabenübertragung nur der Kreis der Teilanstaltsleitungen oder der Hausleitungen in Betracht kommt, stellt eine kompetente, die Interessen der Gefangenen wahrende Praxis sicher.“ 3. Niedersachsen
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§ 101 Abs. 1 NJVollzG lautet nunmehr: „Die oder der Gefangene erhält Gelegenheit, schriftlich und mündlich Wünsche, Anregungen und Beschwerden in eigenen Angelegenheiten bei der Vollzugsbehörde vorzubringen.“ Zu dieser Abweichung von der bundesgesetzlichen Regelung heißt es in der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 7/918, S. 155): „Gegenüber § 108 StVollzG enthält Absatz 1 neben
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Antrag auf gerichtliche Entscheidung
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redaktionellen Änderungen zwei Neuerungen. Zum einen ist bei Beschwerden, Anregungen und Wünschen der Gefangenen nicht mehr ,der Anstaltsleiter‘ allein Adressat des Vorbringens der Gefangenen. Der Entwurf ermöglicht es gerade großen Anstalten, das Beschwerdeverfahren flexibel zu gestalten. Denkbar ist danach, dass z. B. die Vertretung der Anstaltsleiterin oder des Anstaltsleiters die Beschwerden und Wünsche schriftlich bearbeitet. Zum anderen sieht der Entwurf davon ab, die in § 108 Abs. 1 S. 2 vorgesehene Verpflichtung zur Einrichtung von Sprechstunden zu übernehmen. Satz 1 überlässt es vielmehr den Anstalten, ob sie an den eingerichteten Sprechstunden festhalten oder das Beschwerdeverfahren anderweitig regeln.“ § 101 Abs. 2 NJVollzG entspricht hinsichtlich des Gesprächs mit einem Bediensteten der Aufsichtsbehörde vom Wortlaut her weitgehend § 108 Abs. 2 StVollzG; inhaltliche Änderungen waren mit der Neufassung nicht verbunden. Nicht übernommen wurde die Bestimmung des § 108 Abs. 3 StVollzG. In der Gesetzesbegründung (S. 155) heißt es dazu: „Der Entwurf übernimmt nicht die Regelung des § 108 Abs. 3 StVollzG über die Dienstaufsichtsbeschwerde, weil das Recht zur Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde auch ohne eine gesetzliche Regelung unbenommen bleibt; das Petitionsrecht des Art. 17 GG bleibt unberührt . . .“
§ 109 Antrag auf gerichtliche Entscheidung (1) Gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiete des Strafvollzuges kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Mit dem Antrag kann auch die Verpflichtung zum Erlass einer abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme begehrt werden. (2) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. (3) Das Landesrecht kann vorsehen, dass der Antrag erst nach vorausgegangenem Verwaltungsvorverfahren gestellt werden kann. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 2–39 1. Geltungsbereich . . . . . . . . 2–4 2. Zuständigkeiten anderer Gerichte 5–9 a) Zivilgerichte . . . . . . . . . 5–6 b) Arbeitsgerichte . . . . . . . 7 c) Strafsenat des OLG nach EGGVG . . . . . . . . . . . 8 d) Verwaltungsgerichte . . . . . 9 3. Nach § 109 anfechtbare Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . 10–21 a) Maßnahmen auf dem Gebiet des Strafvollzugs . . . . . . . 10
b) Regelung einzelner Angelegenheiten . . . . . . . . . 11–21 aa) nicht nur Maßnahmen des Anstaltsleiters . . . . 11 bb) Begriff der Einzelmaßnahme . . . . . . . . . . 12 cc) Regelungscharakter von Maßnahmen . . . . . . . 13–21 4. Ziel des Antrags nach § 109 . . . 22–27 a) Beseitigung der Maßnahme . 23 b) Erlass von Maßnahmen . . . 24 c) Vorbeugender Unterlassungsantrag . . . . . . . . . . . . 25
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe Rdn.
Rdn.
d) Teilanfechtung . . . . . . . . 26 e) Antragshäufung, Verbindung 27 5. Antragsbefugnis . . . . . . . . 28–30 6. Verwaltungsvorverfahren . . . . 31–38
a) Form und Zweckmäßigkeit der Regelung . . . . . . . . 31–32 b) Das Vorverfahren im einzelnen 33–38 7. Missbrauch . . . . . . . . . . . 39
I. Allgemeine Hinweise 1
Für die in Art. 19 Abs. 4 GG garantierte gerichtliche Überprüfung von Vollzugsverwaltungsakten (Rechtsweggarantie) haben die §§ 109 ff seit dem 1.1.1977 die zuvor hierfür vorgesehene Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts nach §§ 23 ff EGGVG abgelöst. Die Zuständigkeit liegt im ersten Rechtszug bei der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht (§ 110) und in zweiter Instanz besteht die Möglichkeit der Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern durch die Strafsenate der Oberlandesgerichte (§ 116). Zwar gilt nach der Übergangsregelung von Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG nach der Föderalismusreform (BGBl. I 2006, 2034) wegen der Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG durch Landesrecht ersetzbares Bundesrecht bis zu entsprechenden legislatorischen Aktivitäten des jeweiligen Landesgesetzgebers fort. Die Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer bezieht sich infolge der Streichung der Materie „Strafvollzug“ aus dem Katalog des Art. 74 Abs. 1 GG jedoch insoweit nur auf diesen Regelungsbereich. Die Vorschriften der §§ 109 bis 121 StVollzG über den gerichtlichen Rechtsschutz beruhen aber nicht auf der früheren Bundeskompetenz für den Strafvollzug. Sie haben sich vielmehr aus der Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG für „das gerichtliche Verfahren“ ergeben. Demgemäß nimmt Art. 208 BayStVollzG die §§ 109 bis 121 StVollzG vom Regelungsumfang des Landes-Strafvollzugsgesetzes aus. § 102 NJVollzG verweist hinsichtlich des gerichtlichen Rechtsschutzes auf die §§ 109 ff StVollzG.
II. Erläuterungen 2
1. Die §§ 109 ff gelten im Vollzug der Freiheitsstrafe nach § 1, bei den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, für die Sicherungsverwahrung (§ 130) sowie die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt (§ 138 Abs. 3), für den Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten (§ 167) und für den Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft (§ 171), ferner bei Abschiebungshaft (§ 62 AufenthG), die im Wege der Amtshilfe in Justizvollzugsanstalten vollzogen wird (§ 8 Abs. 2 FEVG). Beim Vollzug von Abschiebungshaft außerhalb von Justizvollzugsanstalten in besonderen Einrichtungen der Innenverwaltung finden nach § 4 des rheinland-pfälzischen Landesaufnahmegesetzes vom 21.12.1993 nur die Vorschriften §§ 3 bis 108 und 173 bis 175 des StVollzG Anwendung. §§ 109 ff sind ausdrücklich ausgenommen. Demnach ist der Rechtsweg gegen Maßnahmen dieser Behörde nach der Verwaltungsgerichtsordnung gegeben. Vergleichbare Regelungen haben Berlin (Gesetz über den Abschiebungsgewahrsam vom 12.10.1995 – GVBl. 31.10.1995, 657) und Brandenburg (Gesetz über den Vollzug der Abschiebungshaft außerhalb von Justizvollzugsanstalten – Abschiebungshaftvollzugsgesetz – vom 19.3.1996 – GVBl. 21.3.1996, 98). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) richtet sich zwar gem. § 138 Abs. 1 Satz 1 nach Landesrecht, soweit Bundesgesetze nichts anderes bestimmen. Für das gerichtliche Verfahren gelten die §§ 109 bis 121 entsprechend (§ 138 Abs. 3). 3 Die Normierung eines gerichtlichen Kontrollverfahrens für den Vollzug von Jugendstrafe, Jugendarrest sowie der Maßregeln der Unterbringung eines Jugendlichen im psy-
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chiatrischen Krankenhaus bzw. in einer Entziehungsanstalt fällt nicht in den Bereich der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Zuständig bleibt der Bund. Wie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 31.5.2006 konstatierte (BVerfGE 116, 88), genügte der Rechtsweg zu den Oberlandesgerichten nach §§ 23 ff EGGVG nicht den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes. Daher hat der Bundesgesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 13.12.2007 (BGBl. I 2007, 2894) in der Neufassung von § 92 JGG Normierungen zum gerichtlichen Rechtsschutz getroffen. Das Land Baden-Württemberg regelt zwar mit §§ 102 ff des Gesetzes über den Vollzug der Jugendstrafe in Baden-Württemberg vom 3.7.2007 (GBl. Nr. 11/2007, 298) den Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit Divergenzen zur bundesrechtlichen Regelung. Diese landesrechtlichen Vorschriften sind allerdings gegenstandslos, weil insoweit mittlerweile der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat. Der junge Inhaftierte bzw. Untergebrachte kann nach § 92 Abs. 1 Satz 1 JGG eine gerichtliche Entscheidung beantragen, wobei die §§ 109 und 111 bis 120 Abs. 1 StVollzG sowie § 67 Abs. 1 bis 3 und 5 JGG entsprechende Anwendung finden (§ 92 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. JGG). Die Einlegung des Rechtsbehelfs kann gem. § 91 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. JGG vom vorherigen Versuch einer gütlichen Streitbeilegung abhängig gemacht werden. Über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung befindet nach § 92 Abs. 2 Satz 1 JGG die Jugendkammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. Gem. § 92 Abs. 2 Satz 2 JGG gilt § 110 Satz 2 StVollzG entsprechend. Für länderübergreifende Einrichtungen können die beteiligten Länder vereinbaren, dass die Jugendkammer bei dem Landgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die für die Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat (§ 92 Abs. 2 Satz 3 JGG). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass diesem Spruchkörper eine besondere erzieherische Kompetenz zukommt. Wegen seiner Nähe zum Vollzug und der damit zusammenhängenden Befürchtung der Befangenheit aus Sicht der Inhaftierten wurde von einer Erteilung der Zuständigkeit an den Jugendrichter als Vollstreckungsleiter abgesehen (vgl. Diemer/ Schoreit/Sonnen 2008, § 92 JGG Rdn. 4). Die Jugendkammer entscheidet gem. § 92 Abs. 3 Satz 1 JGG über den Antrag durch Beschluss. Nach § 92 Abs. 3 Satz 2 JGG steht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Ermessen des Gerichts. Auf seinen Antrag hin muss der Jugendliche vor einer Entscheidung persönlich angehört werden; hierüber ist er auch zu belehren (§ 92 Abs. 3 Satz 3 und 4 JGG). Findet keine mündliche Verhandlung statt, erfolgt nach § 92 Abs. 3 Satz 5 JGG seine Anhörung regelmäßig in der Vollzugseinrichtung. Die Jugendkammer entscheidet in der Besetzung mit einem Richter (§ 92 Abs. 4 Satz 1 JGG; zur Möglichkeit der Übernahme der Sache durch die Kammer bei besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art bzw. grundsätzlicher Bedeutung s. § 92 Abs. 4 Satz 3 bis 6 JGG). Für die Kosten des Verfahrens gilt § 121 des Strafvollzugsgesetzes mit der Maßgabe, dass entsprechend § 74 JGG davon abgesehen werden kann, dem Jugendlichen Kosten und Auslagen aufzuerlegen (§ 92 Abs. 5 JGG). Da § 92 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. JGG nicht auf § 120 Abs. 2 StVollzG verweist, gelten nicht die Normen über die Gewährung von Prozesskostenhilfe (§§ 114 ff ZPO) entsprechend, sondern ist über § 120 Abs. 1 StVollzG die Regelung des § 140 Abs. 2 StPO anzuwenden. Es soll dadurch die Anwaltsbeiziehung nicht von der Erfolgsaussicht der Sache abhängen, sondern von der jugendgemäß zu beurteilenden Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (BT-Drucks. 16/6978, 6). Verbüßt der zu Jugendstrafe Verurteilte nach Herausnahme aus dem Jugendstrafvollzug gem. § 91 JGG diese in einer Justizvollzugsanstalt für den Vollzug der Freiheitsstrafe an Erwachsenen, richtet sich sein Rechtsschutz gem. § 92 Abs. 6 JGG nach den Vorschriften der §§ 109 bis 121. § 92 Abs. 1 bis 5 JGG finden dagegen keine Anwendung (§ 92 Abs. 6 Satz 1 JGG). § 92 Abs. 6 Satz 2 JGG stellt eine besondere Rechtswegeröffnung für den gerichtlichen Rechtsschutz dar. Der Inhaftierte kann sich an die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht (§ 110) wenden, wenn es sich
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bei der Beanstandung oder dem Begehren um eine ihn betreffende Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs oder um die Ablehnung oder das Unterlassen einer solchen Maßnahme handelt. Gleiches gilt im Vollzug der Maßregeln gem. § 60 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB, sobald der dem Jugendstrafrecht Unterfallende das 24. Lebensjahr vollendet hat. 4 Die so genannte Organisationshaft (vgl. § 1 Rdn. 3) ist Vollzug einer Freiheitsstrafe mit der Folge, dass auch insoweit die §§ 109 ff Anwendung finden (BVerfG StV 1997, 476, 477; OLG Zweibrücken StV 1997, 478, 479 mit Anm. Volckart; Arloth 2008 Rdn. 1b). Demgegenüber vertritt das OLG Hamm (NStZ 1998, 479) die Meinung, dass vor tatsächlichem Vollzugsbeginn zur Verbüßung einer Strafhaft oder zum Vollzug einer Maßregel die sachliche Zuständigkeit einer Strafvollstreckungskammer nicht eintritt. Der Rechtsweg gem. §§ 109 ff ist nicht gegeben im Bereich der Untersuchungshaft (§§ 119 Abs. 6, 126, 304 StPO bzw. §§ 23 ff EGGVG), einer Unterbringung gem. § 81 StPO oder einer Unterbringung aufgrund zivil- bzw. landesrechtlichen Regelungen. Bei der Auslieferungshaft besteht der Rechtsweg in der Anrufung des Vorsitzenden des Strafsenats gem. § 27 Abs. 3 IRG.
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2. a) Das Strafvollzugsgesetz hat an der Zuständigkeit der Zivilgerichte für öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche nichts geändert. Derartige Ansprüche sind durch §§ 13 GVG, 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO den ordentlichen Gerichten zugewiesen und zwar den Zivilgerichten (OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 73). Das betrifft vor allem Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzungen (Art. 34 GG, § 839 BGB) oder andere Fälle der Staatshaftung. Rechnet die Justizvollzugsanstalt mit einem zivilrechtlichen Anspruch gegen das Hausgeld eines Gefangenen auf, so ist zwar der Rechtsweg nach § 109 gegeben; die Strafvollstreckungskammer ist jedoch nicht berechtigt, über die gegen den Gefangenen geltend gemachte zivilrechtliche Forderung mitzuentscheiden. Sie muss insoweit das Verfahren nach § 120 Abs. 1, § 262 Abs. 2 StPO aussetzen und dem Anstaltsleiter eine Frist zur Geltendmachung des Anspruchs vor dem Zivilgericht setzen (KG NStZ-RR 2003, 317, 318). Eine rechtskräftige Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer über die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit einer Maßnahme auf dem Gebiet des Strafvollzugs führt zu einer Bindung des Zivilgerichts im Amtshaftungsprozess. 6 Der Zivilrechtsweg bleibt bei der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche bestehen, selbst wenn diese im Zusammenhang mit dem Strafvollzug stehen. So sind für einen Anspruch auf Schadensersatz, der einem Gefangenen dadurch entstanden sein könnte, dass er von der Arbeit abgelöst wurde und der Schaden darin zu sehen wäre, dass er infolge der Ablösung nicht das Arbeitsentgelt erhalten hat, das ihm ohne das schädigende Ereignis zu zahlen gewesen wäre, die Zivilgerichte zuständig (OLG Frankfurt 12.11.1979 – 3 Ws 877/79 (StVollz)). Für Ansprüche der Vollzugsbehörden gegen Gefangene aus unerlaubter Handlung (§§ 823 ff BGB) ist ebenfalls der Zivilrechtsweg eröffnet (§ 93 Rdn. 2 und 6). Die Anlage des Überbrückungsgeldes ist keine vollzugsregelnde Maßnahme (OLG Celle ZfStrVo 1988, 251). Der Rechtsweg nach §§ 109 ff ist auch nicht zulässig bei Streitigkeiten über die Gewährung von Verletztengeld. Strafgefangene sind bei Arbeitsunfällen nach § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB VII versichert. Die Entscheidung, ob ein Arbeitsunfall vorliegt und ein Anspruch auf Verletztengeld besteht, obliegt dem Versicherungsträger. Der Vollzugsbehörde kommt insoweit keine eigene Entscheidungsbefugnis zu (OLG Jena ZfStrVo 2000, 379 B). Gerichtlicher Rechtsschutz kann bei den Sozialgerichten beantragt werden (Arloth 2008 Rdn. 2).
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b) Für Streitigkeiten aus dem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis zwischen der Vollzugsbehörde und einem Strafgefangenen ist der Rechtsweg vor dem Arbeitsgericht nicht gegeben, da insoweit keine bürgerlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen der Vollzugsbehörde und dem Inhaftierten begründet werden (§ 37 Rdn. 29). Die Arbeits-
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gerichte sind auch nicht zuständig für Rechtsstreitigkeiten in einem Berufsausbildungsverhältnis, das auf der Basis der öffentlich-rechtlichen Beziehungen besteht, in denen der Inhaftierte zum Staat steht (§ 37 Abs. 3). Anders ist dies bei Arbeitstätigkeit oder Berufsausbildung bzw. beruflicher Weiterbildung in einem freien Beschäftigungsverhältnis (LAG Hamm NStZ 1991, 455). Vgl. auch § 39 Rdn. 3. c) Für Maßnahmen auf dem Gebiet der Strafvollstreckung ist der subsidiäre Rechtsweg 8 nach §§ 23 ff EGGVG eröffnet (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1999, 111), soweit nicht speziellere Rechtsbehelfe gesetzlich normiert sind (§§ 458, 459h, 462a StPO). Die Zurückweisung eines Antrags auf Strafunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit durch die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde ist rechtlich die Anordnung einer Justizbehörde zur Regelung einer Angelegenheit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege; die Entscheidung ist nach den §§ 23 ff EGGVG und nicht gem. §§ 109 ff StVollzG gerichtlich überprüfbar, da Letztere sich ausschließlich auf Entscheidungen von Vollzugsbehörden beziehen (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1978, 68). Beanstandet ein Verurteilter, dass entgegen § 67 Abs. 1 StGB die Freiheitsstrafe vor der Maßregel vollzogen wird, so wendet er sich nicht gegen eine Einzelmaßnahme auf dem Gebiet des Strafvollzugs, sondern gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung (§ 458 Abs. 1 StPO; OLG Düsseldorf NStZ 1981, 366). Einweisungsentscheidungen der Strafvollstreckungsbehörden nach dem Vollstreckungsplan sind keine Vollzugsmaßnahmen (OLG Celle ZfStrVo 1986, 64; OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 253; NStZ 2007, 173). In dem vollstreckungsrechtlichen Verfahren nach § 57 StGB, § 454 StPO kann nicht durch das Gericht nachgeprüft werden, ob einem Verurteilten Vollzugslockerungen zu Unrecht abgelehnt wurden. Dies folgt aus dem Verbot, in das Beurteilungsermessen der Vollzugsbehörde einzugreifen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 62, 63). Siehe jedoch: Einem Verurteilten, der eine Ladung zum offenen Vollzug erhalten hat, droht eine Rechtsverletzung, die er nach § 109 angreifen kann, wenn in der Justizvollzugsanstalt, in der er seine Strafe antreten soll, keine Einzelhafträume zur Verfügung stehen (KG NStZ-RR 2003, 125, 126). Gegen die ablehnende Entscheidung der Justizverwaltung des Bundeslandes, in das ein in einem anderen Bundesland inhaftierter Strafgefangener verlegt werden will, ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG eröffnet (BGH NStZ-RR 2002, 26; OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 253; OLG Hamm ZfStrVo 2002, 315; OLG Schleswig NStZ-RR 2007, 324; NStZ-RR 2008, 126; OLG Stuttgart NStZ 1997, 103; KG NStZ-RR 2007, 124; vgl. auch § 8 Rdn. 13; a. A. Arloth 2008 § 153 Rdn. 7). Das soll zudem für die Negativentscheidung desjenigen Bundeslandes gelten, in dessen Vollzug sich der Betroffene befindet (OLG Schleswig, NStZ-RR 2008, 126; a. A. KG StV 2007, 203). Gegen die eine Verlegung innerhalb desselben Bundeslandes ablehnende Entscheidung der Heimatanstalt ist jedoch der Rechtsweg gem. §§ 109 ff eröffnet. d) Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat in einem Beschluss vom 13.9.1977 (VRs IX 9 151/77) den Verwaltungsrechtsweg für zulässig erklärt, als ein Gefangener die Vornahme bestimmter baulicher Maßnahmen im Vollzugskrankenhaus anstrebte (undichte Decke im Duschbad bzw. Kondenswasserbildung an der Decke). Das Verwaltungsgericht vertrat die Auffassung, dass es sich im konkreten Fall nicht um Maßnahmen auf dem Gebiet des „reinen“ Strafvollzugs handele, sondern um Amtshandlungen auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts. In diesem Zusammenhang wäre jedoch zu prüfen gewesen, ob eine Maßnahme der Vollzugsbehörde vorliegt, die auf § 144 gegründet ist und dann noch im Verfahren nach §§ 109 ff anfechtbar wäre (s. auch OLG Zweibrücken NStZ 1982, 221; OVG Hamburg NJW 1993, 1153). Die Frage der Unterbringung eines Gefangenen in einem Haftraum, der nicht den Anforderungen der Menschenwürde entspricht, ist Regelungsgegenstand des § 144 (BVerfG ZfStrVo 2002, 176, 178). Ebenso ist die Regelung von Heizbedingungen und Raum-
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temperaturen in den Hafträumen eine Maßnahme nach § 109 (OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 313). Zur Entscheidung über den Antrag, die Hafträume der Anstalt mit Vorhängen auszustatten oder die Fassadenbeleuchtung umzubauen, ist die Strafvollstreckungskammer und nicht das Verwaltungsgericht zuständig (OLG Nürnberg 11.6.2001 – Ws 521/01). Für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Auskunft der Vollzugsbehörde über Maßnahmen zur Beschränkung des Postverkehrs von Gefangenen steht einem Dritten der Verwaltungsrechtsweg offen (VGH Mannheim NJW 1997, 1866). Die Erlaubnis zu Filmaufnahmen (Drehgenehmigung) durch den Anstaltsleiter ist keine Vollzugsmaßnahme, denn sie resultiert nicht aus den Rechtsbeziehungen, die sich zwischen Staat und Inhaftiertem aufgrund des jeweiligen Strafvollzugsgesetzes ergeben (OLG Koblenz NStZ 1994, 380, 381 B). Ebenso ist für die Klage eines Gefangenen gegen den Einlass von Besuchergruppen (vgl. auch Rdn. 6 zu § 24) zu Anstaltsbesichtigungen der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die Entscheidung über den Einlass von Besuchern ist im Hausrecht des Behördenleiters begründet (VG Karlsruhe NStZ 2000, 467). Für eine Klage, mit der ein Gefangener den Widerruf bzw. die Unterlassung von bestimmten Behauptungen der Anstaltsleitung in vollzugsbehördlichen Verfügungen begehrt, ist der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet, sondern der Rechtsweg nach § 109 (VGH Mannheim Justiz 2004, 219). Bei Anträgen von Gefangenen kommt in jedem Fall im Verfahren nach §§ 109 ff eine besondere Fürsorgepflicht zum Tragen. So muss die Strafvollstreckungskammer bei Verneinung ihrer Zuständigkeit den Rechtsstreit von Amts wegen gem. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs verweisen (OLG Saarbrücken NJW 1994, 1425; OLG Hamm ZfStrVo 2002, 378). Ein solcher Beschluss ist nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG für das Gericht, an welches die Sache verwiesen wurde, bindend.
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3. a) Der Rechtsweg nach §§ 109 ff ist nur gegen Maßnahmen auf dem Gebiete des Strafvollzugs gegeben (§ 109 Abs. 1 Satz 1). Es muss sich deshalb um Maßnahmen einer Vollzugsbehörde handeln, die in das Rechtsverhältnis zwischen einem Gefangenen und dem Staat eingreifen, das sich auf der Grundlage des jeweiligen Strafvollzugsgesetzes ergibt (Laubenthal 2008 Rdn. 764). So sind auch Streitigkeiten über das Recht eines Gefangenen, für ihn verwahrte Sachen abzusenden, in dem Verfahren nach § 109 überprüfbar (OLG Brandenburg NJW 2001, 3351, 3352). Dies gilt ferner etwa für gerichtliche Anträge im Zusammenhang mit Entscheidungen bei Fragen des Datenschutzes (Vor § 179 Rdn. 5). Insoweit enthält § 187 Satz 2 eine Ausnahme, wonach die Landesdatenschutzgesetze im Hinblick auf die Schadensersatz-, Straf- und Bußgeldvorschriften sowie für die Kontrolle der Landesbeauftragten für den Datenschutz unberührt bleiben (§ 187 Rdn. 23 ff; so auch Arloth 2008 Rdn. 3). Auch Maßnahmen der Vollzugsbehörden gegenüber Außenstehenden können solche i.S.d. § 109 Abs. 1 Satz 1 sein. So ist die Anfechtung der Nichteinstellung als Praktikant nach §§ 109 ff statthaft (KG 23.2.1979 – 2 Ws 386/78 (Vollz)); ebenso die Anfechtung der Nichtzulassung oder des Widerrufs der Zulassung als ehrenamtlicher Vollzugshelfer (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 377; OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 191; für Beiratsmitglieder OLG Stuttgart NStZ 1986, 382 mit Anm. Dertinger). Die Verweigerung der Auskunft über den Aufenthalt eines Strafgefangenen in einer Justizvollzugsanstalt ist im Verfahren nach §§ 109 ff anfechtbar (KG GA 1985, 271). Die Ablehnung eines Interviews mit einem Strafgefangenen gehört ebenso zu den Maßnahmen nach § 109 (BGHSt 27, 285). Der Streit über die Berechtigung der Vollzugsbehörde, Dritten Einsicht in die Gefangenenpersonalakten zu gewähren, zählt auch dann zur Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, wenn sich der Gefangene nicht mehr in Strafhaft befindet (OVG Rheinland-Pfalz NStZ 1986, 333). Die Kontaktaufnahme der Vollzugsbehörde zu außenstehenden Firmen zur Kontrolle der Bezahlung
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einer Warenlieferung durch einen Gefangenen stellt als Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht eine Maßnahme i. S. von § 109 dar (OLG Hamm NStZ 1988, 525); zur Anfechtungsbefugnis Außenstehender Rdn. 26. b) aa) Für die Frage, welche Maßnahme einer Vollzugsbehörde nach §§ 109 ff anfecht- 11 bar ist, kommt es darauf an, ob sie zur Regelung einer einzelnen Angelegenheit, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist, getroffen wurde bzw. getroffen werden soll (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251). Der Begriff der Maßnahme knüpft insoweit an die Definition des Verwaltungsaktes an, wie sie § 35 Abs. 1 VwVfG vorsieht (C/MD 2008 Rdn. 11, 12; Arloth 2008 Rdn. 6; Laubenthal 2008, 769; Schuler 1988, 259). Mit dem Begriff Maßnahme wird auch klargestellt, dass keine hohen formalen Anforderungen zu stellen sind (Böhm 2003 Rdn. 366). Durch die vollzugliche Maßnahme müssen die Lebensverhältnisse des Gefangenen in irgendeiner Weise mit – zumindest auch – rechtlicher Wirkung gestaltet werden (KG NStZ 1993, 304). Eine Maßnahme i. S. der §§ 109 ff hat daher erst dann Regelungscharakter, wenn dadurch subjektive Rechte des Betroffenen begründet, geändert, aufgehoben bzw. verbindlich festgestellt werden oder die Begründung, Änderung, Aufhebung bzw. Feststellung solcher Rechte verbindlich abgelehnt wird (OLG Stuttgart ZfStrVo 1997, 54). Derartige Maßnahmen, die in die Rechtsposition eines Gefangenen eingreifen, vermag nicht nur der Leiter einer Justizvollzugsanstalt zu setzen. Nach § 156 Abs. 2 wird die Anstalt zwar nach außen nur von dem Anstaltsleiter vertreten; er trägt auch die Verantwortung für den gesamten Vollzug. In Teilbereichen kann diese Verantwortung anderen Vollzugsbediensteten obliegen, wenn ihnen, wie es § 156 Abs. 2 Satz 2 vorsieht, bestimmte Aufgabenbereiche zur verantwortlichen Erledigung zugewiesen sind. Soweit die Vollzugsbediensteten bei der Erledigung ihrer Aufgaben den Rechtskreis eines Gefangenen tangieren, setzen sie kraft der ihnen übertragenen Aufgaben (§ 155 Abs. 1) Vollzugsverwaltungsakte, die der rechtlichen Überprüfung unterliegen (OLG Zweibrücken 18.12.1980 – 1 Vollz (Ws) 61/80; LG Regensburg ZfStrVo 1981, 312; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 41; OLG Hamm NStZ 1982, 220; ZfStrVo 1982, 187; Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 18; AKKamann/Volckart 2006 Rdn. 8, 9 und Böhm 2003 Rdn. 367; K/S-Schöch 2002 § 9 Rdn. 23; Diepenbruck 1982, 133 ff; LG Krefeld NStZ 1984, 576; OLG Frankfurt NStZ 1994, 381 B; LG Hamburg NStZ 1992, 303; § 156 Rdn. 10). Ein Vollzugsbediensteter setzt dann keinen Verwaltungsakt, wenn er lediglich Anordnungen seiner Vorgesetzten ausführt oder aus solchen Anordnungen Folgen zieht (z. B. § 97). Die Möglichkeit der Anfechtung der Anordnung bleibt hiervon unberührt. Ob ein Bediensteter befugt ist, eigene Anordnungen zu treffen, bleibt für die Frage der Existenz einer vollzuglichen Maßnahme i. S. d. § 109 Abs. 1 Satz 1 ohne Bedeutung, sondern betrifft deren Rechtmäßigkeit (Arloth 2008 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 769). Der Gefangene kann deshalb auch gegen solche Maßnahmen, die in seinen Rechtskreis eingreifen, ohne vorherige Anrufung des Anstaltsleiters einen Antrag gem. § 109 stellen (OLG Zweibrücken NStZ 1990, 512 und ZfStrVo 1994, 52; Eschke 1993, 120 ff). Nach der Auffassung des BVerfG verstößt es gegen das Willkürverbot, wenn die Strafvollstreckungskammer der Entscheidung eines intern nicht befugten Beamten der Vollzugsanstalt den Charakter einer vollzuglichen Maßnahme abspricht, denn der durch eine Verfahrensordnung bestimmte Zugang zu den Gerichten darf nicht in unzumutbarer und aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfG NStZ 1990, 557; ZfStrVo 1999, 514; a. A. Grunau/Tiesler Rdn. 3, wonach ein Gefangener sich bei Maßnahmen von Vollzugsbediensteten zunächst an den Anstaltsleiter zu wenden habe und erst dessen Entscheidung nach § 109 anfechtbar sein soll; s. auch OLG Hamm NStZ 1989, 592). Von der Frage, wer eine Vollzugsmaßnahme erlassen kann, ist zu unterscheiden, wer Antragsgegner in dem gerichtlichen Verfahren ist. Dies ist regelmäßig die Justizvollzugsanstalt, vertreten
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durch den Anstaltsleiter. Handlungen der Vollzugsbehörde als Verfahrensbeteiligte innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens vor der Strafvollstreckungskammer sind keine selbständig nach § 109 anfechtbaren Maßnahmen (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 111, 114). Zur Beteiligung am gerichtlichen Verfahren § 111 Rdn. 2.
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bb) Die Maßnahme muss zur Regelung einzelner Angelegenheiten getroffen worden sein (Abs. 1 Satz 1). Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung muss sich gegen eine den Gefangenen betreffende und beschwerende konkrete Einzelmaßnahme einer Vollzugsbehörde richten. Regelungen allgemeiner Art können nicht Gegenstand der Überprüfung im vollzuglichen Gerichtsverfahren sein. Der Vollzugsplan (§ 7) stellt eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten i. S. von § 109 dar (C/MD 2008 § 7 Rdn. 2; AK-Feest/ Joester 2006 § 7 Rdn. 33; Laubenthal 2008 Rdn. 327; einschränkend dagegen KG ZfStrVo 1984, 370; OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 58, 114 sowie 1990, 116 und 1992, 321; OLG Saarbrücken ZfStrVo 2004, 119; Arloth 2008 Rdn. 9; K/S-Schöch 2002 § 9 Rdn. 25). Gerichtlich anfechtbar sind einzelne im Vollzugsplan vorgesehene Behandlungskriterien (OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 308; KG ZfStrVo 1984, 370; OLG Koblenz NStZ 1986, 92; OLG Karlsruhe StV 2007, 200), soweit sie Regelungcharakter mit unmittelbarer Rechtswirkung haben (OLG Frankfurt NStZ 1995, 520; OLG Hamburg StraFo 2007, 390). Als eine Maßnahme i. S. d. § 109, d. h. ein behördliches Handeln zur Regelung eines Einzelfalls mit unmittelbarer Rechtswirkung, zu qualifizieren ist aber auch die Aufstellung des Vollzugsplans als solche (BVerfG StV 1994, 95; NStZ-RR 2008, 60 f; OLG Hamburg StraFo 2007, 390). Der Betroffene kann deshalb auch den Vollzugsplan insgesamt angreifen (BVerfG NStZ 2003, 620; a. A. OLG Koblenz ZfStrVo 1990, 116; Arloth 2008 § 7 Rdn. 13). Das BVerfG hat klargestellt, dass bei der Bedeutung des Vollzugsplans für das Erreichen des Vollzugsziels die Gerichte den Bestimmungen des § 109 nicht im Wege der Auslegung einen Inhalt beimessen dürfen, bei dem ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nur zur Überprüfung einzelner Planmaßnahmen, nicht aber auch zur Überprüfung der Rechtsfehlerfreiheit des Aufstellungsverfahrens oder des inhaltlichen Gestaltungsermessens gestellt werden könnte. Der Vollzugsplan muss wegen seiner zentralen Bedeutung gerichtlich daraufhin kontrollierbar sein, ob die Rechtsvorschriften für das Aufstellungsverfahren beachtet wurden und das inhaltliche Gestaltungsermessen der Behörde rechtsfehlerfrei ausgeübt worden ist (BVerfG NStZ 1993, 301; ZfStrVo 2003, 183; NStZ-RR 2008, 60; Arloth 2008 § 7 Rdn. 13: nur „Sonderfall“). Die Einordnung eines Gefangenen in eine bestimmte Kategorie von Straftätern (hier: OK-Vermerk in den Gefangenenpersonalakten) nimmt den Regelungscharakter einer Maßnahme an, wenn sie von sich aus Wirkungen entfaltet und die Rechtsstellung des Betroffenen berührt (KG StV 1998, 208). Dagegen ist die „Umklassifizierung“ eines Strafgefangenen als kriminell gefährdet keine anfechtbare Vollzugsmaßnahme und kann demnach nicht Gegenstand eines Vornahmeantrages sein, da es sich insoweit lediglich um eine vorgezogene Erklärung mit Selbstbindungswirkung handelt (OLG Hamm NStZ 1990, 151). Die abstrakte gerichtliche Prüfung der Bedeutung und Wirksamkeit von Verwaltungsvorschriften, die zu den Normen der Strafvollzugsgesetze ergangen sind, ist nach § 109 nicht zulässig (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 47). Zu deren Rechtsnatur § 115 Rdn. 23. Zu einer Überprüfung kommt es dann, sobald eine Einzelmaßnahme auf Verwaltungsvorschriften gestützt wird und die konkrete Maßnahme nach § 109 Gegenstand eines vollzugsgerichtlichen Verfahrens darstellt (Inzidentkontrolle K/S-Schöch 2002 § 9 Rdn. 27; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251). Bei der Anordnung, z. B. das Essen zu einer anderen als der üblichen Zeit auszugeben, handelt es sich um eine Maßnahme zur Regelung einer einzelnen Angelegenheit. Eine solche Maßnahme muss sich nicht an einen einzelnen Betroffenen wenden, sie kann auch an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten Personenkreis gerichtet sein. Der Unter-
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schied zu einer abstrakten Regelung liegt in diesem Fall darin, dass diese Anordnung selbst unmittelbare Auswirkungen auf jeden einzelnen Gefangenen hat (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 22; vgl. auch OLG Nürnberg NStZ 1982, 526). Die allgemeine Anordnung eines Anstaltsleiters, jeden in die Anstalt zurückkehrenden Gefangenen zu durchsuchen, ist einer unmittelbaren gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglich. Der Gefangene kann jedoch bei Gericht beantragen, dass die allgemeine Anordnung auf ihn nicht angewendet wird (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 119). Eine Haus- oder Rundverfügung kann gerichtlich nach § 109 Abs. 1 angefochten werden, wenn sie entsprechend einem in Gestalt einer Allgemeinverfügung ergangenen Verwaltungsakt (§ 35 Abs. 1 Satz 2 VwVfG) in Bezug auf einen Gefangenen die Regelung des Einzelfalles enthält (KG ZfStrVo 1980, 188). Wird eine Allgemeinverfügung durch eine neue abgelöst, die im Vergleich zu der früheren Verfügung drastische Einschränkungen enthält, so ist eine Anfechtung nach § 109 zulässig, wenn sie bereits ohne das Hinzutreten eines umsetzenden Einzelaktes verbindlich ist und unmittelbar freiheitsbeschränkend rechtliche Wirkung entfaltet (OLG Frankfurt NStZ 2001, 669, 670, 671 mit Anm. Münster/Schneider). Zur Anfechtung einer Allgemeinverfügung OLG Celle ZfStrVo 1990, 307. Die Anfechtung einer Hausordnung generell kann im Verfahren nach §§ 109 ff nicht verfolgt werden (LG Lüneburg LS ZfStrVo SH 1979, 95; OLG Hamm NStZ 1985, 354 F; KG NStZ 1997, 429 M; Arloth 2008 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 14). Eine anfechtbare Maßnahme liegt erst dann vor, wenn die Hausordnung im Einzelfall auf den Gefangenen angewandt wird. Zur Rechtsnatur der Hausordnung § 161 Rdn. 2, 4. Beruht der ablehnende Bescheid eines Anstaltsleiters auf einer allgemeinen Anordnung der Aufsichtsbehörde, verliert er dadurch nicht den Charakter einer Einzelfallregelung mit unmittelbarer Rechtswirkung für den betroffenen Gefangenen (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1978, 28). cc) Bei der Verhängung von Arrest ist nicht nur die Anordnung der Disziplinarmaß- 13 nahme als solche, sondern auch die Art und Weise ihres Vollzugs eine nach §§ 109 ff anfechtbare Maßnahme. Der Gefangene kann möglicherweise in seinen Rechten verletzt sein, wenn nach seiner Behauptung die gesetzlichen Mindestanforderungen (§§ 144 Abs. 1 Satz 2, 104 Abs. 5) nicht eingehalten sein sollten. Andernfalls müsste insoweit im Rahmen eines Verfahrens nach §§ 109 ff, wenn die Anordnung der Disziplinarmaßnahme wegen eines Pflichtverstoßes des Gefangenen gerechtfertigt wäre, die Art der Unterbringung des Gefangenen im Arrest selbst in den denkbar krassesten Fällen unberücksichtigt bleiben (OLG Nürnberg NStZ 1981, 200; s. auch Rdn. 5 zu § 104). Eine Verwarnung i.S. von § 102 Abs. 2 kann als förmliche Missbilligung eines Verhaltens 14 und Pflichtermahnung für den Gefangenen im Einzelfall nachteilige Folgen haben; die Verwarnung stellt daher i. d. R. eine nach §§ 109 ff überprüfbare Vollzugsmaßnahme dar (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1978, 40; s. auch Rdn. 10 zu § 102). Entscheidungen der Vollzugsbehörde über Geldmittel eines Gefangenen sind grund- 15 sätzlich vollzugsregelnde Verfügungen (OLG Hamm NStZ 1988, 479, 480; OLG Koblenz NStZ 1988, 431 = BlStV 2/1989, 5; Arloth 2008 Rdn. 3). Die Verfügung, mit der aufgrund einer Aufrechnung die Einbehaltung von Hausgeld angeordnet wurde, stellt eine im Verfahren nach §§ 109 ff nachprüfbare Vollzugsmaßnahme dar. Bei dieser Anordnung wird die Verfügungsmöglichkeit des Gefangenen über das Hausgeld berührt. Die das Hausgeld betreffenden Beziehungen zwischen der Vollzugsbehörde und dem Gefangenen sind öffentlich-rechtlicher Natur und erwachsen aus dem strafvollzugsgesetzlich geregelten Beschäftigungsverhältnis des Gefangenen (OLG Hamm ZfStrVo 1981, 249; OLG Stuttgart ZfStrVo 1986, 186; OLG Dresden NStZ 1999, 447 M). Das Gleiche gilt für zu Unrecht vorgenommene Überweisungen vom Hausgeldkonto (OLG Celle ZfStrVo 1980, 253; LG Regensburg ZfStrVo 1981, 312; s. auch Rdn. 8 zu § 93). Die Überweisung an Gläubiger vom Eigen-
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geldkonto, das aus Arbeitsentgelt stammt, ist eine belastende Vollzugsmaßnahme i. S. von § 109 (OLG Frankfurt NStZ 1994, 380 B; OLG Hamburg ZfStrVo 1996, 182; KG ZfStrVo 2003, 302). Die Drittschuldnererklärung der Zahlstelle einer Vollzugsanstalt stellt dagegen keine Maßnahme i. S. von § 109 dar (OLG Zweibrücken NStZ 1992, 101). Bei der Ausführung von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen durch die Vollzugsanstalt wird ebenfalls keine Vollzugsmaßnahme getroffen. Einwendungen sind daher bei dem Vollstreckungsgericht (§ 766 ZPO) zu erheben (C/MD 2008 Rdn. 9; Laubenthal 2008 Rdn. 767; OLG Hamm NStZ 1988, 479, 480; OLG Nürnberg NStZ 1996, 378 B; OLG Jena ZfStrVo 2005, 184). Rechnet die Landesjustizkasse mit Kosten gegen den Eigengeldanspruch eines Strafgefangenen auf, so ist für Einwendungen gegen diese Aufrechnung das Amtsgericht – Zivilgericht – am Sitz der Landesjustizkasse zuständig (OLG Nürnberg ZfStrVo 1999, 302). Mit Inkrafttreten von § 50 nach Art. 11 ERJuKOG findet für Maßnahmen, die aufgrund dieser Vorschrift ergehen, das gerichtliche Verfahren nach §§ 109–121 entsprechende Anwendung (§ 50 Abs. 5 Satz 2). 16 Keine Vollzugsverwaltungsakte sind bloße Meinungsäußerungen, da sie keine sachliche Regelung darstellen. Stellungnahmen oder Mitteilungen (z. B. Stellungnahmen in Gnadenverfahren oder zur Aussetzung des Strafrestes) enthalten von der Sache her nur die Wiedergabe von Beobachtungen und Einschätzungen der Vollzugsbehörde, die der Würdigung sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht durch die letztlich entscheidende Stelle (Gericht, Gnadenbehörde) unterliegen. Bei derartigen Wissenserklärungen liegt die Verwertung beim Erklärungsempfänger (Meyer-Goßner § 23 EGGVG Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 12; OLG Hamm ZfStrVo 1979, 252; NStZ 1997, 428 M). Ebenso ist die Festsetzung des voraussichtlichen Entlassungszeitpunktes im Vollzugsplan nicht anfechtbar (KG NStZ 1997, 207; OLG Frankfurt NStZ 1996, 358 mit Anm. Walter/Dörlemann). Von der Mitteilung und der Verwertung von Kenntnissen, die bei der Überwachung von Besuchen oder des Schriftwechsels gewonnen werden, gehen demgegenüber unmittelbare Rechtswirkungen aus (§ 180 Abs. 8; vgl. § 180 Rdn. 44–47). 17 Keine Verwaltungsakte sind mangels Fehlens einer Regelung, d. h. eines gestaltenden Eingreifens: Belehrungen, Hinweise auf Vorschriften, Ratschläge oder Warnungen. Aktenvermerke können nicht angefochten werden, wenn sie keine weiteren Nachteile für den Betroffenen mit sich bringen (KG NStZ 1993, 304). Anders stellt sich dies aber dar, wenn sie ein weiteres rechtsbeeinträchtigendes Handeln der Vollzugsbehörde nach sich ziehen und damit die Rechtsstellung des Inhaftierten berühren (OLG Nürnberg NStZ 1993, 425; KG ZfStrVo 1990, 377). 18 Ein Realakt, der auf die Lebensverhältnisse eines Betroffenen gestaltend einwirkt (z. B. Durchsuchung des Haftraumes, Verlegung in einen anderen Haftraum, Doppelbelegung eines Haftraumes), kann eine anfechtbare Maßnahme i.S. von § 109 sein (LG Kassel ZfStrVo 2001, 119; OLG Celle NStZ 1981, 249; Dörr 1984, 2258; OLG Hamm NStZ 1989, 592). Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein behördlicher Akt als eine Maßnahme mit Regelungswirkung angesehen werden kann, ist im Zweifel nicht das, was die Behörde gedacht hat, sondern wie der Betroffene unter Berücksichtigung aller ihm bekannten oder erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben bei objektiver Auslegung die Erklärung oder das Verhalten der Behörde verstehen durfte bzw. musste. Anrede mit „Sie“ (OLG Hamm MDR 1969, 600). Bei einem Realakt als einem tatsächlichen Handeln, das eigentlich nicht aufgehoben werden kann, kommt unter Umständen ein Feststellungs- oder Unterlassungsantrag in Betracht, besonders dann, wenn dessen Wiederholung zu befürchten ist, da sich ein Gefangener anders gegen die drohende Maßnahme nicht zu wehren vermag (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 31; Arloth 2008 Rdn. 6).
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Vollzugsmaßnahmen können unter Umständen auch in einem konkludenten Verhal- 19 ten liegen, z. B. Ausstellen einer Bescheinigung, Erteilung einer Auskunft. Dies wird nur dann der Fall sein, wenn unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird, dass eine verbindliche Regelung gewollt ist (Kopp/Schenke 2007 Anh. § 42 Rdn. 39). Ebenso kann eine wertende Äußerung (z. B. Einordnung in eine bestimmte Gefangenen-Kategorie) neben einer Wissenserklärung auch eine regelnde Maßnahme i. S. von § 109 darstellen (OLG Celle NStZ 1981, 249; s. jedoch OLG Hamm NStZ 1990, 151). Für einen Antrag auf Widerruf von bestimmten Behauptungen der Anstaltsleitung in vollzugsbehördlichen Verfügungen ist der Rechtsweg nach § 109 gegeben (VGH Mannheim Justiz 2004, 218, 219). Bloßes Stillschweigen ist keine vollzugliche Maßnahme, es sei denn, es liegen im Einzelfall besondere Umstände vor, die zweifelsfrei für das Gegenteil sprechen. Behördeninterne Vorgänge sind im Allgemeinen nicht nach §§ 109 ff anfechtbar, da 20 sie noch keine Regelungswirkung entfalten; erst ihre Umsetzung (ihr Vollzug) gegen einen Betroffenen macht diese zu einer anfechtbaren Maßnahme. Eine gerichtliche Prüfung verwaltungsinterner Vorgänge kann jedoch dann verlangt werden, wenn die Behörde sie dazu verwendet, einen Einzelfall zu regeln (BVerwGE 11, 181; Beschorner 1986, 361 ff). Eine interne Verfügung über die einen Gefangenen betreffende Sicherungsmaßnahme ist eine Maßnahme i. S. von § 109 mit Außenwirkung (KG ZfStrVo 2002, 247; s. auch Rdn. 12). Beachte auch § 110 Rdn. 5. Eine mehrstufige Vollzugsmaßnahme liegt dann vor, wenn die Entscheidung einer Vollzugsbehörde zuvor die Zustimmung einer anderen Behörde erforderlich macht (Verlegung, Überstellung in eine andere Vollzugseinrichtung). Verweigert die JVA, in die der Gefangene verlegt werden soll, ihre Zustimmung oder lehnt die Aufsichtsbehörde die Abweichung vom Vollstreckungsplan ab, so erlässt die Anstalt, in der der Gefangene einsitzt, den ablehnenden Bescheid, da bei ihr das Begehren eingegangen ist. Gegenüber dem Gefangenen ergeht eine einheitliche Vollzugsmaßnahme unter Einschluss der Ablehnung der beteiligten Behörden. Daher kann er nur diese anfechten. Die Verweigerung der Zustimmung der Anstalt, in die der Gefangene verlegt werden sollte, kann nicht isoliert angefochten werden. Die Verweigerung der Zustimmung ist ein Verwaltungsinternum innerhalb des mehrstufigen Verwaltungsaktes und keine selbständig anfechtbare Vollzugsmaßnahme. Rechtsschutz gegen die Versagung einer derartigen Zustimmungserklärung wird dadurch gewährt, dass die Rechtmäßigkeit der Verweigerung bei einem Antrag auf gerichtliche Überprüfung gegen die Entscheidung der Behörde, die den ablehnenden Bescheid erlassen hat, mitgeprüft wird (BVerwGE 26, 31, 40; OLG Hamm JR 1997, 83 mit Anm. Böhm; BGH NStZ 1996, 207; Laubenthal 2008 Rdn. 771). Um eine anfechtbare Maßnahme handelt es sich jedoch dann, wenn die Entscheidung der zur Mitwirkung berufenen Behörde als selbständige Vollzugsmaßnahme dem Gefangenen eröffnet wird, selbst wenn die Bekanntgabe zusammen mit der „Haupt“-Maßnahme erfolgt (BVerwGE 26, 31; BGH NStZ 1996, 207). Auch ärztliches Handeln kann ggf. die Rechte eines Gefangenen verletzen. Ein Antrag 21 auf gerichtliche Entscheidung ist nicht schon deshalb unzulässig, weil er auf die Vornahme bestimmter ärztlicher Maßnahmen gerichtet ist. Anordnungen des Anstaltsarztes gelten als Maßnahme der Vollzugsbehörde, wenn sie sich als Zwangsanordnung auswirken und dem Gefangenen eine begehrte ärztliche Versorgung verweigern. Ob und welche Behandlung und Medikation erforderlich ist, um eine Krankheit zu behandeln, ist i. d. R. von dem behandelnden Arzt nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt eine derartige ärztliche Entscheidung dann, wenn erkennbar ist, dass der Anstaltsarzt die Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens überschritten hat. Setzt sich z. B. ein Anstaltsarzt, der Arzt für Allgemeinmedizin ist, in Widerspruch zu dem Gutachten eines Facharztes, der für den fraglichen Behandlungsfall besondere Kompetenz besitzt, so
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kann es in Grenzfällen durchaus sein, dass der Anstaltsarzt die Grenzen pflichtgemäßen ärztlichen Handelns und damit die Rechte eines Gefangenen verletzt. Das ärztliche Ermessen darf aber nicht durch das Gericht ersetzt werden (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 382; LG Regensburg ZfStrVo SH 1977, 29; AK-Kamann/Volckart 2006 § 115 Rdn. 69). Maßnahmen der Vollzugsbehörden (ablehnende Entscheidungen) und ihre Begründung müssen dem Betroffenen nicht schriftlich bekannt gemacht werden; die mündliche Eröffnung genügt (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 62; § 108 Rdn. 9; siehe jedoch § 112 Rdn. 2).
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4. Der Antrag nach § 109 kann das Ziel haben (Antragsarten), die angefochtene belastende Maßnahme aufzuheben (§ 109 Abs. 1 Satz 1, § 115 Abs. 2 Satz 1) oder die Vollzugsbehörde zu verpflichten, eine abgelehnte oder unterlassene Maßnahme zu erlassen (§ 109 Abs. 1 Satz 2, § 115 Abs. 4), sowie bei zurückgenommenen oder anders erledigten Maßnahmen bei vorliegendem berechtigten Interesse festzustellen, dass die Maßnahme rechtswidrig war (§ 115 Abs. 3). Der Feststellungsantrag ist gegenüber Anfechtungs- und Verpflichtungsanträgen subsidiär (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1982, 318; OLG Frankfurt ZfStrVo 2004, 106; Laubenthal 2008 Rdn. 779; zum (Fortsetzungs-)Feststellungsantrag § 115 Rdn. 17). Ein Antrag darf von einem Gericht nicht objektiv willkürlich ausgelegt werden. Denn das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Richter, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechten in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Diesem Grundgedanken widerspricht es, dem Sachvortrag eines Beteiligten entgegen Wortlaut und erkennbarem Sinn eine Bedeutung beizulegen, die zur Zurückweisung des Antrags als unzulässig führen muss, während bei sachdienlicher Auslegung eine Sachentscheidung möglich wäre (BVerfG ZfStrVo 1994, 370; s. auch Böhm Anm. zu OLG Hamm JR 1994, 211; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1994, 52). Im gerichtlichen Antragsverfahren sind demnach möglich:
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a) Die Anfechtung einer Maßnahme (§ 109 Abs. 1 Satz 1, § 115 Abs. 2 Satz 1). Der Antrag auf Anfechtung hat die gerichtliche Aufhebung einer belastenden Vollzugsmaßnahme zum Ziel. Es handelt sich insoweit um einen Gestaltungsantrag, der mit Ausnahme der Kostenentscheidung nicht einer Vollstreckung fähig ist. Er dient der Abwehr rechtswidriger Eingriffe seitens der Vollzugsbehörde. Als Annexantrag zum Anfechtungsantrag lässt § 115 Abs. 2 Satz 2 bei bereits vollzogener belastender Maßnahme den Folgenbeseitigungsantrag zu (s. § 115 Rdn. 16).
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b) Antrag auf Erlass einer Maßnahme (§ 109 Abs. 1 Satz 2, § 115 Abs. 4). Dieser Antrag bezweckt die Vornahme einer abgelehnten oder unterlassenen Vollzugsmaßnahme. Der Antrag kann als Vornahmeantrag i. S. d. § 113 bei unterlassener Maßnahme als Untätigkeitsantrag sowohl auf ein Tätigwerden der Behörde in Form eines Verwaltungsaktes schlechthin (Bescheid auf einen gestellten Antrag, gleichgültig, ob dieser genehmigt oder abgelehnt wird), wie auch auf ein ganz bestimmtes Tätigwerden (Erlass einer beantragten Maßnahme) abzielen. Zu den Voraussetzungen eines Vornahmeantrags § 113 Rdn. 2 ff. Bei ablehnendem Bescheid der Anstaltsleitung auf eine beantragte Maßnahme hin kann der Betroffene als spezialisierten Leistungsantrag einen Verpflichtungsantrag stellen (§ 109 Abs. 1 Satz 2). Dem Verpflichtungsantrag kommt insoweit ein Doppelcharakter zu; er ist Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes und Anfechtungsantrag, soweit er zur Erreichung des Ziels die Beseitigung des ablehnenden Bescheides verfolgt (Versagungsgegenantrag).
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c) Im Verfahren nach §§ 109 ff ist ein vorbeugender Unterlassungsantrag als eine Variante des allgemeinen Leistungsantrags gegen angedrohte Maßnahmen oder rechtswid-
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riges Vorgehen der Vollzugsbehörde statthaft, wenn Wiederholungsgefahr dargelegt wird (OLG Celle NStZ 1981, 250 F; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 39; C/MD 2008 Rdn. 6; Arloth 2008 Rdn. 5) oder wenn die Gefahr besteht, dass sonst vollendete, nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen würden, oder wenn nicht wieder gutzumachender Schaden entstünde (OLG Jena NStZ-RR 2003, 189). Ein vorbeugender Unterlassungsantrag ist dann zulässig, wenn ein effektiver Rechtsschutz nicht auf andere Weise erreichbar bleibt (OLG Dresden NStZ 2007, 707). Für einen Unterlassungsantrag ist jedoch nur selten das Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen. I. d.R. wird es genügen, dass gegen beschwerende Vollzugsmaßnahmen – zu denen auch die Realakte zählen – Antrag auf Aufhebung (Anfechtungsantrag) gestellt wird. Auch wegen einer Wiederholungsgefahr wird im Allgemeinen das Rechtsschutzbedürfnis nicht anzuerkennen sein, da – wenn nicht besondere Gründe eine Ausnahme rechtfertigen – erwartet werden kann, dass in einem Rechtsstaat die Behörden die gerichtlichen Entscheidungen respektieren und bei gleichbleibendem Sachverhalt sich die Anstaltsleitung durch die Rechtskraft der aufhebenden Entscheidung gehindert sieht, die gleiche Maßnahme wieder zu erlassen (OLG Jena ZfStrVo 2003, 309 mit Anm. Henning Ernst Müller ZfStrVo 2004, 53; s. auch Kopp/Schenke 2007 vor § 40 Rdn. 33; für eine Reduzierung der Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis dagegen Arloth 2008 Rdn. 5; AKKamann/Volckart 2006 Rdn. 31). d) Auch gegen Nebenbestimmungen, wie Auflagen und Weisungen, ist ein isolierter 26 gerichtlicher Rechtsschutz in Form eines Anfechtungsantrags (Teilanfechtung) bei objektiv abgrenzbaren und bezeichenbaren Teilen gewährleistet. Bei einer Teilanfechtung müssen in jedem Fall die Voraussetzungen für einen Antrag nach §§ 109 ff vorliegen. Nach Aufhebung der Auflage durch das Gericht kommt der Antragssteller in den Besitz einer uneingeschränkten – auflagefreien – begünstigenden Vollzugsmaßnahme (Kopp/Schenke 2007 § 42 Rdn. 21; Arloth 2008 Rdn. 11). e) Ein Gefangener kann zulässigerweise gleichzeitig mehrere Antragsbegehren in 27 einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nebeneinander geltend machen (Antragshäufung). Die StPO kennt keine Regelung, die über § 120 Abs. 1 eine Lösung anbietet. Die entsprechende Anwendung verwaltungsprozessualer Bestimmungen (z. B. § 44 VwGO) ist daher angezeigt. Voraussetzung für eine Antragshäufung ist, dass sich die verschiedenen Einzelbegehren gegen denselben Antragsgegner richten und ein Zusammenhang zwischen den Antragsbegehren besteht (Kopp/Schenke 2007 § 44 Rdn. 4). Derselbe Antragsgegner ist die Vollzugsanstalt. Aus den Lebensumständen (Entstehungsgrund) der Beschränkung der Rechte während des laufenden Vollzugs ist der Zusammenhang der Begehren begründet und einem einheitlichen Lebensvorgang (Kopp/Schenke 2007 § 44 Rdn. 5) zuzurechnen. Auch die Strafvollstreckungskammer kann durch Beschluss entsprechend § 93 VwGO, § 4 StPO mehrere bei ihr anhängige Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung verbinden. Die Entscheidung über eine Verbindung liegt im Ermessen des Gerichts (Kopp/Schenke 2007 § 93 Rdn. 1; Meyer-Goßner 2008 § 4 StPO Rdn. 10). 5. Antragsberechtigt nach Abs. 2 ist, wer durch eine Maßnahme zur Regelung einzel- 28 ner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs oder ihre Ablehnung oder ihre Unterlassung in seinen Rechten unmittelbar verletzt wird. Die Einschränkung entspricht Art. 19 Abs. 4 GG, wonach nur demjenigen Staatsbürger der Rechtsweg offensteht, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist (OLG Hamm ZfStrVo SH 1977, 55; OLG Koblenz ZfStrVo 1980, 186). Der Antragsteller hat geltend zu machen, durch ein rechtswidriges Tun oder Unterlassen einer Vollzugsbehörde selbst beschwert zu sein. Es muss zugunsten des Antragstellers selbst ein subjektives Recht oder ein Recht auf fehlerManfred Schuler/Klaus Laubenthal
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freie Ermessensentscheidung bestehen und die Annahme einer Rechtsbeeinträchtigung seinem Vortrag nach nicht als völlig abwegig erscheinen (Laubenthal 2008, Rdn. 780). In der Begründung des Antrags muss er erkennen lassen, welche Maßnahme der Vollzugsbehörde er beanstandet oder beantragt und wodurch er sich in seinen Rechten verletzt fühlt (OLG Celle NStZ 1989, 295). Antragsberechtigt nach Abs. 2 sind nicht nur Strafgefangene, sondern auch außenstehende Dritte, die von einer Vollzugsmaßnahme unmittelbar betroffen sind (KG ZfStrVo 1982, 125; OLG Dresden ZfStrVo 2000, 124), z. B. der Besucher bei Ablehnung eines Besuchsantrags, der Absender bei Weigerung der Vollzugsbehörde, ein bestimmtes Schreiben an einen Gefangenen weiterzuleiten (OLG Hamm ZfStrVo SH 1977, 50; OLG Koblenz ZfStrVo 1980, 252) oder ihm ein Paket auszuhändigen (OLG Frankfurt NStZ 1982, 221; § 24 Rdn. 4; OLG Nürnberg ZfStrVo 1982, 248). Wird einem Gefangenen ein ihm zugesandtes Druckerzeugnis mit Einwilligung der Vollzugsbehörde ausgehändigt, so ist dem möglichen Recht des Absenders, mit dem Empfänger durch die Zusendung Kontakt aufzunehmen, allerdings Genüge getan. Ein späterer Widerruf der Genehmigung betrifft dann nur noch die Rechtsbeziehung des Gefangenen zur Vollzugsbehörde (OLG Zweibrücken NStZ 1993, 407, 408). Antragsberechtigt ist auch der Verteidiger, der geltend macht, durch eine Vollzugsmaßnahme in seinen Rechten verletzt zu sein (OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 26; OLG Dresden ZfStrVo 2000, 124; 2007, 707). Antragsberechtigt nach Abs. 2 können auch der Anstaltsbeirat sowie dessen einzelne Mitglieder hinsichtlich ihrer Rechte aus den Strafvollzugsgesetzen sein. Ebenso ein Bürger, dessen Zulassung als ehrenamtlicher Vollzugshelfer abgelehnt wird (OLG Frankfurt ZfStrVo 1984, 191), oder ein Journalist, der einen Gefangenen zu seiner Straftat interviewen will und dem dieses, trotz Einverständnises des betroffenen Gefangenen, aus vollzuglichen Gründen versagt wird (BGHSt 27, 285). § 109 Abs. 2 beschränkt die Antragsberechtigung nicht auf Einzelpersonen oder einzelne Gefangene (OLG Frankfurt ZfStrVo 1978, 121; OLG Hamm ZfStrVo 1981, 126; OLG Hamm NStZ 1981, 277, 278 mit Anm. Kerner). Auch Vereinigungen steht ein Antragsrecht zu, wenn sie die Verletzung eigener Rechte behaupten und diese Verletzung möglich erscheint (OLG Nürnberg NStZ 1986, 286). Zur Bevollmächtigung (OLG Nürnberg NStZ 1997, 360 und § 120 Rdn. 3; § 115 Rdn. 8; Arloth 2008 Rdn. 4). Zur Bevollmächtigung eines Mitgefangenen vgl. § 108 Rdn. 3. 29 Organe der Gefangenenmitverantwortung besitzen eine Antragsbefugnis nach § 109 Abs. 2. Die Zulässigkeit wird bejaht, soweit es sich um Streitigkeiten über den Umfang der Rechte der Gefangenenmitverantwortung und der sich aus den Strafvollzugsgesetzen ergebenden Aufgaben handelt (OLG Hamburg NStZ 2002, 531 M; OLG Hamm ZfStrVo 1981, 126; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 15; K/S-Schöch 2002 § 9 Rdn. 39; Laubenthal 2008 Rdn. 782; a. A. Arloth 2008 Rdn. 12). Ein aus Gefangenen gebildeter Verein zur Vertretung von Gefangeneninteressen ist weder mit einzelnen Inhaftierten noch mit der Insassenvertretung i. S. der Strafvollzugsgesetze identisch und kann nicht deren Rechte im Wege der Prozessstandschaft geltend machen (OLG Hamburg NStZ 1981, 249 F; Arloth 2008 Rdn. 12). Die Möglichkeit der Anfechtung einer Wahl der Gefangenenmitverantwortung durch einen Gefangenen kommt dann in Betracht, wenn die anstaltsinterne Wahlordnung dies vorsieht. Darüber hinaus ist einem Gefangenen die Anfechtung der Wahl zur Insassenvertretung im Verfahren nach § 109 möglich, wenn schwerwiegende Wahlmanipulationen oder gleichgewichtige Fehler in Rede stehen. Der Antragsteller muss jedoch alle Tatsachen für die in Frage kommende Wahlmanipulation vortragen (OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 181). Einem Verein, der durch Gefangene geführt wird, in dem nur Gefangene Ämter wahrnehmen und der durch Eintragung im Vereinsregister Rechtsfähigkeit erlangt hat, steht ein Antragsrecht nach §§ 109 ff im Hinblick auf Angelegenheiten des Vereins selbst zu (KG NStZ 1982, 222). Einer Wohngruppe kommt keine Antragsberechtigung
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Antrag auf gerichtliche Entscheidung
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zu (OLG Hamm JR 1994, 210 mit Anm. Böhm). Diese stellt keine Rechtspersönlichkeit dar und ist damit nicht Trägerin von Rechten oder Pflichten. Für die Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung ist die Prozessfähig- 30 keit nicht erforderlich. Die Zurückweisung eines Begehrens nur unter Hinweis auf eine fehlende Prozessfähigkeit würde das Recht des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen (KG ZfStrVo 2001, 370; C/MD 2008 Rdn. 17). Die Zulässigkeit des Antrags nach § 109 setzt nicht voraus, dass der Antragsteller tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist. Er hat lediglich eine solche Rechtsverletzung geltend zu machen. Es genügt jedoch nicht nur eine Verbalbehauptung, sondern es müssen tatsächliche Behauptungen aufgestellt werden, die eine Verletzung der Rechte des Antragstellers zumindest möglich erscheinen lassen (BVerwGE 3, 237; 39, 345; Arloth 2008 Rdn. 13). Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist deshalb zu begründen. Diese Begründung muss eine aus sich heraus verständliche Darstellung enthalten, welche Maßnahme der Vollzugsbehörde der Antragsteller beanstandet oder begehrt. Die Darstellung muss erkennen lassen, inwiefern sich der Antragsteller durch die gerügte Maßnahme oder die Ablehnung oder Unterlassung ihrer Vornahme in seinen Rechten verletzt fühlt (OLG Celle ZfStrVo 1990, 310; OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 317; OLG Hamm NStZ 2002, 531; OLG Zweibrücken NStZ 1992, 512). Im Einzelfall kann dieses Erfordernis auch dadurch erfüllt werden, dass der Antragsteller auf andere bei der Strafvollstreckungskammer bekannte Verfahren verweist (OLG Hamm ZfStrVo 2001, 364; 2002, 316). Fehlt es an einer derartigen Begründung, ist der Antrag unzulässig, wenn die Begründung nicht noch rechtzeitig nachgeholt wird (LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 46). Die Anforderungen an eine Antragsschrift dürfen aber nicht überspannt werden (OLG Zweibrücken aaO). Unter Umständen ist das Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten, auf Ergänzung des Sachvortrags hinzuwirken (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 56; OLG Stuttgart ZfStrVo 1992, 136). Nach § 109 Abs. 2 ist ein Antrag, bei dem jemand nicht seine eigenen Rechte verfolgt, sondern als Sachwalter eines bestimmten Dritten oder der Rechte aller Inhaftierter einer Anstalt oder der Allgemeinheit auftreten will, nicht zulässig (Laubenthal 2008 Rdn. 780; Müller-Dietz 1985, 348). Durch Art. 19 Abs. 4 GG ist nur die Verletzung eigener Rechte geschützt. Ein Berufen auf die Verletzung fremder Rechte scheidet aus. 8. a) Abs. 3 überlässt es dem Landesrecht, die Zulässigkeit eines Antrags auf gericht- 31 liche Entscheidung von einem Verwaltungsvorverfahren (Widerspruchsverfahren) abhängig zu machen. Gegen diese Vorschaltung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein Verwaltungsvorverfahren ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 40, 237) auch dann zulässig, wenn es nicht durch Gesetz, sondern nur durch eine Allgemeinverfügung, Verwaltungsordnung oder Verwaltungsverordnung geregelt ist (Meyer-Goßner 2008 § 24 EGGVG Rdn. 5; a. A. C/MD 2008 Rdn. 24: förmliche Rechtsgrundlage). Von der Möglichkeit eines Verwaltungsvorverfahrens machen nur Gebrauch: Bremen (§ 26 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes zum GVG i. d. F. vom 20.12.1988, Bremisches GBl. 331); Hamburg (§ 6 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 29.3.1960, Hamburgisches GVBl. 291); Schleswig-Holstein (§ 5 des Gesetzes über das Beschwerdeverfahren im Vollzug der Freiheitsstrafe und andere Arten der Freiheitsentziehung – Vollzugsbeschwerdegesetz – i. d. F. vom 9.9.1977, Schleswig-Holsteinisches GVBl. Nr. 20/1977, 333). Baden-Württemberg hat das Verwaltungsvorverfahren im Jahr 2000 abgeschafft; in Nordrhein-Westfalen ist seit 1.8.2007 gem. § 1 des Gesetzes über das Vorschaltverfahren betreffend die Vollzugsangelegenheiten von Gefangenen und Untergebrachten – Vorschaltverfahrengesetz – ein Widerspruchsverfahren nur noch bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung durchzuführen, die außerhalb des Justizvollzugs vollzogen werden).
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Zur Zweckmäßigkeit des Verwaltungsvorverfahrens liegen unterschiedliche Beurteilungen vor. Allgemein wird zugunsten des Vorverfahrens ins Feld geführt, dass bei einer Überprüfung der beanstandeten Maßnahme durch die Widerspruchsbehörde auch eine inhaltliche Kontrolle, insbesondere eine Zweckmäßigkeitsüberprüfung zulässig sei; auch eine formlose Erledigung könne erfolgen, was zu einer Entlastung der Gerichte beiträgt. Empirische Untersuchungen, ob der Entlastungseffekt eintritt, liegen nicht vor. Die Durchführung eines Vorschaltverfahrens bedeutet aber, dass eine endgültige Entscheidung (Bestandskraft) über den angefochtenen Vollzugsverwaltungsakt einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Richtig erscheint indessen, dass die Aufsichts-(Widerspruchs-)behörde durch die Bearbeitung der Anträge sich eine zusätzliche Information über akute Probleme in den jeweiligen Justizvollzugsanstalten außerhalb der Revisionen verschaffen kann (C/MD 2008 Rdn. 25).
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b) Soweit das Landesrecht ein Vorverfahren vorsieht, sind vor einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Vollzugsmaßnahme in diesem Verfahren nachzuprüfen. Das Vorverfahren beginnt mit der Einlegung von Beschwerde/Widerspruch. Die Entscheidung über Beschwerde/Widerspruch trifft grundsätzlich die nächsthöhere Behörde; im Einzelnen ergibt sich die Zuständigkeit aus den entsprechenden Landesregelungen. Durch diese Beschwerde/Widerspruch ist der Vollzugsverwaltungsakt sowohl im Sachverhalt, wie auch rechtlich zu überprüfen; die über den Widerspruch entscheidende Behörde muss aufgrund eigener Erkenntnis auch die im Ermessensbereich liegenden Fragen beantworten. 34 Die Beschwerde/Widerspruch kann zur Aufhebung der angefochtenen Maßnahme führen oder die Behörde kann einen ablehnenden Bescheid (Widerspruchsbescheid) erlassen. Der Widerspruchsbescheid bestimmt, wer die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu tragen hat und ist mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Die erfolglose Beschwerde/ Widerspruch ist eine zwingende Sachurteilsvoraussetzung. Das Zulässigkeitserfordernis des Vorverfahrens ist erst mit Erlass des Widerspruchsbescheides und nicht schon mit der Einlegung des Widerspruchs erfüllt (OLG Hamm ZfStrVo 1978, 251). Ob die Verfahrensvoraussetzung des Vorverfahrens erfüllt ist, hat die Strafvollstreckungskammer von Amts wegen zu prüfen (OLG Stuttgart ZfStrVo 1980, 63). Legt ein Gefangener gegen eine Maßnahme der Vollzugsbehörde Dienstaufsichtsbeschwerde ein und entscheidet hierüber die Aufsichtsbehörde, so fehlt es an der zwingenden Verfahrensvoraussetzung des Verwaltungsvorverfahrens (OLG Stuttgart NStZ 1986, 480). Ein formloser Rechtsbehelf kann nicht als Vorverfahren Antragsvoraussetzung i. S. von § 109 Abs. 3 sein. Mit der Bitte eines Gefangenen um einen „beschwerdefähigen Bescheid“ kommt zum Ausdruck, dass er nicht nur eine dienstordnungsrechtliche Entscheidung will. Die falsche Bezeichnung Beschwerde statt Widerspruch schadet nicht (LG Kleve ZfStrVo 1987, 308). Dies folgt aus § 120 Abs. 1 i. V. m. § 300 StPO. Gegenstand des Antrages auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 ist der Beschwerdebescheid/Widerspruchsbescheid. 35 Im Einzelnen wird das Verwaltungsvorverfahren durch Vorschriften in den betreffenden Ländern geregelt. Unter bestimmten Voraussetzungen darf ein Gericht angerufen werden, ohne dass eine Entscheidung über Beschwerde/Widerspruch im Vorverfahren vorliegt. Dies kann ermöglicht werden durch eine entsprechende Vorschrift in den Landesregelungen, z. B. wenn ein Vollzugsverwaltungsakt der Aufsichtsbehörde angefochten wird oder wenn die vom Anstaltsleiter getroffene Maßnahme auf einer den Einzelfall betreffenden Weisung der Aufsichtsbehörde beruht (Arloth 2008 Rdn. 15; OLG Hamm MDR 1985, 346; OLG Hamm NStZ 1998, 399 M); ferner: bei einem Feststellungsantrag nach § 115 Abs. 3 (LG Heilbronn ZfStrVo SH 1978, 43; OLG Hamm NStZ 1987, 576) oder einem Unterlassungsantrag; zu-
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Antrag auf gerichtliche Entscheidung
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dem, wenn der Widerspruchsbescheid erstmalig Dritte beschwert oder eine zusätzliche selbständige Beschwer erstmals enthält. Das Vorverfahren ist ausnahmsweise entbehrlich, wenn seine Zwecke nicht mehr erreichbar oder bereits erreicht sind. Letzteres ist der Fall, wenn sich aus den Einlassungen der Widerspruchsbehörde im gerichtlichen Verfahren ergibt, dass sie den Antrag des Gefangenen nach umfassender Prüfung für unbegründet hält (OLG Celle NStZ 1981, 249 F; OLG Hamburg NStZ 1988, 152; ZfStrVo 2000, 52). Das Gericht bleibt zur sachlichen Prüfung und Entscheidung über einen Antrag selbst dann verpflichtet, wenn die Aufsichtsbehörde im Vorverfahren den angefochtenen Bescheid der Justizvollzugsanstalt nicht sachlich überprüft hat (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 127). Die Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, vorläufiger Rechtsschutz könne erst gewährt werden, wenn zunächst Widerspruch eingelegt sei, verletzt den Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG NStZ 1993, 404). Das Gericht ist gehalten, von Amts wegen zu prüfen, ob das Vorverfahren durchgeführt wurde; grundsätzlich geht die nicht zu behebende Ungewissheit über das Vorliegen eines Widerspruchsverfahrens zu Lasten des Antragstellers. Unter Umständen ist das Gericht aber gehalten, zur Feststellung des Vorverfahrens eine Anfrage an die Vollzugsbehörde zu richten (OLG Hamm ZfStrVo 1995, 183). Sieht die landesrechtliche Regelung des Vorverfahrens vor, dass nach § 113 Abs. 1 ein An- 36 trag auf gerichtliche Entscheidung dann gestellt werden kann, wenn über den Widerspruch nicht innerhalb von drei Monaten entschieden worden ist, so ist der Antrag auch ohne Erlass des Widerspruchsbescheids nach Ablauf der Sperrfrist zulässig (OLG Hamm ZfStrVo 1978, 251; OLG Karlsruhe NStZ 1987, 344). Wird der Abschluss des Verwaltungsvorverfahrens von der Vollzugsbehörde zeitlich erheblich verzögert, so ist ein vor Ablauf gestellter Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig, wenn der Antragsteller ihn nach Ablauf einer angemessenen Frist einreicht. Andernfalls könnte die Vollzugsbehörde durch hinauszögernde Widerspruchsentscheidungen die einem Gefangenen aus § 109 zustehenden Rechte unangemessen beschränken (LG Hamburg ZfStrVo SH 1977, 48; OLG Kiel ZfStrVo 2004, 123, 124). Wird im Verwaltungsvorverfahren der Widerspruch als verspätet zurückgewiesen, kann 37 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden. Die sachliche Prüfung des Gerichts erstreckt sich allerdings – sofern die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben sind – nur auf die Frage der Verspätung oder Rechtzeitigkeit des Widerspruchs. War der Widerspruch verspätet eingelegt, ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig; erfolgt die Einlegung rechtzeitig, kann in die sachliche Prüfung eingetreten werden (OLG Celle ZfStrVo 1979, 62). Zur Erstattung anwaltlicher Gebühren und Auslagen, die in einem Verwaltungsvorverfahren entstanden sind, s. OLG Celle NStZ 1982, 439 mit Anm. Plähn; OVG Koblenz NJW 1982, 2460; OLG Celle NStZ 1983, 309 F. Kostenentscheidungen einer Vollzugsbehörde in einem Widerspruchsbescheid sind grundsätzlich im gerichtlichen Verfahren nach §§ 109 ff selbständig anfechtbar. Hat sich das mit dem Widerspruch verfolgte Begehren erledigt, vermag die Vollzugsbehörde keine Entscheidung in der Sache mehr zu treffen. Das Widerspruchsverfahren ist auch ohne Erledigungserklärung des Widerspruchsführers von Amts wegen einzustellen. § 121 Abs. 2 Satz 2 findet jedoch im Vorverfahren keine Anwendung (LG Hamburg NStZ 1992, 54, 55, 56 m. Anm. Molketin). Der Widerspruch im Verfahren nach § 109 Abs. 3 i.V.m. der jeweiligen landesrechtlichen 38 Regelung wird schriftlich bei der Vollzugsbehörde eingelegt, welche die Maßnahme erlassen oder abgelehnt hat. Diese legt bei Nichtabhilfe das Begehren der zuständigen Widerspruchsbehörde vor. Auch kann der Widerspruch unmittelbar bei der Widerspruchsbehörde eingelegt werden. Diese legt ihn dann aber zunächst der Ausgangsbehörde vor, welche die Möglichkeit einer Abhilfe prüft. Die Widerspruchseinlegung ist fristgebunden (§ 112 Abs. 1
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Satz 2). Sie kann auch zur Niederschrift eines Bediensteten der Behörde erfolgen (OLG Hamm ZfStrVo 2001, 364).
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9. Im Verfahren nach §§ 109 ff kann es an einem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers fehlen, wenn er ausschließlich prozessfremde Zwecke verfolgt. Ein Missbrauch der Rechtspflege ist jedoch dann noch nicht gegeben, wenn jemand von seinem Recht subjektiv in missbilligenswerter Absicht Gebrauch macht; vielmehr muss feststehen, dass die Rechtsausübung objektiv dem Berechtigten keinerlei Vorteil zu bringen vermag, sondern lediglich zur Schädigung eines anderen taugt. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn der Antragsteller von seinem Obsiegen keinen irgendwie gearteten Nutzen hätte und seine Rechtsverfolgung allein dem Zweck dient, dem Gegner zu schaden oder das Gericht zu belästigen. Eingaben, die sich in beleidigenden oder erpresserischen Ausführungen erschöpfen, entsprechen nicht den Mindestanforderungen, die an Eingaben bei Behörden und Gerichten zu stellen sind (BVerfG NStZ 2001, 616; ZfStrVo 2002, 253; NJW 2004, 1374; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 223; OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 97; KG NStZ 1998, 399 M; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 23; Laubenthal 2008 Rdn. 753; Meyer-Goßner 2008 Einleitung Rdn. 111). Zur schikanösen Verfahrensführung OLG Frankfurt NStZ 1989, 296; OLG Hamm ZfStrVo 1988, 113; LG Bonn NStZ 1993, 54. Zur missbräuchlichen Inanspruchnahme einer Gerichtsbarkeit Kröpil 2000, 686. Die Mitteilungen des Gerichts an einen Antragsteller, Anträge wegen beleidigenden Inhalts nicht zu bearbeiten, stellen unabhängig von der gewählten Form nicht eine Untätigkeit, sondern gerichtliche Entscheidungen dar. Adäquates Mittel zur Sanktionierung von Beleidigungen ist allerdings das Strafrecht, nicht aber über eine Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten das Verfahrensrecht (BVerfG NStZ 2001, 616).
§ 110 Zuständigkeit Über den Antrag entscheidet die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. Durch die Entscheidung in einem Verwaltungsvorverfahren nach § 109 Abs. 3 ändert sich die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer nicht. Schrifttum: s. Vor § 108
I. Allgemeine Hinweise 1
Über Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 entscheidet eine Strafvollstreckungskammer als erstinstanzliches Tatsachengericht. Strafvollstreckungskammern sind bei den Landgerichten gebildet, in deren Bezirk die Justizvollzugsanstalten unterhalten werden oder andere Vollzugsbehörden ihren Sitz haben (§ 78a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GVG). In vollzugsrechtlichen Sachen sind diese Kammern mit einem Richter besetzt (§ 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG). Die richterliche Kontrolle von Vollzugsentscheidungen ist einem möglichst orts- und vollzugsnahen Gericht übertragen, das Erfahrungen in Vollzugsangelegenheiten mit der Kenntnis der Anstalt und einem Eindruck von dem Gefangenen vereinen kann (BTDrucks. 7/918, 84; Doller 1987, 264; Laubenthal 2007, 326; Voigtel 1998, 27 ff).
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Zuständigkeit
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II. Erläuterungen § 110 regelt die örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern im Verfahren nach § 109. Örtlich zuständig ist die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde (Justizvollzugsanstalt, Aufsichtsbehörde), deren Maßnahme angefochten wird, ihren Sitz hat. Die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer wird bereits mit der Aufnahme des Verurteilten in eine Justizvollzugsanstalt ihres Bezirks begründet (BGH MDR 1984, 683; NStZ 2000, 111; OLG Nürnberg ZfStrVo 2003, 59; C/MD 2008 Rdn. 3). Für die Zuständigkeit einer Strafvollstreckungskammer bleibt es ohne Bedeutung, ob eine Ersatzfreiheitsstrafe oder eine Freiheitsstrafe verbüßt wird (BGH NJW 1982, 248, 249). Der Sitz einer Justizvollzugsanstalt ergibt sich aus dem Vollstreckungsplan. Die beteiligte Vollzugsbehörde ist gemäß § 111 Abs. 1 Nr. 2 bestimmt. Für die Zuständigkeitsregelung nach Satz 1 kommt es nicht darauf an, in welcher Anstalt sich der Gefangene zur Zeit als Vollzugsort befindet; entscheidend ist der Landgerichtsbezirk, in dem die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. Beteiligte Behörde im Sinne von § 110 ist die, die über eine Maßnahme nach § 109 Abs. 1 abschließend entschieden hat (BGH NJW 1978, 282). Nach § 78a Abs. 2 GVG werden die Landesregierungen ermächtigt, im Bereich der örtlichen Zuständigkeit durch Rechtsverordnung eine gerichtliche Konzentration vorzunehmen und auswärtige Strafvollstreckungskammern (am Sitz der Anstalt) einzurichten. Gem. § 78a Abs. 3 GVG können bei Vollzugsgemeinschaften (§ 150) Zuständigkeitsvereinbarungen für die Strafvollstreckungskammer getroffen werden (Nachweise für entsprechende Verordnungen bei Meyer-Goßner 2008 § 78a GVG Rdn. 5 und 6). Die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Hauptanstalt liegt, ist auch für Anträge nach § 109 von den Gefangenen zuständig, die in einer außerhalb des Bezirks gelegenen Außenstelle der Justizvollzugsanstalt untergebracht sind. Das gilt auch dann, wenn im Vollstreckungsplan eine eigene Vollzugszuständigkeit für die Außenstelle vorgesehen ist (BGH ZfStrVo 1979, 55; NJW 1978, 2561). Hat die Aufsichtsbehörde die angefochtene Maßnahme in eigener Zuständigkeit erlassen, ist die Strafvollstreckungskammer örtlich zuständig, in deren Bezirk die Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat (BGHSt. 27, 284; LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1977, 45). Ein ablehnender Bescheid eines Anstaltsleiters verliert jedoch nicht dadurch seinen Charakter als Regelung eines Einzelfalles mit unmittelbarer Rechtswirkung für den Betroffenen, wenn er auf einer Anordnung der Aufsichtsbehörde beruht. Örtlich zuständig ist dementsprechend die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Justizvollzugsanstalt ihren Sitz hat (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1978, 28). Ebenso bleibt es bei der durch den Sitz der Justizvollzugsanstalt begründeten örtlichen Zuständigkeit, wenn sich die Aufsichtsbehörde behördenintern die Zustimmung für eine Maßnahme vorbehalten hat und der Anstaltsleiter letztlich die Maßnahme mit Außenwirkung getroffen hat (OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1979, 70; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3). Zu behördeninternen Vorgängen und mehrstufigen Vollzugsmaßnahmen § 109 Rdn. 20. Wird ein Inhaftierter während eines vollzuglichen Verfahrens i. S. d. §§ 109 ff in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt, ist hinischtlich der örtlichen Zuständigkeit bei Anstaltswechsel zu beachten: Stellt der Anstaltswechsel eine nicht vorübergehende Verlegung dar, bleibt es grundsätzlich bei der örtlichen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Ausgangsanstalt liegt. Es gibt keinen automatischen Zuständigkeitswechsel. Die auf Dauer angelegte Strafortänderung kann jedoch zu einem Wechsel der Antragsgegnerin als Beteiligte i. S. d. § 111 Abs. 1 Nr. 2 führen. In einem solchen Fall hat das Gericht die Sache an diejenige Strafvollstreckungskammer zu verweisen, in deren Bezirk die
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aufnehmende Anstalt ihren Sitz hat. Eine solche Verweisung erfolgt nicht von Amts wegen entsprechend § 83 VwGO, § 17a Abs. 2 GVG (a. A. OLG Celle ZfStrVo 2002, 245; OLG Jena Beschl. v. 28.11.2005 – 1 Ar(5) 167/05; OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 293), sondern auf einen entsprechenden Verweisungsantrag hin (BGHSt 36, 36; BGH NStZ 1990, 205; BGH NStZ 1999, 158). Dies folgt aus dem in Vollzugssachen geltenden Verfügungsgrundsatz (Laubenthal 2008 Rdn. 802), nachdem die Gerichte an die Anträge der Beteiligten gebunden sind (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 § 110 Rdn. 4). Ob es bei einer nicht nur vorübergehenden Verlegung zu einem Wechsel der Antragsgegnerin kommt, richtet sich nach dem jeweiligen Antragsbegehren. Wird der Inhaftierte während eines Verfahrens verlegt, das einen Verpflichtungs- oder Vornahmeantrag zum Gegenstand hat und verfolgt er sein ursprüngliches Begehren weiter, wird beteiligte Vollzugsbehörde die aufnehmende Vollzugsanstalt (BGHSt 36, 35). Geht es dem Gefangenen mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung um eine Feststellung (z. B. der Rechtswidrigkeit einer von der Leitung der abgebenden Anstalt angeordneten und vollzogenen Disziplinarmmaßnahme, die in die Personalakte eingetragen wurde und sich bei späteren Prognoseentscheidungen negativ auswirken kann; dazu OLG Nürnberg ZfStrVo 2000, 182), ist das Verfahren gegen diejenige Justizvollzugsanstalt weiterzuführen, welche die Entscheidung getroffen hat. Bei Anfechtungsanträgen muss zwischen Dauermaßnahmen und Zustandsmaßnahmen differenziert werden (s. AKKamann/Volckart 2006 § 111 Rdn. 2), wobei Antragsgegnerin die Justizvollzugsanstalt ist, die über den Streitgegenstand verfügen und die belastende Maßnahme ggf. aufheben kann. Setzt sich die mögliche Rechtsbeeinträchtigung noch in der aufnehmenden Anstalt fort und wird sie dort vollzogen (z. B. bei der andauernden Maßnahme des Anhaltens eines Schreibens oder der Anordnung, Besuche optisch und akustisch zu überwachen), muss es im Sinne eines möglichst effektiven Rechtsschutzes zu einem Wechsel der Antragsgegnerin kommen (OLG Celle ZfStrVo 2002, 245; OLG Saarbrücken ZfStrVo 2004, 121), weil anderenfalls ein Erfolg des Anfechtungsantrags keine die aufnehmende Anstalt verpflichtende Wirkung hätte (OLG Stuttgart NStZ 1989, 496). Wendet sich der Inhaftierte gegen eine von der ursprünglichen Anstaltsleitung angeordnete Zustandsmaßnahme (z. B. die Verlegung in eine andere Einrichtung), deren Regelung mit der zustandsverändernden faktischen Verlegung abgeschlossen ist, verbleibt es trotz Durchführung der Maßnahme bei der abgebenden Anstalt als beteiligte Vollzugsbehörde i. S. d. § 111 Abs. 1 Nr. 2 (C/M-D 2008 § 110 Rdn. 4). Damit kommt es zu keiner Änderung der örtlichen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer. Wird der Gefangene nur vorübergehend in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt (Überstellung), wird dadurch die ursprüngliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, in deren Bereich die Ausgangsanstalt liegt, nicht geändert (OLG Koblenz LS GA 1981, 524; BGH NStZ 1989, 548; Arloth 2008 Rdn. 4); dies kann jedoch nicht gelten, wenn sich ein Gefangener ausschließlich gegen ihn belastende Maßnahmen wendet, die die Anstalt gegen ihn verfügt hat, in der er sich vorübergehend aufhält (z. B. Beschränkung des Aufenthalts im Freien). Befindet sich ein Antragsteller z. B. bei Strafaussetzung auf freiem Fuß, so bleibt es bei der bisherigen Zuständigkeit, es sei denn, eine Aufnahme in eine andere Justizvollzugsanstalt begründet eine neue Zuständigkeit (OLG Jena ZfStrVo 2003, 314). 7 Wurde ein wegen einer Jugendstraftat Verurteilter nach § 91 Abs. 1 JGG aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen, ist für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen Maßnahmen in der Erwachsenenanstalt die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Justizvollzugsanstalt liegt (§ 109 Rdn. 3). 8 Bei Kompetenzkonflikten gilt: Haben mehrere Gerichte sich für unzuständig i. S. von § 110 erklärt, obwohl eines zuständig ist, kommt gemäß § 120 Abs. 1, je nachdem, ob die Entscheidungen unanfechtbar sind, § 19 StPO oder, wenn noch eine Anfechtung möglich ist, § 14 StPO entsprechend zur Anwendung (BGH NStZ-RR 2007, 129; OLG Hamm
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Beteiligte
§ 111
NStZ-RR 2008, 79). Berufen zur Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit ist das gemeinschaftliche obere Gericht. Gemäß § 110 Satz 2 ändert sich an der Zuständigkeit nichts dadurch, dass ein Verwal- 9 tungsvorverfahren stattgefunden hat. Dies gilt auch, wenn die Widerspruchsbehörde ihren Sitz in einem anderen Landgerichtsbezirk hat. Bei einem Vornahmeantrag auf Erlass eines Widerspruchsbescheides ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Justizvollzugsanstalt liegt, die die das Vorverfahren betreffende vollzugliche Entscheidung getroffen hat (OLG Hamm JR 1999, 390, 391 mit Anm. Böhm). Zum Vorverfahren § 109 Rdn. 31 ff.
§ 111 Beteiligte (1) Beteiligte des gerichtlichen Verfahrens sind 1. der Antragsteller, 2. die Vollzugsbehörde, die die angefochtene Maßnahme angeordnet oder die beantragte abgelehnt oder unterlassen hat. (2) In dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht oder dem Bundesgerichtshof ist Beteiligte nach Absatz 1 Nr. 2 die zuständige Aufsichtsbehörde. Schrifttum: s. Vor § 108
I. Allgemeine Hinweise Die Frage, wer zum Kreis der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren nach dem Strafvoll- 1 zugsgesetz gehört, wird in § 111 abschließend geregelt. Die Beteiligten stehen sich gleichberechtigt gegenüber; ihnen stehen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten zu. Dieses Prinzip gilt ungeachtet der Tatsache, dass bei Erlass der Maßnahme die Vollzugsbehörde dem Gefangenen kraft ihrer hoheitlichen Befugnisse gegenübergetreten ist. Die Gleichberechtigung gilt nur für das gerichtliche Verfahren. Außerhalb des Verfahrens oder nach dessen Beendigung stehen sich Vollzugsbehörde und Gefangene im Über- und Unterordnungsverhältnis gegenüber. Bindungswirkung erlangt die gerichtliche Entscheidung in einer Strafvollzugssache nur zwischen den Beteiligten des konkreten Verfahrens (OLG Stuttgart NStZ 1997, 103).
II. Erläuterungen 1. Beteiligt sind: a) der Antragsteller (Abs. 1 Nr. 1) (im Einzelnen § 109 Rdn. 28–30); die Beiladung Drit- 2 ter ist im Verfahren nach §§ 109 ff nicht vorgesehen und kommt auch entsprechend § 65 VwGO nicht in Betracht (OLG Celle NStZ 1984, 334, 335 mit Anm. Seebode; Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 2; Müller-Dietz 1985, 351); zum Beistand eines Rechtsanwalts § 115 Rdn. 8 und § 118 Rdn. 8; b) die Vollzugsbehörde (Abs. 1 Nr. 2), die die angefochtene Maßnahme angeordnet oder die beantragte abgelehnt oder unterlassen hat. Dies ist grundsätzlich die Justizvollzugsanstalt, welche durch den Anstaltsleiter vertreten wird.
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c) Im Einzelfall die Aufsichtsbehörde, wenn der Vollzugsverwaltungsakt von dieser erlassen wurde, z. B. bei Verlegungen, wenn die Entscheidung hierüber sich das Ministerium vorbehalten hat (LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1978, 42). Die Aufsichtsbehörde kann auch dann beteiligte Vollzugsbehörde sein, wenn der Anstaltsleiter eine Verfügung der Aufsichtsbehörde dem Gefangenen lediglich bekanntmacht und die Durchführung veranlasst (Laubenthal 2008 Rdn. 798).
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2. a) Im Rechtsbeschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht ist die Aufsichtsbehörde der in der ersten Instanz beteiligten Vollzugsbehörde Verfahrensbeteiligte (Antragsgegner). Ebenso ist im Verfahren vor dem BGH die Aufsichtsbehörde Verfahrensbeteiligte (Abs. 2), wenn nach § 121 Abs. 2 GVG ein Vorlageverfahren durchgeführt wird, weil das angegangene OLG von der ihm bekannt gewordenen Entscheidung eines anderen OLG abweichen will (Divergenzverfahren).
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b) In Bayern wird das Bayerische Staatsministerium der Justiz als Aufsichtsbehörde, soweit es nach § 111 Beteiligter des gerichtlichen Verfahrens ist, durch die Generalstaatsanwaltschaft bei dem OLG vertreten (§ 4 Abs. 2 Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaates Bayern – Vertretungsverordnung – i. d. F. v. 4.10.1995, Bayerisches GVBl. 1995, 733). 5 Zu der Frage, welche Vollzugsbehörde zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde berechtigt ist, bietet sich die Auffassung, dass sowohl die Justizvollzugsanstalt als Beteiligte der 1.Instanz, wie auch die Aufsichtsbehörde als Beteiligte im Verfahren vor dem Oberlandesgericht hierzu befugt sind, als die praktikable Lösung an (zum Meinungsstand AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 5; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3 f; Ullenbruch 1993, 517; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 244; § 118 Rdn. 3). Abs. 2 schließt jedenfalls die Berechtigung der Justizvollzugsanstalt zur Einlegung der Rechtsbeschwerde nicht aus (OLG Jena NStZ 1999, 448; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1986, 379; OLG Stuttgart NStZ 1985, 356 F; KG NStZ 1984, 95, 96 mit Anm. Kerner/Streng; Schuler 1988, 261).
§ 112 Antragsfrist. Wiedereinsetzung (1) Der Antrag muss binnen zwei Wochen nach Zustellung oder schriftlicher Bekanntgabe der Maßnahme oder ihrer Ablehnung schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Gerichts gestellt werden. Soweit ein Verwaltungsvorverfahren (§ 109 Abs. 3) durchzuführen ist, beginnt die Frist mit der Zustellung oder schriftlichen Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. (2) War der Antragsteller ohne Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. (3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden. (4) Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unzulässig, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Schrifttum: s. Vor § 108
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Antragsfrist. Wiedereinsetzung
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Frist zur Einlegung . . . . . . . 2. Form des Antrags . . . . . . . . 3. Feststellung der Verfahrensvoraussetzungen durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . 4. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis . . . .
1 2–15 2–3 4–6
7 8–15
Rdn. a) Allgemeines . . . . . . . . b) keine Wiedereinsetzung bei Fehlen der Rechtsmittelbelehrung . . . . . . . . . c) großzügige Gewährung . . d) Inhalt des Antrags . . . . . e) Ausschlussfrist . . . . . . . f) Rechtsmittel, Verwirkung . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . .
.
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. 9 . 10 . 11–13 . 14 . 15 . 16
I. Allgemeine Hinweise Diese Vorschrift regelt die Antragsfrist, die Antragsformalitäten und das Recht auf 1 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. § 112 entspricht § 26 EGGVG mit der Ausnahme, dass die Antragsfrist nicht einen Monat, sondern zwei Wochen beträgt. Diese kürzere Frist trägt dem Bedürfnis Rechnung, dass die Verhältnisse im Strafvollzug eine rasche Klärung erfordern und genügt auch, um den erforderlichen Rechtsschutz zu gewährleisten (C/MD 2008 Rdn. 1). Unter Frist ist ein Zeitraum zu verstehen, innerhalb dessen die Verfahrensbeteiligten Verfahrenshandlungen vorzunehmen haben, damit diese zulässig sind. Gesetzliche Fristen (s. auch § 118 Abs. 1) können nicht verlängert werden; es besteht jedoch bei unverschuldeter Versäumnis ein Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Abs. 2 und Abs. 3). Die Berechnung der Fristen – das StVollzG kennt Wochen- und Monatsfristen – erfolgt nach § 120 Abs. 1 i.V. mit § 43 StPO. Der Lauf einer Frist wird gehemmt, solange ein Gefangener einer Maßnahme nach dem Kontaktsperregesetz unterworfen ist (§ 34 Abs. 2 EGGVG).
II. Erläuterungen 1. Für einen Antrag nach § 109 beträgt die Frist zwei Wochen beginnend mit der (förm- 2 lichen) Zustellung oder schriftlichen Bekanntmachung der Maßnahme oder ihrer Ablehnung an den Betroffenen (Abs. 1 Satz 1). Die Vorschrift gilt bei einem Anfechtungs- und bei einem Verpflichtungsantrag, nicht aber für den Unterlassungs- sowie den Feststellungsantrag (Laubenthal 2008 Rdn. 794). Für die Bestimmung des Zugangszeitpunkts bei schriftlicher Bekanntgabe ist § 130 BGB heranzuziehen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 351). Schriftliche Bekanntgabe setzt ein Schriftstück voraus, das eine Unterzeichnung oder eine Namenswiedergabe enthält, um sie von bloßen Entwürfen abzugrenzen (KG NStZ-RR 2005, 356). Die Zustellung ist eine formstrenge schriftliche Mitteilung; sie erfolgt nach § 120 Abs. 1 i. V. mit § 37 Abs. 1 StPO, §§ 168 Abs. 1 Satz 2, 176 Abs. 1, 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO (bei inhaftierten Adressaten über einen Bediensteten der JVA). Die Frist beginnt nicht erst mit Erlass der beanstandeten Maßnahme (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 61). Die mündliche Eröffnung einer Maßnahme setzt die Frist nicht in Lauf (KG GA 1976, 342; OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 321; Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1). Ebenso der Erlass eines Realaktes. Ist die Maßnahme nicht schriftlich bekannt gemacht worden oder steht die schriftliche Bekanntgabe nicht fest, kann analog zu § 113 Abs. 3 bis zum Ablauf eines Jahres Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden (OLG Jena NStZ 2001, 414 M; OLG Frankfurt NJW 2003, 2843). Bei mehrfacher Zustellung richtet sich die Berechnung der Frist nach der zuletzt bewirkten Zustellung; dies gilt nicht für eine Zustellung, die erst nach Fristablauf bewirkt wird (BGHSt 22, 221). Es lässt sich aus Abs. 1 Satz 1 nicht herleiten, dass Maßnahmen Manfred Schuler/Klaus Laubenthal
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der Vollzugsbehörden und ihre Begründung dem Betroffenen schriftlich bekanntzugeben sind. Eine mündliche Eröffnung reicht aus, solange kein gegenteiliges überwiegendes Interesse des Gefangenen ersichtlich ist (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 62; BVerfG NJW 1976, 34, 37; OLG Bamberg ZfStrVo SH 1979, 111; OLG Nürnberg NStZ 1998, 592). Ausnahme s. Rdn. 3 am Ende. Die Frist zur Stellung eines Antrages gem. § 109 wird auch dann in Lauf gesetzt, wenn eine Entscheidung der Vollzugsbehörde nur dem Verteidiger des Gefangenen schriftlich bekannt gegeben wurde (OLG Nürnberg ZfStrVo 1988, 192). Verweigert ein Gefangener unberechtigt und grundlos die Annahme der schriftlichen Mitteilung der Vollzugsmaßnahmen, so gilt diese ihm in dem Zeitpunkt als zugegangen, in dem ihm deren Übergabe angeboten wurde (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 351). Der Gefangene ist auch nicht berechtigt, die Annahme mit dem Hinweis zu verweigern, er habe einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt und diesem solle der vollzugsbehördliche Bescheid zugesandt werden (OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 351; Arloth 2008 Rdn. 3). Übergibt die Vollzugsbehörde dem Strafgefangenen ein an dessen Verteidiger gerichtetes Schreiben, wird die Antragsfrist von Abs. 1 Satz 1 nur dann in Lauf gesetzt, wenn sich entweder aus dem Bescheid selbst oder aus weiteren Umständen eindeutig ergibt, dass mit der Aushändigung an den Inhaftierten die Frist in Lauf gesetzt werden soll (OLG Karlsruhe StraFo 2007, 86). Die Zugangsfiktion von § 41 Abs. 2 VwVfG ist auf die Berechnung der Frist nicht anwendbar (KG NStZ-RR 2002, 383). 3 Ist ein Verwaltungsvorverfahren nach § 109 Abs. 3 vorgesehen (§ 109 Rdn. 31 ff), beginnt die Frist mit der Zustellung oder schriftlichen Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids. Das Strafvollzugsgesetz hat Form und Frist der Einlegung des Widerspruchs im Verwaltungsvorverfahren nicht geregelt. Daraus ist zu entnehmen, dass dies dem das Vorschaltverfahren regelnden Landesrecht überlassen werden sollte. Wenn daher das entsprechende Landesrecht für einen Widerspruch weder eine Zustellung noch eine schriftliche Bekanntgabe der Maßnahme, auch nicht eine schriftliche Begründung und eine Rechtsmittelbelehrung vorsieht, so beginnt die Frist mit der mündlichen Eröffnung der Entscheidung durch den Anstaltsleiter. Handelt es sich jedoch um eine Entscheidung von erheblicher Tragweite für einen Gefangenen, die in ihrer Zusammensetzung rechtlich und tatsächlich schwierig zu beurteilen ist, so besteht nicht nur ein Anspruch auf eine schriftliche Bekanntgabe der tragenden Entscheidungsgründe. Der Gefangene wird auch erst zu diesem Zeitpunkt in die Lage versetzt, die Entscheidung im Einzelnen und im Hinblick auf die Einlegung von Rechtsmitteln zu überprüfen. Die Frist des Vorschaltverfahrens beginnt in diesen Fällen erst mit der Übergabe zu laufen (OLG Hamm NStZ 1999, 447 M).
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2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung muss schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle (bei der Rechtsbeschwerde § 118 Rdn. 8) des Landgerichts (§ 110) gestellt werden, oder bei einem nach § 299 StPO zuständigen Amtsgericht. Die Übergabe des Antrages an die Vollzugsbehörde, in der sich der Antragsteller befindet, genügt nicht (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1978, 44). Schriftliche Erklärungen müssen rechtzeitig in die Verfügungsgewalt und an einen zur Empfangnahme zuständigen Beamten gelangen (Meyer-Goßner 2008 Vor § 42 StPO Rdn. 13). Zur Schriftform gehört, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können. Die Schriftform nach Abs. 1 Satz 1 bedeutet nicht, dass der Antragsteller seinen Antrag unterzeichnen muss. Das Fehlen der Unterschrift ist kein Mangel, der den Antrag unzulässig macht (OLG Zweibrücken ZfStrVo SH 1979, 96). Es müssen aber der Verfasser als Antragsteller sowie seine Anschrift aus dem Schreiben erkennbar sein. Für Fernschreiben, Telebriefe und Telefax Meyer-Goßner 2008 Einl. zu §§ 139, 139a; Ebnet 1992, 2985; § 118 Rdn. 9. Zur Wahrung der Antragsfrist reicht die Einreichung einer
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nur in fremder Sprache abgefassten Schrift ohne Beifügung einer Übersetzung in die deutsche Sprache nicht aus (Arloth 2008 Rdn. 4). Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung, der nicht in deutscher Sprache abgefasst ist, bleibt unzulässig (§ 184 S. 1 GVG). Dies gilt auch, wenn der Antragsteller Ausländer ist und der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig. Es besteht nach Art. 6 Abs. 3 MRK kein allgemeiner Anspruch auf Übersetzung durch einen Dolmetscher (OLG Nürnberg ZfStrVo 1989, 187; 1990, 189; krit. AK-Kamann/Volckart 2006 § 112 Rdn. 8). Es wird heute jedoch auch die Auffassung vertreten, ein Ausländer, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, könne mindestens dann, wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet und anwaltlich nicht vertreten wird, ein fristgebundenes Rechtsmittel zulässigerweise in einer europäischen Sprache einreichen. Nur dann dürfe ein Gericht ein solches Rechtsmittel als unzulässig verwerfen, wenn es anstatt selbst für eine Übersetzung zu sorgen, dem Ausländer aufgibt, unverzüglich eine Übersetzung nachzureichen, und der Ausländer dieser Aufforderung nicht nachkommt, obwohl er hierzu in der Lage gewesen wäre (dazu Kissel 2008 § 184 Rdn. 5 f). Im Übrigen zu dieser Problematik OLG Koblenz StV 1997, 429 mit Anm. Kühne; BVerfG StV 1991, 497. Bei fremdsprachigen Eingaben kann aber die Fürsorgepflicht gebieten, den Absender auf § 184 Satz 1 GVG hinzuweisen (MeyerGoßner 2008 § 184 GVG Rdn. 2), oder Hilfen zu gewähren (Kissel 2008 § 184 Rdn. 16). Auch insoweit sind die Grundsätze des rechtsstaatlichen fairen Verfahrens zu beachten (BVerfGE 64, 135). Die nach § 109 Abs. 2 nötige Begründung (§ 109 Rdn. 30) eines Antrages muss innerhalb 5 der Frist für die Stellung eines Antrages von Abs. 1 Satz 1 erfolgen; sie kann nicht im Laufe des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden, da sie als Zulässigkeitsvoraussetzung unmittelbar zu dem Antrag gehört und deshalb den Form- und Fristenerfordernissen unterliegt. Zulässig ist lediglich die Ergänzung oder nähere Darlegung einer den Anforderungen des § 109 Abs. 2 bereits genügenden Antragsbegründung auch nach Ablauf der Frist. Ggf. muss das Gericht entsprechend seiner Aufklärungspflicht auf eine Ergänzung des Sachvortrages hinweisen (KG NStZ-RR 1997, 154; OLG Celle NStZ 1990, 428 B; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 2). Zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts (Meyer-Goßner 2008 Einleitung Rdn. 140) 6 kann eine telefonische Erklärung an das Gericht nicht wirksam erfolgen (BGH NJW 1981, 1627). Wird der Antrag am letzten Tag der Antragsfrist schriftlich bei einem unzuständigen Gericht eingelegt, so wird die Antragsfrist dennoch gewahrt, wenn das zuständige Gericht noch an diesem Tage telefonisch von dem Inhalt des schriftlichen Antrages unterrichtet wird und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle dieses Gerichts hierüber einen schriftlichen Aktenvermerk aufnimmt. Unterbleibt die fernmündliche Benachrichtigung des zuständigen Gerichts oder fertigt der Urkundsbeamte trotz Benachrichtigung keinen Vermerk an, so ist dem Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Antragsfrist zu gewähren (OLG Zweibrücken NStZ 1982, 395). 3. Hinsichtlich der Feststellung der Verfahrensvoraussetzungen, z. B. der Fristwah- 7 rung, gilt für das Gericht die Pflicht zur Amtsermittlung (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 61). Näheres § 115 Rdn. 2 ff. 4. a) Abs. 2 regelt die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 8 im gerichtlichen Verfahren nach §§ 109 ff bei Versäumung gesetzlicher Fristen. Gesetzliche Bestimmungen über verfahrensrechtliche Fristen sind notwendig, damit gerichtliche Entscheidungen nach ungenutztem Fristablauf eine endgültige Wirkung entfalten können. Um diesen der Rechtssicherheit dienenden Zweck nicht zu vereiteln, muss die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Ausnahme bleiben. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist daher nur dann zu gewähren, wenn der Antragsteller ohne Verschulden gehin-
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dert war, die Antrags- bzw. Rechtsmittelfrist einzuhalten. Es wird die Ansicht vertreten, dass neben eigenem Verschulden ein Verfahrensbeteiligter im Zusammenhang mit der Versäumung einer Frist unter Umständen auch das schuldhafte Verhalten derjenigen Personen gegen sich gelten lassen muss, deren er sich als Vertreter zur Rechtsverfolgung bedient (Arloth 2008, Rdn. 5; Meyer-Goßner 2008 § 44 StPO Rdn. 19, § 26 EGGVG Rdn. 7; a. A. C/MD 2008 Rdn. 3; Eschke 1993, 182; Litwinski/Bublies 1989, 110). An einem Verschulden soll es aber dann fehlen, wenn der Betroffene alles ihm billigerweise Zumutbare getan hat, um die der Fristwahrung entgegenstehende Rechtsunkenntnis zu beseitigen und seine redlichen Bemühungen schuldlos ohne Erfolg geblieben sind. Da § 120 Abs. 1 für das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer im Rahmen der §§ 109 ff auf die Regelungen der StPO verweist, gelten hinsichtlich eines Verschuldens des Verteidigers sowie eines sonstigen Vertreters an der Fristversäumnis zwar die strafprozessualen Grundsätze. Danach müssen im Strafverfahren Beteiligte, die sich nicht gegen einen Schuldvorwurf verteidigen, sich das Verteidigersverschulden zurechnen lassen (Meyer-Goßner 2008 § 44 StPO Rdn. 19). Insbesondere das Verschulden des Verteidigers ist dem Gefangenen im strafvollzugsrechtlichen Verfahren jedoch nicht zuzurechnen (Laubenthal 2008 Rdn. 795). Denn der sich in Unfreiheit befindliche Inhaftierte kann nicht zur Überwachung seines Verteidigers verpflichtet werden. An einem Verschulden eines Gefangenen fehlt es, wenn das Versäumnis im Verantwortungsbereich der Vollzugsbehörde liegt, z. B. verspätete Weiterleitung des schriftlichen Antrages (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 13). Zur Versäumung der Frist durch einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Ausländer BVerfG StV 1991, 497. Bei einer Änderung einer jahrelangen gerichtlichen Verfahrenspraxis kann aus Gründen eines fairen rechtstaatlichen Verfahrens von Amts wegen die Wiedereinsetzung in eine versäumte Beschwerdefrist gewährt werden (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 244, 245 mit Anm. Rösch). An der Nichteinhaltung der Frist des § 112 Abs. 1 trifft einen Antragsteller dann kein Verschulden, wenn sich dieser für bedürftig halten konnte und deshalb innerhalb der Frist zunächst nur einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt hat und erst nach Entscheidung darüber den Rechtsbehelf selbst einlegt. Ist zu diesem Zeitpunkt die Frist bereits abgelaufen, liegt ein Wiedereinsetzungsgrund vor (OLG Koblenz NStZ-RR 1997, 187).
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b) Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung ist für sich allein noch kein Wiedereinsetzungsgrund im gerichtlichen Verfahren in Strafvollzugssachen (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1978, 44; Schrader 1987, 447). Der Gesetzgeber hat das Verfahren auf Wiedereinsetzung in den dem Strafvollzugsgesetz unterliegenden Verfahren abschließend geregelt. Die Rechtsvermutung des § 44 Satz 2 StPO, wonach eine fehlende Rechtsmittelbelehrung als Wiedereinsetzungsgrund anzusehen ist, kann über § 120 Abs. 1 nicht herangezogen werden (OLG Zweibrücken ZfStrVo 1990, 307; Arloth 2008 Rdn. 5). Eine unterschiedliche Regelung der Wiedereinsetzung nach dem StVollzG und der StPO ist gerechtfertigt (§ 120 Rdn. 2). Hinsichtlich vollzuglicher Maßnahmen ist eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht vorgeschrieben. Nach § 5 Abs. 2 ist jeder Strafgefangene über seine Rechte, also auch über die Möglichkeiten der Anfechtung von Entscheidungen der Vollzugsbehörde zu unterrichten. Diese Unterrichtung gewährleistet die Informiertheit des Gefangenen. Die Vollzugsbehörde erfüllt ihre Informationspflicht durch die Aushändigung von Merkblättern (Information zum StVollzG) und darüber hinaus i. d. R. durch die Aushändigung von Exemplaren des Strafvollzugsgesetzes, aus denen der Gefangene die Anfechtungsmöglichkeiten ihn belastender Vollzugsverwaltungsakte entnehmen kann. Der Schutz des Betroffenen, den § 44 Abs. 2 StPO bezwecken will, ist in Vollzugssachen daher in anderer Weise gewährleistet (OLG Frankfurt NStZ 1986, 354 F; KG 15.3.2002 – 5 Ws 138/02 Vollz). Hat die Vollzugsbehörde es jedoch unterlassen, derartige Informationsmöglichkeiten zu gewährleisten, wird einem Ge-
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fangenen die Versäumung einer Frist nicht zuzurechnen sein (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 14; C/MD 2008 Rdn. 3). Dies gilt jedoch nicht, wenn der Antrag durch einen Rechtsanwalt gestellt wird. c) Im Allgemeinen sollten bei der Wiedereinsetzung bei Fristversäumnis durch Inhaf- 10 tierte Nachsicht am Platze sein und Förmlichkeiten nicht unnötig zum Rechtsverlust führen. Amtliches Verschulden ist einem Betroffenen nicht zuzurechnen (Laubenthal 2008 Rdn. 795; OLG Hamm NStZ 1989, 248). Das gilt auch, wenn die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels auf einer unrichtigen oder unvollständigen Rechtsmittelbelehrung beruht (BGH NJW 1982, 532). Zur Wiedereinsetzung bei Fristversäumung vgl. auch das Beispiel Rdn. 16. d) Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hinder- 11 nisses, das der Einhaltung der Frist entgegenstand, zu stellen (Abs. 3 Satz 1). Anders bei Fristversäumnis im Rechtsbeschwerdeverfahren s. § 118 Rdn. 10. Nach Abs. 3 Satz 2 muss glaubhaft gemacht werden, dass die Versäumung ohne Verschulden eingetreten ist; es genügt nicht, dass die Möglichkeit besteht, die Frist könne ohne Verschulden versäumt worden sein. Glaubhaftmachen der Tatsachen zur Begründung des Antrages bedeutet eine Wahrscheinlichmachung, d. h. die behaupteten Tatsachen so weit zu beweisen, dass das Gericht sie für wahrscheinlich hält und es in die Lage versetzt wird, ohne das Verfahren verzögernde zusätzliche Ermittlungen entscheiden zu können (Meyer-Goßner 2008 § 26 StPO Rdn. 7). Bei Strafgefangenen bleibt es im Einzelfall ausreichend, wenn der inhaftierte Antragsteller zur Glaubhaftmachung eine eigene Erklärung abgibt (BVerfG StV 1993, 351). Mit dem Antrag zugleich, auf jeden Fall innerhalb der Zwei-Wochenfrist, muss die ver- 12 säumte Handlung nachgeholt werden (Abs. 3 Satz 3). Zur Wiedereinsetzung von Amts wegen nach verspätetem Wiedereinsetzungsantrag LG Münster MDR 1986, 162. Auch ohne dass ein Wiedereinsetzungsantrag ausdrücklich gestellt wurde, kann Wieder- 13 einsetzung gewährt werden, wenn bei Vornahme der versäumten Rechtshandlung innerhalb der Frist von Abs. 3 Satz 1 aus dem Zusammenhang ersichtlich ist, es wird Wiedereinsetzung begehrt und ein Verschulden liegt nicht vor (Abs. 3 Satz 4). Wiedereinsetzung kann auch von Amts wegen gewährt werden, wenn eine Verletzung der Formvorschriften von § 118 Abs. 3 durch den Rechtspfleger zu vertreten ist und dadurch die Rechtsmittelfrist versäumt wurde (OLG Koblenz NStZ 1998, 400 M; § 118 Rdn. 8). Gegen die Versäumung der Zwei-Wochenfrist des Abs. 3 Satz 1 ist ebenfalls Wiedereinsetzung zulässig. e) Abs. 4 enthält eine Ausschlussfrist. Gegen die Versäumung der Jahresfrist ist Wie- 14 dereinsetzung nicht möglich. Ist jedoch das Hindernis auf höhere Gewalt zurückzuführen, so kann auch nach späterer Beseitigung des Hindernisses Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen beantragt werden. Höhere Gewalt setzt ein außergewöhnliches Ereignis voraus, das unter den gegebenen Umständen auch durch äußerste, nach Lage der Sache vom Betroffenen zu erwartende, Sorgfalt nicht verhindert werden kann (Meyer-Goßner 2008 § 26 EGGVG Rdn. 9). f) Der einem Antrag auf Wiedereinsetzung stattgebende Beschluss ist unanfechtbar 15 (§ 120 Abs. 1, § 46 Abs. 2 StPO). Gegen die Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrages ist die sofortige Beschwerde nach § 120 Abs. 1 i. V. mit § 46 Abs. 3 StPO statthaft. Da die Frist des Abs. 1 nicht für Verpflichtungs- und Unterlassungsanträge gilt, können diese in Ausnahmefällen durch Verwirkung unzulässig werden. Dies gilt dann, wenn der Betroffene über einen längeren Zeitraum hinweg untätig bleibt, obwohl er die Rechtslage kannte oder zumutbarerweise hätte erkennen müssen.
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III. Beispiel 16
Ein Gefangener hat am Tag vor Ablauf der Zweiwochenfrist (§ 112 Abs. 1) um die Protokollierung seines Anfechtungsantrages auf gerichtliche Entscheidung und seine Vorführung bei der Geschäftsstelle des Gerichts nachgesucht. Bei der Versäumung der Frist ist Wiedereinsetzung zu gewähren, da der Gefangene darauf vertrauen durfte, dass seine beabsichtigte Antragstellung rechtzeitig zu Protokoll genommen werde. Auf etwaige Verzögerungen im Geschäftsablauf der Justizvollzugsanstalt und/oder des Gerichts hat er keinen Einfluss.
§ 113 Vornahmeantrag (1) Wendet sich der Antragsteller gegen das Unterlassen einer Maßnahme, kann der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme der Maßnahme gestellt werden, es sei denn, dass eine frühere Anrufung des Gerichts wegen besonderer Umstände des Falles geboten ist. (2) Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass die beantragte Maßnahme noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus. Die Frist kann verlängert werden. Wird die beantragte Maßnahme in der gesetzten Frist erlassen, so ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. (3) Der Antrag nach Absatz 1 ist nur bis zum Ablauf eines Jahres seit der Stellung des Antrags auf Vornahme der Maßnahme zulässig, außer wenn die Antragstellung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder unter den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles unterblieben ist. Schrifttum: s. Vor § 108
I. Allgemeine Hinweise 1
Bei verzögerlicher Sachbehandlung durch die Vollzugsbehörde ermöglicht § 113 im Interesse der Beschleunigung des Rechtsschutzes einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Unterlassung einer Maßnahme (z. B. Nichtbescheidung eines Antrages auf Gewährung von Urlaub vgl. Beispiel Rdn. 6). Hat die Vollzugsbehörde eine Maßnahme unterlassen (d. h. auf einen Antrag auf Gewährung einer begünstigenden Maßnahme nicht reagiert), kann der Antragsteller sich mittels eines Vornahmeantrags (§§ 109 Abs. 1 S. 2, 113 StVollzG) als Unterfall des allgemeinen Leistungsantrags gegen die Untätigkeit der Anstalt wenden (Untätigkeitsantrag). Dabei hat der von der Untätigkeit Betroffene zwei Vorgehensmöglichkeiten: Er verfolgt mit dem einfachen Untätigkeitsantrag das Ziel der Bescheidung (Genehmigung oder Ablehnung) seines ursprünglichen Begehrens (§ 115 Abs. 4 StVollzG). Oder der Inhaftierte geht im Wege eines Stufenantrags vor, indem er sich nicht nur gegen die Untätigkeit der Anstaltsleitung wendet, sondern zugleich das Ziel des Erlasses der Maßnahme durch die Anstaltsleitung begehrt.
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Vornahmeantrag
§ 113
II. Erläuterungen Vor Ablauf von drei Monaten (Abs. 1) seit dem an die Vollzugsbehörde gerichteten und 2 von dieser nicht verbeschiedenen Antrag auf Vornahme einer Maßnahme kann der Antrag auf gerichtliche Entscheidung prinzipiell nicht gestellt werden (Zulässigkeitsvoraussetzung). Die Drei-Monatsfrist wird grundsätzlich als angemessene Handlungs- und Entscheidungsfrist angesehen (OLG Celle NStZ 1985, 576). Für die Berechnung der Drei-Monatsfrist kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (OLG Nürnberg ZfStrVo 1990, 119). Die Festlegung einer bestimmten Frist ist erforderlich, weil ein Gefangener nur schwer festzustellen vermag, welche Gründe die Vollzugsbehörde von einer früheren Entscheidung abhalten, und er Gefahr liefe, dass sein Antrag als unzulässig abgewiesen werden müsste. Eine kürzere Frist kann jedoch dann an die Stelle der Drei-Monatsfrist treten, wenn eine frühere Anrufung des Gerichts wegen besonderer Umstände des Falles geboten ist. Dies wird immer dann der Fall sein, wenn die Verzögerung der Entscheidung der Vollzugsbehörde dem Gefangenen unverhältnismäßige Nachteile bringt. Ob dies zutrifft und welche Frist angemessen und vertretbar ist, entscheidet das Gericht im Einzelfall. Die Drei-Monatsfrist gilt auch nicht, wenn die Vollzugsbehörde sich explizit weigert, einen Antrag des Inhaftierten zu verbescheiden (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 5; Arloth 2008 Rdn. 2). Wird der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach Ablauf der Drei-Monatsfrist – oder ggf. an ihre Stelle getretene kürzere Frist – gestellt, so kann er nicht mehr als verfrüht, d. h. als unzulässig abgewiesen werden, wenn dem Erlass der beantragten Maßnahme weiterhin ein zureichender Grund entgegensteht. Die Strafvollstreckungskammer hat in diesem Fall das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihr bestimmten Frist auszusetzen, innerhalb derer die Vollzugsbehörde zu entscheiden hat (Abs. 2 Satz 1). Die Behörde muss vorbringen, welche Hindernisse ihrer Entscheidung entgegenstehen, damit das Gericht beurteilen kann, welche Frist angemessen erscheint. Eine Verlängerung der (richterlichen) Frist bleibt möglich (Abs. 2 Satz 2). Befindet die Vollzugsbehörde, gleichgültig aus welchem Grund nicht über den an sie ge- 3 richteten Antrag auf Vornahme einer Maßnahme, ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig; es ist in der Hauptsache zu entscheiden, d. h. es ist zu überprüfen, ob ein Anspruch auf Verbescheidung durch die Vollzugsbehörde besteht. Hat der Betroffene nicht nur einen einfachen Untätigkeitsantrag gestellt, sondern im Wege des Stufenantrags zugleich das Ziel des Erlasses der begehrten Maßnahme bei Gericht verfolgt, ist seitens der Strafvollstreckungskammer ggf. auch hierüber zu entscheiden (Laubenthal 2008 Rdn. 766). Bei einer Bearbeitungsdauer eines Urlaubsantrages von mehr als drei Monaten spricht der erste Anschein für ein rechtswidriges „Liegenlassen“ des Antrages (LG Hamburg ZfStrVo 1995, 245). Erlässt die Vollzugsbehörde die beantragte Maßnahme vor Ablauf der vom Gericht gesetzten Frist, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache auch ohne ausdrückliche Erklärung erledigt und das Gericht hat nur noch über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden (Abs. 2 Satz 3). Ein an das Gericht gerichteter Antrag, festzustellen, dass die Nichtbescheidung eines Antrages durch die Anstaltsleitung während eines Zeitraumes von acht Wochen rechtswidrig gewesen sei, ist nach Ansicht der überwiegenden Rechtsprechung unzulässig, weil der Antrag nach § 115 Abs. 3 voraussetzt, dass sich eine bereits getroffene Maßnahme erledigt hat (OLG Frankfurt LS ZfStrVo SH 1979, 100; OLG Hamburg LS ZfStrVo SH 1979, 99; OLG Karlsruhe NStZ 1985, 525, 526, 527 mit Anm. Helmken). Dieses Ergebnis bleibt aber in der Sache unbefriedigend und widerspricht dem grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG. Deshalb muss auch von einem Vornahmeantrag auf einen Antrag auf Feststellung (§ 115 Abs. 3) umgestellt werden können. Dies ist z. B. dann der Fall sein, wenn dem Gefangenen eine begehrte Maßnahme
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verweigert wurde und der Vornahmeantrag vor der gerichtlichen Entscheidung seine Erledigung gefunden hat (C/MD 2008 Rdn. 3; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 8; Arloth 2008 Rdn. 3; KG StV 1985, 70, 71). Lehnt die Vollzugsbehörde nach Anhängigkeit des Vornahmeantrags den Erlass der vom Gefangenen begehrten Maßnahme (z. B. Urlaubsantrag wird negativ verbeschieden) ab, kann der Betroffene vom Vornahme- zum Verpflichtungsantrag übergehen. 4 Abs. 3 entspricht als Ausschlussfrist § 112 Abs. 4 (dort Rdn. 14) mit der Ausnahme, dass auch „besondere Verhältnisse des Einzelfalles“ den Fristablauf hindern können. Die besonderen Verhältnisse setzen voraus, dass Umstände vorliegen, die die Fristüberschreitung als geboten erscheinen lassen. Hierbei kommt es immer auf das Verhalten der Vollzugsbehörde an und wie der Gefangene dieses Verhalten deuten durfte. 5 Auch für den Vornahmeantrag nach § 113 gelten die Voraussetzungen von § 109 Abs. 1, wonach der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sich auf Vornahme von Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten (§ 109 Rdn. 11) richtet. Unzulässig ist dementsprechend ein Antrag, der die Verpflichtung der Vollzugsbehörde zu Tätigkeiten anstrebt, die keine Regelung einzelner Vollzugsangelegenheiten enthält (KG 29.1.1979 – 2 Ws 145/78 Vollz). Ein Gefangener hat auch kein Recht darauf, dass die Vollzugsbehörde über seinen Antrag zweimal entscheidet. Das Unterlassen eines weiteren Bescheids auf einen früher schon beschiedenen Antrag ist keine taugliche Grundlage für einen Vornahmeantrag nach § 113 (OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 47). Bei einem Vornahmeantrag bedarf es nicht eines Verwaltungsvorverfahrens (OLG Celle NStZ 1985, 576; C/MD 2008 Rdn. 2). Zur Anwendung des § 113 bei einer landesrechtlichen Regelung über ein Vorverfahren § 109 Rdn. 36.
III. Beispiel 6
Ein Strafgefangener beantragt bei der Anstaltsleitung im Oktober die Gewährung von Hafturlaub. Im März des darauffolgenden Jahres ist über diesen Antrag noch nicht entschieden. Der Gefangene kann (ohne dass zunächst ein Verwaltungsvorverfahren durchgeführt wird) einen Vornahmeantrag (einfacher Untätigkeitsantrag) nach § 113 Abs. 1 i. V. mit § 109 Abs. 1 stellen, mit dem die Verpflichtung zum Erlass der unterlassenen Maßnahme (die Nichtbescheidung des Antrags vom Oktober auf Gewährung von Urlaub) begehrt wird. Stellt der Inhaftierte einen Stufenantrag, geht es ihm nicht nur um die Bescheidung seines an die Vollzugsbehörde gerichteten Antrags, sondern zugleich um die Verpflichtung der Anstaltsleitung zur Gewährung der Vollzugslockerung.
§ 114 Aussetzung der Maßnahme (1) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung. (2) Das Gericht kann den Vollzug der angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Das Gericht kann auch eine einstweilige Anordnung erlassen; § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ist entspre-
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Aussetzung der Maßnahme
chend anzuwenden. Die Entscheidungen sind nicht anfechtbar; sie können vom Gericht jederzeit geändert oder aufgehoben werden. (3) Der Antrag auf eine Entscheidung nach Absatz 2 ist schon vor Stellung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung zulässig. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Aussetzungsanordnung . . . . . 2. Einstweilige Anordnung . . . . a) Unterschied zur Aussetzung . b) Voraussetzungen . . . . . . c) Kein Nebeneinander von einstweiliger Anordnung und Aussetzung . . . . . . . . . . . 3. Vorläufiger Rechtsschutz und Hauptsache . . . . . . . . . . . 4. Keine weiteren vorläufigen Entscheidungen . . . . . . . . . .
1 2–11 2 3–6 3 4–5
6 7
Rdn. 5. Vorläufige Entscheidung nicht anfechtbar . . . . . . . . . . 6. Vorläufiger Rechtsschutz kann vor Antrag in der Hauptsache begehrt werden . . . . . . . . 7. Zuständigkeit . . . . . . . . . III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . 1. Gericht ordnet aufschiebende Wirkung an . . . . . . . . . . 2. Gefangener beantragt aufschiebende Wirkung . . . . . . . .
.
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. 10 . 11 . 12–13 .
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.
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I. Allgemeine Hinweise § 114 regelt zusammen mit § 116 Abs. 3 den vorläufigen Rechtsschutz im gerichtlichen 1 Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz. Mit dieser Vorschrift soll i. S. von Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet werden. Daraus folgt, dass der gerichtliche Rechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Anträge von Gefangenen sind daher sachdienlich auszulegen (Arloth 2008 Rdn. 1). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Was angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls (BVerfG NStZ 1994, 101; ZfStrVo 1995, 371; StV 2001, 698; s. Lübbe-Wolff/Lindemann 2007, 456). Daraus folgt, dass im Bereich des Strafvollzugs die Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes Vorkehrungen erfordert, dass der Gefangene rechtzeitig Zugang zum Gericht erhält. Das Verhalten der Vollzugsverwaltung darf nicht darauf angelegt werden, den gerichtlichen Rechtsschutz zu vereiteln oder unzumutbar zu erschweren (BVerfG NStZ 1993, 508; Laubenthal 2008 Rdn. 837). Nach Abs. 1 bewirkt ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht automatisch eine aufschiebende Wirkung gegenüber der angefochtenen Maßnahme; dies gilt auch für den Widerspruch in einem Verwaltungsvorverfahren (§ 109 Abs. 3). Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von Abs. 1 bestehen jedoch nicht. Art. 19 Abs. 4 GG, wonach auch der Rechtsschutz gegen vorläufige Rechtsnachteile umfasst wird, verlangt nur die Gewährleistung eines vorläufigen Rechtsschutzes, wie ihn Abs. 2 Satz 1 und 2 vorsehen (BVerfG ZfStrVo 1996, 46; Böhm 2003 Rdn. 383). Hierdurch wird sichergestellt, dass vor der Unanfechtbarkeit einer belastenden Vollzugsmaßnahme nicht vollendete Tatsachen geschaffen und Rechte beeinträchtigt werden können. Denn dem Betreffenden bleibt die Möglichkeit der Anrufung des Gerichts
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offen. Mit der Freistellung von der aufschiebenden Wirkung gem. Abs. 1 wird einer möglichen Rechtsunsicherheit (sofortige Durchsetzung) bei Anfechtung von Anordnungen der Vollzugsbehörde entgegengewirkt. In der Praxis dient ein Großteil von Anordnungen der Vollzugsbehörde der Gefahrabwehr gegen einen Störer, der durch sein Verhalten oder den Zustand einer von ihm beherrschten Sache eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt herbeiführt, oder verhindert die Begehung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten. Die Vollzugsbehörde kann allerdings bis zur gerichtlichen Entscheidung eine angefochtene Maßnahme selbst aussetzen. Vorläufiger Rechtsschutz im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder in dessen Vorfeld kommt im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nur in Betracht, wenn der Antragsteller bestehende Möglichkeiten, fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, ausgeschöpft hat (BVerfG NJW 2001, 3770). Der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz steht der Grundsatz der materiellen Subsidiarität dann nicht entgegen, wenn eine Grundrechtsverletzung geltend gemacht wird, die nur für das vorläufige Verfahren bedeutsam ist und im Hauptverfahren nicht mehr ausgeräumt werden kann (BVerfG NStZ 1999, 532). Bei Vollzugsverwaltungsakten kann für die Betroffenen die Gefahr bestehen, dass die Maßnahmen im Hinblick auf die Freistellung von der aufschiebenden Wirkung trotz Anfechtung bei sofortigem Vollzug nicht mehr rückgängig gemacht werden können (z. B. bei der Anordnung von Disziplinarmaßnahmen).
II. Erläuterungen 2
1. Abs. 2 Satz 1 sieht die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Maßnahme durch das Gericht vor. Die Entscheidung über den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Maßnahme erfordert eine Abwägung zwischen dem im jeweiligen Strafvollzugsgesetz zum Ausdruck kommenden öffentlichen Interesse an dem geordneten und funktionsfähigen Ablauf des Strafvollzugs und dem Interesse des Gefangenen, einstweilen von einer belastenden Maßnahme verschont zu bleiben (Böhm 2003 Rdn. 383). Hierbei ist zu prüfen, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert wird (s. BVerfG NStZ 2004, 223). Dabei kann auch der Umstand eine Rolle spielen, dass nach der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf im Hauptverfahren voraussichtlich Erfolg haben wird (BVerfG – 2 BvR 917/05 – Juris). Der Eilantrag muss die angefochtene Maßnahme nach Inhalt, Zeitpunkt und Begründung vollständig bezeichnen (LG Hamburg NStZ 1985, 355 F; C/MD 2008 Rdn. 3). Aus der Rechtsschutzgarantie folgt ein Beschleunigungsgebot. Bei nicht mehr rückgängig zu machenden, sofort vollziehbaren Disziplinarmaßnahmen hat das Gericht in jeweils situationsgerechter Weise unverzüglich eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die Maßnahme auszusetzen ist. Hinsichtlich der Anordnung von Disziplinarmaßnahmen liegt in der Regel eine Aussetzungsanordnung nahe, weil angesichts ihrer sofortigen Vollstreckbarkeit der Rechtsschutz in der Hauptsache zu spät käme und dem Betroffenen regelmäßig nur noch die Stellung eines Fortsetzungsfeststellungsantrags gem. § 115 Abs. 3 bliebe (BVerfG NStZ 2004, 223; s. Lübbe-Wolff/Lindemann 2007, 456). Das Gericht holt zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes entscheidungserhebliche Informationen erforderlichenfalls kurzfristig und auf schnellen Kommunikationswegen ein. In besonders gelagerten Fällen der Eilbedürftigkeit wird es auch eine vorläufige Aussetzung der Disziplinarmaßnahme in Betracht zu ziehen haben, ohne eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zum Eilantrag abzuwarten. Das gilt umso mehr, als das Gericht seine Eilentscheidung gem. Abs. 2 S. 3 jederzeit wieder ändern kann (BVerfG NStZ 1993, 507, 508; NJW 2001, 3770; Arloth 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 838). Vgl. auch § 116 Rdn. 13.
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Aussetzung der Maßnahme
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2. Nach Abs. 2 Satz 2 kann das Gericht auch eine einstweilige Anordnung entspre- 3 chend § 123 Abs. 1 VwGO erlassen. a) Einstweilige Anordnung und Aussetzung des Vollzugs einer angefochtenen Maßnahme (Abs. 2 Satz 1) unterscheiden sich nach dem Gegenstand der Hauptsache. Die Aussetzungsanordnung betrifft eine belastende Vollzugssache (Anfechtungs- oder Unterlassungsantrag in der Hauptsache). Begeht der Antragsteller eine Verpflichtung zum Erlass einer von der Vollzugsbehörde abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme (Verpflichtungs- oder Vornahmeantrag in der Hauptsache), kommt vorläufiger Rechtsschutz nur unter den Voraussetzungen von Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht (BVerfG – 2 BvR 917/05 – Juris; Laubenthal 2008 Rdn. 834 f). Im Hinblick auf das Verfahren ist bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu differenzieren: Die einstweilige Anordnung ergeht in einem abgekürzten vorläufigen Verfahren, das als selbständiges Hauptverfahren neben das Hauptsacheverfahren tritt; die Aussetzung des Vollzugs einer Maßnahme ist eine im Hauptsacheverfahren (wenn auch in einem Zwischenverfahren) zu treffende Anordnung. Auch in ihrer Reichweite decken sich beide Maßnahmen keineswegs. Während die Aussetzung der Maßnahme nur ein begrenztes Verbot gibt und nur auf eine bestimmte vollziehbare Maßnahme gerichtet ist, kann die einstweilige Anordnung Gebote und Verbote in weitem Umfang enthalten und den ganzen Streitgegenstand erfassen (Eyermann-Happ 2006 VwGO § 123 Rdn. 16 und 48). b) Eine einstweilige Anordnung kann dann getroffen werden, wenn die Gefahr be- 4 steht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnung zur Sicherung eines bestehenden Zustandes gem. § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO), oder wenn die einstweilige Regelung eines vorläufigen Zustands zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig ist (Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO vor allem bei einem auf Änderung oder Erweiterung der Rechtsposition gerichteten subjektiven Recht). Die einstweilige Anordnung kann erlassen werden, wenn aufgrund einer summarischen Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen durch das Gericht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs spricht, d. h. hinsichtlich des Rechts i. S. d. § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO bzw. dem Rechtsverhältnis i. S. d. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. Zudem muss ein Anordnungsgrund gegeben sein (Kopp/Schenke 2007 § 123 Rdn. 26). Das ist dann der Fall, wenn es dem Antragsteller unter Abwägung seiner Interessen einerseits sowie der öffentlichen Interessen (ggf. auch derjenigen Dritter) andererseits nicht zugemutet werden kann, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Außerdem darf es keine zumutbare oder einfachere Möglichkeit geben, das bestehende Recht vorläufig zu wahren oder zu sichern. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nur gegen eine Maßnahme nach § 109 5 Abs.1 Satz 1 zulässig (§ 109 Rdn. 23) und wenn es nötig ist, die Verwirklichung eines Rechts zu sichern oder einen vorläufigen Zustand in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zu regeln (vgl. das Beispiel unter Rdn. 13). Eine Gefahr i. S. von § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt noch nicht vor, wenn die bloße Möglichkeit beeinträchtigender Maßnahmen besteht; erforderlich sind vielmehr tatsächliche Vorgänge oder Handlungen, die auf unmittelbar bevorstehende und rechtserhebliche Veränderungen schließen lassen (Eyermann-Happ 2006 VwGO § 123 Rdn. 21, 53). Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung verneint z. B. das OLG Karlsruhe (ZfStrVo SH 1978, 58) bei einem Urlaubsantrag nach § 13. Dass ein Gefangener zumindest vorläufig keinen Urlaub erhält, bedeutet nach dieser Entscheidung keinen so schwerwiegenden Nachteil für ihn, dass es nötig wäre, eine vorläufige Regelung zu treffen. Siehe LG Lübeck ZfStrVo 2003, 382. Der Erlass einer einstweiligen
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Anordnung setzt ein Rechtsschutzbedürfnis für eine vorläufige Regelung voraus. Ein solches schutzwürdiges Interesse ist aber zu verneinen, wenn die angestrebte Entscheidung für den Antragsteller zur Durchsetzung seiner Rechte nicht notwendig ist (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 180). Spricht die Rechtslage eindeutig gegen den Antragsteller, muss der Antrag abgelehnt werden. Zu Fällen, in denen der Antragsteller die Vornahme einer Verwaltungshandlung begehrt, gehört es zu den Obliegenheiten, dem Gericht drohenden Rechtsverlust oder unzumutbare Nachteile vorzutragen, da sich die Notwendigkeit einer schnellen Entscheidung in der Regel nicht ohne weiteres ergibt. Kommt der Antragsteller dieser Obliegenheit nicht nach, besteht für das Gericht kein Anlass und auch keine Verpflichtung aus Art.19 Abs. 4 GG, schnell eine Klärung herbeizuführen, ob und wann tatsächlich ein Nachteil droht (BVerfG ZfStrVo 1996, 46).
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c) Aussetzung des Vollzugs einer Maßnahme und einstweilige Anordnung können, soweit sie dasselbe Ziel verfolgen, nicht nebeneinander begehrt werden (Arloth 2008 Rdn. 4). Ebenso ist ein Fortsetzungsfeststellungsantrag im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht statthaft (OLG Hamm NStZ 2001, 415 M).
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3. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist seinem Sinn und Zweck nach auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen der Antragsteller auch eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren anstrebt; denn die einstweilige Anordnung soll nur vorläufigen Rechtsschutz bis zur Hauptsacheentscheidung ermöglichen. Verabsäumt der Antragsteller die Inanspruchnahme des Hauptsacherechtsbehelfs (Antrag nach § 109) und ist aus diesem Grunde ein Hauptsacheverfahren weder anhängig noch mehr möglich, ist auch kein Raum für vorläufigen Rechtsschutz (OLG München LS ZfStrVo SH 1979, 103). Ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Hauptsacheverfahren unzulässig, ist auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässig, denn es kann nur die Maßnahme begehrt werden, die das Gericht auch im Hauptsacheverfahren erlassen könnte (LG Bielefeld ZfStrVo SH 1978, 48). Durch die einstweilige Anordnung darf die endgültige Entscheidung nicht vorweggenommen werden (BVerfG NStZ 1999, 532), die vorläufige also faktisch nicht einer endgültigen gleichkommen (BVerfG NVwZ 2003, 1112). Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur bei besonders schweren sowie unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen, die durch die spätere Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden können (BVerfG NStZ 2000, 166). Ist die Hauptsache mit einer endgültigen Ablehnung abgeschlossen, hat das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung seine Erledigung gefunden. Aus ihrem vorläufigen Charakter folgt, dass die einstweilige Anordnung mit der abschließenden Entscheidung in der Hauptsache gegenstandslos wird (BGH NJW 1979, 664). Bei Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde, bei der das Gericht nur auf Ermessensfehler nachprüfen darf, aber nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Vollzugsbehörde setzen kann, ist eine einstweilige Anordnung grundsätzlich nicht möglich. Eine einstweilige Anordnung kann dann zulässig sein, wenn feststeht, dass das Ermessen nur noch in einer bestimmten Richtung auszuüben ist (§ 115 Rdn. 18). Das Gleiche gilt beim Beurteilungsspielraum eines unbestimmten Rechtsbegriffs (Arloth 2008 Rdn. 4). Beinhaltet der Beschluss der Strafvollstreckungskammer im Eilverfahren (Abs. 2) schon die endgültige Regelung in der Hauptsache, so liegt eine Entscheidung nach § 115 vor, die mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden kann (OLG Hamm ZfStrVo 1987, 378; OLG Karlsruhe NStZ 1993, 557; Laubenthal 2008 Rdn. 821). Zur Ermessensüberprüfung § 115 Rdn. 19 ff; zum unbestimmten Rechtsbegriff § 115 Rdn. 21.
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4. Nach Abs. 2 kann das Gericht lediglich den Vollzug der angefochtenen Maßnahme aussetzen oder eine einstweilige Anordnung erlassen. Für eine andere Entscheidung, wie
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Aussetzung der Maßnahme
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z. B. für die Feststellung, dass die Vollzugsbehörde zu einer unverzüglichen Bescheidung des Antrages eines Gefangenen verpflichtet sei, gibt das Gesetz keine Handhabe (OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 53; OLG Hamm 1984, 356 F). 5. Nach Abs. 2 Satz 3 sind die Entscheidungen auf Aussetzung des Vollzuges (Abs. 2 9 Satz 1) und einstweilige Anordnung (Abs. 2 Satz 2) nicht anfechtbar (BGH NJW 1979, 664; OLG Koblenz ZfStrVo 1986, 125; 1991, 377; Haas 1986, 161). Das Gericht kann jedoch seine Entscheidung jederzeit ändern oder aufheben (Abs. 2 Satz 3). Ein Gefangener kann in seinen verfassungsmäßigen Rechten (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt sein, wenn die Strafvollstreckungskammer die Verwerfung seines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung allein damit begründet, eine gemäß § 109 zu überprüfende Maßnahme sei nicht erfolgt. Vorläufiger Rechtsschutz nach Abs. 2 ist nicht auf die Überprüfung bereits erfolgter Maßnahmen beschränkt. Denn nach § 109 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 123 Abs. 1 VwGO kann auch ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hinsichtlich der unterlassenen Maßnahme in Betracht kommen. Eine derartige von vornherein ausschließende Behandlung des Antrages verkürzt Tragweite und Umfang des Rechtsschutzes eines Vornahmebegehrens (VGH Berlin ZfStrVo 2003, 248). 6. Abs. 3 stellt klar, dass die Anträge nach Abs. 2 schon vor dem Antrag auf gerichtliche 10 Entscheidung gestellt werden können, um ein rechtzeitiges gerichtliches Eingreifen zu gewährleisten. Die Zurückweisung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, vorläufiger Rechtsschutz könne erst dann gewährt werden, wenn zunächst Widerspruch eingelegt sei, verletzt den Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art.19 Abs. 4 GG (BVerfG NStZ 1993, 404, 405). 7. Zuständig für die Entscheidungen nach Abs. 2 ist das Gericht der Hauptsache (§ 110, 11 § 117; OLG Hamm LS ZfStrVo SH 1979, 101).
III. Beispiele 1. Gegen einen Strafgefangenen wurde eine Disziplinarmaßnahme verhängt: Er stellt 12 gegen diese Verfügung einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung nach §§ 109 ff. Weil dieser Antrag keine aufschiebende Wirkung hat (Abs. 1), kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung (Abs. 2 Satz 1) anordnen, d. h. den Vollzug der Disziplinarsache bis zur Entscheidung in der Hauptsache aussetzen, wenn im konkreten Fall die schutzwürdigen Interessen des Gefangenen gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem geordneten und funktionsfähigen Strafvollzug überwiegen. 2. Ein Gefangener ist schwer erkrankt. Die Erkrankung macht, wie vom Anstaltsarzt be- 13 stätigt, dringend und unaufschiebbar die Verlegung in ein Krankenhaus erforderlich. Die Vollzugsbehörde lehnt dies ab, da ein Vollzugskrankenhaus nicht zur Verfügung steht. Der Gefangene kann nunmehr im Wege einer einstweiligen Anordnung (Abs. 2 Satz 2 i. V. mit § 123 Abs. 1 VwGO) bei Gericht die Verlegung in ein öffentliches Krankenhaus beantragen, da die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts (§§ 56 ff) vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, obwohl im konkreten Fall nicht nur ein vorläufiger Zustand geregelt wird.
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
§ 115 Gerichtliche Entscheidung (1) Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Der Beschluss stellt den Sach- und Streitstand seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt zusammen. Wegen der Einzelheiten soll auf bei den Gerichtsakten befindliche Schriftstücke, die nach Herkunft und Datum genau zu bezeichnen sind, verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt. Das Gericht kann von einer Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung der angefochtenen Entscheidung folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt. (2) Soweit die Maßnahme rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht die Maßnahme und, soweit ein Verwaltungsvorverfahren vorhergegangen ist, den Widerspruchsbescheid auf. Ist die Maßnahme schon vollzogen, kann das Gericht auch aussprechen, dass und wie die Vollzugsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat, soweit die Sache spruchreif ist. (3) Hat sich die Maßnahme vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, spricht das Gericht auf Antrag aus, dass die Maßnahme rechtswidrig gewesen ist, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. (4) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung der Maßnahme rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Vollzugsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Anderenfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. (5) Soweit die Vollzugsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1–9 1. Verfügungsgrundsatz . . . . . . 1 2. Untersuchungsgrundsatz . . . . 2–5 a) Aufklärungspflicht des Gerichts . . . . . . . . . . . 2 b) Einschränkungen . . . . . . 3 c) Nachschieben von Gründen . 4–5 3. Rechtliches Gehör . . . . . . . . 6–7 a) Allgemeines . . . . . . . . . 6 b) Einsicht in Akten; Vorlage bei Gericht . . . . . . . . . . . . 7 4. Anwaltliche Vertretung . . . . . 8 5. Ablehnung des Richters . . . . . 9 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 10–23 1. Allgemeines zu Verfahren und Entscheidung . . . . . . . . . . 10–13
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Rdn. a) Schriftliches Verfahren . . b) Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . c) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Begründetheit des Antrages . . . . . . . . . . . . d) Mindestanforderungen der schriftlichen Begründung . 2. Entscheidung bei Anfechtungsantrag . . . . . . . . . . . . . a) Umfang der Anfechtung . . b) Folgenbeseitigungsanspruch 3. Feststellung der Rechtswidrigkeit bei Erledigung . . . . . . 4. Sachentscheidung des Gerichts bei Spruchreife . . . . . . . .
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. 14–16 . 14–15 16 .
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Gerichtliche Entscheidung Rdn. 5. Überprüfung von Ermessensentscheidungen . . . . . . . . . . . 19–23 a) Grundsätzlich keine Ersetzung der Entscheidung der Behörde durch das Gericht (Ausnahme: Null Reduktion) 19 b) Ermessensfehler . . . . . . . 20 c) Unbestimmte Rechtsbegriffe und gerichtliche Überprüfbarkeit . . . . . . . . . . . . 21
§ 115 Rdn.
d) Beurteilungsspielraum der Behörde bei Prognoseentscheidungen . . . . . . . . . . . . e) Verwaltungsvorschriften als Ermessensrichtlinien und Entscheidungshilfen . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Die Vorschrift enthält im Wesentlichen Regelungen für die Entscheidung über den 1 Antrag und zum Verfahren selbst. Bei keiner anderen Vorschrift wird mehr deutlich, wie sehr das gerichtliche Verfahren nach dem StVollzG auf Entlehnungen aus der VwGO und dem Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG beruht, die letztlich durch Verweisungen auf die Strafund Zivilprozessordnung ergänzt werden. Beherrscht wird dabei das Verfahren in Vollzugssachen eher durch die Grundsätze des Verwaltungsprozessrechts als denjenigen des Strafprozessrechts (Laubenthal 2008 Rdn. 760; Müller-Dietz 1985, 339; Schuler 1988, 259; MüllerDietz 1990, 305; Walter 1999 Rdn. 421 f; Kösling 1991, 19 ff; Voigtel 1998, 73, 198 ff). Zur Bewertung der gerichtlichen Kontrolle Böhm 2003 Rdn. 388 ff; Laubenthal 2008 Rdn. 840 ff; Walter 1999 Rdn. 420, 431. Im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG gilt der Verfügungsgrundsatz, d. h. der Antragsteller bestimmt mit seinem Antrag den Streitgegenstand mit bindender Wirkung für das Gericht und die anderen Verfahrensbeteiligten (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 802; OLG Frankfurt ZfStrVo 2003, 300). Für eine dem Interesse des Gefangenen Rechnung tragende Auslegung seines Antrages, die aufgrund der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten sein kann, ist kein Raum, wenn der Gefangene seinen Willen in eindeutiger Weise zum Ausdruck gebracht hat (OLG Koblenz ZfStrVo 1993, 377). Allerdings verstößt es gegen das Willkürverbot, wenn ein Gericht das Verfahrensrecht so auslegt, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelf- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BVerfG StV 1994, 202). Der Streitgegenstand wird in dem an das Gericht gerichtete Begehren um Rechtsschutz beschrieben und damit begrenzt, bei einem Anfechtungsantrag der Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Maßnahme und bei einem Verpflichtungsantrag der Anspruch des Antragstellers auf Verpflichtung der Vollzugsbehörde zur Vornahme des begehrten Vollzugsverwaltungsaktes. Auch eine Beschränkung des Antrages auf bestimmte Punkte ist zulässig. Wenn aber die Strafvollstreckungskammer den Streitgegenstand von sich aus erweitert, ohne dass hierfür ein Rechtsschutzbedürfnis infolge eines entsprechenden Antrags besteht, so ist dies im Verfahren nach § 109 im Hinblick auf die Dispositionsmaxime unzulässig (OLG Stuttgart NStZ 1999, 447 M). 2. a) Für das gerichtliche Verfahren nach dem StVollzG gilt der Grundsatz der Amts- 2 ermittlung (Untersuchungsgrundsatz) § 120 Abs. 1; § 244 Abs. 2 StPO. Das Gericht ist zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Ermittlung der materiellen Wahrheit verpflichtet (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 188; OLG Koblenz ZfStrVo 1980, 186; OLG Celle ZfStrVo 1980, 191; C/MD 2008 Rdn. 3; Voigtel 1998, 96 ff, 106). In dem gerichtlichen Verfahren erster Instanz nach dem StVollzG ist über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Vollzugs-
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behörden zu befinden. Das besagt aber nicht, dass die Maßnahmen nur auf Rechtsverletzungen hin nachzuprüfen wären. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird vielmehr dann in vollem Umfange erfüllt, wenn auch die Tatsachenfeststellung der Behörde einer gerichtlichen Nachprüfung unterzogen wird (BVerfGE 21, 191). Die Strafvollstreckungskammer darf deshalb im gerichtlichen Verfahren den tatsächlichen Sachverhalt, von dem die Vollzugsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist, nicht ungeprüft ihrer Entscheidung zugrunde legen oder das Vorbringen eines Beteiligten als wahr unterstellen, weil es nicht bestritten wurde (OLG Hamm NStZ 1985, 355 F). Pflicht der Strafvollstreckungskammer ist es, den zugrunde liegenden Sachverhalt vollständig aufzuklären, denn nur so kann sie der ihr gestellten Aufgabe, über die Rechtmäßigkeit von Vollzugsverwaltungsakten zu befinden, im Einzelfall nachkommen (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 3; Laubenthal 2008 Rdn. 804). Beantragt z. B. ein Gefangener, in die für seinen Wohnort zuständige Justizvollzugsanstalt eines anderen Bundeslandes verlegt zu werden, so ist das Gericht von Amts wegen verpflichtet, Ermittlungen anzustellen (OLG München StV 2002, 662, 663 mit Anm. Degenhard). Dies gilt auch, soweit der Vollzugsanstalt ein Beurteilungsspielraum oder ein Ermessen eingeräumt ist (OLG Stuttgart ZfStrVo 1997, 371). Bei widersprüchlichem Vorbringen der Vollzugsbehörde zur Begründung einer Maßnahme sind dementsprechend besondere Anforderungen an die Aufklärung des Sachverhalts durch die Strafvollstreckungskammer zu stellen. Im Hinblick auf ein uneinheitliches Vorbringen der Vollzugsbehörde ist das Gericht gehalten, die wirklich maßgebenden Gründe für eine bestimmte Anordnung zu ermitteln und diese daraufhin zu untersuchen, ob sie die getroffene Maßnahme zu tragen geeignet sind. Von einer Vollzugsbehörde muss erwartet werden, dass sie die für eine Maßnahme tatsächlich ausschlaggebenden Gründe zutreffend, widerspruchsfrei und nachprüfbar darlegt, um nicht bei dem Adressaten den Eindruck willkürlichen Verhaltens aufkommen zu lassen (OLG Koblenz 7.9.1981 – 2 Vollz (Ws) 53/81). Rechtlich erhebliches Vorbringen kann dann unberücksichtigt bleiben, wenn es widerlegt ist, wobei dem Antragsteller eine Beweislast oder ein Beweisrisiko nicht aufgebürdet werden darf (OLG Karlsruhe NStZ 1991, 509; Laubenthal 2008 Rdn. 804).
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b) Im Einzelfall kann eine eingeschränkte Sachaufklärung mit dem Amtsermittlungsgrundsatz vereinbar sein. Unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1981, 1719; OLG Frankfurt NStZ 1981, 117; OLG Hamburg StV 1981, 537 und VGH München NJW 1980, 198 hat das OLG Nürnberg (2.2.1982 – Ws 805/81) aus Gründen der Sicherheit und Ordnung ein Geheimhaltungsbedürfnis hinsichtlich der Namen der Informanten und solcher Sachinformationen bejaht, die Rückschlüsse auf den jeweiligen Informanten zulassen. Die Strafvollstreckungskammer habe zu prüfen, ob nicht bereits ohne die zusätzlichen Informationen von einem bestimmten Sachverhalt ausgegangen werden kann (s. auch AKKamann/Volckart 2006 Rdn. 15; Voigtel 1998, 286 ff). Ob ein Schriftstück wegen der Gefährdung der Sicherheit der Anstalt dem Gefangenen vorenthalten werden darf, hat das Gericht nach eigener Lektüre zu entscheiden (OLG Hamburg MDR 1978, 428).
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c) Im Zusammenhang mit der Aufklärungspflicht kommt der Frage der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen durch die Vollzugsbehörde Bedeutung zu. Im Verwaltungsgerichtsverfahren ist dies bei Ermessensentscheidungen grundsätzlich zulässig (BVerfGE 22, 215), weil die Verwaltungsbehörde nicht stets gehalten ist, alle ihre Gründe in einem Bescheid anzugeben. Für das gerichtliche Verfahren in Strafvollzugssachen kann diese von der Rechtsprechung für das Verwaltungsgerichtsverfahren vertretene Auffassung jedoch nur mit Einschränkungen übernommen werden. Einer Vollzugsbehörde muss es möglich sein, auf diejenigen Tatsachen zurückzugreifen, die im Zeitpunkt ihrer Entschließung bekannt waren und von denen auch der Gefangene annehmen kann, dass sie von
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der Vollzugsbehörde bei der Ermessensausübung in die Erwägungen einbezogen worden sind (OLG Nürnberg NStZ 1998, 592). Die Vollzugsbehörde darf im gerichtlichen Verfahren, das auf die Nachprüfung einer Ermessensentscheidung oder einer Entscheidung im Ermessensspielraum gerichtet ist (Rdn. 19 ff), keine neuen, dem Gefangenen unbekannten Gründe nachschieben, auch nicht solche, dem Gefangenen bekannte Gründe, die sie bei ihrer Würdigung ersichtlich außer Betracht gelassen hatte. Würden solche Gründe im Nachhinein im gerichtlichen Verfahren noch geltend gemacht werden können, würde möglicherweise sich nicht nur der Charakter der ursprünglichen Entschließung im gerichtlichen Verfahren ändern; es würde auch das Ergebnis einer neuen Abwägung mit neuen Faktoren an die Stelle der beantragten Abwägung gesetzt (OLG Stuttgart ZfStrVo 2002, 56; OLG Koblenz NStZ 1981, 495; OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 309; NStZ 1982, 349; ZfStrVo 1987, 111; vgl. auch OLG Koblenz ZfStrVo 1982, 123; Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 8; Franke 1978, 187, 188; OLG Frankfurt NStZ 1986, 240; OLG Hamm StV 1997, 32). Der Betroffene hat Anspruch auf eine von Anfang an rechtmäßige und nicht erst unter dem Eindruck des gerichtlichen Verfahrens berichtigte Entscheidung. Um die eingeschränkte richterliche Kontrolle des Beurteilungs- und Ermessungsspielraums zu gewährleisten, muss die Entscheidung einer Vollzugsbehörde ggf. spätestens im Widerspruchsverfahren ausreichend begründet sein; sie kann nicht durch ergänzendes Vorbringen im gerichtlichen Verfahren ersetzt werden (OLG Hamm NStZ 1997, 381 M). Im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG ist es aber zulässig, dass ein Antragsteller 5 selbst die ursprünglichen Mängel seines Antrags behebt. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass der Antragsteller sich einen von einem anderen Verfahrensbeteiligten eingebrachten Sachvortrag zu eigen macht (OLG Hamm NStZ 1981, 368). Dies kommt etwa in Betracht bei Schriftsätzen von Gefangenen, bei denen das Anliegen des Betroffenen für das Gericht erst durch die Stellungnahme der Vollzugsbehörde erkennbar wird. 3. a) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs erschöpft sich nicht in dem Recht des 6 Verfahrensbeteiligten, Äußerungen abzugeben, und in der entsprechenden Pflicht des Gerichts, solche Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen und in die Erwägungen einzubeziehen. Art. 103 Abs. 1 GG verleiht vielmehr dem Verfahrensbeteiligten darüber hinaus einen Anspruch darauf, zu Tatsachen und Beweisergebnissen, die das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen will, gehört zu werden, und verpflichtet demgemäß das Gericht, nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zu verwerten, zu denen Stellung zu nehmen der Beteiligte Gelegenheit hatte (Arloth 2008 Rdn. 4; C/MD 2008 Rdn. 6 und 7; Laubenthal 2008 Rdn. 806; OLG Hamm ZfStrVo 1986, 127). Verwertet die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss Tatsachen und Beweisergebnisse, zu denen der Antragsteller mangels Kenntnissen nicht Stellung nehmen konnte, verletzt sie dessen Recht auf rechtliches Gehör (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 251; NStZ 1989, 295). Das Gericht wird dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht gerecht, wenn es die am Tage der Entscheidungsabfassung eingegangene Stellungnahme eines Verfahrensberechtigten nur zur Kenntnis nimmt. Das Gericht ist vielmehr verpflichtet, auch diese Ausführungen noch zu erwägen und ernsthaft in Betracht zu ziehen (BVerfGE 11, 218; OLG Celle NStZ 1990, 427 B). Eine Verletzung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs liegt auch dann vor, wenn das Gericht einen Antrag mangels Begründung verwirft unter Umgehung des Gesuchs um Einsicht in die Gefangenenpersonalakten (OLG Karlsruhe StV 2002, 212, 213). Geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auf einen wesentlichen Teil des Tatsachenvertrags einer Partei nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen (OLG Koblenz NStZ 2002, 531 M). Aus internen Berichten muss nur das mitgeteilt werden, was im Blick auf die jeweilige Sach- und Rechtslage für die Entscheidung benötigt wird. Diese Teile sind allerdings im
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Wortlaut bekannt zu geben (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 113). Bei Geheimhaltungsgründen besteht kein Anspruch auf Einsichtnahme in einen angehaltenen Brief (OLG Hamm ZfStrVo 1986, 191). Zur Notwendigkeit vertraulicher Behandlung verwerteter Informationen LG Hamburg NStZ 1985, 355 F; K/S-Schöch 2002 § 9 Rdn. 52; s. auch § 185 Rdn. 9 und 18. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt bei der Verwertung von Erkenntnissen, die dem Antragsteller zwar vor der Entscheidung nicht mitgeteilt, aber ohnehin bekannt waren (OLG München NStZ 1981, 249 F). Ebenso wird der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, wenn einem Gefangenen vor Erlass eines Bescheides durch den Anstaltsleiter nicht Gelegenheit gegeben wurde, Stellung zu nehmen. Denn Art. 103 Abs. 1 GG gilt nur für das gerichtliche Verfahren (KG NStZ 1998, 397 M). Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Strafvollstreckungskammer kann nicht dadurch geheilt werden, dass im Verfahren vor dem Rechtsbeschwerdegericht rechtliches Gehör gewährt wird (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1979, 111). Ein Anspruch auf Nachholung des rechtlichen Gehörs kann sich aus § 120 Abs. 1 i.V.m. § 33a StPO ergeben (OLG Celle NStZ 1992, 431 B). Zum rechtlichen Gehör bei der Rechtsbeschwerde § 119 Rdn. 3. Zu den elementaren Grundsätzen des gerichtlichen Verfahrens gehört neben dem Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 MRK; BVerfGE 65, 171; C/MD 2008 Rdn. 7; Laubenthal 2008 Rdn. 807; § 116 Rdn. 7). Dies kann eine mündliche Erörterung mit dem Antragsteller – auch aus Gründen der gerichtlichen Fürsorgepflicht – erfordern, wenn dieser im schriftlichen Ausdruck ungewandt und deshalb sein Begehren nicht klar erkennbar oder bei schwieriger Rechtslage auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuweisen ist (Eschke 1993, 145; Böhm Anm. zu OLG Hamm JR 1997, 84). Zu einem fairen Verfahren gehört es auch, dass den Verfahrensbeteiligten das Ergebnis der Aufklärungsbemühungen des Gerichts mitgeteilt wird, so dass sie sich hierzu äußern und ggf. weitere Beweisanregungen einbringen können (Böhm 2003 Rdn. 375). Zum Umgang mit Antragstellern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, s. § 112 Rdn. 4.
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b) Das Recht eines Gefangenen auf Einsicht in seine Personalakten ist im Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes in § 185 geregelt (§ 185 Rdn. 8 ff). Hinsichtlich der landesrechtlichen Bestimmungen s. etwa § 23 JVollzDSG, Art. 203 BayStVollzG, § 198 NJVollzG. Die Aktenvorlage an Gerichte im Verfahren nach §§ 109 ff ergibt sich aus § 180 Abs. 3 und Abs. 6 bzw. auf Länderebene gem. § 9 Abs. 1 JVollzDSG, Art. 197 Abs. 3 und 6 BayStVollzG, § 191 Abs. 4 NJVollzG. Damit ist dem Interesse der Verfahrensbeteiligten an der umfassenden Klärung des Sachverhalts, von allen Vorgängen Kenntnis zu nehmen und ihr Vorbringen darauf abzustellen, Rechnung getragen. Eine Ausnahme ergibt sich aus § 120 Abs. 1 i. V. m. § 96 StPO im Hinblick auf vertrauliche amtliche Schriftstücke. Im Einzelnen s. § 180 Rdn. 20, 36. Die Verweigerung der Akteneinsicht kann unter Umständen die Verletzung von Vorschriften nach EMRK bedeuten (EGMR NStZ 1998, 429 mit Anm. Deumeland).
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4. Der Beistand eines Rechtsanwalts im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG gehört zum Tätigkeitsbereich des Verteidigers (OLG München ZfStrVo SH 1978, 24; OLG Hamm ZfStrVo 1980, 57); ein Anwalt wird nur dann zum Verteidiger in einer Strafvollzugssache, wenn er einen Verteidigungsauftrag in einer oder mehreren ganz bestimmten Rechtssachen nachweist (LG Wuppertal NStZ 1992, 152; Arloth 2008 § 26 Rdn. 1). A. A. AK-Volckart 2006 Vor § 108 Rdn. 16. Zum Nachweis des Verteidigerverhältnisses OLG Koblenz (ZfStrVo 1996, 116); zum Verbot der Mehrfachverteidigung OLG München NStZ 1985, 383, 384; BVerfG NJW 1986, 1161. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sieht das StVollzG nicht vor; sie ist auch über § 120 Abs. 1 i.V.m. § 140 StPO nicht möglich, denn § 140 Abs. 2 StPO findet im Strafvollzugsverfahren keine Anwendung (Meyer-Goßner 2008 § 140 StPO Rdn. 33b; Volckart/Pollähne/Woynar 2008, 228; OLG Bremen NStZ 1984, 91; OLG Nürnberg NStZ 1981,
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250). Das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff sieht ausschließlich die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Wege der Prozesskostenhilfe vor, vgl. § 120 Abs. 2 i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO). Die Antragstellung durch einen Bevollmächtigten ist gestattet (Laubenthal 2008 Rdn. 762). Zur Unterstützung von Strafgefangenen durch einen Mitinhaftierten im Verfahren gem. §§ 109 ff siehe § 108 Rdn. 3. 5. Ein zur Entscheidung nach § 115 Abs. 1 berufener Richter kann im Rahmen der in 9 der StPO vorgesehenen Möglichkeiten vom Antragsteller abgelehnt (Besorgnis der Befangenheit) werden (§ 120 Abs. 1, §§ 24 ff StPO; OLG Hamm NStZ 1982, 352; OLG Stuttgart NStZ 1985, 524; OLG Koblenz NStZ 1986, 384; Homann 1989, 81; OLG Nürnberg NStZ 1988, 475). Der die Ablehnung verwerfende Beschluss ist nur mit der Rechtsbeschwerde zusammen anfechtbar (§ 120 Abs. 1 i. V. m. § 28 Abs. 2 Satz 2 StPO; OLG Celle ZfStrVo 1999, 447; OLG Hamm NStZ 1982, 352; OLG Stuttgart MDR 1986, 79; OLG Frankfurt NStZ 1997, 429 M). Zur einzelrichterlichen Entscheidungskompetenz über ein Ablehnungsgesuch BVerfG NStZ 1985, 91. Zur Ablehnung eines Richters wegen Äußerungen in der Fachpresse s. BVerfG NStZ-RR 1997, 23. Zum Ausschluss eines ehemaligen Beamten einer Justizvollzugsanstalt als Richter OLG Dresden ZfStrVo 2001, 362. Zum Einsatz eines blinden Richters OLG Hamburg ZfStrVo 2001, 122; § 120 Rdn. 3. Hat das Gericht dem Strafgefangenen auf sein Verlangen hin die zur Mitwirkung in seinem Verfahren berufenen Richter mitgeteilt, muss es ihn über jede weitere Änderung der Besetzung von Amts wegen unterrichten (OLG Nürnberg ZfStrVo 2000, 181).
II. Erläuterungen 1. a) Die Entscheidung der Strafvollzugskammer ergeht im schriftlichen Verfahren 10 durch Beschluss (Abs. 1 Satz 1); eine mündliche Verhandlung ist nicht vorgesehen (krit. Laubenthal 2008 Rdn. 845). Im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG gilt der Untersuchungsgrundsatz (Rdn. 2); im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht kann die Strafvollstreckungskammer weitere ergänzende Ermittlungen veranlassen oder selbst durchführen (§ 120 Abs. 1; § 308 Abs. 2 StPO). Denn die Strafvollstreckungskammer ist an die von der Vollzugsbehörde getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht gebunden. Sie muss vielmehr, wie jede verwaltungsgerichtliche Tatsacheninstanz, den Sachverhalt selbst feststellen. Ggf. muss sie, wenn die behördlichen Tatsachenfeststellungen bestritten sind, Beweis erheben, sei es durch Zeugenvernehmungen, Augenschein, Anhörungen und Vorlage von Akten (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 39; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 111). Hierfür gelten die Regeln des Freibeweises mit der Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts. Danach ist eine Tatsache dann bewiesen, wenn das Gericht nach seiner Überzeugung die beweisende Tatsache für wahr und nicht lediglich für wahrscheinlich hält (hierzu Laubenthal 2008 Rdn. 805; Voigtel 1998). Eine mündliche Anhörung des Antragstellers und Vernehmung von Zeugen sind nicht ausgeschlossen (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 4). b) Eine Sachentscheidung nach Abs. 1 setzt u. a. voraus, dass das angerufene Gericht zu- 11 ständig ist (§ 110), dass der Antrag zulässig ist (§ 109, § 112, § 113, § 114 Abs. 2 und 3) und ggf., dass ein Verwaltungsvorverfahren vorausgegangen ist (§ 109 Abs. 3). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die volle Überprüfung der angefochtenen Maßnahme erfolgen. Vor jeder Überprüfung der Begründetheit ist die Zulässigkeit des Antrags festzustellen. Im Rahmen dieser Überprüfung sollte das Gericht jedoch beachten, dass Anträge analog § 300 StPO entsprechend der Zielsetzung des Begehrens auszulegen sind. Ist z. B. der Verweisungsantrag eines Antragstellers zum Rechtsweg ersichtlich fehlerhaft, muss die mit der Sache befasste Strafvollstreckungskammer aus ihrer Fürsorgepflicht heraus die Stellung eines sach-
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gerechten Antrags anregen (OLG Hamm ZfStrVo 2002, 378; § 109 Rdn. 9). Einzelheiten dazu bei § 109.
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c) Hinsichtlich der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit durch das Gericht und damit für die Begründetheit des Antrags ist nach dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren und der Art der vollzuglichen Maßnahme zu differenzieren (Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 9). Bei einem Anfechtungsantrag (§ 109 Abs. 1 Satz 1) geht der Antragsteller davon aus, dass die ihn belastende Maßnahme von Anfang an rechtswidrig war. Es kommt dementsprechend prinzipiell auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (bzw. des Erlasses des Widerspruchsbescheids) an. Dies gilt insbesondere bei Ermessensentscheidungen sowie bei der Ausfüllung eines Beurteilungsspielraums durch die Vollzugsbehörde. Wurde die angeordnete und den Betroffenen belastende Maßnahme noch nicht vollzogen, ist aber auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen, denn es könnten im Einzelfall zwischenzeitlich für den Inhaftierten günstige Tatsachen eingetreten sein, welche seitens des Gerichts noch zu berücksichtigen sind (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 54). Bei einem Verpflichtungsantrag (§ 109 Abs. 1 Satz 2) bestimmt sich der für die gerichtliche Entscheidung maßgebliche Zeitpunkt entsprechend des Verfügungsgrundsatzes (Rdn. 1) grundsätzlich nach dem Antrag; dies wird i. d. R. der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sein. Es ist also grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 56). Bei beantragter Verpflichtung zu Maßnahmen mit Beurteilungsspielraum oder Ermessen kommt es jedoch auf den Zeitpunkt an, zu dem der ablehnende Bescheid durch die Vollzugsbehörde ergangen ist (OLG Celle NStZ 1989, 198; OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 53; OLG Hamm NStZ 1990, 559; OLG Nürnberg ZfStrVo 2001, 367; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 9). Für einen Feststellungsantrag (Rdn. 17) bestimmt sich der maßgebliche Zeitpunkt grundsätzlich nach dem Inhalt des Antrags selbst (OLG Zweibrücken NStZ 1982, 352). Bei sog. Dauermaßnahmen, d. h. Maßnahmen, deren Wirkung auf Dauer gerichtet und die wieder aufzuheben sind, wenn die dafür maßgeblichen rechtlichen oder tatsächlichen Gründe später wieder wegfallen (z. B. Sicherungsmaßnahmen), kommt es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 9).
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d) Die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer sind schriftlich zu begründen und den Beteiligten vollständig zuzustellen (OLG Hamburg ZfStrVo 1991, 311); an diesen Beschluss sind grundsätzlich dieselben Anforderungen zu stellen wie an die Begründung eines strafgerichtlichen Urteils (§ 267, § 34 StPO), es sind also auch die entscheidungserheblichen Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anzuführen. Dies muss so umfassend und vollständig geschehen, dass eine hinreichende Überprüfung in einem Rechtsbeschwerdeverfahren möglich wird (BR-Drucks. 697/03, S. 4; OLG Celle NStZ-RR 2005, 357 f; OLG Hamburg ZfStrVo 2005, 252; OLG Nürnberg ZfStrVo 2006, 122; C/MD 2008 Rdn. 10). Daran hat sich durch die Einführung von § 115 Abs. 1 Satz 2 bis 4 StVollzG durch das 7. StVollzÄndG 2005 (BGBl. I 2005, 930) prinzipiell nichts geändert. Gemäß § 115 Abs. 1 Satz 2 StVollzG stellt das Gericht den Sach- und Streitgegenstand „seinem wesentlichen Inhalt nach“ zusammen. Allerdings darf dies „gedrängt“ erfolgen. Um das Vollzugsverfahren durch Erleichterungen für die gerichtliche Arbeit effektiver zu gestalten (BR-Drucks. 697/03, S. 2) – ohne den Rechtsschutz zu beeinträchtigen –, kann gem. § 115 Abs. 1 Satz 3 StVollzG bei der Formulierung des Tatbestands soweit wie möglich auf Gerichtsakten Bezug genommen werden. Dabei muss aber gewährleistet sein, dass der Tatbestand für die Beteiligten ebenso wie für außen stehende Dritte eine verständliche, klare, vollständige und richtige Entscheidungsgrund-
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lage bietet (OLG Celle NStZ-RR 2005, 357; s. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2007, 325). Die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer in ihrer Begründung haben zwar die Gründe wiederzugeben, welche für die richterliche Überzeugungsbildung maßgebend waren. Es ist erlaubt, sich hierbei auch auf die Begründung der angefochtenen vollzugsbehördlichen Entscheidung zu beziehen (§ 115 Abs. 1 Satz 4 StVollzG). Insoweit muss allerdings deutlich werden, dass das Gericht sich diese Überlegungen zu eigen macht. Durch die Bezugnahme darf die Verständlichkeit der Darstellung sowie der Begründung aus sich heraus nicht in Frage gestellt werden (OLG Celle NStZ-RR 2005, 357). § 115 Abs. 1 Satz 4 StVollzG gestattet es aber lediglich, von der Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen, soweit die Strafvollstreckungskammer in der Begründung ihres Beschlusses der vom Inhaftierten angefochtenen Entscheidung der Vollzugsbehörde folgt. Insoweit ist es nicht ausreichend, wenn das Gericht sich – bei nur mündlich ergangener Bekanntgabe der Maßnahme durch die Anstaltsleitung – lediglich auf die später vom Gericht zur Vorbereitung seiner Entscheidung eingeholte Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt bezieht. In einem solchen Fall enthalten die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer dann keine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende nachvollziehbare Begründung (OLG Bamberg Beschl. v. 6.2.2007 – 1 Ws 36/07; s. auch OLG Nürnberg ZfStrVo 2006, 122 f). 2. a) Bei einem begründeten Anfechtungsantrag (§ 109 Abs. 1 Satz 1) hebt das Gericht 14 die angefochtene Maßnahme auf; ist ein Verwaltungsvorverfahren vorausgegangen, hebt das Gericht auch den Widerspruchsbescheid auf. Erforderlich ist, dass die angefochtene Maßnahme bzw. der Widerspruchsbescheid objektiv rechtswidrig ist und gerade den Antragsteller selbst in seinen Rechten verletzt (Abs. 2 Satz 1). Wenn die Maßnahme oder der Widerspruchsbescheid nichtig ist, kommt ebenfalls eine Aufhebung in Betracht. Die Maßnahme ist grundsätzlich zu beseitigen; das Gericht kann die angefochtene Maßnahme nicht durch eine andere ersetzen. Die Aufhebung wirkt i. d. R. auf den Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme zurück. 15 „Soweit“ in Abs. 2 Satz 1 bedeutet, wenn der Antrag nur zum Teil begründet ist, ist auch nur der fehlerhafte Teil der Maßnahme aufzuheben. Kommt das Gericht jedoch zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme ohne den aufzuhebenden Teil nicht hätte erlassen werden können, so ist diese im Ganzen aufzuheben. Zur Teilanfechtung § 109 Rdn. 26. b) Auch bereits vollzogene rechtswidrige Maßnahmen sind aufzuheben. Mit der Auf- 16 hebung entsteht dem Antragsteller ein Anspruch gegen die Vollzugsbehörde auf Beseitigung der realen Folgen der Vollziehung der angefochtenen Maßnahme, ein sog. Folgenbeseitigungsanspruch, d. h. Wiederherstellung des Zustandes, der vorher bestanden hatte (Abs. 2 Satz 2). Dieser Folgenbeseitigungsanspruch kann in dem Beschluss neben der Aufhebung der angefochtenen Maßnahme angeordnet werden, wenn die Sache spruchreif ist, also weitere Ermittlungen und Beweisaufnahmen nicht mehr erforderlich sind. Zudem bedarf es eines entsprechenden Annexantrags zum Anfechtungsantrag (Laubenthal 2008 Rdn. 774). Allerdings muss die Rückgängigmachung der Vollzugsbehörde auch rechtlich und tatsächlich möglich sein. Die Bedeutung des Folgenbeseitigungsanspruchs besteht darin, dass das Gericht aussprechen kann, ob und wie die Vollzugsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat (Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 11). Nicht unter die Folgenbeseitigung fällt die Geltendmachung von Schadensersatz, wenn der ursprüngliche Zustand nicht mehr wiederhergestellt werden kann (LG Regensburg ZfStrVo 1981, 312). 3. Hat sich die Hauptsache vor einer Entscheidung des Gerichts „erledigt“, so kann der 17 Antragsteller bei berechtigtem Interesse die Feststellung beantragen, dass die Maßnahme rechtswidrig gewesen ist (Abs. 3). Hat sich eine angeordnete oder beantragte Maßnahme Manfred Schuler/Klaus Laubenthal
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schon vor Anbringung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung erledigt (s. auch OLG Dresden NStZ 2007, 708), kann ein Betroffener mit dem allgemeinen Feststellungsantrag entsprechend § 115 Abs. 3 StVollzG die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des behördlichen Handelns oder Unterlassens begehren, wenn er ein berechtigtes Interesse an einer solchen Feststellung geltend macht. Hat sich die Hauptsache erst nach Einlegung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung erledigt, kann der Betroffene einen Fortsetzungsfeststellungsantrag stellen. Beim Übergang vom Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsantrag zum Fortsetzungsfeststellungsantrag ist Letzterer nur zulässig, wenn auch für den zunächst gestellten Antrag alle Zulässigkeitvoraussetzungen, z. B. auch das Vorverfahren nach § 109 Abs. 3, vorgelegen haben (OLG Hamm ZfStrVo 1990, 308; BVerfG ZfStrVo 2003, 375). Die Erledigung der Hauptsache liegt vor, sobald die sich aus der Maßnahme ergebende Beschwer nachträglich weggefallen ist (C/MD 2008 Rdn. 12; Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 102; OLG Koblenz NStZ 1984, 47). Dies kann geschehen z. B. durch Zurücknahme der angefochtenen Maßnahme oder wenn sie auf sonstige Weise in ihrer Substanz aufgehoben wird, z. B. durch Ersetzung der angefochtenen Maßnahme durch eine andere, bei Erteilung eines Zwischenbescheids (OLG Nürnberg NStZ 1990, 429 B), durch Zeitablauf, Tod, Entlassung aus dem Strafvollzug. U.U. kann auch infolge Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt Erledigung eintreten, insbesondere bei einer Maßnahme, die von den besonderen Verhältnissen der Justizvollzugsanstalt abhängt. Bei angefochtenen Maßnahmen, die ganz oder teilweise in der Person des Gefangenen begründet sind, tritt dagegen durch die Verlegung keine Erledigung ein (OLG Frankfurt NStZ 1989, 392; KG NStZ 1997, 429 M; a. A. OLG Hamm NStZ 1985, 336; Beispiel unter Rdn. 24). Wird ein Strafgefangener während eines laufenden Verfahrens nach § 109 in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt, tritt keine Erledigung der Hauptsache ein, wenn die angegriffene Maßnahme dort fortwirkt. Das Verfahren ist deshalb, wenn die neue Justizvollzugsanstalt zum Bezirk einer anderen Strafvollstreckungskammer gehört, auf einen entsprechenden Verweisungsantrag hin an die nun örtlich zuständige Strafvollstreckungskammer zu verweisen (s. § 110 Rdn. 6). Eine Erledigung tritt im Hinblick auf § 105 Abs. 3 auch dann nicht ein, wenn ein Gefangener, der gegen eine Disziplinarmaßnahme Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt hat, in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt wurde; denn die Maßnahme kann dort noch vollstreckt werden (OLG Nürnberg ZfStrVo 2000, 181). Die Vollstreckung der Maßnahme bedeutet dann ihre Erledigung i. S. d. Abs. 3 mit der Folge, dass lediglich noch ein Antrag auf Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit möglich ist, wenn der Eingriff nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Eine vollzogene Einkaufssperre z. B. lässt sich durch die Anordnung späterer zusätzlicher Einkaufsmöglichkeiten in ihren Auswirkungen rückgängig machen (KG Beschl. v. 4.9.1981 – 2 Ws 150/80 Vollz). Der Antrag auf Gewährung von Urlaub nach § 13 erledigt sich im Allgemeinen nicht schon dadurch, dass die für den Urlaub konkret gewünschte Zeit verstrichen ist. Wenn der Antrag nicht deutlich etwas anderes ergibt, ist vielmehr davon auszugehen, dass es dem Gefangenen in erster Linie darauf ankommt, überhaupt Urlaub zu erhalten. Das Rechtsschutzinteresse besteht fort (OLG Celle ZfStrVo 1981, 57; OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 107; OLG München NStZ 1983, 573). Die Erledigung gem. Abs. 3 muss vor der Entscheidung des Gerichts eingetreten sein. Das Gericht hat den Eintritt des erledigenden Ereignisses in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen objektiv festzustellen (LG Hamburg NStZ 1992, 255). Das BVerfG geht bei Fällen tief greifender und schwerwiegender Grundrechtsverstöße vom Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses trotz Erledigung einer Disziplinarmaßnahme aus, wenn vorläufiger Rechtsschutz versagt wurde (BVerfG NStZ 2004, 223). Wird ein Gefangener, dem ein mehrfach belegter Haftraum zugewiesen wurde, vor oder nach Eingang des Antrags auf gerichtliche Entscheidung in einen Einzelhaftraum verlegt, kann Feststellung der Rechts-
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widrigkeit der Zuweisung eines Doppelhaftraums bzw. Nichtverlegung in eine Einzelzelle begehrt werden, da es sich insoweit um eine menschenunwürdige Unterbringung handeln kann (OLG Frankfurt NJW 2003, 2843; OLG Koblenz OLGSt StVollz § 109 Nr. 9). Nach Vollzug einer verhängten Disziplinarmaßnahme kann regelmäßig von ihrer Erledigung ausgegangen werden, es sei denn, die angegriffene Maßnahme kann ohne weiteres wieder rückgängig gemacht werden (OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 246). Der Feststellungsbeschluss des Gerichts setzt einen Antrag des Betroffenen und ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit voraus. Ausnahmsweise kann der Antrag auf Feststellung aber auch stillschweigend gestellt sein (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 107; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1986, 379). Ein rechtliches Interesse ist nicht erforderlich; es genügt ein berechtigtes Interesse, d. h. jedes nach vernünftigen Erwägungen nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Antragstellers in einem dieser Bereiche zu verbessern (Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 129 f). Dies ist dann der Fall, wenn sich die angefochtene Maßnahme bei späteren Entscheidungen für den Antragsteller nachteilig auswirken kann oder eine Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 58). Die Wiederholungsgefahr muss sich allerdings konkret abzeichnen und den Umständen nach muss zu erwarten sein, dass die Vollzugsbehörde künftig ohne gerichtliche Entscheidung wiederum so verfahren werde, wie in dem angefochtenen Fall (Arloth 2008 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 13; Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 141; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 114; OLG Frankfurt ZfStrVo 1990, 186). Ein Feststellungsinteresse ist zu bejahen, wenn die angefochtene Maßnahme eine diskriminierende Wirkung hatte und dem Antragsteller ein schutzwürdiges Interesse an seiner Rehabilitierung zukommt (Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 143; OLG Hamm ZfStrVo 1982, 186; OLG Zweibrücken NStZ 1982, 352; ZfStrVo 1982, 318; OLG Hamm NStZ 1989, 552; NStZ 1993, 104; NStZ 1992, 430 B; OLG Celle ZfStrVo 1993, 185). Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist davon auszugehen, dass auch nachträglich ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit gegeben ist, wenn die diskriminierenden Folgen einer Maßnahme über deren Erledigung hinaus andauern, was insbesondere bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen vorliegt (BVerfG ZfStrVo 2002, 176; BVerfG NStZ-RR 2004, 59; OLG München Beschl. v. 2.8. 2007 – 3 Ws 451/07R). Dies gilt selbst dann, wenn der Gefangene in eine andere Vollzugsanstalt verlegt wurde (OLG Hamm ZfStrVo 1993, 312). Daneben ist das Feststellungsinteresse zu bejahen, wenn die Frage der Rechtswidrigkeit der Maßnahme aus bestimmten Gründen präjudiziell für ein anderes streitiges Rechtsverhältnis ist (Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 136). Ein Feststellungsinteresse besteht insbesondere dann, wenn die Feststellung der Geltendmachung von Ansprüchen aus der Staatshaftung dienen soll, ein entsprechender Prozess mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist und nicht offenbar aussichtslos erscheint (Arloth 2008 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 13; Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 136; BVerwG NVwZ 1985, 265; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 429 B; KG NStZ 1997, 563). Die Erklärung, eine Maßnahme sei rechtswidrig gewesen, ist für den Gefangenen von Interesse, wenn er aufgrund dieser Feststellung einen Schadensersatzanspruch geltend machen kann (OLG Hamm NStZ 2001, 414 M). Zur Bindungswirkung rechtskräftiger Entscheidungen im Verfahren nach § 109 für Zivilgerichte (OLG Celle ZfStrVo 2004, 55). Ein Feststellungsantrag nach Abs. 3 kann zulässig sein, wenn sich das Unterlassen einer Maßnahme (z. B. Nichtgewährung von Urlaub) inzwischen durch spätere Urlaubsgewährung erledigt hat (OLG Stuttgart NStZ 1986, 431, 432 mit Anm. Volckart; Arloth 2008 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 16). Der Feststellungsantrag nach Abs. 3 setzt kein Verwaltungsvorverfahren voraus (LG Heilbronn ZfStrVo SH 1978, 43). Ein Feststellungsantrag ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zulässig (§ 116 Rdn. 11); Abs. 3 gilt dort nicht (OLG Hamm NStZ 1985, 576).
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4. Abs. 4 behandelt die gerichtliche Entscheidung bei rechtswidriger Ablehnung oder rechtswidriger Unterlassung einer Vollzugsmaßnahme, die den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Ist die Sache spruchreif, ist die Vollzugsbehörde zu verpflichten, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen (Abs. 4 Satz 1). Spruchreif ist eine Sache, wenn weitere Erhebungen nicht mehr erforderlich sind, um eine endgültige Entscheidung fällen zu können (Arloth 2008 Rdn. 12; Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 193 ff). Die Spruchreife hat das Gericht grundsätzlich aufgrund des das gerichtliche Verfahren gem. §§ 109 ff beherrschenden Untersuchungsgrundsatzes herbeizuführen. Die Spruchreife kann jedoch vom Gericht nicht hergestellt werden, wenn die Entscheidung von weiteren Fragen abhängt, bezüglich derer der Vollzugsbehörde ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht. Das Gericht darf z. B. die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsbefürchtung der Vollzugsbehörde nicht durch seine eigene ersetzen. Infolgedessen ist es auch nicht Aufgabe des Gerichts, Tatsachen selbst zu ermitteln, welche die angefochtene Entscheidung rechtfertigen könnten, von der Vollzugsbehörde aber nicht berücksichtigt wurden (OLG Karlsruhe ZfStrVO 2004, 186). Spruchreife ist in diesen Fällen nur ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn im konkreten Fall nur eine einzige, bestimmte Entscheidung (Null-Reduktion) in Betracht kommt (Arloth 2008 Rdn. 12; C/MD 2008 Rdn. 17; Kopp/Schenke 2007 § 113 Rdn. 207; Laubenthal 2008 Rdn. 816; Treptow 1978, 2227; LG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 33; BGHSt 30, 320). Spruchreife liegt dementsprechend nicht vor, wenn noch eine andere, rechtlich zulässige Ermessensentscheidung möglich ist oder die Vollzugsbehörde von ihrem Ermessen noch keinen Gebrauch gemacht hat. Fehlt die Spruchreife hinsichtlich des Inhalts der Maßnahme, so ist die Vollzugsbehörde zu verpflichten, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (Bescheidungsbeschluss, Abs. 4 Satz 2).
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5. a) Ist die Vollzugsbehörde berechtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, so überprüft die Strafvollstreckungskammer die angefochtene Maßnahme der Vollzugsbehörde auf Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch, Abs. 5. Ermessensfehlerhaftigkeit liegt auch dann vor, wenn die Vollzugsbehörde von ihrem Ermessen überhaupt keinen Gebrauch gemacht hat (Ermessensnichtgebrauch) oder eine Ermessensunterschreitung gegeben ist. Die Überprüfung der Ermessensausübung hat sich auf die Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts zu erstrecken, auf dem die Entscheidung der Vollzugsbehörde beruht (OLG Koblenz ZfStrVo 1992, 197; KG StV 2003, 405, 406). Das Gericht kann eine Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde nicht durch eine andere Entscheidung ersetzen, die es für sachdienlich hält. Trotz des Wortes „auch“ in Abs. 5 darf daher die Strafvollstreckungskammer nicht ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens der Vollzugsbehörde setzen; sie darf weder die Prognose der Vollzugsbehörde durch ihre eigene ersetzen noch das der Vollzugsbehörde eröffnete Ermessen selbst ausüben. Die Ersetzung der fehlerhaften Prognose der Vollzugsbehörde durch eine gerichtliche Prognose kommt nicht in Betracht (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1977, 18; OLG Zweibrücken ZfStrVo SH 1977, 1; OLG Hamm NStZ 1991, 303; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 377; NStZ 2002, 614; Treptow 1978, 2227). Zweckmäßigkeitserwägungen, Billigkeitsüberlegungen und die Frage nach etwaigen besseren, sachgemäßeren oder gerechteren Lösungen unterliegen nicht der Beurteilung der Gerichte und können daher allein nicht zur Aufhebung der Maßnahme führen (Kopp/Schenke 2007 § 114 Rdn. 1). Weil bei einer Ermessensentscheidung verschiedene Vollzugsmaßnahmen(-handlungen) rechtmäßig sind, besteht für den Betroffenen grundsätzlich kein Anspruch auf eine ganz bestimmte behördliche Maßnahme, auf die günstigere oder auch zweckmäßigere, sondern nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (OLG Nürnberg LS NStZ 1982, 399; OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 246). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt dann, wenn wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls überhaupt nur
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eine einzige Entscheidung ermessensfehlerfrei sein kann, also der Ermessensspielraum der Behörde auf „null reduziert“ ist – sog. Nullreduzierung (OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 9). b) Von einer Ermessensentscheidung wird gesprochen, wenn die Behörde zwischen 20 mehreren vom Gesetzgeber als rechtmäßig angesehenen Entscheidungen wählen darf. Ob eine Vorschrift der Behörde ein Ermessen einräumt, ist eine Frage der Auslegung. Sinn, Zweck und Wortlaut der materiellen Strafvollzugsvorschriften ergeben wichtige Anhaltspunkte für die Frage, ob die Vollzugsbehörde nach ihrem Ermessen befinden kann. Worte wie „kann“, „soll“ und „darf“ in einer Gesetzesvorschrift sind typisch für das Vorliegen eines Ermessensspielraums. Das einer Vollzugsbehörde eingeräumte Ermessen bleibt aber kein gänzlich freies Ermessen; es handelt sich immer nur um pflichtgemäßes Ermessen, das sich am Zweck der Ermächtigung zu orientieren hat und die gesetzlichen Grenzen, die für die Ausübung des Ermessens gelten, nicht überschreiten darf (Kopp/Ramsauer 2008 § 40 Rdn. 1). Die Behörde muss eine angemessene Abwägung der öffentlichen Interessen mit den Interessen des Gefangenen im Rahmen des Zwecks der Ermächtigung vornehmen. Dementsprechend hat der Gefangene ein subjektiv öffentliches Recht darauf, dass die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschreitet und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt vor, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung von unzutreffenden tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht (OLG Celle LS ZfStrVo SH 1979, 57); Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art berücksichtigt, die nach Sinn und Zweck des zu vollziehenden Gesetzes oder aufgrund anderer Rechtsvorschriften oder allgemeiner Rechtsgrundsätze dabei keine Rolle spielen können oder dürfen, oder Gesichtspunkte außer Acht lässt, die zu berücksichtigen wären (OLG Hamburg ZfStrVo 1982, 312; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1978, 182; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 9). Ebenso, wenn die Behörde sachfremde Erwägungen bei ihrer Entscheidung angestellt hat (Kopp/Schenke 2007 § 114 Rdn. 13; Laubenthal 2008 Rdn. 811). Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Behörde, gleich aus welchem Grund, sich nicht im Rahmen der ihr vom Gesetz gegebenen Ermächtigung hält (OLG Nürnberg LS NStZ 1982, 399). Die Entscheidung ist dann nicht mehr von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, und es liegt eine von der Rechtsordnung im Ergebnis missbilligte Entscheidung vor. Bei einer Ermessensunterschreitung unterschätzt die Vollzugsbehörde die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten. c) Neben zahlreichen Ermessensermächtigungen enthalten die Vorschriften der Straf- 21 vollzugsgesetze unbestimmte Rechtsbegriffe. Diese werden z. B. durch Worte wie „wichtige oder besondere Gründe“, „Sicherheit“, „Ordnung“, „angemessen“, „regelmäßig“, „Eignung“ ausgedrückt. Unbestimmte Rechtsbegriffe finden sich häufig auf der Tatbestandsseite des Rechtssatzes; sie können aber auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen. Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (die Ermittlung ihres Sinngehalts) ist eine Rechtsfrage. Die Anwendung solcher Begriffe durch die Verwaltungsbehörde ist grundsätzlich gerichtlich voll nachprüfbar (BGH NStZ 1982, 173; NJW 1982, 1057; ZfStrVo 1982, 181; BGHSt 30, 320; s. auch Anm. Volckart NStZ 1982, 174; a. A. Smeddinck 1998, 370). Insoweit können die angerufenen Gerichte im Gegensatz zu Ermessensentscheidungen prinzipiell letztverbindlich entscheiden. Die Auslegung durch die Rechtsprechung hat manche unbestimmten Rechtsbegriffe weitgehend objektiv bestimmt gemacht. An diese „Bestimmungen“ sind die Vollzugsbehörden gebunden, ohne dass selbstverständlich eine anpassende Fortbildung, insbesondere durch Gerichte, ausgeschlossen wäre (Arloth 2008 Rdn. 16; C/MD 2008 Rdn. 22; siehe auch Neubacher 2001, 212, 213; Schneider 1999, 140; Wingenfeld 1999, 99 f).
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d) Der Grundsatz, dem zufolge unbestimmte Rechtsbegriffe voll überprüfbar sind, gilt nicht uneingeschränkt. Bei manchen Begriffen steht der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu, in dessen Rahmen sie mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (BGH NStZ 1982, 173; NJW 1982, 1057; ZfStrVo 1982, 181; BGHSt 30, 320); in diesen Fällen unterliegt die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf bestimmte Sachverhalte ausnahmsweise nur in beschränktem Umfang einer richterlichen Kontrolle. Das Gericht hat in diesen Fällen lediglich zu prüfen, ob die Behörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, sowie alle entscheidungsrelevanten Umstände berücksichtigt hat (Beurteilungsdefizit), ob sie die Grenzen ihrer Einschätzungsprärogative – also ihres Beurteilungsspielraums – einhielt (Beurteilungsüberschreitung) und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet hat (Beurteilungsmissbrauch). Somit ist die richterliche Kontrolle der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum ähnlich eingeschränkt wie bei Ermessensentscheidungen (Treptow 1978, 2227; Kopp/Schenke 2007 § 114 Rdn. 23 ff; Laubenthal 2008 Rdn. 813; KG ZfStrVo 2003, 181; OLG Koblenz ZfStrVo 1982, 247; OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 309; NStZ 1982, 349; OLG Hamm NStZ 1992, 430 B; OLG Hamburg ZfStrVo 1991, 244; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1998, 179; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 377; NStZ 2002, 614). Ein solcher nur eingeschränkt justiziell nachprüfbarer Beurteilungsspielraum wird dann angenommen, wenn es sich um die Beurteilung in der Zukunft liegender Vorgänge (Prognoseentscheidungen) oder um sonstige Fragen handelt, die eine höchstpersönliche Wertung enthalten (BGH NStZ 1982, 173, 174 mit Anm. Volckart; OLG Nürnberg NStZ 1998, 592). So eröffnet die für eine Gewährung von Vollzugslockerungen zu prüfende Flucht- oder Missbrauchsgefahr als Prognoseentscheidung den Vollzugsbehörden einen Beurteilungsspielraum. Die Vollzugsbehörden werden ermächtigt, den Begriff der Fluchtoder Missbrauchsbefürchtung ermessensähnlich zu beurteilen. Bei der Prüfung, ob Vollzugslockerungen zu gewähren sind, darf es die Vollzugsbehörde nicht bei bloßen pauschalen Wertungen oder bei dem abstrakten Hinweis auf die Flucht- oder Missbrauchsgefahr bewenden lassen. Sie hat vielmehr im Rahmen der Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren (BVerfG NStZ 1998, 430; OLG Hamm StV 1997, 32; OLG Zweibrücken ZfStrVo 1998, 179; OLG Kiel ZfStrVo 2004, 114). Die gerichtliche Nachprüfung von Prognoseentscheidungen einer Vollzugsbehörde hat sich demnach darauf zu beschränken, ob sich die Beurteilung oder Prognose in dem rechtlichen Rahmen hält. Eigene Erwägungen z. B. zur Missbrauchsgefahr sind der Strafvollstreckungskammer verwehrt (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 111). Für Sicherungsmaßnahmen und Einzelhaft s. OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 155, 157. Der eingeschränkten Prüfungskompetenz bei Prognoseentscheidungen der Vollzugsbehörden wird entgegengehalten, dass die Anerkennung solcher Spielräume nicht geboten sei, da die „Prognosemacht“ durchaus in der Hand der sachnahen (und auch mit Prognosen gem. § 57 StGB betrauten) Strafvollstreckungskammern verbleiben könne (Dopslaff 1988, 567, 586 ff; Volckart aaO; Treptow aaO; vgl. auch Justen 1995). Allerdings wird die Wirksamkeit des Rechtsschutzes durch eine Eingrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte nicht beeinträchtigt. Sind mehrere Entscheidungen rechtlich vertretbar, verlangt Art. 19 Abs. 4 GG nicht, dass die Auswahl unter ihnen in letzter Verantwortung vom Gericht getroffen wird (BGH NStZ 1982, 173; BVerwGE 39, 197; BVerfG NStZ 1998, 430; Grunau/ Tiesler 1982 Rdn. 10; Meier NStZ 1981, 406 Anm. zu OLG Hamburg 1981, 237; Müller-Dietz 1981, 409; 1985, 342). Zudem bleibt nicht zu verkennen, dass auch dort, wo ein Beurteilungsspielraum anzuerkennen ist, kein „Freiraum“ der Behörde besteht. Die notwendige Kontrolle im Hinblick auf die Einhaltung der verschiedenen, soeben dargelegten rechtlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums führt, ähnlich wie bei Ermessensent-
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scheidungen, zu einer erheblichen justiziellen Kontrolldichte (vgl. Rdn. 20, 21). Zur Kritik an der Rechtsprechung zur Frage des Beurteilungsspielraums s. Schneider 1999, 140. e) Die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum StVollzG (im Einzelnen 23 Arloth 2008 Rdn. 17; Laubenthal 2008 Rdn. 42 f; Müller-Dietz 1981, 409 ff; Walter 1999 Rdn. 406; Frellesen 1977, 2055; Treptow 1978, 2227) haben – ebenso wie die Verwaltungsvorschriften zu den Strafvollzugsgesetzen auf Länderebene – nur behördeninterne Bedeutung. Sie können Ermessensrichtlinien (zulässige Ermessenserwägungen) enthalten, die die Gerichte mangels Rechtsnormqualität nicht binden (OLG Celle NStZ 1998, 400 M; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2003, 251). Die Gerichte sind dementsprechend bei ihrer Kontrolltätigkeit gegenüber der Verwaltung grundsätzlich nicht an Verwaltungsvorschriften gebunden. Sie sind jedoch befugt, sich einer Gesetzesauslegung, die in einer Verwaltungsvorschrift vertreten wird, aus eigener Überzeugung anzuschließen (BVerfGE 78, 214, 227). Die Verwaltungsvorschriften können nur die Aufgabe haben, das der Vollzugsbehörde eingeräumte Ermessen zu konkretisieren, um eine einheitliche Ermessenausübung zu gewährleisten. Daher entbinden sie nicht von der Verpflichtung, in jedem Einzelfall die Richtigkeit der Ermessenskonkretisierung zu prüfen (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 122; OLG Hamburg ZfStrVo SH 1979, 21; KG ZfStrVo SH 1979, 23; OLG München ZfStrVo SH 1979, 25). Die VV dürfen das Ermessen der Vollzugsbehörde nicht an andere als die nach dem Gesetz maßgeblichen Gesichtspunkte binden. Dadurch, dass sie eine einheitliche Auslegung oder Ermessensausübung durch die Vollzugsbehörde herbeiführen, erhalten sie mittelbar über Art. 3 Abs. 1 GG (Rechtsanwendungsgleichheit) im Innenverhältnis eine gesetzesähnliche selbstbindende Bedeutung, auf die sich ein Gefangener berufen kann (Selbstbindung der Verwaltung; hierzu OLG Celle LS ZfStrVo SH 1979, 46; ZfStrVo 1982, 314; BGH MDR 1988, 248, 249; BGH 24.11.1987 – 5 AR Vollz 4/87; Böhm 2003 Rdn. 380). Eine Abweichung von der Regel, sofern diese nicht im Einzelfall begründet ist, bliebe rechtswidrig. Verwaltungsvorschriften dürfen nicht dem klaren Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Andernfalls sind sie rechtswidrig und eine auf sie gestützte Entscheidung wäre ermessensfehlerhaft, weil sich die Vollzugsbehörde dann an eine Ermessensgrenze gebunden sieht, die in Wahrheit nicht besteht (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 246; OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 19). Neben Ermessensrichtlinien können die Verwaltungsvorschriften zudem den Charakter von tatbestandsinterpretierenden Richtlinien haben. Auch insoweit kommt ihnen aber nur die Qualität von Entscheidungshilfen zu (OLG Frankfurt NStZ 1982, 260; OLG Koblenz 2.3.1982 – 2 Vollz (Ws) 18/82; Kopp/Schenke 2007 § 114 Rdn. 10a, 41). Soweit Verwaltungsvorschriften etwa eine Anhörung des zuständigen Gerichts vor der Gewährung von Vollzugslockerungen vorschreiben, handelt es sich um eine dem jeweiligen Gesetz nicht entsprechende tatbestandserweiternde Regelung, die keine Bindungswirkung für die Gerichte erzeugen kann (OLG Frankfurt MDR 1982, 599; NStZ 1982, 260, 261). Zur gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsvorschriften § 109 Rdn. 12.
III. Beispiel Ein Feststellungsinteresse (Abs. 3) kann bei einem Gefangenen, gegen den unmittelbarer 24 Zwang angeordnet wurde, auch dann noch gegeben sein, wenn er inzwischen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt wurde. Ein Strafgefangener, gegen den unmittelbarer Zwang angeordnet und vollzogen wurde, kann seitens der Vollzugsbehörde als ein Insasse angesehen werden, der einer rechtmäßigen Anordnung von Vollzugsbediensteten nicht Folge geleistet und demnach die Anstaltsordnung gestört hat. Dies vermag als u. U. diskriminierendes Verhalten bei späteren Entscheidungen über Vergünstigungen oder Vollzugslockerungen negativ ins Gewicht fallen. Zum Feststellungsantrag Rdn. 17.
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§ 116 Rechtsbeschwerde (1) Gegen die gerichtliche Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist die Rechtsbeschwerde zulässig, wenn es geboten ist, die Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. (2) Die Rechtsbeschwerde kann nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. (3) Die Rechtsbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. § 114 Abs. 2 gilt entsprechend. (4) Für die Rechtsbeschwerde gelten die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Beschwerde entsprechend, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde a) Beschwer . . . . . . . . . . . . b) Fortbildung des Rechts . . . . c) Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung . . . . . . . . d) Unzulängliche Feststellungen . e) Verletzung des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . f) Gebotensein der Nachprüfung
1 2–15 2–8 3 4 5 6 7 8
Rdn. 2. Gesetzesverletzung . . . . . . . 3. Rechtsbeschwerde gegen Hauptsacheentscheidungen . . . . . . 4. Kein Feststellungsantrag im Rechtsbeschwerdeverfahren . . 5. Beschwerdeberechtigte . . . . . 6. Keine aufschiebende Wirkung . 7. Entsprechende Anwendung der StPO . . . . . . . . . . . . . . . 8. Untätigkeitsbeschwerde . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Mit der Rechtsbeschwerde (§§ 116 bis 119) existiert ein Rechtsmittel gegen die erstinstanzlichen Entscheidungen (§ 115) der Strafvollstreckungskammern, um auf diese Weise die Fortbildung des Rechts und eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten. Diese Rechtsmittelinstanz ist notwendig, weil ansonsten eine für die Wahrung der Rechtseinheit notwendige zentrale gerichtliche Zuständigkeit nicht gegeben wäre (BT-Drucks. 7/918, 85). Die Rechtsbeschwerde wurde vom Gesetzgeber revisionsähnlich ausgestaltet. Sie eröffnet keinen weiteren Tatsachenrechtszug. Zu einer Entscheidung des BGH kann es in den Fällen kommen, in denen ein OLG von der Entscheidung eines anderen OLG oder des BGH abweichen will und deshalb die Sache dem BGH vorlegen muss (Divergenzvorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG).
II. Erläuterungen 2
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, wenn es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zur Fortbildung des Rechts (Rdn. 4) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Rdn. 5) zu ermöglichen (Abs. 1). Diese be-
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sonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des OLG vorliegen (OLG Hamm 15.10.1979 – 1 Vollz (Ws) 56/79). Die Zulassung der Rechtsbeschwerde hängt nicht davon ab, ob es sich um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung handelt; es genügt, wenn es aus den angeführten Gründen geboten ist, die Nachprüfung der gerichtlichen Entscheidung zu ermöglichen. a) Neben den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Abs. 1 müssen auch die all- 3 gemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen: Im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde muss eine „Beschwer“ des Betroffenen vorliegen (§ 109 Rdn. 28); ist die Beschwer zu diesem Zeitpunkt entfallen bzw. überholt, ist das Rechtsmittel unzulässig (OLG Saarbrücken ZfStrVo SH 1978, 57; OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 180). So auch bei Erledigung vor Einlegung des Rechtsmittels mangels Rechtsschutzinteresses (OLG Hamm ZfStrVo 2000, 179). Eine Rechtsbeschwerde, die unter einer Bedingung eingelegt wird, ist ebenfalls unzulässig (OLG Hamm NStZ 1995, 436 B; Arloth 2008 Rdn. 1). Entspricht die Vollzugsbehörde einem Antrag des Gefangenen, nachdem dieser im Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer obsiegt hat, und legt die Vollzugsbehörde anschließend Rechtsbeschwerde mit dem Ziel ein, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer überprüfen zu lassen, so ist die Rechtsbeschwerde unzulässig (OLG Hamm LS ZfStrVo SH 1979, 109). Denn die Hauptsache hat sich erledigt, da der z. B. zwischenzeitlich gewährte Urlaub nicht mehr zurückgenommen werden kann. Die Rechtsbeschwerde ist ferner unzulässig, wenn sich der Gefangene nach Erledigung der Freiheitsstrafe zum Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde in Untersuchungshaft befindet (OLG Hamm NStZ 1988, 403 B). Die Ablehnung eines Nachholungsverfahrens i. S. von § 33a StPO bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist keine mittels Rechtsbeschwerde anfechtbare Entscheidung nach § 115. Eine Beschwer entfällt jedoch, wenn die Strafvollstreckungskammer im Nachholverfahren Recht gegeben hat (OLG Stuttgart NStZ 1992, 104). Ein Gefangener ist beschwert, wenn die Strafvollstreckungskammer die Vollzugsbehörde trotz gegebener Spruchreife gem. § 115 Abs. 4 Satz 2 verpflichtet, anstatt in der Sache selbst zu entscheiden (OLG Celle ZfStrVo 1991, 123). Mitteilungen der Strafvollstreckungskammer an einen Gefangenen, Anträge wegen beleidigenden Inhalts nicht zu bearbeiten, stellen unabhängig von der gewählten Form gerichtliche Entscheidungen dar (BVerfG NStZ 2001, 616; § 109 Rdn. 39). b) Eine Fortbildung des Rechts liegt dann vor, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, 4 Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (BGHSt 24, 15; OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 49; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 822). Mit der Zulassung der Rechtsbeschwerde soll das OLG Gelegenheit erhalten, seine Rechtsauffassung in einer für die nachgeordneten Gerichte richtungsgebenden Weise zum Ausdruck zu bringen oder durch Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG eine Grundsatzentscheidung des BGH herbeizuführen. Liegt bereits eine Entscheidung eines anderen OLG vor, in der die konkrete Rechtsfrage im gleichen Sinne entschieden wurde, wie es das zulassende OLG beabsichtigt, steht dies der Zulassung nicht entgegen, da dadurch ein aufgestellter Leitsatz gefestigt und eine einheitliche Rechtsprechung gesichert werden kann. Der Fortbildung des Rechts dient auch die Prüfung, ob ein Gesetz der Verfassung entspricht, wenn dies zweifelhaft erscheint oder wenn es zweifelhaft ist, ob eine Rechtsnorm gültig erlassen oder geändert wurde bzw. fortbesteht. Die Rechtsbeschwerde ist dann unzulässig, wenn eine Fortbildung des Rechts in der anstehenden Frage nicht möglich bleibt, weil die gesetzliche Regelung eindeutig ist und weder gegen höherrangiges Recht noch gegen internationale Abkommen verstößt (KG 22.8.1990 – 5 Ws 152/90 Vollz).
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c) Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn vermieden werden soll, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat (BGHSt 24, 15; OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 49; OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 50; Laubenthal 2008 Rdn. 822). Diese Voraussetzungen sind dann gegeben, wenn ein Gericht in einer bestimmten Rechtsfrage in ständiger Rechtsprechung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht, nicht aber schon dann, wenn in einem Einzelfall eine Fehlentscheidung getroffen wurde, selbst wenn der Rechtsfehler offensichtlich ist (BGHSt 24, 15). Es muss noch hinzukommen, dass die Entscheidung in einer grundsätzlichen Frage erfolgte; dass sie schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsanwendung auslösen würde oder dass ohne die höchstrichterliche Entscheidung mit weiteren Fehlentscheidungen in gleich gelagerten Fällen zu rechnen wäre. Die Wiederholungsgefahr bleibt insoweit ein entscheidender Gesichtspunkt. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist auch dann geboten, wenn eine Strafvollstreckungskammer von der Rechtsprechung anderer Kammern (z. B. den bayerischen) abweicht (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1978, 31; OLG Koblenz ZfStrVo 1993, 244). An der Zulässigkeitsvoraussetzung der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung fehlt es jedoch, wenn eine unterschiedliche Rechtsprechung allein auf tatsächlichen Umständen beruht und nicht auf verschiedenartigen Rechtsauffassungen (OLG Hamburg ZfStrVo SH 1978, 50). Nach Ansicht des OLG Hamburg (StV 2008, 599) liegt der Zulassungsgrund der Einheitlichkeit der Rechtsprechung mit Inhaftierten von LandesStrafvollzugsgesetzen nur noch bei divergierenden Entscheidungen im Anwendungsbereich des StVollzG vor. Denn der Gesetzgeber hat sich mit der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf die Bundesländer bewusst für die Möglichkeit der unterschiedlichen gesetzlichen Ausgestaltung des Strafvollzugs in den einzelnen Bundesländern entschieden, daraus folge auch eine unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsprechung.
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d) Die Rechtsbeschwerde ist ferner dann zulässig, wenn die Feststellungen der angefochtenen Entscheidung so unzulänglich sind, dass die Voraussetzungen der Zulässigkeit nicht überprüft werden können, das Vorliegen einer bedeutenden Rechtsfrage aber zu vermuten ist (OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 53; OLG Saarbrücken ZfStrVo 2004, 119).
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e) Sind elementare Verfahrensprinzipien verletzt, z. B. der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG; § 115 Rdn. 6), der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 115 Rdn. 2 ff) oder das Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 EMRK; § 115 Rdn. 6), so führt dies nicht nur zu nicht mehr hinnehmbaren krassen Abweichungen in der Art und Weise der Ausübung der Rechtsprechung. Es ist i. d. R. die Gefahr einer Wiederholung gegeben, weil die Grundsätze in jedem Verfahren zu beachten sind. (OLG Frankfurt ZfStrVo 1979, 60, 251; ZfStrVo SH 1979, 116; OLG Bamberg ZfStrVo SH 1979, 111; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 320; OLG Koblenz ZfStrVo 1994, 182). Die Aufhebung einer derartigen Entscheidung ist auch dann geboten, wenn es nicht unzweifelhaft erscheint, dass diese Entscheidung einer Nachprüfung durch das BVerfG nicht standhalten würde und sich die Aufhebung danach aufdrängt. Es wäre zudem prozessunwirtschaftlich, bei Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen und den Betroffenen damit praktisch auf die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde abzudrängen. Die fehlende Übersendung der Stellungnahme des Antragsgegners an den Antragssteller bedeutet eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und führt zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde.
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f) Die Nachprüfung muss geboten sein; d. h. die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung muss sich aufdrängen und nicht nur naheliegen. Setzt sich eine Strafvoll-
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streckungskammer in Widerspruch zu den Rechtsausführungen verschiedener Oberlandesgerichte, so ist die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren geboten (OLG Hamm ZfStrVo 1984, 318). Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen die im angefochtenen Beschluss getroffene Erledigterklärung richtet, ist sie nach Abs. 1 unzulässig, da die Erledigung keine Rechtsfrage, sondern eine Tatsachenfrage ist, für deren Entscheidung die Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht gegeben sind. Der Normzweck der Rechtsbeschwerde ist nicht die Überprüfung der einzelnen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer auf ihre Richtigkeit, sie dient der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Dies setzt aber den Fortbestand der zu überprüfenden Entscheidung voraus. Anders kann es jedoch dann sein, wenn die Strafvollstreckungskammer den Begriff der Erledigung der Maßnahme i. S. von § 115 Abs. 3 verkannt hat (§ 115 Rdn. 17). 2. Abs. 2 macht eine Gesetzesverletzung zur Voraussetzung für eine erfolgreiche 9 Rechtsbeschwerde. Die Rechtsbeschwerde eröffnet daher keinen weiteren Tatsachenrechtszug; dem Betroffenen sind tatsächliche Einwendungen gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgeschnitten (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 254). Das Rechtsbeschwerdegericht hat von den getroffenen Tatsachenfeststellungen auszugehen und darf tatsächliche Einwendungen gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und neues tatsächliches Vorbringen nicht berücksichtigen (OLG Hamburg ZfStrVo 1996, 310). Abs. 2 entspricht insoweit § 337 StPO. Die Gesetzesverletzung, die mit der Rechtsbeschwerde angegriffen werden kann, betrifft das Verfahren oder das sachliche Recht (vgl. § 118 Rdn. 6 ff). Nach Abs. 2 Satz 2 ist die Nichtanwendung anzuwendenden Rechts und die unzulässige oder unrichtige Anwendung des Rechts als Gesetzesverletzung anzusehen. Darüber hinaus begründet auch die Anwendung einer Nichtrechtsnorm die Rechtsnormverletzung (LR-Hanack 2003 § 337 StPO Rdn. 6; Meyer-Goßner 2008 § 337 StPO Rdn. 33). Der Begriff Rechtsnorm (Abs. 2 Satz 2) umfasst neben dem in den Verfassungen, Gesetzen und Rechtsverordnungen des Bundes und der Länder niedergelegten Recht das ungeschriebene Recht, insbesondere alle Grundsätze, die sich aus dem Sinn und dem Zusammenhang der gesetzlichen Vorschriften ergeben. Dies gilt ebenso für die Gesetze der allgemeinen Lebenserfahrung. Eine Gesetzesverletzung liegt dementsprechend auch vor, wenn die Strafvollstreckungskammer gegen Denkgesetze verstoßen hat (LR-Hanack 2003 § 337 StPO Rdn. 11; Meyer-Goßner 2008 § 337 StPO Rdn. 30; OLG Nürnberg ZfStrVo SH 1978, 50; § 119 Rdn. 2). Keine Rechtsnormen sind Verwaltungsvorschriften, auch nicht diejenigen zu den Strafvollzugsgesetzen (LR-Hanack 2003 § 337 StPO Rdn. 9; Meyer-Goßner 2008 § 337 StPO Rdn. 2; Müller-Dietz 1981, 409). Zur Rechtsnatur der Verwaltungsvorschriften § 115 Rdn. 23. 3. Die Rechtsbeschwerde ist nur zulässig gegen Hauptsacheentscheidungen der 10 Strafvollstreckungskammern (§ 116 Abs. 1, § 115). Sie ist nicht nur gegen Sach-, sondern auch gegen Prozessentscheidungen zulässig. Ein Beschluss der Strafvollstreckungskammer, der ausspricht, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgenommen ist, verneint die Sachentscheidungsvoraussetzungen und ist wie eine Sachentscheidung anfechtbar (OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 119). Nebenentscheidungen, wie Versagung der Prozesskostenhilfe (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1978, 59, SH 1979, 15; OLG Bremen ZfStrVo SH 1979, 118; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 113), Festsetzung des Streitwertes (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 121; NStZ 1982, 48; OLG Hamburg MDR 1984, 963; a. A. OLG Hamm NStZ 1989, 495) oder Kostenentscheidungen (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1977, 52, SH 1979, 121; OLG Düsseldorf MDR 1983, 601; OLG Stuttgart NStZ 1989, 548; OLG Saarbrücken NStZ 1988, 432) sind nicht mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar. Gleiches gilt grundsätzlich für Beschlüsse nach § 114 Abs. 2 (BGH NJW 1979, 664) im Rahmen des Eilrechts-
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schutzes (zur Ausnahme s. § 114 Rdn. 9). Zur Anfechtung der Kostenentscheidung sowie der Streitwertfestsetzung § 121 Rdn. 4, 7. Zur Anfechtung eines die Richterablehnung zurückweisenden Beschlusses § 115 Rdn. 9. Hinsichtlich Entscheidungen über die Gewährung von Prozesskostenhilfe § 121 Rdn. 5.
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4. Im Rechtsbeschwerdeverfahren kann die Feststellung nach § 115 Abs. 3, dass eine Vollzugsmaßnahme rechtswidrig war, nicht erfolgen (§ 115 Rdn. 17). Die gesamte Regelung nach § 115 betrifft nach Wortlaut und Stellung nur das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 107; NStZ 1998, 400 M; OLG Bremen ZfStrVo SH 1979, 108; OLG Saarbrücken ZfStrVo SH 1978, 57; OLG München NStZ 1981, 250; OLG Hamm ZfStrVo 2000, 179; NStZ 1985, 576). Kann dementsprechend eine Feststellung über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Maßnahme nicht getroffen werden, so ist die Rechtsbeschwerde jedoch andererseits nicht wegen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses als unzulässig zu verwerfen. Im Beschwerdeverfahren der StPO, dessen Bestimmungen nach Abs. 4 entsprechend anzuwenden sind, ist anerkannt, dass durch den erst nach Rechtsmitteleinlegung eintretenden Wegfall der Beschwer, die Beschwerde nicht unzulässig wird, sondern prozessual überholt ist. Das Rechtsmittel wird gegenstandslos; eine Kostenentscheidung unterbleibt (OLG Koblenz LS ZfStrVo SH 1979, 107; OLG Celle NJW 1973, 863; OLG Celle NStZ 1992, 378 B). Eine Rechtsbeschwerde muss unbeschieden bleiben, wenn eine Sachentscheidung über den Antrag in dem Zeitpunkt, zu welchem sich das Beschwerdegericht mit der Angelegenheit befasst, infolge Zeitablaufs oder sonst nicht mehr getroffen werden kann. Die Rechtsbeschwerde ist in diesem Fall überholt (Meyer-Goßner 2008 vor § 296 StPO Rdn. 17). Ist die Überholung schon im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde als eingetreten anzusehen, weil eine Sachentscheidung nicht mehr in Frage kommen kann, so ist die Rechtsbeschwerde unzulässig mit der Kostenfolge aus § 473 StPO. Tritt die Überholung erst nach der Einlegung der Rechtsbeschwerde ein, so spricht das Gericht nur aus, dass die Rechtsbeschwerde infolge Erledigung gegenstandslos ist. Die Kostenfolge aus § 473 StPO tritt zu Lasten des Beschwerdeführers nicht ein (OLG Celle NStZ 1992, 378; a. A. OLG Jena ZfStrVo 2005, 245). Allerdings darf in besonderen Erledigungsfällen die Interpretation des Verfahrensrechts nicht dazu führen, dass eine Entscheidung über das Feststellungsbegehren gänzlich ausgeschlossen bleibt. Trotz Erledigung vor Eintritt der Rechtskraft kann ausnahmsweise ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit in besonderer Weise, wie in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe, schutzwürdig ist. Aus diesem verfassungsrechtlichen Grund darf eine Zurückgabe an die Strafvollstreckungskammer zur Entscheidung über den Feststellungsantrag ohne Bindung an die Vorentscheidung in Betracht kommen (OLG Karlsruhe Justiz 2004, 216).
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5. Zur Einlegung der Rechtsbeschwerde ist der Antragsteller berechtigt, der im erstinstanzlichen Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts nicht obsiegt hat. Gleiches gilt für die Vollzugsbehörde, wenn sie durch die landgerichtliche Entscheidung beschwert ist (§ 111 Rdn. 2, 5).
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6. Die Rechtsbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (Abs. 3 Satz 1). Die Vollzugsbehörde ist daher verpflichtet, wenn die Strafvollstreckungskammer dem Antrag eines Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung entsprochen hat, diese Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts auszuführen. Dies gilt auch bei einem stattgegebenen Verpflichtungsbegehren, solange nicht auf Antrag der Vollzugsbehörde eine Außervollzugsetzung (§ 114 Rdn. 3 ff) der angefochtenen gerichtlichen Entscheidung gem. Abs. 3 Satz 2 i. V. mit § 114 Abs. 2 angeordnet oder eine anders lautende Sachentscheidung im
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Rechtsbeschwerdeverfahren ergangen ist (OLG Koblenz ZfStrVo 1978, 180; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 105; OLG Celle LS NStZ 1981, 118; OLG Zweibrücken NStZ 1987, 344; OLG Frankfurt ZfStrVo 1986, 188; LG Hildesheim StraFo 2007, 481; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 16 f; C/MD 2008 Rdn. 6; Müller-Dietz 1985, 352; Schuler 1988, 265; a. A. OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 58; OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1979, 109; Arloth 2008 Rdn. 7; Honecker 2005, 101; Ullenbruch 1993, 520 f). Zuständig für Entscheidungen nach Abs. 3 ist das Rechtsbeschwerdegericht als das Gericht der Hauptsache (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 104). Bei seiner Entscheidung hat das Gericht eine Abwägung der von der Vollzugsbehörde geltend gemachten Belange und der Interessen des Gefangenen unter dem Gesichtspunkt vorzunehmen, ob eine Aussetzung des Vollzugs die Verwirklichung eines Rechts des Gefangenen vereiteln oder wesentlich erschweren würde (OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 105). Vgl. ebenfalls bei § 114 Rdn. 2. 7. Nach Abs. 4 gelten für die Rechtsbeschwerde die Vorschriften der StPO über die Be- 14 schwerde entsprechend, soweit im StVollzG nichts anderes bestimmt ist. Die Strafvollstreckungskammer kann jedoch nicht in entsprechender Anwendung von § 306 Abs. 2 StPO bei begründeter Rechtsbeschwerde ihre Entscheidung korrigieren (Abhilfeverfahren). Die Abhilfemöglichkeit nach § 306 Abs. 2 StPO setzt eine zulässige Beschwerde voraus. Die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde hängt neben den allgemeinen Voraussetzungen noch von den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Abs. 1 ab (Rdn. 2). Die Abhilfeentscheidung müsste daher auf diese Fälle beschränkt bleiben. Dieses Ergebnis kann aber nicht dem Sinn von § 306 Abs. 2 StPO entsprechen. Daher lässt sich die für die (einfache) Beschwerde in § 306 Abs. 2 StPO vorgesehene Abhilfemöglichkeit mit den Besonderheiten der Rechtsbeschwerde als revisionsähnlichem Rechtsmittel nicht vereinbaren (OLG Stuttgart NStZ 1984, 528; AK-Kamann/Volckart 2006 § 120 Rdn. 9). 8. Die Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde setzt zwar grundsätzlich einen Beschluss 15 der Strafvollstreckungskammer in einem Hauptsacheverfahren gem. §§ 109 ff voraus. Das Rechtsmittel kann jedoch ausnahmsweise gem. § 116 Abs. 1 als Untätigkeitsbeschwerde zulässig sein, ohne dass eine Hauptsacheentscheidung des Landgerichts vorliegt. Ein solches Rechtsmittel kommt in Betracht, wenn nach Stellung eines Antrags gem. § 109 die Strafvollstreckungskammer untätig bleibt. Dabei reicht eine bloße Verfahrensverzögerung nicht aus. Vielmehr muss der unterlassenen landgerichtlichen Entscheidung die Bedeutung einer endgültigen Ablehnung im Sinne einer faktischen Rechtsverweigerung zukommen (BVerfG ZfStrVo 2003, 58) und die Beschwerde beim Oberlandesgericht geeignet sein, schwerste Rechtsverletzungen durch Zeitablauf zu verhindern. Sowohl das Rechtsschutzprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG als auch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG machen einen Rechtsschutz bei überlanger und unvertretbarer Verfahrensverzögerung notwendig (OLG Hamburg 4.11.2002 – 3 Vollz [Ws] 100/02; OLG Frankfurt ZfStrVo 2002, 370, NStZ-RR 2002, 188; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 284). Dies entspricht zugleich dem aus Art. 13 EMRK folgenden Anspruch auf eine wirksame Beschwerde sowie dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK (OLG Celle StV 2008, 92). Voraussetzung für die Untätigkeitsbeschwerde ist nicht nur, dass die Unterlassung in ihrer Bedeutung einer endgültigen Ablehnung gleichkommt bzw. faktisch eine Form der Rechtsverweigerung darstellt. Die unterlassene Entscheidung oder deren Ablehnung müsste auch selbst anfechtbar sein, und es sind vom Beschwerdeführer die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsbeschwerdeverfahrens einzuhalten (OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 356), soweit dem nicht das Wesen der beanstandeten Untätigkeit – z. B. bezüglich der Einhaltung einer Rechtsbeschwerdefrist – entgegensteht. Aufgrund der im Rechtsbeschwerdevefahren dem Oberlandesgericht nur eingeschränkt zukommenden Rechtskontrolle kann eine Untätig-
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keitsbeschwerde nur darauf gerichtet sein, die Untätigkeit der Strafvollstreckungskammer für rechtswidrig zu erklären. Die vom Betroffenen begehrte konkrete verfahrensbeendende Entscheidung trifft nicht der Strafsenat; diese bleibt dem Gericht des ersten Rechtszugs vorbehalten (OLG Celle StV 2008, 93).
§ 117 Zuständigkeit für die Rechtsbeschwerde Über die Rechtsbeschwerde entscheidet ein Strafsenat des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk die Strafvollstreckungskammer ihren Sitz hat. Diese Vorschrift regelt die örtliche Zuständigkeit für Entscheidungen über die Rechtsbeschwerde. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 121 Abs. 1 Nr. 3 GVG. § 121 Abs. 3 GVG enthält die Befugnis, in einem Bundesland mit mehreren Oberlandesgerichten die Zuständigkeit einem von ihnen zuzuweisen. Hiervon haben Nordrhein-Westfalen mit dem OLG Hamm und Niedersachsen mit dem OLG Celle Gebrauch gemacht (vgl. Meyer-Goßner 2008 § 121 GVG Rdn. 17).
§ 118 Form. Frist. Begründung (1) Die Rechtsbeschwerde muss bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, binnen eines Monats nach Zustellung der gerichtlichen Entscheidung eingelegt werden. In dieser Frist ist außerdem die Erklärung abzugeben, inwieweit die Entscheidung angefochten und ihre Aufhebung beantragt wird. Die Anträge sind zu begründen. (2) Aus der Begründung muss hervorgehen, ob die Entscheidung wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden. (3) Der Antragsteller als Beschwerdeführer kann dies nur in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle tun. Schrifttum: s. Vor § 10
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . 1. Frist der Rechtsbeschwerde 2. Antrag . . . . . . . . . .
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Rdn. 3. Begründung . . . . . . . . . . . 4. Form . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wiedereinsetzung bei Fristversäumung . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift regelt Form, Frist und Inhalt der Rechtsbeschwerdeeinlegung. Im Gegen- 1 satz zu den Revisionsvorschriften der StPO (§§ 341, 345) sieht das StVollzG für die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde eine einheitliche Frist vor. Damit soll auf die besondere Situation im Strafvollzug und auf die Ausgestaltung des Rechtsbeschwerdeverfahrens Rücksicht genommen werden. Die Monatsfrist erscheint notwendig und ausreichend, um auch unter den erschwerten Bedingungen des Freiheitsentzuges sachkundige Beratung zu erhalten. Eine kürzere Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde könnte dazu führen, dass allein zur Fristwahrung zunächst Rechtsbeschwerde eingelegt wird (BTDrucks. 7/918, 76; C/MD 2008 Rdn. 4).
II. Erläuterungen 1. Nach Abs. 1 Satz 1 ist die Rechtsbeschwerde bei dem Gericht einzulegen, das die an- 2 zufechtende Entscheidung erlassen hat. Gegen die Entscheidung einer auswärtigen Strafvollstreckungskammer ist zwar die Rechtsbeschwerde bei dieser einzulegen; es genügt aber auch die Fristwahrung bei dem Stammgericht (Meyer-Goßner 2008 § 78 GVG Rdn. 2 und § 341 StPO Rdn. 6). Zur Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung nicht auf freiem Fuß befindlicher Beschwerdeführer beim Amtsgericht s. Rdn. 8. Die Rechtsbeschwerdefrist beträgt einen Monat nach (förmlicher) Zustellung. Diese erfolgt bei in Justizvollzugsanstalten inhaftierten Strafgefangenen bzw. Sicherungsverwahrten gem. § 120 Abs. 1 StVollzG, §§ 35, 37 StPO, §§ 168 Abs. 1 Satz 2, 176 Abs. 1, 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO mittels Übergabe der Entscheidung durch einen Justizvollzugsbediensteten. Bei der Prüfung der Zulässigkeit ist allein das im Empfangsbekenntnis genannte Zustellungsdatum zugrunde zu legen (OLG Rostock NStZ 1997, 429 M). Die Monatsfrist gilt einheitlich für die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde (Abs. 1 Satz 2 und Satz 3). Grund für diese einheitliche Frist der Einlegung und Begründung ist die Verhinderung der vorsorglichen Anfechtung (C/MD 2008 Rdn. 4; OLG Zweibrücken 20.10.1981 – 1 Vollz [Ws] 85/81). Eine Verlängerung der Beschwerdefrist (gesetzliche Frist) ist nicht möglich. Zweifel an der Wahrung der Rechtsmittelfrist dürfen nicht zu Lasten desjenigen gehen, in dessen Einflussbereich die Zweifelsursache nicht liegt (OLG Celle NStZ 1990, 456). Die Befugnis zur Einlegung der Rechtsbeschwerde ergibt sich aus § 111. Ein Gefangener 3 kann sich bei der Einlegung der Rechtsbeschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle durch einen schriftlich bevollmächtigten Dritten, auch durch einen Mitgefangenen vertreten lassen (OLG Hamm 22.2.1980 – 1 Vollz [Ws] 6/80 gegen OLG Celle NStZ 1981, 250). Bei der Vertretung durch einen Mitgefangenen sind jedoch die Vorschriften des RDG zu beachten (s. § 108 Rdn. 3). 2. Das Rechtsbeschwerdebegehren (Abs. 1 Satz 2) muss weiterhin einen Antrag enthal- 4 ten, aus dem sich ergibt, ob die gerichtliche Entscheidung ganz oder teilweise angefochten und inwieweit ihre Aufhebung betrieben wird. Eine Beschränkung der Rechtsbeschwerde ist zulässig (vgl. § 344 Abs. 1 StPO). Sind die Rechtsbeschwerdeanträge nicht ausdrücklich formuliert, ergeben sie sich jedoch ausreichend aus dem Zusammenhang der Beschwerdebegründung, kann dies genügen (OLG Hamm 24.2.1978 – 1 Vollz (Ws) 47/77). Im Zweifel gilt die Rechtsbeschwerde als im Umfang nicht beschränkt (Meyer-Goßner 2008 § 344 StPO Rdn. 3). Wird ausdrücklich nur die Verfahrensrüge erhoben, so liegt eine stillschweigende Sachrüge nicht vor (OLG München 15.3.1982 – 1 Ws 203, 211/82). Zur Formbedürftigkeit der Erklärung Rdn. 8. Manfred Schuler/Klaus Laubenthal
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3. Die Rechtsbeschwerde ist zu begründen (Abs. 1 Satz 3). An die Begründung der Rechtsbeschwerde (Abs. 2) sind besondere Anforderungen gestellt, je nachdem, ob es sich um die Rüge verfahrensrechtlicher Rechtsnormen handelt (Verfahrensrüge) oder ob die Entscheidung wegen der Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird (Sachrüge). 6 Soweit die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren gerügt wird (Verfahrensrüge/formelle Rüge), sind nach Abs. 2 Satz 2, die den Mangel enthaltenen Tatsachen so vollständig und genau anzugeben, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden (OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 52; OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 107; OLG Rostock NStZ 1997, 429 M). Die Behauptung der Verletzung der Aufklärungspflicht gehört zur Verfahrensrüge (OLG Hamm BlStV 1/1990, 4). Sie ist daher nur dann ordnungsgemäß erhoben, wenn der Beschwerdeführer angibt, auf welchem Weg die Strafvollstreckungskammer die erstrebte Aufklärung hätte versuchen müssen (OLG München 15.3.1982 – 1 Ws 203, 211/82). Die Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm ist nicht unbedingt erforderlich, ihre falsche Bezeichnung schadet nicht. Wird in der Rechtsbeschwerde gerügt, dass das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme zu Unrecht verneint und dem Feststellungsantrag nicht entsprochen worden sei, so wird damit die zugrundeliegende Entscheidung wegen der Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren angefochten. 7 Soweit die Verletzung einer anderen Rechtsnorm gerügt wird (Sachrüge/materielle Rüge), kann diese in allgemeiner Form erhoben werden, ohne dass die Angabe der den Mangel enthaltenen Tatsachen zwingend erforderlich ist (Abs. 2 Satz 1). Es genügt, wenn vorgebracht wird, das materielle Recht sei durch die angefochtene Entscheidung verletzt worden. Der Vortrag des Beschwerdeführers kann sich auf die Rüge bestimmter Rechtsverletzungen beschränken. In beiden Fällen wird vom Rechtsbeschwerdegericht, sofern die Rechtsbeschwerde zulässig ist, die gesamte Entscheidung unbeschränkt nachgeprüft (Meyer-Goßner 2008 § 344 StPO Rdn. 17 ff).
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4. Die Rechtsbeschwerde kann von dem Antragsteller (§ 111 Abs. 1 Nr. 1) nur in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Gerichts eingelegt und begründet werden (Abs. 3). Der Sinn dieser Vorschrift ist es, sicherzustellen, dass das Vorbringen des Antragstellers in sachlich und rechtlich geordneter Weise in das Verfahren eingeführt wird und dass die Gerichte von unsachgemäßen und sinnlosen Anträgen entlastet bleiben (OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 53; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 54; OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1978, 55; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 110). Zum Nachweis der anwaltlichen Urheberschaft einer Begründungsschrift s. BGH NJW 1986, 1760. Eine wirksame Vollmacht muss vorliegen (OLG Jena ZfStrVo 2004, 183). Eine Rechtsbeschwerdeschrift genügt dann nicht der Form von Abs. 3, wenn sie zwar die anwaltliche Unterschrift trägt, dieser jedoch nicht die volle Verantwortung für den Inhalt übernimmt und die Begründung des Rechtsanwaltes unter Bezugnahme auf privatschriftliche Äußerungen des Betroffenen verfertigt wurde (BGH NStZ 1984, 563; OLG Celle NStZ 1998, 400 M; OLG Hamm NStZ 1992, 208; BVerwG NJW 1997, 1865; Meyer-Goßner 2008 § 345 StPO Rdn. 16). Der Rechtsanwalt muss eigenverantwortlich gestaltend an der Abfassung der Rechtsbeschwerdeschrift mitwirken (OLG Stuttgart Justiz 2002, 233). Hochschullehrer sind nicht zur Vertretung im vollzuglichen Rechtsbeschwerdeverfahren zugelassen (a. A. AKKamann/Volckart 2006 Rdn. 4; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 7). Gemäß Abs. 3 sind alle anderen Personen, die nicht Rechtsanwalt sind, von der Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde ausgeschlossen, soweit diese nicht zur Niederschrift der Geschäftsstelle
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Form. Frist. Begründung
§ 118
erfolgt. Anders als bei der Revisionseinlegung nach § 345 Abs. 2 StPO differenziert das StVollzG nicht zwischen Verteidiger und Rechtsanwalt. Das Formerfordernis von Abs. 3 gilt auch, wenn eine Behörde, die nicht Aufsichtsbehörde i. S. von § 111 Abs. 2 ist, in vollzuglichen Gerichtsverfahren als Antragstellerin auftritt (z. B. eine sonstige Verwaltungsbehörde) und Rechtsbeschwerde einlegt. Ein Verwaltungsmitarbeiter erfüllt die Voraussetzung der von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift selbst dann nicht, wenn er Volljurist ist (OLG Celle NStZ 2007, 226). Eine Rechtsbeschwerde der Aufsichtsbehörde, die nicht unterschrieben ist, sondern nur maschinenschriftlich den Namen ihres Verfassers enthält, entspricht nicht der Form nach Abs. 3 (OLG Stuttgart NStZ 1997, 152). Bei Behörden genügt jedoch auch die maschinenschriftliche Wiedergabe des Namens des Verfassers, wenn dieser mit einem Beglaubigungsvermerk versehen ist. Nach Abs. 3 ist nicht nur die Einlegung formbedürftig, sondern auch die Erklärung, inwieweit die Entscheidung angefochten und ihre Aufhebung beantragt wird, ferner die Begründung der Rechtsbeschwerde (OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 52; OLG München 13.1.1978 – 1 Ws 1350/77). Abs. 3 lässt nur die in der Vorschrift genannten beiden alternativen Formen zu; von beiden Möglichkeiten kann jedoch im selben Verfahren Gebrauch gemacht werden (Meyer-Goßner 2008 § 345 StPO Rdn. 9). Hinsichtlich der Niederschrift bei der Geschäftsstelle braucht ein inhaftierter Antragsteller ausnahmsweise seine Rechtsmittelerklärung nicht bei dem Gericht einzubringen, dessen Entscheidung angefochten wird (Rdn. 2). Nach § 299 StPO i.V. mit § 120 Abs. 1 genügt zur Wahrung der Frist, wenn innerhalb der Monatsfrist das Protokoll (§ 299 Abs. 2 StPO) bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts aufgenommen wird, in dessen Bezirk die JVA liegt (§ 299 Abs. 1 StPO). Diese Möglichkeit bringt in Flächenstaaten einerseits den Justizvollzugsanstalten Erleichterungen, da unter Umständen lange und aufwendige Vorführungen zum zuständigen Landgericht (Strafvollstreckungskammer) bzw. die Notwendigkeit eines Aufsuchens des Inhaftierten durch den Urkundsbeamten eines entfernt liegenden Landgerichts entbehrlich werden. Andererseits soll diese Vorschrift nach Sinn und Zweck den inhaftierten Beschuldigten nur gegen Fristversäumung schützen. Die entsprechende Anwendung des § 299 StPO auf das Verfahren nach dem StVollzG bedeutet daher, dass nur der Strafgefangene Rechtsmittelerklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts abgeben kann, dessen Anträge der eigenen Rechtsverfolgung gem. §§ 109 ff dienen. Bei Anträgen, die ein Vorgehen für oder gegen andere bezwecken, entfällt dieses Schutzbedürfnis. Zur Niederschrift der Geschäftsstelle bedeutet, dass ein Rechtspfleger als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle zur wirksamen Protokollierung der Rechtsbeschwerde zuständig ist (BayObLG NStZ 1993, 193). Dieser hat sich über den Kern des sachlichen Anliegens des Antragstellers Klarheit zu verschaffen und gibt dem Vorbringen eine möglichst zweckmäßige Form. Durch diesen formellen Zwang soll erreicht werden, dass der Rechtspfleger die ihm vorgetragenen Anträge nach Form und Inhalt eigenverantwortlich prüft und den Antragsteller belehrt. Berechtigten Anliegen hat er einen klaren und angemessenen Ausdruck zu geben. Ist das Vorbringen zur Begründung des erstrebten Verfahrensziels völlig ungeeignet, so muss der Rechtspfleger die Verantwortung für die Aufnahme in die Niederschrift ablehnen und so auf die Verhütung offenbar zweckloser Belästigungen des Gerichts hinwirken. Der Rechtspfleger wird der ihm vom Gesetz übertragenen Aufgabe nicht gerecht, wenn er als bloße Schreibkraft des Antragstellers oder nur als Briefannahmestelle tätig wird; er darf sich nicht damit begnügen, im Protokoll auf eine Privatschrift des Antragstellers Bezug zu nehmen oder einen von dem Gefangenen vorgelegten Schriftsatz lediglich mit den üblichen Eingangs- und Schlussformeln eines Protokolls zu umkleiden und zu den Akten zu nehmen. In einem derartigen Verhalten eines Rechtspflegers kann ein behördliches Verschulden gesehen werden, dessentwegen von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (OLG Koblenz NStZ 1998, 400 M). Dem Rechtspfleger
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
kommt als rechtskundige Person eine wichtige Filterfunktion zu (OLG Karlsruhe NStZ 1995, 436 B; OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 52; OLG Hamm NStZ 1982, 220; OLG Celle ZfStrVo SH 1978, 53; OLG Karlsruhe ZfStrVo SH 1978, 54; OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1978, 55; Arloth 2008, Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 8; Meyer-Goßner 2008 Einleitung Rdn. 133, § 345 StPO Rdn. 10). Die schlichte Übernahme einer vom Beschwerdeführer selbst gefertigten Beschwerdeschrift ohne eigenverantwortliche Mitwirkung des Urkundsbeamten genügt auch dann nicht den Anforderungen von Abs. 3 an eine wirksame Erhebung des Rechtsmittels zu Protokoll der Geschäftsstelle, wenn der Beschwerdeführer zwar Jurist ist, jedoch kein zugelassener Rechtsanwalt (OLG Celle NStZ-RR 2008, 127). Eine zulässige und übliche Sachrüge muss der Rechtspfleger ohne Vorbehalt in die Niederschrift aufnehmen; ein dennoch erkennbarer Vorbehalt ist unbeachtlich (OLG Koblenz 6.7.1978 – 2 Vollz [Ws] 18/78). Die Rechtsmitteleinlegung zu Protokoll der Geschäftsstelle ist auch dann wirksam, wenn die Unterschrift des Urkundsbeamten fehlt, aber feststeht, dass die Niederschrift vom zuständigen Urkundsbeamten herrührt und keinen bloßen Entwurf darstellt (OLG Celle ZfStrVo 1999, 56). Ein Strafgefangener hat kein Recht auf Bestimmung eines Protokollierungstermins, sondern nur einen Anspruch auf fristgerechte Protokollierung seiner Rechtsbeschwerde (OLG Koblenz NStZ 2002, 531). 9 Die Einlegung der Rechtsbeschwerde durch Telefax oder Fernschreiben ist zulässig (BayObLG NJW 1981, 259; BGH NJW 1986, 1759; BVerfG NJW 1987, 2067; OLG Karlsruhe NStZ 1994, 200). Den Formerfordernissen von Abs. 3 genügt jedoch nicht eine fernmündliche Erklärung (BGH NJW 1981, 1627; OLG Koblenz 20.2.1980 – 2 Vollz [Ws] 4/80). Die Rücknahme der Rechtsbeschwerde ist an die gleiche Form wie die Einlegung gebunden. Sie kann nur schriftlich durch einen Rechtsanwalt oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen (Abs. 3). Dementsprechend ist ein telefonisch erklärter Rechtsmittelverzicht unwirksam (OLG Hamm ZfStrVo 1986, 189). Ebenso genügt eine von dem Strafgefangenen selbst verfasste Schrift nicht (OLG Koblenz NStZ 2000, 468).
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5. Bei Versäumung der Rechtsbeschwerdefrist ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässig. Allerdings bleibt in Rechtsbeschwerdeverfahren eine Anwendung des § 112 Abs. 2 bis Abs. 4 ausgeschlossen, da diese Vorschriften nur die Wiedereinsetzung bei Fristversäumung bei erstinstanzlichem Antrag auf gerichtliche Entscheidung regeln (§ 112 Rdn. 8 ff). In Rechtsbeschwerdeverfahren sind insoweit die Bestimmungen der StPO anzuwenden (§ 120 Abs. 1 StVollzG; §§ 44 ff StPO). Dies hat zur Folge, dass in Abweichung von der in § 112 Abs. 3 Satz 1 bestimmten Frist von zwei Wochen im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eine Frist von einer Woche (§ 45 Abs. 1 StPO) gilt (OLG Frankfurt NStZ 1981, 408; AK-Kamann/Volckart 2006 § 118 Rdn. 18; C/MD 2008 Rdn. 5). Folgerichtig gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren bei fehlender Rechtsmittelbelehrung die unwiderlegbare Annahme einer unverschuldeten Versäumung (§ 44 Satz 2 StPO). Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung ist, dass der Antragsteller die Fristversäumung nicht verschuldet hat (§ 44 StPO; s. auch § 112 Rdn. 8). Geht die Versäumung der formgerechten Rechtsbeschwerdebegründung auf unrichtige Amtsführung des Urkundsbeamten zurück, kann der Antragsteller Wiedereinsetzung begehren (OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1978, 55). Ebenso bei amtlichem Verschulden (§ 112 Rdn. 9). Ist der Wiedereinsetzungsgrund ein den Gerichten zuzuordnender Fehler, verlangt der Grundsatz des fairen Verfahrens eine ausdrückliche Belehrung des Betroffenen hierüber. Bei rechtzeitiger Nachholung der zuvor nicht wirksam eingelegten Rechtsbeschwerde ist die Wiedereinsetzung dann von Amts wegen zu gewähren (BVerfG NJW 2005, 3629 f). Der in Unfreiheit befindliche Antragsteller muss sich ein Verschulden des ihn im Rechtsbeschwerdeverfahren vertretenen Rechtsanwalts nicht wie eigenes Verschulden zurechnen lassen (s. auch § 112 Rdn. 8).
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Entscheidung über die Rechtsbeschwerde
§ 119
§ 119 Entscheidung über die Rechtsbeschwerde (1) Der Strafsenat entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. (2) Seiner Prüfung unterliegen nur die Beschwerdeanträge und, soweit die Rechtsbeschwerde auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die in der Begründung der Rechtsbeschwerde bezeichnet worden sind. (3) Der Beschluss, durch den die Beschwerde verworfen wird, bedarf keiner Begründung, wenn der Strafsenat die Beschwerde einstimmig für unzulässig oder für offensichtlich unbegründet erachtet. (4) Soweit die Rechtsbeschwerde für begründet erachtet wird, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Der Strafsenat kann an Stelle der Strafvollstreckungskammer entscheiden, wenn die Sache spruchreif ist. Sonst ist die Sache zur neuen Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen. (5) Die Entscheidung des Strafsenats ist endgültig. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . 1–2 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 3–9 1. Schriftliches Verfahren . . . . . . 3 2. Nachprüfung des Rechtsbeschwerde-
Rdn. gerichts und Verzicht auf Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerichtliche Entscheidungen . . .
4–5 6–9
I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift enthält die wesentlichen Regelungen über die Entscheidung im Rechtsbe- 1 schwerdeverfahren. Die zulässige Rechtsbeschwerde (§ 116 Abs. 1) führt zur Überprüfung des Beschlusses einer Strafvollstreckungskammer und des Verfahrens in rechtlicher Hinsicht (§ 116 Rdn. 9). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Für die tatsächlichen Feststellungen kommt es auf die Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer als Tatsacheninstanz an. Den Verfahrensbeteiligten ist es daher verwehrt, im Rechtsbeschwerdeverfahren neue Tatsachen (Nachschieben von Gründen, § 115 Rdn. 4) einzubringen (OLG Bremen ZfStrVo SH 1979, 118; OLG Nürnberg NStZ 1987, 361 F; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2; Franke ZfStrVo 1978, 187, 188). Ebenso darf das Rechtsbeschwerdegericht keine neuen tatsächlichen Feststellungen treffen, da dies dem Wesen der Rechtsbeschwerde widerspricht, die nur zur rechtlichen und nicht zur tatsächlichen Überprüfung führt (OLG Celle LS ZfStrVo SH 1978, 114; OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1979, 16; OLG Frankfurt LS ZfStrVo SH 1979, 116). Als Rechtsverletzung ist auch anzusehen, wenn die Entscheidung einer Strafvoll- 2 streckungskammer an Mängeln leidet, welche die Feststellung unmöglich machen, ob eine Rechtsverletzung vorliegt (OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 114; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 114; Meyer-Goßner 2008 § 337 StPO Rdn. 21 ff; § 116 Rdn. 6). Bei der Überprüfung der Beurteilung von Ermessensentscheidungen der Vollzugsbehörden durch das Rechtsbeschwerdegericht liegt eine Rechtsverletzung dann vor, wenn die Strafvollstreckungskammer den Inhalt und die Grenzen, die der Ermessensausübung der Behörde gesetzt sind, verkannt oder
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§ 119
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die Regel über die gerichtliche Nachprüfung vollzugsbehördlichen Ermessens verletzt hat (§ 115 Abs. 5; § 115 Rdn. 19 ff). Die Beweiswürdigung (z. B. bei der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme) kann nur daraufhin überprüft werden, ob die Strafvollstreckungskammer gegen anerkannte Verfahrenssätze oder Denkgesetze verstoßen hat (§ 116 Rdn. 9), nicht dagegen, ob die Beweiswürdigung überzeugend ist. Beachtlich ist jedoch die Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 115 Rdn. 2).
II. Erläuterungen 3
1. Der Strafsenat des OLG entscheidet ohne mündliche Verhandlung (wie § 115 Abs. 1) im Beschlussverfahren (Abs. 1). Dem Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) – § 115 Rdn. 6 – ist durch die wechselseitige Mitteilung der Schriftsätze Rechnung zu tragen. Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Strafvollstreckungskammer kann nicht dadurch geheilt werden, dass im Verfahren vor dem Rechtsbeschwerdegericht das rechtliche Gehör gewährt wird (OLG Bamberg ZfStrVo SH 1979, 111). Im Übrigen s. § 115 Rdn. 6; § 116 Rdn. 7. Da die vollzugliche Rechtsbeschwerde revisionsähnlich ausgestaltet ist, gilt im Fall der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Beschwerdegericht bei der Entscheidung über eine Rechtsbeschwerde gem. § 120 Abs. 1 die Regelung von § 356a StPO (OLG Frankfurt NStZ-RR 2009, 30).
4
2. Abs. 2 begrenzt die Nachprüfung des Rechtsbeschwerdegerichts. Bei der Sachrüge, die allgemein erhoben werden kann, wird die Anwendung des materiellen Rechts umfassend nachgeprüft, soweit der Beschluss der Strafvollstreckungskammer angefochten wird. Bei der formellen Rüge findet eine Überprüfung nur aufgrund der vorgebrachten Tatsachen statt; sie kann nur dann Erfolg haben, wenn diese Tatsachen nachgewiesen sind. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt nicht (BGH bei Pfeiffer NStZ 1982, 190). Zur Verfahrens- und Sachrüge § 118 Rdn. 6 f. Im Rechtsbeschwerdeverfahren ist ein Feststellungsantrag nach § 115 Abs. 3 nicht zulässig (§ 116 Rdn. 11). 5 Abs. 3 sieht zur Entlastung der Gerichte bei Verwerfung der Rechtsbeschwerde die Möglichkeit des Verzichts auf eine Begründung vor, wenn der Strafsenat einstimmig die Rechtsbeschwerde für unzulässig (§ 116 Abs. 1) oder für offensichtlich unbegründet erachtet (dazu BVerfG NStZ-RR 2002, 95).
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3. Erweist sich die Rechtsbeschwerde als begründet, so stehen dem Strafsenat zwei Entscheidungsmöglichkeiten offen (Abs. 4). Der Strafsenat kann die angefochtene Entscheidung aufheben und in der Sache selbst entscheiden, wenn die Sache spruchreif ist (Abs. 4 Satz 1 und Satz 2). Spruchreife ist gegeben, wenn eine Sachentscheidung ohne weitere (tatsächliche) Aufklärung möglich ist (OLG Karlsruhe ZfStrVo 1985, 245; OLG München NStZ 1994, 560; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 5). Dies wird in erster Linie der Fall sein, wenn die Aufhebung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung auf den festgestellten Sachverhalt erfolgt. Steht die Maßnahme im Ermessen der Justizvollzugsanstalt oder hat diese hinsichtlich der näheren Bestimmung ihres Inhalts einen Beurteilungsspielraum, so ist Spruchreife nur dann gegeben, wenn aufgrund der näheren Umstände des Falles nur eine einzige, bestimmte Entscheidung möglich wäre (Null-Reduktion; § 115 Rdn. 18; a. A. OLG München NStZ 1994, 560, wonach auch in den Fällen Spruchreife gegeben sein soll, in denen der Senat die Verpflichtung aussprechen kann, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden). 7 Der Strafsenat kann bei fehlender Spruchreife die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückverwei-
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Entsprechende Anwendung anderer Vorschriften
§ 120
sen, die zuvor entschieden hat (Abs. 4 Satz 1 und Satz 3). Fehlen der Spruchreife ist immer dann anzunehmen, wenn durch weitere Ermittlungen und durch die Entscheidung von Fragen, die die Vollzugsbehörde bisher in eigener Verantwortung noch nicht geprüft hat, in die Kompetenz der Behörde eingegriffen würde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Strafvollstreckungskammer bei erforderlicher Aufklärung und Berücksichtigung aller verwertbaren Ermessenserwägungen zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre (OLG München ZfStrVo 1984, 171). Eine Aufhebung und Zurückverweisung aus dem alleinigen Grund, dass die Strafvollstreckungskammer unrichtig besetzt war, ist nicht erforderlich (OLG Hamburg ZfStrVo 1979, 125). Die Zurückverweisung an eine andere Vollstreckungskammer wurde vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, da sie dem Prinzip der örtlichen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern widersprechen würde, wonach einer Justizvollzugsanstalt nur ein Gericht zugeordnet sein soll (BTDrucks. 7/918, 86). Eine Zurückverweisung an die Vollzugsbehörde durch den Strafsenat bleibt aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlautes ausgeschlossen (Arloth 2008 Rdn. 5). § 115 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht für das Rechtsbeschwerdeverfahren. Diese Regelung betrifft wie § 115 insgesamt nur das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer (unzutreffend daher AK-Kamann/Volckart 2006 § 119 Rdn. 6, wonach bei fehlender Spruchreife eine Zurückweisung durch das OLG faktisch an die Vollzugsbehörde möglich sein soll, wenn es sich um Verpflichtungsanträge handelt). Durch die Zurückverweisung gem. Abs. 4 Satz 3 wird das Verfahren bei der Strafvoll- 8 streckungskammer im Umfang der Aufhebung und Zurückverweisung wieder anhängig. Neue Anträge und das Vorbringen neuer Tatsachen sind grundsätzlich zulässig, da sich die zurückverwiesene Sache in derselben prozessualen Lage befindet wie vor der ersten angefochtenen Entscheidung. Die Strafvollstreckungskammer ist jedoch an die der Aufhebung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung des Falles durch das Rechtsbeschwerdegericht gebunden (OLG Stuttgart MDR 1985, 434; OLG Nürnberg StV 2000, 573, 574; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 5). Diese Bindung kann entfallen bei einer Änderung der Rechtslage oder bei wesentlicher Veränderung des zu beurteilenden Sachverhalts. Nach Abs. 5 ist die Entscheidung des Strafsenats endgültig, d. h. unanfechtbar. Die Mög- 9 lichkeit, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, wird hiervon nicht betroffen. Ebensowenig die Verpflichtung zur Vorlage beim BGH (§ 121 Abs. 2 GVG).
§ 120 Entsprechende Anwendung anderer Vorschriften (1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, sind die Vorschriften der Strafprozessordnung entsprechend anzuwenden. (2) Auf die Bewilligung der Prozesskostenhilfe sind die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden. Schrifttum: s. Vor § 108
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . .
1 2–6
Rdn. 1. Anwendung der StPO . . . . . . . 2. Prozesskostenhilfe . . . . . . . . .
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2–3 4–6
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§ 120
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
Das StVollzG kennt kein eigenständiges und in sich geschlossenes Verfahrensrecht. Soweit die Vorschriften des Vierzehnten Titels keine Regelungen enthalten, sind die Vorschriften der StPO entsprechend anzuwenden, obwohl es sich im Grunde bei den im gerichtlichen Verfahren des StVollzG zu überprüfenden Maßnahmen vorwiegend um Verwaltungshandeln von Vollzugsbehörden handelt. Neben der allgemeinen Verweisung auf Vorschriften der StPO gelten nach § 116 Abs. 4 im Rechtsbeschwerdeverfahren die Vorschriften der StPO über die Beschwerde und nach § 121 Abs. 4 die Kostenvorschriften §§ 464 bis 473 StPO entsprechend. Für die Prozesskostenhilfe wird in Abs. 2 auf die entsprechenden Bestimmungen der ZPO verwiesen. (Dies gilt aber nicht in Jugendstrafvollzugssachen, wo § 92 Abs. 1 Satz 2 JGG keine Verweisung auf § 120 Abs. 2 enthält; s. § 109 Rdn. 3) Neben einer unmittelbaren Verweisung in § 114 Abs. 2 Satz 2 auf § 123 Abs. 1 VwGO kommen auch andere Grundsätze aus dem Verwaltungsverfahrens- sowie dem Verwaltungsprozessrecht, wie z. B. zum Verwaltungsakt, Ermessens- und Beurteilungsspielraum, zur Anwendung, soweit weder das StVollzG noch die StPO einschlägige Regelungen zur Problemlösung enthalten und demgegenüber VwVfG und VwGO sachgerechte Regelungen anbieten. Das gerichtliche Verfahren gem. §§ 109 ff ist daher weitgehend durch Richterrecht geprägt, um effektiven und widerspruchsfreien Rechtsschutz zu gewährleisten und Unsicherheiten auszuräumen (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; Müller-Dietz 1985, 341). Zur Kritik und zu Reformerfordernissen Kösling 1991, 271 ff; Laubenthal 2008 Rdn. 760, 844; Voigtel 1998, 73 ff, 317 ff.
II. Erläuterungen 2
1. Nach Abs. 1 sind die Vorschriften der StPO, soweit sich aus dem StVollzG nichts anderes ergibt, entsprechend anzuwenden. Diese Bestimmung gilt für das gesamte förmliche justizielle Recht; also für das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer ebenso wie für das Rechtsbeschwerdeverfahren vor dem Strafsenat des OLG. Bei der Anwendung von Vorschriften der StPO ist jedoch jeweils zu prüfen, ob eine uneingeschränkte Übernahme mit dem Sinn und Inhalt des Strafvollzugsrechts in Einklang steht (C/MD 2008 Rdn. 1). Im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG gilt der Untersuchungsgrundsatz 3 (§ 244 StPO) entsprechend (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 113; § 115 Rdn. 2 ff). Bei der Aufrechnung mit einem zivilrechtlichen Anspruch gegen das Eigengeld eines Gefangenen ist zwar der Rechtsweg nach § 109 zulässig; dem Gericht ist jedoch verwehrt über die zivilrechtliche Forderung mit zu entscheiden; sie muss vielmehr das Verfahren insoweit nach Abs. 1 in Verbindung mit § 262 Abs. 2 StPO aussetzen (KG NStZ-RR 2003 317, 318). Die Rechte eines Verteidigers/Prozessbevollmächtigten ergeben sich aus §§ 147, 148 StPO (OLG Hamm ZfStrVo 1980, 57). Die Antragstellung durch einen Bevollmächtigten ist gestattet. Denn die StPO kennt keine Vorschrift, die für die Abgabe von Willenserklärungen die Vertretung im Willen und in der Erklärung ausschließt (OLG Nürnberg NStZ 1997, 360; § 115 Rdn. 8). Ein Anspruch auf Anwesenheit des Verteidigers nach § 137 StPO bei der persönlichen Anhörung eines Gefangenen nach § 108 Abs. 1 StVollzG besteht, soweit der Verteidigungsauftrag sich auf das Dauerrechtsverhältnis des Freiheitsentzugs bezieht (§ 108 Rdn. 4; a. A. OLG Nürnberg ZfStrVo SH 1979, 93). Zur Frage der Akteneinsicht § 185 Rdn. 7 ff. Allerdings bleibt die Bestellung eines Pflichtverteidigers (§ 140 StPO) im Verfahren gemäß §§ 109 ff StVollzG durch positive gesetzliche Regelung in Abs. 2 i. V. mit § 114 ZPO ausgeschlossen (OLG Nürnberg NStZ 1981, 250; § 115 Rdn. 8). Für die schriftliche Abfassung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer siehe § 115 Rdn. 13. Bei der Ausschließung von Richtern finden die §§ 22 ff StPO entsprechend Anwendung (OLG Celle ZfStrVo 1999,
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Entsprechende Anwendung anderer Vorschriften
§ 120
55; OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 43). Die Ablehnung von Richtern ist im Beschlussverfahren jedoch nur bis zum Erlass der Entscheidung zulässig (OLG Koblenz NStZ 1982, 217; § 115 Rdn. 9). Ein blinder Richter kann grundsätzlich als Einzelrichter einer Strafvollstreckungskammer in Strafvollzugssachen entscheiden; die in der Rechtsprechung für die Hauptverhandlung in Strafsachen entwickelten Grundsätze sind insoweit auf das Verfahren nach §§ 109 ff nicht übertragbar (OLG Hamburg ZfStrVo 2001, 122). In Vollzugssachen gelten die §§ 33, 33a StPO (OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 82; OLG Bamberg ZfStrVo SH 1979, 111; OLG Celle NStZ 1992, 431 B) sowie § 356a StPO (OLG Frankfurt NStZ-RR 2009, 30) entsprechend; ebenso bei der Zustellung die §§ 35, 37 StPO. Zur Wiedereinsetzung bei Versäumung von Fristen s. § 112 Rdn. 8 ff und § 118 Rdn. 10. Die Verbindung von Verfahren erfolgt nach § 4 Abs. 1 StPO (KG NStZ 1998, 400 M; § 109 Rdn. 27). Ein Wiederaufnahmeverfahren ist im gerichtlichen Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz nicht statthaft (OLG Hamburg ZfStrVo 2001, 368). Aus der grundsätzlichen Beschränkung des gerichtlichen Verfahrens auf einen Rechtszug ergibt sich, dass Nebenentscheidungen keiner weitergehenden Nachprüfung unterliegen können als die Sachentscheidung selbst (OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 121; § 116 Rdn. 10). Im Übrigen s. auch § 110 Rdn. 8; § 116 Rdn. 14. 2. Für die Gewährung von Prozesskostenhilfe finden die Vorschriften der ZPO (§§ 114 ff 4 ZPO) Anwendung (Abs. 2). Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Das Prozesskostenhilfeverfahren will aber den grundrechtlich gewährleisteten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Deshalb dürfen die Fachgerichte die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannen und auf diese Weise den Zweck der Prozesskostenhilfe vereiteln (BVerfGE 81, 347; ZfStrVo 2001, 187; NJW 1992, 889; NJW 1997, 2745). Denn die Benachteiligung der unbemittelten Partei, der erst durch Bewilligung der Prozesskostenhilfe abgeholfen werden kann, liegt gerade darin, dass sie ohne rechtskundigen Beistand auskommen muss und ihr deshalb formale Fehler unterlaufen können (BVerfG StV 1996, 445). Für das Prozesskostenhilfeverfahren selbst kann keine Prozesskostenhilfe gewährt werden (BGH NJW 1984, 2106; OLG Hamm NJW 1983, 2335). Die Prozesskostenhilfe wird dann bewilligt, wenn der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann (allgemeine Voraussetzungen) und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet (sachliche Voraussetzungen). Die beabsichtigte Rechtsverfolgung darf auch nicht mutwillig erscheinen und sie muss eine hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten. Erfolgsaussicht bedeutet nicht Erfolgsgewissheit, sondern Erfolgswahrscheinlichkeit, welche in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nur summarisch zu prüfen ist. Dabei darf kein Auslegungsmaßstab verwendet werden, der einem unbemittelten Antragsteller seine beabsichtigte Rechtsverfolgung unverhältnismäßig erschwert (BVerfG ZfStrVo 2001, 187). Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist beim Prozessgericht zu stellen. Er kann zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden (§ 117 Abs. 1 ZPO). Es genügt für den Antrag auf Prozesskostenhilfe, dass der Antragsteller eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorlegt, aufgrund derer er seine Hilfsbedürftigkeit geltend macht. Der Antragsteller muss seiner Erklärung entsprechende Belege beifügen und zwar in deutscher Sprache (§ 117 Abs. 2 ZPO). Ermittlungen des Gerichts hierzu sind unter Beachtung des Datenschutzes möglich (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO § 117 Rdn. 26). Die allgemeinen Voraussetzungen werden bei einem Strafgefangenen in der Regel gegeben sein (OLG Frankfurt NStZ 1984, 356 F; Böhm 2003 Rdn. 382). Zur Mittellosigkeit von Straf-
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gefangenen (AK-Kamann/Volckart 2006 § 120 Rdn. 11; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 § 120 Rdn. 3). Das Bewilligungsverfahren richtet sich nach § 118 ZPO. Ein arbeitsunwilliger Strafgefangener ist nicht hilfebedürftig i. S. von § 114 ZPO, weil er seine gegenwärtige Leistungsunfähigkeit böswillig herbeigeführt hat (OLG Nürnberg NStZ 1997, 359). 5 Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe als solche ist unanfechtbar (§ 127 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Hinsichtlich des Beschlusses, durch den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wird, ist nach dem Grund für die Verneinung der Prozesskostenhilfe zu differenzieren. Gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO findet die sofortige Beschwerde statt, wenn der Streitwert der Hauptsache dem in § 511 ZPO für die Statthaftigkeit der Berufung genannten Betrag (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO: der Wert des Beschwerdegegenstandes von mehr als 600,– EUR) übersteigt. Wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe jedoch mangels hinreichender Aussicht des Hauptsacheantrags auf Erfolg abgelehnt, bleibt der allgemeine Rechtssatz zu beachten, wonach der Beschwerderechtszug nicht länger als der Rechtszug in der Hauptsache sein darf. Es darf also insoweit im Prozesskostenhilfeverfahren kein Rechtsmittel zu einer Instanz (dem Oberlandesgericht) eröffnet werden, welche in der Hauptsache (dem Rechtsbeschwerdeverfahren gem. §§ 116 ff) nicht als Tatsacheninstanz fungiert. Wurde die Beurteilung von Prozesskostenhilfe aber ausschließlich wegen Verneinung der erforderlichen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse abgelehnt, bleibt eine sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung – selbst bei einem den Betrag von 600,– EUR nicht übersteigenden Streitwert – statthaft. 6 Dem Antragsteller steht es frei, seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung oder die Rechtsbeschwerde gleichzeitig zusammen mit dem Antrag auf Bewilligung einer Prozesskostenhilfe oder später einzureichen. Bei getrennter Antragstellung ist jedoch auf die Einhaltung der Fristen (§ 112 Abs. 1 Satz 1, § 118 Abs. 1 Satz 1) besonders zu achten. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe hemmt den Fristablauf nicht. Ein Antragsteller hat jedoch unter Umständen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsbeschwerdefrist, wenn er den Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eingereicht hat (BVerfG ZfStrVo 2001, 187; BGHZ 16, 1). Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe muss und kann für jede Instanz gesondert beantragt werden (§ 119 ZPO). Nach § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO sind in der höheren Instanz (d. h. im Rechtsbeschwerdeverfahren gem. §§ 116 ff vor dem Oberlandesgericht) die Erfolgsaussichten nicht zu prüfen, wenn der Gegner (die Vollzugsbehörde) das Rechtsmittel eingelegt hat. Unter den Voraussetzungen von § 121 Abs. 2 ZPO kann im strafvollzugsrechtlichen Gerichtsverfahren, in dem kein Anwaltszwang besteht, ein Rechtsanwalt beigeordnet werden. Eine Beiordnung als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO scheidet – außer in Jugendstrafvollzugssachen (s. § 109 Rdn. 3) – jedoch aus (s. § 115 Rdn. 8).
§ 121 Kosten des Verfahrens (1) In der das Verfahren abschließenden Entscheidung ist zu bestimmen, von wem die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen zu tragen sind. (2) Soweit der Antragsteller unterliegt oder seinen Antrag zurücknimmt, trägt er die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen. Hat sich die Maßnahme vor einer Entscheidung nach Absatz 1 in anderer Weise als durch Zurücknahme des Antrags erledigt, so entscheidet das Gericht über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen nach billigem Ermessen.
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(3) Absatz 2 Satz 2 gilt nicht im Falle des § 115 Abs. 3. (4) Im Übrigen gelten die §§ 464 bis 473 der Strafprozessordnung entsprechend. (5) Für die Kosten des Verfahrens nach den §§ 109 ff kann auch ein den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigender Teil des Hausgeldes (§ 47) in Anspruch genommen werden.
I. Allgemeine Hinweise Diese Vorschrift behandelt die Kosten des gerichtlichen Verfahrens und lehnt sich 1 grundsätzlich an die Kostenvorschriften der StPO an (Abs. 4). Wegen der unterschiedlichen Art des Verfahrens und der Entscheidung im Strafprozess (§ 120 Rdn. 1 ff) waren jedoch ergänzende Vorschriften für die Zurücknahme eines Antrages (Abs. 2 Satz 2) und für die Kostenentscheidung bei einem Feststellungsantrag (§ 115 Abs. 3) notwendig (Abs. 3). Zu den Kosten des Verfahrens gehören die Gebühren und Auslagen der Staatskasse (§ 464a Abs. 1 StPO). Was zu den notwendigen Auslagen eines Beteiligten gehört, ergibt sich aus § 464a Abs. 2 StPO. Die Vorschrift gilt gem. § 92 Abs. 5 JGG für Jugendstrafvollzugssachen (s. § 109 Rdn. 3) entsprechend mit der Maßgabe, dass von einer Kostenauferlegung nach § 74 JGG abgesehen werden kann. Bestimmungen über die Höhe der Kosten und die Wertfestsetzung ergeben sich aus 2 §§ 60, 52 GKG (s. Rdn. 8). Der durch das 2. Haushaltsstrukturgesetz eingeführte Abs. 5 wurde durch das Fünfte 3 Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27. Dezember 2000 im Hinblick auf die monetäre Anhebung des Arbeitsentgeltes (§ 200) geändert (BGBl. I, 2043). Gemäß Art. 208 BayStVollzG ist die gesamte Norm des § 121 vom Regelungsumfang des Landes-Strafvollzugsgesetzes ausgenommen, während in Niedersachsen § 102 NJVollzG für den gerichtlichen Rechtsschutz insoweit auf § 121 Abs. 1 bis 4, nicht aber auf Abs. 5 verweist.
II. Erläuterungen Abs. 1 entspricht dem Grundsatz in § 464 Abs. 1 und Abs. 2 StPO, wonach in jeder ein ge- 4 richtliches Verfahren abschließenden Entscheidung eine Bestimmung über die Verteilung der Kosten und notwendigen Auslagen zu treffen ist. Eine Erstattung notwendiger Auslagen aus der Staatskasse kommt jedoch nur bei entsprechender Auslagenentscheidung in Betracht. Die einem Strafgefangenen entstandenen notwendigen Auslagen können daher nur dann zur Erstattung aus der Staatskasse festgesetzt werden, wenn das Gericht in seinem Beschluss ausdrücklich die dahingehende Entscheidung getroffen hat. Der unvollständige oder unrichtige Kostenausspruch kann mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden (Rdn. 7). Das Gericht hat den Betroffenen auch über die ihm zustehende Beschwerdemöglichkeit zu belehren; ist diese unterblieben, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Abs. 4 i. V. m. §§ 464 Abs. 3 Satz 1, 311 Abs. 2 Satz 1, 44 Satz 2 StPO) in Betracht. Unterliegt der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren oder nimmt er seinen Antrag auf 5 gerichtliche Entscheidung zurück, hat er die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen zu tragen (Abs. 2 Satz 1). Andererseits ist die Staatskasse verpflichtet, dem Antragsteller die notwendigen Auslagen (§ 464a Abs. 2 StPO), insbesondere die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, zu erstatten, sofern der Antragsteller im vollen Umfang obsiegt hat. Eine Kostenquotelung und Auslagenaufteilung zwischen Staatskasse und Antragsteller ist entsprechend §§ 465 Abs. 2, 473 Abs. 4 StPO aus Billigkeitsgründen zulässig. Hat sich die Vollzugsmaßnahme vor einer verfahrensabschließenden gerichtlichen Entscheidung in an-
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derer Weise als durch die Zurücknahme des Antrags erledigt (§ 115 Rdn. 17), so hat das Gericht über die Kosten des gesamten Verfahrens und die darin erwachsenen notwendigen Auslagen nach billigem Ermessen zu entscheiden (Abs. 2 Satz 2). Hierbei kann maßgebend sein, wie das Verfahren unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes ohne das erledigende Ereignis vermutlich ausgegangen wäre (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 7; Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 2; OLG München NStZ 1986, 96; LG Hamburg NStZ 1992, 303). Abs. 2 Satz 2 gilt auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren (OLG Hamm ZfStrVo 2002, 243). Nach OLG Koblenz (ZfStrVo SH 1979, 107) kann bei prozessual überholtem Rechtsmittel eine Kostenentscheidung unterbleiben. Demgegenüber sind jedoch die Kosten des Verfahrens und die einem Strafgefangenen daraus erwachsenen notwendigen Auslagen in der Regel der Staatskasse aufzuerlegen, wenn die Rechtsbeschwerde ohne das erledigende Ereignis zu dem erstrebten Erfolg geführt hätte (KG StV 1982, 79 m. Anm. Volckart; OLG Hamm ZfStrVo 2002, 243). 6 Nach Abs. 3 findet die Regelung von Abs. 2 Satz 2 keine Anwendung bei Entscheidungen nach § 115 Abs. 3, da bei der Umstellung eines Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrags auf einen Feststellungsantrag sich die Kostenentscheidung nach dem Ausgang der Entscheidung über den neuen Antrag richtet (Abs. 2 Satz 1). Hat sich jedoch der Feststellungsantrag (§ 115 Abs. 3) wegen Wegfalls des Feststellungsinteresses erledigt, ist über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen wiederum gemäß Abs. 2 Satz 2 nach billigem Ermessen zu entscheiden. 7 Nach Abs. 4 finden die Vorschriften der §§ 464 bis 473 StPO entsprechende Anwendung. Das gerichtliche Verfahren nach dem StVollzG kennt daher grundsätzlich auch die von der Hauptsache getrennte Anfechtung der Kostenentscheidung mit der sofortigen Beschwerde entsprechend § 464 Abs. 3 StPO (KG NStZ-RR 2002, 62). Eine selbständige Anfechtung der Kostenentscheidung ist zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt (§ 464 Abs. 3), sofern eine Rechtsbeschwerde statthaft gewesen wäre (§ 304 Abs. 3 StPO). Hat sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung erledigt, ohne dass der Antragsteller in das Feststellungsverfahren nach § 115 Abs. 3 übergeht, unterliegt die Kostenentscheidung nach Abs. 2 Satz 2 prinzipiell keiner Anfechtung, weil in der Hauptsache kein Rechtsmittel zulässig bleibt (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2000, 31; OLG Jena NStZ-RR 1996, 254; OLG Schleswig NStZ-RR 2007, 326; Arloth 2008 Rdn. 5; a. A. AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 8). Hat die Strafvollstreckungskammer ausdrücklich die Erledigung der Hauptsache festgestellt, stellt dies keine sachlich-rechtliche, sondern eine prozessuale Entscheidung dar. Legt der Betroffene gegen diese Rechtsbeschwerde gem. § 116 ein, weil das Landgericht zu Unrecht die Erledigung festgestellt hat – und damit inzident auch über die Hauptsache entschieden wurde – ist ausnahmsweise gegen eine solche Prozessentscheidung die Rechtsbeschwerde zulässig (OLG Schleswig NStZ-RR 2007, 326; s. auch Arloth 2008 Rdn. 3). Ist eine Auslagenentscheidung nicht getroffen worden, darf sie von der Strafvollstreckungskammer weder nachgeholt noch ergänzt werden (Meyer-Goßner 2008 § 464 StPO Rdn. 12). Dieser Mangel ist allein durch die sofortige Beschwerde (§ 464 Abs. 3 Satz 1 StPO) korrigierbar (ggf. in Verbindung mit einem Wiedereinsetzungsantrag). Wollte man für diesen Fall der unterlassenen Kosten- oder Auslagenentscheidung eine isolierte Kostenbeschwerde nicht zulassen, wenn eine Rechtsbeschwerde in der Hauptsache nicht mehr statthaft ist (fehlende Beschwer, dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde entsprochen), würde dies im Ergebnis dazu führen, dass eine Erstattung der Auslagen durch die Staatskasse, insbesondere der Anwaltskosten, nicht in Betracht käme. Der Betroffene könnte nur noch versuchen, seine Auslagen als Schaden in einem Regressprozess zu erhalten. Die Kostenentscheidung unterliegt daher ausnahmsweise der sofortigen Beschwerde (s. auch Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 2), wenn der Beschwerdewert die Grenze von 200,– Euro übersteigt (§ 304
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Abs. 3 Satz 1 StPO). Die Unanfechtbarkeit der Hauptsachenentscheidung beruht für den Betroffenen allein darauf, dass er durch die zu seinen Gunsten ergangene Entscheidung der 1. Instanz nicht mehr beschwert ist und nicht darauf, dass mit der Hauptsacheentscheidung der Instanzenzug beendet sein soll (Meyer-Goßner 2008 § 464 StPO Rdn. 12). Die Höhe der zu tragenden Kosten sowie die Festsetzung des Streitwerts ergeben sich 8 aus dem GKG. Gemäß § 60 GKG gelten im gerichtlichen Verfahren nach dem StVollzG für die von Amts wegen festzusetzende Höhe des Streitwerts (§ 65 GKG) die Bestimmungen von § 52 Abs. 1 bis 3 GKG entsprechend. Danach ist der Wert nach der Bedeutung der Sache zu bestimmen, die diese für den Antragsteller hat (§ 52 Abs. 1 GKG). Maßgeblich ist hierfür, was der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf erreichen will und was er zur Begründung seines Rechtsschutzziels vorträgt (Meyer § 60 GKG Rdn. 5). Geht es ihm um eine bezifferte Geldleistung oder eine hierauf gerichtete Entscheidung der Vollzugsverwaltung, ist gem. § 52 Abs. 3 GKG deren Höhe maßgeblich. Nur wenn der Sach- und Streitstand keine genügenden Anhaltspunkte für eine Bewertung der Bedeutung der Sache bietet, wird ein Auffangwert von 5.000,– EUR angenommen (§ 52 Abs. 2 GKG). Der Betrag bleibt jedoch nur ein subsidiärer Ausnahmewert, kein Auffangwert. In Strafvollzugssachen ist der Streitwert vielmehr regelmäßig eher niedrig festzusetzen, weil – angesichts der geringen finanziellen Leistungsfähigkeit der meisten Strafgefangenen – aus rechtsstaatlichen Gründen die Streitwertbemessung nicht zu einem unzumutbaren Kostenrisiko bei Anrufung des Gerichts führen darf (OLG Nürnberg ZfStrVo 1986, 61; KG, Beschl. v. 30.3.2007 – 2 Ws 151/07 – Beck-RS). Gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Streitwertfestsetzung ist gem. § 68 Abs. 1 GKG die Beschwerde statthaft (nicht § 120 Abs. 1 StVollzG i. V. m. § 304 StPO), wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,– EUR übersteigt oder das Gericht die Beschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage im Streitwertbeschluss zulässt. Keiner gesonderten Streitwertbeschwerde bedarf es bei Einlegung der Rechtsbeschwerde gem. § 116 StVollzG gegen die Hauptsache, weil der Strafsenat des OLG die in der ersten Instanz erfolgte Streitwertfestsetzung nach § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG auch von Amts wegen ändern kann, wenn das Verfahren wegen der Hauptsache – oder wegen der Entscheidung über den Kostenansatz – in der Rechtsmittelinstanz schwebt (Meyer § 65 GKG Rdn. 2). Statthaft ist auch eine isolierte Streitwertbeschwerde unabhängig von den Überprüfungsmöglichkeiten hinsichtlich der Sachentscheidung selbst (OLG Hamm ZfStrVo 1990, 252; KG, Beschl. v. 30.3.2007 – 2 Ws 151/07 – Beck-RS; a. A. Arloth 2008 Rdn. 1). Die Festsetzung der Höhe der Kosten erfolgt im Kostenansatzverfahren gem. §§ 19 ff GKG durch den Kostenbeamten des mit der Sache jeweils befassten Gerichts. Gegen dessen Entscheidung ist gem. § 66 Abs. 1 GKG der Rechtsbehelf der Erinnerung gegeben, über welchen dasjenige Gericht entscheidet, bei dem die Kosten angesetzt wurden. Gegen Erinnerungsentscheidungen der Strafvollstreckungskammer eröffnet § 66 Abs. 2 GKG das Rechtsmittel der Beschwerde, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,– EUR übersteigt bzw. das entscheidende Gericht wegen einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung die Beschwerde zulässt. Die Entscheidung des Strafsenats des Oberlandesgerichts bleibt unanfechtbar (§ 66 Abs. 3 GKG). Abs. 5 wurde zunächst durch Art. 22 des 2. Gesetzes zur Verbesserung der Haushalts- 9 struktur (2. Haushaltsstrukturgesetz), BGBl. 1981 I, 1523, 1535 eingefügt. Damit soll für Gefangene, wie es auch den Verhältnissen in der Freiheit entspricht, ein höheres Kostenrisiko geschaffen werden, um dadurch zu einer Verringerung „unsinniger“, „mutwilliger“ und „missbräuchlicher“ Anträge nach §§ 109 ff zu kommen. Vor Einführung von Abs. 5 ging die Kostentragungspflicht häufig ins Leere, weil der Gefangene in der Regel nicht über Eigengeld in der nach den Pfändungsgrenzen festgesetzten Höhe verfügt. Seit der Neufassung durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes kann der den drei-
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fachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 übersteigende Betrag des Hausgeldes – § 47 Rdn. 2 für Gerichtskosten in Anspruch genommen werden. Wenn erfolglos Verfahren nach §§ 109 ff betrieben werden, besteht kein Grund, nicht auch den durch die Erhöhung des Arbeitsentgeltes erzielten Mehrbetrag zur Bestreitung der Verfahrenskosten heranzuziehen. Nach dem Willen des Bundesgesetzgebers soll jedoch einem Strafgefangenen mit Ausnahme der in Abs. 5 und § 93 Abs. 2 vorgesehenen Sonderregelung das Hausgeld ohne Zugriffsmöglichkeit Dritter zur Verfügung stehen (OLG Hamm ZfStrVo 2003, 184). Gegen Abs. 5 bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (OLG Frankfurt ZfStrVo 1987, 126; Arloth 2008 Rdn. 6). Eine analoge Anwendung von Abs. 5 durch Aufrechnung von Verfahrenskosten gegen den Taschengeldanspruch verstößt gegen Art. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfG NStZ 1996, 615; s. auch Anm. Rotthaus NStZ 1997, 206; Konzak NVwZ 1997, 872 a. A. OLG Koblenz NStZ 1986, 144). Für die Kosten eines Verwaltungsvorverfahrens nach § 109 Abs. 3, auf das kein Hauptsacheverfahren folgt, kann Hausgeld nicht in Anspruch genommen werden (OLG Hamburg NStZ 1993, 256).
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Da nach Art. 208 BayStVollzG die Vorschriften des StVollzG über das gerichtliche Verfahren (§§ 109 bis 121 und 130) uneingeschränkt unverändert fortgelten, bleibt auch die gesamte Bestimmung des § 121 StVollzG vom Regelungsumfang des BayStVollzG ausgenommen. 2. Hamburg
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Nach § 130 Nr. 2 HmbStVollzG gelten die Vorschriften des StVollzG über das gerichtliche Verfahren (§§ 109 bis 121 StVollzG) uneingeschränkt unverändert fort, so dass § 121 StVollzG vom Regelungsumfang des HmbStVollzG ausgenommen bleibt. 3. Niedersachsen
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§ 102 NJVollzG normiert, dass gegen eine vollzugliche Entscheidung oder sonstige Maßnahme Rechtsschutz nach Maßgabe der §§ 109 bis 121 Abs. 4 StVollzG beantragt werden kann. Damit geht der Landesgesetzgeber davon aus, dass § 121 Abs. 5 StVollzG zur Gesetzgebungskompetenz des Landes gehört. § 51 Abs. 1 NJVollzG bestimmt, dass zur Durchsetzung eines Anspruchs des Landes auch aus § 121 StVollzG die Vollzugsbehörde gegen den Anspruch auf Auszahlung des Hausgeldes aufrechnen kann, soweit dieser den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG übersteigt. Diese Einbeziehung von § 121 StVollzG in die landesrechtliche Norm besitzt keinen eigenen Regelungsgehalt, weil § 121 Abs. 5 StVollzG auch in Niedersachsen fortgilt (s. auch Arloth 2008 Erl. zu § 51 NJVollzG).
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Strafvollstreckung und Untersuchungshaft
§ 122
FÜNFZEHNTER TITEL
Strafvollstreckung und Untersuchungshaft § 122 (1) Wird Untersuchungshaft zum Zwecke der Strafvollstreckung unterbrochen oder wird gegen einen Strafgefangenen in anderer Sache Untersuchungshaft angeordnet, so unterliegt der Gefangene abweichend von § 4 Abs. 2 auch denjenigen Beschränkungen seiner Freiheit, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert. Die notwendigen Maßnahmen ordnet der nach § 126 der Strafprozessordnung zuständige Richter an. § 119 Abs. 6 Satz 2 und 3 der Strafprozessordnung gilt entsprechend. (2) § 148 Abs. 2, § 148a der Strafprozessordnung sind anzuwenden.
I. Allgemeine Hinweise Die Bestimmung trifft eine Regelung für den Vollzug freiheitsentziehender Maßnah- 1 men bei gleichzeitigem Vorliegen mehrerer verschiedener Hafttitel. Dies ist erforderlich, denn insoweit verbietet der Grundsatz materieller Gerechtigkeit deren Vollstreckung zur selben Zeit (Arloth 2008 Rdn. 1). Gem. Nr. 41 VGO ist aus diesem Grund ein sog. ÜberhaftVermerk gefordert, vgl. auch Nr. 7 VGO. Aus § 122 folgt das Prinzip des Nachrangs der Untersuchungshaft gegenüber dem Vollzug der Freiheitsstrafe. Die Notwendigkeit der weiteren Regelungen in § 122 ergibt sich daraus, dass Eingriffe in die Rechte eines Strafgefangenen nur nach den Vorschriften des jeweiligen Strafvollzugsgesetzes erfolgen dürfen, der Vollzug der Untersuchungshaft aber entsprechend seiner Zwecksetzung ggf. weiter gehende Eingriffe erfordert. Dabei gelten Verhältnismäßigkeits- und Beschleunigungsgrundsatz auch, soweit Untersuchungshaft lediglich vorgemerkt ist (OLG Brandenburg NStZ 1999, 448; OLG Brandenburg NStZ 2000, 80; OLG Bremen, NStZ 2000, 77; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 3). Unmittelbar in § 122 geregelt werden allein die Konsequenzen der Überhaft für die Vollzugsgestaltung, ohne dass damit zugleich eine ausdrückliche Bestimmung hinsichtlich der Reihenfolge der Vollstreckung vergleichbar § 67, §§ 43 ff StVollstrO, Nr. 92 UVollzO getroffen würde. Der Vollzug der Freiheitsstrafe geht grundsätzlich dem Vollzug der Untersuchungshaft vor, da Erstere weniger belastend ist (AK-Kamann/Volckart 2006 vor § 122 Rdn. 4; Arloth 2008 Rdn. 2). Dem Haftrichter des Verfahrens, für das Überhaft notiert ist, werden jedoch ergänzende Eingriffsmöglichkeiten zur Sicherung des laufenden Verfahrens gewährt. Im Übrigen verbleibt die Zuständigkeit für die Gestaltung des Vollzugs bei der Justizvollzugsanstalt (KG StV 1996, 327). Weil § 122 sämtliche ggf. erforderlichen Sicherungsmaßnahmen einschließt, kommt eine Ausnahme vom Nachrang der Untersuchungshaft auch nicht aufgrund einer besonders starken Flucht- oder Verdunkelungsgefahr in Betracht (Arloth 2008 Rdn. 2; a. A. OLG Hamburg NStZ 2002, 206; C/MD 2008 Rdn. 1). Durch § 122 vorgegeben wird der Nachrang der Untersuchungshaft auch gegenüber 2 anderen Haftarten. Das betrifft die Sicherungsverwahrung, § 130, die Sicherungshaft, §§ 453c StPO, sowie den Strafarrest, § 167. Gegenüber der Jugendstrafe ist Untersuchungshaft nur nachrangig, sofern sie in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen wird. Ebenso gilt dies in Fällen der Zivilhaft i.S.d. § 171 sowie der Abschiebungs- und Auslieferungshaft, § 8 Abs. 2 FEVG i.V.m. § 171 (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 5; C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. Arloth 2008 Rdn. 2). Keine Anwendung findet § 122 auf den Jugendarrest. Trifft Untersuchungs-
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§ 122
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
haft mit einer Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB oder § 126a StPO zusammen, ist § 122 nicht anwendbar, weil insoweit in § 138 eine entsprechende Verweisung fehlt und die ggf. zur Erfüllung des Sicherungszwecks notwendigen Sicherheitsvorkehrungen in den entsprechenden Einrichtungen gar nicht getroffen werden könnten (a. A. AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 6). Drohen im Anschluss an den laufenden Strafvollzug andere Haftformen, bleibt insoweit die Anwendung von § 122 ausgeschlossen (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 2).
II. Erläuterungen 3
Unabhängig von den in § 4 Abs. 2 zulässigen Beschränkungen erlaubt Abs. 1 Satz 1 gegenüber Strafgefangenen, bei denen die Untersuchungshaft zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrochen oder gegen die Untersuchungshaft in anderer Sache angeordnet ist, weitere Freiheitsbeschränkungen. Deren Voraussetzungen richten sich nach den Vorschriften der Untersuchungshaft, § 119 Abs. 3–5 StPO. Daher kann ein Haftrichter gegenüber einem Strafgefangenen, für den Untersuchungshaft als Überhaft notiert ist, bei einer von ihm angeordneten ergänzenden Briefkontrolle eine Anhalteverfügung nur mit der Notwendigkeit der Sicherung des laufenden Verfahrens begründen. Im Übrigen bleibt es bei der Zuständigkeit der Vollzugsbehörde nach § 31 (KG Beschl. v. 12.12.2000 – 4 Ws 222/00; Beschl. v. 5.2.2001 – 3 Ws 72/01; Beschl. v. 22.1.2001 – 3 Ws 34/01; OLG Hamburg ZfStrVo 1993, 315). Jedoch kann aber z. B. die Eignung für den offenen Vollzug entfallen, wenn gegen den Inhaftierten ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl erlassen wird. Der Beurteilungsspielraum der Vollzugsbehörden reduziert sich dabei aufgrund des Haftbefehls, weil insoweit § 10 Abs. 1 inhaltlich bedeutungsgleich mit § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist (KG NStZ 2006, 695). Abs. 1 Satz 1 nennt als Grund für zusätzliche Einschränkungen den Zweck der Untersuchungshaft, der sich im Einzelfall wiederum aus den zugrunde liegenden konkreten Haftgründen ergibt. Damit verbietet sich ein Rückgriff auf nicht einschlägige Haftgründe (AK-Kamann/Volckart 2006 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 3; a. A. OLG Hamm StV 1998, 35; MeyerGoßner 2008 § 119 StPO Rdn. 12). 4 Nach Abs. 1 Satz 2 ordnet der gem. § 126 StPO zuständige Haftrichter die zusätzlich notwendigen Beschränkungen an. Diese Zuständigkeitsregelung ist zweckmäßig, da dieser auch den Haftbefehl erlassen hat und ihm somit die maßgebenden Gesichtspunkte vertraut sind. Abs. 1 Satz 3 normiert eine Eilkompetenz entsprechend § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO, die in dringenden Fällen den Erlass vorläufiger Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft, den Anstaltsleiter oder einen anderen Beamten, unter dessen Aufsicht der Verhaftete steht, erlaubt; diese bedürfen einer Genehmigung durch den Richter, § 119 Abs. 6 Satz 3 StPO. 5 Nach Abs. 2 unterliegt der Verkehr eines Verteidigers mit einem Gefangenen, gegen den wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB, auch i. V. m. § 129b StGB) Untersuchungshaft angeordnet ist, oder gegen den eine Freiheitsstrafe in Unterbrechung einer wegen des Verdachts einer Straftat nach § 129a StGB angeordneten Untersuchungshaft vollzogen wird, nach Maßgabe der §§ 148 Abs. 2, 148a StPO der Überwachung (C/MD 2008 Rdn. 5). Eine Erweiterung der Anwendung dieser Vorschriften auf Gefangene, welche eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat verbüßen, die mit der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in einem engen Zusammenhang steht oder sonst nach Art und Gewicht einer Straftat nach § 129a StGB ähnelt, ist nicht zulässig (OLG Celle NStZ 1982, 527). 6 Rechtsbehelfe gegen die Unterbrechung der Untersuchungshaft scheiden mangels Beschwer des Betroffenen aus (OLG Düsseldorf NStZ 1989, 429). Eine Ablehnung der Unter-
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Strafvollstreckung und Untersuchungshaft
§ 122
brechung hingegen kann mit der Beschwerde und ggf. der weiteren Beschwerde angegriffen werden, §§ 304, 310 StPO (OLG Hamburg NStZ 1992, 206; Arloth 2008 Rdn. 8). Dies gilt auch für Maßnahmen des Haftrichters nach Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 i.V.m. § 148a StPO (C/MD 2008 Rdn. 6). Im Übrigen ist für alle Maßnahmen des Strafvollzugs der Rechtsweg zur Strafvollstreckungskammer gegeben, §§ 109 ff.
III. Beispiel Ein Verurteilter begeht in der Bewährungszeit eine neue Straftat. Wegen der neuen 7 Sache wird er in Untersuchungshaft genommen. Nach Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses in der Bewährungssache wird die Untersuchungshaft unterbrochen und der Gefangene zur Verbüßung der Reststrafe in den Strafvollzug überführt. Der Haftbefehl besteht weiter; der Haftrichter behält sich die Entscheidung über die Genehmigung von Besuchen sowie die Briefzensur vor.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
8 In Bayern ordnet Art. 208 BayStVollzG die Fortgeltung von § 122 StVollzG an. Nach der Gesetzesbegründung soll § 122 StVollzG so lange fortbestehen, bis ein Bayerisches Untersuchungshaftvollzugsgesetz in Kraft tritt. Abgestellt werden muss im Anwendungsbereich des BayStVollzG allerdings nicht auf § 4 Abs. 2 StVollzG, sondern auf Art. 6 Abs. 2 BayStVollzG, der mit der bundesrechtlichen Norm wortlautidentisch ist. 2. Hamburg Nach § 130 Nr. 3 HmbStVollzG gilt die Vorschrift des § 122 StVollzG unverändert fort.
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3. Niedersachsen Abgesehen von der ausdrücklichen Verweisung auf den fünften Teil des niedersächsi- 10 schen Landesgesetzes (§§ 133–169 NJVollzG) – anstelle der in § 122 Abs. 1 Satz 1 StVollzG normierten Abweichung von § 4 Abs. 2 – ist § 135 Abs. 3 NJVollzG weitgehend inhaltsgleich mit § 122 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StVollzG. Hinsichtlich der erforderlichen Entscheidungen und nötigen Maßnahmen wird in § 135 Abs. 3 NJVollzG auf die nach dem Landesgesetz zuständige Stelle verwiesen.
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§ 123
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
SECHZEHNTER TITEL
Sozialtherapeutische Anstalten § 123 Sozialtherapeutische Anstalten und Abteilungen (1) Für den Vollzug nach § 9 sind von den übrigen Vollzugsanstalten getrennte sozialtherapeutische Anstalten vorzusehen. (2) Aus besonderen Gründen können auch sozialtherapeutische Abteilungen in anderen Vollzugsanstalten eingerichtet werden. Für diese Abteilungen gelten die Vorschriften über die sozialtherapeutische Anstalt entsprechend. Schrifttum: s. bei § 9
1. Bestandsgarantie
1
Abs. 1 verpflichtet die Landesjustizverwaltungen, sozialtherapeutische Anstalten einzurichten, sagt aber nichts darüber, welche Gefangenen dort mit welchen Methoden zu behandeln sind (vgl. § 9 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 3), wie die Anstalten – insbesondere personell – ausgestattet werden sollen und wie viel Behandlungsplätze im Verhältnis zur Gefangenenzahl des Landes vorzuhalten sind (§ 9 Rdn. 4). Gleichwohl steht es den Ländern nicht frei, Anstalten beliebig als sozialtherapeutische Einrichtungen zu etikettieren. In den vergangenen mehr als 30 Jahren hat die Praxis ein hinreichend deutliches Bild der sozialtherapeutischen Anstalt entwickelt. Diese Tradition ist zu beachten (§ 9 Rdn. 5). Zur Größe der sozialtherapeutischen Anstalt s. § 143 Rdn. 5. 2. Sozialtherapeutische Abteilungen
2
Anstelle sozialtherapeutischer Anstalten können „aus besonderen Gründen“ sozialtherapeutische Abteilungen eingerichtet werden (Abs. 2 Satz 1). Besondere Anstalten sind jedoch vorzuziehen, weil das vollzugliche Klima der Gesamtanstalt auf die sozialtherapeutische Abteilung ausstrahlt und die Entwicklung der therapeutischen Gemeinschaft behindert. Unschädlich ist es freilich, wenn die sonst selbständige sozialtherapeutische Anstalt mit einer benachbarten Vollzugsanstalt gemeinsame Versorgungseinrichtungen benutzt. Doch müssen die Leitung und das Behandlungsteam einschließlich der Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes klar von dem Personal der anderen Anstaltsbereiche geschieden sein. Im Bereich der Arbeitsbetriebe wird von Fall zu Fall zu entscheiden sein. Die üblichen „Knast“-Beschäftigungen sind ein Fremdkörper in der sozialtherapeutischen Behandlung. Doch könnte eine Berufsausbildung und ein Belastungstraining in einem Werkbetrieb, der vergleichbare Anforderungen wie draußen stellt, vertretbar sein. Vgl. zum Ganzen auch die organisatorischen und strukturellen Mindestanforderungen an sozialtherapeutische Abteilungen des „Arbeitskreises Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug“ (§ 9 Rdn. 5). Die Landesjustizverwaltung weicht jedoch meistens auf das Modell der Sozialtherapeutischen Abteilung aus, da die Belegungsfähigkeit der Sozialtherapeutischen Anstalt gem. § 143 Abs. 3 maximal 200 Haftplätze betragen darf. Die aufwendige Neuerrichtung einer Anstalt mit nur 200 Haftplätzen ist angesichts der angespannten Haushaltslage und der Priorität des Ausbaus der eigentlichen sozialtherapeutischen Behandlungskapazitäten schwer finanzierbar (Arloth 2008 Rdn. 2).
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Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung
§ 124
3. Landesgesetze Bayern
3 Art. 117 BayStVollzG ist neu gefasst und lautet: „Die Behandlung nach Art. 11 erfolgt in sozialtherapeutischen Anstalten oder Abteilungen (sozialtherapeutische Einrichtungen)“. Damit werden Abteilungen nicht mehr als Ausnahme („aus besonderen Gründen“) angesehen, sondern den selbständigen Anstalten gleichgestellt. Dies entspricht zwar der gängigen Praxis, nicht nur in Bayern (Egg/Ellrich 2008, 35), ist aber wegen der bei unselbständigen Abteilungen ungleich schwierigeren Umsetzbarkeit einer „integrativen Sozialtherapie“ (Baulitz et al. 1980) dennoch als Rückschritt zu betrachten (Egg 1984, vgl. AK-Rehn 2006 § 123 Rdn. 5). Begrüßenswert ist, dass in der Begründung des Artikels die „Beachtung therapeutischer Mindestanforderungen“ als entscheidendes Kriterium bei der Einrichtung einer sozialtherapeutischen Anstalt oder Abteilung genannt wird. Hamburg
4 Eine § 123 entsprechende Regelung findet sich in § 99 Abs. 2 HmbStVollzG. Danach sind für den Vollzug nach § 10 (Sozialtherapie) „eigenständige Anstalten oder getrennte Abteilungen“ vorzusehen. Damit werden auch in Hamburg (wie in Bayern und Niedersachsen) Anstalten und Abteilungen gleichgestellt. Bemerkenswert ist, dass das bisherige HmbStVollzG lediglich unselbstständige Abteilungen vorgesehen hatte (§ 100 Abs. 2 a. F. HmbStVollzG). Die Neufassung korrigiert also diese Einschränkung. Niedersachsen § 103 NJVollzG ist neu gefasst; Satz 1 lautet: „Für die sozialtherapeutische Behandlung 5 im Vollzug sind sozialtherapeutische Anstalten oder sozialtherapeutische Abteilungen in anderen Vollzugsanstalten einzurichten.“ Wie in Bayern werden Abteilungen damit den selbständigen Anstalten gleichgestellt (vgl. oben). Satz 2 ist nahezu wortgleich mit § 9 Abs. 2 Satz 2 StVollzG.
§ 124 Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung (1) Der Anstaltsleiter kann dem Gefangenen zur Vorbereitung der Entlassung Sonderurlaub bis zu sechs Monaten gewähren. § 11 Abs. 2 und § 13 Abs. 5 gelten entsprechend. (2) Dem Beurlaubten sollen für den Urlaub Weisungen erteilt werden. Er kann insbesondere angewiesen werden, sich einer von der Anstalt bestimmten Betreuungsperson zu unterstellen und jeweils für kurze Zeit in die Anstalt zurückzukehren. (3) § 14 Abs. 2 gilt entsprechend. Der Urlaub wird widerrufen, wenn dies für die Behandlung des Gefangenen notwendig ist. Schrifttum: s. bei § 9
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§ 124
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die Vorschrift entspricht inhaltlich fast ganz der früheren Fassung des § 126 vom 16.3.1976, gültig ab 1.1.1977 bis 31.12.1984. Die Verweisung von Abs. 1 Satz 2 dient der Klarstellung. Sonderurlaub eigener Art: Zwischen dem durch Freigang, Ausgang (§ 11) und Urlaub (§§ 13, 15 Abs. 3, 4) gelockerten (Übergangs-)Vollzug und der Entlassung bietet das Gesetz für die Insassen einer sozialtherapeutischen Anstalt als weitere Zwischenstufe die Möglichkeit einer besonderen Art des Urlaubs zur Vorbereitung der Entlassung. Während im Übergangsvollzug Bedingungen nach Art einer „Nachtklinik“ geschaffen werden können, ermöglicht diese Vorschrift dem Insassen, das in der Sozialtherapie Gelernte in fast völliger Freiheit für bis zu sechs Monate zu erproben. Die Vorschrift trägt der Erfahrung Rechnung, dass die Insassen der Sozialtherapie in sehr vielen Fällen nach ihrer Entlassung wieder in Schwierigkeiten oder Krisen kommen, in denen sozialtherapeutische Hilfe angebracht ist. Im Falle der Beurlaubung nach dieser Vorschrift besteht noch ein Band zur Anstalt, das die Vermittlung der notwendigen Hilfen ermöglicht. Zur Gewährung von Sonderurlaub vgl. auch § 13 Rdn. 2; § 15 Rdn. 6 ff; § 35 Rdn. 2 ff; § 134 Rdn. 1. In der Praxis der sozialtherapeutischen Einrichtungen spielte diese Vorschrift freilich stets eine äußerst geringe Rolle, deren Umfang – ähnlich wie bei anderen selbstständigen Lockerungen – in den letzten Jahren sogar weiter rückläufig ist. Während die jährliche Stichtagserhebung der KrimZ 1997 noch bei 7,9 % der Sozialtherapie-Klientel eine Zulassung zu einem Urlaub zur Entlassungsvorbereitung registrierte, ging dieser Wert stufenweise auf zuletzt (2008) 2,4 % zurück (Egg/Ellrich 2008, 61 f).
2
2. Verhältnis des Sonderurlaubs zur Strafrestaussetzung nach § 57 StGB. Die Vorschrift ermächtigt den Leiter der sozialtherapeutischen Anstalt, die Zeit des Strafvollzuges spürbar zu verkürzen, weil auch dieser Urlaub auf die Strafzeit angerechnet wird (§ 13 Abs. 5 – hierzu krit. Böhm 1985, 1816). Der Anstaltsleiter wirkt auf diese Weise in weit stärkerem Maße, als das sonst bei Urlaubsgewährung vorgesehen ist, in den Bereich der richterlichen Gewalt hinein. Eine Abstimmung mit der Strafvollstreckungskammer sehen weder das Gesetz noch die VV zu § 14 Nr. 1 vor, sie ist aber wenigstens dann geboten, wenn gegen Ende des Urlaubs die Strafrestaussetzung nach § 57 StGB empfohlen werden soll. In diesen Fällen sollte sich die Anstalt durch Anhörung der Strafvollstreckungskammer vergewissern, ob dort die Bereitschaft besteht, im Falle des erfolgreichen Verlaufs des Urlaubs die Entlassung zur Bewährung anzuordnen. Dies gilt umso mehr, als die Strafvollstreckungskammern gem. § 454 Abs. 2 StPO verpflichtet sind, vor der Strafrestaussetzung ein Gutachten über die Gefährlichkeit des Gefangenen einzuholen. Andernfalls könnte der für die Behandlung des Insassen äußerst belastende Fall eintreten, dass dieser trotz Bewährung in dem sechsmonatigen Urlaub wieder in die Anstalt zurückkehren müsste. Verwaltungsvorschriften verpflichten deshalb die Anstalt in manchen Bundesländern, eine Stellungnahme der Strafvollstreckungskammer herbeizuführen. Eine solche Anhörung der Strafvollstreckungskammer ist nicht unproblematisch, da das Gericht von der Verwaltungsbehörde nicht zur Abgabe einer Stellungnahme verpflichtet werden kann (so für das Gnadenverfahren: Knauth DRiZ1981, 302 ff; vgl. auch OLG Frankfurt NStZ 1982, 260; § 115 Rdn. 23). Nimmt die Strafvollstreckungskammer aber Stellung, stellt sich die Frage, ob das zu dem späteren Zeitpunkt der Entscheidung über die Strafrestaussetzung zur Bewährung nach § 57 StGB möglicherweise anders besetzte Gericht an die Stellungnahme gebunden ist. Sie war früher zu verneinen. Inzwischen hat das BVerfG (NJW 1992, 2952) zur Frage der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 57a StGB entschieden, dass die Festlegung des möglicherweise weit in der Zukunft liegenden Entlassungstermins durch die Strafvoll-
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Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung
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streckungskammer ein später mit der Sache befasstes Vollstreckungsgericht – soweit sich der Sachverhalt nicht geändert hat – bindet. Diese Rechtsgedanken müssen für den Fall des Sonderurlaubs für Gefangene in sozialtherapeutischen Anstalten wenigstens dann entsprechend gelten, wenn die Strafvollstreckungskammer die Stellungnahme als förmlichen Beschluss abgegeben hat. Diese Rechtslage erleichtert es den Anstalten, die sinnvolle Einrichtung des Sonderurlaubs im Interesse einer möglichst erfolgreichen Behandlung zu nutzen. – Falls eine Verwaltungsvorschrift außerdem für Urlaub dieser Art die Zustimmung der Aufsichtsbehörde fordert, ergeben sich ähnliche Probleme wie nach Nr. 3 Abs. 1 Buchst. a und d, Abs. 2 VV zu § 13 (Rdn. 18, 30 zu § 13). Der Sache nach ist eine Information der Aufsichtsbehörde über Urlaubsentscheidungen dieser Art sinnvoll, ihr gewissermaßen das letzte Wort zu überlassen, erscheint hingegen wenig zweckmäßig. Der Anstaltsleiter, der den Insassen der durchweg kleinen sozialtherapeutischen Einrichtungen persönlich kennt, kann am besten die Verantwortung für die Entscheidung tragen (vgl. auch Rdn. 4 zu § 130 sowie Rdn. 9 zu § 156).
II. Erläuterungen 1. Weisungen: Während § 14 Abs. 1 den Anstaltsleiter lediglich ermächtigt, dem In- 3 sassen für den Urlaub Weisungen zu erteilen, verpflichtet hier das Gesetz die Anstalt mit einer Sollvorschrift, dem Insassen solche Verhaltensanordnungen mit auf den Weg zu geben. Die unterschiedliche Regelung hat ihren Sinn darin, dass die Bindungen des Insassen während der Zeit dieses Urlaubs im Unterschied zur Entlassung noch eng und intensiv erhalten bleiben sollen. Die therapeutische Arbeit soll in lockerer, gleichwohl aber intensiver Form fortgeführt werden. Sind Weisungen nicht sinnvoll, kommt eine Beurlaubung nach dieser Vorschrift regelmäßig nicht in Betracht. Die Anstalt sollte stattdessen die Entlassung nach § 57 StGB oder auf Grund eines Gnadenerweises empfehlen (C/MD 2008 Rdn. 5). Beispiele für Weisungen nennt das Gesetz. Es versteht sich, dass derartige Beschränkungen dem Insassen nicht auferlegt, sondern mit ihm vereinbart werden müssen. So kann die Fortsetzung regelmäßiger psychotherapeutischer Sitzungen oder beratender Gespräche durch derartige Weisungen sichergestellt werden. Natürlich enthalten solche Weisungen auch stets ein Element der Kontrolle. Dabei hat es sich bewährt, in diesen Fällen Behandlung und Kontrolle zu trennen. So kann die Einhaltung der Gesprächstermine, wenn die Behandlung in der Anstalt fortgesetzt wird, an der Pforte vermerkt werden, während der Verlauf und der Inhalt der Gespräche nicht aktenmäßig festgehalten werden. 2. Widerruf der Beurlaubung: Der Anstaltsleiter kann diesen Urlaub unter denselben 4 Voraussetzungen wie Urlaub anderer Art widerrufen. Wenn es „für die Behandlung des Gefangenen notwendig ist“, muss der Sonderurlaub widerrufen werden. Dabei ist die Generalklausel von Satz 2 so weit gefasst, dass sie sich mit den wichtigsten Widerrufsgründen nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 und 3 – Urlaubsmissbrauch und Verstoß gegen Weisungen – überschneidet. Insbesondere muss die Anstalt den Urlaub dann widerrufen, wenn die Gefahr erkennbar wird, dass der Beurlaubte erneut Straftaten begeht. Durch die Erteilung dieses Urlaubs hat die Anstalt ein hohes Maß von Verantwortung übernommen, das sie im Krisenfall auch zum Handeln verpflichtet. Ein Vorteil des Urlaubs gegenüber der Entlassung ist gerade, dass die Anstalt schnell handeln kann, indem sie den Urlaub widerruft und für die Rückkehr des Beurlaubten in die Anstalt sorgt. Notfalls, wenn der Beurlaubte uneinsichtig oder flüchtig ist, muss sie die Festnahme (§ 87) veranlassen. – Selbst dann, wenn der Beurlaubte versagt und der Urlaub widerrufen werden muss, ist die Urlaubszeit verbüßte Strafzeit (§ 13 Abs. 5).
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§ 125
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 118 BayStVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 124 StVollzG. Nach Art 15 BayStVollzG ist bei Gewalt- und Sexualstraftätern die Gewährung von Urlaub besonders gründlich zu prüfen. 2. Hamburg
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Eine § 124 StVollzG entsprechende Regelung findet sich in § 15 HmbStVollzG. Dabei entspricht Abs. 2 Satz 2 inhaltlich § 124 Abs. 1 StVollzG; Weisungen sind in Abs. 5 geregelt, der damit inhaltlich § 124 Abs. 2 StVollzG entspricht. Das HmbStVollzG verwendet jedoch anstelle des Begriffs „Urlaub“ die Bezeichnung „Freistellung von der Haft“. 3. Niedersachsen
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§ 105 NJVollzG entspricht § 124 StVollzG. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung nicht vom Anstaltsleiter, sondern von der Vollzugsbehörde „nach Anhörung der Vollstreckungsbehörde“ gewährt werden kann. Der Entwurf des Gesetzes enthielt sogar den Vorbehalt der Zustimmung der Vollstreckungsbehörde. Darauf wurde nach der Verbandsbeteiligung bei den Beratungen verzichtet. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu weiter: „Da es sich bei den Gefangenen in den sozialtherapeutischen Einrichtungen um Personen handelt, die wegen sehr schwer wiegender Straftaten verurteilt worden sind, erscheint es aber nach wie vor angezeigt, die Vollstreckungsbehörde in die Entscheidung über einen langfristigen Sonderurlaub vor der Entlassung einzubeziehen“ (LT-Drucks. 15/3565, 156).
§ 125 Aufnahme auf freiwilliger Grundlage (1) Ein früherer Gefangener kann auf seinen Antrag vorübergehend wieder in die sozialtherapeutische Anstalt aufgenommen werden, wenn das Ziel seiner Behandlung gefährdet und ein Aufenthalt in der Anstalt aus diesem Grunde gerechtfertigt ist. Die Aufnahme ist jederzeit widerruflich. (2) Gegen den Aufgenommenen dürfen Maßnahmen des Vollzuges nicht mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden. (3) Auf seinen Antrag ist der Aufgenommene unverzüglich zu entlassen. VV 1 (1) Der Aufgenommene wird in einem besonderen Raum untergebracht. In Ausnahmefällen kann er mit seinem Einverständnis in der Gruppe untergebracht werden, der er früher angehört hat. (2) Die Dauer des Aufenthaltes richtet sich nach den Behandlungsbedürfnissen. 2 Im Falle der Aufnahme auf freiwilliger Grundlage gilt § 50 StVollzG entsprechend.
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Aufnahme auf freiwilliger Grundlage
§ 125
3 Der auf freiwilliger Grundlage Untergebrachte erhält die in der sozialtherapeutischen Anstalt mögliche ärztliche Behandlung. Schrifttum: s. bei § 9
Die Vorschrift stimmt inhaltlich mit der früheren Fassung vom 16.3.1976, gültig ab 1 1.1.1977 bis 31.12.1984, überein. Nach der VV ist von freiwillig Aufgenommenen die Erhebung eines Haftkostenbeitrags gem. § 50 vorgesehen. Gegen Ende der Behandlung wird der Vollzug in einer sozialtherapeutischen Anstalt in den meisten Fällen durch Freigang, Ausgang (§ 11) und Urlaub (§§ 13, 15 Abs. 3, 4) so gelockert, dass der Freiheitsentzug gegenüber der Hilfe zurücktritt. Es ist deshalb konsequent, einen Entlassenen auf freiwilliger Grundlage wieder aufzunehmen, „wenn das Ziel seiner Behandlung erneut gefährdet ist“. Diese Möglichkeit der Wiederaufnahme ist ein Hilfsangebot, das zugleich der Vorbeugung von neuen Straftaten dient (RE, BT-Drucks. 7/918, 143; vgl. auch § 5 Rdn. 1). In der Praxis hat diese Vorschrift allerdings so gut wie keine Bedeutung erlangt; die Zahl der pro Jahr freiwillig Aufgenommenen lag seit 1998 fast durchwegs im einstelligen Bereich (Egg/Ellrich 2008, 61). Dies mag daran liegen, dass ein Antrag auf Wiederaufnahme zum einen ein hohes Maß von Einsicht in die eigene Lage voraussetzt, die den Entlassenen wohl oft gerade dann fehlt, wenn eine Krisenintervention notwendig ist. Außerdem scheuen sie in der Regel vor dem Bekenntnis zurück, dass sie das Ziel der Behandlung doch noch nicht erreicht haben. Sie haben Hemmungen, ihren ehemaligen Mitinsassen und dem Personal in der sozialtherapeutischen Anstalt als „Gescheiterte“ wiederzubegegnen. Schließlich tut der äußere Eindruck unserer meist in alten Gefängnisgebäuden untergebrachten Einrichtungen ein Übriges, um den Entlassenen den Entschluss zur Rückkehr zu erschweren. Landesgesetze 1. Bayern Die Aufnahme früherer Gefangener auf freiwilliger Grundlage ist in Art. 120 BaySt- 2 VollzG geregelt, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 Satz 1 ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 125 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Abs. 1 Satz 2 lautet wie folgt: „Ein Widerruf des Antrags darf nicht zur Unzeit erfolgen.“ Dies ist eine nachvollziehbare Einschränkung gegenüber § 125 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 StVollzG, der einen Widerruf „jederzeit“ ermöglicht, wonach ein Aufgenommener „unverzüglich zu entlassen“ ist. Abs. 2 Satz 1 ist bis auf geschlechtsspezifische Differenzierungen wortgleich mit § 125 Abs. 2 StVollzG. Abs. 2 Satz 2 ist neu und lässt gemäß der Gesetzesbegründung „das Recht unberührt, einen von der Anstalt für beendet erklärten Aufenthalt auch notfalls mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Wiederaufgenommene werden in diesem Fall behandelt wie Dritte, die sich zu Unrecht in der Anstalt aufhalten“ (LT-Drucks.15/8101, 72). 2. Hamburg Eine § 125 StVollzG entsprechende Regelung findet sich in § 18 Abs. 3 HmbStVollzG. 3 Diese ist inhaltlich weitgehend identisch mit der Vorschrift des StVollzG. Durch den Zusatz „§ 79 Abs. 2 und 3 bleibt unberührt“ wird ähnlich wie in Art. 120 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG Rudolf Egg
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Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
die Möglichkeit geschaffen, in besonderen Ausnahmefällen, z.B. beim Versuch, andere Gefangene zu befreien, unmittelbaren Zwang anzuwenden. 3. Niedersachsen
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§ 106 NJVollzG entspricht weitgehend § 125 StVollzG, enthält jedoch zwei inhaltliche Veränderungen: Nach Abs. 1 ist eine Aufnahme früherer Gefangener dann möglich, „wenn dadurch erheblichen Straftaten der in § 104 Abs. 1 genannten Art vorgebeugt werden kann.“ Der in § 125 StVollzG genannte Aufnahmegrund der Zielgefährdung der sozialtherapeutischen Behandlung ist nach der niedersächsischen Gesetzesbegründung „schon deswegen auszuschließen“, weil nach § 104 Abs. 3 NJVollzG (siehe dort) „die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung zeitlich so zu planen ist, dass sie auch abgeschlossen werden kann.“ Weiter heißt es dazu: „Vielmehr geht es [. . .] allein darum, durch die Aufnahme der Begehung von schwer wiegenden Straftaten vorzubeugen [. . .] Damit wird deutlich, dass es sich bei der Aufnahme früherer Gefangener um eine seltene Ausnahme handeln muss“ (LT-Drucks. 15/3565, 156). Abs. 2 Satz 1 ist inhaltsgleich mit § 125 Abs. 2 StVollzG. Angefügt ist jedoch ein Satz 2: „Im Übrigen finden die sonstigen Vorschriften dieses Teils entsprechende Anwendung.“ Dabei handelt es sich um eine Klarstellung. Nach Satz 1 dürfen zwar gegen einen freiwillig Aufgenommenen Maßnahmen des Vollzuges nicht mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden, verhält sich aber „die betreffende Person in einer die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdenden Weise“, so die Gesetzesbegründung, dann „kann die Aufnahme (nach Abs. 1 Satz 2) jederzeit widerrufen werden mit der Folge, dass sich die Person danach unbefugt in der Anstalt aufhält, was die Anwendung unmittelbaren Zwangs (nach § 87 Abs. 2 NJVollzG) zulässt“ (LT-Drucks. 15/3565, 157).
§ 126 Nachgehende Betreuung Die Zahl der Fachkräfte für die sozialtherapeutische Anstalt ist so zu bemessen, dass auch eine nachgehende Betreuung der Gefangenen gewährleistet ist, soweit diese anderweitig nicht sichergestellt werden kann. Schrifttum: s. bei § 9
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Die Vorschrift entspricht § 127 der Fassung vom 16.3.1976, gültig ab 1.1.1977 bis 31.12.1984, der allerdings um den 2. Halbsatz erweitert wurde. Dadurch ergibt sich eine wesentliche Einengung gegenüber der früheren Fassung, weil auf Grund dieser Subsidiaritätsklausel nun im Zweifel auf andere Institutionen verwiesen werden kann, die für die nachgehende Betreuung in Frage kommen (sollen). Ursprünglich war sogar vorgesehen, dass den sozialtherapeutischen Anstalten Heime zur Betreuung von beurlaubten, bedingt entlassenen und anderen ehemaligen Untergebrachten angegliedert werden sollen (§ 127 Abs. 2 a. F.), doch wurde diese Bestimmung, die am 1.1.1986 in Kraft treten sollte, durch das StVollzÄndG vom 20.12.1984 (BGBl. I 1654) wieder gestrichen und konnte somit nie Wirkung entfalten. Es ist zu bedauern, dass finanzielle Überlegungen offensichtlich dafür maß-
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Nachgehende Betreuung
§ 126
gebend waren, diese wichtigen Elemente des sozialtherapeutischen Behandlungskonzepts auf das jetzige Minimalniveau zu reduzieren. In der fachlichen Diskussion ist nämlich – auch international – unbestritten, dass sich eine effektive Straftäterbehandlung, insbesondere die Therapie persönlichkeitsgestörter und schwieriger Gefangener, wie sie in den sozialtherapeutischen Einrichtungen zu finden sind, nicht nur auf intramurale, also stationäre Maßnahmen beschränken darf (Goderbauer 2005, 2008). Vielmehr bedarf es regelmäßig einer sorgfältig vorbereiteten und schrittweisen Überleitung in Freiheit, einschließlich einer ggf. auch mehrjährigen nachsorgenden Betreuung. Diese wichtige Aufgabe der Sozialtherapie sollte zweckmäßigerweise durch das Personal der Einrichtung selbst erfolgen, wenn möglich sollten dafür sogar eigene Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Die „klassische“ Bewährungshilfe oder eine Beratungsstelle außerhalb des Vollzuges dürften damit bei dem ungewöhnlich schwierigen Personenkreis in der Regel überfordert sein, jedenfalls ohne die tatkräftige Unterstützung durch die sozialtherapeutische Einrichtung im Sinne eines Netzwerkes. Bekanntlich ist die Ausstattung der sozialtherapeutischen Anstalten für die Behandlung ihrer Insassen außerordentlich aufwändig, namentlich die Personalkosten sind nicht unerheblich (siehe § 9 Rdn. 4). Es verwundert daher nicht, dass bei der fälschlicherweise oft als bloß zusätzliche Leistung angesehenen Nachsorge gespart wird. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass ohne qualifizierte nachgehende Betreuung die in der stationären Therapie erzielten Behandlungsfortschritte keine nachhaltige Wirkung entfalten können (Egg 1990). Erfreulicherweise ist die Zahl der gemäß § 126 in Nachsorge befindlichen Personen in den letzten Jahren angestiegen; so zeigt die jährliche Stichtagserhebung der KrimZ (Egg/Ellrich 2008, 61) eine Zunahme der betroffenen Personen von 27 (1997) auf 221 (2008). Auch gibt es an manchen Orten ermutigende Modelle, die fortentwickelt und bundesweit angewandt werden sollten (Goderbauer 2008, Pitzing 2002, vgl. auch Egg 2004). Insgesamt besteht freilich nach wie vor ein großer Bedarf an Bereitstellung und Ausbau nachsorgender Maßnahmen. Landesgesetze 1. Bayern Art. 119 BayStVollzG ersetzt unter der Überschrift „Nachsorge“ § 126 StVollzG und 2 lautet: „Die sozialtherapeutischen Einrichtungen sollen nach Entlassung der Gefangenen die im Vollzug begonnene Betreuung vorübergehend fortführen, soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden kann.“ Anders als in § 126 StVollzG wird durch diese Vorschrift zwar ebenfalls eine „vorübergehende“ Betreuung Entlassener durch die sozialtherapeutische Einrichtung ermöglicht, ohne dabei jedoch etwas über die Zahl der dafür erforderlichen Fachkräfte auszusagen. Die Subsidiaritätsklausel von § 126 StVollzG wird beibehalten. 2. Hamburg Eine § 126 StVollzG inhaltlich entsprechende Regelung enthält § 18 Abs. 1 und 2 3 HmbStVollzG. Sie lautet: „(1) Die Anstalt kann Gefangenen auf Antrag auch nach der Entlassung Hilfestellung gewähren, soweit diese nicht anderweitig zur Verfügung steht und der Erfolg der Behandlung gefährdet erscheint. (2) Sozialtherapeutische Einrichtungen können auf Antrag der Gefangenen eine im Vollzug begonnene Betreuung nach der Entlassung vorübergehend fortführen, soweit sie nicht anderweitig durchgeführt werden kann.“ Rudolf Egg
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§ 126
Zweiter Abschnitt. Vollzug der Freiheitsstrafe
Unter Beibehaltung der Subsidiaritätsklausel von § 126 StVollzG wird durch diese Vorschrift zwar ebenfalls eine „vorübergehende“ Fortsetzung der im Vollzug begonnenen Betreuung durch die sozialtherapeutische Einrichtung grundsätzlich ermöglicht, das Gesetz enthält aber keine Feststellung bezüglich der Zahl der dafür erforderlichen bzw. bereitzustellenden Fachkräfte. 3. Niedersachsen
4
Das NJVollzG enthält keine Spezialvorschrift zur nachgehenden Betreuung von Entlassenen aus sozialtherapeutischen Einrichtungen. Im Entwurf des Gesetzes fand sich noch ein Paragraph mit der Überschrift „Nachgehende Betreuung“. Dieser verlangte aber nur, dass eine sozialtherapeutische Einrichtung darauf hinwirken soll, dass eine nachgehende Betreuung entsprechend § 68 Abs. 2 bis 5 sichergestellt wird. Dies gilt nach § 68 NJVollzG jedoch ohnedies für alle Vollzugsbehörden. In der damaligen Begründung hieß es dazu, „dass es nicht originäre Aufgabe der sozialtherapeutischen Einrichtungen ist, die nachgehende Betreuung durchzuführen. Diese obliegt nach der Entlassung vielmehr grundsätzlich den zuständigen Stellen außerhalb des Vollzuges. Kommen diese ihrer Verpflichtung jedoch im Einzelfall nicht nach, wird es letztlich den sozialtherapeutischen Einrichtungen im Wege einer subsidiären Zuständigkeit obliegen, die nachgehende Betreuung zu gewährleisten.“ Ein vom Koordinator sozialtherapeutischer Einrichtungen vorgebrachter Hinweis, „dass es in bestimmten Fällen weiterhin notwendig sein könne, die sozialtherapeutischen Einrichtungen mit der Nachsorge zu betrauen“ wurde mit der Aussage, dass „diese Möglichkeit [. . .] durch die vorgesehene Regelung nicht ausgeschlossen“ werde, zurückgewiesen (LT-Drucks. 15/3565, 157).
§§ 127, 128 (aufgehoben – s. Vorbemerkungen vor § 123)
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Rudolf Egg
DRITTER ABSCHNITT
Besondere Vorschriften über den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung ERSTER TITEL
Sicherungsverwahrung § 129 Ziel der Unterbringung Der Sicherungsverwahrte wird zum Schutz der Allgemeinheit sicher untergebracht. Ihm soll geholfen werden, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.
§ 130 Anwendung anderer Vorschriften Für die Sicherungsverwahrung gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3 bis 126, 179 bis 187) entsprechend, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist. VV Lockerungen des Vollzuges und Urlaub sind bei Sicherungsverwahrten unbeschadet des § 134 StVollzG zulässig wie bei Strafgefangenen, gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet ist. Schrifttum: Blau Die Sicherungsverwahrung – ein Nekrolog?, in: Schwind/Kube/Kühne (Hrsg.), Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. FS für Hans Joachim Schneider, Berlin 1998, 759 ff; Böhm 25 Jahre Strafvollzugsgesetz, in: BewHi 2002, 92 ff; Deutscher Bundestag 13. Wahlperiode, Rechtsausschuss, Protokoll Nr. 93; Fiedeler Sterben im Strafvollzug – Seismograph der Verfassung unseres Rechtsstaats, in: ZfStrVo 2003, 285 ff; Göppinger Kriminologie, 5. Aufl., München 1997; Jehle Soziale Strafrechtspflege vor und nach der Jahrtausendwende, in: BewHi 2003, 37 ff; Kern Aktuelle Befunde zur Sicherungsverwahrung – Ein Beitrag zur Problematik des § 66 StGB, in: ZfStrVo 1997, 19 ff; Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, Freiburg 1996; ders. Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung, in: ZfStrVo 1997, 286 ff; ders. Der Hang zu erheblichen Straftaten – und was sich dahinter verbirgt, in: NStZ 1998, 14 ff; Knauth Muß der Strafvollstreckungsrichter im Gnadenverfahren mitwirken?, in: DRiZ 1981, 302 ff; Koepsel Die Sicherungsverwahrung in Deutschland – eine unbarmherzige Sanktion in Festschrift für Piere Henri Bolle DU MONDE PÉNAL Helbing&Lichtenhahn Basel-GenfMünchen 2006, 677 ff; Kreuzer, Arthur Das Licht ausgeknipst – Unsicherheit durch Sicherungsverwahrung in FAZ Nr. 260 v. 6.11.2008 S. 10; Meyer-Velde Besondere Regelungen für den Vollzug der Sicherungsverwahrung, in: Band VIII der Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Bonn 1969; ders. Sicherungsverwahranstalten, in: Schwind/Blau 1988, 95 ff; Müller-Dietz Arbeit und Arbeitsentgelt für Strafgefangene, in: JuS 1999, 352 ff; Müller-Metz Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein Irrweg der Kriminalpolitik, in: NJW 2003, 3173 ff; Nedopil Risikoeinschätzungen bei Sexualstraftätern, in: BewHi
Klaus Koepsel
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§ 129, 130
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
2001, 341 ff; Nowara Gefährlichkeitsprognosen und deren Fehlerquellen bei Sexualstraftätern, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern, Hannover 2000, 51 ff; Richter Nachträgliche Sicherungsverwahrung und kein Ende, in: ZfStrVo 2003, 201 ff; Rotthaus Nochmals: BVerfG zur Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe, in: NStZ 1993, 218; Schneider Psychologische Begutachtung des Rückfallrisikos bei Sexualrechtsbrechern, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Sicherheit und Behandlung – Strafvollzug im Wandel, Hannover 2002, 123 ff; Schüler-Springorum Erläuterungen zum Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern, Hannover 2000, 23 ff; Skirl „In Würde sterben – auch im Vollzug?“, in: ZfStrVo 2003, 283 ff; Stieber Seelsorgerliche Sterbebegleitung im Gefängnis, in: ZfStrVo 2003, 287 ff; Ullenbruch Nachträgliche „Sicherungsverwahrung“ durch die „Polizei“, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Strafvollzug in Europa, Hannover 2001, 188 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Ziel der Unterbringung . . . . . . 2. Kein Erfordernis der immer besonders sicheren Unterbringung . . .
1–4 5–9 5
Rdn. 3. Öffnung des Vollzuges . . . . . . . 4. Trennungsgrundsatz . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
7–8 9 10
6
I. Allgemeine Hinweise 1
Obwohl im Jahre 1933 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher . . .“ (RGBl. I 995) eingeführt, beruht die Sicherungsverwahrung nicht auf nationalsozialistischem Gedankengut. Doch führte die frühere Fassung der §§ 20a, 42e StGB dazu, dass zu viele und darunter zahlreiche von der Zielsetzung des Gesetzes gar nicht gemeinte Straftäter zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden. Meyer-Velde (1969) spricht von den „notorischen Zechprellern und Eierdieben“. Während bei der Mehrzahl der wirklich gefährlichen Täter die schuldangemessene lange Strafe zugleich den erwünschten Sicherungseffekt hatte, wurde auf Sicherungsverwahrung besonders gegen vielfach rückfällige Eigentumsund Vermögensdelinquenten erkannt. Das Zweite Strafrechtsreformgesetz hatte deshalb den Kreis derer, für die Sicherungsverwahrung in Betracht kommen sollte, entschieden eingeschränkt. Voraussetzung war nunmehr, dass „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist“ (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Außerdem war der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (§ 62 StGB). Diese Regelungen genügen nach einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NStZ-RR 1996, 122) den Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 GG sowie dem in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot der Gesetzesbestimmtheit. Die Maßregel der Sicherungsverwahrung ist deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich. Davon geht das BVerfG auch in den beiden neuesten Entscheidungen zur Abschaffung der Höchstdauer von zehn Jahren und zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung aus (NJW 2004, 739 und NJW 2004, 750). Das Gericht erhöht aber in Übereinstimmung mit dem BGH die Anforderungen an die Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Die vom Strafrecht geforderten „dringenden Gründe“ liegen nach dieser Rechtsprechung nur vor, wenn im Falle der Entlassung eines Strafgefangenen mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begangen würden, durch die andere Menschen schwer geschädigt werden könnten (BVerfG Beschl. v. 22.10.2008 – 2 BvR 749/08, juris).
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Ziel der Unterbringung, Anwendung anderer Vorschriften
§ 129, 130
Die Zahl der Verwahrten in westdeutschen Justizvollzugsanstalten war durch die Ge- 2 setzesänderung von 1969 stark zurückgegangen. Sie fiel sprunghaft von 696 männlichen Verwahrten im Jahre 1970 auf 349 im Jahre 1973 und ging von 1975 an schrittweise weiter zurück bis auf 182 im Jahre 1984. Im Jahre 1997 waren es 198. Der Anteil der Sicherungsverwahrten an den männlichen Strafgefangenen und Verwahrten ging von 2 % auf weniger als 0,5 % zurück. Die Zahl der Frauen war immer klein. Im Jahre 1970 betrug sie 22. Im Jahre 1990 ist eine Frau zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden, in den Jahren 1991 bis 2003 keine. Seither betrifft die Sicherungsverwahrung fast ausschließlich und zwar am 31.8.2008 insgesamt 454 Männer und laut Mitteilung des Statistischen Bundesamts nur zwei weibliche Sicherungsverwahrte und zwar je eine in Baden-Württemberg und Hessen. Bedeutsam ist auch, dass sich die Art der Verwahrten verändert hat. Die großen Zahlen früherer Jahre kamen dadurch zustande, dass vielfach rückfällig gewordene Kleinkriminelle zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren. Die Mehrzahl der Verwahrten waren, nach der Gesetzesänderung Sexualstraftäter und andere Gewalttäter (Einzelheiten zur Klientel: Meyer-Velde 1988, Kern 1997, Kinzig 1996, 165 ff). Doch beruhte der Rückgang der Verwahrtenzahlen nicht nur auf der Änderung des Gesetzes. In vielen Fällen, in denen die Voraussetzungen für die Verurteilung zu Sicherungsverwahrung gegeben waren, verzichteten die Gerichte auf die Anordnung der Maßregel (Kinzig 1996, 344 ff und 369 ff; Weber in: Deutscher Bundestag, 19). Im Gegensatz zum geschilderten Trend hat das Gesetz zur Bekämpfung von Sexual- 3 delikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGBl. I, 160) die Schwelle für die Anordnung der Sicherungsverwahrung für Sexualstraftäter und Gewalttätergruppen abgesenkt und die Bewährungsentlassung erschwert. Gegen die Absicht einer verschärften Regelung im allgemeinen und speziell für diese Tätergruppe hatten sich zwar Schöch und Weigend in der die Gesetzesnovelle vorbereitenden Anhörung (Deutscher Bundestag S. 8 und S. 22) mit Nachdruck ausgesprochen, dennoch wurde das Gesetz mit breiter politischer Zustimmung verabschiedet. Die Auswirkung der Gesetzesänderung ist inzwischen erkennbar. Die von Schüler-Springorum im Jahre 1999 auf der 25. Tagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter geäußerte Befürchtung, die Unterbringungszahlen würden deutlich ansteigen (2000, 23 ff), hat sich als begründet erwiesen. Es war zu erwarten, dass die in den letzten Jahren zu beobachtenden Steigerungsraten (Ende 1997: 198; Ende August 2008: 456) sich fortsetzen würden. Dies gilt auch obwohl die ab August 2000 gem. § 66a StGB möglichen Verurteilungen unter Vorbehalt und die bundesrechtliche Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) die Zahl der Neufälle dank der strengen Anforderungen an die Verhängung, die der BGH festgelegt hat (vgl. dazu aktuell die die BGH-Rspr. stützende Entscheidung des BVerfG Beschl. v. 29.10.2008 – 2 BvR 749/08, juris), sich kaum erhöht hat (rechtsstaatliche Bedenken gegen den Verwahrungsvorbehalt und die nachträgliche Sicherungsverwahrung macht Kreuzer aaO geltend). Zu beobachten ist ein Trend bei den Vollstreckungsgerichten, die veränderten Entlas- 4 sungsvoraussetzungen bei der Sicherungsverwahrung dahingehend zu interpretieren, bei „dissozial egozentrischen“ und „sexual devianten (sadistisch veranlagten)“ Sexualstraftätern eine Bewährungsentlassung überwiegend abzulehnen (dies hatten Nedopil 2001, 341 ff und Nowara 2000, 51 ff vorausgesagt). Häufiger als bisher ist der Justizvollzug zur „Sterbebegleitung“ von Inhaftierten genötigt (s. zu dieser Problematik Skirl, Fiedler und Stieber 2003, 283 ff). Auch wenn die Zahl der Sicherungsverwahrten in den kommenden Jahren weiter deutlich steigen sollte, wird zu untersuchen sein, inwieweit der Zuwachs auf den Gesetzesänderungen beruht. Es ist möglich, dass die Gerichte unter dem Einfluss der verstärkten punitiven Einstellung der Öffentlichkeit auf Grund der Neufassung von § 67d StGB,
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§ 129, 130
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
wonach zu erwarten sein muss, „dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzuges keine rechtswidrigen Taten begehen wird“, ihre restriktive Entlassungspraxis beibehalten werden. Die Sicherungsverwahrung ist in Deutschland für viele Straftäter zu einer unbarmherzigen Sanktion geworden (vgl. dazu Koepsel 2006, 667 ff (682), zustimmend Laubenthal 2008 Rdn. 904 und Kreuzer FAZ 6.11.08 S. 10).
II. Erläuterungen 5
1. Obwohl das im Vergleich zu den Aufgaben des Vollzuges von Freiheitsstrafe (§ 2) eindimensionale Ziel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sich bereits aus dem Strafgesetzbuch herleiten lässt, bestimmt § 129 in seinem ersten Satz, dass „der Sicherungsverwahrte zum Schutz der Allgemeinheit sicher untergebracht“ werden soll. Das Resozialisierungsziel wird im zweiten Satz der Vorschrift dahin formuliert, dass dem Verwahrten „geholfen werden (soll), sich in das Leben in Freiheit einzugliedern“. Die Achtung vor der verfassungsmäßig geschützten Menschenwürde ebenso wie der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit gebieten es, auch dem Sicherungsverwahrten Hilfe anzubieten und ihn auf seine Entlassung vorzubereiten (so auch BVerfG v. 5.2.2004 Leitsatz 1.a). Das Gebot der Hilfe zur Eingliederung könnte als ein Minus gegenüber dem Resozialisierungsgebot des § 2 Satz 1 verstanden werden. Dieser Auffassung ist das OLG Hamm (Beschluss vom 18.9.1986 – 1 Vollz (Ws) 147/86) entgegengetreten. Durch § 129 Satz 2 sei dem Justizvollzug weitgehend die gleiche Pflichtenstellung aufgegeben, wie er diese nach § 2 gegenüber dem Strafgefangenen habe. Das BVerfG erklärt in seinen Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der zeitlich unbegrenzten Sicherungsverwahrung und zur Höhe der Arbeitsentlohnung das in § 2 Satz 1 formulierte Resozialisierungskonzept für den Bereich der Sicherungsverwahrung für anwendbar. Allerdings muss auch im Hinblick auf die geringeren Entlassungschancen der Verwahrten das für die Vollstreckung der Freiheitsstrafe entwickelte Resozialisierungskonzept den Besonderheiten der Sicherungsverwahrung Rechnung tragen (so auch C/MD 2008 § 129 Rdn. 1 und AK-Feest/Köhne 2006 § 129 Rdn. 4–7).
6
2. Sicherungsverwahrte müssen durchaus nicht immer „besonders sicher“ untergebracht werden (AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 1; a. A. Grunau/Tiesler 1982 jeweils zu § 129). Es gibt zahlreiche Straffällige, die nur deshalb kriminell äußerst gefährdet und deshalb für andere gefährlich sind, weil sie Versuchungssituationen und dem beherrschenden Einfluss von Mittätern nicht widerstehen können. Im Vollzug ordnen sie sich ein und stellen kein Sicherheitsrisiko dar, solange ein gefährdender Einfluss von ihnen ferngehalten werden kann.
7
3. Öffnung des Vollzuges: Die VV zu § 130 stellt ausdrücklich fest, dass Lockerungen des Vollzuges (§ 11) und Urlaub (§§ 13, 15, 35) bei Sicherungsverwahrten zulässig sind. Entsprechendes gilt auch für den offenen Vollzug (§ 10), in dem sich am 31.8.2008 allerdings nur 7 Verwahrte befanden. § 10 wird zwar nicht erwähnt, dennoch können Verwahrte in offene Anstalten verlegt werden (Arloth 2008 Rdn. 2; Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 3). Zusätzlich gibt es gemäß § 134 noch – entsprechend wie bei Insassen der sozialtherapeutischen Anstalt – einen Sonderurlaub zur Entlassungsvorbereitung bis zu einem Monat. Zu beachten ist jedoch, dass die VV die Vollzugsbehörde auf die VV für Strafgefangene hinweist, „gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet ist“. Diese VV zu §§ 10, 11, 13 bestimmen jeweils, dass vor der Lockerungsmaßnahme das zuständige Gericht – die Strafvollstreckungskammer also – zu hören und die Zustimmung der Aufsichtsbehörde einzuholen ist. „Latente Sicherungsverwahrung“ nennt
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Ausstattung
§ 131
AK-Feest/Köhne 2006 vor § 129 Rdn. 7 diese besonderen Einschränkungen für Strafgefangene mit anschließender Sicherungsverwahrung. Indessen ist der bloße Hinweis auf die im Anschluss an die Strafe zu vollstreckende Sicherungsverwahrung keine ausreichende Begründung für die Urlaubsablehnung (OLG Frankfurt NStZ 1993, 427 B). Die Verschärfung der Prüfungspflichten des Vollstreckungsgerichts im Zusammenhang mit einer eventuellen Entlassung von Verwahrten (§ 463 Abs. 3 Sätze 3 und 4 sowie § 454 StPO) nötigt zur Aufgabe der in der Vorauflage vertretenen Auffassung, dass Entscheidungen über Vollzugslockerungen der Verwahrten nicht von der Zustimmung der Aufsichtsbehörden abhängig gemacht werden sollten. Gesetzgeber und öffentliche Meinung halten gegenwärtig jede risikobehaftete Entscheidung bei „gefährlichen Rechtsbrechern“ für justizpolitisch bedeutsam, so dass den Aufsichtsbehörden das Mitwirken bei solchen Entscheidungen zu raten ist. Nach wie vor den gesetzlichen Vorgaben entspricht allerdings die Erkenntnis, dass denjenigen Sicherungsverwahrten, welche sich in mehrfach gewährten Vollzugslockerungen bewähren, im Normalfall eine günstige Prognose nach § 67d StGB gestellt werden kann (so auch BVerfG v. 5.2.2004 Leitsatz 2. c). Die Zusammenarbeit von Anstalt und Vollstreckungsgericht ist in Folge der seit 8 1998 geltenden strafrechtlichen und strafprozessualen Neuregelungen schwieriger geworden. Verbindliche Festlegungen der jeweils zuständigen Strafvollstreckungskammer sind vor Einholung aller Prognosegutachten kaum noch möglich, doch sachdienliche Hinweise des Gerichts an die Vollzugsbehörde zur Gestaltung des Vollzuges sind im Interesse einer planvollen Entlassungsvorbereitung weiterhin notwendig (so auch C/MD 2008 Rdn. 2). 4. Das gesetzliche Gebot der getrennten Unterbringung der Sicherungsverwahrten 9 gilt allgemein (§ 140 Abs. 1 Satz 2), eine Abweichung ist nur aus Behandlungsgründen (§ 140 Abs. 3), nicht als vollzugspraktische Verlegenheitslösung zulässig (§ 140 Rdn. 5). Es verstößt jedoch nicht gegen das Trennungsgebot, wenn außerhalb des Bereichs der Abteilung Kontaktmöglichkeiten bei der Arbeit, bei gemeinsamen Veranstaltungen und bei Vorführungen zu einzelnen Dienststellen bestehen (OLG Hamm ZfStrVo 1988, 61 f; ebenso C/MD 2008 zu § 129 Rdn. 2). Bayern lässt gemäß § 166 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG eine gemeinsame Unterbringung zu, sofern die geringe Zahl der Sicherungsverwahrten eine Trennung nicht rechtfertigt. § 99 Abs. 4 HmbStVollzG erlaubt eine ähnliche Regelung, sofern der Betroffene zustimmt. Ausnahmen vom Trennungsgebot lässt auch § 171 Abs. 2 Satz 2 und 3 NJVollzG zu.
III. Landesgesetze Die Art. 159 und 160 BayStVollzG entsprechen den Regelungen in den §§ 129 und 130 10 StVollzG. Die §§ 93 und 94 HmbStVollzG entsprechen inhaltlich den §§ 129 und 130 StVollzG. Die §§ 107 und 112 NJVollzG entsprechen inhaltlich den §§ 129 und 130 StVollzG.
§ 131 Ausstattung Die Ausstattung der Sicherungsanstalten, namentlich der Hafträume, und besondere Maßnahmen zur Förderung und Betreuung sollen dem Untergebrachten helfen, sein Leben in der Anstalt sinnvoll zu gestalten, und ihn vor Schäden eines Klaus Koepsel
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§ 131
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
langen Freiheitsentzuges bewahren. Seinen persönlichen Bedürfnissen ist nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. VV 1 Die Gesamtdauer des Besuches beträgt mindestens zwei Stunden im Monat. 2 An arbeitsfreien Tagen soll dem Sicherungsverwahrten ermöglicht werden, sich mindestens zwei Stunden im Freien aufzuhalten. 3 Soweit die Unterbringung in abgeschlossenen Wohngruppen erfolgt, bleiben die Hafträume auf Wunsch des (der) darin untergebrachten Sicherungsverwahrten während der Freizeit zeitweise geöffnet, es sei denn, der Anstaltsleiter trifft aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung für bestimmte Zeiträume oder einzelne Untergebrachte eine abweichende Entscheidung. 4 Für Sicherungsverwahrte erhöht sich der in Nummer 1 Abs. 2 der VV zu § 22 StVollzG festgesetzte Betrag auf den sechsfachen Tagessatz der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG). 5 Dem Sicherungsverwahrten kann über die für Strafgefangene zugelassenen Pakete hinaus der Empfang weiterer Pakete gestattet werden. Das Gewicht kann begrenzt werden. Im übrigen gelten die VV zu § 33 StVollzG. Schrifttum: s. bei § 130
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise 1. Vollzugsgestaltung 2. Betreuungskonzept II. Erläuterungen . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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1–2 1 2 3–4
Rdn. 1. Bedürfnisprinzip . . . . . . . . . 2. Bedeutung VVen . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
3 4 5
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Diese Vorschrift erhält vor dem Hintergrund einer deutlichen Verschlechterung der Entlassungsperspektive eines Großteils der Sicherungsverwahrten eine besondere Bedeutung. Wie schon in der Vorauflage erwähnt wurde, ist die Überschrift zu eng. § 131 regelt nicht die „Ausstattung“ der jeweiligen Sicherungsanstalten, sondern enthält die konzeptionellen Vorgaben des Gesetzgebers für die Vollzugsgestaltung. Der Gegenwirkungsgrundsatz (§§ 130 und 3 Abs. 2) wird in § 131 Satz 1 entsprechend der besonderen Problemstellung der Sicherungsanstalten sachgerecht präzisiert. Es müssen für Sicherungsverwahrte besondere Maßnahmen zur Förderung und Betreuung entwickelt werden, denn bei der großen Mehrzahl der Untergebrachten muss es künftig in erster Linie darum gehen, eine „sinnvolle“ Lebensgestaltung mit dem Ziel der Verhinderung von „Schäden eines lan-
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Klaus Koepsel
Ausstattung
§ 131
gen Freiheitsentzuges“ zu ermöglichen (für einen „privilegierten Vollzug“ auch Laubenthal 2008 Rdn. 905 und Arloth 2008 Rdn. 1; dezidiert zur entsprechenden Verpflichtung der Vollzugsverwaltung OLG Hamburg E 21.8.2008 3 Vollz(WS) 34/08 in Forum Strafvollzug 1/2009, 43). 2. Für das im Gesetz angesprochene Betreuungskonzept sind besondere, der Lage der 2 Verwahrten Rechnung tragende, Behandlungsprogramme zu entwickeln. Es reicht nicht aus, wenn die Verwahrten eigene Kleidung tragen dürfen (§ 132) oder wenn ihnen statt der im Strafvollzug üblichen Größe des Fernsehbildschirms von 42 cm eine Schirmgröße von 51 cm gestattet wird (Angaben von Anstaltsleitern in der Anhörung vor dem BVerfG am 21.10.2003 s. FAZ 22.10.2003, S. 7). Zumindest sollte den Verwahrten ein weitest möglich einem normalen Einzelzimmer entsprechender Haftraum zugebilligt werden (ebenso im Ergebnis OLG Frankfurt ZfStrVo 2001, 28 f) und dessen Ausstattung mit eigenen Kleinmöbeln gestattet werden. Die bauliche Gestaltung der für Sicherungsverwahrte reservierten Hafthäuser oder Abteilungen sollte Wohngruppenvollzug ermöglichen (ebenso AK-Feest/ Köhne 2006 Rdn. 5). Tagsüber sollten die Hafträume der Verwahrten geöffnet bleiben (so auch Arloth 2008 Rdn. 2) und das Aufsuchen von Teeküchen und von gemeinsamen Freizeiträumen ungehindert möglich sein. Auch die „Bewegung im Freien“ auf einem für Sicherungsverwahrte reservierten Anstaltshof sollte täglich für mehrere Stunden erlaubt sein. Selbstbeschäftigung sollte über § 133 Abs. 1 hinaus auch zur „Förderung einer sinnvollen Lebensgestaltung“ gestattet werden. Aus gleichen Gründen sind verstärkt Kreativkurse anzubieten, diese können auch während der üblichen Arbeitszeit als „arbeitstherapeutische Maßnahmen“ durchgeführt werden. Gesprächsgruppen, in welchen das „Überleben“ in hoffnungsarmer Lage thematisiert und eingeübt werden kann, sind einzurichten. Externe Fachkräfte (§ 154 Abs. 2 Satz 2) sind als Gesprächsleitung in der Regel besser geeignet als das Anstaltspersonal. Dies sind einige Beispiele für die wegen des durchweg langen Einsperrvollzuges auch vom BVerfG geforderte „weitest mögliche Hafterleichterung“ im Innenbereich der sicheren Verwahranstalten (BVerfG Urteil vom 5.2.2004 – 2 BvR 2029 – Leitsatz 2. d). Bei vielen Verwahrten wird dieser „freundliche Verwahrvollzug“ allerdings nicht ausreichen, um ihnen die im Falle einer Entlassung in die Freiheit notwendige Lebenstüchtigkeit zu erhalten bzw. zu verschaffen. Eine menschenwürdige Betreuung der Sicherungsverwahrten setzt bei Beachtung des Resozialisierungsgebots auch gezielte Behandlungsangebote für die Verwahrten voraus, wodurch sie befähigt werden, lange Einsperrzeiten ungebrochen zu überleben. Das früher üblich gewesene Prinzip des Einräumens von „Vergünstigungen“ ist nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch methodisch bedenklich. Wenn Sicherungsverwahrte ihr Eingesperrtsein „als eine Hölle von Ziellosigkeit und Monotonie“ erleben (vgl. Gefangenenzeitung der JVA Werl – Deutschlands größter Sicherungsanstalt – 10/2008 S. 4), ist ein angemessenes Betreuungskonzept nicht stark genug entwickelt.
II. Erläuterungen 1. Der Gesetzgeber stellt im zweiten Satz der Vorschrift ausdrücklich darauf ab, dass 3 den persönlichen Bedürfnissen des Verwahrten so weit wie möglich Rechnung getragen wird. Daraus folgt, dass Beschränkungen der in Freiheit üblichen Lebensführung bei den Sicherungsverwahrten nur zulässig sind, wenn sie im Interesse einer sicheren Unterbringung oder zur Aufrechterhaltung eines störungsfreien Miteinanders aller Verwahrten der jeweiligen Anstalt notwendig sind (so auch BVerfG 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01).
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§ 132
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
Die Kernaussage der Vorschrift ist, dass die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Verwahrten zu respektieren sind – auch wenn es sich um die Pflege von Marotten oder um Eigenbröteleien handelt. Dies zu akzeptieren, fällt Vollzugsbediensteten zuweilen schwer. Die wichtigsten praktischen Konsequenzen der gesetzlichen Vorgaben sind, dass manche im Strafvollzug üblichen Beschränkungen bei Verwahrten nur bei Vorliegen von individuellen Sicherheitsrisiken zulässig sind. Deshalb ist jeder von den Verwahrten gewünschte Außenkontakt prinzipiell zu ermöglichen, d. h. Briefverkehr, Telefon-, Fax- und E-mail Kontakte können nur aus Sicherheitsgründen, nicht aber aus Behandlungs- oder Ordnungsgründen überwacht oder sonst wie eingeschränkt werden. Unüberwachte Langzeitbesuche mit nahen Angehörigen und Freunden/Freundinnen können nur bei konkreter Missbrauchsgefahr untersagt werden. Auch handelsübliche Fortbildungsangebote können die Verwahrten unbegrenzt nutzen, soweit sie die Kosten tragen können. Gleiches gilt für die Teilnahme an staatlich sanktionierten Glücksspielen wie Lotto und Toto. Auch die für Verwahrte ebenfalls geltenden Regelungen in den §§ 68 bis 70 müssen großzügig ausgelegt werden. Das im deutschen Justizvollzug übliche strikte Alkoholverbot lässt sich in einer Sicherungsanstalt oder Abteilung nur aufrecht erhalten, wenn konkrete Risiken des Missbrauchs vorliegen (§ 4 Abs. 2 Satz 2). Das persönliche Bedürfnis eines nicht suchtabhängigen Verwahrten nach maßvollem Alkoholgenuss ist legitim, zumal für jede Anstalt die Möglichkeit zur Beschaffung geringerer Mengen von Wein und/oder Bier bestehen würde.
4
2. Die VV sind inzwischen überwiegend bedeutungslos geworden, weil die meisten Anstalten über die dort getroffenen Mindestregeln hinausgegangen sind. Eine restriktive Auslegung der gesetzlichen Vorgaben durch Verwaltungsvorschriften würde der Intention des Gesetzgebers (freie Bedürfnisentfaltung soweit wie möglich) zuwider laufen. Deshalb ist der Inhalt der VV Nummer 5 nicht mehr akzeptabel. Die Verwahrten haben auf sicherheitsmäßig unbedenkliche „Privilegien“ einen Anspruch (OLG Hamburg E 21.8.2008 3 Vollz(WS) 34/08, juris; a. A. Arloth 2008 Rdn. 4).
III. Landesgesetze 5
Art. 161 BayStVollzG entspricht § 131 StVollzG. § 95 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 131 StVollzG. § 108 NJVollzG entspricht § 131 StVollzG.
§ 132 Kleidung Der Untergebrachte darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Untergebrachte für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt. Schrifttum: s. bei § 130
Die Vorschrift verschafft den Verwahrten einen Rechtsanspruch auf das Tragen eigener Kleidung und auf Benutzung eigener Wäsche (so auch Arloth 2008 Erl. zu § 132). Die in § 132 erwähnten Einschränkungsmöglichkeiten würden sich schon aus allgemeinen Vorschriften ergeben. Ihre ausdrückliche Erwähnung im Gesetz zeigt, dass nur konkrete
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Klaus Koepsel
Selbstbeschäftigung, Taschengeld
§ 133
Sicherheitserwägungen das Abweichen vom Grundsatz gestatten und eine Anordnung zum Tragen von Anstaltskleidung rechtfertigen würden. Vergleichbare Entscheidungen haben Justizvollzugsanstalten zuweilen bei der Genehmigung von Ausführungen von Strafgefangenen zu treffen. In der Praxis ist das Gestatten eigener Kleidung und Wäsche kein Problem mehr. Die Anstalten müssen den Verwahrten bei der Reinigung der Wäsche behilflich sein (so auch C/MD 2008 Erl. zu § 132 und AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 2). Der Verwahrte sorgt auch dann im Sinne des Gesetzestextes für „Reinigung, Instandhaltung und regelmäßigen Wechsel“ auf eigene Kosten, wenn er die Kosten nicht vom Eigengeld bezahlt, sondern das Taschengeld oder eine „Spende“, z. B. des Pfarrers, in Anspruch nimmt (vgl. auch § 20 Rdn. 4). Die Kostenübernahme durch den Staat kann in besonderen Fällen – z. B. bei längerer Erkrankung – gemäß § 131 geboten sein. Art. 162 BayStVollzG entspricht § 132 StVollzG. § 96 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 132 StVollzG. § 109 NJVollzG entspricht inhaltlich § 132 StVollzG.
§ 133 Selbstbeschäftigung, Taschengeld (1) Dem Untergebrachten wird gestattet, sich gegen Entgelt selbst zu beschäftigen, wenn dies dem Ziel dient, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. (2) Das Taschengeld (§ 46) darf den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 im Monat nicht unterschreiten. VV Das Taschengeld des Sicherungsverwahrten beträgt 23 v. H. der Eckvergütung (§ 43 Abs. 2 StVollzG). Schrifttum: s. bei § 130
Die Vorschrift gibt den Verwahrten einen Anspruch auf die Genehmigung von 1 Selbstbeschäftigung, wenn dadurch ihre Entlassungsvorbereitung gefördert wird. Bei Untergebrachten mit sehr langen Verwahrzeiten folgt aus § 131, dass ein solcher Anspruch auch dann bestehen kann, wenn die Selbstbeschäftigung dem Verwahrten hilft, die lange Inhaftierungszeit mit geringerer Schädigung seiner Persönlichkeit zu überleben (s. auch § 131 Rdn. 2). Organisatorische Probleme der Vollzugsverwaltung müssen in Zeiten moderner – z. B. in Form der „Ich-AG“ computergestützter – Heimarbeit kaum noch einer Selbstbeschäftigung im Wege stehen, wenn die gesetzlich anerkannten „persönlichen Bedürfnisse“ der jeweiligen Verwahrten (§ 131 Satz 2) stärker gewichtet werden als der für die Anstaltsverwaltung entstehende Mehraufwand. In Anpassung an die durch Gesetz vom 27.12.2000 erfolgte Erhöhung des Arbeitsent- 2 gelts von 5 % auf 9 % der Bemessungsgrundlage ist der Mindestsatz des Taschengeldes bei Sicherungsverwahrten vom fünffachen auf den dreifachen Tagessatz der Eckvergütung gesenkt worden. Nach den VV beträgt er 23 % (statt 14 % bei den Strafgefangenen) der Eckvergütung. Für die Vollzugspraxis bedeutet dies, dass arbeitstäglich etwa 2,35 Euro und damit monatlich etwa 40,– bis 45,– Euro gezahlt werden (bei Strafgefangenen sind das nur 30 Euro). Kann einem Verwahrten für eine längere Zeit als ein Jahr keine seinen Fähigkeiten Klaus Koepsel
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§ 134
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
und Bedürfnissen entsprechende Arbeit angeboten werden, so muss die Regelung in Abs. 2 über die aus § 131 abzuleitenden Auslegungsregeln in Angleichung an Langzeitarbeitslose dahingehend interpretiert werden, dass ein der Lebenssituation des jeweiligen Verwahrten angemessenes Taschengeld gezahlt wird. Die Höhe des Taschengeldes sollte sich an den Sozialhilfesätzen in ihrem Verhältnis zum Durchschnittslohn aller Rentenversicherten orientieren und sollte von den Landesjustizverwaltungen durch die VV möglichst einheitlich festgesetzt werden. Den Sicherungsverwahrten muss ein menschenwürdiges Überleben auch in einem langen Freiheitsentzug möglich bleiben (ähnliche Überlegungen bei AKFeest/Köhne 2006 Rdn. 3).
3
Art. 163 BayStVollzG entspricht inhaltlich § 133 StVollzG. § 97 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 133 StVollzG. § 110 NJVollzG entspricht in Abs. 1 der Regelung in § 133 Abs. 1 StVollzG, entgegen § 133 Abs. 2 StVollzG enthält § 110 Abs. 2 keine Mindesthöhe des Taschengeldes, sondern den generellen Hinweis, dass das Taschengeld der Verwahrten gegenüber Strafgefangenen „angemessen zu erhöhen ist“. Es wäre – justizpolitisch gesehen – kleinlich, wenn in Niedersachsen eine von den anderen Bundesländern zuungunsten der Verwahrten abweichende Regelung eingeführt werden würde.
§ 134 Entlassungsvorbereitung Um die Entlassung zu erproben und vorzubereiten, kann der Vollzug gelockert und Sonderurlaub bis zu einem Monat gewährt werden. Bei Untergebrachten in einer sozialtherapeutischen Anstalt bleibt § 124 unberührt. VV (1) Der Zeitpunkt des Beginns der Erprobung der Entlassung und der Zeitpunkt des Beginns der Vorbereitung der Entlassung richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. (2) Zur Vorbereitung der Entlassung kommt auch eine Verlegung in eine Anstalt oder eine Abteilung des offenen Vollzuges in Betracht. (3) Die Strafvollstreckungskammer ist vor der beabsichtigten Maßnahme zu hören. Schrifttum: s. bei § 130
1
Dieser Sonderurlaub eigener Art entspricht dem nach § 124 für Insassen einer sozialtherapeutischen Anstalt möglichen Sonderurlaub. Der Entwurf der Strafvollzugskommission sah in beiden Fällen eine Höchstdauer von einem Jahr vor. Der Regierungsentwurf hielt – wohl wegen der intensiven therapeutischen Betreuung – für Insassen einer sozialtherapeutischen Anstalt sechs Monate für vertretbar, für Verwahrte hingegen nur einen Monat. Der einmonatige Sonderurlaub ermöglicht es in den meisten Fällen nicht, den Verwahrten daraufhin zu erproben, ob die prognostischen Voraussetzungen einer bedingten Entlassung bei ihm vorliegen. Dies gilt nach der Verschärfung der Anforderungen an die gemäß § 67d StGB erforderliche Legalbewährungsprognose in noch stärkerem Maße als früher. Die Neuregelung der notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen für eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über eine Bewährungsentlassung (§ 463 i. V. m. § 454 StPO) macht deutlich, in welch rückversichernder Weise der Gesetzgeber die Entlassung von Sicherungsverwahrten vorbereiten möchte (vgl. Schüler-Springorum 2000, 23 ff). Das Verhalten des Ver-
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Klaus Koepsel
Entlassungsvorbereitung
§ 134
wahrten im Urlaub gemäß § 134 ist für die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nur ein relevanter Faktor von mehreren. Deshalb ist es sinnvoll, dass der Gesetzgeber die Entscheidung der Anstalt über die Urlaubsgewährung nicht von der Zustimmung der jeweils zuständigen Strafvollstreckungskammer abhängig gemacht hat. Vielmehr sehen die VV in Abs. 3 nur eine vorherige Anhörung des Gerichts vor. Im Interesse des jeweiligen Verwahrten ist es allerdings sinnvoll, dass eine Urlaubsgewährung nur dann erfolgt, wenn eine Entlassung aus der Sicht der Strafvollstreckungskammer als möglich erscheint (im Ergebnis ähnlich C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 7). Eine die Entlassung ablehnende Gerichtsentscheidung würde dem Verwahrten nicht zu vermitteln sein, wenn der Urlaub aus seiner Sicht „positiv“ verlaufen ist und die Anstalt ihm dies auch bestätigt. Aufgrund der Neuregelung der Entlassungsvoraussetzungen ist ein Sonderurlaub von einem Monat als konkrete Entlassungsvorbereitungsmaßnahme – vergleichbar der entsprechenden Urlaubsregelung in § 15 Abs. 3 – ausreichend. Irreführend ist unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage die sprachlich ohnehin wenig glückliche Formulierung „um die Entlassung zu erproben“. Die Worte „zu erproben“ hätten im Rahmen der Gesetzesnovelle vom 26.1.1998 gestrichen werden müssen. Anders als im Bereich der Sozialtherapie hat der Text seinen früheren Sinn verloren. Die im Gesetz vorgesehene und von den VV in Abs. 2 ausdrücklich erwähnte Verlegung 2 von Sicherungsverwahrten in eine Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges eignet sich auch nach der Strafrechtsänderung als „Erprobungsvollzug“ (vgl. AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 5 und BVerfG v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01 – Leitsatz 2. c). Auch für die offene Einrichtung gilt allerdings der in § 131 formulierte Grundsatz, dass die Verwahrten der besonderen Förderung und Betreuung bedürfen. Eine längere Bewährung eines Verwahrten im offenen Vollzug wird auch nach neuem Recht ein gewichtiger Faktor bei der Erstellung der nunmehr vorgeschriebenen „Erwartungsprognose“ (Schüler-Springorum 2000, 23 ff) sein müssen. Die erhebliche Erschwerung einer vorzeitigen Entlassung wird insbesondere „Sexual- 3 täter“ motivieren, mit ihrer Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt oder Abteilung einverstanden zu sein. Eine solche Möglichkeit sieht das Gesetz vor, wie auch dem Hinweis in Satz 2 entnommen werden kann. Der ab 1.1.2003 bestehende Anspruch bestimmter Tätergruppen auf Übernahme in die Sozialtherapie steht auch Sicherungsverwahrten zu. Dies gilt besonders dann, wenn eine sozialtherapeutische Behandlung als die einzige Möglichkeit erscheint, um den in § 129 Satz 2 enthaltenen Auftrag des Gesetzgebers zu erfüllen. Eine Bewährung von Verwahrten in der Sozialtherapie ermöglicht dann nicht nur den längeren Erprobungsurlaub nach § 124 (so auch C/MD 2008 Rdn. 1), sondern erhöht auch beträchtlich ihre Chancen auf eine vorzeitige Entlassung (so auch AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 6). Art. 164 Sätze 1 und 2 BayStVollzG enthalten die gleiche Regelung wie § 134 StVollzG. 4 In Satz 3 von § 164 BayStVollzG übernimmt der Landesgesetzgeber die Verpflichtung zur Anhörung der StVK aus den VV zu § 134 StVollzG. Hamburg hat keine dem § 134 StVollzG entsprechende Sonderurlaubsregelung getroffen, sondern in § 94 HmbStVollzG nur die entsprechende Anwendung der für Strafgefangene geltenden Regelungen normiert. § 111 NJVollzG entspricht inhaltlich § 134 StVollzG, stellt in Satz 2 allerdings klar, dass Verwahrte, die in einer sozialtherapeutischen Anstalt untergebracht sind, den dort üblichen Urlaub erhalten können.
Klaus Koepsel
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§ 135
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
§ 135 Sicherungsverwahrung in Frauenanstalten Die Sicherungsverwahrung einer Frau kann auch in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Frauenanstalt durchgeführt werden, wenn diese Anstalt für die Sicherungsverwahrung eingerichtet ist.
1
Die Vorschrift erlaubt bei Frauen die Durchführung der Sicherungsverwahrung in einer Anstalt des Frauenvollzugs, schließt aber die Unterbringung in einer Abteilung des Männervollzugs aus. In der Praxis haben die einschränkenden Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung (Rdn. 1 zu §§ 129, 130) des Zweiten Strafrechtsänderungsgesetzes faktisch (vorübergehend) zur Abschaffung der Sicherungsverwahrung für Frauen geführt. Im Jahr 1990 gab es noch eine, von 1991 bis 2006 keine weibliche Verwahrte. Erst 2007 wurde wieder eine Frau in Sicherungsverwahrung genommen, eine zweite folgte 2008. Auch bei Männern spielte die Sicherungsverwahrung (§ 61 Nr. 3, § 66 StGB) von Anfang an statistisch nur eine untergeordnete Rolle. Dies galt umso mehr, als 1969 die Anordnungsvoraussetzungen verschärft wurden (Rdn. 1 zu §§ 129, 130). Dieser Befund hat sich auch nicht geändert, als 1998 durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.1.1998 (BGBl. I, 160) für Sexualtäter erleichterte Anordnungsvoraussetzungen eingeführt wurden (zulässig; s. BVerfG 109, 153 = NJW 2004, 739; krit. dazu Mushoff KritV 2004, 137) und als 2002 die Möglichkeit geschaffen wurde, sich im erkennenden Urteil die nachträgliche Sicherungsverwahrung vorzubehalten (§ 66a StGB, eingeführt durch Gesetz vom 26.1.1998 – BGBl. I, 3344). Der Bundesgesetzgeber hat inzwischen in § 66b StGB ab 29.7.2004 die Möglichkeit eröffnet, in bestimmten Fällen während der Strafhaft bei Erwachsenen nachträglich Sicherungsverwahrung anzuordnen (BGBl. I, 2004, 1838; krit. dazu u. a. Peglau NJW 2004, 3599, NJW 2007, 1558 sowie Ullenbruch NJW 2006, 1377).
Landesgesetze 1. Bayern
2
Das BayStVollzG verzichtet auf eine eigenständige Regelung zur Unterbringung von Frauen in Sicherungsverwahrung. Es ersetzt den Inhalt von § 135 StVollzG durch eine Regelung in Abs. 2 Satz 2 des Art. 166 BayStVollzG (Trennung des Vollzugs), wonach Ausnahmen von der Unterbringung Sicherungsverwahrter in getrennten Abteilungen nur zulässig sind, wenn die Zahl der Sicherungsverwahrten so klein ist, dass sie die Einrichtung einer speziellen Abteilung nicht rechtfertigt. Art. 166 Abs. 2 lautet: „Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten und für den Vollzug der Sicherungsverwahrung eingerichteten Anstalt vollzogen. Sie erfolgt in getrennten Abteilungen, es sei denn, die Zahl der Sicherungsverwahrten rechtfertigt die Einrichtung einer solchen Abteilung nicht.“ 2. Hamburg
3
Das HmbStVollzG verzichtet, ebenso wie Bayern und Niedersachsen, auf eine eigenständige Regelung zur Unterbringung von Frauen in Sicherungsverwahrung. Der Regelungsgehalt des § 135 StVollzG findet sich in § 98 HmbStVollzG (Justizvollzugsanstalten, Trennungsgrundsätze) wieder. Danach sind Frauen und Männer in der Regel in getrennten Anstalten oder Abteilungen untergebracht (Abs. 3); Sicherungsverwahrung wird in einer getrennten Abteilung vollzogen, es sei denn, die Untergebrachten stimmen einer anderen
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Monica Steinhilper
Vorbemerkung
Vor §§ 136–138
Unterbringung zu (Abs. 4) oder die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen in einer anderen Vollzugseinrichtung soll ermöglicht werden (Abs. 5). Für den seltenen Fall, dass Hamburg eine Sicherungsverwahrte unterzubringen hat, ist damit die gesetzliche Grundlage für ihre Unterbringung in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Abteilung oder Anstalt für Frauen geschaffen, wenn diese für die Sicherungsverwahrung eingerichtet ist. 3. Niedersachsen Das NJVollzG sieht für § 135 StVollzG ebenfalls keine eigenständige Vorschrift vor. Die 4 Bestimmung des § 135 StVollzG wird stattdessen in dem den Vollzug von Frauen und Männern in Anstalten und Abteilungen regelnden § 171 NJVollzG Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 weitgehend wortgleich übernommen. Die Regelung spricht von „Anstalt oder Abteilung“ anstelle von „Frauenanstalt“. Diese Formulierung trägt der niedersächsischen Vollzugspraxis Rechnung, die neben der zentralen Frauenanstalt in Vechta auch in Anstalten des Männervollzugs Abteilungen für Frauen eingerichtet hat. § 171 Abs. 2 Nr. 2 lautet: „Die einzelnen Vollzugsarten werden jeweils in den dafür bestimmten gesonderten Anstalten oder Abteilungen vollzogen. Abweichend von Satz 1 kann der Vollzug an einer Sicherungsverwahrten auch in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe an weiblichen Gefangenen bestimmten Anstalt oder Abteilung erfolgen, wenn diese für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eingerichtet ist.“
ZWEITER TITEL
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt Vorbemerkung Schrifttum: Deutscher Bundestag Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (BT-Drucks. 7/4200); Blau/Kammeier Straftäter in der Psychiatrie – Situation und Tendenzen des Maßregelvollzuges, Stuttgart 1984; Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit: eine Untersuchung zum Maßregelrecht, Berlin 2004; ders. Straftäter und Psychiatrie: eine empirische Untersuchung zur Praxis der Maßregel nach § 63 StGB im Vergleich mit der Maßregel nach § 64 StGB und sanktionslosen Verfahren, Wiesbaden, 1997; ders. Suchtbehandlung als strafrechtliche Sanktion – Eine empirische Untersuchung zur Anordnung und Vollstreckung der Maßregel nach § 64 StGB, Wiesbaden 1996; ders. Hat die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Zukunft?, in: NStZ 1995, 318 ff; Duncker (Hrsg.) Forensische Psychiatrie – Entwicklung und Perspektiven: Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag, 2006; Egg (Hrsg.) Der Aufbau des Maßregelvollzuges in den neuen Bundesländern: Chancen und Probleme, Wiesbaden 1996; Förster (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung: ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 4. Aufl., München 2004; Grünebaum Zur Strafbarkeit der Therapeuten im Maßregelvollzug bei fehlgeschlagenen Lockerungen, Frankfurt/Main 1996; v. d. Haar Zum Urteil des BVerfG über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB aus klinischer Sicht, in: NStZ 1995, 315 ff; Heide Medizinische Zwangsbehandlung, Diss. Berlin 2001; Jehle Strafrechtliche Unterbringung in einem Psychiatrischen Krankenhaus, in BewHi 2005, 3 ff; ders. FS Venzlaff 2008, 211 ff; Kammeier (Hrsg.) Maßregelvollzugsrecht, Berlin/New York 2. Aufl., 2002; Konrad Fehleinweisungen in den psychiatrischen Maßregelvollzug, in: NStZ 1991, 315 ff; Leygraf Psychisch kranke Straftäter, Berlin 1988; Missoni Über die Situation der Psychiatrie in den JVAen in Deutschland, in: ZfStrVo 1996, 143 ff; Nedopil Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen
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Vorbemerkung
Vor §§ 136–138
Unterbringung zu (Abs. 4) oder die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen in einer anderen Vollzugseinrichtung soll ermöglicht werden (Abs. 5). Für den seltenen Fall, dass Hamburg eine Sicherungsverwahrte unterzubringen hat, ist damit die gesetzliche Grundlage für ihre Unterbringung in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Abteilung oder Anstalt für Frauen geschaffen, wenn diese für die Sicherungsverwahrung eingerichtet ist. 3. Niedersachsen Das NJVollzG sieht für § 135 StVollzG ebenfalls keine eigenständige Vorschrift vor. Die 4 Bestimmung des § 135 StVollzG wird stattdessen in dem den Vollzug von Frauen und Männern in Anstalten und Abteilungen regelnden § 171 NJVollzG Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 weitgehend wortgleich übernommen. Die Regelung spricht von „Anstalt oder Abteilung“ anstelle von „Frauenanstalt“. Diese Formulierung trägt der niedersächsischen Vollzugspraxis Rechnung, die neben der zentralen Frauenanstalt in Vechta auch in Anstalten des Männervollzugs Abteilungen für Frauen eingerichtet hat. § 171 Abs. 2 Nr. 2 lautet: „Die einzelnen Vollzugsarten werden jeweils in den dafür bestimmten gesonderten Anstalten oder Abteilungen vollzogen. Abweichend von Satz 1 kann der Vollzug an einer Sicherungsverwahrten auch in einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe an weiblichen Gefangenen bestimmten Anstalt oder Abteilung erfolgen, wenn diese für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eingerichtet ist.“
ZWEITER TITEL
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt Vorbemerkung Schrifttum: Deutscher Bundestag Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (BT-Drucks. 7/4200); Blau/Kammeier Straftäter in der Psychiatrie – Situation und Tendenzen des Maßregelvollzuges, Stuttgart 1984; Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit: eine Untersuchung zum Maßregelrecht, Berlin 2004; ders. Straftäter und Psychiatrie: eine empirische Untersuchung zur Praxis der Maßregel nach § 63 StGB im Vergleich mit der Maßregel nach § 64 StGB und sanktionslosen Verfahren, Wiesbaden, 1997; ders. Suchtbehandlung als strafrechtliche Sanktion – Eine empirische Untersuchung zur Anordnung und Vollstreckung der Maßregel nach § 64 StGB, Wiesbaden 1996; ders. Hat die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Zukunft?, in: NStZ 1995, 318 ff; Duncker (Hrsg.) Forensische Psychiatrie – Entwicklung und Perspektiven: Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag, 2006; Egg (Hrsg.) Der Aufbau des Maßregelvollzuges in den neuen Bundesländern: Chancen und Probleme, Wiesbaden 1996; Förster (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung: ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 4. Aufl., München 2004; Grünebaum Zur Strafbarkeit der Therapeuten im Maßregelvollzug bei fehlgeschlagenen Lockerungen, Frankfurt/Main 1996; v. d. Haar Zum Urteil des BVerfG über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB aus klinischer Sicht, in: NStZ 1995, 315 ff; Heide Medizinische Zwangsbehandlung, Diss. Berlin 2001; Jehle Strafrechtliche Unterbringung in einem Psychiatrischen Krankenhaus, in BewHi 2005, 3 ff; ders. FS Venzlaff 2008, 211 ff; Kammeier (Hrsg.) Maßregelvollzugsrecht, Berlin/New York 2. Aufl., 2002; Konrad Fehleinweisungen in den psychiatrischen Maßregelvollzug, in: NStZ 1991, 315 ff; Leygraf Psychisch kranke Straftäter, Berlin 1988; Missoni Über die Situation der Psychiatrie in den JVAen in Deutschland, in: ZfStrVo 1996, 143 ff; Nedopil Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen
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Vor §§ 136–138 Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug Psychiatrie und Recht, 3. Aufl., Stuttgart 2007; Nowara Stationäre Behandlungsmöglichkeiten im Maßregelvollzug nach § 63 StGB und der Einsatz von Lockerungen als therapeutisches Instrument, in: MschrKrim 1997, 116; Pollähne Lockerungen im Maßregelvollzug, Bern 1994; ders. Ärztliche Verantwortung für rechtswidrige Taten Untergebrachter, in NStZ 1999, 53 ff; Rasch Krank und/oder kriminell, Münster 1984; Royen Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bzw. in einer Entziehungsanstalt nach §§ 63, 64 StGB als kleine Sicherungsverwahrung?, in StV 2008, 606 ff; Schmidt-Quernheim/Hax-Schoppenhorst Professionelle forensische Psychiatrie: Behandlung und Rehabilitation im Maßregelvollzug, 2.Aufl., Berlin 2008; Schöch Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998, in: NJW 1998, 1257 ff; Seifert Gefährlichkeitsprognosen: eine empirische Untersuchung über Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs, Darmstadt 2007; Stolpmann Bietet mehr Sicherung mehr Sicherheit?, in: NStZ 1997, 316 ff; ders. Psychiatrische Maßregelbehandlung: eine Einführung, Göttingen 2001; Schumann Psychisch kranke Rechtsbrecher, Stuttgart 1987; Ullenbruch Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung durch Gewährung von Vollzugslockerungen und Hafturlaub, in: NJW 2002, 416 ff; Volckart/Grünebaum Maßregelvollzug, 6. Aufl., Neuwied 2003; Wagner Effektiver Rechtsschutz im Maßregelvollzug – § 63 StGB – Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, Bonn 1988; F. Weber Gefährlichkeitsprognose im Maßregelvollzug, Pfaffenweiler 1996; Westfälischer Arbeitskreis Maßregelvollzug Lockerungen im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) – ein „kalkuliertes Risiko“, in: NStZ 1991, 64 ff.
1
Infolge der Föderalismusreform (s. § 1 Rdn. 2) fällt die Gesetzgebungskompetenz für die Regelung des Maßregelvollzugs in die Zuständigkeit der Länder. Davor hatte der Bund von der bestehenden konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug, die nach BVerfGE 85, 134 auch den Maßregelvollzug umfasste, nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Die §§ 136 und 137 StVollzG legen im Wesentlichen die generellen Ziele und Aufgaben der Unterbringung gem. §§ 63, 64 StGB fest. Im Übrigen beschränkt sich das StVollzG in § 138 Abs. 1 S. 1 darauf, die Regelung des Maßregelvollzugs – schon vor der Reform – grundsätzlich den Ländern zu überlassen, wenn Bundesregelungen nicht entgegenstehen. Die hierzu ergangenen Landesgesetze lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Manche Länder betrachten den Maßregelvollzug als Teil der öffentlichrechtlichen Unterbringung und regeln ihn in einem Abschnitt der Unterbringungsgesetze (PsychKG), manche haben eigenständige Maßregelvollzugsgesetze erlassen. Teils dieser rechtlichen Struktur folgend, teils unabhängig davon, wird der Maßregelvollzug organisatorisch in eigenständigen Einrichtungen oder in Abteilungen von psychiatrischen Krankenhäusern durchgeführt, die daneben auch für die öffentlichrechtliche oder zivilrechtliche Unterbringung zuständig sind (Kammeier-Kammeier 2002, A 122 ff). § 138 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 regeln im Übrigen die entsprechende Anwendbarkeit einzelner Vorschriften des StVollzG auch im Maßregelvollzug. Dabei handelt es sich um Regelungen zum Haftkostenbeitrag und zur Pfändbarkeit von Überbrückungsgeld und Entlassungsbeihilfe. Darüber hinaus gelten im Maßregelvollzug für das gerichtliche Verfahren die §§ 109 ff StVollzG entsprechend. Soweit bereits Landesvollzugsgesetze in Kraft getreten sind, lassen sie die Vorschriften der §§ 136–138 unberührt (Rdn. 7). Die Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB (vgl. dazu ausführlich LK-Schöch 2008) können nur 2 angeordnet werden, wenn vom Unterzubringenden die Gefahr der künftigen Begehung erheblicher rechtswidriger Taten ausgeht. Bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus muss diese Gefahr eine Folge fortdauernder psychischer Störung im Sinne der vier Fallgruppen des § 20 StGB sein und sich bereits in der Anlasstat derart niedergeschlagen haben, dass hierfür keine volle strafrechtliche Verantwortlichkeit bestanden, also Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit vorgelegen hat. Dem gegenüber kann die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auch bei voller Schuldfähigkeit angeordnet werden, wenn die Anlasstat auf einen Hang zum Rauschmittelkonsum zurückgeht und aus diesem zugleich die Gefahr künftiger erheblicher rechtswidriger Taten erwächst.
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Vorbemerkung
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Zweck beider Maßregeln ist der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Taten der Untergebrachten. Im Falle von § 64 StGB darf dies ausschließlich im Wege der positiven Spezialprävention, also der Besserung angestrebt werden: D. h., der Rauschmittelabhängige ist – innerhalb der Befristung – solange zu behandeln, bis die mit dem Hang zu Rauschmitteln verknüpfte Gefahr soweit abgeklungen ist, dass eine positive Legalprognose gestellt werden kann. Stellt sich heraus, dass dieser Besserungszweck nicht erreichbar ist, so ist die Unterbringung für erledigt zu erklären, oder besteht von vornherein keine hinreichend konkrete Aussicht auf Erfolg, muss die Anordnung gar völlig unterbleiben (§§ 64 Satz 2, 67d Abs. 5). Auch bei § 63 StGB soll durch heilende oder bessernde Einwirkung auf den Täter sowie durch seine Verwahrung die von ihm ausgehende Gefahr weiterer Taten abgewendet oder verringert werden (positive Spezialprävention). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt jedoch eine Erfolgsaussicht der Therapie – im Unterschied zu § 64 StGB – nicht zwingend voraus, vielmehr kann – grundsätzlich unbefristet – notfalls lediglich der Sicherungszweck verfolgt werden (negative Spezialprävention). Die Unterbringung dauert daher fort, solange vom Untergebrachten die in § 63 StGB genannte Gefahr fortbesteht. Auch wenn die Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB gemäß § 138 Abs. 1 StVollzG i. V. m. den 3 Landesmaßregelvollzugsgesetzen in Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialverwaltung vollzogen werden (Rdn. 4, 5), handelt es sich um eine Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, die der justiziellen Kontrolle bedarf. So ist die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde an den Entscheidungen über Vollzugslockerungen beteiligt; vor allem aber ist gemäß §§ 463 Abs. 1, Abs. 5, 462 StPO die Strafvollstreckungskammer für die entscheidenden Weichenstellungen der Maßregelunterbringung zuständig: die Entscheidungen, dass die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt (§ 67d Abs. 2 Satz 1 StGB) oder die Maßregel für erledigt erklärt wird (§ 67d Abs. 6 StGB). Zur Vorbereitung dieser Entscheidungen kann die Strafvollstreckungskammer jederzeit tätig werden, muss aber bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt innerhalb von sechs Monaten und in einem psychiatrischen Krankenhaus binnen eines Jahres prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist (§ 67e StGB). Kommt eine Aussetzung in Betracht, ist – neben der Anhörung von Staatsanwaltschaft, Untergebrachtem und der Vollzugsanstalt (§ 454 Abs. 1 S. 2 StPO) – ein Sachverständigengutachten einzuholen, das sich zu der Frage äußern muss, ob die Gefährlichkeit des Untergebrachten noch fortbesteht (§§ 463 Abs. 3, 454 Abs. 2 StPO). Systematisch gehört der Maßregelvollzug zum Strafvollzugsrecht, wie auch die 4 Maßregeln zum Strafrecht gehören (vgl. BVerfGE 85, 134). Es handelt sich aber nur im weiteren Sinne um Strafvollzug. Der Vollzug wird nämlich nicht in Justizvollzugsanstalten, sondern in psychiatrischen Krankenhäusern durchgeführt. Diese sind nicht der Justizverwaltung mit dem Justizministerium an der Spitze unterstellt, sondern Teil der Gesundheitsverwaltung. Der Maßregelvollzug wird in den Krankenhäusern ohne justizielle Beteiligung in Eigenregie durchgeführt. Dies gilt nicht nur für die Behandlung selbst, sondern auch für Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug. Die Art und Weise der Durchführung des Maßregelvollzugs, insbesondere das Erzielen von Therapiefortschritten beim Untergebrachten, ist allerdings durchaus Vorbedingung für justizielle Entscheidungen, z. B. die bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug gem. § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB. Aus der Natur der – zunächst jedenfalls – geschlossenen Unterbringung ergeben sich – vergleichbar mit dem Strafvollzug – zwangsläufig Grundrechtseinschränkungen, z. B. im Hinblick auf Außenkontakte, die über die reinen Zwecke der Behandlung und sicheren Unterbringung hinausgehen. Insofern bedarf es dafür ausdrücklicher Legitimation wie im
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Vor §§ 136–138 Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug Strafvollzug und die Position der Leitung eines Maßregelvollzugskrankenhauses ist der eines Anstaltsleiters vergleichbar. Die bestehenden Maßregelvollzugsgesetze der Länder erreichen indes tatsächlich nicht die Differenziertheit des StVollzG im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Untergebrachten (ähnlich C/MD 2008 § 136 Rdn. 2). 5 Die Durchführung des Maßregelvollzugs ist unbestritten eine staatliche Aufgabe. Manche Landesgesetze haben jedoch vorgesehen, dass die Wahrnehmung dieser Aufgabe auf Private übertragen werden kann; und einige Länder haben tatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Während noch vor wenigen Jahren der Maßregelvollzug ausschließlich in staatlichen Einrichtungen, seien es separate Maßregelvollzugseinrichtungen, seien es psychiatrische Landes- bzw. Bezirkskrankenhäuser, durchgeführt wurde, haben sich inzwischen verschiedene Formen der Privatisierung entwickelt, die von der reinen Organisationsprivatisierung in Form landeseigener Gesellschaften bis hin zur vollständigen Übertragung der Aufgabe auf private Träger reichen. Ob und in welcher Form eine Privatisierung verfassungsrechtlich zulässig ist, ist umstritten (s. dazu Burgi Gutachten für den 67. Dt. Juristentag, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gestaltungsmöglichkeiten, Grenzen Regelungsbedarf, 2008; DBH (Hrsg.) Privatisierung und Hoheitlichkeit in Bewährungshilfe und Strafvollzug, Köln 2008; Dessecker (Hrsg.) Privatisierung in der Strafrechtspflege, KUP Band 56, Wiesbaden 2008; Grünebaum Zur Privatisierung des Maßregelvollzugs: Wie eine Diskussion haarscharf am Kern vorbeigeht, in R&P 2006, 24 (2), 55 ff; Scherer Vom staatlichen zum staatlich regulierten Maßregelvollzug, in FS für Frotscher 2006, 617 ff; Stober (Hrsg.) Privatisierung im Strafvollzug?, Köln/Berlin/Bonn/München 2001; Willenbruch/Bischoff Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Privatisierung des Maßregelvollzugs, in NJW 2006, 1776 ff). Das BVerfG hat sich mit dieser Frage noch nicht befasst. Auf Landesebene ist das (bisher nicht veröffentlichte) Urteil des Niedersächsischen StGH von Bedeutung. Anders als Burgi, der die Übertragung auf Private mit der medizinisch-therapeutisch geprägten Aufgabenstellung des Maßregelvollzugs rechtfertigt, zählt der Nds. StGH – zu Recht – auch die Behandlung und die damit evtl. verbundenen Zwangsmaßnahmen zum eingriffsintensiven Bereich. Er lässt allerdings private Träger dann zu, wenn deren Bedienstete von der staatlichen Aufsichtsbehörde zu Verwaltungsvollzugsbeamten im Sinne des Nds. SOG ernannt worden und damit zu Zwangseingriffen legitimiert sind. Mit dieser fraglichen Konstruktion wird freilich die Regelung des Art. 60 der Niedersächsischen Landesverfassung bzw. Art. 33 Abs. 4 GG, dass die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben Statusbeamten vorbehalten sein soll, unterlaufen. Dem gegenüber besteht weithin Einigkeit, dass im Strafvollzug eine Übertragung der Aufgabe an beliehene private Unternehmer nicht zulässig ist (Burgi 2008, 63). 6 Die Zahlen sowohl der jährlich angeordneten Unterbringungen als auch der im Maßregelvollzug Untergebrachten sind in den letzten 10 Jahren enorm gestiegen (Jehle in FS Venzlaff 2008, S. 211 ff). Für die Überfüllung des Maßregelvollzugs sind aber nicht nur die vermehrten Anordnungen verantwortlich, vielmehr liegt ein maßgeblicher Grund darin, dass die durchschnittliche Verweildauer im Maßregelvollzug nach § 63, die zuvor auf etwa vier Jahre gesunken war, inzwischen wieder stark angestiegen ist, was vermutlich mit den erhöhten Anforderungen an die Entlassungsprognose zusammenhängt (Jehle aaO m. w. N.). Dieser enorme Belegungsdruck dürfte manche Länder auch dazu geführt haben, die notwendigen Investitionen in zusätzliche Plätze nicht aus den Länderhaushalten zu finanzieren, sondern den Maßregelvollzug auf Private zu übertragen, was freilich langfristig eine Erhöhung der Pflegesätze nach sich ziehen dürfte. 7 Landesgesetze: Die Regelungen des StVollzG wurden in Bayern gem. Art. 208 BayStVollzG und in Hamburg gem. § 130 Nr. 4 HmbStVollzG nicht vom jeweiligen Landes-Strafvollzugsgesetz ersetzt, damit gelten die §§ 136 bis 138 StVollzG und die bisherigen landesrechtlichen Bestimmungen fort. Es verbleibt mithin auch bei dem Rechtsweg nach §§ 109 ff
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i. V. m. § 138 Abs. 3 (s. § 138 Rdn. 2). Auch in Niedersachsen ergibt sich dies, da § 1 NJVollzG den Maßregelvollzug nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes einschließt.
§ 136 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Die Behandlung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus richtet sich nach ärztlichen Gesichtspunkten. Soweit möglich, soll er geheilt oder sein Zustand so weit gebessert werden, dass er nicht mehr gefährlich ist. Ihm wird die nötige Aufsicht, Betreuung und Pflege zuteil. Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Anordnungsvoraussetzungen 2. Zahlenmäßige Entwicklung . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Zweck der Maßregel . . . . .
. . . . .
. . . . .
. 1–5 . 1–4 . 5 . 6–11 . 6–7
Rdn. 2. Behandlung . . . . . . . . . . . . 3. Ziel der Behandlung, Behandlungsmethoden . . . . . . . . . . . . . 4. Betreuung, Pflege, Aufsicht . . . . 5. Trennung . . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist eingebettet in das 1 staatliche System der freizeitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff StGB). Dabei kommt die Psychiatrie auf zweierlei Weise ins Spiel: Zum einen ist ein Gutachten über die Voraussetzungen der Schuld(un)fähigkeit und die Notwendigkeit des Maßregelvollzugs abzugeben; nur auf dieser Grundlage kann das Gericht die Unterbringung anordnen. Zum anderen übernimmt die Psychiatrie die Durchführung der Unterbringung und die Therapie des Untergebrachten, wobei wiederum das fachärztliche Gutachten die Entscheidungsgrundlage für die richterlich angeordnete Entlassung bildet. Voraussetzung für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB ist zunächst, 2 dass der Täter die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Als erstes muss eine psychische Störung vorliegen; das Gesetz nennt hier vier Fallgruppen (vgl. dazu Schönke/Schröder-Lenckner/Perron 2006 Rdn. 5–24 zu § 20) und die ersten drei entsprechen weitgehend psychiatrisch zu definierenden psychischen Defekten: krankhafte seelische Störung (das sind vor allem die Psychosen), tiefgreifende Bewusstseinsstörung (hierunter fallen insbesondere Affektdelikte), Schwachsinn, d. h. angeborene oder erworbene Intelligenzschwäche. Die vierte Fallgruppe, die schwere andere seelische Abartigkeit ist im Zuge der großen Strafrechtsreform eingefügt worden; mit ihr werden schwere psychische Abweichungen erfasst, die nicht einem klassischen psychiatrischen Krankheitsbild unterfallen, aber – wie die Rechtsprechung festgelegt hat – einen sog. Krankheitswert besitzen, also in ihrer Schwere den psychiatrischen Krankheitsbildern gleichkommen. Es geht hier um sog. Persönlichkeitsstörungen, in anderer Terminologie auch Psychopathien, Neurosen oder Triebstörungen. Die Weite und Konturlosigkeit dieser 4. Fallgruppe bringt es mit sich, dass über die Abgrenzungen vielfach Streit besteht (hierzu Venzlaff in Venzlaff/Foerster 2004, 214). Nach einer verbreiteten, in der forensischen Psychiatrie und der Rechtswissenschaft vertretenen Ansicht soll eine Exkulpation nur unter Ulrich Freise/Jörg-Martin Jehle
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ganz besonderen Voraussetzungen in seltenen Ausnahmefällen erfolgen; und auch die Anwendung der verminderten Schuldfähigkeit soll hier eine Ausnahme bleiben. 3 Liegt eine der genannten vier Fallgruppen vor, muss psychologisch-normativ festgestellt werden, ob die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, bzw. die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, ausgeschlossen ist. Wenn ja, führt dies zur Schuldunfähigkeit und zur Straflosigkeit, gegebenenfalls kann aber eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgen. In der Strafrechtspraxis dominieren die schuldunfähig Untergebrachten, die daneben keine Strafe zu verbüßen haben (s. genauer Dessecker Straftäter und Psychiatrie, 1997, 98 sowie Jehle Stationäre Maßregeln: Krise oder Konjunktur?, in FS Kaiser 1998, 1201 ff). Das Nebeneinander von Maßregel und Strafe betrifft nur eine Minderheit der vermindert Schuldfähigen. Hier gilt die Regel, dass die Maßregel zunächst zu vollziehen ist. Dabei wird die Unterbringungszeit auf die Strafdauer angerechnet (sog. Vikariieren), so dass die meisten Untergebrachten nicht anschließend eine Strafe verbüßen müssen, sondern in die Freiheit entlassen werden (die Anrechnung erfolgt bis zu zwei Dritteln der Strafe, der Strafrest wird zeitgleich mit der Unterbringungsaussetzung zur Bewährung ausgesetzt); §§ 67, 67d i. V. m. § 57 StGB. 4 Weitere Voraussetzung für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist, dass aus der psychischen Störung die Gefahr künftiger erheblicher Straftaten resultiert (Vor §§ 136–138, Rdn. 2). Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist grundsätzlich unbefristet. Das Gericht setzt die Vollstreckung der Unterbringung nur bei günstiger Täterprognose zur Bewährung aus, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“ (§ 67d Abs. 2 Satz 1). Es ist umstritten, ob mit dieser seit 1998 gefundenen Formulierung lediglich eine Klarstellung hinsichtlich der von der Rechtsprechung ohnehin entwickelten Prognosemaßstäbe beabsichtigt war oder ob es sich um eine Verschärfung des prognostischen Maßstabs handelt (vgl. dazu v. a. Schöch NJW 1998, 1257 ff). Jedenfalls ist nunmehr zwingend, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, wenn das Gericht erwägt, die Vollstreckung auszusetzen (§§ 463 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
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2. Um die Bedeutung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ermessen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung zu werfen. Von einem hohen Anfangsniveau in den 1960er Jahren ausgehend kommt es zwischen 1970 und Ende der 1980er Jahre bei den Belegungszahlen zu einer erstaunlichen Abnahme; die Anzahl der Insassen halbiert sich nahezu. Dieser Vorgang lässt sich mit parallelen, einander verstärkenden Entwicklungen in der Strafrechtspraxis und in der Psychiatrie erklären. Der Gesetzgeber hatte den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) auch für die Anordnung und die Vollstreckung der Maßregel nach § 63 StGB statuiert und zum Ausdruck gebracht, dass es vorrangiges Ziel des Maßregelvollzugs sei, die Betroffenen zu bessern und damit wieder in Freiheit entlassen zu können. Zur gleichen Zeit ist der therapeutische Anspruch der Allgemeinpsychiatrie und insbesondere der forensischen Psychiatrie verstärkt worden; die Krankenhäuser haben sich von Verwahreinrichtungen in Behandlungseinrichtungen gewandelt (Nedopil Forensische Psychiatrie: Schutz oder Risiko für die Allgemeinheit?, in Schöch/Jehle, Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit 2004, 347 ff). Seit Anfang der 1990er Jahre kann wieder eine gegenläufige Entwicklung beobachtet werden. Die Unterbringungsanordnungen steigen wieder, zunächst gemächlich, dann sehr deutlich, so dass sie sich in einem kurzen Zeitraum mehr als verdoppeln auf knapp über 1000 (2007) pro Jahr. Eine gesetzgeberische Änderung liegt dem nicht zugrunde; allerdings haben sich im kriminalpolitischen Klima starke Veränderungen ergeben, die den Gesichtspunkt der Sicherheit verstärkt hervortreten lassen und die ersichtlich auch Einfluss auf die
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Strafrechtspraxis gewonnen haben. Noch deutlicher schlägt sich dies in einer steigenden Belegung nieder. Die Patientenzahl hat mit über 6287 Personen im Jahr 2008 einen historischen Höchststand erreicht, und ein Ende dieser Aufwärtsbewegung ist bisher nicht ersichtlich. Dies ist nicht nur Folge vermehrter Anordnungen, sondern auch einer sich verlängernden Verweildauer. Offensichtlich werden bei der Entlassungsprognose verschärfte Kriterien angewandt, und es ist die Bereitschaft, zugunsten der zu Entlassenden ein gewisses Risiko einzugehen, gesunken. Mit diesen Veränderungen der Belegungszahlen hat sich zugleich auch die Klientel der Untergebrachten geändert. Bei mehr als 70 % der nach § 63 Untergebrachten liegen Gewalt- oder Sexualdelikte zugrunde. Daneben haben Brandstiftungen mit ca. 10 % einen beachtlichen Anteil. Reine Eigentums- und Vermögensdelikte spielen heute (mit 7 %) kaum noch eine Rolle, während sie noch in den 60er und 70er Jahren einen bedeutsamen Anteil an der Maßregelvollzugspopulation besaßen. Ganz offensichtlich hat hier der Prognosemaßstab, dass erhebliche Straftaten drohen müssen, sowie der generell für das Maßregelrecht geltende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62 StGB) zu einer Konzentration auf schwerere Delikte geführt (s. näher Jehle in FS Venzlaff 2008, S. 211 ff).
II. Erläuterungen 1. Zweck der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 6 nach § 63 StGB ist es, die Gesellschaft vor weiteren erheblichen Straftaten der Betroffenen zu schützen (s. LK-Schöch §§ 61 ff). Dementsprechend formuliert § 136 als Ziel der Behandlung während der Unterbringung, dass der Untergebrachte für die Allgemeinheit „nicht mehr gefährlich ist“ (Satz 2). Freilich darf dies nicht mit allein sichernden Maßnahmen geschehen; vielmehr muss der Aufenthalt in psychiatrischen Krankenhaus dazu genutzt werden, im Sinne der „Besserung“ – die der Gesetzgeber vorrangig nennt – auf die Betroffenen einzuwirken. Anders als bei der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt muss das psychiatrische Krankenhaus aber auch Personen aufnehmen, bei denen die Behandlung von vorneherein mehr oder weniger aussichtslos erscheint. Liegt allerdings die psychische Störung i. S. v. § 20 StGB nicht mehr vor oder hat sie von vornherein nicht bestanden, so ist die Maßregel für erledigt zu erklären (§ 67d Abs. 6) und der Betroffene aus dem Maßregelvollzug zu entlassen. Bei fortbestehender Gefährlichkeit kann dann ggf. nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB angeordnet werden. Ziel des Maßregelvollzugs ist also, auf die Patienten so einzuwirken, dass sie möglichst 7 bald wieder entlassen werden können – ohne befürchten zu müssen, dass sie wieder straffällig werden. Dies geschieht gem. Satz 1 durch Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach ärztlichen Gesichtspunkten. Mit der Formel „psychiatrisches Krankenhaus“ (§ 63 StGB, § 136 StVollzG) hat der Gesetzgeber indes keine Vorentscheidung darüber getroffen, ob es sich um eine spezialisierte Maßregelvollzugseinrichtung oder um eine Klinik der psychiatrischen Allgemeinversorgung handeln soll (Kammeier-Baur 2002 Rdn. C 50 ff; vgl. auch Vor §§ 136–138 Rdn. 5). Entscheidend ist aber, dass die Einrichtung nach ärztlichen Gesichtspunkten geführt und damit die Unterbringung nach den durch den Zustand des Untergebrachten bedingten therapeutischen Erfordernissen gestaltet wird. Die Untergebrachten sind also keine Gefangenen im strafrechtlichen Sinne, sondern Patienten, die einen Behandlungsanspruch besitzen, mit dem eine Behandlungspflicht seitens der Einrichtung korrespondiert (so auch AK-Pollähne 2006 Vor § 136 Rdn. 18). Dies bedeutet negativ, dass die Unterbringung keinen bloßen Verwahrcharakter (C/MD 2008 Rdn. 1) haben darf. 2. Die Ausrichtung auf ärztliche Gesichtspunkte darf jedoch nicht zu dem Irrtum ver- 8 führen, jede Form des Umgangs mit den Untergebrachten sei ärztlich-psychiatrische Behandlung. Solche Behandlungsmaßnahmen umfassen nur einen begrenzten Bereich. Die
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daneben stehenden Sicherungs- und Ordnungsmaßnahmen, die sich auf andere Normen stützen, dürfen nicht als ärztliche Maßnahmen deklariert werden, um sie so der Rechtskontrolle zu entziehen. Ein besonderes Problem bildet die Zwangsbehandlung, die nach den Landesgesetzen i. V. m. §§ 136, 138 im Detail, aber von Land zu Land unterschiedlich geregelt ist. Sie kommt unter eng beschränkten Voraussetzungen, jedoch nur zur Behandlung der Anlasskrankheit in Betracht. „Der Patient hat kein Recht auf seine Verrücktheit, . . . die Persönlichkeit, die das Grundgesetz schützt, (ist) nicht nur der Mensch in seinem augenblicklichen Zustand, sondern auch derjenige, der er – befreit von seiner Krankheit – sein könnte“ (Volckart/Grünebaum 2003, 166). Zwangsbehandlung ist nicht nur eine Ausnahme ihrer rechtlichen Regelung nach, sie ist es auch im psychiatrischen Alltag, denn jede Form des Zwanges bei einer Behandlung mindert deren Erfolgsaussichten. Unmittelbarer Zwang ist nach Einführung der modernen Psychopharmaka äußerst selten geworden. Die Vorschriften der § 63 StGB und § 136 allein ermächtigen nicht zur Zwangsbehandlung (BVerfG DVBl 2008, 38 ff, m. w. N.; KG NStZ-RR 1997, 351 f; zum Ersatz der Zustimmung des Untergebrachten durch die seines Vormundes für den Fall der psychopharmakologischen Behandlung: OLG Hamm NStZ 1987, 144; s. auch BayObLG FPR 2003, 260; KG Berlin NStZ-RR 2008, 92 ff). Die bei vielen forensischen Patienten angezeigte Psychotherapie ist zwangsweise ohnehin nicht möglich. Doch selbst die medikamentöse Behandlung bedarf, wenn sie erfolgreich wirken soll, der Mitarbeit des Patienten. 9 3. Ziel der Behandlung ist idealer Weise die Heilung des Untergebrachten (Satz 2, 1. Alt.) oder jedenfalls die Besserung seines Zustands (2. Alt.) bis dahin, dass die Entlassungsreife nach § 67d Abs. 2 StGB erreicht wird, mithin der Maßregelvollzug beendet werden kann. Die Behandlungsmethoden, um dieses Ziel zu erreichen, richten sich nach der Art der zugrunde liegenden Störung, sind aber nicht auf ärztliche Maßnahmen im engeren Sinne begrenzt. Vielmehr ist auf den interessanten Aspekt hinzuweisen, dass neben medikamentöse Behandlung und Psychotherapie zunehmend Methoden treten, die der Sozialtherapie des Strafvollzugs ähneln (Nedopil Forensische Psychiatrie: Schutz oder Risiko für die Allgemeinheit?, in Schöch/Jehle, Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit 2004, 347 ff). Dies hat seinen Grund darin, dass sich die Klientel des Strafvollzugs und des Maßregelvollzugs in mancherlei Hinsicht gleichen. Betrachtet man die biographische Entwicklung der Probanden, so fallen bei Strafgefangenen wie bei MaßregelvollzugsPatienten vielfach Sozialisationsdefizite ebenso wie ein Versagen bei der gesellschaftlichen Integration, im Beruf und in sozialen Beziehungen auf (Rössner Dissoziale Persönlichkeitsstörung und Strafrecht, in Schöch/Jehle, Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit 2004, 391 ff). Die forensische Psychiatrie hat es heute zunehmend mit dissozialen Persönlichkeiten zu tun. Insoweit ergeben sich Überschneidungen mit der Klientel des Strafvollzugs, insbesondere der Sozialtherapeutischen Anstalt, und nähern sich Behandlungsansätze und -konzepte einander an. Neben der eigentlichen psychiatrischen Behandlung der psychischen Störung kommt es also für die Rückfallprävention entscheidend darauf an, die Betroffenen auf eine soziale (Re)Integration vorzubereiten. Das therapeutische Konzept baut heute in der Regel auf einem Stufenplan auf: die Behandlung und Unterbringung erfolgt zunächst in einem vollkommen geschlossenen Bereich und gibt dann – nach therapeutischem Fortschritt – von Stufe zu Stufe mehr Freiheiten und Verantwortung für den Patienten (Nedopil Forensische Psychiatrie: Schutz oder Risiko für die Allgemeinheit? m. w. N., in Schöch/Jehle, Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit 2004). Bei diesen sog. Lockerungen kann auch getestet werden, ob und wann eine Entlassung in Frage kommt. Freilich ist das Konzept nicht ohne Risiko. So hat eine Essener Studie (Seifert/Jehle/Bolten Zur momentanen Entlassungssituation forensischer Patienten und
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zur Problematik der Gefährlichkeitsprognose, Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 2001, S. 245 ff) herausgefunden, dass immerhin 10 % der Patienten während des Maßregelvollzugs erneut Straftaten begehen. Es ist allerdings unvermeidlich, ein gewisses Risiko bei der Entlassungsvorbereitung einzugehen. Sichere Prognosen gibt es nun einmal nicht, absolute Sicherheit gäbe es nur, wenn niemand mehr entlassen würde. Indessen genießt der Schutz der Gesellschaft vor Straftaten keinen absoluten Vorrang. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 70, S. 297 ff) statuiert, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete, das Schutzinteresse der Allgemeinheit gegen das Freiheitsinteresse des Einzelnen abzuwägen; je länger die Unterbringung dauere, desto stärker falle das Freiheitsinteresse des Betroffenen ins Gewicht und desto eher sei an eine Entlassung zu denken. Schon aus verfassungsmäßigen Gründen müssen also Entlassungschancen eingeräumt und damit auch Risiken eingegangen werden. 4. Unabhängig davon, ob das Behandlungsziel nach Satz 2 erreicht werden kann, for- 10 muliert Satz 3 als Mindestauftrag, dass dem Untergebrachten in erforderlichem Umfang Aufsicht, Betreuung und Pflege zuteil wird. Betreuung und Pflege werden im klinischen Gebrauch oft als Begriffspaar genannt; sie überschneiden einander im Bedeutungsgehalt weitgehend. Neben der in einem Krankenhaus selbstverständlichen (Kranken-)Pflege, geht es bei psychisch gestörten Personen um den Schutz vor sich selbst und insbesondere im Hinblick auf die langfristigen Aufenthalte – um eine milieu- und soziotherapeutische Pflege (Schmidt-Quernheim/Hax-Schoppenhorst 2008, 123 ff), nicht zuletzt in Form der Pflege von Beziehungen (Stolpmann 2001, 76 f); hierbei sind die betreuenden Pflegekräfte von überragender Bedeutung (Kammeier-Baur 2002, Rdn. C 76). Die Verpflichtung zur Aufsicht bezieht sich zum einen auf die Sicherheit nach innen: Mitpatienten und Bedienstete sind vor den Untergebrachten, aber auch vor sich selbst zu schützen. Zum anderen leitet sich vom Sicherungszweck, dem Schutz der Allgemeinheit ab, dass Aufsichtsmaßnahmen getroffen werden, die Entweichungen verhindern bzw. Gefährdungen bei Lockerungen eingrenzen. Insofern beschränkt die aus dem Sicherungszweck abgeleitete Aufsichtspflicht das Risiko, das mit Lockerungen eingegangen werden darf. Allerdings resultiert daraus kein absoluter Vorrang der Sicherheit (so wohl Arloth 2008 Rdn. 4) in dem Sinne, dass keinerlei Risiko eingegangen werden darf; denn die Erprobung von Lockerungen ist notwendiger Zwischenschritt zum gesetzgeberischen Ziel der Spezialprävention durch Besserung (s. Rdn. 9). 5. Diese Überlegungen haben auch Bedeutung für die Frage, ob Untergebrachte von 11 anderen psychiatrischen Patienten zu trennen sind. Eine solche Absonderung ist bei gleichartigen Behandlungsbedürfnissen nach dem Gesetz nicht geboten (Volckart/Grünebaum 2003, 220 f; a. A. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3). Andererseits darf die Behandlung der anderen Patienten nicht durch die für manche Untergebrachten erforderlichen Sicherungsmaßnahmen gestört werden. So wird auch künftig ein Teil von ihnen in besonders gesicherten Häusern zu verwahren sein. Die Trennung kann auch deshalb angezeigt sein, weil die Untergebrachten oft schwierige Persönlichkeiten sind, die ihren Mitmenschen – Patienten oder Personal – im täglichen Umgang das Leben schwer machen. Aus diesem Grunde findet in der Praxis eine Trennung der Forensik fast durchgehend statt. Jedoch geschieht dies nicht aus Gründen der unterschiedlichen Rechtsgrundlage ihres Aufenthalts in der Psychiatrie.
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§ 137 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Ziel der Behandlung des Untergebrachten in einer Entziehungsanstalt ist es, ihn von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben.
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Die Vorschrift konkretisiert, dass der Zweck der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB im Wege der Behandlung zu erreichen ist. Als Ziel der Behandlung gilt die Heilung des Hangs, Rauschmittel „im Übermaß zu sich zu nehmen“ (§ 64 Abs. 1 StGB), und die ihm „zugrunde liegende Fehlhaltung“ zu beheben (RegE BT-Drucks. 7/918, S. 90). Damit greift das StVollzG den umstrittenen Hangbegriff (vgl. LK-Schöch § 64 Rdn. 44 ff) auf. Ob eine „Heilung“ des Hangs erwartet werden kann, ist zweifelhaft; jedenfalls muss Ziel der Behandlung sein, die aus dem Hang resultierende Gefahr der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten zu vermindern. Anders als bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf dies aber nur im Wege der Besserung geschehen: Sobald feststeht, dass keine hinreichende Aussicht auf den Erfolg der Behandlung mehr besteht, muss der Vollzug beendet und die Maßregel für erledigt erklärt werden (§ 67d Abs. 5 StGB). Fehlt es an dieser hinreichenden Erfolgsaussicht von vornherein, darf die Maßregel schon gar nicht angeordnet werden (§ 64 Abs. 2 StGB). Mithin hat der Vollzug der Maßregel therapeutische Funktion und der Untergebrachte einen Anspruch auf Suchtbehandlung (OLG Celle NStZ 1995, 255). Aber selbstverständlich ergibt sich aus dem übergeordneten Sicherungszweck der Maßregel (Vor §§ 136–138 Rdn. 1), dass während der Unterbringung der Schutz der Allgemeinheit zu gewährleisten ist und Entweichungen zu verhindern sind (missverständlich AK-Pollähne 2006 Rdn. 3). Die Unterbringung nach § 64 StGB ist von vornherein zeitlich befristet. Die nach 2 § 67d Abs. 1 StGB bestehende Höchstdauer von zwei Jahren kann überschritten werden, wenn – was bei § 64 StGB regelmäßig der Fall ist – eine Parallelstrafe verhängt wurde. Ob allerdings aus Behandlungsgründen eine Verweildauer über zwei Jahre hinaus zweckmäßig ist, erscheint zweifelhaft. Problematisch sind – nach wie vor – die nach § 64 StGB untergebrachten Schwerkriminellen mit langen Freiheitsstrafen im Vorwegvollzug. Da die Alkoholtherapie z. B. nach kurzer geschlossener Phase die Erprobung in Lockerungen verlangt, die für sie aber ausgeschlossen sind, lässt sich eine Therapie schwer durchführen. Auch ist die Motivation des Untergebrachten verständlicherweise schwach, wenn ihm im Anschluss an eine erfolgreiche Behandlung vielleicht noch mehrere Jahre Strafvollzug bevorstehen. Deshalb kann entgegen der gesetzlichen Regel des § 67 Abs. 1 StGB ausnahmsweise der Vorwegvollzug der Strafe angeordnet werden (§ 67 Abs. 2 StGB), um eine Gefährdung des Erfolgs der Unterbringung durch den nachfolgenden Strafvollzug auszuschließen und die Ausgangsbedingungen der Therapie zu verbessern (BGH NStZ 2000, 529). War die Behandlung erfolgreich, so setzt das Gericht nach § 67 Abs. 2 StGB die weitere Vollstreckung der Unterbringung (und ggf. den nach Anrechnung der Unterbringungsdauer verbleibenden Strafrest gem. § 57 StGB) zur Bewährung aus. Darüber hinaus kann der Untergebrachte nicht nur durch Behandlungserfolge seine Unterbringung verkürzen oder beenden, sondern auch dadurch, dass er sich einer Behandlung gerade widersetzt und deshalb keine Erfolgsaussicht besteht. Waren die Entziehungsanstalten als ehemalige „Trinkerheilanstalten“ früher auf Alkohol3 abhängige zugeschnitten, hat sich das Bild heute deutlich gewandelt (Meier/Metrikat MschrKrim 2003, 117 ff). Immer mehr Drogenabhängige werden nach § 64 StGB untergebracht. Zwar war die Strafrechtspraxis lange Zeit skeptisch, was die Erfolgsaussichten einer Drogentherapie in den Entziehungsanstalten angeht (vgl. nur Körner BtMG-Kommentar § 35 Rdn. 309), und hat deshalb die Therapiemöglichkeit im Rahmen der Zurückstellung der Strafvoll-
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Anwendung anderer Vorschriften
§ 138
streckung nach § 35 BtMG bevorzugt (s. näher Jehle Drogentherapie im strafrechtlichen Rahmen – die Zurückstellungslösung der §§ 35, 38 BtMG, in Kroeber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.) Handbuch für Forensische Psychiatrie Bd. 1 2007, 349 ff; vgl. auch Kurze Strafrechtspraxis und Drogentherapie 1994). Inzwischen wachsen die Zahlen in beiden Therapieformen an (zu §§ 35, 38 BtMG Jehle aaO); die Drogenabhängigen stellen nunmehr mit 1593 von 2656 Personen die Mehrzahl der nach § 64 StGB Untergebrachten dar (Strafverfolgungsstatistik 2008).
§ 138 Anwendung anderer Vorschriften (1) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt richtet sich nach Landesrecht, soweit Bundesgesetze nichts anderes bestimmen. § 51 Abs. 4 und 5 sowie § 75 Abs. 3 gelten entsprechend. (2) Für die Erhebung der Kosten der Unterbringung gilt § 50 entsprechend mit der Maßgabe, dass in den Fällen des § 50 Abs. 1 Satz 2 an die Stelle erhaltener Bezüge die Verrichtung zugewiesener oder ermöglichter Arbeit tritt und in den Fällen des § 50 Abs. 1 Satz 4 dem Untergebrachten ein Betrag in der Höhe verbleiben muss, der dem Barbetrag entspricht, den ein in einer Einrichtung lebender und einen Teil der Kosten seines Aufenthalts selbst tragender Sozialhilfeempfänger zur persönlichen Verfügung erhält. Bei der Bewertung einer Beschäftigung als Arbeit sind die besonderen Verhältnisse des Maßregelvollzugs zu berücksichtigen. Zuständig für die Erhebung der Kosten ist die Vollstreckungsbehörde; die Landesregierungen können durch Rechtsverordnung andere Zuständigkeiten begründen. Die Kosten werden als Justizverwaltungsabgabe erhoben. (3) Für das gerichtliche Verfahren gelten die §§ 109 bis 121 entsprechend. 1. Der § 138 wurde durch Art. 11 Nr. 2 des Gesetzes über elektronische Register und Jus- 1 tizkosten für Telekommunikation (ERJuKoG) vom 10.12. 2001 (BGBl. I 2001, S. 3422, 3432) neu gefasst. Im Zuge dessen wurde die Vorschrift neu gegliedert und in Abs. 2 eine der Neuregelung des Haftkostenbeitrags entsprechende Regelung über die Erhebung der Unterbringungskosten eingefügt. Abs. 1 Satz 1 beinhaltet die grundsätzliche Entscheidung des Bundesgesetzgebers, die 2 Regelung des Maßregelvollzugs nach §§ 63, 64 StGB weitgehend den Ländern zu überlassen – in deren Gesetzgebungszuständigkeit diese Aufgabe ohnehin nach der Föderalismusreform fällt (Vor §§ 136–138 Rdn. 1). Der Gesetzgeber geht hier davon aus, dass sich die Behandlung einer nach § 63, 64 untergebrachten Person in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen zu richten hat, wie sie für die Behandlung der anderen Patienten in diesen Einrichtungen gelten (BT-Drucks. 7/918, S. 90; C/MD 2008 Rdn. 1). Insofern übernimmt das Gesetz – abweichend von den Vorschriften für die Sicherungsverwahrung (§ 130) – die Regelungen des Vollzugs der Freiheitsstrafe für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt nur zu einem geringen Teil (Abs. 1 Satz 2: § 51 Überbrückungsgeld, § 75 Entlassungsbeihilfe; Abs. 3: §§ 109–121 Rechtsschutz). Heute haben alle Bundesländer die Materie gesetzlich geregelt. Verweise auf die in den Gesetz- und Verordnungsblättern der Länder veröffentlichten und nicht immer leicht zugänglichen Gesetze sind im Anhang abgedruckt (Rdn. 8). Anders als für den Bereich des Justizvollzuges ist die Geltung der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder für das Verwaltungshandeln der psychiatrischen Krankenhäuser nicht ausgeschlossen worden, doch gehen Verfahrensvorschriften der
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§ 138
Dritter Abschnitt. Besondere Vorschriften über den Vollzug
die Unterbringung regelnden Gesetze als Spezialgesetze vor (Kammeier-Kammeier 2002, Rdn. A 129). Die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3–126) sind nicht entsprechend anwendbar. 3 In Abs. 1 Satz 2 werden die Vorschriften des StVollzG über den Pfändungsschutz von Überbrückungsgeld (§ 51 Abs. 4 und 5) und Entlassungsbeihilfe (§ 75 Abs. 3) für anwendbar erklärt. Diese Norm gilt auch nach der Föderalismusreform fort, da sie sich auf eine bundesgesetzliche Materie der ZPO bezieht. Dagegen bleibt es dem Landesgesetzgeber überlassen, die Voraussetzungen für die Bildung eines Überbrückungsgeldes und die Gewährung von Entlassungsbeihilfe zu schaffen. 4 Abs. 2 regelt die Erhebung von Unterbringungskosten und ordnet hierfür die entsprechende Geltung des § 50 an. Mit dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Konsequenz aus der Entscheidung des BVerfG (NJW 1992, 1555) gezogen, nach der landesrechtliche Regelungen über die Kostenerstattung wegen der bestehenden bundesrechtlichen Regelung mangels Gesetzgebungskompetenz unzulässig waren (C/MD 2008 Rdn. 2). Inzwischen liegt die Gesetzgebungskompetenz wieder bei den Ländern, die aber bislang nicht davon Gebrauch gemacht haben (s. Vor §§ 136–138 Rdn. 1). In der Regel kommt die Erhebung eines Unterbringungsbeitrags nicht in Betracht; dies gilt namentlich, wenn der Untergebrachte arbeitstherapeutisch beschäftigt ist (Abs. 2 Satz 2). Praktische Bedeutung dürfte die Vorschrift nur gewinnen, wenn der Untergebrachte außerhalb der Einrichtung laufende Einkünfte, z. B. durch Rentenbezug, erzielt (so auch Arloth 2008 Rdn. 4). Die Erhebung der Kosten erfolgt gem. Satz 3 und 4 i. V. m. § 50 Abs. 1 Satz 1 und 5 durch die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde. 5 Eine wichtige bundesrechtliche Neuerung brachte das StVollzÄndG vom 20.1.1984 (BGBl. I 1984 S. 97), das die Rechtskontrolle über den Vollzug der Maßregeln, die das Strafvollzugsgesetz zunächst weiterhin den Oberlandesgerichten (§§ 23 ff EGGVG) überlassen hatte, der Regelung für den Strafvollzug entsprechend den Strafvollstreckungskammern übertrug (Abs. 3). Damit ist auch hier der ,nahe‘ Vollstreckungsrichter, der seit 1975 für die Entscheidung über die Beendigung der Maßregel zuständig ist, auch für die Kontrolle der Art und Weise des Vollzuges verantwortlich (Wagner 1988; zu den grundlegenden und bundesrechtlichen Fragen auch AK-Pollähne 2006 vor § 136 Rdn. 9 ff). Abs. 3 gilt trotz der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder fort, da das gerichtliche Verfahren nach wie vor Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ist.
6
2. Durch die landesrechtlichen Regelungen hat der Bereich der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB seine verfassungsrechtlich notwendigen gesetzlichen Grundlagen erhalten. Die Regelung durch ein eigenes Maßregelvollzugsgesetz einerseits oder durch Sonderregelungen im Rahmen eines PsychKG sind – rechtlich betrachtet – gleichwertig. Den Besonderheiten des Umgangs mit forensischen Patienten wird eine Regelung durch besonderes Gesetz jedoch eher gerecht. Neben den Urlaubsregelungen sind dies die vollzuglichen Eingriffsmöglichkeiten (z. B. Kontrolle des Verkehrs mit der Außenwelt, Durchsuchung) sowie die Fragen, die mit dem Behandlungsanspruch des Untergebrachten und der Berücksichtigung oder Einschränkung seiner Selbstbestimmung (KG Berlin NStZ-RR 2008, 92 ff; OLG Hamm NStZ 1987, 144: Ersatz der Zustimmung des Untergebrachten durch die seines Vormundes für den Fall einer psychopharmakologischen Behandlung) bei der Behandlungsplanung zusammenhängen (zu den Rechtsfragen im allgemeinen: Kammeier (Hrsg.) 2002; Volckart/Grünebaum 2003; zur Praxis: Blau/Kammeier 1984; Schumann 1987; Leygraf 1988). 7 Zur Frage der Strafbarkeit bzw. Schadensersatzpflicht wegen Amtspflichtverletzung der Therapeuten und sonstiger Entscheidungsträger bei fehlgeschlagenen Lockerungs- oder Urlaubsmaßnahmen siehe § 11 Rdn. 28.
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Anwendung anderer Vorschriften
§ 138
Anhang: Baden-Württemberg
UnterbringungsG v. 2.12.1991, GBl. S. 794, i. d. F. v. 4. 5. 2009, GBl. 195
Bayern
UnterbringungsG v. 5.4.1992, GVBl. S. 60, i. d. F. v. 28.3.2000, GVBl. S. 136
Berlin
PsychKG v. 8.3.1985, GVBl. S. 586, i. d. F. v. 17.3.1994, GVBl. S. 86
Brandenburg
PsychKG v. 8.2.1996, GVBl. S. 26, i. d. F. v. 29.6.2004, GVBl. S. 342
Bremen
PsychKG v. 19.12.2000, GBl. S. 471, i. d. F. v. 28.6.2005, GVBl. S. 306
Hamburg
MVollzG v. 7.9.2007, GVBl. 2007, 301, i. d. F. v. 7.2.2009, GVBl. S. 29, 34
Hessen
MVollzG v. 3.12.1981, GVBl. S. 414, i. d. F. v. 5.7.2007, GVBl. S. 402
Mecklenburg-Vorpommern
PsychKG v. 13.4.2000, GVBl. S. 736, i. d. F. v. 23.5.2006, GVOBl. S. 194
Niedersachsen
MVollzG v. 1.6.1982, GVBl. S. 131, i. d. F. v. 25.1.2007, Nds. GVBl. S. 51
Nordrhein-Westfalen
MVollzG v. 15.6.1999, GVBl. S. 402, i. d. F. v. 5.4.2005, GVBl. S. 408
Rheinland-Pfalz
MVollzG v. 23.9.1986, GVBl. S. 223, i. d. F. v. 22.12.2004, GVBl. S. 571
Saarland
MVollzG v. 29.11.1989, ABl. 1990 S. 81, i. d. F. v. 5.2.2003, ABl. S. 490
Sachsen
PsychKG v. 10.10.2007, GVBl. S. 422, i. d. F. v. 8.12.2008, GVBl. S. 940
Sachsen-Anhalt
MVollzG v. 9.10.1992, GVBl. S. 736
Schleswig-Holstein
MVollzG v. 19.1.2000, GVOBl. S. 114, i. d. F. v. 31.3.2008, GVOBl. S. 158
Thüringen
PsychKG v. 5.2.2009, GVBl. S. 10
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VIERTER ABSCHNITT
Vollzugsbehörden ERSTER TITEL
Arten und Einrichtung der Justizvollzugsanstalten § 139 Justizvollzugsanstalten Die Freiheitsstrafe sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung werden in Anstalten der Landesjustizverwaltungen (Justizvollzugsanstalten) vollzogen.
I. Allgemeine Hinweise Der Vollzug der Freiheitsstrafe und der Maßregel der Sicherungsverwahrung gehören 1 entsprechend dem Rechtsstaatsmodell des Grundgesetzes zu den Kernaufgaben der Justizverwaltungen der Länder. Diese haben für die Institutionen der Staatsanwaltschaften, Gerichte und Vollzugsanstalten die Kompetenzen für die Ausgestaltung der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, insbesondere ihrer Kooperationsbeziehungen untereinander. Auch die nicht im StVollzG geregelte Untersuchungshaft und der Vollzug der Jugendstrafe finden in Justizvollzugsanstalten statt. Der Vollzug anderer von Strafgerichten verhängten Maßnahmen der Besserung und Sicherung (Entziehungsanstalt, Psychiatrisches Krankenhaus) erfolgt nicht in der Verantwortung der Justiz. Dagegen wird das Zuchtmittel Jugendarrest in eigenen Jugendarrestanstalten oder Freizeitarresträumen der Landesjustizverwaltungen (§ 90 Abs. 2 JGG) vollzogen.
II. Erläuterungen 1. Justizvollzugsanstalt ist die unter einer hauptamtlichen Leitung stehende Behörde 2 (Vollzugsbehörde), die untere selbstständige Verwaltungseinheit auf dem Gebiet des Strafvollzugs. Sie hat Personalhoheit und bewirtschaftet ihr zugewiesene personelle und sachliche Mittel (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3; Böhm 2003 Rdn. 78). Soweit zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung und Einsparung Verwaltungsaufgaben mehrerer Anstalten bei einer zusammengefasst werden, darf die Selbstständigkeit der Anstalt nicht im Kern beeinträchtigt sein. Am 31.3.2007 gab es in Deutschland 194 Justizvollzugsanstalten mit 75756 Gefangenen. Einige Justizvollzugsanstalten verfügen über teilweise weit entfernt liegende Zweiganstalten oder Außenstellen. Die Vollstreckungskammer an dem Landgericht, in dessen Bezirk die Hauptverwaltung der Anstalt liegt – manche Justizvollzugsanstalten unterhalten Zweigstellen in anderen Landgerichtsbezirken – ist dann auch für die Anträge der Gefangenen der Zweiganstalten nach §§ 109 ff und § 57 StGB zuständig (OLG Celle MDR 1978, 594; OLG Stuttgart Die Justiz 1978, 444; BGHSt 28, 135; § 110 Rdn. 2). 2. Eine „Justizvollzugsanstalt“ muss nicht typische bauliche Besonderheiten enthalten. 3 Es ist vorstellbar, dass sich eine Entlassungs- oder Freigängerabteilung einer Justizvollzugsanstalt in einer dafür angemieteten Wohnung eines Privathauses befindet oder dass eine selbstständige, offene Justizvollzugsanstalt aus einem gemieteten Gutshof oder einem Teil
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§ 139
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
desselben besteht (Böhm 2003 Rdn. 81; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 4). Dass Freiheitsstrafe und Unterbringung in der JVA vollzogen werden, bedeutet nicht, dass sich der Gefangene während seiner gesamten Strafzeit oder wenigstens an jedem Tag seiner Strafzeit einige Stunden innerhalb der zu der JVA gehörigen Räume befunden haben muss. Denn auch der Urlauber befindet sich „im Vollzug“ (§ 13 Abs. 5).
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3. Das Gesetz sieht privat geführte Anstalten nicht vor (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2). Dagegen ist es zulässig und seit jeher üblich, dass sich der Anstaltsleiter zur Erfüllung von Vollzugsaufgaben privater Firmen und Dienstleister bedient. Hierbei könnte man weitergehen als bisher üblich, wobei die Grenzen streitig sind (Wagner ZRP 2000, 169; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 72; Böhm 2003 Rdn. 85–87). Insoweit geht es um die Entscheidung, ob private Anbieter die Aufgabe bei gleicher Qualität preiswerter erfüllen können oder sie qualifizierter bewältigen. Der unmittelbaren Verantwortung für die Erfüllung der Vollzugsaufgaben und für die gesetzmäßige Behandlung der Gefangenen kann sich die Vollzugsbehörde in keinem Fall entziehen (Böhm 2003 Rdn. 27). Jedenfalls ist für hoheitliche Eingriffe gegenüber Gefangenen die Grenze des Art. 33 Abs. 4 GG zu beachten (so Arloth 2008 Rdn. 2). In den Bundesländern werden immer mehr Justizvollzugsanstalten von Privaten errichtet und dann vom Staat gekauft, geleast oder gemietet – hier sind überwiegend finanzpolitische Überlegungen entscheidend.
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4. Ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, durch Gesetzesänderung eine vollständige Privatisierung von Anstalten zu ermöglichen, wie dies in anderen Staaten geschieht (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 71; Dessecker (Hrsg.), Privatisierung in der Strafrechtspflege, KrimZ 2008; zu den USA: Bosch/Reichert ZStW 2001, 2079), ist streitig. Zu recht wird ganz überwiegend die Ansicht vertreten, dass eine solche Privatisierung nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsauftrag des GG zu vereinbaren ist und auch aus vollzuglichen Gründen abzulehnen wäre (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 76; Laubenthal 2008 Rdn. 44–47; C/MD 2008 Einleitung Rdn. 45; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2; § 155 Rdn. 1; etwas abweichend – die Rechtsfigur der „Beleihung“ Privater komme in Betracht – Seebode Herrfahrdt (Hrsg.), Strafvollzug in Europa, Hannover 2001, 47, 62 f). Auch die Ländergesetze sehen eine solche vollständige Privatisierung nicht vor.
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 165 BayStVollzG entspricht im Wesentlichen § 139 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 98 Abs. 1 HmbStVollzG entspricht im Wesentlichen § 139 StVollzG. 3. Niedersachsen
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§ 170 NJVollzG regelt die Einrichtung von Anstalten und Abteilungen. Abs. 1 entspricht § 139 StVollzG. Abs. 2 enthält eine Bestandsgarantie für die dort genannten Einrichtungen (vgl. auch §§ 171 und 172).
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Trennung des Vollzuges
§ 140
§ 140 Trennung des Vollzuges (1) Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird in getrennten Anstalten oder in getrennten Abteilungen einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Vollzugsanstalt vollzogen. (2) Frauen sind getrennt von Männern in besonderen Frauenanstalten unterzubringen. Aus besonderen Gründen können für Frauen getrennte Abteilungen in Anstalten für Männer vorgesehen werden. (3) Von der getrennten Unterbringung nach den Absätzen 1 und 2 darf abgewichen werden, um dem Gefangenen die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen in einer anderen Anstalt oder in einer anderen Abteilung zu ermöglichen. Schrifttum: Bandell Zu Strukturproblemen einer Justizvollzugsanstalt, in: Bandell u. a., Hinter Gittern. Wir auch? Frankfurt 1985, 145 ff; Cornel Kawamura-Reindl, Maelicke, Sonnen (Hrsg.), Resozialisierung, Baden-Baden, 2009; Dünkel Aktuelle Daten zur Sicherungsverwahrung, in: FS 2008, 76 ff; Einsele/Bernhardt Frauenanstalten, in: Schwind/Blau 1988, 58 ff; Maelicke Hannelore, Ist Frauenstrafvollzug Männersache?, Baden-Baden 1995; Siekmann Männer und Frauen in derselben Haftanstalt, in: ZfStrVo 1985, 11 ff; Zolondek Lebens- und Haftbedingungen im deutschen und europäischen Frauenstrafvollzug, Bad Godesberg 2007; Zolondek Aktuelle Daten zum Frauenstrafvollzug, FS 2008, 36 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Sicherungsverwahrung . . . . . . 2. Trennung von weiblichen und männlichen Gefangenen . . . . . 3. Abweichung von Trennungsgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . .
1–2 3–6 3 4
Rdn. 4. Gemeinsame Teilnahme an Behandlungsprogrammen . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . .
6 7–9 7 8 9
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I. Allgemeine Hinweise 1. Die in § 140 herausgestellten Trennungsgrundsätze nach Haftart und Ge- 1 schlecht sind die gesetzlichen Vorgaben für den Vollstreckungsplan (§ 152), der weitere Differenzierungen der Anstalten bestimmt. Der Trennungsgrundsatz von § 140 Abs. 1 findet seine Ergänzung in § 92 Abs. 1 JGG, wonach die Jugendstrafe in (selbstständigen) Jugendstrafanstalten vollzogen wird (Brunner/Dölling Rdn. 1 zu § 92). Untersuchungshaft ist in besonderen Justizvollzugsanstalten oder getrennten Abteilungen einer für den Vollzug der Freiheitsstrafe bestimmten Vollzugsanstalt durchzuführen, wobei dann wieder besondere Abteilungen für junge Gefangene vorgesehen sind. Der Trennungsgrundsatz von § 140 Abs. 2 gilt entsprechend auch im Bereich der Untersuchungshaft und faktisch auch im Jugendstrafvollzug . 2. „Getrennte Anstalt“ bedeutet eine unter hauptamtlicher Leitung stehende selbst- 2 ständige (untere) Vollzugsbehörde (Rdn. 2 zu § 139). Entscheidend ist Personalhoheit (d. h., der hauptamtliche Leiter ist Dienstvorgesetzter des bei der Behörde als Stammdienststelle tätigen Personals) und die Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters für den gesamten Vollzug. Alexander Böhm/Bernd Maelicke
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§ 140
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
Die selbstständige Anstalt verfügt auch über fest zugewiesene Haushaltsmittel. Dagegen spricht es nicht gegen das Bestehen einer selbstständigen Anstalt, wenn ein Teil der Verwaltung in einer benachbarten Anstalt untergebracht ist und für beide Anstalten gemeinsam betrieben wird. Auch die gemeinsame Nutzung von Versorgungseinrichtungen (Heizung, Küche) steht der Selbstständigkeit der nützenden Anstalten nicht entgegen (zu den hier entstehenden Problemen: Meyer in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Jugendstrafvollzugskommission, VII.Band, Bonn 1979, 124). Selbstständige Abteilung ist nur eine räumlich von der anderen Anstalt abgetrennte Baulichkeit (eigenes Haus oder getrennter Zellenflügel oder abgetrenntes Geschoss – zu den Mindestvoraussetzungen in einem „Grenzfall“: OLG Hamm ZfStrVo 1988, 61) – mit einem für den Vollzug verantwortlichen Leiter (Abteilungsleiter, Teilanstalts-Leiter) und der Abteilung auf Dauer fest zugewiesenem Personal (Bandell 1985, 145 ff; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2). Auf einer „Station“ nebeneinander liegende Hafträume genügen dem gesetzlichen Begriff einer „Abteilung“ nicht.
II. Erläuterungen 3
1. Eigene Sicherungsverwahrungsanstalten gibt es in Deutschland nicht. Am 31.3. 2007 befanden sich 415 Männer in der Sicherungsverwahrung- davon 5 im offenen Vollzug. Die Verwahrten sind in besonderen Abteilungen von Männeranstalten untergebracht (§§ 129, 130 Rdn. 4). Der Sicherungsverwahrte hat einen Rechtsanspruch auf getrennte Unterbringung (OLG Hamm ZfStrVo 1988, 61). In Betracht kommt angesichts der geringen (aber zunehmenden) Zahl Sicherungsverwahrter auch die Bildung von Vollzugsgemeinschaften der Länder gemäß § 150, wenngleich die Nachteile heimatferner Unterbringung zu beachten sind (Arloth 2008 Rdn. 2).
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2. Die Trennung der weiblichen von den männlichen Gefangenen wird konsequent durchgeführt (Einsele/Bernhardt 1988, 58 ff, 60). Angesichts der geringen Zahl weiblicher Gefangener werden aber die Trennungen nach Haftart und Alter im Frauenstrafvollzug überwiegend durch Einrichtung besonderer Abteilungen für Frauen in Männeranstalten verwirklicht. Lediglich die (alten) Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen folgen der Vorgabe des Gesetzes nach „besonderen Frauenanstalten“. Über Zweidrittel aller weiblichen Inhaftierten befindet sich in getrennten Abteilungen im Männervollzug – die gesetzlich gewollte Ausnahme (aus besonderen Gründen) ist so zur Regel geworden (Hannelore Maelicke, 1995).
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3. Eine Abweichung von den Trennungsgrundsätzen nach Haftart (Abs. 1) und Geschlecht (Abs. 2) ist zulässig, um einem Gefangenen die Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen (§ 7 Rdn. 7) in einer anderen Anstalt oder Abteilung zu ermöglichen. Das Wort „zu ermöglichen“ macht deutlich, dass die Abweichung die Zustimmung des Gefangenen voraussetzt. Ob die Abweichung vorgenommen wird, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Anstaltsleiters (wenn es sich um die Verlegung von einer Abteilung in eine andere derselben Anstalt handelt) oder der Aufsichtsbehörde, wenn eine Verlegung in eine andere Anstalt vorgenommen werden muss (§ 8 Rdn. 6, 10). In Betracht kommen Behandlungsmaßnahmen aller Art, besonders schulische und berufliche Ausbildung, Freizeitkurse, therapeutische Angebote, offene Vollzugsformen (besonders Freigang) – vgl. § 37 Rdn. 24, § 38 Rdn. 14 f. Schon um eine größere Auswahl an Arbeitsmöglichkeiten nutzen zu können, arbeiten in derselben Anstalt untergebrachte Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in der Regel zusammen. Soweit eine Verlegung dazu führt, dass etwa der Sicherungsverwahrte die ihm in der Sicherungsverwahrungsabteilung gewährten besonderen Vollzugserleichterungen (§ 131) in der Anstalt oder Abteilung, in der ihm die Teilnahme an Behandlungsmaß-
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Trennung des Vollzuges
§ 140
nahmen ermöglicht wird, nicht in Anspruch nehmen kann, ist dies angesichts der Freiwilligkeit unbedenklich (OLG Hamburg 22.3.78 – Ws 5/78). 4. Die gemeinsame Teilnahme von Männern und Frauen an Behandlungsprogram- 6 men ist eigens vorgesehen. Im Regelvollzug bestehen in Deutschland damit erst wenig Erfahrungen (Siekmann 1985, 11 ff: offener Vollzug; Pendon ZfStrVo 1988, 362: Ausbildungsmaßnahmen im geschlossenen Vollzug). Die Erweiterung solcher Maßnahmen im Sinne der Normalisierung (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 7; K/S-Kaiser 2002 § 10 Rdn. 76) wird in der Praxis kritisch beurteilt (Einsele/Bernhardt 1988, 66, 67 und Einsele in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskommission, VII. Band, Bonn 1979, 92 und – zu Jugendstrafe verurteilte Frauen betreffend – Steinhilper in: Trenczek (Hrsg.), Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, Bonn 1993, 145, 150; vgl. auch Vor § 76 Rdn. 7). Das Zusammenleben eines gleichzeitig Freiheitsstrafen verbüßenden Ehepaars in einem Haftraum in ehelicher Gemeinschaft steht dem Trennungsgrundsatz des § 140 Abs. 2 entgegen und kann auch aus Art. 6 GG nicht hergeleitet werden (OLG Schleswig ZfStrVo 1981, 64; OLG Hamm NStZ 1984, 432; LG Bonn BlStV 6/1989, 12; C/MD 2008 Rdn. 3; Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. AK-Huchting/Lehmann 2006 § 24 Rdn. 10). Soweit ein Gefangener zu einem Langzeitbesuch zugelassen ist, muss das auch einem inhaftierten Ehepaar im Wege der Besuchszusammenführung gestattet werden. Entgegen der früheren Rechtsprechung (LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1979, 88; OLG Frankfurt 9.1.1981 – 3 Ws 966/80) ist die Verlegung eines transsexuellen, ehemals männlichen Gefangenen in eine Strafanstalt für Frauen geboten, wenn eine Feststellung nach § 8 Transsexuellengesetz (BGBl. I 1980, 1654) erfolgt ist (KG NStZ 2003, 50; C/MD 2008 Rdn. 3; einschränkend Arloth 2008 Rdn. 3).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 166 BayStVollzG entspricht im Wesentlichen § 140 Abs. 1 StVollzG. Ausnahmen von 7 der Unterbringung der Sicherungsverwahrten in getrennten Abteilungen sind nach Abs. 2 Satz 2 nur zulässig, wenn die Zahl der Verwahrten die Einrichtung einer solchen Abteilung nicht rechtfertigt. Abs. 3 fasst die Regelungen des § 140 Abs. 2 Satz 1 und 2 zusammen; Abs. 4 entspricht fast wörtlich § 140 Abs. 3 StVollzG. 2. Hamburg § 98 Abs. 2 bis 5 HmbStVollzG entspricht mit leichten Abweichungen § 140 StVollzG. 8 Frauen und Männer werden „in der Regel“ in getrennten Anstalten oder Abteilungen untergebracht, dies eröffnet flexible Praxisregelungen. Sicherungsverwahrung wird in einer getrennten Abteilung vollzogen, es sei denn, die Untergebrachten stimmen einer anderen Unterbringung zu. Zu beachten ist BVerfGE 109, 133, danach ist der Vollzug nur dann verfassungsgemäß, wenn der besonderen Situation von Sicherungsverwahrten durch einen privilegierten Vollzug, wie ihn §§ 131 bis 134 StVollzG vorzeichnen, Rechnung getragen wird (Arloth 2008 § 129 Rdn. 3). 3. Niedersachsen Die Regelungen der Trennung des Vollzuges finden sich im NJVollzG in den §§ 170, 171 9 und 172. Sie entsprechen inhaltlich weitgehend § 140 StVollzG. Darüberhinaus werden die Möglichkeiten einer anderweitigen Unterbringung erheblich erweitert, so z. B. aus „dringenden Gründen der Vollzugsorganisation“. Dies eröffnet einen bedenklichen Ermessensspielraum, der allerdings gerichtlich überprüfbar ist. Alexander Böhm/Bernd Maelicke
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Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
§ 141 Differenzierung (1) Für den Vollzug der Freiheitsstrafe sind Haftplätze vorzusehen in verschiedenen Anstalten oder Abteilungen, in denen eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung gewährleistet ist. (2) Anstalten des geschlossenen Vollzuges sehen eine sichere Unterbringung vor, Anstalten des offenen Vollzuges keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen. VV 1 Im geschlossenen Vollzug sind die Gefangenen außerhalb der Hafträume, insbesondere beim Zusammenkommen in größeren Gemeinschaftsräumen, auf den Höfen und sonst im Freien ständig und unmittelbar zu beaufsichtigen. Soweit nicht besondere Richtlinien entgegenstehen, kann der Anstaltsleiter bestimmen, in welchem Umfang die Aufsicht gelockert werden darf. 2 (1) Im offenen Vollzug können bauliche und technische Sicherungsvorkehrungen, insbesondere Umfassungsmauer, Fenstergitter und besonders gesicherte Türen, entfallen. Innerhalb der Anstalt entfällt in der Regel die ständige und unmittelbare Aufsicht. (2) Für die Gestaltung des offenen Vollzuges gelten folgende Grundsätze: a) den Gefangenen wird ermöglicht, sich innerhalb der Anstalt nach Maßgabe der dafür getroffenen Regelungen frei zu bewegen, b) die Außentüren der Unterkunftsgebäude können zeitweise unverschlossen bleiben, c) die Wohnräume der Gefangenen können auch während der Ruhezeit geöffnet bleiben. Schrifttum: Andrews/Bonta/Wormith The recent and past and near future of risk and/or need assessment, in: Crime and Delinquency 2006, 7 ff; Andrews/Zinger/Hoge/Bonta/Gendreau/Cullen Does Correctional Treatment Work? A Clinically Relevant and Psychologically Informed Meta-Analysis, in: Criminology 1990, 369 ff; Cornel Die Gefährlichkeit von Gefährlichkeitsprognosen, in: NK 3/1994, 21 ff; Dahle Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.) Handbuch der forensischen Psychiatrie, Stuttgart 2006, Bd. 3, 1 ff; Dünkel/Geng Fakten zur Überbelegung im Strafvollzug und Wege zur Reduzierung von Gefangenenraten, in: NK 4/2003, 146 ff; Egg (Hrsg.) „Gefährliche Straftäter“. Eine Problemgruppe der Kriminalpolitik?, Wiesbaden 2005; Egg/Ellrich Sozialtherapie im Strafvollzug 2008, Ergebnisübersicht zur Stichtagserhebung zum 31.03.2008, Wiesbaden 2008; Haller Evaluation der Gefährlichkeitsprognose im Straf- und Maßregelvollzug, in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.) Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, Entwicklungs- und Evaluationsforschung, Godesberg 2007, 521 ff; Huchzermeier/Goth/Köhler/Hinrichs/Aldenhoff Psychopathie und Persönlichkeitsstörungen, Beziehungen der „Psychopathie-Checkliste“ nach Hare zu der Klassifikation der DSM-IV bei Gewaltstraftätern, in: MschrKrim 2003, 206 ff; Jung/Müller-Dietz Vorschläge zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, Fachausschuß I „Strafrecht und Strafvollzug“ des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe, Bonn-Bad Godesberg 1974; Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2006; Kaiser/Schöch Strafvollzug. Eine Einführung in die Grundlagen, Heidelberg 2003; Krebs Freiheitsentzug, Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung, Berlin 1978; v. Liszt Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ders. (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Berlin 1905; Lösel Meta-analytische Beiträge zur wiederbelebten Diskussion des Behandlungsgedankens, in: Steller/Dahle/Basqué (Hrsg.), Straftäterbehandlung, Pfaffenweiler 1994, 13 ff; Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.) Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, Entwicklungs- und Evaluationsforschung, Godesberg 2007; Lombroso Der Verbrecher, Hamburg 1887; McGuire (Eds.) What Works? Reducing Reoffending. Guidelines from Research and Practice, Chichester 1995; McKenzie What Works in
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Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Differenzierungsbegriff . . . . 2. Geschichtlicher Hintergrund . 3. Absicht des Gesetzgebers . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Differenzierungsarten . . . . a) externe Differenzierung . . b) interne Differenzierung . . 2. Behandlungsbedürfnisse . . . a) formale Klassifizierung . . b) individuelle Klassifizierung c) differentielle Effekte . . . .
Rdn.
Rdn.
. 1–6 . 1–2 . 3–4 . 5–6 . 7–21 . 7–9 . 8 . 9 . 10–13 . 11 . 12 . 13
3. Sicherheitserfordernisse . . . . 14–17 a) Gefährlichkeit der Gefangenen 15 b) Sicherungsniveau der Anstalten 16 c) kontraproduktive Effekte . . 17 4. Offener Vollzug . . . . . . . . . 18–21 a) Anzahl der Gefangenen . . . 19 b) Eignung für den offenen Vollzug 20 c) Eignungsprognosen . . . . . 21 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 22–24 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 23 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 24
I. Allgemeine Hinweise 1. Wie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft hat der Differenzierungsbegriff 1 auch im Rahmen der Diskussion um die Fortentwicklung des Strafvollzuges eine bedeutende Rolle gespielt. Abstrakt bezeichnet er die Aufgliederung eines Ganzen in verschiedenartige Elemente mit spezifischen Strukturen, Funktionen oder Leistungspotentialen. Konkret auf den Strafvollzug bezogen ist die Schaffung unterschiedlicher Vollzugsformen gemeint, die jeweils spezielle Angebotsmerkmale und Sicherheitsvorkehrungen aufweisen,
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um den unterschiedlichen Behandlungsbedürfnissen einer in vielfacher Hinsicht heterogenen Vollzugspopulation angemessen und effektiv Rechnung tragen zu können. In der Reformdiskussion sah Schüler-Springorum (1969, 223) den Begriff gar als eine Art Zauberwort, das gewissermaßen als Pendant zu dem für den modernen Behandlungsvollzug ebenfalls bedeutsamen Klassifizierungsbegriff zu betrachten ist (vgl. zu den Begriffen auch Paetow 1972; Müller-Dietz 1977). 2 Gemäß der terminologischen Unterscheidung zwischen Differenzierung und Klassifizierung sind die Gefangenen auf der Grundlage von Behandlungsuntersuchungen (§ 6) in Gruppen mit je gleichen oder ähnlichen Behandlungsbedürfnissen zu unterteilen, um sie dann per Vollzugs- und Behandlungsplänen (§ 7) Anstalten oder Anstaltsabteilungen mit bedarfsgerechten Maßnahmeangeboten zuweisen zu können. In Anlehnung an die griffige Formulierung Schüler-Springorums (1969, 223): „,klassifiziert‘ werden Gefangene, ,differenziert‘ wird der Vollzug“, ist also zwischen der individuellen Erfassung von Behandlungserfordernissen und der organisatorischen Bereitstellung von Behandlungs- und Unterbringungsmöglichkeiten im Rahmen eines gegliederten Vollzugssystems zu unterscheiden. Aber natürlich bedingen Klassifizierung der Gefangenen und Differenzierung der Anstalten einander insofern, als die Diagnose unterschiedlicher Behandlungserfordernisse ins Leere geht, wenn keine darauf bezogenen Behandlungseinrichtungen existieren, während die Schaffung eben dieser Einrichtungen ebenfalls wenig Erfolg verspricht, solange nicht festgestellt werden kann, welche Gefangenen ihrer bedürfen oder sich für sie eignen und welche nicht (vgl. auch Müller-Dietz 1977, 18; Mey 1996).
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2. Die Literatur über den geschichtlichen Hintergrund des modernen Strafvollzuges bietet vielfältiges Material, um das Thema „Vollzugsform und Differenzierung der Anstalten“ über mehr als zwei Jahrhunderte zurückverfolgen zu können, wie Krebs (1978, 17) zeigt. Ihm zufolge klingt eine Art von Differenzierung bereits bei John Howard an, der schon 1778 nicht nur die Trennung der Gefangenen nach Alter und Geschlecht als notwendig ansah, sondern der auch die „Willigen und Fleißigen“ (s. Krebs 1978, 47) bei ihrer Unterbringung und Ernährung begünstigt sehen wollte. In der Tat war es noch um 1800 keineswegs selbstverständlich, Männer und Frauen getrennt in den Gefängnissen unterzubringen, wie es der Trennungsgrundsatz des § 140 heute zwingend vorschreibt (vgl. K/S-Kaiser 2003 § 10 Rdn. 72), und in Deutschland war ein im Jahr 1804 vom preußischen Justizministerium vorgelegter Reformplan, der u. a. sowohl eine Differenzierung der Anstalten nach Zweck und baulicher Struktur als auch eine weitergehende Klassifizierung der Gefangenen sowie Anfänge des Stufenstrafvollzuges vorsah, noch zum Scheitern verurteilt. 4 Die historischen Vorläufer der heutigen Klassifizierungen beschränkten sich über lange Zeit auf eher simplifizierende Zuschreibungen spezifischer Leistungs-, Motivationsoder Verhaltensattribute (s. o.) bzw. auf die Einteilung der Inhaftierten in vorwissenschaftliche und – seit Lombroso (1887) – vor allem medizinisch-anthropologische „Verbrechertypologien“. So ging beispielsweise auch v. Liszts (Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Zweiter Band, 1905) Forderung nach einer spezialpräventiven Differenzierung des Strafensystems, die sich an Abschreckung, Besserung und Sicherung orientierte und die erhebliche Veränderungen im deutschen Strafrecht nach sich zog, auf eine Dreiteilung der Straffälligen in Gelegenheitsverbrecher, besserungsfähige und unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher zurück (vgl. Schöch 1993, 215). Im Zuge der weiteren Strafvollzugsreform und der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Diagnostik sind aber zunehmend komplexere Täter- und Persönlichkeitstypologien sowie regelrechte „Checklisten“ (vgl. beispielhaft für Gewalttäter Huchzermeier u. a. 2003) entwickelt worden, die neben oder zusätzlich zu formalen Merkmalen der Gefangenen (z. B. Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit) und relativ unbestimmten,
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aus der Tat oder dem Gerichtsurteil abgeleiteten Merkmalen „krimineller Gefährdung“ oder „individueller Gefährlichkeit“ benutzt werden, um die diagnostische Basis für differenzierte, dem Vollzugsziel des modernen Strafvollzuges Rechnung tragende Behandlungsstrategien zu legen. 3. Nach K/S-Kaiser 2003 § 10 Rdn. 13 sind Differenzierung der Anstalten und Klassifi- 5 zierung der Gefangenen „die unabdingbare Grundlage eines Strafvollzugssystems, das in erster Linie zum Ziel hat, den Straftäter zu einem Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen (§ 2)“. Nach der Absicht des Gesetzgebers muss sich dies in der inneren und äußeren Organisationsstruktur des Vollzuges niederschlagen. Dabei darf sich die geforderte Differenzierung nicht allein auf die Bereitstellung von Einrichtungen mit unterschiedlichen Sicherungsvorkehrungen beschränken (Abs. 2). Vielmehr müssen explizit Haftplätze in Anstalten oder Abteilungen mit unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden, um den entsprechenden Bedürfnissen der Inhaftierten gerecht werden zu können (Abs. 1). Ausdrücklich wird im Hinblick auf die Art der vorzuhaltenden Einrichtungen im Gesetzestext allerdings lediglich zwischen Anstalten des geschlossenen und des offenen Vollzuges unterschieden, während Einrichtungen für spezifische Behandlungszwecke hier nicht gleichermaßen explizit benannt werden. Das Differenzierungsprinzip ist tatsächlich im Laufe der Beratungen zum StVollzG im- 6 mer weniger bestimmt formuliert worden. Während § 134 KE und § 7 AE-StVollzG noch ausdrücklich aufzählen, welche Anstaltsarten mindestens einzurichten sind, verzichtet der RE hierauf mit der Begründung, auf diese Weise eine möglichst große Elastizität zur Fortentwicklung des Strafvollzuges in den einzelnen Bundesländern zu gewährleisten (BTDrucks. 7/918, 92; ähnlich auch die Begründung zu § 173 NJVollzG, s. Rdn. 24). Angesichts der Tatsache, das sich die Vorstellungen über Art und Organisation der als erforderlich erachteten Behandlungsangebote im Laufe der Zeit verändern können, erscheint dieses Argument durchaus vernünftig. Allerdings kann ein solcher Verzicht nicht nur Reformbemühungen, sondern durchaus auch das Beharren auf alten Zuständen fördern. Umgekehrt steht ein vorgeschriebener Mindestumfang der Differenzierung einer Weiterentwicklung des Strafvollzuges nicht zwangsläufig entgegen (vgl. Jung/Müller-Dietz 1974, 137), vor allem dann nicht, wenn, wie beispielsweise in § 7 AE-StVollzG vorgesehen, Modellanstalten zur Erprobung neuer Vollzugsarten eingerichtet und die vorgeschriebenen Differenzierungsformen mit Hilfe wissenschaftlicher Begleitforschung gem. § 166 kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit geprüft und weiter entwickelt werden. Müller-Dietz (1977, 24) vermutet, dass sich in der Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Aufzählung von einzurichtenden Sonderanstalten Zweifel am Klassifikationssystem ausdrücken. Die im RE individualistischer gehaltene Forderung nach einem auf die Bedürfnisse „des einzelnen Gefangenen“ abgestimmten Behandlungsangebot, die ähnlich auch in § 99 HmbStVollzG anklingt, ist durch die Beratungen im Bundesrat mit der Begründung abgeschwächt worden, eine so weitgehende Differenzierung sei weder zu realisieren, noch sei sie zur Erreichung des Vollzugsziels (§ 2) erforderlich (BT-Drucks. 7/918, 125). Zu einer fortschreitenden Differenzierung der Anstalten konnte das StVollzG somit keine deutlichen Anstöße geben. Die Unbestimmtheit der Vorschriften des StVollzG zum Aufbau und zur Ausgestaltung der Vollzugsorganisation und die gerade hier sehr weit reichenden Ausnahmeregelungen sind letztlich wohl auch ein Zugeständnis an die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bundesländer, in diesem Bereich Veränderungen zu erreichen. Es bleibt somit faktisch Aufgabe der Bundesländer, den Differenzierungsgrundsatz mit Blick auf die jeweils verfügbaren Ressourcen zu gestalten (vgl. auch Laubenthal 2008 Rdn. 62). In den landesgesetzlichen Regelungen (vgl. Rdn. 22 ff) wird dies auf durchaus unterschiedliche Weise deutlich. So hebt die Be-
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gründung der Differenzierungsvorschrift des § 173 (Entwurf § 166) 2 NJVollzG (LT-Drucks. 15/3565, 207) besonders hervor, dass die Sicherung der erforderlichen (Haushalts-)Mittel u.a. durch die Ausrichtung der Organisation des Justizvollzuges an dessen Zielen und Aufgaben gewährleistet werden solle. In der Begründung zu Art. 167 Abs. 1 BayVollzG (LTDrucks. 15/8101, 88) wird mit anderer Schwerpunktsetzung betont, dass Differenzierungen vorgeschrieben seien, um den jeweils besonderen Behandlungs- und Sicherheitsbedürfnissen zu genügen und zugleich den Behandlungsauftrag mit wirtschaftlich vertretbaren Mitteln erfüllen zu können (entsprechend für die bundesrechtliche Regelung Arloth 2008 Rdn. 1).
II. Erläuterungen 7
1. Zur Umsetzung des Abs. 1 sind verschiedene Differenzierungsarten denkbar. Da das Differenzierungsprinzip ausdrücklich auf Haftplätze und nicht etwa ausschließlich auf Anstaltsarten abstellt, kann zwischen externer und interner Differenzierung, aber auch zwischen einer Differenzierung nach formalen oder individuellen Klassifizierungsmerkmalen der Gefangenen unterschieden werden.
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a) Um den heterogenen Behandlungsbedürfnissen der Gefangenen gerecht zu werden, können im Wege externer Differenzierung Anstalten mit unterschiedlichem Sicherheitsund Lockerungsniveau, divergierender Größe, Bau- und Organisationsform, verschiedenartigen Arbeits- und Freizeitprogrammen, spezifischen Behandlungsangeboten und spezialisiertem Personal für bestimmte Tätergruppen vorgehalten werden (Beispiele bei Laubenthal 2008 Rdn. 63 ff). Konkret beinhaltet dies nicht nur die Einrichtung von Anstalten des offenen und geschlossenen Vollzugs, sondern auch von Einrichtungen mit Schwerpunkt- oder Spezialaufgaben wie z. B. Sozialtherapeutische Anstalten, Einrichtungen zur Durchführung des Aufnahmeverfahrens oder der Entlassungsvorbereitung; Zentren für schulische oder berufliche Bildungsmaßnahmen, Anstalten für Frauen und Mutter-Kind-Einrichtungen, Einrichtungen des Altenstrafvollzuges oder für junge Erwachsene („Jungtäter“), Behandlungsstätten für drogenabhängige oder psychisch kranke Straftäter. Dabei ist unter anderem aus Gründen der Kostenreduktion auch an die Schaffung von Verbundanstalten im Rahmen von Länder übergreifenden Vollzugsgemeinschaften zu denken, die § 150 vorsieht. Nicht zuletzt deshalb ist die externe Differenzierung in Verbindung mit dem Vollstreckungsplan (§ 152) zu sehen, während ein nicht an Vollzugseinrichtungen, sondern allein an Haftplätzen orientiertes Differenzierungsverständnis mit der Bezugnahme auf den Vollzugsplan gemäß § 7 auskommen mag (s. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 1–3). Soweit die Zuweisung der Gefangenen in spezielle Anstalten nicht allein nach formalen Kriterien, sondern auf der Grundlage problembezogener Behandlungsuntersuchungen erfolgt, kann diese Form der Differenzierung zudem eng mit der Einrichtung von Einweisungsanstalten verbunden sein, in denen eine systematische Klassifizierung der Gefangenen, die einzelfallbezogene Empfehlung von spezifischen Behandlungsmaßnahmen und die daran anschließende Festlegung der jeweils zuständigen Anstalt erfolgt. Ein Beispiel bietet das in Nordrhein-Westfalen bereits 1971 eingerichtete und seither mehrfach modifizierte Einweisungsverfahren (vgl. Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2006, 17 ff).
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b) Eine starke externe Differenzierung geht allerdings vor allem in den Flächenstaaten tendenziell zu Lasten der heimatnahen Unterbringung der Gefangenen und erschwert damit die für die spätere Wiedereingliederung gleichfalls als wichtig anzusehende Aufrechterhaltung familiärer und sozialer Bindungen. Für die kleineren Bundesländer und Stadtstaaten trifft dies natürlich weniger zu, doch fehlen gerade ihnen die finanziellen und personellen Ressourcen zur Schaffung eines Systems differenzierter Anstaltsarten. Eingeschränkt
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werden die Möglichkeiten der externen Differenzierung zudem dadurch, dass eine (vorgeschaltete) Behandlungsuntersuchung gemäß VV zu § 6 für Gefangene mit einer Vollzugsdauer bis zu einem Jahr in der Regel nicht geboten ist. Folglich kann die interne Differenzierung – auch „Binnendifferenzierung“ – also die Bereitstellung eines möglichst breit gefächerten und flexibler anwendbaren Maßnahmeangebots innerhalb einzelner Anstalten durch Etablierung speziell ausgestatteter Vollzugseinheiten, Abteilungen, Wohngruppen oder auch Einzelhaftplätze, als geeignete Alternative erscheinen. So wird etwa im Hamburger Strafvollzugsgesetz (§ 99 HmbStVollzG) ausdrücklich auf eine „Unterbringung der Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen“ abgestellt. Interne Differenzierungsmöglichkeiten sind schließlich auch deshalb in Betracht zu ziehen, weil die Zahl der Justizvollzugsanstalten im Laufe der Zeit deutlich gesunken ist. Während es 1961 in der Bundesrepublik insgesamt 362 Anstalten gab, waren es 1992 im früheren Bundesgebiet nur noch 171 Anstalten. Nach der Wiedervereinigung stieg die Anzahl dann zwar wieder auf 195 Anstalten in 2008 (mit einem Höchststand von 222 in 2001), aber gleichzeitig erhöhte sich die Zahl der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten seit Anfang der 1960er Jahre von 57.051 auf 75.056 (vgl. Strafvollzugsstatistik, Bd. 4.2, 5). Rechnerisch stehen damit zurzeit lediglich 2,6 Anstalten pro 1.000 Gefangene und Verwahrte zur Verfügung, während sich für den Beginn der sechziger Jahre eine Vergleichsquote von 6,3 Anstalten errechnen lässt! Die Verringerung der Anstalten und damit des externen Differenzierungspotentials geht dabei weitgehend auf den Verlust der Selbständigkeit oder die Schließung kleinerer Anstalten zurück, die ihrerseits weniger interne Differenzierungsmöglichkeiten bieten. Bei wachsendem Belegungsdruck, der teilweise prekären Raumknappheit und der fiskalisch begründeten Unmöglichkeit, alle Anstalten gleichermaßen mit den geforderten diagnostischen Kompetenzen und behandlerischen Ressourcen auszustatten, können allerdings auch größere Anstalten nicht alle Differenzierungserfordernisse intern lösen, so dass eine Mischung der beiden Differenzierungsformen unabdingbar ist. 2. Abs. 1 garantiert nicht, dass jeder Gefangene Anspruch auf einen genau seinen Be- 10 handlungsbedürfnissen entsprechenden Haftplatz hat, impliziert aber eine Vollzugsdifferenzierung, die geeignet ist, die Umsetzung der Vollzugspläne (§ 7) zu gewährleisten. Insofern fehlt es hier nicht nur dem Behandlungsbegriff (vgl. Mey 1987, 43; Schriever 2006, 262), sondern auch dem Bedürfnisbegriff an Eindeutigkeit. Nicht subjektiv empfundene Mängellagen, sondern professionell diagnostizierte Problemlagen, nicht das Bedürfnisempfinden des Gefangenen, sondern die Bedarfsdefinition der Fachdienste bilden die Grundlage einer wie auch immer gearteten Behandlung. Diese kann auf der Grundlage von Zuschreibungen einer förmlichen Zielgruppenzugehörigkeit oder als Resultat einer fachlich festgestellten Behandlungsbedürftigkeit bzw. einer darauf bezogenen individuellen Behandlungsempfehlung erfolgen, welche wiederum stets an der Erreichung des Vollzugszieles zu orientieren ist. Dabei werden allerdings ergänzend auch Eignungskriterien (Motivation und Fähigkeit zur Teilnahme) sowie die interne oder externe Verfügbarkeit entsprechender Behandlungskapazitäten zu prüfen sein – nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass bei den Gefangenen unerfüllbare Hoffnungen geweckt und dadurch neue Konflikte erzeugt werden. Angesichts veränderlicher Problemlagen und sich wandelnder Vollzugspopulationen muss von den Strafvollzugsbehörden erwartet werden, dass die aus den Behandlungsuntersuchungen ableitbaren Handlungsbedarfe systematisch – ggf. mit den Mitteln des Kriminologischen Dienstes gemäß § 166 – erfasst werden, um eine kontinuierliche Anpassung des Behandlungsangebotes an die jeweiligen Erfordernisse zu ermöglichen (vgl. dazu auch Mey/Wirth 1999). Gleichwohl ist es bei realistischer Betrachtung kaum erwartbar, dass im
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Strafvollzug stets alle denkbaren und vielleicht wünschenswerten Behandlungsmaßnahmen vorgehalten werden können, zumal sich die entsprechenden „Wunschzettel“ der beteiligten Fachdienste bzw. ihrer jeweiligen Fachdisziplinen teilweise erheblich hinsichtlich Art, Umfang und Gewichtung unterscheiden. Sieht der Vollzugsplan allerdings eine spezifische Behandlungsmaßnahme nach § 7 Abs. 2 Nr. 2–8 vor und wird diese dem betreffenden Gefangenen während der Haftzeit mangels ausreichender Ressourcen völlig vorenthalten, so ist nach AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3 ein Verstoß gegen die Bereitstellungsverpflichtung gegeben.
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a) Formale Klassifizierungen als Grundlage der Vollzugsdifferenzierung entsprechen im Wesentlichen den Merkmalen des Vollstreckungsplans (§ 152) und orientieren sich an sachlichen oder örtlichen Kriterien wie z. B. Geschlecht, Alter, Nationalität, Haftart, Vollzugsdauer, Inhaftierungshäufigkeit, Art der Straftat, Wohnort, Aufenthaltsort und/oder Gerichtsbezirk. Die damit verbundenen allgemeinen Differenzierungen des Vollzuges (z. B. in Einrichtungen für Jugendliche, Frauen, Mütter mit Kindern, Sicherungsverwahrte) erlauben aber nicht per se eine an individuellen Problem- und Mängellagen orientierte Behandlung, wie etwa das Beispiel der Formalklassifikation „Staatsangehörigkeit“ zeigt. Angesichts der Tatsache, dass der Ausländeranteil im Vollzug der Freiheitsstrafe mittlerweile 22 % beträgt (Strafvollzugsstatistik 2007, Bd. 4.1, 15) und dass dabei beispielsweise in NRW Gefangene aus 117 verschiedenen Herkunftsländern einsitzen (Justizministerium NRW 2006, 30), erscheint die Schaffung entsprechend differenzierter Einrichtungen, in denen die jeweiligen kulturellen und sprachlichen Barrieren tatsächlich überwunden werden könnten, unrealistisch. Zumindest bei den hier geborenen Ausländern und jenen, die keine Ausweisung zu befürchten haben, ist eine Separierung zudem abzulehnen, da sie in der Regel keine Sprachprobleme haben und da die gemeinsame Unterbringung mit Deutschen auch im Interesse der späteren Wiedereingliederung liegt.
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b) Im Interesse einer erfolgreichen Behandlung sind folglich individuelle Klassifizierungen, die nicht an allgemeinen sozio-demographischen Merkmalen der Gefangenen, sondern substantiell an ihren spezifischen psycho-sozialen Problem- und Mängellagen ansetzen, unverzichtbar. Dies sind vor allem die vielfach dokumentierten Folgen unzureichender Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit, die primär nach (sozial)pädagogischen Maßnahmen und sozio-ökonomischen Wiedereingliederungshilfen verlangen. Es sind aber auch diffizile psychische Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen, die im Rahmen der Behandlungsuntersuchung mit unterschiedlichsten (psychologischen) Test- und Diagnoseverfahren erforscht werden müssen, um differenzierte (sozial)-therapeutische Hilfen anbieten zu können. Entsprechende Bemühungen zur Anstalts- und Haftplatzdifferenzierung findet man folglich besonders häufig im Bereich beruflicher und schulischer Bildung (vgl. allgemein § 37) sowie bei den Sozialtherapeutischen Anstalten und Abteilungen (§§ 123 ff; zum aktuellen Stand: Egg und Ellrich 2008). Bei der großen Zahl drogenabhängiger Gefangener liegt der Differenzierungsbedarf (z. B. in Wohngruppen, Therapieeinrichtungen, drogenfreien Abteilungen) ebenfalls auf der Hand, auch wenn allzu hoch gesteckte Erwartungen in die Bemühungen zur Bewältigung schwerwiegender Drogenprobleme im Strafvollzug als illusorisch betrachtet werden müssen (vgl. Wirth 2002). Grundsätzlich gilt dies sicher auch für die Sexualstraftäterbehandlung, deren Art und Wirksamkeit stets ein besonders großes öffentliches Interesse findet.
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c) Wirkungspotentiale und Effektivität der spezifischen Behandlungsmaßnahmen werden allerdings nach wie vor kontrovers diskutiert. Dabei verliert die schon fast zum geflügelten Wort gewordene „Nothing-Works“-These aber durch eine intensivierte Suche nach Antworten auf gezielte „What-Works?“-Fragen (McGuire 1995, McKenzie 2006) an Einfluss,
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die auch in Deutschland den Ruf nach einer evidenzbasierten Vollzugsgestaltung oder wissensbasierten Kriminalpolitik lauter werden lassen (vgl. Lösel, Bender und Jehle 2007). Zunehmend werden „differentielle Effekte“ (Lösel 1994, 23) unterschiedlicher Behandlungsmethoden etwa in der Sozialtherapie, aber auch bei berufsfördernden Maßnahmen (Wirth 1998) bestätigt, wobei allerdings die aus der Differenzierung des Maßnahmeangebotes und der gezielten Zuweisung der Maßnahmeteilnehmer resultierenden Selektivitätseffekte stets mitgedacht werden müssen (Ortmann 1992, 436 ff). Die Forschungsergebnisse zeigen auch, dass differenzierte Behandlungsmaßnahmen nur dann die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können, wenn sie konsequent und responsiv (vgl. zum allgemeinen „Responsiveness“-Konzept Wirth 1991) auf die besonderen Lebens- und Problemlagen der jeweiligen Zielgruppen zugeschnitten sind – gewiss ist auch dies eine Herausforderung zur kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung der formalen/professionellen Bedarfsdefinitionen des Vollzuges an die realen/individuellen Bedürfnisse der Gefangenen. Dabei verlangen die oftmals multiplen Problembelastungen der Inhaftierten allerdings vielschichtige Diagnoseund nicht selten integrierte Behandlungsansätze, die der organisatorischen Untergliederung des Strafvollzugssystems auch inhaltliche Grenzen setzen. Bei der Differenzierung der Anstalten und der Spezialisierung der Fachdienste muss deshalb darauf geachtet werden, dass die stets gegebene Gefahr konzeptioneller Einseitigkeit durch eine anstalts- oder abteilungsübergreifende Integration des gesamten Behandlungsangebotes vermieden wird, was letztlich weniger mit Personalvermehrung als vielmehr mit einer ständig zu verbessernden Zusammenarbeit zwischen den Anstalten und ihren Bediensteten sowie mit externen Trägern der Straffälligenhilfe zu erreichen ist (s. dazu auch § 154). 3. Neben dem hier zum Ausdruck kommenden „need principle“ wird aber in der For- 14 schungsliteratur auch auf die Bedeutung des „risk principle“ (grundlegend Andrews u. a. 1990, 374 f, ders. u. a. 2006) hingewiesen. Danach müssen besondere Risikogruppen im Interesse der allgemeinen Vollzugszielerreichung besonders intensive Behandlungsmaßnahmen erfahren, was insbesondere im angelsächsischen Bereich zur Entwicklung von korrespondierenden Instrumenten des „risk and need assessment“ geführt hat (vgl. Wirth 2007, 323 ff). Soweit damit besonders gefährliche und rückfallgefährdete Gefangene angesprochen sind, wäre es unverantwortlich, das Differenzierungserfordernis nicht auf Möglichkeiten zur sicheren Unterbringung zu beziehen, doch wäre es gleichwohl verfehlt, sich allein darauf zu beschränken. Vielmehr ist sogar gerade für diese Tätergruppen eine beständige Ausweitung und Verbesserung der Behandlungsangebote zu fordern, zumal es auch der mit dem Sicherungsgedanken primär verbundene Schutz der Allgemeinheit erfordert, dass der dem Behandlungsgedanken zu Grunde liegende Resozialisierungsauftrag sehr ernst genommen wird (vgl. dazu auch Steindorfner 2003, 7 f; zur Behandlung „gefährlicher Straftäter“ allgemein Rehn/Wischka/Lösel/Walter 2001; Egg 2005). Eine differenzierte Erforschung der Persönlichkeit und Lebenslage der Gefangenen zur Bestimmung der jeweils angezeigten, angemessenen und Erfolg versprechenden Therapie-, Trainings-, Bildungs-, Arbeits-, Beratungs- oder Vermittlungsangebote sowie die gleichsam personenbezogene Einschätzung von Sicherheitsgefährdungen müssen bei Entscheidungen über die Einweisung der Gefangenen in mehr oder weniger gesicherte Anstalten bzw. Anstaltsbereiche Hand in Hand gehen. Behandlungsbedürfnisse und Sicherheitserfordernisse sind damit als die zwei Seiten der einen Medaille „Differenzierung“ anzusehen. Allerdings ist die Unterteilung der Anstalten nach unterschiedlichem Sicherheitsgrad gewissermaßen als „klassische Differenzierung“ (Hauf 1994, 84) zu betrachten. a) Hinsichtlich der Sicherheit im Vollzug ist nach Suhrbier (2001, 103 ff) zwischen 15 „äußerer Sicherheit“ (z. B. Maßnahmen gegen Fluchtversuche und Fluchthilfe, Angriffe
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und Sabotageakte, Einschleusen unerlaubter Gegenstände, verbotene Außenkontakte der Gefangenen) und „innerer Sicherheit“ (z. B. Verschluss der Gefangenen in den Hafträumen, Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt, Beherrschung von Geiselnahmen, Meutereien, Verhinderung von Sachbeschädigungen) zu unterscheiden. Die Gewährleistung der Sicherheit ergibt sich demnach aus Art und Intensität instrumenteller (baulich-technischer) Vorkehrungen, administrativer Vorgaben, kooperativen Handelns der beteiligten Behörden und Bediensteten sowie der Sozialkontakte zu den Gefangenen – wobei jedes für sich natürlich die Behandlungsmöglichkeiten mehr oder weniger stark beeinflusst. Die Einrichtung von besonders gesicherten Anstalten oder Abteilungen wird vor allem mit der Gefährlichkeit der Gefangenen legitimiert, einem Klassifizierungsmerkmal, das sowohl aus der Art und Häufigkeit begangener Straftaten als auch aus dem Verhalten in der Anstalt und der Prognose des individuellen Rückfallrisikos abgeleitet wird. Für eine problemorientierte Vollzugsdifferenzierung sind statistische Kategorisierungen der Straftatbestände, Haftdauer oder Vorbelastung allein nicht ausreichend, doch sind auch individuelle Gefährlichkeitsprognosen heftig umstritten (vgl. Haller 2007, 522). Da eine absolut sichere Prognose menschlichen Verhaltens letztlich unmöglich ist, besteht hier neben der Gefahr negativer Etikettierungen und Stigmatisierungen auch die Gefahr der „Übersicherung von ungefährlichen Personen“ und einer im Hinblick auf verfügbare Behandlungsmaßnahmen selektiven Benachteiligung ungünstig beurteilter Gefangener (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 7 f), was wiederum zum Scheitern der Resozialisierungsbemühungen, wenn nicht gar zu einer Erhöhung des Rückfallrisikos führen kann. Insofern ist beidem mit Nachdruck entgegenzuwirken. Gleichwohl ist es im Interesse der inneren und äußeren Sicherheit der Anstalt sowie zum Schutz der Bevölkerung vor allem mit Blick auf die Praxis vollzuglicher Lockerungen (§ 11) unerlässlich, das Gefährlichkeitspotential der Gefangenen im Einzelfall sorgfältig abzuschätzen. Die Unzulänglichkeit – Cornel (1994) spricht gar von der „Gefährlichkeit von Gefährlichkeitsprognosen“ – darf allerdings nicht außer acht gelassen werden, wenn über die Unterbringung der Gefangenen in mehr oder weniger gesicherten Vollzugseinrichtungen entschieden wird (zu den Risiken von Gefährlichkeitsprognosen vgl. auch Woynar 2000; allgemein zur Kriminalprognose Dahle 2006).
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b) Abs. 2 unterscheidet zwischen geschlossenen Vollzugsanstalten, die eine sichere Unterbringung der Gefangenen vorsehen, und Anstalten des offenen Vollzuges, in denen keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen zu treffen sind. Über die konkrete Ausgestaltung maximaler Sicherheitsstufen und minimaler Vorkehrungen gegen Entweichungen gibt es allerdings unterschiedliche Vorstellungen. So wird das in der bundesgesetzlichen Regelung enthaltene Kriterium „keine“ Entweichungsvorkehrungen beispielsweise in Art. 167 BayVollzG (vgl. Rdn. 22), in dessen Begründung die besondere Hervorhebung der instrumentellen und baulichen Sicherheit unter ausdrücklichem Hinweis auf den „Schutz der Allgemeinheit“ erfolgt, wie auch in § 99 HmbStVollzG, nicht mehr explizit als mögliches Charakteristikum offener Anstalten erwähnt. Zusätzlich zu der technischen oder organisatorischen Differenzierung des Sicherungsniveaus der Anstalten, deren Zuständigkeit für unterschiedliche Gefangenengruppen im Übrigen in Verbindung mit § 10 zu sehen ist, verlangt VV Nr. 1 zum geschlossenen Vollzug außerdem die ständige und unmittelbare Beaufsichtigung der Gefangenen außerhalb der Hafträume. Zwar wird dem Anstaltsleiter zugestanden, die Aufsicht zu lockern, soweit nicht besondere Richtlinien entgegenstehen, doch können die positiven Möglichkeiten des geschlossenen Vollzuges, nämlich durch starke Sicherheitsvorkehrungen nach außen möglichst weitgehende Lockerungen nach innen zuzulassen, durch eine allzu enge Auslegung der VV behindert werden. C/MD 2008
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Differenzierung
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Rdn. 2 sehen denn auch die Vollzugswirklichkeit nur unzureichend durch die VV berücksichtigt und die Intentionen des Gesetzgebers in ihr Gegenteil verkehrt. Die in der Übergangssituation des Vollzuges lediglich praktische Notwendigkeit, das Gros der Gefangenen in geschlossenen Anstalten unterzubringen, rechtfertige unter Behandlungsgesichtspunkten und unter dem Angleichungsgrundsatz nach § 3 in der Regel nur eine gelockerte Aufsicht, während die ständige unmittelbare Aufsicht den Anstalten mit erhöhtem Sicherheitsgrad vorbehalten bleiben müsse. c) Mit zunehmenden Sicherungsvorkehrungen wächst indessen auch die Gefahr kon- 17 traproduktiver Effekte nicht nur für jene Gefangenen, die als besonders gefährlich oder rückfallgefährdet betrachten werden, sondern auch und gerade für Gefangene mit einer günstigeren Prognose, da „das Ausmaß der Sicherungen auf den gesamten Vollzug ausstrahlt“ (Walter 1999 Rdn. 163). So kann bei einer überzogenen Sicherung nach außen nicht nur die innere Sicherheit der Anstalt z. B. durch vermehrte Meutereien oder Geiselnahmen beeinträchtigt werden; übermäßige Einschränkungen der Außenkontakte reduzieren zwangsläufig auch die individuellen Wiedereingliederungschancen der Inhaftierten und machen zudem das Auftreten schädlicher Folgen des Freiheitsentzuges wie etwa den Verlust sozialer Beziehungen und kommunikativer Fähigkeiten wahrscheinlicher, was mit Blick auf den Gegensteuerungsgrundsatz des § 3 vermieden werden soll. Solche Haft- oder Prisonisierungsschäden werden vor allem im Zusammenhang mit Hochsicherheitsabteilungen oder -anstalten gesehen, deren Einführung der Gesetzgeber zwar ausdrücklich billigt (vgl. Arloth 2008 Rdn. 1), die im Extremfall auch als unvermeidlich erscheinen mögen, die aber im Interesse der Gestaltungsgrundsätze des StVollzG, einer menschenwürdigen Unterbringung auch der wenigen höchst gefährlichen Gefangenen und nicht zuletzt wegen der hohen finanziellen und zuweilen auch politischen Kosten nur mit äußerster Zurückhaltung geplant und betrieben werden sollten (zum Für und Wider bei Hochsicherheitseinrichtungen vgl. K/K/S-Kaiser 1992 § 9; K/S-Kaiser 2003 § 10 Rdn. 66 f; zu weiteren Bedenken siehe C/MD 2008 § 85 Rdn. 2; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 12). 4. Die Zielsetzung des offenen Vollzuges ist hingegen unmittelbar aus dem Anglei- 18 chungsgrundsatz, aber auch aus dem Gegensteuerungs- und Integrationsgrundsatz ableitbar. Der Resozialisierungsauftrag wird hier anders als im geschlossenen Vollzug nicht mit der Erfüllung der Sicherungsaufgabe verbunden. Aber ebenso, wie der geschlossene Vollzug Möglichkeiten zur Gestaltung unterschiedlicher Sicherheitsgrade zulässt, sind auch im offenen Vollzug Abstufungen des Öffnungsgrades und unterschiedliche Organisationsformen mit fließenden Übergängen (Walter 1999 Rdn. 162) möglich, zumal die ständige und unmittelbare Aufsicht innerhalb der Anstalt gem. VV Nr. 2 lediglich „in der Regel“ entfällt. So wird zwischen dem „halboffenen“ Vollzug (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2) mit verminderten baulichen und technischen Vorkehrungen gegen Entweichungen und dem völlig offenen Vollzug ohne entsprechende Vorkehrungen unterschieden. Zudem hat der Gesetzgeber in § 147 die Einrichtung von Übergangshäusern vorgesehen, die der schrittweisen Überleitung in die Freiheit im Rahmen der Entlassungsvorbereitung dienen sollen. In der Gesamtschau ist der Strafvollzug damit unter Sicherheitsaspekten als ein strukturell abgestuftes System zu betrachten, das den Gefangenen, soweit nicht Direkteinweisungen in den offenen Vollzug vorgesehen sind (dazu beispielhaft Schäfer 1999, 171 ff), grundsätzlich einen stufenweisen Übergang aus einer geschlossenen in eine offene Einrichtung ermöglicht. Da ein Anstaltswechsel aber immer mit vielfältigen Schwierigkeiten und Anpassungsleistungen für die Gefangenen verbunden ist, spricht einiges dafür, die Verlegung aus dem geschlossenen in den offenen Vollzug möglichst innerhalb einer Anstalt (interne Differenzierung) oder zumindest innerhalb eines integrierten Anstaltsverbundes (Kooperation extern
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differenzierter Anstalten) zu ermöglichen und selbständige offene Anstalten weitgehend für Gefangene vorzusehen, die ihre Strafe von Anfang an im offenen Vollzug verbüßen können. Eine weitergehende Harmonisierung des Übergangs vom geschlossenen in den offenen Vollzug auch im Erwachsenenbereich würde dem Gedanken Rechnung tragen, dass Gefangene grundsätzlich aus dem offenen Vollzug entlassen werden sollten (BT-Drucks. 7/918, 93), und dazu beitragen, den Anteil der dort Untergebrachten insgesamt zu erhöhen.
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a) Bezogen auf die Querschnittsdaten zum Bestand der Gefangenen im Strafvollzug, die vom Statistischen Bundesamt (Strafvollzugsstatistik, Fachserie Rechtspflege) regelmäßig vorgelegt werden, erscheint der geschlossene Vollzug als die quantitativ deutlich favorisierte Vollzugsform. Im offenen Vollzug waren am Stichtag (31.3.2009) 9.690 von insgesamt 60.199 Strafgefangenen untergebracht – also 16,1 %. Für den hier relevanten Vollzug der Freiheitsstrafe im Erwachsenenstrafvollzug wurde eine Quote von 17,1 % registriert, die im Vergleich der Bundesländer allerdings zum Teil erheblich differiert. Nach den Daten der Strafvollzugsstatistik ergibt sich danach eine Quote von weniger als zehn Prozent in den Ländern Bayern (8,1 %), Hessen (9,5 %), Sachsen (9,1 %), Sachsen-Anhalt (6,4 %), SchleswigHolstein (9,4 %) und Thüringen (5,2 %). Mehr als 20 % der Gefangenen waren hingegen in Berlin (28,9 %), Niedersachsen (20,8 %), Nordrhein-Westfalen (28,1 %) und dem Saarland (22,7 %) in offenen Einrichtungen untergebracht. Die Gesamtquote in den neuen Bundesländern betrug 9,4 % und in den alten Bundesländern 18,5 %. Die Bewertung dieser Zahlen muss allerdings die unscharfe Definition „Anstalten des offenen Vollzugs“ in Abs. 2 und VV Nr. 2 und die damit verbundenen erheblichen Definitionsspielräume der Landesjustizverwaltungen berücksichtigen, die statistische Vergleiche schwierig und teilweise auch fragwürdig machen (vgl. Walter 1999 Rdn. 162).
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b) Dennoch legen die Vergleichszahlen länderspezifische Unterschiede bei der (baulichen) Bereitstellung von und der (personenbezogenen) Zuweisung in offene Anstalten nahe. Dies kann teilweise daran liegen, dass die Länder in unterschiedlichem Umfang über Anstalten verfügen, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten des StVollzG begonnen wurde und für die die Übergangsbestimmungen des § 201 Nr. 1 gelten. Danach dürfen Gefangene abweichend von § 10 ausschließlich im geschlossenen Vollzug untergebracht werden, solange die räumlichen, personellen und organisatorischen Anstaltsverhältnisse dies erfordern. Für diese These spricht, dass im Zuge der erforderlichen Neubau- und Modernisierungsmaßnahmen vor allem in den neuen Bundesländern in den vergangenen Jahren eine Steigerung des allerdings nach wie vor unterdurchschnittlichen Anteils der im offenen Vollzug Untergebrachten erreicht werden konnte. Die Frage, ob der offene Vollzug vom Gesetz als Grund- oder Regelform des Strafvollzuges zu betrachten sei, ist zwar umstritten, jedoch entspricht der Vorrang des offenen Vollzuges der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers, die allerdings durch die Fassung des § 10 StVollzG als Sollvorschrift abgeschwächt wird (vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 355). Bei Vorliegen der baulichen Voraussetzungen und der Zustimmung der Gefangenen sind die Vollzugsbehörden jedenfalls verpflichtet, „grundsätzlich jeden für den offenen Vollzug geeigneten Gefangenen in eine solche Anstalt oder Abteilung einzuweisen“, womit das eigentliche Problem in der Bestimmung der Eignung für den offenen Vollzug bestehen dürfte (vgl. Müller-Dietz 1999, 280). Von dieser ist nach § 10 Abs. 1 auszugehen, wenn der Gefangene den dortigen besonderen Anforderungen genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zur Begehung von Straftaten missbrauchen werde.
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c) Da nicht erkennbar ist, dass die Länder in signifikanter Weise mit jeweils mehr oder weniger schwierigen Vollzugspopulationen konfrontiert wären, wie beispielsweise eine von
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Dünkel/Geng (2003, 147) durchgeführte vergleichende Analyse der jeweiligen Deliktstrukturen der Inhaftierten zeigt, wird die Quote der Unterbringungen im offenen Vollzug folglich auch maßgeblich durch unterschiedlich definierte und/oder angewandte Eignungskriterien bestimmt, die sich ihrerseits im Zuge (kriminal)politischer Neuausrichtungen auf Länderebene verändern können. Dies wird durch eine Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe in den einschlägigen Vorschriften begünstigt, die den Vollzugsbehörden einen gewissen Beurteilungsspielraum etwa bezüglich der Einschätzung der Flucht- und Missbrauchsgefahr einräumen (vgl. AK-Lesting 2006 § 10 Rdn. 15, C/MD 2008 § 10 Rdn. 8). Schließlich mag die Unsicherheit über die Zuverlässigkeit der Eignungsprognosen eine gewisse Zurückhaltung bei der Einweisung bewirken, so dass die berichtete Bundesdurchschnittsquote der im offenen Vollzug Untergebrachten insgesamt nicht dem Anteil der Gefangenen entspricht, die für diese Vollzugsform tatsächlich geeignet sind. Dem wird man angesichts der generellen Grenzen von Individualprognosen zwar nicht vollständig abhelfen können, doch wären beispielsweise systematische und wiederholt durchgeführte kriminologische Erfolgs- und Legalbewährungskontrollen durchaus geeignet, die Entscheidungen über die Unterbringung bestimmter Tätergruppen im offenen Vollzug auf der Grundlage massenstatistischer Befunde zu erleichtern und darüber hinaus die ggf. erforderliche Ausweitung entsprechender Anstaltskapazitäten auch inhaltlich fundiert zu begründen. Angesichts der Tatsache, dass es aus empirischer Sicht keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer restriktiven Handhabung des offenen Vollzugs gibt (vgl. Müller-Dietz 1999, 282), erscheint die vermehrte Einweisung von Gefangenen in (halb)offene Einrichtungen auch aus ökonomischer Sicht allemal sinnvoll.
III. Landesgesetze 1. Bayern
22 Art. 167 BayStVollzG („Differenzierung“) ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 entspricht weitgehend der Vorschrift des § 141 Abs. 1 StVollzG, allerdings mit sowohl präzisierend als auch relativierend wirkenden Änderungen. Während die bundesrechtliche Regelung verlangt, dass durch die Differenzierung „eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung gewährleistet ist“, wird hier formuliert, dass die gemäß dem Differenzierungsgrundsatz vorzusehenden Haftplätze, „den unterschiedlichen Behandlungsbedürfnissen der Gefangenen und den Sicherheitserfordernissen Rechnung tragen“. Abs. 2 lautet wie folgt: „In Anstalten des geschlossenen Vollzugs gewährleisten besondere bauliche und technische Vorkehrungen eine sichere Unterbringung der Gefangenen. Einrichtungen des offenen Vollzuges sehen nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vor“. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Besonders gefährliche Gefangene können gezielt in Anstalten höchster Sicherheitsstufe eingewiesen werden. Die unterschiedlichen Sicherheitserfordernisse für den geschlossenen und den offenen Vollzug sind in Abs. 2 festgelegt, wobei die instrumentelle und bauliche Sicherheit (vgl. Begründung zu Art. 4) ausdrücklich hervorgehoben wird“ (LT-Drucks. 15/8101, 88). 2. Hamburg § 99 HmbStVollzG („Differenzierung“) erweitert die Regelungen des § 141 StVollzG fol- 23 gendermaßen: Wolfgang Wirth
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Abs. 1: „Es sind Haftplätze in verschiedenen Anstalten oder Abteilungen vorzusehen, die den Sicherheitserfordernissen Rechnung tragen und eine auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestellte Behandlung gewährleisten. Die Gliederung der Anstalten soll die Unterbringung der Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen ermöglichen.“ Abs. 2: „Für den Vollzug nach § 10 (Sozialtherapie) sind eigenständige Anstalten oder getrennte Abteilungen (sozialtherapeutische Einrichtung) vorzusehen.“ Abs. 3: „Anstalten des geschlossenen Vollzuges sehen eine sichere Unterbringung der Gefangenen vor, Anstalten oder Abteilungen des offenen Vollzuges nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen“. Die Bestimmung entspricht im Wesentlichen dem im Vollzug der Freiheitsstrafe anzuwendenden Teil des zuvor geltenden § 100 HmbStVollzG. Nach dessen Gesetzesbegründung greift die Vorschrift „[. . .] die Regelung in § 141 StVollzG auf und verbindet sie mit § 143 Absätze 1 und 2 und § 123 Absatz 2 StVollzG. Absatz 1 entspricht deshalb mit redaktionellen Anpassungen den Regelungen in § 141 Absatz 1 sowie § 143 Absätze 1 und 2 StVollzG“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 49). Absatz 2 trägt entsprechend dieser Begründung der Entwicklung der Sozialtherapie im Hamburger Strafvollzug Rechnung, betont aber abweichend von der bisherigen Regelung, „dass für den Vollzug nach § 10 eigenständige Anstalten oder getrennte Abteilungen vorzusehen sind“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 61). Zu Absatz 3 vgl. auch die Kommentierung zu Rdn. 16. 3. Niedersachsen
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§ 173 NJVollzG ist mit „Gestaltung, Differenzierung und Organisation der Anstalten“ überschrieben und wie folgt aufgebaut: Satz 1: „Die Anstalten sind vom Fachministerium und von den Vollzugsbehörden so zu gestalten und zu differenzieren, dass Ziele und Aufgaben des Vollzuges gewährleistet werden.“ Satz 2: „Personelle Ausstattung, sachliche Mittel und Organisation der Anstalten sind hieran auszurichten.“ Gemäß ihrer Gesetzesbegründung ermächtigt und verpflichtet diese Vorschrift, die in Satz 1 die Regelungsgehalte der §§ 141 bis 143 und 147 StVollzG aufgreift, „die Vollzugsbehörden und das Fachministerium dazu, innerhalb der verschiedenen Vollzugsarten die zur Erreichung bzw. Erfüllung der jeweiligen Ziele und Aufgaben notwendigen Differenzierungen vorzunehmen. Die Differenzierung kann sich auf einzelne Haftplätze und Vollzugsabteilungen erstrecken, sie kann aber auch ganze Abteilungen und Anstalten betreffen. Gemessen an den verschiedenen Zielen und Aufgaben der einzelnen Vollzugsarten können die Anknüpfungspunkte der Differenzierung und Kriterien für die Bildung von Schwerpunktaufgaben unterschiedlich sein [. . .] Niederschlag finden die Differenzierungen im Vollstreckungsplan und den jeweiligen Vollzugskonzeptionen der Anstalten. Im Interesse einer hohen Flexibilität verzichtet die Vorschrift darauf, einzelne Differenzierungsansätze besonders zu betonen“ (LT-Drucks. 15/3565, S. 207). Zu Satz 2 wird erläuternd angeführt, „dass auch die Organisation des Justizvollzuges und die Bereitstellung von Ressourcen an den [. . .] vorgesehenen Zielen und Aufgaben auszurichten ist. Hierdurch soll u. a. eine kontinuierliche Sicherung der erforderlichen Mittel auch in haushaltsrechtlicher Hinsicht gewährleistet werden“ (LT-Drucks. 15/3565, 207).
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§ 142
Einrichtungen für Mütter mit Kindern
§ 142 Einrichtungen für Mütter mit Kindern In Anstalten für Frauen sollen Einrichtungen vorgesehen werden, in denen Mütter mit ihren Kindern untergebracht werden können. Schrifttum: s. bei § 80
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Rechtspflicht des Vollzuges . 2. Einrichtungen der Jugendhilfe a) Heimaufsicht durch das Landesjugendamt . . . . b) Ärztliche Überwachung . .
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. . . .
1–2 3–7 3 4–7
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4 5
Rdn. c) Fachgerechte pädagogische Betreuung . . . . . . . . . d) Kontakte zur Außenwelt . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise Die Vorschrift (Konkretisierung des Differenzierungsangebots nach § 141) eröffnet die 1 Möglichkeit Kinder nicht von ihren inhaftierten Müttern zu trennen; sie bildet den organisatorischen Rahmen für die gemeinsame Unterbringung nach § 80. Mit der in § 142 hervorgehobenen speziellen Einrichtung für Mütter und Kinder wird dem Frauenvollzug eine Aufgabe gestellt, die sich von anderen Maßnahmen des Vollzugs insbesondere dadurch unterscheidet, dass nicht nur Gefangene, sondern auch deren Kinder in der Justizvollzugsanstalt untergebracht werden, obwohl gegen diese keine freiheitsentziehende Maßnahme zu vollziehen ist (zur Frage, ob § 141 i. V. m. § 80 auch für Väter mit Kindern gilt, vgl. § 80 Rdn. 6; zu Schädigungen durch Trennung und zum Zusammenwirken von Jugendhilfe und Justiz bei der Inhaftierung von Müttern und Kindern s. die Erläuterungen zu § 80). 2008 gab es in der Bundesrepublik acht Mutter-Kind-Einrichtungen in Justizvollzugs- 2 anstalten mit insgesamt 93 Haftplätzen, davon etwa die Hälfte im offenen Vollzug. Vier waren selbständige Gebäudeeinheiten auf dem Anstaltsgelände, vier waren Unterabteilungen innerhalb der Baulichkeiten des Regelvollzugs.
II. Erläuterungen 1. Nach § 80 Abs. 2 kann das Kind einer Gefangenen, das noch nicht schulpflichtig ist, in 3 der Vollzugsanstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet. § 142 verlangt aber, dass zu diesem Zweck eigene Einrichtungen in der JVA vorgesehen werden sollen. Gemeinsam ist den zitierten Bestimmungen, dass die Trennung der Kinder von ihren inhaftierten Müttern in den ersten Lebensjahren vermieden werden soll. Während aber ursprünglich davon ausgegangen wurde, dass das Kind in die Lebensbedingungen seiner Mutter gebracht werden dürfe, besteht heute eine Rechtspflicht für den Vollzug, dem Wohl der Kinder dienende Einrichtungen im Vollzug nach Bedarf zu schaffen. Diese Pflicht ergibt sich nicht nur aus den wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen über die für Kinder dieses Alters förderlichen Lebensbedingungen (vgl. § 80 Rdn. 1), sondern auch aus den Grundrechten der Kinder (Art. 2 Abs. 1 und 2 GG). Dem korrespondiert aber kein
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Anspruch der einzelnen Gefangenen, in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen zu werden, insb. nicht in einer bestimmten Anstalt. Zu den Kosten für die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind im Strafvollzug und zu den Betreuungskosten für das Kind s. § 80 Rdn. 12f.
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2. a) Mit § 142 hat der Gesetzgeber erstmals Einrichtungen der Jugendhilfe in Justizvollzugsanstalten vorgeschrieben, die nach § 89 Abs. 2 Nr. 6 SGB VIII der Aufsicht des Landesjugendamtes unterstehen. Diese Aufsicht tritt neben die Aufsicht durch die Vollzugsbehörde nach § 151. Praktische Schwierigkeiten sind durch diese doppelte Zuständigkeit bislang nicht bekannt geworden. Das Jugendamt kann Zuständigkeiten lediglich für die Unterbringung der Kinder beanspruchen, für die die Aufsicht nach § 151 nicht passend erscheint, da sie nicht Gefangene im Sinne dieses Gesetzes sind.
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b) Die ärztliche Überwachung der Einrichtung obliegt gem. VV Nr. 2 und 3 zu § 56 dem Anstaltsarzt. Als Konsiliararzt sollte ein Kinderarzt bestellt werden, der regelmäßige Sprechstunden in der Anstalt abhält. Bei Gängen zum Arzt sollte das Kind von der Mutter begleitet werden, da Arztbesuche bei Kindern oft Angst auslösen (Birtsch/Riemann/Rosenkreuz 1988, 196). Die Kosten für die Behandlungen der Kinder trägt die zuständige Krankenkasse bzw. der Sozialhilfeträger. Zur stationären Behandlung werden die Kinder in eine geeignete Klinik gebracht; auch während des Krankenhausaufenthaltes ist die Anwesenheit der Mütter wünschenswert. Bei psychischen Störungen ist die Behandlung durch eine Erziehungsberatungsstelle vorzusehen; der Anstaltspsychologe kann zur Diagnostik und Behandlung beigezogen werden.
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c) Mit § 142 übernimmt die Justizvollzugsanstalt als Träger der Einrichtung die Verantwortung für eine fachgerechte, auf die besonderen Bedürfnisse des einzelnen Kindes abgestimmte Betreuung. Sie hat dem Aufbau, der Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Mutter-Kind-Beziehung Rechnung zu tragen, eine altersentsprechende Entwicklung durch Erziehung und Förderung des Kindes zu gewährleisten und den Mutter-KindBereich räumlich so zu gestalten, dass die Einengungen des Strafvollzugs so gering wie möglich sind. Als Richtwert für die Personalbemessung (neben dem Aufsichtspersonal) fordert die „Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und überörtlichen Erziehungsbehörden“ in ihren „Grundsätzen über die Unterbringung von Kindern in Justizvollzugsanstalten“, dass eine Gruppe, die je nach Alter und Altersmischung aus vier bis zehn Kindern besteht, von 2 geeigneten Fachkräften (z. B. Erziehern, Sozialpädagogen) betreut wird. Mindestens eine dieser Fachkräfte sollte in Säuglingspflege/-ernährung ausgebildet sein.
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d) Nach Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen sind für eine altersgemäße Entwicklung der Kinder die Kontakte zur Außenwelt besonders wichtig. Regelmäßiger Ausgang ist daher unverzichtbar. Nur so ist gewährleistet, dass die Kinder Vielfalt und Anforderungen der Lebenswelt erfahren (z. B. Situationen des Straßenverkehrs, belebte Einkaufsstraßen, Natur- und Tierwelt, Kinderspielplätze, Nachbarschaft). Für Kinder ab dem dritten Lebensjahr sollte der Besuch öffentlicher Kindergärten verpflichtend sein. Um alle Möglichkeiten der Kontakte zur Außenwelt nutzen zu können, differenzieren Mutter-Kind-Einrichtungen zunehmend nach offenem und geschlossenen Vollzug. Die erste offene Abteilung einer Mutter-Kind-Einrichtung wurde 1988 in der hessischen Frauenvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim eröffnet. In Niedersachsen gibt es seit 1997 eine Einrichtung des offenen Vollzugs für elf Mütter und etwa fünfzehn Kinder. In demselben Gebäude werden auch bis zu drei Seniorinnen aufgenommen, die die Mütter bei ihrer Erziehungs- und Betreuungsarbeit unterstützen.
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Größe und Gestaltung der Anstalten
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Art. 168 BayStVollzG entspricht § 142 StVollzG. 2. Hamburg
§ 100 HmbStVollzG entspricht § 142 StVollzG. Bis auf den ergänzenden Hinweis, dass 9 auch in Abteilungen Einrichtungen für Mütter und Kinder vorgesehen werden können, ist die Vorschrift wortgleich mit der Bundesvorschrift. § 100 HmbStVollzG lautet: „In Anstalten oder Abteilungen für Frauen sollen Einrichtungen vorgesehen werden, in denen Mütter mit ihren Kindern untergebracht werden können“. 3. Niedersachsen Das NJVollzG hat keine § 142 StVollzG entsprechende Vorschrift. Sein Regelungsgehalt 10 greift § 173 NJVollzG auf, der die Vollzugsbehörden und das Fachministerium ermächtigt und verpflichtet, innerhalb der verschiedenen Vollzugsarten die zur Erreichung bzw. Erfüllung der jeweiligen Ziele und Aufgaben notwendigen Differenzierungen vorzunehmen. Die Differenzierung kann sich auf einzelne Haftplätze und Vollzugsabteilungen erstrecken, sie kann aber auch ganze Abteilungen und Anstalten betreffen. Hiernach können u. a. Mutterund Kind-Heime § 142 StVollzG entsprechend eingerichtet werden. Die Vorschrift verzichtet darauf, einzelne Differenzierungsansätze besonders zu betonen im Interesse einer hohen Flexibilität und Offenheit gegenüber zukünftigen Entwicklungen. § 143 NJVollzG lautet: „Die Anstalten sind vom Fachministerium und von den Vollzugsbehörden so zu gestalten und zu differenzieren, dass Ziele und Aufgaben des Vollzuges gewährleistet werden. Personelle Ausstattung, sachliche Mittel und Organisation der Anstalten sind hieran auszurichten“.
§ 143 Größe und Gestaltung der Anstalten (1) Justizvollzugsanstalten sind so zu gestalten, dass eine auf die Bedürfnisse des einzelnen abgestellte Behandlung gewährleistet ist. (2) Die Vollzugsanstalten sind so zu gliedern, dass die Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen zusammengefasst werden können. (3) Die für sozialtherapeutische Anstalten und für Justizvollzugsanstalten für Frauen vorgesehene Belegung soll zweihundert Plätze nicht übersteigen. Schrifttum: Bandell Zu Strukturproblemen einer Justizvollzugsanstalt, in: Bandell u. a., Hinter Gittern. Wir auch? Frankfurt 1985, 145 ff; Bulczak Jugendanstalten, in: Schwind/Blau 1988, 70 ff; Koop „. . . und Morgen sind sie wieder unsere Nachbarn“, in: Koop/Kappenberg: Hauptsache ist, das nichts passiert, Lingen 2006, 89 ff; Koop Führung und Zusammenarbeit im Wandel mit Beispielen aus der Vollzugspraxis, in Flügge/Maelicke/Preusker: Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, 174 ff; Koop Ist uns die Kundschaft aus dem Auge geraten?, in KrimPäd 2002, Heft 41, 4 ff; Koop Auf dem Weg zu einer lernenden Organisation, in: FS 2/2008, 54 ff Michelitsch-Traeger Sozialtherapeutisch ausgerichteter Wohngruppenvollzug – oder: was man wissen muss, wenn man eine Wohngruppe implementieren will, in: ZfStrVo 1991, 282 ff; Rehn Konzeption und Praxis der Wohngruppenarbeit in sozialtherapeutischen Einrichtungen, in: ZfStrVo 1996, 281 ff; Stäwen Behandlungswohngruppen im Regelvollzug, in: ZfStrVo 1989, 259 ff.
Alexander Böhm/Gerd Koop
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 2–5 1. Gestaltung der Anstalt . . . . . . 2 2. Vollzugseinheit, Betreuungsgruppe, Wohngruppe . . . . . . . . . . . 3 3. Behandlungsgruppe . . . . . . . 4
Rdn. 4. Sozialtherapeutische Anstalt III. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Mit den in Abs. 1 und 2 geregelten Gestaltungsgrundsätzen möchte der Gesetzgeber der Gefahr begegnen, dass durch zu große und nicht hinreichend differenzierte Anstalten die Behandlung der Inhaftierten erschwert oder gar unmöglich gemacht wird (BT-Drucks. 7/918, Laubenthal 2008, Rdn. 369). Allerdings gelten diese Grundsätze gem. § 201 Nr. 4 ausschließlich für die Anstalten, mit deren Errichtung erst nach dem 1.1.1977 begonnen worden ist (vgl. Rdn. 2 zu § 201). Für Anstalten, die schon vor Inkraftreten des StVollzG errichtet wurden, gelten die Grundsätze gem. § 201 Nr. 4 als „Soll-Vorschrift“. Das bedeutet, dass die gesetzlichen Vorstellungen soweit es irgend geht bei organisatorischen Veränderungen und Umbauten Berücksichtigung finden müssen. Nach Auffassung von AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2 sind die Justizbehörden wegen der unbefristeten Übergangszeit verpflichtet, grundsätzlich nach § 143 Abs. 1 und 2 zu verfahren, wenn dem nicht ausnahmsweise wichtige Gründe entgegenstehen. Die für sozialtherapeutische Anstalten und für Justizvollzugsanstalten für Frauen vorgesehene Größe (Abs. 3) ist ohnehin nur als Soll-Vorschrift formuliert (BT-Drucks. 7/918, 93). Einzelne Gefangene können aus dieser Vorschrift keine Rechte herleiten (vgl. zur ähnlichen Situation bei § 144: OLG Zweibrücken NStZ 1982, 221 = ZfStrVo 1982, 318). Sie erleichtert es nur den Landesjustizverwaltungen, ihre Bauvorhaben zu begründen und – hoffentlich – durchzusetzen. Trotz großer Bemühungen und mancher Verbesserung wird man aber nach wie vor der Beurteilung von Preusker zustimmen müssen, dass es immer noch eine Reihe von älteren Justizvollzugsanstalten gibt, die so gestaltet sind, dass eine auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestellte Behandlung nicht gewährleistet ist (Preusker NK 2/1997, 34, 35).
II. Erläuterungen 2
1. Ziel von Abs. 1 ist es sicher zu stellen, dass in einer Anstalt eine auf die Bedürfnisse des einzelnen Gefangenen abgestellte Behandlung gewährleistet ist. Damit soll die Umsetzung der Grundsätze des Behandlungsvollzuges bei der Gestaltung der Anstalt gesichert werden (Laubenthal 2008 Rdn. 369, BT-Drucks. 7/918, 93). Die Gestaltung des Justizvollzuges ist deshalb in erster Linie so auszurichten, eine Resozialisierung überhaupt zu ermöglichen. Dass die Anstalt auch ausbruchsicher sein muss, folgt aus der weiteren Vollzugsaufgabe in § 2 Satz 2 (§ 2 Rdn. 17 ff). Zu große Anstalten verbieten sich wegen des ihnen immanenten Hangs zur Bürokratie, Technisierung und Gleichmacherei (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 4). Grunau/Tiesler 1982 (Rdn. 1) meinen, dass, wer Strafanstalten mit mehr als 500 Haftplätzen baue, nehme das Behandlungsziel nicht ernst (a. A. Arloth 2008 Rdn. 2: Anstalten mit 600 bis 700 Haftplätzen sind noch vertretbar, weil der Anstaltsleiter hier noch alle Bediensteten persönlich kennen kann).
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2. Aber auch Anstalten mit 500 Plätzen können nur dann das Behandlungsziel erreichen, wenn man sie als Organisationseinheit, bestehend aus mehreren weitgehend selbst-
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ständigen Vollzugsabteilungen versteht, die gemeinsam Arbeits- und Ausbildungsstätten, Sportplätze, Turnhalle, Kirche, Küche, Zentralkammer und weitere Serviceeinrichtungen nutzen. So ist es jedenfalls baulich in der JVA Sehnde umgesetzt (siehe auch in Frankenthal, Wieder ZfStrVo 1976, 98 ff. Zur Umstrukturierung der JVA Tegel siehe Baumann: Einige Modelle zum Strafvollzug, Bielefeld 1979, 63–80). Die Jugendstrafanstalten sind inzwischen fast durchweg so strukturiert, aber auch bei den Neubauten von Anstalten zum Vollzug der Freiheitsstrafe (etwa Tonna in Thüringen; Böhm 2003 Rdn. 208 oder in Oldenburg (Koop 2006, 89 ff; Koop 2008, 54 ff) werden diese Grundsätze beachtet. Die alten Anstalten werden – mehr oder weniger erfolgreich – entsprechend umgebaut. Die einzelnen Vollzugsabteilungen mit festen Dienstgruppen sollten höchstens etwa 60–80 Plätze haben und sich wiederum in mehrere Wohngruppen gliedern, wenn dies vollzuglich sinnvoll ist. Die die Behandlung des einzelnen Gefangenen betreffenden Vollzugsentscheidungen werden in der Abteilung getroffen. Diese Organisationsstrukturen (Bandell 1985; Bulczak 1988, 74; Koop 2001, 174 ff) sind im Wesentlichen inzwischen überall eingeführt (vgl. für Rheinland-Pfalz: Grundsätze der Organisation der Justizvollzugsanstalten vom 15.11.1982, Justizblatt S. 258). Fraglich ist, ob mit den überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen, in die die Vollzugsanstalten nach Abs. 2 zu gliedern sind, solche Abteilungen gemeint sind oder, ob das Gesetz hier die Einrichtung noch kleinerer Einheiten, so genannter Wohngruppen, fordert. C/MD 2008 Rdn. 6 meinen, bei der in Abs. 2 erwähnten „überschaubaren Betreuungsgruppe“ handele es sich um eine Vollzugsabteilung (ebenso Laubenthal 2008 Rdn. 373 ff). Dafür spricht, dass der Begriff Betreuungsgruppe im StVollzG sonst nicht genannt ist und die in § 7 erwähnte „Wohngruppe“, der jeder Gefangene zugewiesen werden soll, in § 143 nicht behandelt wird. Das ist freilich alles etwas ungereimt; denn es hätte nahe gelegen, dass das Gesetz die für die Behandlung der Gefangenen vorgesehenen baulichen und organisatorischen Gebilde auch bei den Grundsätzen der Gestaltung regelt. Der Begriff „Betreuung“ weist – das spricht wieder dafür, dass hier eine Vollzugseinheit gemeint ist – auf Versorgung, Beratung und Einzelfallhilfe hin. Es wäre zu prüfen, was für den Betreuenden noch überschaubar, besser „leistbar“ ist. Daher könnte die überschaubare Betreuungsgruppe auch die Wohngruppe sein. Unzweifelhaft sind jedenfalls die Wohngruppen bei der Gestaltung der Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 9; C/MD 2008 Rdn. 6; Laubenthal 2008 Rdn. 374; sie liegen „implizit den Strukturerwägungen des StVollzG zugrunde“: K/K/S-Kerner § 16 Rdn. 9; KG NStZ 1995, 360). Es sind die kleinen Einheiten, in denen sich das Leben während des größeren Teils der Freizeit abspielt, in denen ein vernünftiges Miteinander (unter Aufsicht und fachlicher Beratung) eingeübt wird und Teile der Versorgung (z. B. Waschen der Kleidung, Zubereitung der Abendmahlzeit) stattfinden. Die Größe dieser Wohngruppen hängt von den Sozialisationsdefiziten der Insassen ab. 20 Plätze sind vielleicht noch gerade im offenen Vollzug vertretbar, für die meisten Insassengruppen sollten kleinere Wohneinheiten geschaffen werden (Bulczak 1988, 75; Stäwen 1989, 259; Rehn 1996, 283; Walter 1999 Rdn. 284; Laubenthal 2008 Rdn. 375; C/MD 2008 Rdn. 6; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 9). Die Wohngruppen müssen von anderen Wohngruppen optisch und akustisch getrennt sein, eine eigene Teeküche, Dusche und Gruppenraum, möglichst einen für gemeinschaftliche Aktivitäten zu nutzenden Flur und die erforderlichen Nebenräume besitzen. Die Büros der zuständigen Wohngruppenleitung (Vollzugsabteilungsleitung) und der Fachdienste (z. B. Sozialarbeiter) gehören in diesen Bereich oder sollten direkt angegliedert sein. Es sollen möglichst dieselben Bediensteten längerfristig in den Wohngruppen Dienst tun (Stäwen 1989, 259), die feste Teams bilden und die mit eigenen Kompetenzen und Zuständigkeiten ausgestattet sind (Koop 2002, 4). Während in den sozialtherapeutischen Anstalten und im Vollzug der Jugendstrafe der Wohngruppenvollzug durchweg eingeführt ist (§ 9 Rdn. 4 f; Göppinger 2008 § 33
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Rdn. 99), stellt er im Vollzug der Freiheitsstrafe die Ausnahme dar. Schon im Jugendstrafvollzug zeigt sich, dass nicht alle Insassen von Anfang an für diese Art der Unterbringung geeignet sind und dass verantwortbar solche Strukturen nur mit größerem Personalaufwand und gewissen Zielvorgaben für die Gruppe geschaffen werden können (grundlegend: Michelitsch-Traeger 1991). Zu den subkulturellen Gefährdungen tritt – jedenfalls bei Erwachsenen – eine gewisse Unlust am Gemeinschaftsleben; sie ziehen sich zum Fernsehen in ihren Haftraum zurück und nehmen die Mahlzeiten lieber allein ein (Böhm 2003 Rdn. 204; vgl. auch Walter 1999 Rdn. 284). Auch ein Teil der Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes fühlt sich durch den ständigen unmittelbaren Umgang mit den Insassen überfordert. Dies liegt u. a. an der Fülle der sonst noch zu bewältigenden Aufgaben (Vorführdienste, Sonderaufgaben). Gleiches gilt für die Vollzugsabteilungsleitungen, deren Zeit für die konkrete Behandlung der Gefangenen durch die Verwaltungstätigkeiten oftmals nur noch bei 30–40 % liegt (Koop 2002, 6) Ob sich deshalb das Wohngruppenprinzip allgemein wird verwirklichen lassen, erscheint daher noch zweifelhaft (insoweit zu optimistisch: Laubenthal 2008 Rdn. 375). Siehe zur Wohngruppe auch § 7 Rdn. 12.
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3. Behandlungsgruppen sind Gefangenengruppen, die ungeachtet der Wohngruppenzugehörigkeit für bestimmte Freizeitaktivitäten, therapeutische Behandlung, schulische oder berufliche Ausbildung oder Arbeit gebildet werden (a. A. Laubenthal 2008 Rdn. 374, der den Begriff für identisch mit dem der Wohngruppe hält). Dass diese inhaltlichen Angebote auch in der baulichen Gestaltung und der Anstaltsorganisation berücksichtigt werden müssen, ist selbstverständlich. Der einer Auslegung zugängliche Begriff „überschaubar“ (kritisch Böhm 2003 Rdn. 81) soll wohl vor zu großen „Gruppen“ warnen. Wie groß die Gruppierungen sein sollen, kann nicht generell gesagt werden. Eine Schulklasse mit erheblich schulschwachen Gefangenen muss kleiner sein als eine hochmotivierte Klasse von Berufsschülern kurz vor der Gesellenprüfung, eine Gruppe, in der Berufsunfähige Arbeitstherapie betreiben, ist kleiner zu halten als eine Gruppe von Gefangenen, die schon draußen erfolgreich gearbeitet haben und jetzt in einem Fabrikationsbetrieb der Anstalt tätig sind. Für einen derart differenzierten Gruppenvollzug – und nur der ist in § 143 gemeint – eignen sich grundsätzlich alle Insassen (a. A. Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Vgl. auch § 7 Rdn. 12.
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4. Sozialtherapeutische Anstalten mit 200 Plätzen sind viel zu groß. Die bisher geschaffenen Einrichtungen halten sich an die für Vollzugseinheiten (Betreuungsgruppen) vorgesehenen Gefangenenzahlen, also etwa 80 (§ 9 Rdn. 4 f). Selbstständige Frauenstrafanstalten gibt es inzwischen in Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen (ausführlich Rdn. 4 vor § 76). Keine dieser Anstalten hält sich an die gesetzlich vorgegebene Größenordnung. Es stellt sich die Frage, ob die in § 143 Abs. 3 StVollzG genannte Beschränkung der Anstaltsgröße auf 200 Plätze der Entwicklung des Frauenvollzuges überhaupt noch Rechnung trägt. Es kann nicht so sehr auf die Anstaltsgröße ankommen. Entscheidend sind die Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb des Vollzuges. Im Zuge der Erkenntnisse aus der Budgetierung und den neuen Steuerungsinstrumenten (Steinhilper zu § 151 Rdn. 3) wird offenbar, dass zu kleine Anstalten oder Vollzugseinheiten unwirtschaftlich sind und den Anforderungen eines differenzierten Strafvollzuges nicht gerecht werden (a. A. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 11, die 200 Plätze für Frauenanstalten wegen der dortigen Problemballung als guten Richtwert für die Umgestaltung von Anstaltsgebäuden ansehen). Die selbständige Anstalt für Frauen in Vechta (Nds.) hat 290 Haftplätze, die sich auf vier Standorte verteilen, die neue JVA für Frauen in Schwäbisch Gmünd (Baden-Württemberg) 347 und die nichtselbständige JVA für Frauen in Aichach (Bayern) 445 Haftplätze für Frauen.
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III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 169 Abs. 1 u. 2 BayStvollzG entspricht § 143 Abs. 1 u. 2 StVollzG. Die Beschränkung 6 des § 143 Abs. 3 StVollzG findet sich nicht mehr im BayStVollzG. Der Gesetzgeber hat sich auf einige Vorgaben für die Größe und Gestaltung und ihrer Räumlichkeiten und deren Belegung beschränkt. Hierzu auch Laubenthal 2008 Rdn. 368. Von der Festlegung einer Höchstbelegungszahl (§ 143 Abs. 3 StVollzG) wurde zu Recht abgesehen (vgl. auch Arloth 2008 zu Art. 169 BayStvollzG). 2. Hamburg § 99 Abs. 1 u. 2. HmbStVollzG (Differenzierung) entspricht im Wesentlichem § 143 7 Abs. 1 u. 2 StVollzG (Größe und Gestaltung der Anstalten). Nach § 99 Abs. 1 HmbStVollzG sind Haftplätze in verschiedenen Anstalten oder Abteilungen vorzusehen, die den Sicherheitserfordernissen Rechnung tragen und eine auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestellte Behandlung gewährleisten. Die Gliederung der Anstalten soll die Unterbringung der Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen ermöglichen. Anders als in § 143 Abs. 3 StVollzG mit dem Hinweis, dass die vorgesehene Belegung zweihundert Plätze für sozialtherapeutische Anstalten und für Justizvollzugsanstalten für Frauen nicht übersteigen soll, regelt § 99 Abs. 2 HmbStVollzG, dass für den Vollzug nach § 10 (Sozialtherapie) eigenständige Anstalten oder getrennte Abteilungen (sozialtherapeutische Einrichtung) vorzusehen sind. Nach Arloth (zu § 100 HmbStVollzG vom 28.12.07, im Wesentlichen inhaltsgleich mit § 94, Bürgerschafts-Drucks. 19/2533), greift die Vorschrift die Regelung in § 141 StVollzG auf und verbindet sie mit § 143 Abs. 1 und 2 und § 123 Abs. 2 StVollzG (Arloth 2008 zu § 100 HmbStVollzG, S. 974). Hierzu auch: Laubenthal 2008 Rdn. 370). 3. Niedersachsen § 173 NJVollzG (Gestaltung, Differenzierung und Organisation der Anstalten) fasst 8 neben § 143 StVollzG auch die §§ 141, 142 und 147 StVollzG in einer Regelung zusammen. Die Regelung ist wie folgt gefasst: „Die Anstalten sind vom Fachministerium und von den Vollzugsbehörden so zu gestalten und zu differenzieren, dass Ziele und Aufgaben des Vollzuges gewährleistet werden. Personelle Ausstattung, sachliche Mittel und Organisation der Anstalten sind hieran auszurichten“. Die Regelung des § 173 NJVollzG beschränkt sich auf allgemeine Grundaussagen, ohne die im StVollzG enthaltenen detaillierten Vorgaben für die Größe, Ausgestaltung und Differenzierung der Anstalten zu übernehmen. Damit soll der Vollzugspraxis ein größerer Spielraum eingeräumt werden, ohne die bisherigen gesetzlichen Standards abzusenken.
§ 144 Größe und Ausgestaltung der Räume (1) Räume für den Aufenthalt während der Ruhe- und Freizeit sowie Gemeinschafts- und Besuchsräume sind wohnlich oder sonst ihrem Zweck entsprechend auszugestalten. Sie müssen hinreichend Luftinhalt haben und für eine gesunde Le-
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bensführung ausreichend mit Heizung und Lüftung, Boden- und Fensterfläche ausgestattet sein. (2) Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung Näheres über den Luftinhalt, die Lüftung, die Boden- und Fensterfläche sowie die Heizung und Einrichtung der Räume zu bestimmen.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Wohnlichkeit der Hafträume . . . 2. Gemeinschafts- und Besuchsräume 3. Rechtsverordnung nach Abs. 2 noch nicht erlassen . . . . . . . . . . .
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Rdn. III. Landesgesetze . 1. Bayern . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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I. Allgemeine Hinweise 1
Während § 18 regelt, dass Gefangene während der Ruhezeit allein in ihrem Haftraum unterzubringen sind und unter welchen Voraussetzungen Gefangene gemeinsam zur Ruhezeit in Hafträumen untergebracht werden dürfen, § 19 Maßstäbe formuliert, nach denen der Insasse die Hafträume mit eigenen Gegenständen ausstatten kann, § 17 Abs. 2 jedenfalls den Grundsatz enthält, dass ein Teil der Freizeit gemeinsam verbracht werden darf, geht es in § 144 um die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, die für das in §§ 17–19 skizzierte Programm erforderlichen baulichen und einrichtungsmäßigen Voraussetzungen bereitzuhalten. Trotz einfacher Ausgestaltung der Räume darf in der Art der Unterbringung keine zusätzliche Übelzufügung liegen (RegE, BT-Drucks. 7/918, 93, Laubenthal 2008 Rdn. 383). Deshalb sind Räume wohnlich und zweckentsprechend auszustatten und sollen in Erfüllung des Angleichungsgrundsatzes nach § 3 Abs. 1 den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich entsprechen. (C/MD 2008 Rdn. 1: Laubenthal 2008 Rdn. 376, Arloth 2008 Rdn. 1). Die Vorschrift ist angesichts der dem Gesetzgeber bekannten tatsächlichen Lage allerdings ungenau und allgemein gehalten. Der einzelne Gefangene kann aus der Vorschrift keine Rechte herleiten (OLG Nürnberg ZfStrVo 1983, 192; OLG Zweibrücken NStZ 1982, 221 = ZfStrVo 1982, 318; OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 62, 63; OLG Hamburg NStZ 1991, 103; OLG Hamm NStZ 1992, 352 und NStZ 1995, 436 B; KG, Beschl. v. 25.9.2007 – 2/5 Ws 189/05; Laubenthal 2008 Rdn. 382). Der Gefangene hat aber einen durchsetzbaren Anspruch darauf, dass durch die Art der Unterbringung seine Menschenwürde nicht verletzt und seine Gesundheit nicht gefährdet wird (OLG Zweibrücken aaO; OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 304). Zum Rechtsschutz auch Arloth 2008 Rdn. 4). Das Fehlen einer Steckdose im Haftraum verletzt die Menschenwürde nicht (OLG Hamm NStZ 1992, 352), wohl aber die Unterbringung in einem Haftraum, in dem es wiederholt zu Überschwemmungen aus der Toilette und anderen Abflüssen kommt (BVerfG StV 1993, 487; Laubenthal 2008 Rdn. 383). Ein überhaupt nicht oder nur durch einen Vorhang verdecktes WC im Gemeinschaftsraum verstößt gegen das Gebot menschenwürdiger Behandlung gem. Art. 1 GG und Art. 3 EMRK (OLG Hamm NJW 1967, 2024; OLG Frankfurt NStZ 1985, 572; NStZ-RR 2001, 28, 29 = ZfStrVo 2001, 55, 56 und NStZ 2003, 622; OLG Jena ZfStrVo 2004, 237f; LG Hannover BlStV 1/2003, 3 mit Anm. Rösch 6 = StV 2003, 568 mit Anm. Lesting; LG Gießen NStZ 2003, 624). Diese Art der Unterbringung kann auch bei großem Schamvorhang und eigenem Entlüf-
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tungsschacht nicht mehr als „gerade noch hinnehmbar“ (so aber OLG Celle BlStV 2/1990, 2, 3) bezeichnet werden, sondern ist nach Auffassung von AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 10 generell abzulehnen. Eine solche Unterbringung ist zudem diskriminierend und rechtfertigt auch bei nur kurzfristiger Dauer einen gerichtlichen Anspruch auf nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit (BVerfG ZfStrVo 2002, 178) und, wenn nicht besondere Umstände wie beispielsweise eine Zwangslage der Vollzugsbehörde oder keine nachhaltige körperliche oder seelische Belastung bei den Gefangenen vorliegen, die Zubilligung von Schmerzensgeld (OLG Celle ZfStrVo 2004, 55 ff, vom BGH bestätigt, BlStV 6/2004, 1; vgl. auch Arloth 2008 Rdn. 4 m. w. N.).
II. Erläuterungen 1. Unter „Räumen für den Aufenthalt während der Ruhe- und Freizeit“ sind die 2 Hafträume gem. § 18 zu verstehen. In ihnen verbringen die Gefangenen faktisch einen (größeren) Teil ihrer Freizeit. Selbst wenn sie nur zur Ruhezeit in die Hafträume gehen müssten, wäre ihnen der Aufenthalt während der Freizeit dort jedenfalls erlaubt (§ 17 Abs. 2 Satz 1). Deshalb darf es reine Schlafkojen nicht mehr geben. Allerdings muss in Anstalten, in denen gemeinschaftliche Freizeit nur sehr begrenzt ermöglicht werden kann, der Haftraum größer sein als dort, wo die Insassen den größten Teil der Freizeit gemeinsam in ihren Wohngruppen verbringen dürfen. Die 2006 neu gefassten Europäischen Strafvollzugsgrundsätze sehen vor, dass alle für Gefangene vorgesehenen Räume, insbesondere die für die nächtliche Unterbringung menschenwürdig ausgestattet sind, die Privatsphäre soweit wie möglich zu schützen ist und die Erfordernisse der Gesundheit und Hygiene zu erfüllen sind. Dabei sind die klimatischen Verhältnisse, die Luftmenge sowie die Beleuchtung, Heizung und Belüftung und insbesondere die Bodenfläche zu berücksichtigen (BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007, 2 BvR 939/07, juris, Rdn. 16). „Wohnlich“ ist ein dehnbarer Begriff. Ein Haftraum, in dem sich unabgetrennt ein WC befindet, kann kaum als wohnlich bezeichnet werden (vgl. OLG Zweibrücken aaO). Dagegen verletzt die Zuweisung eines Einzelhaftraumes ohne Abtrennung der Toilette vom übrigen Raum nicht den Anspruch des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 17.2.1982, NStZ 1982, 221). Der Gefangene hat aber Anspruch auf besondere Rücksichtnahme durch das Vollzugspersonal. Ein Bediensteter, der den Haftraum betreten will, muss sein Kommen beim Öffnen der Tür in angemessener Weise ankündigen (BVerfG, 30.05.1996, 2 BvR 460/01). In von mehreren Insassen bewohnten Hafträumen muss eine vollständig abgetrennte Nasszelle mit eigener Lüftung zur Verfügung stehen. Andernfalls muss die Möglichkeit der Benutzung von Wasch- und WC-Anlagen außerhalb des Haftraumes in der Wohngruppe tags und nachts bestehen. Das wiederum setzt voraus, dass die Tür des Haftraums von den Insassen jederzeit zu öffnen sein muss und die Anlagen ohne Gefahr, dort von anderen Gefangenen belästigt zu werden, benutzt werden können (Böhm 2003 Rdn. 201). Die mit mehreren Gefangenen belegten Hafträume müssen dem Einzelnen eine gewisse Bewegungsfreiheit erlauben. Ist zeitgleiches Lesen oder Schreiben der Insassen nicht mehr möglich, dann verstößt diese Unterbringung gegen die Menschenwürde (LG Braunschweig NStZ 1984, 286; OLG Frankfurt NStZ 1985, 572). Vgl. auch § 18 Rdn. 6. Der Gefangene hat einen Anspruch auf die der Witterung entsprechende Raumtemperatur und kann diesen im Verfahren nach § 109 geltend machen (OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 313). So genannte Spione, aus Sicherheitsgründen in den Türen eingebaute Einsichtmöglichkeiten, mit denen ohne Wissen des Insassen jede Ecke des Haftraums von außen kontrolliert werden kann, sind wegen der Verletzung der Intimsphäre nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 (s. § 4 Rdn. 26) statthaft (BGH JR 1992, 173 mit teilweise krit. Anm. Böhm). Sie dürfen
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also von den Gefangenen, wenn der Ausnahmefall nicht vorliegt, zugehängt werden. Das Anbringen eines Namensschildes an der Haftraumtür ist zulässig (BVerfG ZfStrVo 1997, 111; § 182 Rdn. 5) und steht nicht im Widerspruch zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Laubenthal 2008 Rdn. 391). Ein ordnungsgemäßer Vollzug wäre anders auch nicht durchführbar. Die Mitgefangenen erfahren die Namen der anderen Insassen ohnehin. Bei Führungen von Besuchern und anstaltsfremden Personen durch die Unterkunftsbereiche sind die Namensschilder abzunehmen oder zu verdecken. Der Anspruch auf Ausstattung des Haftraumes mit einer Steckdose kann sich aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben, wenn sich in anderen Hafträumen Steckdosen befinden. Sollte aber bei Einbau weiterer Steckdosen eine Überlastung des Stromnetzes zu befürchten sein, steht dieser Umstand dem Anspruch des Gefangenen entgegen (OLG Hamburg NStZ 1991, 103; vgl. auch § 19 Rdn. 4). Zur wohnlichen Ausstattung vgl. auch § 19 Rdn. 3. 3 Die Fenster müssen den Blick ins Freie gestatten und groß genug sein, damit die Gefangenen unter normalen Bedingungen bei Tageslicht lesen und arbeiten oder sich in Räumen aufhalten können, ohne dass es einer künstlichen Beleuchtung bedarf (dazu OLG Celle 15.7.1980 – 3 Ws 259/80, BVerfGE 13.11.2007, 2 BvR 939/07). In geschlossenen Anstalten erfüllen die mit einem Stahlgitter gegen Entweichung gesicherten Fenster diese Voraussetzung noch am ehesten (Böhm 2003 Rdn. 199). Auch andere Fensterkonstruktionen sind zulässig; Sichtblenden sind mit dem Gebot menschenwürdiger Behandlung vereinbar, wenn dem Insassen der Blick ins Freie nicht völlig genommen wird, der Haftraum tagsüber nicht künstlich beleuchtet werden muss, eine ausreichende Belüftung des Haftraumes sichergestellt ist und gesundheitliche Beeinträchtigungen vermieden werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1985, 62 ff; vgl. auch OLG Hamm NStZ 1995, 436; Arloth 2008 Rdn. 3; grundsätzlich abl. C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 6; BverfG 2, 13.11.2007, 2 BvR 939/07). Nachts muss sich der Gefangene auch gegen störenden Lichteinfall schützen können. Deshalb sollten die Fenster mit einfachen Vorhängen verdunkelt werden können. Das dient auch größerer Wohnlichkeit. Für Hafträume, in denen sich ein Gefangener tags und nachts aufhält, hatte die seit 1.12.1961 in allen Bundesländern geltende DVollzO einen Mindestluftraum von 22 m3 und eine Mindestfenstergröße von 1m2 vorgeschrieben (Nr.106 Abs. 2 DVollzO). Diese Mindestwerte dürfen – mehr als 40 Jahre später und nach einer Reform, die die Lebensverhältnisse der Gefangenen im Vollzug verbessern sollte – auf keinen Fall unterschritten werden (ähnlich KG ZfStrVo 1980, 191, 192; vgl. auch K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 86). Hier geht es nicht um Wohnlichkeit, sondern um das zur Gesunderhaltung Notwendige. Nach Nr. 106 Abs. 4 DVollzO sind in mit mehr als einem Gefangenen belegten Hafträumen für jeden Insassen 16 m3 Luftraum vorzusehen. Ist eine abgetrennte Nasszelle vorhanden oder in der Wohngruppe tags und nachts die Benutzung von getrennten WCund Waschanlagen möglich, dann kann der Wohnraum kleiner sein, als wenn er noch eine Waschecke mit WC umfasst. Bei der Bodenfläche werden Mindestmaße von 7 m2 (K/S-Schöch 2002, § 7 Rdn. 86; OLG Frankfurt NStZ 2003, 622; OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 29: 6,11 m2 bei einem Luftraum von 19,25 m3 für einen Einzelhaftraum ist gerade noch hinnehmbar) bzw. 10 m2 (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3) pro Gefangenen für erforderlich gehalten (vgl. auch BVerfG ZfStrVo 1994, 377). Die Mehrfachbelegung eines Haftraums verletzt dann die Menschenwürde, wenn sich – unbeschadet des vorhandenen Luftraumvolumens – drei Gefangene eine Zelle von 11,54 m2 einschließlich abgetrennter und gesondert gelüfteter Toilette teilen müssen (OLG Fankfurt, 21.02.2005, 3Ws1342 – 1343/04 StVollzG). Da auch der besondere Arrestraum (§ 104 Abs. 5 Satz 2) einem zum Aufenthalt bei Tag und Nacht geeigneten Haftraum entsprechen muss, gelten die Mindesterfordernisse, die hier erörtert worden sind, auch für ihn (OLG Nürnberg NStZ 1981, 200; zu zulässigen Einschränkungen, um Beschädigungen auszuschließen – Fenster aus Glasbausteinen, die Licht
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einlassen, aber keinen freien Ausblick ermöglichen –: KG NStZ 1984, 240 krit. C/MD 2008 Rdn. 1). Auch die §§ 145, 146 oder das Vorliegen einer Notsituation i. S. von § 18 Abs. 2 Satz 2 erlauben keinen Verstoß gegen das Gebot menschenwürdiger Unterbringung (BVerfG ZfStrVo 2002, 176). 2. Für die Gemeinschafts- und Besuchsräume gilt, dass sie wohnlich (wie Gruppen-, 4 Besprechungsräume) oder zweckentsprechend (Tischtennis-, Bastel-, Fernseh- und Duschräume – zu letzteren OLG Hamm MDR 1970, 611) oder auch beides (Teeküche mit Sitzecke) sind. „Wohnlich“ bedeutet vor allem auch „nicht steril“ und nicht in jeder Gruppe gleichmäßig. Für Eigeninitiative der Insassen sollte Raum verbleiben. Unabhängig davon müssen die Räume groß genug für die Anzahl der sie benutzenden Gefangenen sein (OLG Hamm BlStV 2/1981, 11: zwei „Drei-Mann-Zellen“ mit zusammen 46 m3 Luftraum genügen nicht als Fernsehraum für bis zu 50 Gefangene). 3. Das Bundesministerium der Justiz hat die in Abs. 2 erwähnte Rechtsverordnung 5 noch nicht erlassen.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 170 BayStVollzG ist wortgleich mit § 144 Abs. 1 StVollzG. Die Regelung von § 144 6 Abs. 2 StVollzG wurde gestrichen, weil diese durch eine entsprechende Verwaltungsvorschrift geregelt ist. Die VV zu Art. 170 BayStVollzG lautet: „1. Einzelhafträume für den Aufenthalt während des Tags und während der Nacht sollen so geplant werden, dass diese unter Berücksichtigung der WC-Kabine eine Bodenfläche von mindestens neun Quadratmetern haben. 2. In Anstalten des geschlossenen Vollzugs sind die Türen der Hafträume mit Vorrichtungen zu versehen, die einen Einblick in die Hafträume ermöglichen“ (weitere Erläuterungen zu Art. 170 BayStVollzG bei Arloth 2008 Art. 170 BayStVollzG). 2. Hamburg § 101 (Größe und Ausgestaltung der Räume) HmbStVollzG entspricht § 144 Abs. 1 7 StVollzG. Auf eine entsprechende Regelung wie § 144 Abs. 2 StVollzG wurde verzichtet. 3. Niedersachsen Die Regelungsgehalte der §§ 144, 145, 146 sind in § 174 NJVollzG (Belegungsfähigkeit 8 und Ausgestaltung der Räume) zusammengefasst. Die Regelung lautet: „(1) Das Fachministerium setzt die Belegungsfähigkeit sowie die Zahl der Einzel- und Gemeinschaftshafträume für jede Anstalt fest. (2) Räume für den Aufenthalt während der Ruhe- und Freizeit sowie Gemeinschafts- und Besuchsräume müssen zweckentsprechend ausgestaltet und für eine gesunde Lebensführung ausreichend mit Heizung, Lüftung, Boden- und Fensterfläche ausgestattet sein. In Gemeinschaftsräumen befindliche Sanitärbereiche sind baulich vollständig abzutrennen. Die Größe der Gemeinschaftsräume muss für die darin untergebrachten Gefangenen oder Sicherungsverwahrten unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zumutbar sein“. Abs. 2 Satz 1 des § 174 NJVollzG entspricht im Wesentlichen § 144 Abs. 1 StVollzG, wobei lediglich auf die Anforderungen einer „wohnlichen“ Gestaltung (Satz 1) und eines „hinreichenden Luftinhalts“ (Satz 2) verzichtet wurde. Die Ausführungen zur wohnlichen Gestaltung schienen entbehrlich mit Blick auf § 21 NJVollzG (Ausstattung des Haftraumes
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Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
und persönlicher Besitz). Eine § 144 Abs. 2 entsprechende Regelung findet sich im NJVollzG nicht, weil von der Verordnungsermächtigung in der Vergangenheit kein Gebrauch gemacht wurde.
§ 145 Festsetzung der Belegungsfähigkeit Die Aufsichtsbehörde setzt die Belegungsfähigkeit für jede Anstalt so fest, dass eine angemessene Unterbringung während der Ruhezeit (§ 18) gewährleistet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine ausreichende Anzahl von Plätzen für Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung sowie von Räumen für Seelsorge, Freizeit, Sport, therapeutische Maßnahmen und Besuche zur Verfügung steht. Schrifttum: Arndt Strafvollzugsbau, Bochum 1981; Lösche Architektonische Konsequenzen aus den Wohnbedürfnissen der Gefangenen in Jugendvollzugsanstalten, Hannover 1979.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Anspruch auf Entschädigung . . . 2. Restriktive Festsetzung der Belegungsfähigkeit . . . . . . . . . . 3. Unterbringung während der Ruhezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übergangsvorschrift . . . . . . . .
1 2–6 3
Rdn. III. Landesrecht . . . 1. Bayern . . . . 2. Hamburg . . 3. Niedersachsen
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4 5 6
I. Allgemeine Hinweise 1
Der Sinn der Vorschrift besteht darin festzuschreiben, dass eine Anstalt nicht stärker belegt werden darf als es die Vollzugsgrundsätze erlauben. Eine zu hoch angesetzte Belegungsfähigkeit könnte das Überbelegungsverbot (§ 146) unterlaufen (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 5). Mit der Belegungsfähigkeit ist die Zahl der Gefangenen gemeint, die angesichts der tatsächlichen Verhältnisse in der Anstalt (Größe und Ausstattung der Hafträume, Kapazitäten für Arbeit, Behandlung und Freizeit) und der rechtlichen Vorgaben (Achtung der Menschenwürde, Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und Berücksichtigung der Rechtsprechung) angemessen untergebracht werden können. Zu unterscheiden ist zwischen frei verfügbaren und aus Differenzierungsgründen nicht frei verfügbaren Haftplätzen, z. B. in Krankenrevieren, Sicherheitsstationen oder Sozialtherapeutischen Abteilungen. Mangels Regelungswirkung gegenüber dem einzelnen Gefangenen kann die Festsetzung der Belegungsfähigkeit von diesem nicht gerichtlich angefochten werden (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 6; Arloth 2008 Rdn. 1).
II. Erläuterungen 2
Die Belegungsfähigkeit wird auf Grund landesrechtlicher Vorschriften (für Niedersachsen AV des MJ vom 17.12.1976, NdsRpfl. 1977, 10, modifiziert durch Erlass des MJ vom 23.6.2005) festgesetzt, die auf Nr. 106 DVollzO zurückgehen (vgl. dazu auch KG ZfStrVo
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Festsetzung der Belegungsfähigkeit
§ 145
1980, 191 und OLG Hamm NJW 1967, 2024 mit Anm. Eb. Schmidt, KG Berlin, 25.09.2007, 2/5WS 189/05 Vollz. Rdn. 26 ff). Danach sollen Hafträume, die zum Aufenthalt bei Tage und bei Nacht dienen, mindestens 22 m3 Luftraum und ein Fenster mit mindestens 1 m2 Lichtfläche haben, das die Zufuhr frischer Luft gewährleistet. In Gemeinschaftshafträumen sollen auf jede Person mindestens 16 m3 Luftraum entfallen. Der Gestaltungsspielraum der Vollzugsbehörde bei der Ausgestaltung der Hafträume ist durch das Recht der Gefangenen auf Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK) eingeschränkt (schon OLG Zweibrücken NStZ 1982, 221). Als menschenunwürdig (vgl. auch Rdn. 1 zu § 144) betrachtet das OLG Frankfurt (NJW 2003, 2843) jedenfalls die Mehrfachbelegung von Hafträumen, wenn „die Toilette nicht abgetrennt oder nicht gesondert entlüftet ist sowie gleichzeitig die Mindestmaße hinsichtlich des erforderlichen Luftraums von 16 Kubikmetern oder hinsichtlich der erforderlichen Bodenfläche von 7 m2 jeweils pro Gefangenem nicht eingehalten werden“. Unter den besonderen Bedingungen eines halboffenen Vollzuges (Bewegungsfreiheit der Gefangenen innerhalb der Anstalt vom Wecken morgens bis zum Nachteinschluss einschließlich der Möglichkeit, Toiletten außerhalb der Hafträume aufzusuchen) hält das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 21.7.2004 – 3/Ws 168/04) allerdings eine Beeinträchtigung der Menschenwürde für nicht gegeben, wenn fünf Strafgefangene in einem Haftraum von 20,79 m2 Grundfläche und 67,3 m3 Luftraum untergebracht sind. Als Einzelhaftraum gerade noch hinnehmbar ist für das OLG Frankfurt eine Zelle von 6,11 m2 Grundfläche und 19,25 m3 Luftraum (NStZ-RR 2004, 29, hierzu auch OLG Frankfurt, 21.02.2005, 3 Ws 1342– 1343/04). Niedersachsen verzichtet generell auf eine Haftraumbelegung mit mehr als zwei Gefangenen im geschlossenen Vollzug und will die Einzelunterbringung ausbauen. Zudem werden Mindeststandards für die Haftraumgröße eingeführt. Der Einzelhaftraum im geschlossenen Vollzug soll künftig über ca. 8,5 m2 Fläche zzgl. Sanitärbereich mit abgetrennter oder getrennter Toilette, gesondert entlüftet, verfügen. Die Haftraumgröße soll bei Doppelunterbringung ca. 6 m2 (ohne Sanitärbereich) pro Gefangenen betragen (Pressemitteilung Nds. Justizministerium vom 1.2.2009). 1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen einem Strafgefangenen ein Anspruch 3 auf Entschädigung in Geld wegen menschenunwürdiger Unterbringung zustehen kann, hat der BGH (NJW 2005, 58) entschieden, dass eine Menschenrechtsverletzung nicht in jedem Fall eine finanzielle Wiedergutmachung erfordere. Vielmehr seien die Bedeutung und Tragweite der Menschenrechtsverletzung, ihr Anlass und die Beweggründe des Handelnden sowie der Grad des Verschuldens zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall einer zwei Tage dauernden Unterbringung von fünf Gefangenen in einem 16 m2 großen Haftraum ohne fest abgetrennte Toilette mit der Möglichkeit, den Haftraum täglich für eine Stunde zur Bewegung im Freien zu verlassen, habe der Kläger bereits durch die von der StVK getroffene Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Unterbringung Schutz und Genugtuung erfahren. 2. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, die Belegungsfähigkeit aus Behandlungs- 4 gründen restriktiv festzusetzen (C/MD 2008 § 145; KG ZfStrVo 1981, 191; AK-Huchting/ Lehmann 2006 Rdn. 5; Arloth 2008 Rdn. 2), damit die verfügbaren Kapazitäten für eine rechtmäßige Unterbringung sowie für Arbeit, Ausbildung und Behandlung, Freizeit und die Pflege von Kontakten zur Außenwelt ausreichen (vgl. Rdn. 1). Ob darüber hinaus für je acht Haftplätze ein Raum für Gruppentätigkeiten vorgesehen werden muss (so AK-Huchting/ Lehmann 2006 Rdn. 4; Arndt 1981, 149) ist zweifelhaft. Insoweit dürfte es eher auf die Raumgröße und die Art der Gruppentätigkeit ankommen. Auch die Forderung, für je 16 Gefangene einen Besuchsraum zur Verfügung zu stellen (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 4),
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§ 145
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
bedarf noch der empirischen Absicherung; das Ergebnis wird auch von den Besonderheiten der Anstalt (offener Vollzug, geographischer Lage der Anstalt usw.) abhängen. 5 3. Nach § 145 Satz 1 ist bei der Festsetzung der Belegungsfähigkeit grundsätzlich darauf zu achten, dass der Gefangene während der Ruhezeit allein in einem Haftraum untergebracht wird (zum Begriff der Ruhezeit § 18 Rdn. 3). Die §§ 145, 146 setzen die Beachtung der dem Gefangenen in § 18 gewährten Rechte voraus (OLG Celle ZfStrVo 1999, 57). Eine Doppelbelegung ist daher im geschlossenen Vollzug in den Anstalten, mit deren Errichtung nach Inkrafttreten des StVollzG begonnen wurde (zum offenen Vollzug vgl. § 18 Abs. 2 Satz 1) nur unter den Voraussetzungen des § 18 Abs. 2 Satz 2 zulässig (OLG Celle aaO; LG Kassel ZfStrVo 2001, 119). Bei Unterschreitung eines Luftraums von 16 m3 je Gefangenen in Hafträumen ohne abgetrennte oder gesondert entlüftete Toilette ist eine Doppelbelegung – unabhängig vom Alter der Anstalt – menschenunwürdig (vgl. Rdn. 2 und § 18 Rdn. 6, § 144 Rdn. 3). Für Anstalten, mit deren Errichtung vor dem 1.1.1977 begonnen wurde, gilt der § 145 allerdings zur Zeit noch in Verbindung mit der Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 5 und Nr. 3; danach dürfen Gefangene abweichend von § 18 während der Ruhezeit auch gemeinsam untergebracht werden, so lange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern und der Haftraum ausreichend groß ist (vgl. Rdn. 2). Die gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Personen war jedoch nur bis zum Ablauf des 31.12.1985 zulässig. Für die Anwendbarkeit der Übergangsvorschrift von § 201 ist nach Auffassung des LG Halle (08.11.2004, 27 StVK 462/04) nicht auf die gesamte Anstalt, sondern auf das einzelne Hafthaus abzustellen. Anderenfalls gelange man zu dem paradoxen Ergebnis, dass eine gesamte Anstalt noch als „Altbau“ i. S. d. § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG gilt, selbst wenn sie aus vielen, neu errichteten (oder im Rahmen einer großen Neu-, Umbauund Erweiterungsmaßnahme umgebauten Häusern) und lediglich einem unsanierten Altbaugebäude besteht. 6 4. Die Übergangsvorschrift von § 201 Nr. 5 i. V. m. Nr. 3 hat auch für die überwiegend älteren Strafvollzugseinrichtungen auf dem Gebiet der früheren DDR Bedeutung erlangt (zur Geltung des Strafvollzugsgesetzes im Gebiet der früheren DDR siehe § 202). Dasselbe gilt für die Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 5 i. V. m. Nr. 2, nach der in den Anstalten, mit deren Errichtung vor dem 1.1.1977 begonnen wurde (in den neuen Bundesländern vor dem 3.10.1990), die gemeinschaftliche Unterbringung während der Freizeit eingeschränkt werden kann, wenn und solange die räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern. Die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit muss jedoch seit dem 1.1.1989 gewährleistet sein, so dass Zellenarbeitsplätze bei der Einzelunterbringung entfallen (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3).
III. Landesrecht 1. Bayern
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Art. 171 BayStVollzG entspricht § 145 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 102 HmbStVollzG (Festsetzung der Belegungsfähigkeit) entspricht § 145 StVollzG: Im HmbStVollzG ist die Unterbringung während der Ruhezeit in § 20 geregelt.
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Verbot der Überbelegung
§ 146
3. Niedersachsen § 174 NJVollzG entspricht in Abs. 1 § 145 Satz 1, Halbsatz 1 StVollzG. Verzichtet wurde 9 auf die in § 145 Satz 1, Halbsatz 2 und Satz 2 StvollzG enthaltenen Detailvorgaben, Allerdings wurde die Festlegung der Zahl der Einzel- und Gemeinschaftshafträume geregelt.
§ 146 Verbot der Überbelegung (1) Hafträume dürfen nicht mit mehr Personen als zugelassen belegt werden. (2) Ausnahmen hiervon sind nur vorübergehend und nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. Schrifttum: Kreuzer Gefängnisüberfüllung – eine kriminalpolitische Herausforderung?, in: FS für Blau, Berlin 1985, 459 ff; Oberheim Gefängnisüberfüllung, in: ZfStrVo 1985a, 15 ff; ders. Kriminalpolitik und Überbelegung im Justizvollzug, in: ZRP 1985b, 133 ff; Suhling/Schott Ansatzpunkte zur Erklärung der gestiegenen Gefangenenzahlen in Deutschland, in: Bereswill/Greve (Hrsg.), Forschungsthema Strafvollzug, Baden-Baden 2001, 25 ff; Theile Menschenwürde und Mehrfachbelegung im geschlossenen Vollzug, in: StV 2002, 670 ff; Schott Strafausspruch, Strafzumessung und Strafvollzug in Zeiten der Überbelegung, in ZfStrVo 2003, 195 ff; Weitemeier & Münse, Strategische Analyse zur Kriminalitätsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern, in: Die neue Polizei, 2007, 57, Heft 2–3, 18–22; Simonson Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf den Justizvollzug – Überlegungen am Beispiel Niedersachsens –, in Koop/Kappenberg Wohin fährt der Justizvoll-Zug, Lingen 2009.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Belegung über Belegungsfähigkeit verboten (Abs. 1) . . . . . . . . . 2. Zur Belegungsfähigkeit und Haftraumreserve . . . . . . . . . . . 3. Folgen der Überbelegung . . . . a) Statistik und Problematik . . b) Haftraumverluste durch Umwidmung . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
1–5
1. Ablehnung der Aufnahme von Verurteilten . . . . . . . . . . . . . 6 2. Zulässige Überbelegung (Abs. 2) . 7 a) „vorübergehend“ . . . . . . . 8 b) „Notbelegungsfähigkeit“ . . . 9 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 10–12 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 11 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 12
1 2 3–5 3–4 5 6–9
I. Allgemeine Hinweise 1. § 146 ergänzt § 145. Überbelegung ist als Überschreitung der zugelassenen Kapa- 1 zitäten (Belegungsfähigkeit) einer Vollzugsanstalt zu definieren (Schott 2003, 195). Eine Belegung über die Belegungsfähigkeit hinaus ist grundsätzlich verboten, weil sie die Gestaltung des Vollzuges (§ 3) beeinträchtigen kann und insoweit nicht nur die Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 Satz 1) gefährdet, sondern auch dem Gegensteuerungsgrundsatz (§ 3 Abs. 2) widerspricht. Das Überbelegungsverbot dient also dem Schutz der Behandlungsarbeit in den Anstalten. Die Überbelegung kann im Übrigen gegen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG sowie gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung des Art. 3 EMRK verstoßen (vgl. Rdn. 2 zu § 145). Zu den
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§ 146
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
Gründen der Überbelegung vgl. Oberheim 1985b; Kreuzer 1985; Suhling/Schott 2001; Schott 2003, 195.
2
2. Aus §§ 145 und 146 folgt die Verpflichtung zur Bereithaltung einer Haftraumreserve, um vorübergehende Spitzenbelegungen und Notfälle (z. B. wegen Baumaßnahmen, Unbewohnbarkeit von Hafträumen) abfedern zu können. Schöch (in: K/S 2002 § 12 Rdn. 2) weist darauf hin, dass es bei der Belegung erhebliche regionale sowie örtliche Unterschiede gibt und außerdem die Belegungsquote (Gefangene je 100 Haftplätze) saisonal stark schwanken kann. Die jahreszeitlichen Belegungsschwankungen machten im Bundesgebiet im Laufe des Jahres 2000 rund 6 % der Durchschnittsbelegung aus (Differenz von 4.516 Gefangenen zwischen der Belegung einschließlich vorübergehend Abwesender von 82.548 Ende April und 78.032 Ende Dezember). Um solche Belegungsschwankungen besser auffangen zu können, haben Grunau/Tiesler 1982 (Rdn. 1) vorgeschlagen (so auch Böhm 2003 Rdn. 210), die Belegungsfähigkeit einer Anstalt 10 % unterhalb der nach § 145 verfügbaren Haftplatzzahl festzusetzen. Eine zu 90 % ausgelastete Einrichtung wäre danach voll belegt (vgl. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3; Schott 2003, 195).
3. a) Der Strafvollzug war in Deutschland seit den 90iger Jahren durch einen stetigen Anstieg der Gefangenenzahlen geprägt, der zur Überbelegung mit den entsprechenden Folgen geführt hat (Schott 2003, 195; zur strukturellen Überbelegung Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 3). Die Belegung (anwesende Gefangene [IST-Belegung oder „Esser“] plus vorübergehend abwesende Gefangene) betrug am 31.3.2004 bundesweit 82.579 Gefangene, für die aber nur 79.204 Haftplätze zur Verfügung standen. Seit 2007 ist ein Rückgang der Gefangenenzahlen zu verzeichnen. So betrug die Belegung am 31.3.2008 noch 76.551 Gefangene, für die 80.507 Haftplätze zur Verfügung standen (Statistisches Bundesamt) Damit gibt es erstmals seit Jahren mehr Haftplätze als Gefangene. Inwieweit die Festsetzungen der Belegungsfähigkeit allerdings den gebotenen Mindeststandards entsprechen (vgl. Rdn. 2 zu § 145), ist fraglich (vgl. auch § 18 Rdn. 2). Nach Angaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.08.2008 beläuft sich die Gefangenenrate (Häftlinge je 100.000 Einwohner) in Deutschland auf 91. Im Jahr 2000 betrug der Wert noch 98. Das Statistische Bundesamt begründet die rückläufige Gefangenenrate mit der gesunkenen Zahl an Untersuchungsgefangenen. Der Auslastungsgrad der Gefängnisse sei von 105 Prozent im Jahr 2000 auf 93 Prozent im Jahr 2007 gesunken (FS 5/2008, 195). Weitemeier & Münse prognostizieren für Mecklenburg-Vorpommern einen Rückgang der Kriminalität aufgrund der demografischen Entwicklung in diesem Bundesland in den nächsten 10 Jahren um etwa 30 % (Weitemeier & Münse 2007) Ob der gegenwärtige Rückgang der Kriminalität und der Gefangenenzahlen zu einer Trendwende und zu einem dauerhaften Abbau der Überbelegung im Strafvollzug führen wird, bleibt abzuwarten (skeptisch Schwind in FS für Kreuzer 2008, 701 ff). Es spricht allerdings einiges dafür, dass die demografische Entwicklung (Vergreisung der Gesellschaft, Rückgang der Arbeitslosigkeit) und die Eingebundenheit Deutschlands im Herzen Europas einen Einfluss auf die Gefangenenzahlen haben werden (dazu auch Simonson 2009). Obgleich viele neue Anstalten gebaut wurden und noch werden, reicht die Zahl der Haft4 räume insgesamt nicht aus, da vorhandene Hafträume zu Arbeits-, Ausbildungs- und Weiterbildungsräumen sowie zu Diensträumen für zusätzlich eingestellte Fachkräfte (vgl. § 145 Satz 2) umgewidmet wurden und künftig auch werden. Darüber hinaus werden viele Hafträume, die den modernen Vollzugsgesichtspunkten nicht mehr entsprechen, nicht mehr benutzt, andere zu Freizeiträumen umgewidmet. Die Frage der Überbelegung wird trotz gegenwärtiger Entspannung auch künftig kritisch bleiben, denn durch die neue Rechtsprechung zu § 18 (vgl. § 18 Rdn. 6 und § 144 Rdn. 2 und 3) wurden die Anforderun-
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Verbot der Überbelegung
§ 146
gen an Hafträume heraufgesetzt, indem die Mehrfachbelegung von Hafträumen ohne fest abgetrennte Toilette als menschenunwürdig bezeichnet und eine Mindestgröße von Hafträumen eingefordert wird, so dass bisher gültige Festsetzungen der Belegungsfähigkeit zu revidieren sind (vgl. § 145 Rdn. 2). b) Die Folgen der Überbelegung gehen zu Lasten der Gefangenen und der Vollzugs- 5 bediensteten. Schott weist mit Recht darauf hin, dass sich durch Überbelegung das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Gefangenen und Personal verändert. Die Konsequenzen sind Mehrbelastung und Überbelastung des Personals (Schott 2003, 196). Oberheim sieht gar die Gefahr eines Einflusses auf das Berufsbild des allgemeinen Vollzugsdienstes durch Rückentwicklung vom Betreuungspersonal hin zum reinen Aufsichtspersonal und damit eines Rückfalls in den ohnehin nur mühsam überwundenen „Schließer“ Status. Statt sich mit dem einzelnen Gefangenen zu beschäftigen, kommt es zu einer unpersönlichen Abarbeitung des routinemäßigen täglichen Arbeitsanfalls (Oberheim 1985b, 143, 175, 198). Durch die Überbelegung kommt es aber auch zu negativen Auswirkungen auf den Behandlungsvollzug (Rdn. 1). Wenn zu wenig Personal zur Verfügung steht, besteht die Gefahr, dass Anzahl und Dauer von Behandlungsmaßnahmen eingeschränkt werden und die Behandlungsintensität sowie die Qualität sinkt. Zudem kommt es zu längeren Bearbeitungszeiten z. B. bei Vollzugsplänen und bei Lockerungsentscheidungen. Schließlich werden Trennungsgrundsätze ausgehöhlt und notwendige vollzugliche Differenzierungsmaßnahmen unmöglich gemacht. Nach Schott geht durch die Überbelegung der Charakter eines differenzierten Strafvollzuges verloren, weil Vollzugsaufgaben nur noch unter pragmatischen, kapazitätsausschöpfenden Aspekten erledigt werden (Schott 2003, 196).
II. Erläuterungen 1. Aus der Vorschrift ergibt sich, dass die Vollzugsbehörde die Aufnahme von Verurteil- 6 ten über die Belegungsfähigkeit hinaus ablehnen darf (RegE, BT-Drucks. 7/918, 153): Nach § 455a StPO können Anstaltsleiter oder Vollstreckungsbehörde (nach Maßgabe des § 46a StVollstrO) die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bei zum Strafantritt anstehenden Personen aufschieben oder bei Gefangenen unterbrechen. 2. Abs. 2 sieht aber noch eine andere Möglichkeit vor: Eine Überbelegung ist ausnahms- 7 weise dann zulässig, wenn sie erstens nur „vorübergehend“ ist und zweitens die Aufsichtsbehörde zustimmt (vgl. aber § 144 Rdn. 3). Die Vorschrift will jedoch keinen Ausweg für eine chronische Überbelegung eröffnen (OLG Celle ZfStrVo 1999, 57). Schweigt die Aufsichtsbehörde auf die regelmäßige Mitteilung der Überbelegung, so ist darin eine Zustimmung i. S. des § 146 Abs. 2 zu sehen (in OLG Celle aaO), weil der Gesetzgeber eine Reaktion der Aufsichtsbehörde erwartet. Die Überbelegung darf auch nicht dazu führen, dass ein Antrag eines Gefangenen auf Besuchsüberstellung aus Gründen der Belegung abgelehnt wird (BVerfG 2 BvR 2111/06, Beschluss OLG Jena/LG Meiningen vom 5.5.2008 – www.hrrstrafrecht.de-Rechtssprechungsübersicht). a) Die Zeitdauer, die mit dem Begriff „vorübergehend“ gemeint ist, soll nach 8 AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 7 der „eines nicht ständigen Logierbesuchs“ entsprechen, nämlich zwischen ein und sieben Tage. Eine einwöchige Überbelegung wäre danach noch zulässig, eine länger andauernde Überbelegung nicht mehr. Die Bundesländer legen den Begriff der „vorübergehenden“ Überbelegung allerdings sehr unterschiedlich aus. Zum Teil wird auf die Festlegung eines konkreten Zeitraums ganz verzichtet, zum Teil schwankt dieser Zeitraum zwischen zwei und zwölf Monaten. Die Zulässigkeit der vorübergehenden Überbelegung wird sowohl nach ihrer Begründung (chronische Überbelegung oder kurz-
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§ 147
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
fristig eingetretene, außergewöhnliche Notlage) als auch nach ihrer Qualität und Dauer zu beurteilen sein. Ist die Unterbringung menschenunwürdig, so besteht kein zeitlicher Spielraum, ist sie als rechtswidrig anzusehen (vgl. Rdn. 6), so ist schon eine dreimonatige „Organisationsfrist“ unzulässig. Die Zuweisung eines bestimmten Haftraums innerhalb der nach dem Vollstreckungsplan zuständigen Haftanstalt dürfte nach Auffassung des OLG Celle „die Überbelegung einmal hinweggedacht“ in wesentlich kürzerer Zeit zu bewerkstelligen sein als die Suche nach einem passenden Maßregelvollzugsplatz (StV 2003, 567 f). Erfolgt die Unterbringung dagegen in ausreichend großen Hafträumen (mindestens 16 m3 Luftraum je Gefangenen, vgl. § 145 Rdn. 2) mit fest abgetrennter Toilette, so ist auch eine mehrmonatige Überbelegung zumutbar.
9
b) In Niedersachsen wurde Anfang der 1990er Jahre für die einzelnen Anstalten eine sog. Notbelegungsfähigkeit festgesetzt, die in Abweichung von der AV vom 17.12.1976 zu § 144 (vgl. § 145 Rdn. 2) die Höchstbelegungen festlegte, für deren Ausnutzung die Zustimmung der Vollzugsbehörde als vorab erteilt galt. Diese Regelung wurde 2005 aufgegeben, da die Notbelegung vollzugliche Standards unterschritt und zu einer Verletzung der Menschenwürde führen konnte. Belegungspläne und ähnliche Verwaltungsvorschriften der Aufsichtsbehörde binden allerdings die Strafvollstreckungskammern bei der Prüfung der Belegung eines Haftraumes nicht (KG ZfStrVo 1980, 191; OLG StV 2003, 567 f).
III. Landesrecht 1. Bayern
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Art. 172 BayStVollzG entspricht § 146 StVollzG. 2. Hamburg
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§ 103 HmbStVollzG (Verbot der Überbelegung) entspricht § 146 StVollzG. 3. Niedersachsen
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Das in § 146 StvollzG geregelte Verbot der Überbelegung findet sich nicht ausdrücklich im NJVollzG. Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass sich aus der Festsetzung der Belegungsfähigkeit nach § 174 Abs. 1 NJVollzG unmittelbar ergibt, dass diese von den Vollzugsbehörden nicht überschritten werden darf (Arloth 2008 § 174).
§ 147 Einrichtungen für die Entlassung Um die Entlassung vorzubereiten, sollen den geschlossenen Anstalten offene Einrichtungen angegliedert oder gesonderte offene Anstalten vorgesehen werden.
I. Erläuterungen 1
Der Gesetzgeber fordert die Justizverwaltungen auf, den Gefangenen zur Erleichterung ihres Übergangs in die Freiheit offene Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Diejenigen Gefangenen, die sich im geschlossenen Vollzug befinden, können zur Vorbereitung
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Ulrich Freise/Tina-Angela Lindner
Arbeitsbeschaffung, Gelegenheit zur beruflichen Bildung
§ 148
ihrer Entlassung im Fall ihrer Eignung (vgl. § 10 Rdn. 9) für den offenen Vollzug gem. § 15 Abs. 2 dorthin verlegt werden. In Betracht kommen sowohl gesonderte offene Anstalten als auch solche offenen Ein- 2 richtungen, die geschlossenen Anstalten angegliedert sind. Sofern die Gefangenen regelmäßig in allgemeine Einrichtungen des offenen Vollzugs verlegt werden können, ist auch dies laut Gesetzesbegründung ausreichend (BT-Drucks. 7/918, 93). Spezielle Einrichtungen für die Entlassungsvorbereitung sind somit von der Regelung nicht gefordert. Bei den angegliederten offenen Einrichtungen hat der Gesetzgeber an offene Abteilungen und Freigängerhäuser gedacht (vgl. BT-Drucks. 7/918, 93). Allerdings lässt der Begriff „Einrichtungen“ auch andere Formen, wie beispielsweise anzumietende Häuser oder Großwohnungen an dem Ort zu, an dem die Gefangenen nach ihrer Entlassung leben werden (AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2). In einigen Bundesländern wurden sog. Übergangshäuser eingerichtet. Die Gefangenen sollen dort nach einer lang verbüßten Freiheitsstrafe wieder schrittweise an ein Leben in Freiheit herangeführt werden. Sie können in freien Betrieben außerhalb der Anstalt einer Ausbildung oder Beschäftigung nachgehen und schließen ihren Arbeitsvertrag selbst ab, wofür der übliche Tariflohn gezahlt wird. Die Gefangenen sind angehalten, von ihren Einkünften Unterhaltspflichten zu erfüllen und möglichst Schulden zu begleichen. Ein Haftkostenbeitrag ist zu entrichten. Zu Modellen im Ausland s. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2.
II. Landesgesetze Bayern, Hamburg und Niedersachsen haben die Regelung nicht übernommen. Nie- 3 dersachsen hat vielmehr in § 173 NJVollzG geregelt, dass die Anstalten allgemein so zu gestalten und zu differenzieren sind, dass Ziele und Aufgaben des Vollzugs gewährleistet werden. Eine ähnliche Regelung enthält § 99 des HmbStVollzG. Diese Verschlankung des Gesetzes ist sachgerecht. Der niedersächsische Gesetzgeber weist zutreffend darauf hin, dass in Vorschriften wie § 7 Abs. 2 Nr. 8 und 15 Abs. 2 die besondere Bedeutung der Entlassungsvorbereitung und in diesem Zusammenhang der Einrichtungen des offenen Vollzugs bereits hinreichend zum Ausdruck kommt (vgl. LT-Drucks. 15/3565, 2008). Aus den Zahlen zur Belegung (§ 10 Rdn. 5) ist ersichtlich, dass die Praxis vor die Herausforderung gestellt ist, die Entlassung oftmals sogar aus dem geschlossenen Vollzug heraus vorbereiten zu müssen, da einer nicht geringen Anzahl Gefangener auch gegen Ende der Haftzeit noch die Eignung für eine Verlegung in den offenen Vollzug fehlt.
§ 148 Arbeitsbeschaffung, Gelegenheit zur beruflichen Bildung (1) Die Vollzugsbehörde soll im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dafür sorgen, dass jeder arbeitsfähige Gefangene wirtschaftlich ergiebige Arbeit ausüben kann, und dazu beitragen, dass er beruflich gefördert, beraten und vermittelt wird. (2) Die Vollzugsbehörde stellt durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicher, dass die Bundesagentur für Arbeit die ihr obliegenden Aufgaben wie Berufsberatung, Ausbildungsvermittlung und Arbeitsvermittlung durchführen kann. Schrifttum: s. bei § 37
Klaus Laubenthal
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§ 148
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
I. Allgemeine Hinweise 1
Abs. 2 der Vorschrift wurde durch Art. 41 Nr. 1 des Gesetzes vom 23.12.2003 (BGBl. I, 2848) redaktionell an die Umbenennung der Bundesanstalt für Arbeit angepasst. Durch § 148 soll auf der vollzugsorganisatorischen Ebene sichergestellt werden, dass gem. § 37 Abs. 2 und 3 (s. dort Rdn. 10 ff) jeder Gefangene entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten eine berufliche Förderung durch sinnvollen Arbeitseinsatz oder Aus- und Weiterbildung erfährt, so dass er nach der Entlassung insoweit möglichst günstige Wiedereingliederungsvoraussetzungen hat. Die Vorschrift steht in engem Zusammenhang mit §§ 37, 41 und 149. Sie verpflichtet die Vollzugsbehörden dazu, alle personellen, baulichen und organisatorischen Möglichkeiten zur Arbeitsbeschaffung für Gefangene auszuschöpfen, dabei auch eigene werbewirksame Aktivitäten außerhalb der Vollzugsanstalt zu entfalten und die Zusammenarbeit mit den einschlägigen Institutionen außerhalb des Vollzuges zu suchen. Die Bestimmung fordert mithin eine aktive Arbeitsbeschaffungspolitik der Anstalten und Aufsichtsbehörden. Hierbei ist – aufgrund des Verzichts des Gesetzgebers, Nr. 83 der früheren Dienst- und Vollzugsordnung in das StVollzG zu übernehmen und somit Belange der freien Wirtschaft „angemessen zu berücksichtigen“ – zwar kein Konkurrenzverbot für die Eigenbetriebe zu beachten (C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 6), jedoch wegen der sonst tangierten Belange der heimischen Wirtschaft eine gewisse Zurückhaltung mit (insbesondere aggressiver) Werbung für Produkte von Eigenbetrieben politisch geboten (s. Arloth 2008 Rdn. 2). Allerdings wirken sich die seit längerer Zeit negativen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt auf die Gefangenenarbeit besonders stark aus. Deshalb steht die Arbeitsverwaltung der Vollzugsbehörden in Zeiten einer schlechten Konjunkturlage in besonderem Maße vor der ohnehin schwierigen Aufgabe der Arbeitsbeschaffung, zumal konkurrierende Arbeitgeber bzw. Unternehmen (ebenso wie Arbeitnehmer und Gewerkschaften) in der Regel wenig geneigt sind, sich für die Gefangenenarbeit einzusetzen.
II. Erläuterungen 2
Das Sorgen für Arbeit kann in vielfältiger Form zum Ausdruck kommen und auf verschiedene Weise verwirklicht werden. Die Gesetzesregelung legt keinen bestimmten Weg fest (vgl. aber AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 1 f). In den Bundesländern ist deshalb der Bereich der Gefangenenarbeit unterschiedlich organisiert. Zunächst ist zu unterscheiden (s. dazu Laubenthal 2008 Rdn. 401 ff) zwischen Eigenbetrieben (etwa als „verlängerte Werkbank“ privater Unternehmen; s. Arloth 2008 Rdn. 2), sowie als sog. Hilfsoder Versorgungsbetriebe, die den Eigenbedarf der Anstalt selbst decken), d. h. Arbeitsbetrieben, die in den Anstalten von der Vollzugsverwaltung selbst eingerichtet und geführt werden (zur Verpflichtung dazu vgl. § 149 Abs. 1) und Unternehmerbetrieben, d. h. Arbeitsbetrieben, die von freien Unternehmern außerhalb des Vollzuges meistens als Zweigbetrieb, Außenstelle oder Niederlassung ihres Hauptbetriebes innerhalb einer Anstalt eingerichtet und geführt werden (zur personellen Führung der Unternehmerbetriebe s. § 149 Rdn. 7). Hinzu kommen reine Ausbildungsbetriebe entweder in eigener Regie der Vollzugsbehörden – vornehmlich im Jugendstrafvollzug – oder auch unter Regie freier Träger (Arbeitgeberverbände, Innungen, Berufsfortbildungswerke der Gewerkschaften), die ihrerseits sehr eng mit der Bundesagentur für Arbeit und den örtlichen Agenturen für Arbeit kooperieren – vornehmlich bei der Umschulung im Erwachsenenstrafvollzug. Die größeren vollzugseigenen Arbeits- und Ausbildungsbetriebe sind – in den Bundesländern
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Klaus Laubenthal
Arbeitsbeschaffung, Gelegenheit zur beruflichen Bildung
§ 148
unterschiedlich – entweder auf Anstalts-, Regional- oder auch Landesebene zu Wirtschaftsbetrieben gemäß den Landeshaushaltsordnungen zusammengefasst. Die Arbeitsbeschaffung durch die Vollzugsbehörden soll im Zusammenwirken mit den (externen) Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens (also neben der Bundesagentur für Arbeit z. B. Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern, Berufsschulen und andere externe Träger beruflicher Bildung sowie vor allem auch private Betriebe) erfolgen. Die Bestimmung ist ein weiteres Beispiel für die Konkretisierung des Angleichungsgrundsatzes in § 3 Abs. 1. Das Gebot des Zusammenwirkens eröffnet Chancen, weil der Bereich „Arbeit“ im Vollzug zum Teil über die örtlichen Agenturen für Arbeit z. B. auch mit Konjunkturprogrammen und anderen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen verbunden werden kann (zu weiteren möglichen Initiativen vgl. die Beispiele bei AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 6). Dabei versuchen die Vollzugsbehörden jedoch nach wie vor die Arbeitsbeschaffung so zu organisieren, dass neben den konjunkturanfälligeren Unternehmerbetrieben in ausreichender Zahl auch Eigenbetriebe vorhanden sind, zumal nach Möglichkeit Arbeit für jeden arbeitsfähigen Gefangenen zu beschaffen ist. Es soll wirtschaftlich ergiebige Arbeit ausgeübt werden (s. dazu § 37 Rdn. 11 ff). Ob dies eher in Eigenbetrieben des Vollzuges möglich ist, die zwar etwas weniger konjunkturanfällig sind, dafür aber auch in schwächer ausgeprägter Managementführung eher nicht einen den allgemeinen Verhältnissen außerhalb des Vollzugs angepassten Arbeitsablauf und Produktionsrhythmus haben, oder eher in Unternehmerbetrieben, in denen häufig wenig beliebte, einfachere Hilfstätigkeiten mit geringeren Anforderungen an die Arbeitnehmer ausgeführt werden, ist nicht eindeutig (vgl. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2). Allerdings unterliegt das Arbeitsangebot von Eigenbetrieben auch in Zeiten wirtschaftlicher Rezession geringeren Schwankungen (vgl. aber Rdn. 1) als Unternehmerarbeit, welche erfahrungsgemäß dann vorrangig eingestellt wird mit der Folge höherer Arbeitslosigkeit in den Anstalten (vgl. C/MD 2008 Rdn. 2). Die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, zur beruflichen Förderung, Beratung und Vermittlung beizutragen, soll deutlich machen, dass in diesem Bereich eine enge Verzahnung mit denjenigen Einrichtungen und Stellen zu erfolgen hat, die wegen anderer gesetzlicher Grundlagen in erster Linie Träger solcher Bemühungen sind. Der Strafvollzug soll verbunden sein mit den Zwecken und Zielen, die z. B. mit dem SGB III – Arbeitsförderung, dem Berufsbildungsgesetz und dem Bundesausbildungsförderungsgesetz verfolgt werden. Neben den aufgrund dieser Gesetze zuständigen staatlichen Stellen ist es daher erforderlich, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen mit dem Justizvollzug kooperieren. Da der Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit eine ganz besondere Bedeutung zukommt, werden die Vollzugsbehörden in Abs. 2 verpflichtet, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Agenturen für Arbeit die Berufsberatung sowie Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung möglichst wirksam durchführen können. Das hat zur Einrichtung von regelmäßigen Sprechstunden für die Arbeits-, Berufs- und Förderungsberater der Agenturen für Arbeit in den Justizvollzugsanstalten geführt. Teilweise kommt es seitens größerer Agenturen für Arbeit auch zum Einsatz besonders ausgebildeter Kontakt- bzw. Resozialisierungsberater für Gefangene. Die fachkompetenten Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit werden von den Vollzugsbehörden zur Beratung und Hilfe in allen Bereichen der Berufsbildung, Arbeitsbeschaffung und Vermittlung von Freigängern sowie bei Fragen zur Beurteilung der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt herangezogen.
Klaus Laubenthal
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§ 149
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
III. Landesgesetze 1. Bayern
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Der Regelungsgehalt von § 148 Abs. 1 StVollzG wurde im Wesentlichen in die grundlegende Vorschrift von Art. 39 BayStVollzG über die Beschäftigung im Vollzug aufgenommen. Art. 39 Abs. 2 Satz 2 normiert im Hinblick auf die Anstalt: „Sie soll auch im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dazu beitragen, dass die Gefangenen beruflich gefördert, beraten und vermittelt werden“ (s. auch § 37 Rdn. 30). § 148 Abs. 2 StVollzG wurde in Art. 175 Abs. 3 BayStVollzG nahezu wortlautidentisch eingefügt. 2. Hamburg
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Der Regelungsgehalt des § 148 wurde weitgehend in § 35 HmbStVollzG integriert. § 34 Abs. 1 Nr. 1 HmbStVollzG bestimmt: „Die Vollzugsbehörden sollen im Zusammenwirken mit den Vereinigungen und Stellen des Arbeits- und Wirtschaftslebens dafür sorgen, dass den Gefangenen unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zugewiesen werden kann, und dazu beitragen, dass sie beruflich gefördert, beraten und vermittelt werden [. . .]“ (s. auch § 37 Rdn. 31). § 148 Abs. 2 StVollzG wurde in § 107 Abs. 2 HmbStVollzG übernommen. 3. Niedersachsen
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Keine Entsprechung.
§ 149 Arbeitsbetriebe, Einrichtungen zur beruflichen Bildung (1) In den Anstalten sind die notwendigen Betriebe für die nach § 37 Abs. 2 zuzuweisenden Arbeiten sowie die erforderlichen Einrichtungen zur beruflichen Bildung (§ 37 Abs. 3) und arbeitstherapeutischen Beschäftigung (§ 37 Abs. 5) vorzusehen. (2) Die in Absatz 1 genannten Betriebe und sonstigen Einrichtungen sind den Verhältnissen außerhalb der Anstalten anzugleichen. Die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind zu beachten. (3) Die berufliche Bildung und die arbeitstherapeutische Beschäftigung können auch in geeigneten Einrichtungen privater Unternehmen erfolgen. (4) In den von privaten Unternehmen unterhaltenen Betrieben und sonstigen Einrichtungen kann die technische und fachliche Leitung Angehörigen dieser Unternehmen übertragen werden. VV Der Tätigkeitsbereich der Angehörigen von Unternehmerbetrieben in den Anstalten wird in einer Anweisung festgelegt; das Personal wird auf die Einhaltung dieser Anweisung verpflichtet. Schrifttum: s. vor § 37 und bei § 43
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Klaus Laubenthal
Arbeitsbetriebe, Einrichtungen zur beruflichen Bildung
§ 149
I. Allgemeine Hinweise Seit dem 1. Januar 1980, als Abs. 1 gem. § 198 Abs. 2 in Kraft trat, gelten alle Einzelrege- 1 lungen dieser Vorschrift. Wegen der durch die Verpflichtung gem. Abs. 1, bauliche und organisatorische Voraussetzungen zu schaffen, damit die Bildungs- und Beschäftigungsgebote nach § 37 verwirklicht werden können, notwendigen Investitionen und den dafür in den Länderhaushalten bereitzustellenden finanziellen Mitteln war noch während des Gesetzgebungsverfahrens versucht worden, die Vorschrift zu einer Soll-Bestimmung abzuschwächen (s. BR-Drucks. 685/75, 3). Dieser Vorschlag fand jedoch keine Mehrheit. Immerhin wurde wegen der auf die Länderhaushalte entfallenden Investitionskosten der Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens vom 1.1.1977 auf den 1.1.1980 verschoben. In dieser Zeit unternahmen die Landesjustizverwaltungen in den alten Bundesländern erhebliche Anstrengungen, in den Anstalten Arbeitstherapiezentren, Berufsausbildungseinrichtungen und Arbeitsbetriebe zu schaffen. Dennoch hat sich der Auftrag des Abs. 1 bis heute nicht zureichend realisieren lassen. Denn dem sind im Vollzug Grenzen gesetzt: Werkstätten und Arbeitsbetriebsgebäude bleiben aufgrund der räumlichen Gegebenheiten häufig nur bedingt erweiterungsfähig; Konjunkturschwankungen treffen die Arbeit im Justizvollzug als das verletzlichste Subsystem der Volkswirtschaft (Lohmann 2002, 86 ff; Neu Produktivität der Gefängnisarbeit: eingemauert auf bescheidenem Niveau?, in: Hammerschick/Pilgram 1997, 97 ff) am empfindlichsten. Hinzu kamen besondere Schwierigkeiten für die neuen Bundesländer, wo der Umgestal- 2 tungsprozess nach dem Wegfall der sozialistischen Planwirtschaft, die es ermöglichte, den Gefangenen Arbeitsplätze in dem jeweils benötigten Umfang zuzuweisen, bis hin zum (nicht durchgehend befriedigenden) altbundesrepublikanischen Durchschnittsstandard der Anstaltsangebote nicht gänzlich abgeschlossen ist. Die derzeitige konjunkturelle Situation und die finanzielle Überforderung der öffentlichen Haushalte in Deutschland, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit – insbesondere auch in den neuen Bundesländern –, macht die Bemühungen der Vollzugsbehörden nicht einfacher, den Intentionen des Gesetzes zu entsprechen und jedem arbeitswilligen Gefangenen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen bzw. jedem geeigneten Gefangenen eine individuell angemessene schulische oder berufliche Ausbildung zu ermöglichen.
II. Erläuterungen 1. Nach Abs. 1 müssen Einrichtungen und Betriebe in dem notwendigen bzw. erfor- 3 derlichen Umfang vorgesehen werden. Die Bedeutung der Erfüllung dieser Vorgaben auf der organisatorischen Ebene zur Umsetzung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots im Bereich der vollzuglichen Pflichtarbeit hat das BVerfG seiner grundlegenden Entscheidung zur angemessenen Anerkennung der Arbeitstätigkeit von Strafgefangenen auf der Basis des § 41 Abs. 1 Satz 1 hervorgehoben (BVerfGE 98, 169, 206 ff). Die gesetzliche Forderung des Abs. 1 hat eine quantitative und eine qualitative Komponente. a) Die vorzusehenden Einrichtungen zur beruflichen Bildung und arbeitstherapeu- 4 tischen Beschäftigung sowie Arbeitsbetriebe müssen in quantitativer Hinsicht in der Lage sein, die jeweils für diese Bereiche in Betracht kommenden Gefangenen zahlenmäßig aufnehmen zu können. Bauliche Gestaltung und Organisation müssen mit Rücksicht auf die dynamische Entwicklung sowohl im Ausbildungs- als auch im Arbeitsbereich sehr flexibel sein. Es ist zu vermeiden, dass Gefangenen gem. § 37 Abs. 4 deshalb nur eine angemessene Beschäftigung zugeteilt wird, weil die notwendigen bzw. erforderlichen Einrichtungen fehlen, um Behandlungsmaßnahmen gem. § 37 Abs. 2, 3 und 5 durchführen zu können (so Klaus Laubenthal
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§ 149
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
auch AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 1). Für Inhaftierte, die zugewiesene Tätigkeiten i. s. d. § 37 verrichten sollen, werden Eigenbetriebe der Anstalt oder Unternehmerbetriebe eingerichtet. Ein Eigenbetrieb (oder Regiebetrieb) wird von der Anstalt selbst unterhalten. Bei ihr liegt die Arbeitsorganisation. Geräte und ggf. benutzte Rohstoffe stehen im Eigentum der öffentlichen Hand. In den Eigenbetrieben werden – auf eigene Rechnung der Anstalt – entweder auf Bestellung von außerhalb Waren produziert bzw. verarbeitet, oder die darin vorgenommenen Tätigkeiten dienen der Befriedigung anstalts- und behördeninterner Bedürfnisse wie z. B. Wäscherei, Bäckerei, Druckerei, Gärtnerei, Schreinerei. In der Praxis erfolgt der Bezug von Leistungen der Eigenbetriebe auch durch Vollzugsbedienstete, wobei der Einsatz der Gefangenen für Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalten auf landesrechtlicher Ebene geregelt ist (dazu Eisenberg MschrKrim 1999, 256 ff). Zum Unternehmerbetrieb siehe Rdn. 7.
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b) Qualitativ müssen die Betriebe in den Anstalten den allgemeinen Betriebs- und Produktionsverhältnissen in vergleichbaren Wirtschaftsbetrieben außerhalb des Vollzuges entsprechen, damit die Gefangenen eine realistische Berufsausbildungs- und Arbeitswelt erleben, die es ihnen nach der Entlassung ermöglicht, sich in das Erwerbsleben einzugliedern (vgl. § 3 Abs. 3). Dabei müssen zwischen Eigen- und Unternehmerbetrieben nicht notwendigerweise qualitative Unterschiede bei der Betriebseinrichtung, bei der Ausstattung mit Produktionsmitteln und beim technischen Stand der Fertigungsmethoden bestehen. Demgemäß enthält Abs. 2 Satz 1 eine spezialisierte Wiederholung des allgemeinen Angleichungsgrundsatzes aus § 3 Abs. 1, die vom Gesetzgeber an dieser Stelle für erforderlich gehalten wurde, weil im Interesse einer wirklichkeitsnahen Rehabilitation die Abschottung in den Vollzugsanstalten besonders bei der Berufsausbildung und beim Arbeitstraining beseitigt werden sollte.
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2. Gem. Abs. 2 Satz 2 sind die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften zu beachten. Dem Inhaftierten kommt ein subjektiver Anspruch auf Beachtung dieser Vorschriften zu (Arloth 2008 Rdn. 4). Deren Missachtung kann im Einzelfall sogar eine Arbeitsverweigerung rechtfertigen (LG Bonn NStZ 1988, 575).
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3. In Abs. 3 weist der Gesetzgeber zum Zwecke einer noch stärkeren Verzahnung ausdrücklich darauf hin, dass berufliche Bildung und arbeitstherapeutische Beschäftigung (nebst der dort zulässigen Arbeit) auch in geeigneten Einrichtungen privater Unternehmen erfolgen können, die entweder innerhalb oder außerhalb der Anstalten vorhanden sind. Die Zuweisung einer Tätigkeit in einem externen Unternehmerbetrieb kommt nur mit Zustimmung des Gefangenen in Betracht, wenn sich einem zum Freigang Geeigneten trotz Bemühungen der Anstaltsleitung keine Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis bietet (s. § 39 Rdn. 5). Dann muss jedoch ein Mindestmaß organisierter öffentlicherrechtlicher Verantwortung der Anstalt für den Betroffenen gewährleistet sein (BVerfGE 98, 169, 211). Bei einem anstaltsinternen Unternehmerbetrieb liegt das wirtschaftliche Risiko bei einem externen Arbeitgeber, der zumeist in von der Anstalt zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten eine Fabrikation errichtet. Solche von privater Seite unterhaltenen Betriebe lässt das Gesetz in Abs. 4 wegen des Fehlens ausreichender Eigenbetriebe ausdrücklich zu und ermöglicht dabei die Übertragung der technischen und fachlichen Leitung auf Angehörige dieser Firmen. Damit soll Missdeutungen vorgebeugt werden, denn nicht zum Vollzugsdienst gehörende Mitarbeiter von freien Unternehmerbetrieben haben im Rahmen der Freiheitsentziehung keine hoheitlichen Aufgaben zu erfüllen. Der Gefangene bleibt, auch wenn er zugewiesene Arbeit in einem privat unterhaltenen Betrieb verrichtet, unbeschadet einer möglichen technischen und fachlichen Betriebsleitung durch Unternehmensangehörige unter der öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Vollzugs-
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Klaus Laubenthal
Vollzugsgemeinschaften
§ 150
behörden, nicht anders als bei einem Einsatz in Eigenbetrieben der Anstalt oder bei einer Befassung mit sonstigen Beschäftigungen oder Hilfsdiensten innerhalb oder außerhalb der Anstalt. Unter diesen Voraussetzungen hält sich die Pflichtarbeit des Gefangenen gem. § 41 Abs. 1 in den Grenzen der Ermächtigung, die Art. 12 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber erteilt, im Strafvollzug Arbeitspflicht anzuordnen.
III. Landesgesetze 1. Bayern Der Regelungsgehalt des § 149 wurde im Wesentlichen in die Vorschrift des Art. 39 8 BayStVollzG über die Beschäftigung im Vollzug aufgenommen. So schreibt Art. 39 Abs. 2 Satz 3 vor: „Die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind zu beachten“. Dies entspricht § 149 Abs. 2 Satz 2. Art. 39 Abs. 5 entspricht weitgehend der Regelung des § 149 Abs. 3 und 4 (s. im Übrigen § 37 Rdn. 30). 2. Hamburg Das HmbStVollzG enthält keine Entsprechung zu § 149. Die Gesetzesbegründung führt 9 dazu im Zusammenhang mit § 34 HmbStVollzG aus: „Die hier geregelten Verpflichtungen der Vollzugsorganisation sind nur erfüllbar, wenn die dafür erforderlichen Betriebe und Einrichtungen der beruflichen Bildung und arbeitstherapeutischen Beschäftigung geschaffen werden. Einer gesonderten Regelung wie in § 149 Absatz 1 StVollzG bedarf es daher nicht“ (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, 41). 3. Niedersachsen
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Keine Entsprechung.
§ 150 Vollzugsgemeinschaften Für Vollzugsanstalten nach den §§ 139 bis 149 können die Länder Vollzugsgemeinschaften bilden. Bereits vor der Geltung des Strafvollzugsgesetzes hatten mehrere Bundesländer aus Gründen der Differenzierung der Anstalten und der Klassifikation der Gefangenen Vollzugsgemeinschaften zur Errichtung und zum Betrieb besonderer Vollzugseinrichtungen gebildet (z. B. für den Frauenstrafvollzug und die stationäre Krankenhausbehandlung). Die Vorschrift ist seit In-Kraft-Treten des StVollzG Rechtsgrundlage für länderübergreifende Vollzugsgemeinschaften, die besonders für kleinere Bundesländer Bedeutung hat, die dem Trennungs- oder Differenzierungsgebot (§§ 140, 141; s. auch § 142) entsprechende Einrichtungen nicht unterhalten können bzw. aus Kostengründen nicht wollen. Dabei sind Vollzugsgemeinschaften aufgrund besserer schulischer bzw. beruflicher Förderungsmöglichkeiten sowie medizinischer Versorgung bzw. Suchtbehandlung besonders zweckmäßig (vgl. AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 2). Stets ist jedoch der Zielkonflikt zu beachten, dass den Vorteilen einer differenzierten Behandlung in den meisten Fällen Nachteile einer weiteren Entfernung von Bezugspersonen gegenüberstehen, die für den Gefangenen wichtig sein können. Hier muss den Behandlungsmaximen in der Weise Rechnung getragen werden,
Klaus Laubenthal
977
Vor § 151
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
dass der größeren Trennung der Gefangenen von ihren Familien, Angehörigen und Freunden sowie dem übrigen sozialen Umfeld erheblich bessere Behandlungsmöglichkeiten gegenüberstehen müssen (so Arloth 2008 Erläuterungen zu § 150; vgl. auch AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 1).
ZWEITER TITEL
Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten Vorbemerkungen 1
Der 4. Abschnitt des Strafvollzugsgesetzes enthält Regelungen über die Strukturen und Arbeitsweisen der Vollzugsbehörden. Der 2. Titel dieses 4. Abschnittes regelt die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten. In den §§ 151–153 werden jedoch nicht alle Fragen geklärt, die im Verhältnis der Justizvollzugsanstalten zu ihren Aufsichtsbehörden auftreten können. Die Bundesländer haben ergänzend zum Gesetzestext durch bundeseinheitliche Vorschriften zusätzliche Regelungen getroffen (z. B. die Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug (DSVollZ) oder die Vollzugsgeschäftsordnung (VGO)). Darüber hinaus regeln sie z. T. sehr detailliert in eigenen Verwaltungsvorschriften, welche Befugnisse die jeweilige Aufsichtsbehörde in justizpolitisch als wichtig angesehenen Fragen besitzt und bei welchen Entscheidungen der Justizvollzugsanstalten sie sich einen Zustimmungsvorbehalt einräumt. Nach Inkrafttreten des StVollzG hatte die Rspr. zu entscheiden, inwieweit die Aufsichts2 behörden Einzelentscheidungen im Aufgabenbereich der Justizvollzugsanstalten durch „Selbsteintritt“ treffen können. So war fraglich, ob die Landesjustizverwaltungen durch das An sich ziehen der Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters in „justizpolitisch bedeutsamen“ Fällen an die Stelle des Anstaltsleiters treten dürfen. Diese Befugnis ist den Aufsichtsbehörden durch die Gerichte nicht mehr zugebilligt worden, es sei denn, der Gesetzgeber hat den Selbsteintritt ausdrücklich erlaubt (vgl. § 105 Abs. 2 und § 153). Die Aufsichtsbehörden wurden insoweit darauf beschränkt, neben der ihnen übertragenen Aufgabe des Aufsichtführens Richtlinien zur Ausübung des Handlungsermessens der Anstaltsleiter zu erlassen (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1981, 190 ff; OLG Hamburg ZfStrVo 1981, 316 f und OLG Hamm NStZ 1982, 135 f m. w. N.; vgl. auch § 24 Rdn. 5). Ein Selbsteintrittsrecht wird nicht beansprucht, wenn Entscheidungen des Anstaltsleiters von der Zustimmung der Aufsichtsbehörden abhängig gemacht werden (so auch Arloth 2008 § 151 Rdn. 3). Arloth (aaO) und AK-Feest/Weichert 2006 (§ 151 Rdn. 4) halten ein Selbsteintrittsrecht der Aufsichtsbehörden „bei Gefahr im Verzug“ für zulässig, wobei ein derartiger Fall in Anlehnung an Erfahrungen aus dem Polizeirecht nur in Ausnahmesituationen vorliegen kann. Vom Recht zum Selbsteintritt der Aufsichtsbehörde zu trennen ist das zur Aufsichts3 funktion gehörende Durchgriffsrecht. Aufgrund dieses Durchgriffsrechts kann die Aufsichtsbehörde in Einzelfällen die Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters aufheben oder andere konkrete Weisungen erteilen (vgl. dazu im einzelnen § 24 Rdn. 20 f). Die Ermächtigung, durch dienstrechtliche oder fachaufsichtlich begründete Maßnahmen in den Justizvollzugsanstalten einen rechtmäßigen Strafvollzug sicherzustellen, folgt schon aus der parlamentarischen Verantwortung der politischen Spitze der Aufsichtsbehörde (so auch Arloth aaO).
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Monica Steinhilper
Vor § 151
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
dass der größeren Trennung der Gefangenen von ihren Familien, Angehörigen und Freunden sowie dem übrigen sozialen Umfeld erheblich bessere Behandlungsmöglichkeiten gegenüberstehen müssen (so Arloth 2008 Erläuterungen zu § 150; vgl. auch AK-Huchting/Lehmann 2006 Rdn. 1).
ZWEITER TITEL
Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten Vorbemerkungen 1
Der 4. Abschnitt des Strafvollzugsgesetzes enthält Regelungen über die Strukturen und Arbeitsweisen der Vollzugsbehörden. Der 2. Titel dieses 4. Abschnittes regelt die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten. In den §§ 151–153 werden jedoch nicht alle Fragen geklärt, die im Verhältnis der Justizvollzugsanstalten zu ihren Aufsichtsbehörden auftreten können. Die Bundesländer haben ergänzend zum Gesetzestext durch bundeseinheitliche Vorschriften zusätzliche Regelungen getroffen (z. B. die Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug (DSVollZ) oder die Vollzugsgeschäftsordnung (VGO)). Darüber hinaus regeln sie z. T. sehr detailliert in eigenen Verwaltungsvorschriften, welche Befugnisse die jeweilige Aufsichtsbehörde in justizpolitisch als wichtig angesehenen Fragen besitzt und bei welchen Entscheidungen der Justizvollzugsanstalten sie sich einen Zustimmungsvorbehalt einräumt. Nach Inkrafttreten des StVollzG hatte die Rspr. zu entscheiden, inwieweit die Aufsichts2 behörden Einzelentscheidungen im Aufgabenbereich der Justizvollzugsanstalten durch „Selbsteintritt“ treffen können. So war fraglich, ob die Landesjustizverwaltungen durch das An sich ziehen der Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters in „justizpolitisch bedeutsamen“ Fällen an die Stelle des Anstaltsleiters treten dürfen. Diese Befugnis ist den Aufsichtsbehörden durch die Gerichte nicht mehr zugebilligt worden, es sei denn, der Gesetzgeber hat den Selbsteintritt ausdrücklich erlaubt (vgl. § 105 Abs. 2 und § 153). Die Aufsichtsbehörden wurden insoweit darauf beschränkt, neben der ihnen übertragenen Aufgabe des Aufsichtführens Richtlinien zur Ausübung des Handlungsermessens der Anstaltsleiter zu erlassen (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1981, 190 ff; OLG Hamburg ZfStrVo 1981, 316 f und OLG Hamm NStZ 1982, 135 f m. w. N.; vgl. auch § 24 Rdn. 5). Ein Selbsteintrittsrecht wird nicht beansprucht, wenn Entscheidungen des Anstaltsleiters von der Zustimmung der Aufsichtsbehörden abhängig gemacht werden (so auch Arloth 2008 § 151 Rdn. 3). Arloth (aaO) und AK-Feest/Weichert 2006 (§ 151 Rdn. 4) halten ein Selbsteintrittsrecht der Aufsichtsbehörden „bei Gefahr im Verzug“ für zulässig, wobei ein derartiger Fall in Anlehnung an Erfahrungen aus dem Polizeirecht nur in Ausnahmesituationen vorliegen kann. Vom Recht zum Selbsteintritt der Aufsichtsbehörde zu trennen ist das zur Aufsichts3 funktion gehörende Durchgriffsrecht. Aufgrund dieses Durchgriffsrechts kann die Aufsichtsbehörde in Einzelfällen die Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters aufheben oder andere konkrete Weisungen erteilen (vgl. dazu im einzelnen § 24 Rdn. 20 f). Die Ermächtigung, durch dienstrechtliche oder fachaufsichtlich begründete Maßnahmen in den Justizvollzugsanstalten einen rechtmäßigen Strafvollzug sicherzustellen, folgt schon aus der parlamentarischen Verantwortung der politischen Spitze der Aufsichtsbehörde (so auch Arloth aaO).
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Monica Steinhilper
Aufsichtsbehörden
§ 151
§ 151 Aufsichtsbehörden (1) Die Landesjustizverwaltungen führen die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten. Sie können Aufsichtsbefugnisse auf Justizvollzugsämter übertragen. (2) An der Aufsicht über das Arbeitswesen sowie über die Sozialarbeit, die Weiterbildung, die Gesundheitsfürsorge und die sonstige fachlich begründete Behandlung der Gefangenen sind eigene Fachkräfte zu beteiligen; soweit die Aufsichtsbehörde nicht über eigene Fachkräfte verfügt, ist fachliche Beratung sicherzustellen. VV 1 Die Aufsichtsbehörde sucht alle Anstalten so häufig auf, dass sie stets über den gesamten Vollzug unterrichtet bleibt. 2 Die Landesjustizverwaltungen regeln den Besuch von Anstalten durch anstaltsfremde Personen sowie den Verkehr von Gefangenen mit Vertretern von Publikationsorganen (Presse, Hörfunk, Film, Fernsehen). Schrifttum: Alisch Sicherheit ist, wenn der Minister nicht in den Innen- und Rechtsausschuss muss, in: Wischka/Jesse/Klettke/Schaffer Justizvollzug in neuen Grenzen, Lingen 2002, 34 ff; Arnold Das Verhältnis der Aufsichtsbehörden und der Justizvollzugsanstalten zueinander, in: ZfStrVo 1991, 165 ff; Beier „Aufsicht über den Strafvollzug“ eine Quelle des Mißerfolgs, in: ZfStrVo 1992, 147 ff; Bennefeld-Kersten/Koch/Krüger/Schmidt/Suhling Ausbrüche aus dem geschlossenen Strafvollzug zwischen 1992 und 2001, in: ZfStrVo 2004, 3 ff; Dünkel Empirische Forschung im Strafvollzug, Bonn 1996; ders. Die Öffnung des Vollzuges und Vollzugslockerungen als Sicherheitsrisiko?, in: 27. Strafverteidigertag: Internationalisierung des Strafrechts. Fortschritt oder Verlust an Rechtsstaatlichkeit?, Berlin 2004, 89 ff; Flügge/Maelicke/Preusker Das Gefängnis als lernende Organisation, Baden-Baden 2001; Flügge Von der Aufsicht zur Globalsteuerung, in: Flügge/Maelicke/Preusker, 325 ff; Hassemer Der Staat muss das Strafbedürfnis der Bevölkerung beachten, in: ZRP 2004, 93 ff; Kaplan/Norton Balanced Scorecard. Strategien erfolgreich umsetzen., Stuttgart 1997; Koop Führung und Zusammenarbeit im Wandel, in: Flügge/ Maelicke/Preusker, 174 ff; Koop (Hrsg.) Hauptsache ist, dass nichts passiert? Selbstbild und Außendarstellung des Justizvollzugs in Deutxchland, Lingen 2006; Maelicke Quo vadis Strafvollzug?, in KrimPäd 2002, 11 ff; Steinhilper Organisationsentwicklung im Justizvollzug, in: Feuerhelm (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin/New York 1999, 177 ff; dies. Controlling im niedersächsischen Justizvollzug, in: ZfStrVo 2003, 143 ff; dies. Justizvollzug in Bewegung, in: Minthe (Hrsg.), Neues in der Kriminalpolitik, Wiesbaden 2003, 85 ff; Steinhilper/Steinhilper Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten (§ 151 StVollzG) – Kontrolle oder Steuerung des Strafvollzugs? –, in: NK 2005, 19 ff; Stober Privatisierung öffentlicher Aufgaben, in: NJW 2008, 2301 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise: . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Erläuterung des Begriffs „Landesjustizverwaltung“ . . . . . . . . 2. Die Aufsichtspflicht der Landesjustizverwaltung . . . . . . . . 3. Die Aufsichtspflicht des Justizministers . . . . . . . . . . . . .
1–3 4–15 4 5 6
Rdn. 4. Der generelle Umfang der Aufsichtspflicht . . . . . . . . . . . 5. Die Rechte der Gefangenen gegen die Aufsichtsbehörde . . . . . . . 6. Übertragung von Aufsichtsbefugnissen auf Justizvollzugsämter . . 7. VV Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . 8. VV Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . .
Monica Steinhilper
7 8 9 10 11
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§ 151
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden Rdn.
9. Erläuterung von Abs. 2: Aufsicht über einzelne Fachbereiche . . . 12 10. Mediale Aufmerksamkeit und Selbsteintritt . . . . . . . . . . 13–14 11. Aufsicht und politische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . 15 III. Beispiel: Neue Formen der Aufsicht . 16–19 1. Funktions- und Bedeutungswandel der Aufsichtsbehörde . . 16
Rdn. 2. Aufgaben und Ziele der Dienstund Fachaufsicht im niedersächsischen Justizvollzug . . . 3. Elemente der Aufsichtsführung 4. Zielsystem und Controlling . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . .
. . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise 1
Die Bestimmung regelt zusammen mit den §§ 152 und 153 die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten und überträgt sie den Landesjustizverwaltungen, die für Organisation und Durchführung des Strafvollzugs zuständig sind (vgl. Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG). Die Länder, die Strafvollzugsgesetze erlassen haben und damit von der Ersetzungskompetenz des Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG Gebrauch gemacht haben, führen ihre Gesetze als eigene Angelegenheit aus (Art. 30 GG; vgl. BVerfG Beschl. vom 12.1.1983 – 2 BvL 23/81 – juris, dort Rdn. 128). Mit dem Erlass einer länderrechtlichen Regelung für den Strafvollzug entfällt die Möglichkeit der Bundesaufsicht bei landeseigener Verwaltung, (Art. 84 Abs. 3 GG), da diese Länder kein Bundesgesetz mehr ausüben (s. Umbach/Clemens, Grundgesetz: Mitarbeiterkommentar und Handbuch 2002, 765 ff). In der Praxis hat der Bund jedoch von dieser Befugnis zur Rechtsaufsicht (s. Umbach/Clemens, aaO, 55 ff) keinen Gebrauch gemacht. Was Aufsicht ist, hat der Gesetzgeber nicht näher definiert. Auch die Verpflichtung zur fachlichen Beratung in bestimmten Aufgabenbereichen in den Justizvollzugsanstalten gibt keinen weiteren Aufschluss über die Absicht des Gesetzgebers. Die Landesjustizverwaltungen sind bei der Ausgestaltung ihrer Aufsicht grundsätzlich weitgehend frei, aber an die tradierten Aufsichtsbereiche „Dienstaufsicht, Fachaufsicht und Rechtsaufsicht“ gebunden. Auch diese Begriffe sind vom Gesetzgeber nicht konkretisiert, sondern nur durch einschlägige kasuistische Rechtsprechung näher eingegrenzt. Sie sind auch nicht trennscharf. Während die Fachaufsicht über die Justizvollzugsanstalten die Rechtsaufsicht mit einschließt (Prüfung der Rechtund Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns), prüft reine Rechtsaufsicht, ob der beaufsichtigte Verwaltungsträger (der nicht innerhalb der unmittelbaren Landesverwaltung angesiedelt ist, z. B. Krankenhäuser, Kassenärztliche Vereinigungen, Gemeinden und Landkreise) im eigenen oder übertragenen Wirkungskreis rechtmäßig handelt. Nach dem Willen des Gesetzgebers obliegt den Justizvollzugsanstalten der Strafvollzug 2 nicht zur freien und unkontrollierten inhaltlichen und finanziellen Gestaltung und personellen Besetzung. Die Landesjustizverwaltungen sind vielmehr berechtigt und verpflichtet, vergleichbare Vollzugsbedingungen in gleichartigen Vollzugsformen und die Einhaltung von Gesetz und Recht zu gewährleisten. Dies gilt uneingeschränkt auch für teilprivatisierte Anstalten (vollständige Privatisierung ist verfassungsrechtlich nicht zulässig, vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 50 m. w. N.). Soweit einem privaten Dritten bestimmte, nicht hoheitliche Aufgaben im Betrieb einer Justizvollzugsanstalt übertragen werden (Kooperationsform „Public Private Partnerships“, s. Stober 2008, 2307) hat die Aufsichtsbehörde eine präzise und an landesweiten Qualitätsstandards ausgerichtete Vertragsgestaltung (zur Einheitlichkeit des Vollzugsgeschehens landesweit) und die Einhaltung dieser Verträge (Leistungskontrollen) zu gewährleisten. Sie muss sich zudem ein umfassendes, jederzeitiges Prüfungsrecht der Leistungen vorbehalten. Auch die in VV Nr. 1 von der Aufsichtsbehörde geforderte regelmäßige
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Besichtigung der Anstalten muss die auf private Dritte übertragenen Leistungsbereiche (z. B. Versorgung und Beschäftigung der Gefangenen) mit einbeziehen. Insoweit greift auch hier die klassische umfassende staatliche Fachaufsicht. Stober (2008, 2308) fordert darüber hinaus, den (zulässigen) „Rückzug“ des Staates durch ein entsprechend differenziertes Privatisierungsfolgenrecht aufzufangen und durch geeignete Regulierungen zu begleiten. Der Staat müsse seiner Gewährleistungsverantwortung nachkommen und entsprechende Einwirkungs- und Kontrollpflichten gesetzlich (in Landesrecht) verankern. Bei der Handhabung ihrer Aufsichtsbefugnisse orientieren sich die Landesjustizverwal- 3 tungen an modernen Methoden der Führung und nutzen neue Steuerungsinstrumente. Aufsicht über die Justizvollzugsanstalt heißt heute nicht mehr primär Kontrolle und Sanktion, sondern vielmehr (prospektive) Steuerung und Beratung. Moderne Aufsicht sorgt durch Festlegung von Qualitätsstandards und Rahmenplanung für eine einheitliche Ausgestaltung des Strafvollzugs und steuert die Fortentwicklung durch Zielvereinbarungen und Controlling. Die neuen Steuerungsinstrumente führen Personal- und Sachhaushalt zu einem Globalbudget zusammen, schaffen Transparenz auf der Grundlage von Kosten und Leistungen und ermöglichen eine systematische und schnelle Steuerung über Zielvereinbarungen auf der Grundlage von Kennzahlen. Aus diesem Grund haben einige Bundesländer sog. Verwaltungsbereiche eingerichtet, Niedersachsen z. B. den „Verwaltungsbereich Justizvollzug“, der in hohem Maße eigenständig ist mit eigenen Führungs- und Entscheidungsstrukturen und Verantwortung für den Ressourceneinsatz.
II. Erläuterungen 1. Das Gesetz verwendet den übergeordneten Begriff Landesjustizverwaltung; das 4 sind die Justizministerien und Senatsverwaltungen (Berlin, Bremen, Hamburg) der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff Landesjustizverwaltungen umfasst keine einheitlichen Verwaltungsgebilde. Hamburg hat ein Strafvollzugsamt, das als Teil der Justizbehörde dem Justizsenator (über den Staatsrat) unmittelbar unterstellt ist. Das Strafvollzugsamt ist zentral für alle Personalangelegenheiten der Vollzugsbediensteten zuständig und hat auch die Justizvollzugsschule als Organisationseinheit integriert. In Bremen liegt die Verantwortung für die einzige Justizvollzugsanstalt des Stadtstaates in einem Referat der Zentralabteilung des Senators für Justiz und Verfassung. Dagegen haben Berlin und alle Flächenstaaten für den Strafvollzug eine eigene Fachabteilung eingerichtet, die sich nicht nur auf die inhaltliche Gestaltung des Vollzugs mit Dienst- und Fachaufsicht beschränkt, sondern die auch für Personal, Finanzen und Bauangelegenheiten im Justizvollzug zuständig ist. Die Zentralabteilungen der Ministerien haben für den Justizvollzug überwiegend nur noch koordinierende Funktionen, z. B. bei der Aufstellung des Personal-, Sach- und Bauhaushalts. Mit der Auflösung des Justizvollzugsamts (s. Rdn. 7) hat auch Nordrhein-Westfalen seit dem 1.1.2008 die bis dahin in der Zentralabteilung wahrgenommenen Zuständigkeiten für Personalangelegenheiten des Justizvollzugs in die Fachabteilung übernommen. Erst eine umfassende Ressourcen- und Aufgabenverantwortung ermöglicht es den Fachabteilungen, Verantwortung für die Ergebnisse des Justizvollzugs zu übernehmen. Ergebnisverantwortung wiederum ist für eine erfolgreiche Aufsicht über den Justizvollzug von entscheidender Bedeutung und Voraussetzung für die Anwendung der neuen Steuerungsmodelle. 2. Justizvollzugsanstalten unterliegen nach Abs. 1 und 2 einer umfassenden Aufsicht. 5 Bei der Dienstaufsicht werden organisatorische und personelle Dienstaufsicht unterschieden. Die organisatorische Dienstaufsicht bezieht sich auf die Aufbau- und Ablauf-
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organisation der Vollzugseinrichtungen. Unabhängig von der inhaltlichen Erledigung der Fachaufgaben werden Verwaltungsstruktur, Geschäftsverteilung und Geschäftsführung unter arbeits- und verfahrenstechnischen Gesichtspunkten auf ihre Zweckmäßigkeit und Effizienz überprüft. Personelle Dienstaufsicht bezieht sich auf die Angelegenheiten des Personals und dessen dienstliches Verhalten. Die Landesjustizverwaltungen haben mittlerweile weitreichend dienstrechtliche Befugnisse auf die Anstaltsleitungen übertragen. Die personelle Dienstaufsicht überprüft daher insbesondere, ob die Anstaltsleitungen ihre Dienstaufsicht gleichmäßig und ordnungsgemäß ausüben (z. B. in Disziplinarangelegenheiten, in personalvertretungsrechtlichen Fragen). Fachaufsicht bedeutet Gewährleistung der sachgerechten Ausübung einzelner Tätigkeitsbereiche. Abs. 2 sieht eine fachliche Beratung der Landesjustizverwaltungen für bestimmte Aufsichtsbereiche vor. Fachaufsicht soll sicherstellen, dass Fachaufgaben unter Beachtung der geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften rechtlich richtig und zweckmäßig erfüllt werden. Fachaufsicht schließt mithin die Rechtsaufsicht ein. Sie ist Bestandteil einer umfassenden Kontroll- und Aufsichtsfunktion der Landesjustizverwaltungen in Fachaufgaben. Weisungen der Dienst- und Fachaufsicht können sich auf die Aufhebung und Korrektur bereits erfolgter Maßnahmen und auf zukünftiges Handeln beziehen. Sie sollten sich auf das notwendige Maß beschränken (s. auch AK-Feest 2006 Rdn. 1 und 5).
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3. Das Strafvollzugsgesetz regelt die Aufsicht durch die Landesjustizverwaltungen. Es erwähnt nicht die politische Verantwortung des jeweiligen Ministers bzw. Senators. Dessen politische Verpflichtung, den eigenen Geschäftsbereich zu überwachen, ergibt sich aus dem jeweiligen Landesverfassungsrecht. Die Parlamente und auch die Öffentlichkeit erwarten, dass die Justizminister bzw. die Justizsenatoren sich persönlich für einen im Grundsatz rechtsstaatlichen Strafvollzug verbürgen. Es wird ebenfalls erwartet, dass die Fachminister durch persönliche Informationsbesuche einen Eindruck von den Verhältnissen in den Vollzugsanstalten gewinnen und sich von der Rechtmäßigkeit des Strafvollzuges regelmäßig überzeugen. Zu den Problemen der politischen Verantwortlichkeit der Minister s. Rdn. 15.
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4. Die Landesjustizverwaltungen sind zur Dienst- und Fachaufsicht (Rdn. 5) verpflichtet. Dies folgt nicht nur aus § 151, sondern auch aus § 108 (§ 108 Rdn. 7 ff). Sie sind ebenfalls verpflichtet, Fachaufsicht mindestens in dem durch Abs. 2 beschriebenen Rahmen sicherzustellen. Der Gesetzgeber räumt den Landesjustizverwaltungen bei der Ausgestaltung und Ausübung der Fachaufsicht jedoch einen erheblichen Gestaltungsspielraum ein. Er macht in Abs. 2 lediglich deutlich, dass die Fachaufsicht fachkundig zu bewerkstelligen ist. Er schreibt nicht zwingend vor, dass die Fachaufsicht über Vertreter einzelner Fachrichtungen (Psychologen, Juristen, Mediziner in den Justizvollzugsanstalten) zwangsläufig von Vertretern dieser Fachrichtungen in den Landesjustizverwaltungen wahrzunehmen ist. Es reicht vielmehr aus, wenn sich die Aufsichtsbehörde erforderlichenfalls des Fachwissens jeweiliger Fachkräfte bedient. In Betracht kommen insoweit auch Kooperationen mit anderen Ressorts (z. B. Sozialministerium) und die vertragliche Einbindung anderer Disziplinen (regelmäßig oder fallbezogen).
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5. Die Gefangenen haben aufgrund der Regelung in § 151 keinen Rechtsanspruch gegen den Staat auf konkrete Maßnahmen der Aufsichtsführung über einzelne JVAen. Sie können sich lediglich in Eingaben und Beschwerden an die Aufsichtsbehörde wenden oder Vertreter der Aufsichtsbehörden anlässlich von Anstaltsbesuchen (§ 108) sprechen (ebenso Arloth 2008 Rdn. 6 und AK-Feest 2006 Rdn. 15). Wie die Aufsichtsbehörden solche Beschwerden von Gefangene bearbeiten, liegt in ihrem Handlungsermessen, das sich aus ihrer Organisationsgewalt ergibt. Der Gefangene hat allenfalls nach § 113 die Möglichkeit, ein
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Tätigwerden der Aufsichtsbehörden in den Fällen zu erzwingen, in denen Rechtsverstöße von Bediensteten, die dem Gefangenen seine Rechtsposition schmälern würden, nicht behoben werden. Vgl. im einzelnen § 108 Rdn. 5 ff. 6. Der Gesetzgeber ermächtigt die Länder, Aufsichtsbefugnisse (nicht die vollständige 9 Aufsicht!) auf Justizvollzugsämter zu übertragen. Von dieser Möglichkeit macht inzwischen kein Land mehr Gebrauch. Nach Niedersachsen (1994) hat auch Nordrhein-Westfalen sein Justizvollzugsamt in Wuppertal zum 31.12.2007 aufgelöst. Ein dreistufiger Verwaltungsaufbau hat sich für den Justizvollzug nicht bewährt. Die von Politik und Öffentlichkeit eingeforderte unmittelbare und umfassende Verantwortung des Justizministers für Angelegenheiten des Strafvollzugs sowie effektive Aufsicht und Steuerung verlangen schnelle und direkte Abstimmung der Landesjustizverwaltungen mit den Anstaltsleitungen, die ihrerseits für ihre Verantwortungsübernahme möglichst weitreichende und nicht mit einer Mittelbehörde geteilte Kompetenzen in Organisation, Finanzen, Personal und Vollzugsgestaltung benötigen. 7. Die Regelung in VV Nr. 1 stellt in der Praxis nicht erfüllbare Anforderungen an die 10 Aufsichtsbehörden. Ein „Unterrichtetsein über den gesamten Vollzug (!)“ ist bei der Größe heutiger Vollzugsanstalten und der Komplexität der Vollzugssysteme nicht möglich, auch wenn die Anstalten regelmäßig aufgesucht werden. In der Vollzugspraxis besichtigen die Landesjustizverwaltungen die Anstalten in der Regel einmal im Jahr, und zwar durch einzelne „Inspekteure“ oder durch Besichtigungsteams, denen auch Vertreter (anderer) Justizvollzugsanstalten angehören können. Aufsichtsbereiche, die einer Besichtigung zugänglich sind, sollten zuvor möglichst präzise (z. B. in Form von Checklisten) definiert und die Feststellungen dazu objektiviert werden, um auch zwischen den einzelnen Anstalten vergleichen und den Handlungsbedarf ableiten zu können. Besichtigungen sind lediglich ein Baustein einer umfassenden Aufsicht, diese darf sich darin nicht erschöpfen. Unverzichtbar sind u. a. Auswertung von Beschwerden der Gefangenen, Beobachtung des Vollzugsgeschehens anhand von Kennzahlen und Statistiken, Analyse und Bewertung besonderer Vorkommnisse. Besichtigungen werden den Anstaltsleitungen vorher bekanntgegeben, so dass diese sich darauf vorbereiten und erforderliche Unterlagen bereithalten können. Besichtigungen durch Vertreter der Aufsichtsbehörde können auch unangemeldet erfolgen oder durch ein aktuelles Vorkommnis veranlasst sein. Im weiteren Sinne haben auch alle anderen Besuche durch Vertreter der Aufsichtsbehörden Aufsichtscharakter; sie dienen dazu, über den gesamten Vollzug soweit möglich unterrichtet zu sein. 8. Die Regelung der VV Nr. 2 ist durch die neuere Rspr. korrigiert worden. Nach §§ 151 11 und 156 trifft die Anstaltsleitung sowohl die Entscheidung über den Besuch der Anstalten durch anstaltsfremde Personen als auch Entscheidungen im Bereich des Verkehrs von Gefangenen mit Vertretern von Publikationsorganen. Die Aufsichtsbehörden können Rahmenrichtlinien zur Ermessensausübung erlassen und allenfalls Nachfragepflichten für die Anstaltsleitungen festlegen (vgl. OLG Stuttgart ZfStrVo SH 1979, 35 ff; OLG Hamm MDR 1979, 428; so auch Arloth 2008 Rdn. 4; vgl. auch § 24 Rdn. 19 f). 9. Ob die Landesjustizverwaltungen ihrer Verpflichtung zu einer umfassenden Aufsicht 12 durch Integration fachspezifisch vorgebildeter Mitarbeiter in die Aufsichtsbehörde nachkommen oder durch wissenschaftliche Beiräte bzw. vertraglich verpflichtete, nebenamtlich tätige Fachberater, ist ihnen überlassen. Der Gesetzgeber trifft insoweit keine spezielle Regelung. Dass das Problem der Fachaufsicht (Rdn. 5) für die Aufsichtsbehörden interdisziplinär nicht unerheblich ist, zeigt die Anzahl der in den Anstalten vorhandenen Fachkräfte (dazu Zahlenmaterial bei Dünkel 1996, 94 f). Das Arbeitswesen in den JVAen ist
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vielgestaltig (Grundlage § 148). Die Eigenbetriebe und die Unternehmerbetriebe in den Anstalten sind in eine Arbeitsbetriebsorganisation eingegliedert worden, die betriebswirtschaftliche Fachkenntnisse berücksichtigen muss. Die auf der Ebene der Aufsichtsbehörden mit der Führung des Arbeitsbetriebswesens betrauten Verwaltungskräfte benötigen korrespondierende Kenntnisse. Inzwischen haben die meisten Landesjustizverwaltungen dem Rechnung getragen (vgl. § 148 Rdn. 1 f). Die Fachaufsicht über die Gesundheitsfürsorge muss Ärzten vorbehalten bleiben. Diese können als hauptamtliche Mitarbeiter in der Aufsichtsbehörde mit dieser Aufgabe betraut werden oder vertraglich, auch in Kooperation mit anderen Ressorts. Gesundheitsfürsorgeverträge mit privaten Dritten (z. B. bei teilprivatisierten Justizvollzugsanstalten) müssen sicherstellen, dass bei ärztlichen Handlungen im Zusammenhang mit der Anwendung unmittelbarer oder mittelbarer Gewalt gegen den Willen des Gefangenen (Zwangsmaßnahmen) der durchführende Arzt unmittelbar dazu von einem Hoheitsträger ermächtigt ist und er der staatlichen Fachaufsicht unterliegt (s. Urteil des Nds. StGH vom 5.12.2008 – StGH 2/07). Der Gesetzgeber erwähnt in Abs. 2 nicht alle Fachaufsicht ausübenden Fachkräfte ausdrücklich, geht aber davon aus, dass für alle an einer fachspezifischen Behandlung der Gefangenen beteiligten Fachdienste der Justizvollzugsanstalten geeignete Fachkräfte zur Wahrnehmung von Fachaufsicht vorhanden sind. Eine Fachaufsicht muss deshalb auch für den psychologischen Dienst eingerichtet werden (kritisch dazu Beier 1992, 154). Bei dieser Fachdisziplin ist ebenfalls eine Kooperation mit anderen Trägern denkbar (dies hält AK-Feest 2006 Rdn. 13 für vorzugswürdig).
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10. Aufsicht über den Justizvollzug hat nicht nur eine rechtliche Dimension. Sie beschränkt sich also nicht nur auf die Überprüfung der Einhaltung von Gesetz und Recht und inhaltliche Vorgaben für einzelne Arbeitsbereiche der Anstalten (zur Interdependenz zwischen Aufsicht über JVA und politischer Verantwortlichkeit s. Steinhilper/Steinhilper 2005, 19 ff). In der gegenwärtigen medienbeeinflussten Demokratie hängt das „politische Schicksal“ des jeweiligen Justizministers davon u. U. auch ab, ob ihm zugetraut wird, eine effektive Aufsicht über „seine“ JVAen zu garantieren. Kommt es zu spektakulären Ausbrüchen (zur Ausbruchsfrequenz s. Bennefeld-Kersten/Koch/Krüger/Schmidt/Suhling 2004, 3 ff) oder zu gewaltsamen Aktionen bis hin zu Meutereien, zu Übergriffen auf Bedienstete oder zu schweren Straftaten während eines Hafturlaubs oder unter Ausnutzung von Vollzugslockerung (dazu anschaulich Alisch 2002, 34 f), so werden diese spektakulären Ereignisse von der Öffentlichkeit in der Regel als Folge mangelhafter Aufsicht über den Justizvollzug und als Bedrohung der eigenen Sicherheitslage verstanden. Ob die Sicherheit der Bürger dadurch objektiv gefährdet ist, spielt in der politischen Diskussion meist nur eine untergeordnete Rolle. Das Versagen einzelner Bediensteter oder Gefangener wird nur sehr selten in Beziehung gesetzt zu den hohen Erfolgsquoten bei den meisten Vollzugsentscheidungen (Missbrauchsquote unter 1 %; s. Dünkel 2004), sondern als „typische Vollzugspanne“ verallgemeinert, dramatisiert und politisiert. In den üblichen medial begleiteten politischen Diskussionen greift die jeweilige parlamentarische Opposition Einzelfälle auf, um der Regierung tatsächliche oder vermeintliche Versäumnisse anzulasten. 14 Bei Angriffen aus Medien und Politik besteht die Gefahr, dass die Justizminister in kritischen Situationen der Versuchung erliegen, auch die der Aufsichtsbehörde grds. nicht vorbehaltenen Einzelfallentscheidungen selbst treffen oder maßgeblich beeinflussen zu wollen (z. B. ordnen sie selbst Versetzungen und Umsetzungen von Bediensteten an, leiten persönlich Disziplinarverfahren gegen Beamte ein oder ordnen die Rücknahme von Vollzugslockerungen bei einzelnen Gefangenen oder deren Begutachtung an). Anstatt sich in Einzelsachen zurück zu halten, kommt es zu einem „faktischen Selbsteintritt“ des Ministers mit der Folge, dass alle Fehler und Fehleinschätzungen bei der Entscheidungsfindung
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zu Lasten des politisch verantwortlichen Ministers gehen und dann oft Rücktrittsforderungen laut werden. Die Maxime, dass „im Vollzug nichts passieren darf“, ist eine schlechte Handlungsanleitung für eine Aufsichtsbehörde, wobei ein solcher Anspruch ohnehin „illusorisch und lebensfremd“ und zugleich „ein Verstoß gegen die Gebote des Strafvollzugsgesetzes“ ist (so zutreffend Feest/Selling 1990, 44 und Beier 1992, 154 f; s. auch die Dokumentation der Fachtagung „Hauptsache ist, dass nichts passiert?“ in Koop 2006). Sicherlich ist es für die Aufsichtsbehörden nicht leicht, die Balance zu finden zwischen einer fachgerechten globalen Aufsicht über die JVAen und dem verständlichen Bemühen, spektakuläre Ereignisse, welche durch mediale Aufbereitung und populistische Folgeentscheidungen den gesamten Justizvollzug nachhaltig negativ beeinflussen können, zu verhindern. Eine entlastende Funktion kann insoweit die Pressestelle der Aufsichtsbehörde übernehmen. Ihre Aufgabe ist es, Einzelfälle in Gesamtzusammenhänge einzuordnen und diese der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wenn durch kontinuierliche Medienarbeit – und zwar ohne dass spektakuläre Ereignisse vorliegen – eine Vertrauensbasis bei den Journalisten geschaffen worden ist, wird es auch gelingen, überzeugend darzustellen, dass eine misslungene Vollzugslockerung kein Indiz für schlechte Aufsicht darstellt und deshalb nicht die Frage des Rücktritts des Fachministers aufgeworfen werden muss. 11. Aufsichtsbehörden müssen sich stets bewusst machen, dass Strafvollzug erheblich 15 in die Freiheitsrechte der betroffenen Bürger eingreift und dass die Grundrechte der Gefangenen auch gegenüber negativer Stimmungslage der Öffentlichkeit oder populistischen Erwartungen einzelner Politiker zu schützen sind. Diese Aufgabenstellung erfordert von den Aufsichtsbehörden gegenwärtig mehr Mut als in den 1970er Jahren zur Zeit des Inkrafttretens des Strafvollzugsgesetzes, weil damals Bürger, Medien, Politik und Rspr. eine gemeinsame positive Grundhaltung zum modernen Behandlungsvollzug hatten. Heute sind manche Politiker schnell bereit, nach spektakulären Einzelfällen dem öffentlichen Druck nachzugeben und drängen dann oft auf Gesetzesänderung (so auch Maelicke 2002, 11 f). Hassemer (2004, 93) spricht in diesem Zusammenhang von einer „symbolischen Kriminalpolitik“. Dabei sei es nicht das Ziel, Rechtsgüter durch politische Aktivitäten besser zu schützen, vielmehr gehe es um die Darstellung des „aktiven“ Politikers als „jemand, der die Strafbedürfnisse der Bevölkerung glaubhaft in die Praxis verlagert“.
III. Beispiel: Neue Formen der Aufsicht 1. In den vergangenen Jahren hat sich das Profil der Aufsichtsbehörden auch im Bereich 16 des Justizvollzuges grundlegend gewandelt. Flügge (2003, 325) spricht von einem Funktions- und Bedeutungswandel der Aufsichtsbehörde. Erfahrungen aus der Privatwirtschaft haben zu neuen Modellen der Organisations- und Personalentwicklung geführt und den Justizvollzug zu einer „lernenden Organisation“ umgestaltet (vgl. den Überblick über neuere Entwicklungen bei Flügge/Maelicke/Preusker 2001). Die Verwaltungsreform im öffentlichen Dienst hat die Organisationsstrukturen im Justizvollzug verändert: umfassende Delegation dienstrechtlicher Befugnisse, wirtschaftliche Eigenverantwortung der Anstalten und die Einführung der computergestützten Kosten- und Leistungsrechnung sowie des Controlling haben neue Aufsichtssysteme entstehen lassen (ausführlich Koop 2001, 188 und Steinhilper 2003, 85 ff). Allerdings sind die Reformen in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich weit gediehen. Überall hat sich jedoch inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fehlentwicklungen im Justizvollzug aber auch die Verallgemeinerung und Dramatisierung seltener Ereignisse am wirksamsten verhindert werden können, wenn sich Aufsicht über Justizvollzugsanstalten nicht nur in Ausführungsvorschriften, Erlassen und Berichts-
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anforderungen manifestiert, sondern an Gesamtergebnissen und an der Zielerreichung orientiert und wenn moderne Steuerungsinstrumente genutzt werden. Allerdings haben einige Länder die titelscharfe Zuweisung von Haushaltsmitteln durch die Aufsichtsbehörde beibehalten und den Anstalten keine echte Budgetierung ermöglicht. Dennoch haben alle Bundesländer die ersten Versuche der Einleitung eines Organisationsentwicklungsprozesses begonnen. Der aus Kostengründen notwendige Abbau von Hierarchien und die sachlich gebotene Schaffung neuer Leitungsstrukturen haben in allen Ländern zu Veränderungen bei der Ausübung von Fach- und Dienstaufsicht geführt (zu Berlin s. Flügge 2001, 325 ff). 17 2. Niedersachsen hat 2002 ein neues System der Aufsicht über Justizvollzugsanstalten und 2004 eine Kosten- und Leistungsrechnung sowie ein Justizcontrolling eingeführt. Seit 2005 vereinbaren Justizministerium und Anstalten Ergebnis- und Finanzziele. Dadurch entwickelte sich die klassische Aufsicht (ausgeübt durch Anstaltsrevisionen, Berichtsanforderungen, Erlasse und Verwaltungsvorschriften) zu einem System der Globalsteuerung für den gesamten Justizvollzug. Da die meisten dienstrechtlichen Befugnisse in Niedersachsen auf die Justizvollzugsanstalten übertragen worden sind (im einzelnen Steinhilper 1999, 179), bezieht sich die personelle Dienstaufsicht auf die Anstaltsleitungen und darauf, ob sie ihre Dienstaufsicht über die ihnen nachgeordneten Bediensteten einheitlich ausüben, während die organisatorische Dienstaufsicht die Aufbau- und Ablauforganisation, die Verwaltungsstruktur, die Geschäftsverteilung sowie die Ausführung der Dienstgeschäfte unter arbeits- und verfahrenstechnischen Gesichtspunkten auf Effizienz überprüft. Fachaufsicht prüft mit einem umfangreichen Kontrollsystem sowohl die fachliche Qualität des Verwaltungshandelns als auch die Zweckmäßigkeit von Maßnahmen der Anstaltsleiter. Weisungen der Aufsichtsbehörde werden erteilt, um Maßnahmen der Anstalt zu korrigieren, aufzuheben oder künftiges Handeln der Anstalten zu steuern. Das Justizministerium in Niedersachsen verfolgt im Rahmen der Aufsicht folgende Ziele: – Dienstaufsicht über die Anstaltsleiter direkt ausüben – bei nachgeordneten Bediensteten die einheitliche Dienstaufsicht durch die Anstaltsleitungen sicherstellen – alle wichtigen Informationen aus den Anstalten erhalten und auswerten – eine prinzipielle Einheitlichkeit des Vollzuges verwirklichen – Fehlentwicklungen in den Anstalten rechtzeitig erkennen, um ihnen wirksam begegnen zu können – Anstalten bei der Aufgabenwahrnehmung beraten und unterstützen – Eingaben der Gefangenen nach einheitlichen Maßstäben bearbeiten – auf fehlerfreie Anwendung der Gesetze achten – die angemessene Ressourcenbewirtschaftung sicherstellen – alle Anstalten in Fragen der Verwaltung und des Vollzuges auf gemeinsame konzeptionelle Ziele ausrichten. 18 3. Zentraler Baustein des Systems der Aufsichtführung in Niedersachsen sind jährliche zwei- bis dreitägige Besichtigungen der Anstalten durch Besichtigungsteams (drei Mitarbeiter davon einer aus der Vollzugspraxis) anhand von standardisierten und verbindlichen Checklisten mit 34 „Aufsichtssachverhalten“ (z. B.: „alle sechs Monate werden aussagekräftige Vollzugspläne erstellt“ oder „mit jedem neuen Gefangenen wird innerhalb der ersten 24 Stunden seines Anstaltsaufenthalts ein Zugangsgespräch geführt und auf der ersten Nadel der Gefangenenpersonalakte dokumentiert“). Die Checkliste des Ministeriums wird regelmäßig überprüft und aktualisiert. Jeweils nach zwei Jahren werden die Besichtigungsteams den Anstalten (nach dem Zufallsprinzip) neu zugeordnet. Damit sollen Un-
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befangenheit und unterschiedliche Sichtweisen ermöglicht werden. Jedes Mitglied der Abteilung Justizvollzug des Ministeriums muss einem Besichtigungsteam angehören. Alle Eingaben der Gefangenen (auch Petitionen) werden zentral in einem Referat des Ministeriums („Vollzugsreferat“) bearbeitet und ausgewertet. Dadurch wird nicht nur die einheitliche Handhabung gewährleistet, vielmehr können durch Eingabenvergleiche aufsichtsrelevante Fragen und Probleme einzelner Anstalten schneller erkannt und fachaufsichtlich aufgegriffen werden. In einem speziell für das neue System eingerichteten Aufsichtsreferat werden alle Informationen aus dem Controllingnetz aus Besichtigungen, Organisationsuntersuchungen, Berichten, Statistiken und aus der zentralen Eingabenbearbeitung gesammelt und gemeinsam mit den Fachreferaten ausgewertet. 4. Dem Zielsystem der Verwaltungssteuerung liegt eine Balanced Scorecard zu Grunde 19 (zu diesem „Managementwerkzeug“ s. Kaplan/Norten 1997 und Steinhilper 2003, 144 f). Die Scorecard betrachtet den Strafvollzug ganzheitlich und benennt als Richtungsziele sowohl „Wirksamkeitsziele“ (sichere Unterbringung und wirksame Behandlungsangebote) als auch „interne Ziele“ (vollzugliche Grundversorgung und effektiver Personaleinsatz) und „ökonomische Ziele“ (hohe Beschäftigungsquote und bessere Wirtschaftlichkeit) sowie „externe Ziele“ (Akzeptanz in der Öffentlichkeit). Den Richtungszielen sind Einzelziele zugeordnet, z. B.: Zahl der Ausbrüche und Entweichungen vermeiden, mehr Gefangene in Aus- und Fortbildungsmaßnahmen qualifizieren, ehrenamtliche Mitarbeit stärken und verbessern. Die Umsetzung der Einzelziele wird durch das Controllingsystem auf der Basis von Kennzahlen überwacht. So werden z. B. die Zahl der Suizidversuche pro 1.000 Gefangene, die Beschäftigungsverhältnisse je 100 Gefangene nach berufsvorbereitenden Maßnahmen und die Anzahl der Freizeitmaßnahmen pro Woche registriert. In jeder Anstalt werden kontinuierlich alle Daten erhoben, die für die Berechnung der durch Kennzahlen beschriebenen Arbeitsbereiche der Anstalt erforderlich sind und in eine Controllingsoftware eingepflegt, die ein Berichtswesen zur Verfügung stellt, Zusammen mit den Erkenntnissen aus Besichtigungen, den Daten aus der Kosten- und Leistungsrechnung und Informationen aus Einzelfalldarstellungen und statistischen Erhebungen sowie Stellungnahmen aus den Fachreferaten des Ministeriums ergeben sie ein umfassendes Bild von der Effizienz und Leistungsfähigkeit der niedersächsischen Anstalten. Außerdem wird der Grad der Zielerreichung im Justizvollzug deutlich. In einem Jahresgespräch mit der Anstaltsleitung werden die Erkenntnisse aus der Aufsichtsführung und der daraus folgende Handlungsbedarf erörtert. Dieses System verbindet Aufsicht im Sinne eines Blicks zurück mit Steuerung im Sinne eines Blicks nach vorn. Es bewertet Anstalten und Anstaltsleiter auf der Basis aller vorliegenden Ergebnisse, arbeitet zielorientiert und wirkt handlungsanleitend. Dieses vollzugspolitische Programm Niedersachsens nimmt den Anstaltsleitern die Rolle des „Beaufsichtigten“ und macht sie zu Partnern bei der Gestaltung der Zukunft ihrer JVAen.
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 173 (BayVollzG) entspricht weitgehend § 151 StVollzG. Abs. 1 konkretisiert, dass das 20 Staatsministerium der Justiz Aufsichtsbehörde ist und verzichtet – der bayerischen Praxis entsprechend – auf die Möglichkeit der Übertragung von Aufsichtsbefugnissen auf Justizvollzugsämter. Abs. 1 lautet: „Das Staatsministerium der Justiz führt die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten (Aufsichtsbehörde).“ Abs. 2 verzichtet auf die namentliche Nennung spezieller Fachaufgaben (Arbeitswesen, Sozialarbeit, Weiterbildung und Gesundheitsfürsorge), für die Fachkräfte zu beteiligen sind
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und beschränkt sich auf das Erfordernis fachlicher Beratung, soweit Fachkräfte in der Aufsichtsbehörde nicht zur Verfügung stehen. Satz 1 entspricht Satz 2 der Bundesregelung. Abs. 2 lautet: „Soweit die Aufsichtsbehörde nicht über eigene Fachkräfte verfügt, ist fachliche Beratung sicherzustellen. Hierzu können Fachberater oder Fachberaterinnen bestellt werden.“ 2. Hamburg
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§ 111 HmbStVollzG entspricht inhaltlich § 151 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. Die Vorschrift verzichtet – vor dem Hintergrund der Vollzugspraxis in Hamburg – auf die Übertragung von Aufsichtsbefugnissen auf Justizvollzugsämter. Sie verzichtet zudem – wie Bayern und Niedersachsen – auf die namentliche Nennung von Fachaufgaben, für die fachliche Beratung sicherzustellen ist, sowie auf die Regelung, geeignetes Fachpersonal an der Aufsicht über die verschiedenen Aufgabenbereiche der Vollzugsbehörden zu beteiligen. § 111 HmbStVollzG lautet: „Die Aufsichtsbehörde führt die Dienst- und Fachaufsicht über die Anstalten.“ 3. Niedersachsen
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§ 184 NJVollzG verknüpft § 151 mit § 153 StVollzG und subsummiert die Regelung unter die Überschrift „Aufsicht“. Die Vorschrift verzichtet nicht nur – wie Bayern – auf die namentliche Nennung von Fachaufgaben, für die fachliche Beratung sicherzustellen ist, sondern regelt auch die Selbstverständlichkeit, geeignetes Fachpersonal an der Aufsicht über die verschiedenen Aufgabenbereiche der Vollzugsbehörden zu beteiligen. Abs. 1 entspricht der Regelung des § 151 Abs. 1 Satz 1 Teil 2 StVollzG und weist dem Fachministerium die Funktion der Aufsichtsbehörde zu. Er lautet: „Das Fachministerium führt die Aufsicht über die Vollzugsbehörden.“ Abs. 2 Satz 1 nimmt die Regelungsgehalte der §§ 153 und 151 Abs. 1 Satz 2 StVollzG mit der Einschränkung auf, dass das Fachministerium nur einzeln bestimmte Aufsichtsbefugnisse auf eine nachgeordnete Stelle übertragen darf. Auf eine ausdrückliche Nennung von Justizvollzugsämtern wird vor dem Hintergrund der niedersächsischen Vollzugspraxis verzichtet. Abs. 2 lautet: „Es kann sich Entscheidungen über Verlegungen vorbehalten oder solche Entscheidungen oder bestimmte Aufsichtsbefugnisse auf ihm nachgeordnete Stellen übertragen. Im Fall der Übertragung wird das Fachministerium oberste Aufsichtsbehörde.“ Abs. 3 stellt klar, dass richterliche Entscheidungen aus Gründen der Gewaltenteilung nicht der Aufsicht durch das Fachministerium unterliegen. Diese Klarstellung erfolgt vor dem Hintergrund, dass das NJVollzG neben Strafvollzug und Jugendstrafvollzug auch den Untersuchungshaftvollzug regelt. Abs. 3 lautet: „Richterliche Entscheidungen im Rahmen des Untersuchungshaftvollzugs unterliegen nicht der Aufsicht.“
§ 152 Vollstreckungsplan (1) Die Landesjustizverwaltung regelt die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten in einem Vollstreckungsplan. (2) Der Vollstreckungsplan sieht vor, welche Verurteilten in eine Einweisungsanstalt oder -abteilung eingewiesen werden. Über eine Verlegung zum weiteren
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Vollzug kann nach Gründen der Behandlung und Eingliederung entschieden werden. (3) Im übrigen ist die Zuständigkeit nach allgemeinen Merkmalen zu bestimmen. VV Im Vollstreckungsplan soll auch festgelegt werden, welche Anstalten und Abteilungen Einrichtungen des offenen Vollzuges sind. Schrifttum: Altenhain Organisation des Strafvollzuges, in: Schwind/Blau 1988, 31 ff; Diepolder Das Einweisungsverfahren nach § 152 Abs. 2 StVollzG im Lande Nordrhein-Westfalen und Einwirkungsmöglichkeiten des Verteidigers darauf, in: ZfStrVo 1982, 200 ff; Koepsel Das Auswahlverfahren für langstrafige männliche erwachsene Gefangene in Nordrhein-Westfalen, in: ZfStrVo 1976, 125 ff; ders. 10 Jahre Einweisungsanstalt Hagen/Westfalen – Besondere Probleme zentraler Diagnosezentren, in: ZfStrVo 1982, 195 ff; M. Steinhilper Prognosezentrum für den gesamten niedersächsischen Justizvollzug bei der JVA Hannover in Forum Strafvollzug 4/2008, 163 ff; Thole Die Klassifizierung der Gefangenen im Erwachsenenstrafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, in: MschrKrim 1975, 261 ff.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–3 1. Zuständigkeitsbegründung nach allgemeinen Merkmalen . . . . . 2 2. Zuständigkeitsregelung unter Behandlungsgesichtspunkten . . 3 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 4–13 1. Die Zuständigkeitsregelung durch den Vollstreckungsplan . . . . . 4 2. Die Zuständigkeitsregelung durch Einweisungsanstalten . . . . . . 5–8 a) Zuständigkeitsregelung durch Klassifizierung in differenzierte Vollzugsanstalten . . . . . . . 6 b) Abgrenzung der Zuweisung der Gefangenen durch Einweisungsanstalten von der Verlegung im Rahmen des § 8 . . . . . . . . 7 c) Zentrale Diagnosezentren als Einweisungsanstalten . . . . 8 3. Die Abhängigkeit des Einweisungsverfahrens vom differenzierten
Vollzugsangebot in den anderen Anstalten . . . . . . . . . . . . . 9 4. Das Gebot der Zuweisung nach allgemeinen Merkmalen auch im Rahmen des Einweisungsverfahrens . . . . . . . . . . . . 10 5. VV . . . . . . . . . . . . . . . . 11 6. Die Rechte der Gefangenen hinsichtlich der Unterbringung in der zuständigen Anstalt . . . . . . . 12 7. Beschwerdemöglichkeiten gegen Einweisungsentscheidungen . . 13 III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 14–15 1. Die Zuweisungssysteme in den einzelnen Bundesländern, insbesondere das Einweisungsverfahren in Nordrhein-Westfalen . . . . . 14 2. Die langjährige Bewährung des Einweisungsverfahrens . . . . . 15 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 16
I. Allgemeine Hinweise In § 152 versucht der Gesetzgeber, zwei entgegengesetzte Zielvorstellungen bei der Fest- 1 legung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten miteinander zu vereinbaren. 1. Die örtliche und sachliche Zuständigkeit einer Justizvollzugsanstalt soll sich aus all- 2 gemeinen Merkmalen aufgrund eines Vollstreckungsplanes ergeben (vgl. auch § 22 StrVollstrO). Im Vollstreckungsplan wird für jeden Gefangenen im Vorwege die für seine Klaus Koepsel
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Strafverbüßung örtlich und sachlich zuständige Justizvollzugsanstalt eines Landes festgelegt. Der Vollstreckungsplan sollte nicht mit dem Vollzugsplan verwechselt werden, der in Absprache mit dem Gefangenen den zeitlichen und inhaltlichen Verlauf einzelner Behandlungsmaßnahmen regelt (§ 7). Mit dem Vollstreckungsplan soll rechtsstaatlichen Erfordernissen Rechnung getragen werden, wonach jeder strafgerichtlich Verurteilte möglichst im Voraus wissen soll, welche Folgen seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe hat. Mit der in Abs. 1 und 3 enthaltenen Regelung nimmt das Strafvollzugsgesetz die seit vielen Jahrzehnten bestehende Regelung auf, wonach sich aus einem Plan ergibt, in welcher Justizvollzugsanstalt jeder einzelne Gefangene unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Straflänge die gegen ihn vom Gericht ausgesprochene Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. Dabei wird als örtlich zuständige Vollzugsanstalt in der Regel diejenige gewählt, in deren Nähe der Gefangene seine bisherigen persönlichen Bindungen hatte. Dies empfehlen auch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (REC 2006/2 Nr. 17.1). Regelungen im Vollstreckungsplan, die eine vom Lebensmittelpunkt eines/einer Gefangenen zu weit entfernt liegende JVA für zuständig erklären, können rechtswidrig sein. Dies gilt insbesondere bei Vollzugsgemeinschaften mehrerer Bundesländer (KG Berlin 2 E 12.9.2008 2WS 770/07 Vollz S. 4, juris). Die sachliche Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten richtet sich unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht des Verurteilten im wesentlichen nach der Länge der Strafe und danach, ob der Verurteilte erstmalig den Strafvollzug kennen lernt oder bereits über längere Vollzugserfahrungen aus früheren Verurteilungen verfügt. Diese allgemeinen Merkmale der Zuweisung von Gefangenen zu bestimmten Vollzugsanstalten (dazu auch K/S-Schöch 2002 § 10 Rdn. 3 und 4) widersprechen nicht § 2 Satz 1 (vgl. OLG Bremen ZfStrVo SH 1979, 87f). Der Gesetzgeber geht bei der in § 152 Abs. 1 und 3 getroffenen Regelung davon aus, dass in allen Justizvollzugsanstalten ein Mindestangebot an Behandlungsmaßnahmen zur Erreichung des Vollzugszieles (§ 2 Rdn. 12 ff) besteht. Kein Gefangener hat einen unmittelbar aus dem Gesetz ableitbaren Rechtsanspruch auf Aufnahme in einer bestimmten Justizvollzugsanstalt, da der Gesetzgeber die Landesjustizverwaltungen ermächtigt, durch Verwaltungsvorschriften nach den vorstehend geschilderten Kriterien die Zuständigkeit von Justizvollzugsanstalten festzulegen. Das Handlungsermessen der Justizverwaltungen kann jedoch dadurch eingeengt werden, dass die Verwaltung bei der Ermessensausübung ihre Selbstbindung, die sie sich hinsichtlich der Zuständigkeiten der Justizvollzugsanstalten im Vollstreckungsplan auferlegt hat, beachten muss, d. h. ohne sachlichen Grund kann keine Justizvollzugsanstalt die Aufnahme eines Gefangenen ablehnen, wenn sie nach dem Vollstreckungsplan als die zuständige Anstalt ausgewiesen wird. Dies gilt auch für offene Anstalten. Ein sachlicher Grund für die Nichtaufnahme eines Gefangenen ist allerdings die inzwischen nicht mehr seltene Überbelegung der Anstalten, die eine Aufnahme unmöglich macht. In einem solchen Falle wäre die Aufnahme des Gefangenen in einer anderen Anstalt zulässig. Dies muss aus der Regelung in § 8 abgeleitet werden, wonach die Justizvollzugsverwaltung auch aus Gründen der Vollzugsorganisation Zuständigkeiten verändern kann (so auch Arloth 2008 Rdn. 3). Die Entscheidung einer Justizvollzugsanstalt, im konkreten Falle einen Gefangenen nicht aufzunehmen, ist nach den §§ 109 ff gerichtlich anfechtbar, da die Aufnahme eines Gefangenen eine Vollzugsmaßnahme darstellt (§ 5). Falls mehrere Justizvollzugsanstalten zur Vollstreckung einer Strafe in Betracht kommen, hat ein Gefangener, der mehrere Strafen nacheinander verbüßen muss, in der Regel einen Anspruch darauf, in der Anstalt verbleiben zu dürfen, in welcher der Strafvollzug begonnen wurde (OLG Stuttgart ZfStrVo 1998, 372 ff).
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2. In Abs. 2 ermächtigt der Gesetzgeber die Landesjustizverwaltungen, eine den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Gefangenen stärker Rechnung tragende Zustän-
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digkeitsregelung zu treffen. Mit Hilfe von Einweisungsanstalten (§ 6 Rdn. 4, 9) oder Einweisungsabteilungen (§ 6 Rdn. 4) wird erreicht, dass für die Strafverbüßung der einzelnen Gefangenen die Justizvollzugsanstalten nicht aufgrund des landesweiten Rahmenplanes der Landesjustizverwaltungen zuständig werden, sondern dass nach einer Behandlungsuntersuchung (§ 6) die Justizvollzugsanstalt für den Gefangenen zuständig wird, in der seine Behandlung und Eingliederung am besten gefördert werden kann. Die durch die Einweisungsanstalt nach der Behandlungsuntersuchung durchgeführte Verlegung des Gefangenen ist nicht identisch mit einer aus Gründen des speziellen Einzelfalles möglichen Verlegung im Sinne des § 8 (vgl. Rdn. 1 zu § 8). Vielmehr ist das Verlegungsverfahren der Einweisungsanstalt eine Vollzugsmaßnahme, die den Vollstreckungsplan im Einzelfall konkretisiert. Die Entscheidung der Einweisungsanstalt legt zwar die für den jeweiligen Gefangenen zuständige Anstalt fest, kann dies jedoch nur in Übereinstimmung mit den im Vollstreckungsplan enthaltenen Rahmenrichtlinien tun (vgl. OLG Celle ZfStrVo 1980, 250 und OLG Stuttgart ZfStrVo 1998, 372 ff). Die Einweisungsentscheidung ist eine gem. § 109 ff anfechtbare Vollzugsmaßnahme und dem Betroffenen deshalb schriftlich zu begründende Entscheidung (OLG Hamm ZfStrVo 1998, 312–313). Keine anfechtbaren Justizverwaltungsakte sind jedoch die mit Einweisungsentscheidungen oft verbundenen Empfehlungen für die Aufstellung des Vollzugsplanes. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die aufnehmenden Justizvollzugsanstalten nicht an die Empfehlungen gebunden sind (OLG Hamm ZfStrVo 1983, 247).
II. Erläuterungen 1. Der Vollstreckungsplan enthält eine unter Beachtung der Vorschriften der Straf- 4 vollstreckungsordnung formulierte Zuständigkeitsübersicht über die Justizvollzugsanstalten des jeweiligen Landes, wobei in kleineren Ländern nur wenig differenziert werden kann. Es kann nach Sachkriterien (z. B. Alter, Geschlecht, Straflänge, Hafterfahrung) unterschieden werden: sachliche Zuständigkeit. Zugleich werden die Gefangenen in der Regel den Anstalten auch unter Berücksichtigung ihres Wohnortes, Heimatortes oder Aufenthaltsortes oder auch des Ortes an dem die Straftat begangen wurde zugewiesen: örtliche Zuständigkeit. 2. Im Vollstreckungsplan kann, wenn die Zuweisung von Gefangenen auf die Anstalten 5 dort nicht unmittelbar geregelt ist (Abs. 1), diese Zuweisung Einweisungsanstalten oder abteilungen übertragen werden (Abs. 2). Zur Behandlungsuntersuchung in Aufnahmeabteilungen oder Einweisungsanstalten § 6 Rdn. 4. Zu Einweisungsanstalten Rdn. 14 f. a) Für die meisten Behandlungsmaßnahmen müssen Gruppen gleichermaßen geeigne- 6 ter Gefangener zusammengestellt werden, damit die Maßnahmen wirkungsvoll und ökonomisch organisiert werden können. Berufliche und schulische Förderungsmaßnahmen z. B. setzen Gruppen gleichermaßen fortbildungswilliger und fortbildungsfähiger Gefangener voraus. Sozialtherapeutische Gruppenarbeit, Wohngruppenvollzug (§ 143 Abs. 2) und andere Formen der Gruppentherapie machen es ebenfalls notwendig, dass je nach Behandlungsangebot Gruppen von 9–25 Gefangenen, die in ähnlicher Weise behandelbar sind, in einzelnen Justizvollzugsanstalten oder Abteilungen zusammen gefasst werden. Nicht jede Justizvollzugsanstalt besitzt aber die notwendige Personalausstattung und ein ausreichendes Raumangebot, um alle Behandlungsmaßnahmen durchführen zu können. Deshalb haben sich einzelne Justizvollzugsanstalten auf bestimmte Behandlungsangebote spezialisiert. Diese Spezialisierung wird angesichts knapper werdender Haushaltsmittel fortschreiten. Diesem differenzierten Vollzugsangebot kann ein starres Zuweisungsschema durch
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einen Vollstreckungsplan nicht vollen Umfangs gerecht werden, d. h. die Zuweisung von Gefangenen nach Gesichtspunkten der Heimatnähe und des Sicherheitsbedürfnisses kann nicht gewährleisten, dass die vorhandenen behandlungsintensiven Haftplätze in vollem Umfang genutzt werden. Das differenzierte Vollzugsangebot kann durch spätere Verlegung von Gefangenen (§ 8 Abs. 1 Nr. 1) oder durch individuelle, in Einweisungsanstalten bzw. -abteilungen durchgeführte Behandlungsuntersuchungen (§ 6) bei allen von der Strafzeit her behandlungsgeeigneten Gefangenen ausgeschöpft werden. Um den Landesjustizverwaltungen die optimale Nutzung des knappen Angebots zu ermöglichen, ermächtigt Abs. 2 zur Einrichtung von Einweisungsanstalten und erlaubt, dass die Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten innerhalb eines Landes sich zwar nach allgemeinen Gesichtspunkten, aber unter Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse des Einzelfalles ergeben darf (§ 6 Rdn. 5). Zur Frage der Klassifizierung und Differenzierung vgl. auch § 6 Rdn. 3, 7 f.
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b) Vollstreckungspläne i. S. von Abs. 1 ermöglichen nur eine Zuweisung von Gefangenen aufgrund genereller Merkmale. Jede den individuellen Bedürfnissen einzelner Gefangener dann nicht entsprechende Zuweisung zu den Anstalten muss über § 8 zu korrigieren versucht werden (vgl. OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 86 und § 8 Rdn. 6). Voraussetzung dafür ist, dass die Justizvollzugsanstalten eine Organisationsform entwickeln, die es ihnen ermöglicht, Zuständigkeitsveränderungen im Rahmen des § 8 unter Berücksichtigung der dort genannten Gesichtspunkte zu veranlassen. Da für die normalen Justizvollzugsanstalten eine solche Planung nicht in wirtschaftlicher Form organisierbar ist, wird den Anstalten eine derartige Verlegungspraxis im Rahmen des § 8 nicht in größerem Umfange abverlangt werden können (vgl. OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 86 f; § 8 Rdn. 6). Aus § 8 kann deshalb kein Anspruch der Gefangenen hergeleitet werden, in die für sie förderlichste Justizvollzugsanstalt verlegt zu werden, sofern diese Anstalt nicht im Rahmen des Vollstreckungsplanes zuständig ist (vgl. § 8 Rdn. 10 und OLG Stuttgart NStZ 1996, 359).
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c) Das Herausfinden der für den jeweiligen Gefangenen günstigsten Anstalt ist im Rahmen des Vollstreckungsplanes mit vertretbarem Zeit- und Personalaufwand nur in zentralen Diagnosezentren möglich, die über genaue Informationen hinsichtlich der Vollzugsgestaltung in den anderen Anstalten verfügen. Außerdem müssen die Einweisungsanstalten (oder Abteilungen) über das notwendige Fachpersonal verfügen, um fachlich begründete Aussagen machen zu können, welche Behandlungsbedürfnisse der einzelne Gefangene hat und zu welchen Gruppen anderer Gefangener er von seiner Persönlichkeit her passt. Um solche diagnostischen Aussagen zu machen, bedarf es aller in § 155 Abs. 2 aufgezählten Fachkräfte, denn am besten kann die jeweilige Fachkraft ermessen, ob die in den anderen Vollzugsanstalten vom jeweiligen Fachkollegen angebotene Maßnahme für den einzelnen Gefangenen eine geeignete Behandlungsmaßnahme darstellt. Vgl. auch § 6 Rdn. 11.
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3. Einweisungsanstalten sind allerdings relativ personalaufwendige Diagnosezentren und deshalb nur vertretbar, wenn ein differenziertes Vollzugsangebot auch in mehreren Vollzugsanstalten vorhanden ist und auch genutzt werden kann. Gegenwärtig steigt die Zahl ausländischer Gefangener, bei denen eine Ausweisung nach Verbüßung – jedenfalls eines Teils – der Strafe ausländerrechtlich vorgeschrieben ist. Für diese Gefangenengruppe sind zentral durchgeführte Behandlungsuntersuchungen wegen des geringen Umfangs der realisierbaren Behandlungsmaßnahmen zu aufwendig. Die meisten Bundesländer haben spezielle Behandlungsangebote außerdem nur in jeweils einer Anstalt konzentriert und können sich schon deshalb nicht für ein überregionales Einweisungsverfahren entscheiden. Vgl. aber § 6 Rdn. 15.
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4. Auch für das in Abs. 2 beschriebene Einweisungsverfahren gilt der Grundsatz des Abs. 3, wonach nach allgemeinen Merkmalen die Zuständigkeit einer Anstalt zu be-
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stimmen ist. Die Praxis der Einweisungsanstalten wäre gesetzwidrig, wenn einzelne Gefangene aufgrund spezieller Bedürfnisse der Justizvollzugsanstalten dorthin eingewiesen würden, ohne dass sich die Notwendigkeit der Einweisung aus für alle Gefangenen geltenden Grundsätzen ergibt. Die Zuweisung der zuständigen Justizvollzugsanstalt muss deshalb immer nach sachlichen Kriterien erfolgen. Wenn sich Anstalten, die für die Vollstreckung der Untersuchungshaft zuständig sind, einzelne Gefangene für die Aufrechterhaltung ihrer Betriebe aussuchen und diese Gefangenen auch während der Zeit der Strafverbüßung behalten möchten, ist dies nur mit Genehmigung der für Abweichungen vom Vollstreckungsplan zuständigen Aufsichtsbehörde möglich. Eine Zustimmung darf allerdings nur für Gefangene erteilt werden, bei denen aus sachlichen Gründen eine Unterbringung in der betreffenden Anstalt als sinnvoll zur Erreichung des Vollzugszieles erscheint. 5. Die VV enthalten eine Aufforderung an die Länder, ihre offenen Justizvollzugsanstal- 11 ten für die betroffenen Gefangenen kenntlich zu machen. Einige Länder haben in Ermangelung von echten offenen Einrichtungen, einzelne nicht mehr den heutigen Sicherheitsstandards entsprechende, früher als geschlossene Anstalten geführte Gefängnisse formal zu offenen Anstalten umgewidmet. Teilweise fehlen in derartigen Einrichtungen jedoch die für den offenen Vollzug typischen Merkmale. 6. Die Gefangenen haben gegenüber allen den Landesjustizverwaltungen durch § 152 12 eingeräumten Organisationsbefugnissen nur formale Rechte. Sie haben einen Rechtsanspruch auf Einweisung in die zuständige Anstalt (vgl. OLG Koblenz ZfStrVo SH 1979, 86 f). Weil den Strafgefangenen die nach Art. 11 GG gewährleistete Freizügigkeit genommen worden ist, können sie sich die für sie zuständige Anstalt nicht aussuchen (§ 8 Rdn. 6). Lediglich unbillige Härten, die durch die Vollstreckungsplanregelung für sie im Hinblick auf ihre persönlichen Interessen entstanden sind, können sie durch Beschwerden gegen Einweisungsentscheidungen (vgl. OLG Celle ZfStrVo 1980, 250) oder durch Verlegungsanträge nach § 8 auszugleichen versuchen (vgl. OLG Stuttgart NStZ 1996, 359). Grundsätzlich ist aber der Vollstreckungsplan für sie verbindlich. Das gilt auch dann, wenn der Vollstreckungsplan nicht die für die Gefangenen günstigste und angenehmste Unterbringung gewährleistet (vgl. OLG Koblenz aaO). Die Gefangenen müssen sogar Verlegungen in andere Anstalten hinnehmen, wenn der Vollstreckungsplan aus sachlichen Gründen geändert wird (vgl. OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 189 ff) oder andere Voraussetzungen des § 26 StrVollstrO vorliegen (KG NStZ 1997, 207). Die Unterbringung von Gefangenen darf nicht menschenunwürdig sein (vgl. OLG Hamm NJW 1967, 2024; OLG Celle ZfStrVo 1999, 57; § 18 Rdn. 6), aber sie wird nicht in jedem Einzelfall am Vollzugsziel orientiert erfolgen. In Zeiten häufigen Belegungsausgleichs wegen aktueller Überbelegungssituation nehmen unbefriedigende Unterbringungssituationen zu. Dies ist für die einzelnen Inhaftierten oft nur schwer einzusehen, und auch manche Vollzugsbediensteten haben dafür wenig Verständnis. 7. Auch die Beschwerdemöglichkeiten gegen Einweisungsbeschlüsse sind mehr for- 13 maler Natur. Es kann eine begründete Einweisungsentscheidung unter Mitteilung der Behandlungsempfehlungen verlangt werden (vgl. OLG Celle NStZ 1982, 136), die auf ihre Gesetzmäßigkeit hin überprüft werden kann (vgl. OLG Celle ZfStrVo 1980, 250). Solche Überprüfungen sind sowohl vom OLG Stuttgart für Entscheidungen der JVA Stuttgart als auch von den für die JVAen Hannover, Hagen und Duisburg-Hamborn zuständigen Strafvollstreckungskammern in etlichen – allerdings nicht veröffentlichten Entscheidungen – vorgenommen worden. Dabei sind die Einweisungsentscheidungen nicht hinsichtlich der Details der fachdiagnostischen Erhebungen (auf Einsicht in diese hat der Gefangene keinen Anspruch, vgl. OLG Celle NStZ 1982, 139; vgl. auch § 6 Rdn. 14; § 7 Rdn. 5) nachgeprüft
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worden, sondern nur daraufhin, ob die Einweisungsanstalt die inhaltlichen Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes sowie der einschlägigen Landesverwaltungsvorschriften beachtet hat.
III. Beispiele 14
1. Nur wenige Bundesländer haben von der Möglichkeit des Abs. 2 Gebrauch gemacht. Für den einzelnen Gefangenen bedeutet dies, dass der Beginn und die Fortdauer des Strafvollzugs nach Rechtskraft seines Urteils sich unterschiedlich gestalten, und zwar je nachdem, in welchem Bundesland er seine Freiheitsstrafe verbüßen muss. Viele Inhaftierte, die über die Ländergrenzen hinaus in andere Justizvollzugsanstalten verlegt werden, können solche Unterschiede in der Vollzugspraxis nicht verstehen. Für den einzelnen Gefangenen ist es von großer Bedeutung, ob er seine längere Freiheitsstrafe in einer überregionalen Diagnoseanstalt – wie es die Einweisungsanstalten sind – beginnt oder in einer Strafanstalt untergebracht ist, die nicht einmal eine Einweisungsabteilung besitzt. In Nordrhein-Westfalen werden nur noch die deutschen männlichen erwachsenen Strafgefangenen, die mehr als 24 Monate zu verbüßen haben und sich nicht auf freiem Fuß befinden, in der in Westfalen gelegenen zentralen Einweisungsanstalt Hagen einer Behandlungsuntersuchung im Sinne des § 6 unterzogen. An dieser Behandlungsuntersuchung wirken Juristen, Mediziner, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, Soziologen, Arbeitsberater der Agentur für Arbeit und besonders erfahrene Beamte des Allgemeinen Vollzugsdienstes mit. Im Rahmen der Behandlungsuntersuchung wird in etwa sechs bis acht Wochen aufgrund von Testverfahren (in Kleingruppen), Einzelexplorationen und Gesprächen mit Kontaktpersonen der Gefangenen herauszufinden versucht, wie stark ein Gefangener der Dauerkriminalität verhaftet ist und welche Behandlungsbedürfnisse bestehen, um ihm ein Leben ohne Straftaten zu erleichtern. Ausländische Gefangene erhalten eine Behandlungsuntersuchung nur auf Antrag und werden dem gemäß im Normalfall in durch den Vollstreckungsplan festgelegten Anstalten untergebracht. Auf freiem Fuß befindliche Straftäter werden auch bei mehrjähriger Freiheitsstrafe in den aus dem Vollstreckungsplan ersichtlichen offenen Anstalten untergebracht, können jedoch im Falle von Eignungsbedenken der Einweisungsanstalt zugeführt werden. Der Zuweisungspraxis der Einweisungsanstalten entspricht in Nordrhein-Westfalen ein differenziertes Vollzugsangebot. In einem Studienzentrum sowie zwei schulischen Förderzentren, in zwei Berufsförderzentren, in mehreren sozialtherapeutischen Einrichtungen und in fünf Anstalten mit besonders ausgestaltetem Wohngruppenvollzug können die jeweils für diese Vollzugsangebote geeigneten Gefangenen gefördert werden .
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2. Das seit über 30 Jahren in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Einweisungsverfahren (vgl. dazu Thole 1975; Koepsel 1976, 125 sowie 1982, 195; Altenhain 1988, 36 ff und Diepolder 1982) ist in seiner Grundkonzeption nur wenig verändert worden. Zwar nehmen ausländische Gefangene nur noch ausnahmsweise am Einweisungsverfahren teil, für die nach wie vor große Zahl der Inhaftierten, welche nach Verbüßung ihrer längeren Freiheitsstrafen in Deutschland leben werden, hat das überregionale Diagnoseverfahren seine Bedeutung behalten. Es hat im Laufe der Jahre immer wieder die schon am Beginn feststellbaren methodischen Probleme (vgl. Koepsel 1982, 195; vgl. auch § 159 Rdn. 2) gegeben, aber die angestrebte optimale Ausnutzung der vorhandenen behandlungsintensiven Haftplätze ist bis heute erreicht worden. Seit Beginn des Verfahrens besteht das Problem, für Inhaftierte mit langen Freiheitsstrafen, denen ein für sie sinnvolles Behandlungsangebot nicht gemacht werden kann, die geeignete Verbüßungsanstalt zu finden. Besonders Gefangene, welche wegen der Länge der vor ihnen liegenden Inhaftierungszeit keine realistische Entlassungsperspektive ent-
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wickeln können, empfinden das relativ aufwendige Einweisungsverfahren oft als „Farce“. Die Einweisungsanstalt hat deshalb ein eigenes Interesse, konzeptionelle Planungen anderer Anstalten zu unterstützen, welche Inhaftierten helfen, sehr lange Inhaftierungszeiten zu „überleben“, damit im Einweisungsverfahren mit den betroffenen Gefangenen der Sinn solcher Überlebensstrategien erörtert werden kann (§ 6 Abs. 3). Baden-Württemberg und Niedersachsen haben ein eher formales Einweisungssystem beibehalten, das durch § 152 Abs. 2 gesetzlich erlaubt ist, jedoch dem eigentlichen Sinn dieser Vorschrift nicht in vollem Umfang gerecht wird. Wie weit das neue niedersächsische Prognosezentrum in Hannover jedenfalls für Sexual- und Gewaltstraftäter diagnostische Aufgaben übernehmen wird, bleibt abzuwarten (vgl. Steinhilper in FS 4/2008, 163 ff). Die meisten Bundesländer nutzen die Ermächtigungsgrundlage des § 152 Abs. 2 nicht, allerdings wird eine Zentralisierung der Behandlungsuntersuchung in einigen Bundesländern erwogen.
IV. Landesgesetze Bayern hat in Art. 174 BayStVollzG eine dem § 152 Abs. 1 StVollzG entsprechende Vor- 16 schrift geschaffen, ohne Einzelfallösungen im Sinne des § 152 Abs. 2 StVollzG oder die Pflicht zur Beachtung „allgemeiner“ Regelungskriterien im Sinne des § 152 Abs. 3 StVollzG anzusprechen. Hamburg hat in § 112 HmbStVollzG ebenfalls nur die Regelung des § 152 Abs. 1 StVollzG übernommen. Nur Niedersachsen hat in § 185 NJVollzG eine inhaltlich dem § 152 StVollzG entspechende Regelung getroffen.
§ 153 Zuständigkeit für Verlegungen Die Landesjustizverwaltung kann sich Entscheidungen über Verlegungen vorbehalten oder sie einer zentralen Stelle übertragen. Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Die Befugnis der Selbstentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Übertragung der Entschei-
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Rdn. dungsbefungnis auf zentrale Stellen . . . . . . . . . . . . . . III. Beispiel: Die praktische Bedeutung der Vorschrift IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise Diese Vorschrift ergänzt die Regelungen in § 152. § 153 hat im wesentlichen Ver- 1 legungen von Gefangenen im Auge, die Abweichungen vom Vollstreckungsplan zum Inhalt haben. Solche Verlegungen werden der Sache nach aus Gründen des § 8 erfolgen (vgl. § 8 Rdn. 6 f). § 153 räumt den Landesjustizverwaltungen eine eigene Zuständigkeit zur Mit-
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wirkung bei Vollstreckungsplanabweichungen ein (vgl. dazu auch OLG Frankfurt ZfStrVo 1982, 190 und OLG Stuttgart NStZ 1997, 103). Auch die Aufsichtsbehörden haben zu beachten , dass Verlegungen oft eine starke Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse der Gefangenen zur Folge haben, und dass „sie daher nur unter Wahrung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots zulässig“ sind (vgl. LG Hamburg StV 2002 , 664 ff).
II. Erläuterungen 2
1. Die Landesjustizverwaltungen können sich die Entscheidung über vom Vollstreckungsplan abweichende Verlegungen selbst vorbehalten oder jedenfalls bedeutsame Verlegungsentscheidungen von ihrer Zustimmung abhängig machen. Auch wenn nur ein solches Zustimmungserfordernis besteht, handelt es sich dabei um einen selbständigen Justizverwaltungsakt, der gesondert angefochten werden kann (vgl. LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1979, 88 ff). Die Entscheidungen über Verlegungen im Sinne des § 153 sind Vollzugsangelegenheiten, die nicht die Strafvollstreckung, sondern den Strafvollzug betreffen. Zu deren Nachprüfung sind deshalb die Strafvollstreckungskammern berufen (vgl. LG Wiesbaden ZfStrVo SH 1978, 42 f; vgl. § 8 Rdn. 5). § 153 gilt auch für Verlegungen von Gefangenen innerhalb eines Bundeslandes. Verlegungen von einem Bundesland in das andere sind nur unter Beteiligung der betroffenen Justizministerien möglich, deren Entscheidungen allerdings auch rechtlich angegriffen werden können (vgl. OLG Hamm ZfStrVo SH 1978, 91; § 8 Rdn. 14).
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2. Die Entscheidung über Abweichungen vom Vollstreckungsplan kann einer zentralen Stelle, z. B. dem eingerichteten Justizvollzugsamt, übertragen werden.
III. Beispiel 4
Die Vorschrift des § 153 hat ihre Bedeutung für die Praxis darin, dass Verlegungen von Gefangenen, die aus Gründen der Vollzugsorganisation erfolgen müssen, nach einheitlichen und möglichst rechtsstaatlichen Gesichtspunkten durchgeführt werden. § 153 enthält nur eine Ermächtigung. Die Landesjustizverwaltungen haben von dieser Ermächtigung durchweg Gebrauch gemacht. Für die Gefangenen ist dies im Ergebnis günstig, da viele Justizvollzugsanstalten – falls ihnen die Befugnis zur Verlegung verbleiben würde – in Versuchung wären, die ihnen lästigen Gefangenen „aus Gründen der Vollzugsorganisation“ in andere Anstalten zu verlegen. Auch wenn diese Anstalten für die betroffenen Gefangenen ungünstig wären, ließen sich durchgeführte Verlegungen oft nicht mehr rechtzeitig rückgängig machen.
IV. Landesgesetze 5
Bayern, Hamburg und Niedersachsen haben die Ermächtigung in ihre Landesgesetze der Sache wegen nicht übernehmen können, sondern ihren Verwaltungsvorschriften vorbehalten, die Zuständigkeiten für Verlegungen festzulegen.
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DRITTER TITEL
Innerer Aufbau der Justizvollzugsanstalten § 154 Zusammenarbeit (1) Alle im Vollzug Tätigen arbeiten zusammen und wirken daran mit, die Aufgaben des Vollzuges zu erfüllen. (2) Mit den Behörden und Stellen der Entlassenenfürsorge, der Bewährungshilfe, den Aufsichtsstellen für die Führungsaufsicht, den Agenturen für Arbeit, den Trägern der Sozialversicherung und der Sozialhilfe, den Hilfeeinrichtungen anderer Behörden und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege ist eng zusammenzuarbeiten. Die Vollzugsbehörden sollen mit Personen und Vereinen, deren Einfluss die Eingliederung des Gefangenen fördern kann, zusammenarbeiten. Schrifttum: Alisch Sicherheit als Steuerungsproblem, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, Baden-Baden 2000, 105 ff; Baumann Die Entlassungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland – Situation, Probleme, Perspektiven. Dargestellt und untersucht unter besonderer Berücksichtigung von Modelleinrichtungen, Bochum 1980; Bayerisches Staatsministerium der Justiz Informationen zur ehrenamtlichen Tätigkeit im Strafvollzug, München 1995; Brinkmann Sozialisation durch Vollzugshelfer. Ein Beispiel für die Laienhilfe in einer Jugendstrafanstalt, in BewHi 1981, 83 ff; Buchert Neue Wege zur Gewinnung von ehrenamtlichen Betreuern im geschlossenen Erwachsenenvollzug der JVA Geldern, in: ZfStrVo 1994, 354 ff; Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe Ehrenamtliche Mitarbeit in der Freien Straffälligenhilfe in NRW – Ein Leitfaden, Bonn 1996; Busch Professionelle Sozialarbeit und freiwillige Mitarbeit in der Straffälligenhilfe, in: Niedersächsische Gesellschaft für Straffälligenbetreuung und Bewährungshilfe e.V. (Hrsg.) 1980, 37 ff; Busch Ehren- und nebenamtliche Mitarbeit im Strafvollzug, in: Schwind/Blau 1988, 221 ff; Cyrus Ehrenamtlich – Laienhelfer im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe, in: BewHi 1982, 357; Dietl Alle im Vollzug Tätigen arbeiten zusammen, in: ZfStrVo 1989, 4 ff; Eggert Die Herkunft ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Straffälligenhilfe – Eine Untersuchung an zwölf Gruppen ehrenamtlicher Mitarbeiter in Niedersachsen und Lübeck, in: ZfStrVo 1981, 359 ff; Goll/Wulf Nachsorge für junge Strafentlassene – Ein innovatives Netzwerk in Baden-Württemberg, in: ZRP 2006, 91-93; Hompesch/Kawamura/Reindl (Hrsg.) Verarmung – Abweichung – Kriminalität, Bonn 1996; Justizministerium Baden-Württemberg Ehrenamtliche Tätigkeit im Strafvollzug – Einzelbetreuung und Anleitung von Gruppen, Stuttgart 1986; Kosubek Ehrenamtliche Mitarbeiter in der Straffälligenhilfe – ein sozial-pädagogisches Modell aus der Praxis, Darmstadt 1984; Krebs „Gefängnisgesellschaften“ und „Anstaltsbeiräte“ – Eine geschichtliche Betrachtung, in: Niedersächsische Gesellschaft für Straffälligenbetreuung und Bewährungshilfe e.V. (Hrsg.) 1980, 105 ff; Maelicke Freie und ambulante Straffälligenhilfe als Alternative zur Freiheitsentziehung, in: BewHi 1982, 5; Marks Freie Helfer im Vollzug, in: ZfStrVo 1985, 82 ff; Mathiesen Überwindet die Mauern! Die skandinavische Gefangenenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit, 2. Aufl., Neuwied 1992; Müller-Dietz Strafvollzugsrecht, 2. Aufl., Berlin/New York 1978; ders. Aufgabe, Rechte und Pflichten ehrenamtlicher Vollzugshelfer, in: 20 Jahre Bundeshilfswerk für Straffälligenhilfe e.V., Bonn 1978, 9 ff; ders. Ehrenamtliche Helfer und Strafvollzug, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 1987, 204 ff; ders. Zusammenarbeit zwischen Justizvollzug und freien Trägern der Straffälligenhilfe, in: ZfStrVo 1997, 35 ff; Nickolai Entlassenenhilfe im Verbund von Sozialarbeit im Vollzug und freier Hilfe, in: BewHi 1992, 288 ff; Niedersächsische Gesellschaft für Straffälligenbetreuung und Bewährungshilfe e.V. (Hrsg.) Freiwillige Mitarbeit in der Straffälligenhilfe und professionelle Sozialarbeit, Hannover 1980; Preusker Wer und was sind die Vollzugsmanager der Zukunft, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, Baden-Baden 2000, 363 ff; Quack Eine andere Art der Diensteinteilung, in: ZfStrVo 1976, 91f; Rotthaus Partner im sozialen Umfeld des Vollzuges, in: Kury (Hrsg.), Straf-
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vollzug und Öffentlichkeit, Freiburg 1980, 155 ff; ders. Zum praktischen Umgang mit dem therapeutischen Geheimnis im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2000, 280 ff; Schäfer Die Vollzugshelfer, in: ZfStrVo 1981, 352 ff; Theißen Ehrenamtliche Mitarbeit im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990; ders. Ehrenamtliche Mitarbeit im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1991, 3 ff: Wydra Der Anstaltsleiter als Krisenmanager, in: Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug, Dokumentation der 22. Arbeits- und Fortbildungstagung vom 6. bis 10. Mai 1996 in Ellwangen, 162 ff.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Zusammenarbeit des Anstaltspersonals . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenarbeit mit Behörden, öffentlichen Stellen und den Trägern der freien Wohlfahrtspflege
Rdn.
Rdn.
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3. Zusammenarbeit mit Einzelpersonen und Vereinen, deren Arbeit dem Vollzugsziel dient . . . . . . 6–10 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 11–13 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 12 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 13
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I. Allgemeine Hinweise 1
Das Gesetz unterscheidet verschiedene Ebenen der Zusammenarbeit a) Die im Vollzug, also innerhalb der Vollzugsanstalt, Tätigen müssen zusammenarbeiten (Abs. 1); b) Mit Behörden, öffentlichen Stellen und den Trägern der freien Wohlfahrtspflege ist eng zusammenzuarbeiten (Abs. 2 Satz 1); c) Entsprechendes soll geschehen mit Einzelpersonen und Vereinen, deren Arbeit dem Vollzugsziel dient (Abs. 2 Satz 2). Das Landesgesetz in Niedersachsen hat keine dem Abs. 1 entsprechende Regelung; diese enthalte eine Selbstverständlichkeit, die keiner ausdrücklichen Regelung im Gesetz bedürfe (so die Gesetzesbegründung zum NJVollzG). Weitere Abweichungen s. unter III.
II. Erläuterungen 2
1. Zusammenarbeit des Anstaltspersonals Der Gesetzesbefehl des Abs. 1 ist mehr als ein Programmsatz, auch mehr als eine Selbstverständlichkeit (vgl. oben Gesetzesbegründung zum NJVollzG). Hier wird eine andere Art von Zusammenarbeit gefordert, als sie sonst dem Arbeitsergebnis und dem Wohlbefinden des Personals nützlich ist: die Mitarbeiter im Strafvollzug tragen „eine sachlich gleichwertige, wenn auch funktional unterschiedliche Verantwortung“ (C/MD 2008 Rdn. 1). Besondere Bedeutung hat das Gebot der Zusammenarbeit auf dem Hintergrund von Erfahrungen mit Störungen der Zusammenarbeit angesichts der Zielkonflikte im Strafvollzug (Dietl 1989). Sicherheit und Ordnung, geordneter Geschäftsgang der Verwaltung und sinnvolle Behandlung der Gefangenen wollen berücksichtigt werden, wobei die Reihenfolge der Aufzählung keine Rangfolge bedeutet, sondern ein Fortschreiten vom Einfachen zum Schwierigen. Zusammenarbeit dient der Verwirklichung beider Aufgaben des Vollzuges (§ 2). Die differenzierte Betrachtung der Sicherheit als instrumentelle, administrative und soziale Sicherheit rückt mit der letzteren das Beziehungsgefüge in den Vordergrund (Alisch 2000, 107), das es zu gestalten gilt. Zusammenarbeit entsteht nicht von selbst, sie muss planvoll organisiert und gesteuert werden. Es ist eine vorrangige Aufgabe des Anstaltsleiters, im Rahmen der Organisationsentwicklung die Veränderungsprozesse zu gestalten (Preusker
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2000, 363) und dabei die Zusammenarbeit aller Bediensteten zu fördern (Wydra 1996, 177f). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Zusammenarbeit mit dem allgemeinen Vollzugsdienst. Diese Gruppe von Mitarbeitern ist ihrer Zahl nach die größte. Sie hat auch den häufigsten und engsten Kontakt zu den Gefangenen. Sind die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes nicht einbezogen in die Behandlung, so werden sie diese – gewollt oder ungewollt – stören, zumal die Gefangenen meist große Erfahrung darin haben, ihnen Vorgesetzte gegeneinander auszuspielen. Neben der Funktion für die Behandlung und für die Sicherheit hat die Zusammenarbeit auch Modellfunktion für die Gefangenen. Gute Zusammenarbeit lehrt sie, wie Menschen in rechter Weise miteinander umgehen können. Misslingt die Zusammenarbeit des Personals, wird den Insassen sowohl dessen Bereitschaft wie Fähigkeit zum Helfen unglaubhaft. a) Schon bei der Auswahl künftiger Mitarbeiter muss auf die Fähigkeit zur Zusam- 3 menarbeit Wert gelegt werden (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 2). Es gibt tüchtige Fachleute, die für sich allein Gutes leisten, denen aber die Fähigkeit zur Zusammenarbeit fehlt. Sie sind für den Strafvollzug ungeeignet. In der Ausbildung und Fortbildung sind alle Angehörigen des Personals über die Arbeitsfelder der jeweils anderen Mitarbeitergruppen in Grundzügen zu informieren, damit sie die anderen – ihre Schwierigkeiten und ihre Bedürfnisse – verstehen können. Darüber hinaus muss die Verwirklichung der Zusammenarbeit, die eine Integration von kognitivem Wissen und emotionaler Einstellung erfordert, durch zusätzliche Maßnahmen angeregt werden (z. B. durch interdisziplinäre Veranstaltungen, Teamentwicklung u. a.). Für die Auswahlentscheidung, die sich an den Grundsätzen des Leistungsprinzips zu orientieren hat, legt der Dienstherr im Rahmen seiner Organisationsgewalt ein entsprechendes Anforderungsprofil fest, welches der Bewerber unabhängig von seiner dienstlichen Beurteilung erfüllen muss. Eine Auswahlentscheidung zwischen mehreren Bewerbern erfolgt erst dann, wenn diese insgesamt das Anforderungsprofil erfüllen. (VG Lüneburg LS 12.9.2007 – 1 B 15/07). Aus Gründen der Beförderungsgerechtigkeit kann das Anforderungsprofil mehrfach geändert werden, wenn eine geeignete Stelle für Angehörige von bestimmten Laufbahnen geschaffen werden soll (OVG Lüneburg RN 12 29.2.2008 – 5 ME 352/07). b) Eine wichtige Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist die Gliederung der Anstalt in überschaubare Bereiche (§ 143 Abs. 2). Niemand kann sich – sei es in der Rolle des Behandlers oder des Kollegen – einer Gruppe von hundert oder noch mehr Menschen verbunden fühlen und zu ihnen eine Beziehung aufbauen. Bedeutsam ist es, den Dienst in einer für die Mitarbeiter durchschaubaren und ihre Bedürfnisse berücksichtigenden Weise einzuteilen. Beim allgemeinen Vollzugsdienst könnte beispielsweise die Gliederung in Gruppen mit einer dezentralen Dienstplangestaltung die Zusammenarbeit mit anderen Diensten erleichtern. Das setzt ebenfalls gegliederte Anstalten voraus (Quack 1976). Dort kann – wenn auch nur ansatzweise – ein Stück Rollentausch und Rollenvermischung stattfinden, wie es in sozialtherapeutischen Anstalten sehr zur Entschärfung der Gegensätze zwischen den verschiedenen Mitarbeitergruppen beigetragen hat. Zwar muss jeder in erster Linie das tun, wofür er ausgebildet ist und was er dementsprechend gut leisten kann. Doch darf sich niemand für eine niedriger eingestufte Arbeit zu schade sein oder von seiner höherwertigen Tätigkeit meinen, die anderen verstünden sie nicht. Ohne eine vollständige Einbeziehung des allgemeinen Vollzugsdienstes ist eine sachgemäße Zusammenarbeit nicht denkbar. Gegen die größte Mitarbeitergruppe lässt sich in einer Vollzugsanstalt gar nichts bewirken.
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c) Konferenzen sind ebenfalls ein wichtiges Mittel zur Gestaltung der Zusammenarbeit (§ 159 – vgl. die Erläuterung dort), ebenso die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf nachgeordnete Mitarbeiter (§ 156 Abs. 2 Satz 2, VV Nr. 2 Abs. 1 zu § 156; Rdn. 5 ff). Auch Supervision kann hilfreich sein, um die in der Zusammenarbeit aufkommenden Konflikte in kleinen Gruppen unter Leitung eines unparteiischen, nicht zum Personal oder wenigstens nicht zur Anstaltsleitung gehörigen Fachmannes aufzuarbeiten. Informelle Kontakte in den Arbeitspausen, z. B. in der Kantine, kann die Zusammenarbeit erleichtern, wenn diese Kontakte zwanglos unter allen Mitarbeitergruppen möglich sind. Überhaupt soll sich der partnerschaftliche Umgang des Personals bei der gemeinsamen Arbeit in einem persönlichen Umgangsstil zeigen, der von gegenseitigem Respekt getragen ist. Die jüngeren Mitarbeiter pflegen sich heute am Arbeitsplatz zu duzen. Diese Anrede garantiert nicht die bessere Zusammenarbeit, sie braucht aber auch nicht zu stören. Nicht zuletzt gehört zur Zusammenarbeit auch ein gutes Verhältnis von Anstaltsleiter und Personalrat. Dabei dient ein kritischer und für die Probleme aller Mitarbeiter aufgeschlossener Personalrat sehr viel besser den Interessen der Anstaltsleitung als eine Personalvertretung, die stets nur zustimmt. Die Zusammenarbeit beginnt, lange bevor mitwirkungspflichtige Entscheidungen zu treffen sind, in einem ständigen, möglichst offenen Gedankenaustausch in regelmäßigen Gesprächen. 2. Zusammenarbeit mit Behörden, öffentlichen Stellen und den Trägern der freien Wohlfahrtspflege Nach der ebenfalls zwingenden Vorschrift des Abs. 2 Satz 1 soll sich die Anstalt als Glied eines Verbundsystems zur Erreichung des Vollzugsziels verstehen. Die Aufzählung der Stellen, mit denen Zusammenarbeit geboten ist, kann nur beispielhaft sein; das stellt § 181 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG (. . . „insbesondere“ . . .) für Niedersachsen ausdrücklich klar. Außerdem sind hier Einrichtungen zu erwähnen, die auf kulturellem Gebiet tätig sind: z. B. die Volkshochschulen, die weiterführenden Abendschulen. Aber auch mit den anderen Einrichtungen der Justiz und den Strafverfolgungsbehörden muss eng zusammengearbeitet werden. Für die Strafvollstreckungskammer bedarf das keiner Begründung. Weil aber Gefangene im Urlaub und bei Vollzugslockerungen gelegentlich versagen, ist ein guter Kontakt zur Staatsanwaltschaft und zur Polizei notwendig, um dort Überreaktionen aus Unmut vorzubeugen. Besondere Bedeutung hat der zwingende Charakter der Vorschrift für die „Verbände der freien Wohlfahrtspflege“ (z. B. die Caritas, die Diakonie und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe), denen sie einen Anspruch auf Zusammenarbeit zuerkennt. Die Verwaltungsvorschriften der Länder, die diese Verbände und ihre hauptamtlichen Mitarbeiter wie „Personen und Vereine“ nach Abs. 2 Satz 2 behandeln, widersprechen ebenso wie die darauf beruhende allgemeine Praxis dem Gesetz. Es genügt nicht, diese Fachkräfte lediglich wohlwollend und großzügig zu überprüfen. Andererseits bedeutet es auch nicht, dass alle Vertreter dieser Verbände ohne weiteres in den Vollzugsanstalten tätig werden könnten. Insoweit bedarf es des Einvernehmens mit den zuständigen Stellen der Justizverwaltung. Die Regelung der Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften (§ 157) bei der Auswahl von Gefängnis-Seelsorgern und ihren Helfern ist sinngemäß anzuwenden (für die Seelsorgehelfer, § 157 Abs. 3, vgl. dort Rdn. 10). Bei ihrer Entscheidung wird die Vollzugsverwaltung von der fachlichen Eignung der hauptamtlichen Mitarbeiter der Verbände ausgehen müssen. Ablehnungsgründe können sich ausnahmsweise aus der Persönlichkeit des Bewerbers ergeben (wegen der „Regelanfrage“ vgl. Rdn. 9). Weil die Mitarbeiter der Verbände der freien Wohlfahrtspflege teilweise auch Hilfen anbieten, auf die die Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz Anspruch haben, ist die Forde-
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rung erhoben worden, die Vollzugsverwaltung habe deren Arbeit zu bezahlen (Müller-Dietz 1997, 36). Dies kann jedoch höchstens dann gelten, wenn sie Aufgaben wahrnehmen, die dem Minimum zuzurechnen sind, das üblicherweise von Sozialarbeitern und Psychologen im Vollzugsdienst geleistet wird, und wenn die Vollzugsverwaltung so offensichtlich Stellen einspart. Häufig bieten die Verbände aber gerade Hilfen an, die Vollzugsangehörige ihrer Einbindung in die Anstaltsorganisation wegen nicht zu leisten vermögen, z. B. Psychotherapie. Hier haben die Landesjustizverwaltungen und die Landesparlamente die Pflicht zu prüfen, ob sie nach § 2 Satz 1 und zur Erfüllung des Sozialstaatsgebots Haushaltsmittel zur Unterstützung der Verbände und ihrer Gliederungen bereitstellen müssen. In manchen Bundesländern wird seit langem nach diesem Grundsatz verfahren. Zusammenarbeit setzt eine ständige Kommunikation der Beteiligten voraus. Dabei reicht es nicht aus, dass auf der Ebene der Behördenleiter Kontakt gehalten wird. Es kommt auf die Zusammenarbeit der „Sachbearbeiter“ an. Beide Seiten müssen jeweils den zuständigen Ansprechpartner kennen, den sie zwanglos anrufen, wenn ein die gemeinsame Arbeit berührendes Problem auftaucht. Oftmals wird die Zusammenarbeit den Bereich der Sozialarbeiter betreffen. Zweckmäßig kann es deshalb sein, einen von ihnen als Ansprechpartner zu bestellen für alle die Fälle, in denen eine andere Zuständigkeit nicht erkennbar ist. Wegen seines Monopols zur Außenvertretung (§ 156 Abs. 2 Satz 1) ist es notwendig, dass der Anstaltsleiter über die Entwicklung der Zusammenarbeit ständig informiert ist. Eine Monopolisierung der Zusammenarbeit selbst wäre sachwidrig, sie muss so breit wie möglich angelegt sein. 3. Zusammenarbeit mit Einzelpersonen und Vereinen, deren Arbeit dem Vollzugsziel dient
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Die Sollvorschrift des unscheinbaren zweiten Satzes von Abs. 2 ist die Grundlage für eine der wichtigsten Neuerungen im Strafvollzug: die Öffnung der Vollzugsanstalten für Einzelpersonen, Gruppen oder Vereine, deren Arbeit die Eingliederung der Gefangenen fördern kann. In den landesgesetzlichen Regelungen Bayerns (Art. 175 Abs. 2 BayVollzG) und Hamburgs (§ 108 HmbStVollzG) hat diese Vorschrift Verpflichtungscharakter bekommen (s. u. III). Die Justizministerien mehrerer Bundesländer (z. B. Baden-Württemberg) und die Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe in Bonn haben Broschüren herausgegeben, die einen Überblick über die verschiedenen Formen ehrenamtlicher Tätigkeit im Strafvollzug vermitteln und den neu berufenen Betreuern eine gute Hilfestellung geben können (Beispiele für die Mitarbeit auch bei Busch 1988, 224; Müller-Dietz 1978; Rotthaus 1980). Ein interessantes Beispiel ist das Nachsorgenetzwerk für junge Strafentlassene, die zum einen besonders hilfebedürftig, zum anderen mit Resozialisierungsmaßnahmen besonders beeinflussbar sind (Goll/Wulf 2006, 91–93). In einigen Bundesländern gibt es ergänzende Verwaltungsvorschriften, durch die die ehrenamtlichen Betreuer auch auf die Notwendigkeiten von Ordnung und Sicherheit in der Anstalt verpflichtet werden sollen. Eine knappe, aber trotzdem umfassende Darstellung findet sich bei K/S-Kerner 2002 § 12 Rdn. 22 ff. Zur Praxis dieser Zusammenarbeit ist zu sagen, dass sie fast unbeschränkte Möglichkei- 7 ten eröffnet, zugleich aber auch Risiken und Gefahren mit sich bringt. Eine erfolgreiche Arbeit setzt seitens der Betreuer menschliche Reife und eine Klärung ihrer Ziele und Bedürfnisse voraus. Die drei Partner der Zusammenarbeit, Insassen, Betreuer und Anstalt, müssen offen legen, welche Wünsche sie haben und welchen Einsatz sie zu geben bereit sind. Gefahren erwachsen aus dem naiven Engagement oder aus der Autoritätsscheu der Helfer und andererseits aus dem Misstrauen des Anstaltspersonals. Die Ehrenamtlichen gehören fast ausschließlich der Mittelschicht an (Eggert 1981), was oftmals den Kontakt zum
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allgemeinen Vollzugsdienst erschwert. Es kann auch zur Folge haben, dass den Gefangenen für sie nicht erreichbare Ziele für das Leben draußen aufgezeigt werden. Die Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn Mitarbeiter der Anstalt zu den Betreuern ständig Kontakt halten können. Die Vollzugsbehörden dürfen die Betreuer nicht allein lassen; Angebote wie Einführungs- und Fortbildungskurse (vgl. die Tagungen für ehrenamtliche Betreuer und ihre Ansprechpartner aus dem Vollzug an der Bay. Justizvollzugsschule) sind ebenso wichtig wie räumliche und sachliche Vorkehrungen für die Durchführung der Arbeit (Böhm 2003 Rdn. 108). Liegt der Vollzugsbehörde ein Antrag auf Zusammenarbeit, etwa auf Zulassung zur Betreuung von Gefangenen in der Anstalt, vor, so hat sie zunächst zu prüfen, ob der Einfluss der erstrebten Betreuungsarbeit die Eingliederung des Gefangenen fördern kann. Hier ist die Frage nach der persönlichen Zuverlässigkeit und Eignung zu beantworten. Die Gewissheit eines fördernden Einflusses darf nicht verlangt werden. Die Vorschrift hat nur eine „Negativauslese“ (Theißen 1991, 4) zum Ziel. Alsdann hat die Anstalt ihr durch die Sollvorschrift in nur engen Grenzen eingeräumtes Ermessen auszuüben (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2002, 377 ff). Der Betroffene hat einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, die von Anfang an rechtmäßig sein muss und nicht erst unter dem Eindruck des gerichtlichen Verfahrens berichtigt wird (OLG Karlsruhe aaO). Die Ablehnung der Zulassung kommt nur in „atypischen“ Fällen in Betracht, wenn etwa der Gefangene, der betreut werden soll, ein besonderes Sicherheitsrisiko darstellt oder die Anstalt die Betreuung weiterer freier Helfer nicht zu leisten vermag. Das Problem eines Überangebots von Helfern (vgl. AK-Feest 2006 Rdn. 11) dürfte heute kaum noch auftreten, weil das Interesse an ehrenamtlicher Mitarbeit im Strafvollzug zurückgegangen ist. In vielen Anstalten besteht ein schmerzlicher Mangel an Helfern (Buchert 1994). 8 Das Zusammenarbeitsgebot des Abs. 2 Satz 2 erstreckt sich nur auf Personen und Vereinigungen, die außerhalb des Strafvollzugs stehen, nicht auf einen (eingetragenen) Verein, der von Gefangenen geführt wird und dessen Ämter nur von Gefangenen bekleidet werden können (KG ZfStrVo 1982, 319 = NStZ 1982, 222 mit zust. Anm. Müller-Dietz: „Können doch die hier gemeinte Funktion des ,Brückenschlags‘ der gesellschaftlichen Mitwirkung am Resozialisierungsprozess nur solche Personen und Vereinigungen wahrnehmen, die nicht in der Anstalt, sondern in der freien Gesellschaft ,angesiedelt‘ sind“; Theißen 1991, 4). 9 Die ehrenamtlichen Betreuer erwarten vom Vollzug Vertrauen. Sie sind enttäuscht und verletzt, wenn die Anstalt ihnen mit Misstrauen begegnet. Daher ist inzwischen eine Sicherheitsüberprüfung nur bei gegebenem Anlass vorgesehen. Der Widerruf einer Zulassung sollte auf gravierende Fälle beschränkt sein; ein solcher Fall liegt etwa vor, „wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Anstaltsleitung und der Betreuerin dadurch gestört worden ist, dass sie . . . die Verhältnisse in den Strafvollzugsanstalten in maßlos verzerrender und unsachlicher Weise kritisiert hat“ (Darstellung einer Vollzugsanstalt als eines mehrgeschossigen Gebäudes mit vergitterten Fenstern in der Form eines Sarges – OLG Hamm NStZ 1985, 238f = ZfStrVo 1985, 125; NStZ 1990, 256; a. A. AK-Feest 2006 Rdn. 14). 10 Die unüberwachte Aussprache ist ein wichtiges Element ehrenamtlicher Betreuung. Dabei erfahren die Betreuer Dinge, von denen die Gefangenen erwarten oder bezüglich derer sie ausdrücklich darum bitten, dass der Betreuer sie für sich behält. Zwischen Vollzugsbehörden und Betreuern gab es gelegentlich Meinungsverschiedenheiten, ob dem Recht zum unüberwachten mündlichen und auch schriftlichen Verkehr besondere Offenbarungspflichten entsprechen, die über die allgemeinen Gesetze (zum Beispiel § 138 StGB) hinausgehen. Die neue Vorschrift des § 182 Abs. 2 Satz 2 hat die Frage für die einer besonderen beruflichen Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StGB unterliegenden Mitarbeiter des Strafvollzugs (Ärzte, Zahnärzte und ihre Hilfspersonen, Diplom-Psychologen,
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Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Sozialpädagogen) entschieden. Die Grundsätze dieser Regelung können auch einer Vereinbarung mit den ehrenamtlichen Betreuern zugrunde gelegt werden. Dann sind diese verpflichtet, „sich gegenüber dem Anstaltsleiter zu offenbaren, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib und Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist“. Ohne eine solche Verpflichtung gelten für die ehrenamtlichen Betreuer nur die für alle geltenden Rechtsnormen.
III. Landesgesetze 1. Bayern Die Bestimmungen über die Zusammenarbeit im Art. 175 BayVollzG sind wie folgt auf- 11 gebaut: Abs. 1 Satz 1 ist wortgleich mit § 154 Abs. 1 StVollzG, Abs.1 Satz 2 ist neu und lautet: „Die Sicherheit der Anstalt ist durch die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen und geeignete Behandlungsmaßnahmen zu gewährleisten“. Abs. 2 formuliert die zwingende Vorschrift des § 154 Abs. 2 Satz 1 und die Sollvorschrift des § 154 Abs. 2 Satz 2 StVollzG neu und zusammenfassend: „Die Anstalten arbeiten mit Behörden, Verbänden der freien Wohlfahrtspflege Vereinen und Personen, deren Einfluss die Eingliederung der Gefangenen fördern kann, eng zusammen“. Abs. 3 entspricht § 148 Abs. 2 StVollzG Abs. 4 ist neu und lautet: „Soweit erforderlich, ist zur Entlassungsvorbereitung insbesondere mit der Bewährungshilfe, den Aufsichtsstellen für die Führungsaufsicht und den Einrichtungen der Strafentlassenenhilfe frühzeitig Kontakt aufzunehmen“. In der Begründung heißt es zu Abs. 1 Satz 2: „In Satz 2 wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Sicherheit der Anstalt durch die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen und geeignete Behandlungsmaßnahmen zu gewährleisten ist“. Zu Abs. 3 wird ausgeführt, dass die dem § 148 Abs. 2 StVollzG entsprechende Vorschrift wegen des systematischen Zusammenhangs mit den Regelungen zur Zusammenarbeit mit Stellen außerhalb des Vollzugs hier aufgenommen wurde. Zu Abs. 4 wird u. a. ausgeführt, dass der Übergang von einem geregelten, stark strukturierten Leben in der Anstalt zu einem Leben in Freiheit, der für viele Gefangene schwierig ist, einer sorgfältigen Entlassungsvorbereitung mit möglichst frühzeitigem Kontakt zu den genannten Stellen bedarf. 2. Hamburg Die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in § 107 HmbVollzG sind wie folgt auf- 12 gebaut: Abs. 1 ist inhaltsgleich und weitgehend wortgleich mit § 154 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Er bezieht den § 154 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in die (verpflichtende) Regelung ein. Abs. 2 übernimmt die Regelung des § 148 Abs. 2 StVollzG in diese Vorschrift. Eine dem § 154 Abs. 1 StVollzG entsprechende Vorschrift findet sich in § 106 Abs. 2 Satz 2 HmbVollzG. In der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 50) heißt es zu Abs. 1: „Abs. 1 greift die Regelung des § 154 Abs. 2 StVollzG auf, aktualisiert sie und passt sie redaktionell an“.
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Hier beginnen die Bestimmungen mit § 181 NJVollzG, der wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 ist mit § 154 Abs. 2 StVollG im Wesentlichen inhalts- und mit einigen redaktionellen Veränderungen wortgleich. Eingefügt ist „insbesondere“ vor der Aufzählung der Behörden und Stellen der . . ., ergänzend werden dort genannt „ . . . den Einrichtungen für berufliche Bildung, . . . Gesundheits- Ausländer- und Polizeibehörden, Sucht- und Schuldnerberatungsstellen, Ausländer und Integrationsbeauftragten . . .“ . Abs. 2 betrifft den Jugendvollzug; Abs. 3 bezieht sich auf die Untersuchungshaft. In der Begründung zu Abs. 1 Satz 1 wird ausgeführt, dass das Wort „insbesondere“ eingefügt worden ist, „um zu verdeutlichen, dass die Aufzählung nicht abschließend ist“. § 154 Abs. 1 StVollzG sei nicht übernommen worden; er enthalte „eine Selbstverständlichkeit, die keiner ausdrücklichen Regelung im Gesetz bedarf“.
§ 155 Vollzugsbedienstete (1) Die Aufgaben der Justizvollzugsanstalten werden von Vollzugsbeamten wahrgenommen. Aus besonderen Gründen können sie auch anderen Bediensteten der Justizvollzugsanstalten sowie nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Personen übertragen werden. (2) Für jede Anstalt ist entsprechend ihrer Aufgabe die erforderliche Anzahl von Bediensteten der verschiedenen Berufsgruppen, namentlich des allgemeinen Vollzugsdienstes, des Verwaltungsdienstes und des Werkdienstes, sowie von Seelsorgern, Ärzten, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern vorzusehen. Schrifttum: Arloth Neue Entwicklungen im Strafvollzug im internationalen Vergleich, in: ZfStrVo 2002, 3 ff; Bonk Rechtliche Rahmenbedingungen einer Privatisierung im Strafvollzug, in: JZ 2000, 453 ff; Busch Sozialarbeit im Strafvollzug?, in: Schmidtobreick (Hrsg.), Kriminalität und Sozialarbeit, Freiburg 1972, 25 ff; Dietz Der Funktionsstellenbedarf von Justizvollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1991, 334 ff; Gusy/Lührmann Rechtliche Grenzen des Einsatzes privater Sicherheitsdienste im Strafvollzug, in: StV 2001, 46 ff; Jung u. a. (Hrsg.), Die Mitarbeiter des Behandlungsvollzuges, Bonn 1978; Kulas Privatisierung hoheitlicher Verwaltung – Zur Zulässigkeit privater Strafvollzugsanstalten, 2. Aufl., Köln 2001; Meyer Privatisierung und Strafvollzug, in: BewHi 2004, 272–282; Mösinger Privatisierung des Strafvollzugs, in: BayVBl 2007, 417–428; Mühlenkamp (Teil-)Privatisierung von Justizvollzugsanstalten, in DÖV 2008, 525–535); Rotthaus Zur Frage der Personalausstattung von Vollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1993, 323 ff; Singer/Mielke Privatisierung im Strafvollzug, in: JuS 2007, 1111–1117.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . .
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Rdn. 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise Der Strafvollzug ist Ländersache. Es ist deshalb verständlich, dass sich der Gesetzgeber 1 bei der bedeutsamen Regelung der Frage der Vollzugsbediensteten große Zurückhaltung auferlegte. Der Grundsatz, nach dem die Aufgaben der Justizvollzugsanstalten von Vollzugsbeamten wahrgenommen werden (Abs. 1 Satz 2), entspricht § 2 Abs. 3 BRRG, „dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Beamten zu übertragen ist“ (RegE BT-Drucks. 7/918, 96), ferner den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 33 Abs. 4 GG; denn der Vollzug der Freiheitsstrafe beinhaltet die Wahrnehmung von hoheitlichen Aufgaben, die in § 2 festgeschrieben sind. Der hoheitliche Charakter dieser Aufgaben ist für die Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten im Hinblick auf die damit verbundenen massiven Grundrechtseinschränkungen leicht nachzuvollziehen: Sie sind nicht nur partielle Freiheitsbeschränkungen, sondern totaler Freiheitsentzug (C/MD 2008 Rdn. 4). Für die grundrechtsgewährleistenden Maßnahmen im Behandlungsvollzug zur Erreichung des Vollzugszieles gilt aber ebenso, dass sie zur Verwirklichung von Grundrechten notwendig und daher eine hoheitliche Aufgabe sind; denn nach der h. M. kann die Vorenthaltung einer solchen Leistung zu ganz massiven Grundrechtseinschränkungen führen (Gusy/Lührmann 1999, 1, 5 m. w. N.; C/MD 2008 Rdn. 5). Bei einer so starken Bestimmung der zentralen Aufgaben einer Justizvollzugsanstalt durch das Gewaltmonopol des Staates ist die vollständige Privatisierung einer Vollzugsanstalt nach der überwiegenden Meinung mit der Verfassung und dem geltendem Recht nicht in Einklang zu bringen (C/MD 2008 Rdn. 2 m. w. N.); vgl. auch § 151 Rdn. 2.
II. Erläuterungen Die Diskussion über die Privatisierung des Strafvollzugs ist in den letzten Jahren immer 2 intensiver geworden; in erster Linie sind dafür fiskalische Überlegungen ursächlich, aber auch betriebswirtschaftliche, wettbewerbspolitische und gesellschaftspolitische (Kulas 2001, 7 ff). Mit der Annahme, dass die Rechtsfigur des „Beleihens“ für den Strafvollzug weder vom Grundgesetz – auch nicht vom Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG – noch von allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen ausgeschlossen sei, wird von Kulas die Privatisierung einer gesamten Vollzugsanstalt für zulässig gehalten (aaO, 139); dabei wird von vornherein einschränkend angenommen, dass nicht alle Vollzugsanstalten privatisiert werden (können), dass es also daneben noch staatliche Vollzugsanstalten gibt, und dass eine (einfach-) gesetzliche Ermächtigung für eine solche Privatisierung erfolgen müsste (aaO, 65, 143). Als Argument für die Möglichkeit einer Privatisierung wird auch auf die privaten Vollzugsanstalten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten verwiesen (aaO, 118 ff). Demgegenüber geht die überwiegende Meinung davon aus, dass eine vollständige Privatisierung des Strafvollzugs auch in Form der Beleihung einer privaten Anstalt unzulässig ist (Gusy/ Lührmann 2001, 46 ff; Böhm 2003 Rdn. 87 m. w. N.; C/MD 2008 Rdn. 2; zweifelnd K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 76). Der Staat hat die letzte Verantwortung für die Kontrolle und Wohlfahrt des Gefangenen; das ist eine hoheitliche Aufgabe. Bei der Vielzahl der Indikatoren für einen Qualitätsvergleich zwischen „staatlichen“ und privaten Vollzugsanstalten ist eine eindeutige Evaluation nicht möglich (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 75); daher können die Verträge für die „Beleihung“ wohl kaum eindeutig genug die Kriterien festlegen, die für die hoheitliche Erfüllung der Vollzugsaufgaben gelten. Ferner wird darauf hingewiesen, dass der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG die Ausübung der staatlichen Hoheitsgewalt gegenüber dem einzelnen Gefangenen sicherstellt, nicht aber den Gefangenen gegenüber in ihrer Gesamtheit (Arloth 2008 Rdn. 8). Damit entfällt die aus dem „Dualismus“ von staatlichen Bernhard Wydra
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und privaten Vollzugsanstalten (Kulas 2001, 65) abgeleitete Berechtigung für private Vollzugsanstalten. Die rechtlichen Unterschiede beim Vollzug in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten lassen eine Bezugnahme auf die dortigen Privatisierungsmöglichkeiten nicht zu (Meyer 2004, 279 f; Mösinger 2007, 420). Im Übrigen bestehen berechtigte Zweifel, ob die privaten Vollzugsanstalten billiger arbeiten als die staatlichen (Arloth 2008 Rdn. 5 m. w. N.; Mühlenkamp 2008, 534 f; s. auch § 139 Rdn. 5). Neben einer generellen Unzulässigkeit der Privatisierung der gesamten JVA werden Differenzierungslösungen unterschiedlich bewertet. Erörtert wird dabei die Frage nach Ermächtigungsgrundlagen zur Aufgabenerfüllung durch privates Vollzugspersonal im Rahmen der sog. funktionellen Privatisierung (Meyer 2004, 273 ff; Mösinger 2007, 417 ff). Für eine Beleihung sind diese bei der jetzigen Rechtslage nicht gegeben (Arloth 2008 Rdn. 3 mit Nachweisen; Mösinger 2007, 426). Für private Verwaltungshelfer besteht keine Ermächtigung zur Gewaltausübung. Der Einsatz Privater im Wege der Verwaltungshilfe kommt daher umso weniger in Betracht, je intensiver aufgrund potenzieller Befugnisse in Grundrechte eingegriffen werden kann. Nach geltendem Recht können Private daher nur bei Dienst- und Serviceleistungen (z. B. in der Küche, der Wäscherei u. ä.) oder bei Überwachungsaufgaben ohne Ausübung von Gewalt (z. B. bei der Überwachung von Monitoren u. ä.) eingesetzt werden (Arloth 2008 Rdn. 5; Mösinger 2007, 427; Böhm 2003 Rdn. 85). Dabei muss der Anstalt letztlich die unmittelbare Verantwortung bleiben (Böhm 2003 Rdn. 87). Zu bedenken ist jedoch, ob die Aussonderung von „nicht hoheitlichen Tätigkeiten“ aus den beamteten Dienstaufgaben sinnvoll und für die verbleibenden Beamten befriedigend ist (Böhm aaO). (Zu den Problemstellungen der Privatisierung einer Vollzugsanstalt vergl. die Fortgeschrittenenhausarbeit von Singer/Mielke 2007, 1111–1117). Die Ausnahmevorschrift des Abs. 1 Satz 2 lässt aus besonderen Gründen die Übertragung von hoheitlichen Aufgaben auf andere Bedienstete der Justizvollzugsanstalten (z. B. Angestellte, die etwa durch ein Gelöbnis besonders verpflichtet werden), nebenamtlich verpflichtete Personen (z. B. Facharzt einer Klinik) oder vertraglich verpflichtete Personen zu; bei letzteren ist eine Verpflichtung nach dem VerpflG erforderlich, wodurch sie zu Amtsträgern werden; sie arbeiten im Auftrag der Behörde (C/MD 2008 Rdn. 7). Die Ausnahmevorschrift erlaubt aber nicht den Einsatz von Polizeibeamten bei hoheitlichen Vollzugsaufgaben (C/MD 2008 Rdn. 8; dazu auch § 24 Rdn. 3), etwa bei der Überwachung des Besuches und des Briefverkehrs oder bei der Haftraumkontrolle. Als Sachverständige zur Unterstützung eines Vollzugsbeamten können sie herangezogen werden, wenn sie der Aufsicht des Anstaltsleiters unterstehen und die Wahrnehmungen allein diesem zugänglich machen (OLG Koblenz ZfStrVo 1981, 59). Der Bau von Vollzugsanstalten durch private Unternehmer, von denen sie der Staat dann least, mietet oder durch Ratenzahlungen erwirbt, gehört nicht im engeren Sinn zur Diskussion um die Privatisierung des Strafvollzugs. Er gehört zum privatrechtlichen Handeln des Staates, das hier unter den Stichworten „Private Public Partnership“ (PPP) und Alternative Finanzierungsformen diskutiert wird. Solche privat (vor)finanzierte Bauten werfen gegebenenfalls haushaltsrechtliche Probleme auf (vgl. Kulas 2001, 22). Der Einsatz von „Neuen Steuerungsinstrumenten“ im Vollzug ist keine Frage der Privatisierung, sondern eine Möglichkeit zur verändernden Entwicklung der Organisation Strafvollzug und damit eine „verfassungskonforme Alternative“ zur Privatisierung (C/MD 2008 Rdn. 2). 3 Die Aufzählung der Mitarbeiter der verschiedenen Berufsgruppen ist beispielhaft und hindert die Länder nicht, bei Bedarf noch andere Fachkräfte (z. B. Soziologen, Arbeitstherapeuten) einzustellen. Das Gesetz verzichtet auf eine Funktionsbeschreibung der verschiedenen Dienste und auf organisationsrechtliche Regelungen, was sich wieder mit der Rücksicht
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auf die Bundesländer erklärt, die das Gesetz ausführen. Zu diesem Thema: Böhm 2003 Rdn. 83 ff; K/S-Schöch 2002 § 11 Rdn. 1–23; Müller-Dietz 1978, 279 ff; Jung u. a. 1978; Grunau/ Tiesler 1982 Rdn. 1. Bayern hat in den Art. 180 mit 182 BayVollzG eine Funktionsbeschreibung für den pädagogischen Dienst, den Sozialdienst und den psychologischen Dienst in das Gesetz aufgenommen. Einen Überblick über die eindrucksvolle Verbesserung der personellen Ausstattung der Vollzugsanstalten in den ersten Jahren nach Erlass des StVollzG geben: Dünkel/Rosner 1982, 537 ff. Bei teilweise erheblichen Unterschieden in den einzelnen Bundesländern kamen 2007 auf je 100 Gefangene im Bundesdurchschnitt 37,19 Angehörige des allgemeinen Justizvollzugsdienstes, 2,82 Werkbeamte, 1,97 des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes, 1,80 Sozialarbeiter, 0,84 Psychologen, 0,51 Lehrer, 0,39 Ärzte, 0,16 Seelsorger und 0,61 des höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienstes (vom niedersächsischen Justizministerium am 29.7.2008 erstellte Übersicht). Dabei darf aus der Tatsache, dass neben den Stellen für die Fachdienste auch die für den allgemeinen Vollzugsdienst erheblich vermehrt wurden, nicht auf eine Akzentuierung des Sicherungsauftrags geschlossen werden. Behandlung und Betreuung können nur stattfinden, wenn die Gefangenen sich auch abends und am Wochenende außerhalb der Zelle bewegen können. Der allgemeine Vollzugsdienst muss die Anstalten auch zu diesen Zeiten „in Betrieb“ halten. Außerdem sind den Beamten dieser Laufbahn vielfältige Betreuungsaufgaben übertragen worden. Der konkrete Bedarf an Mitarbeitern ist jeweils vom Vollzugsauftrag abhängig. Eine offene Einrichtung zum Vollzug kurzer Freiheitsstrafen kommt mit sehr viel weniger Personal aus als eine nach außen hoch gesicherte, nach innen offene sozialtherapeutische Anstalt. Unterschiedliche Größe und Struktur der Anstalten machen es unmöglich, für den allge- 4 meinen Vollzugsdienst Schlüsselzahlen (Verhältnis von Beamten zu Gefangenen) zu bestimmen. Personalberatung von außen kann Anregungen geben (Dietz aaO), der Justizverwaltung aber ihre Verantwortung nicht abnehmen. Muss in einer Anstalt an mehr als zwei Tagen der Woche der Einschluss vor 22 Uhr erfolgen und sind an Wochenenden oder an mehr als zwei Tagen der Woche Gefangenenbesuche nicht möglich, so herrscht ein schwerwiegender Personalmangel. Über die Ausstattung der Gefängnisse in England, Frankreich, den Niederlanden sowie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg mit Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes hat der Generaldirektor des Gefängniswesens von England und Wales, Richard Tilt, eine vergleichende Untersuchung angestellt (referiert von Rotthaus 1993, 323 ff). Eher – und das mag überraschend scheinen – lassen sich Schlüsselzahlen für den Bereich der Behandlung bestimmen. So hat Busch für die Sozialarbeit bereits vor 25 Jahren ein Verhältnis von 1:25 gefordert (1972, 25 ff). Dieser Durchschnittswert umfasst jedoch sehr unterschiedliche Zahlen, die von dem je nach Art der Anstalt unterschiedlichen Hilfsbedarf der Klientel abhängig sind.
III. Landesgesetze 1. Bayern
5 Art. 176 BayVollzG ist wortgleich mit § 155 StVollzG. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, S. 89) wird hervorgehoben, dass der Justizvollzug hoheitliche Aufgaben erfüllt. Die Vorschrift „konkretisiert damit das verfassungsrechtliche Gebot in Art. 33 Abs. 4 GG, wonach die Ausübung hoheitlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Beamten zu übertragen ist. Dem entspricht Abs. 1 Satz 1. Nach Satz 2 dürfen Aufgaben des Vollzugs nur aus besonderen Gründen auf nichtbeamtete sowie vertraglich verpflichtete Personen übertragen werden, die dann vorliegen, wenn die Bernhard Wydra
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Anstalt aus Gründen der Behandlung auf die Mitarbeit von besonderen Fachkräften außerhalb des Vollzugs zurückgreifen muss“. 2. Hamburg
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Art. 105 HmbVollzG regelt die Aspekte der Vollzugsbediensteten mit folgender Struktur: Abs. 1 ist wortgleich mit § 155 Abs. 1 StVollG Abs. 2 Satz 1 entspricht vollinhaltlich dem § 155 Abs. 2 StVollzG, jedoch ohne konkrete Nennung der im Strafvollzug tätigen Berufsgruppen. Abs. 2 Satz 2 entspricht im Wesentlichen dem § 154 Abs. 1; er lautet: „Sie wirken in enger Zusammenarbeit an den Aufgaben des Vollzuges (§ 2) mit“. 3. Niedersachsen
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In §§ 177 und 178 NJVollzG ist die Aufgabenwahrnehmung durch Justizvollzugsbedienstete wie folgt geregelt: Abs. 1 entspricht mit kleinen redaktionellen Änderungen im Wesentlichen § 155 Abs. 1; ausgenommen ist hier die Regelung bei vertraglich verpflichteten Personen, die in § 178 übernommen wurde (Abs. 2: ausgelassene jugendstrafvollzugliche Regelung). Eine dem § 155 Abs. 2 StVollzG entsprechende Regelung fehlt. § 178 ist neu und lautet: „Fachlich geeignete und zuverlässige natürliche Personen, juristische Personen des öffentlichen oder privaten Rechts oder sonstige Stellen können beauftragt werden, Aufgaben für die Vollzugsbehörde wahrzunehmen, soweit dabei keine Entscheidungen oder sonstige in die Rechte der Gefangenen, Sicherungsverwahrten oder anderer Personen eingreifende Maßnahmen zu treffen sind. Eine Übertragung von vollzuglichen Aufgaben zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung ist ausgeschlossen.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, S. 211) heißt es, dass § 178 bei der Übertragung von Aufgaben der Vollzugsbehörden auf vertraglich verpflichtete Personen „zum einem auf dem Hintergrund des Artikels 33 Abs. 4 GG die Voraussetzungen (präzisiert), unter denen dies zulässig ist. Zum anderen betont er, dass das Land – unbeschadet der Verantwortlichkeit des Privaten für die Einzelheiten der Aufgabenwahrnehmung – für die Aufgabenerfüllung als solche verantwortlich bleibt. Eine Beleihung, also die Verleihung der Befugnis, Aufgaben auf dem Gebiet des Straf- oder Untersuchungshaftvollzuges im eigenen Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen (vergl. § 44 Abs. 3 der Landeshaushaltsordnung), soll mit der Vorschrift nicht ermöglicht werden.“ Für eine Übertragung der Aufgabenwahrnehmung kämen klar abgrenzbare Dienstleistungsaufgaben, wie z. B. das Gebäudemanagement, der Betrieb von Wäscherei und Küche etc. in Betracht – die Letztverantwortung des Landes für die Aufgabenerfüllung vorausgesetzt.
§ 156 Anstaltsleitung (1) Für jede Justizvollzugsanstalt ist ein Beamter des höheren Dienstes zum hauptamtlichen Leiter zu bestellen. Aus besonderen Gründen kann eine Anstalt auch von einem Beamten des gehobenen Dienstes geleitet werden. (2) Der Anstaltsleiter vertritt die Anstalt nach außen. Er trägt die Verantwortung für den gesamten Vollzug, soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verant-
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wortung anderer Vollzugsbediensteter oder ihrer gemeinsamen Verantwortung übertragen sind. (3) Die Befugnis, die Durchsuchung nach § 84 Abs. 2, die besonderen Sicherungsmaßnahmen nach § 88 und die Disziplinarmaßnahmen nach § 103 anzuordnen, darf nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen werden. VV 1 Die Aufsichtsbehörde bestimmt den Vertreter des Anstaltsleiters. 2 (1) Der Anstaltsleiter legt schriftlich fest, welche Bediensteten in seinem Auftrag Entscheidungen treffen können. (2) Der Anstaltsleiter kann in fachlichen Angelegenheiten des Dienstes der Seelsorger, Ärzte, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeiter, die sich seiner Beurteilung entziehen, Auskunft verlangen und Anregungen geben. (3) Die Durchführung von Maßnahmen der in Absatz 2 genannten Fachkräfte, die nach seiner Überzeugung die Sicherheit der Anstalt, die Ordnung der Verwaltung oder die zweckmäßige Behandlung der Gefangenen gefährden, kann der Anstaltsleiter bis zur Entscheidung der Aufsichtsbehörde aussetzen, wenn eine Aussprache zwischen den Beteiligten zu keiner Einigung führt. 3 Der Anstaltsleiter berichtet unverzüglich der Aufsichtsbehörde über außerordentliche Vorkommnisse und über Angelegenheiten, die Anlass zu allgemeiner Regelung geben können. 4 Die Übertragung bestimmter Aufgabenbereiche im Sinne des § 156 Abs. 2 Satz 2 StVollzG bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. Schrifttum: Böhm Der Anstaltsleiter, in: Schwind/Blau 1. Aufl. 1976, 109 ff; Feldmann Aus der Praxis des Strafvollzuges, in: Bandell u. a., Hinter Gittern. Wir auch? Frankfurt 1985, 59 ff; Doppler/Lauterburg Change Management – Den Unternehmenswandel gestalten, 10. Aufl., Frankfurt/New York 2002; Kloff Wege zur Neuorganisation einer Justizvollzugsanstalt, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.): Das Gefängnis als lernende Organisation, Baden-Baden 2001, 59 ff; Reinermann Die Krise als Chance: Wege innovativer Verwaltungen, Speyer, 5. Aufl., 1995; Rotthaus Die Aufgaben der Fachaufsicht im Strafvollzug, in: Häußling/Reindl (Hrsg.), Sozialpädagogik und Strafrechtspflege, Pfaffenweiler 1995, 517 ff; ders. Sozialtherapie in der JVA Gelsenkirchen, in: ZfStrVo 1981, 323 ff; Preusker Der Anstaltsleiter, in: Schwind/Blau 1988, 118 ff; Wilson/Bryans The Prison Governor – Theory and Practice, Leyhill/England 1998; Winchenbach Praxisprobleme der Anstaltsleitung, in: Bandell u. a., Hinter Gittern. Wir auch? Frankfurt 1985, 125 ff; Wydra Der Anstaltsleiter als Krisenmanager, in: Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug, Dokumentation der 22. Arbeits- und Fortbildungstagung vom 6. bis 10. Mai 1996 in Ellwangen, 162 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–3 1. Begriff Anstaltsleiter . . . . . . . 1 2. Verantwortung des Anstaltsleiters 2 3. Anforderungen an den Anstaltsleiter 3
Rdn. II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 1. Bestellung eines hauptamtlichen Leiters, Abs. 1 . . . . . . . . . . 2. Kein Juristenmonopol . . . . . .
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3. Vertretung der Anstalt nach außen und Aufgabenübertragung im Wege des Mandats, Abs. 2 Satz 1, VV 2 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . 6–8 a) Anzeigepflicht bei Straftaten von Personal oder Gefangenen 7 b) Berichtspflicht und Meldepflicht . . . . . . . . . . . . 8 4. Übertragung von Aufgabenbereichen im Wege der Delegation, Abs. 2 Satz 2, 2.HS VV 4 . . . . . 9–10 5. Delegation auf Gremien oder Konferenzen . . . . . . . . . . . 11
6. Zustimmung der Aufsichtsbehörde für bestimmte Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 12 7. Aufsicht des Anstaltsleiters über die Fachdienste . . . . . . . . . 13 8. Einschränkungen der Übertragung bei besonderen Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen . . . . . 14 III. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . 15–16 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 17–19 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 18 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 19
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Der Gesetzestext verwendet den Begriff Anstaltsleiter. Inzwischen ist weitgehend eine geschlechstsspezifische Differenzierung in Anstaltsleiter und Anstaltsleiterin vollzogen worden. Die vorliegende Kommentierung bleibt im Anschluss an den Gesetzestext weiterhin beim Begriff Anstaltsleiter, der die Anstaltsleiterin einbezieht.
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2. Den Gefangenen und vielfach auch Mitarbeitern und Außenstehenden erscheint der Anstaltsleiter als „allzuständiger und allverantwortlicher Chef“ (Böhm 2003, Rdn. 88), der die Anstalt nach seinen Wünschen und Vorstellungen gestaltet und über Wohl und Wehe von Mitarbeitern und Gefangenen entscheidet. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Weit mehr als das Strafvollzugsgesetz mit seinen weiten Ermessensspielräumen engen Verwaltungsvorschriften (§ 4 Rdn. 15, 17) mit vielen ins Einzelne gehenden Regelungen den Entscheidungsspielraum ein. Vor allem aber sind es vielfältige Sachzwänge, die sich mit den Stichworten Mangel an Personal, an Räumen und an Haushaltsmitteln umschreiben lassen und die Gestaltungsmöglichkeiten begrenzen. So fühlt sich der Anstaltsleiter nicht selten eher als Gefangener der Institution denn als deren Herr. Diese Realität beschreibt Winchenbach (1985, 125 ff) in einer Weise, die die Schwierigkeiten klar hervortreten lässt. Anschaulich, aber auch kritisch zu dem sich wandelnden Bilde des Anstaltsleiters auch AK-Feest 2006 Rdn. 1 ff; Walter 1999 Rdn. 182 ff; Wilson/Bryans 1988, 119 ff. Infolgedessen hat auch die Verantwortung des Anstaltsleiters ihre Grenzen. Böhm (2003, Rdn. 88) hat anschaulich beschrieben, wie ein geschickter Verwaltungstechniker sich gut absichern kann. Ein Anstaltsleiter, der sein Amt konsequent nach dem Prinzip der Vermeidung eigenen Risikos ausübt, wird allerdings lähmend auf seine Mitarbeiter wirken. Denn diese Technik der Absicherung bedroht die Mitarbeiter und zwingt sie, sich ähnlicher Techniken zu bedienen. Die Anstalt wird auf diese Weise zu einem starren, unbeweglichen System, bei dem die entfernte Möglichkeit der Veränderung von allen Beteiligten bis hin zu den Gefangenen als beängstigend und bedrohend empfunden wird. In einem solchen Klima können sich weder die Mitarbeiter entfalten noch die Gefangenen – im Sinne des Vollzugsziels – soziales Verhalten lernen (§ 2 Rdn. 12 ff). Obwohl also die Gestaltungsfreiheit des Anstaltsleiters erheblich beschränkt ist, bestimmt er durch sein Verhalten in entscheidender Weise das Klima der Anstalt. Andererseits steht der Anstaltsleiter ständig in der Gefahr, überfordert zu werden.
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3. Die Anforderungen an den Anstaltsleiter sind hoch: Zunächst einmal muss er in der Anstalt viel anwesend und ansprechbar sein. Er muss deutlich machen, dass seine Leiter-
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tätigkeit ihm wichtig und ein wesentlicher Teil seiner Lebensinteressen ist. Ein schwer überwindbares Vorzimmer und komplizierte Vormeldewege sind Barrieren, die den Anstaltsleiter von wichtigen Informationen ausschließen. Im Gespräch muss er erkennen lassen, dass ihm seine Mitarbeiter und Gefangenen wichtig sind, d. h. er muss vor allem zuhören können. Im Regelfall sollte der Anstaltsleiter die Mitarbeiter eher beraten als anweisen. Das gilt nicht nur für die Mitglieder der Fachdienste (vgl. § 151 Rdn. 10 ff), deren besondere Sachkunde ihm nicht zu Gebote steht, sondern auch für den allgemeinen Vollzugsdienst und den Verwaltungsdienst. Entscheidet er anders, muss er sich mit den von den Mitarbeitern vorgeschlagenen Lösungen eingehend auseinandersetzen und seine Entscheidung für sie einsehbar begründen. Zurückhaltung muss der Anstaltsleiter üben, wenn es um die Einzelfallhilfe für Gefangene geht. Hier muss er seine Gesprächspartner immer wieder an die unmittelbaren Betreuer verweisen. Systematische Arbeit ist für die Fachdienste und auch für die Betreuer aus dem allgemeinen Vollzugsdienst nicht möglich, wenn der Anstaltsleiter an ihnen vorbei betreut und entscheidet. Auch für die Motivation der Mitarbeiter der Verwaltung ist es schädlich, wenn er Einzelfälle oftmals an sich zieht. Seine Tätigkeit, für die er Zeit zu grundsätzlichen Überlegungen braucht, ähnelt mehr der eines Managers (Böhm 2003 Rdn. 89); die Einführung von „Neuen Steuerungselementen“ (Reinermann 1995, 4 f) und Führungskonzepten aus der freien Wirtschaft (dazu auch § 151 Rdn. 12) fordern von ihm neue Führungsqualitäten (Böhm 2003 Rdn. 89 m. w. N.). In Krisensituationen ist sein ruhiges und sicheres Verhalten von Bedeutung (Böhm 2003 Rdn. 89; Wydra 1996, 164 ff). Er ist als „Change Agent“ (Doppler/Lauterburg 2002, 65) verantwortlich dafür, dass sich die Anstalt auf die sich ändernden Verhältnisse einstellt. Organisationsentwicklung in ihren verschiedenen Ansätzen hat er auf den Weg zu bringen (Kloff 2001, 80 ff). Die Erneuerung einer Anstalt ist ein lange dauernder Prozess, der Geduld und Beständigkeit verlangt. Seinen Mitarbeitern sollte der Anstaltsleiter, wo immer es geht, Erfolgserlebnisse vermitteln. Er selbst muss ihnen gegenüber die Verantwortung für Fehlschläge übernehmen. Das bedeutet aber nicht, Pannen und Fehler im Vollzugsablauf mit dem Mantel der Liebe zuzudecken. Offene kritische Worte sind manchmal notwendig. Solche Gespräche gehören zu den Aufgaben der Führungsspitze. Manchmal muss er seine Mitarbeiter vor der Aufsichtsbehörde in Schutz nehmen. Das kann er sich ohne Gefahr für sich selbst leisten, denn Maßnahmen der Dienstaufsicht gegen Anstaltsleiter sind selten. Er hat einen breiteren Rücken, als er selbst glaubt, und kann sich deshalb schützend vor die Mitarbeiter stellen. Das hat stabilisierende Wirkungen für die gesamte Anstalt, weil Befürchtungen und Ängste gemildert werden. Führungsverhalten und Persönlichkeitsstruktur des Anstaltsleiters sind nicht zu trennen. Viele Entscheidungen gibt es, bei denen die Alternativen so dicht beieinander liegen, dass die Entscheidung für die eine oder andere Lösung weniger wichtig ist als der Ablauf der Entscheidungsfindung. Der Anstaltsleiter muss sich bei seinem Team verständlich machen und berechenbar sein. Die Forderung, ein Anstaltsleiter solle nicht über allzu lange Zeit mit dieser Funktion in derselben Anstalt betraut werden (so noch in der 3. Auflage, Rdn. 90), ist problematisch; er braucht Zeit, um mit den Gegebenheiten einer Anstalt vertraut zu werden und beispielsweise personelle und bauliche Planungen durchzuführen (Böhm 2003 Rdn. 90). Im Übrigen ist er gehalten, sich durch intensives persönliches Lernen auf die Situation der Anstalt in der Weise einzulassen, dass er die erforderlichen Veränderungen anregt, ohne „betriebsblind“ zu werden (Wydra 1996, 180).
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II. Erläuterungen 4
1. Jede Anstalt muss einen hauptamtlichen Leiter haben, der regelmäßig dem höheren Dienst angehört (Abs. 1 Satz 1). Über die Fachrichtung der (akademischen) Ausbildung des Leiters sagt das Gesetz nichts. Er kann auch aus dem gehobenen Dienst kommend als Aufstiegsbeamter dem höheren Dienst angehören (VG Düsseldorf 20.7.2006 – 13 L 604/06). „Aus besonderen Gründen“ können auch Beamte des gehobenen Dienstes Anstaltsleiter sein (Abs. 1 Satz 2). Wiederum lässt das Gesetz die Fachausbildung offen. Neben Beamten des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes, die ein auf den Justizvollzug orientiertes Fachhochschul-Studium absolviert haben, kommen auch Angehörige des Sozialdienstes oder Pädagogen in Betracht. Ob die Ausnahmevorschrift für den gehobenen Dienst notwendig ist, erscheint zweifelhaft. Wenn ein solcher Beamter eine besondere Qualifikation oder spezielle Fachkenntnisse erworben hat und deshalb zum Anstaltsleiter bestellt werden soll, ist es wohl auch gerechtfertigt, ihn in den höheren Dienst aufsteigen zu lassen.
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2. Das Juristenmonopol für Leiter von Vollzugsanstalten sollte durch § 147 KE gesetzlich festgelegt werden. Dem Vorschlag, die Befähigung zum Richteramt zur Zugangsvoraussetzung für das Amt des Anstaltsleiters zu erheben, ist der Gesetzgeber jedoch mit Recht nicht gefolgt. Ein solches Juristenmonopol ist im Ausland unbekannt. Es ist auch sachlich nicht zu rechtfertigen. Zwar hat ein Jurist als Anstaltsleiter manche Vorteile vor den Angehörigen der Fachdienste (vgl. Böhm 2003 Rdn. 90). Es wird ihm im Allgemeinen leichter fallen, den beständigen, engen Kontakt zur Staatsanwaltschaft, zur Strafvollstreckungskammer, zur Aufsichtsbehörde und den zahlreichen weiteren Behörden mit juristischer Spitze zu halten. Auch scheint es manchmal so, als wenn die Fachdienste den „fachlosen“ Juristen als Vorgesetzten eher akzeptieren als einen Vertreter ihres eigenen oder eines anderen Fachdienstes. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass die Tätigkeit des Anstaltsleiters nur zum kleinen Teil Rechtsanwendung ist. Überwiegend liegen die Aufgaben des Anstaltsleiters auf dem Gebiet der Personalführung und des Managements. Das aber sind Funktionen, auf die keiner der in Betracht kommenden Studiengänge vorbereitet. Außerdem lehren die Direktoren der psychiatrischen Kliniken, dass Ärzte durchaus in der Lage sind, eine der Vollzugsanstalt vergleichbare hochkomplexe Einrichtung zu leiten. Auch Psychologen haben sich als Leiter von herkömmlichen Vollzugsanstalten und von Anstalten mit besonderen Vollzugsaufträgen (Jugendvollzug, Sozialtherapie) bewährt. Wer allerdings als Vertreter eines Fachdienstes die Aufgabe des Anstaltsleiters übernimmt, muss sich darüber im Klaren sein, dass damit für ihn nicht die ärztliche Tätigkeit oder die Psychotherapie an erster Stelle stehen darf, sondern eben Personalführung und Management.
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3. Der Anstaltsleiter vertritt – wie jeder andere Behördenleiter, sonst verdiente er die Bezeichnung Leiter nicht – die Anstalt nach außen (Abs. 2 Satz 1). Er entscheidet beispielsweise gegenüber dem Gericht die Frage, ob eine vorzeitige Entlassung oder eine Drogentherapie nach § 35 BtMG befürwortet wird (VGH Baden-Württemberg ZfStrVo 1991, 181 ff mit Anm. Konrad; Böhm 2003, Rdn. 88). Die besondere Hervorhebung der Außenvertretung verleitet jedoch zu dem Missverständnis, sie sei dem Leiter in besonderer Weise und abweichend von den für andere Behörden geltenden Regelungen vorbehalten. Dieses Missverständnis wird außerdem begünstigt durch die Verwaltungstradition aus einer Zeit, in der es unterhalb der Anstaltsleitung noch keinen leistungsfähigen Mittelbau gab. VV Nr. 2 Abs. 1 korrigiert das Bild durch die Bestimmung, dass der Anstaltsleiter schriftlich festzulegen hat, „welche Bediensteten in seinem Auftrag Entscheidungen treffen können“. Zu den Entscheidungen, die im Wege des Mandats übertragen werden, gehören auch viele mit Außenwirkung. Die Verantwortung bleibt – im Gegensatz zu der in Abs. 2 2. Halbsatz ge-
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regelten Delegation – beim Anstaltsleiter. Für diese in seinem Auftrag getroffenen Entscheidungen bezieht sie sich auf die zweckentsprechende Auswahl der zu übertragenden Aufgaben und der Beauftragten, die Anleitung und Überwachung der Mitarbeiter und lässt das Recht und in kritischen Fällen die Pflicht des Anstaltsleiters unberührt, dem Beauftragten zur Erledigung seines Auftrags Einzelweisungen zu erteilen oder eine Sache an sich zu ziehen. Auch die Anhörung nach § 108 Abs. 1 (Wünsche, Anregungen und Beschwerden der Gefangenen) kann auf den Abteilungsleiter (OLG Hamm JMBl. NW 1986, 261; ZfStrVo 1987, 382) oder Teilanstaltsleiter (KG ZfStrVo 1988, 125) übertragen werden, soweit es um Fragen geht, die in dessen Zuständigkeit fallen. Hält sich der beauftragte Bedienstete bei seiner Entscheidung an den Rahmen der Aufgabenverteilung, so ist diese Entscheidung eine Vollzugsmaßnahme der Anstalt und als solche nach § 109 ff anfechtbar: einer bestätigenden Entscheidung des Anstaltsleiters bedarf es nicht (OLG Frankfurt NStZ 1994, 381 B). Handelt ein Bediensteter ohne Auftrag, so kann die Entscheidung – je nach Fallgestaltung – gleichwohl der Anstalt zurechenbar und damit, ohne dass zuvor der Anstaltsleiter hätte eingeschaltet werden müssen, nach § 109 anfechtbar sein (BVerfG NStZ 1990, 557). Vgl. hierzu § 109 Rdn. 11. Bei der Geschäftsverteilung wird der Anstaltsleiter auch zu berücksichtigen haben, dass die Adressaten von Entscheidungen – besonders wenn es sich um Justizbehörden handelt – Wert darauf legen, die Stellungnahme des „Chefs“ oder seines Vertreters (VV Nr. 1) kennen zulernen, weil sie von rechtskundigen Beamten eine besonders verlässliche Äußerung erwarten. Diese Gegebenheiten muss der Anstaltsleiter im Interesse der Sache berücksichtigen, damit sie – z. B. die Stellungnahmen zur Frage der vorzeitigen Entlassung – das wünschenswerte Gewicht haben. Den Fachdiensten und seinen anderen Mitarbeitern wird er dann verständlich machen müssen, warum er sich in solchen Fällen das Zeichnungsrecht vorbehält, damit deren Motivation zur Mitarbeit nicht leidet. Wichtig aber ist vor allem, dass Kontakt und gute Zusammenarbeit auf allen Ebenen geübt werden. Die Grenzen zur „Außenvertretung“ sind fließend. Wenn der Anstaltsleiter gewiss sein kann, dass er über alles Wichtige im Kontakt nach draußen ebenso unterrichtet wird wie über wichtige Vorgänge innerhalb der Anstaltsmauern, kann er seinen Mitarbeitern auch in diesem Bereich Spielraum einräumen (vgl. § 154 Rdn. 5 f). Einige Beispiele mögen das Gemeinte veranschaulichen: natürlich ist es die Sache des Leiters, der Presse gegenüber eine Erklärung über den Selbstmord eines Gefangenen abzugeben; doch können Anstaltsarzt und Anstaltspsychologe im Rahmen einer Pressekonferenz ausführlich zu Wort kommen. Die Grundsatzfrage, ob Gefangene im Wege des Ausgangs in die Abendrealschule aufgenommen werden können, werden Anstaltsleiter und Schulamt klären müssen. Ob aber der Gefangene A den sofort benötigten Personalausweis beschleunigt erhält, die Familie des Gefangenen B in einer dringenden Wohnungsangelegenheit Hilfe findet, entscheidet sich auf der Ebene der Sachbearbeiter. Ob sich die Beamten der Schutzpolizei nachdrücklich an der Nacheile (§ 87 Rdn. 3) und Fahndung nach dem Gefangenen C beteiligen, hängt von den guten Kontakten der Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes zu den Kollegen von der Polizei ab. Gute Beziehungen des Anstaltsleiters zum Oberbürgermeister und zum Polizeipräsidenten sind eine nützliche Sache, können aber den Kontakt an der Basis nicht ersetzen (Erfahrungen Rdn. 15, 16). a) Werden dem Anstaltsleiter Straftaten bekannt, die Gefangene während der Zeit 7 der Strafverbüßung begangen haben, so steht ihm bei der Entscheidung der Frage, ob er Strafanzeige erstattet, ein Ermessensspielraum zu. Das Interesse an der Erreichung des Vollzugsziels und die Verpflichtung zum Schutz der Allgemeinheit sind abzuwägen. Wegen Strafvereitelung soll er sich nach Auffassung des OLG Hamburg (NStZ 1996, 102 mit zu-
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stimmender Anm. von Klesczewski = ZfStrVo 1996, 371 ff mit abl. Anm. von Kubink, ablehnend ebenso Volckart StV 1996, 608 und Küpper JR 1996, 524) jedoch strafbar machen, wenn er schwere Straftaten von Anstaltsinsassen nicht zur Anzeige bringt. Das OLG hat eine Verwirklichung des Tatbestandes des § 258a StGB durch Unterlassen angenommen und die für Unterlassungsdelikte geforderte Garantenpflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) aus der Vollzugsaufgabe nach § 2 StVollzG abgeleitet, für deren Erfüllung der Anstaltsleiter nach § 156 Abs. 2 Satz 2 die Verantwortung trage. Diese Auffassung hat der BGH (NStZ 1997, 597 mit zust. Anm. Rudolphi) abgelehnt. Das Urteil betrifft den umgekehrten Fall. Gefangene waren von Anstaltsbeamten misshandelt worden und andere Anstaltsbedienstete, die den Vorgang beobachtet hatten, hatten weder den Anstaltsleiter noch die Strafverfolgungsbehörde unterrichtet. Nach dem Urteil des BGH begehen „Strafvollzugsbeamte einer JVA (. . .) keine Strafvereitelung durch Unterlassen, wenn sie Straftaten, die Anstaltsbedienstete an Gefangenen verübt haben, nicht den Strafverfolgungsbehörden anzeigen“. Strafvollzugsbeamte kämen als Täter nach § 258a nicht in Betracht; eine Verpflichtung zur Anzeige ergebe sich weder aus den VV noch aus § 2, der eine bloße Zielbestimmungsnorm sei, die nicht einzelne Handlungsgebote enthalte. Vgl. auch § 2 Rdn. 12.
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b) Anstaltsleiter und Anstaltsbeamte verletzen jedoch ihre Dienstpflichten, wenn sie derartige Straftaten nicht der Aufsichtsbehörde berichten oder dem Anstaltsleiter melden (BGH aaO = BlStV 4/5/1997, 1 mit Anm. Rösch). Diese Dienstpflichten reichen viel weiter als der Verdacht von Straftaten. Die Meldepflicht der Anstaltsbeamten ergibt sich bundeseinheitlich aus Nr. 9 DSVollz (Anhang). Zu melden sind „alle wichtigen Vorgänge unverzüglich“. Die Interpretation der Begriffe gibt einen Ermessensspielraum, der jedoch eng ist. In Dienstbesprechungen und bei der Erörterung von Einzelfällen wird der Anstaltsleiter seinen Mitarbeitern Umfang und Grenzen der Meldepflicht immer wieder verdeutlichen müssen. Der Meldepflicht der Anstaltsbediensteten entspricht die Berichtspflicht des Anstaltsleiters (VV Nr. 3), die von manchen Bundesländern im Erlasswege ergänzend geregelt ist. Bestimmte „besondere Vorkommnisse“ wie Ausbrüche aus dem geschlossenen Bereich, unnatürliche Todesfälle von Gefangenen (§ 159 StPO) sind sofort telefonisch auch außerhalb der Dienststunden (von Bereitschaftsdienst zu Bereitschaftsdienst) zu berichten. Bei anderen Vorkommnissen hat der Anstaltsleiter einen Ermessenspielraum, was den Weg und den Zeitpunkt der Berichterstattung angeht. Auch hier verdeutlichen die Aufsichtsbehörden bei Konferenzen und anhand von Einzelfällen die Grenzen der Berichtspflicht. Insbesondere legen sie Wert darauf, über alle Vorgänge rechtzeitig unterrichtet zu werden, die Anfragen der Medien – Presse, Rundfunk und Fernsehen – auslösen können. Ein für sich genommen unbedeutendes Ereignis kann „berichtspflichtig“ sein, weil es einen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Gefangenen betrifft, oder im Zusammenhang mit aktuellen politischen Vorgängen (radikale politische Gruppen, Drogenhandel) steht.
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4. Die Regelung der verantwortungsverschiebenden Übertragung von Aufgabenbereichen (Delegation im Gegensatz zum Mandat, Rdn. 5) hat zu Missverständnissen Anlass gegeben. So lässt die passivische Fassung (Abs. 2 Satz 2 2.HS.) die Auslegung zu, der Anstaltsleiter selbst könne delegieren. Deshalb entspreche es nicht dem Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes, wenn VV Nr. 4 diese Übertragung von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde abhängig mache (C/MD 2008 Rdn. 6; AK-Feest 2006 Rdn. 4). Diese Kritik ist jedoch unbegründet, weil die Aufsichtsbehörde durch die Delegation unmittelbar betroffen ist und deshalb die Verantwortungsverschiebung mittragen muss. Aus verfassungsrechtlichen Gründen, nämlich zur Gewährleistung der parlamentarischen Verantwortung des Ministers für sein Ressort (z. B. Art. 55 Abs. 2 LV NW), darf durch die verantwortungsverschiebende Aufgabenübertragung kein weisungsfreier Raum entstehen. An die Stelle der Weisungs-
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befugnis des Anstaltsleiters tritt deshalb zwangsläufig die der Aufsichtsbehörde. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Erweiterung der Aufsichtspflichten und der Verantwortung nicht ohne deren Zustimmung der Aufsichtsbehörde gewissermaßen zufallen kann (§ 151 Rdn. 2 ff). Die Delegation wirft aber noch weitere Folgeprobleme auf. So muss der Anstaltsleiter, um die Verantwortung für die nicht übertragenen Aufgabenbereiche tragen zu können, über die übertragenen vollständig unterrichtet sein. Auch wird man ihm ein Kriseninterventionsrecht zugestehen müssen. Das alles bedarf sorgfältiger Regelung, um Kompetenzkonflikten vorzubeugen. Sonst können durch Delegation statt einer sachgemäßeren Aufgaben- und Verantwortungsverteilung zusätzliche Schwierigkeiten und Reibungsverluste entstehen. Es ist daher verständlich, dass von der Möglichkeit der Delegation bisher kaum Gebrauch gemacht wurde und repräsentative Erfahrungen nicht vorliegen (Beispiele Rdn. 15, 16). Im Landesgesetz Niedersachsens wurde – wegen der Verknüpfung mit Folgeproblemen – die Möglichkeit einer verantwortungsverschiebenden Übertragung von Aufgabenbereichen innerhalb des Vollzugs fallen gelassen (Begründung zu § 176 NJVollzG). Die Fragen der Verteilung von Aufgaben und Verantwortung werden vielfach mit recht- 10 lichen Argumenten diskutiert, während es in Wahrheit um Macht und Status geht. Doch entspricht es den strukturellen Vorgaben des Gesetzes (C/MD 2008 Rdn. 4), die Entscheidungen – soweit möglich – an die Basis zu verlagern und z. B. bereits die Wohngruppenleiter mit Entscheidungsfunktionen zu betrauen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass solche Entscheidungen dann anfechtbare Vollzugsmaßnahmen i. S. von § 109 sind (Rdn. 10). Es kann deshalb sinnvoll sein, die in die Rechte der Gefangenen eingreifenden Entscheidungen einem Vorgesetzten (Anstaltsleiter, Abteilungsleiter) vorzubehalten, weniger der Kontrolle wegen als deshalb, weil er die Entscheidung im Falle der Anfechtung im Verwaltungsvorverfahren (§ 109 Abs. 3) oder im Verfahren auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 Abs. 1) vertreten muss (§ 109 Rdn. 11). Außerdem stehen Mitarbeiter, die ständig und sehr nahe mit einem Gefangenen umgehen, in der Gefahr, sich zu sehr mit diesem zu identifizieren. Das kann dazu führen, dass sie bei ihren Entscheidungen zu hohe Risiken eingehen, im Falle der Enttäuschung aber auch zu streng reagieren. Letzten Endes geht es bei diesen Zuständigkeitsregelungen um die Frage der sachgemäßen Zusammenarbeit. Besteht in einer Anstalt ein Vertrauensverhältnis zwischen Leitung und Mitarbeitern und gibt es Möglichkeiten zum offenen Gespräch, so tritt die Bedeutung der Zuständigkeitsfragen und der Abgrenzung von Verantwortung zurück. An die Stelle von Weisung und Gehorsam tritt Kommunikation (C/MD 2008 Rdn. 2). Ein Vertrauensverhältnis muss aber auch zwischen Vollzugsanstalt und Aufsichtsbehörde bestehen. Kontrolle ist nicht besser als Vertrauen, sondern beide Prinzipien, Vertrauen und Kontrolle, müssen im Zusammenwirken aller im Vollzug Tätigen (§ 154 Abs. 1) ihren Platz haben. 5. Das Gesetz sieht die Delegation nicht nur auf einzelne Mitarbeiter, sondern aus- 11 drücklich auch zur gemeinsamen Verantwortung vor. Damit ist es möglich, wesentliche Leiter-Befugnisse auf ein Gremium oder auf eine Konferenz zu delegieren. Doch muss zumindest für die Außenwelt die Funktion des Anstaltsleiters als Ansprechpartner erhalten bleiben. Es ist Außenstehenden nicht zuzumuten, dass sie sich zunächst über die Verteilung der Zuständigkeiten informieren müssen (vgl. die Erläuterung zu § 159). 6. Die VV und weitere Verwaltungsvorschriften der Bundesländer verpflichten den An- 12 staltsleiter, zu bestimmten Entscheidungen (z. B. VV Nr. 1 Abs. 2 Satz 1, Nr. 4 Abs. 2 Satz 3 zu § 10; Nr. 4 Abs. 1 Satz 3, Nr. 5 Abs. 2 Satz 1 zu § 11) die Zustimmung der Aufsichtsbehörde einzuholen. Gleichwohl ist die so getroffene Entscheidung eine Maßnahme des Anstaltsleiters i. S. v. § 109 Abs. 1 und der Antrag auf gerichtliche Entscheidung deshalb gegen diesen zu richten (vgl. vor § 151 Rdn. 2; § 109 Rdn. 20; § 110 Rdn. 5).
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Ein Zustimmungsvorbehalt für schwerwiegende, seltene Einzelfälle ist akzeptabel. Es widerspricht jedoch dem Sinn des Strafvollzugsgesetzes und ist deshalb ein Missbrauch, wenn sich die Aufsichtsbehörde die Zustimmung zu bloßen Routineentscheidungen wie der Beurlaubung von Gefangenen im geschlossenen Vollzug mit kurzen und mittleren Strafresten vorbehält (dazu AK-Feest/Weichert 2006 Rdn. 6 zu § 151; Dammann Effizientere Verwaltung mit weniger Personal, in: NRW Justiz intern Nr. 3/1997, 6). Es besteht der Verdacht, dass auf diese Weise die – aus politischen Gründen unerwünschten – hohen Lockerungszahlen reduziert werden sollen. Die Rechnung geht erfahrungsgemäß auf, weil die Anstalten bei der Prüfung von Lockerungswünschen die vermutete Entscheidung der Aufsichtsbehörde in ihre Überlegungen einbeziehen. Sie möchten vermeiden, dass ihre Vorschläge „abgeschmettert“ werden und die Arbeit des Vorlageberichts vergeblich war. So wird dem Gefangenen der Rat erteilt, keinen Antrag – weil ohnehin aussichtslos – zu stellen. Verfolgt der Gefangene sein Anliegen trotzdem weiter, so wird der Antrag schon in der Anstalt abgelehnt.
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7. Die Frage der Fachaufsicht (§ 151 Rdn. 2 für die Aufsichtsbehörde) des Anstaltsleiters über die Angehörigen der Fachdienste ist durch VV Nr. 2 Abs. 2 und 3 geregelt. Die Worte „bis zur Entscheidung der Aufsichtsbehörde“ (VV Nr. 2 Abs. 3) zeigen, dass es auch hier einen weisungsfreien Raum nicht gibt. Die Aufsichtsbehörde bedient sich bei ihrer Entscheidung eigener Fachkräfte oder fachlicher Beratung (§ 151 Abs. 2). Obwohl Konflikte zwischen Anstaltsleiter und Fachdiensten nicht selten vorkommen, hat diese Vorschrift kaum praktische Bedeutung, war insbesondere bisher nicht Gegenstand gerichtlicher Überprüfung. Aus diesem Grunde blieb bisher unentschieden, ob hier ein Sonderfall der verantwortungsverschiebenden Delegation i. S. v. Abs. 2 Satz 2, 2. HS vorliegt. Die Frage dürfte indessen zu verneinen sein, weil der Anstaltsleiter nicht wie im Fall der Delegation von der (alleinigen) Entscheidung ausgeschlossen ist, sondern nur soweit, wie sich die Angelegenheiten der Fachdienste seiner Beurteilung entziehen. So sind auch die Entscheidungen des Anstaltsarztes dem Anstaltsleiter, der allein die Vollzugsbehörde repräsentiert, zuzurechnen (unzutreffend LG Arnsberg NStZ 1984, 46 mit abl. Anm. Flügge NStZ 1984, 430 f für den Fall einer Verlegung nach § 65 Abs. 2; OLG Hamm 28.2.1986 – 1 Vollz (Ws) 196/85). Auch über die Einsicht in die Krankenakten entscheidet der Anstaltsleiter, wenn auch nach Beratung durch den Anstaltsarzt (OLG Nürnberg 25.5.1985 – Ws 1072/84; KG 10.12.1984 – Ws 363/84 Vollz). Praktische Beispiele für Konflikte: Mit dem Seelsorger über die Grenzen des Seelsorgegeheimnisses (§ 157 Rdn. 21 ff), mit dem Anstaltsarzt über den Aufwand für Facharztvorführungen und Arzneimittel (§ 58 Rdn. 11, 14 ff), mit dem Psychologen über das Risiko von Lockerungen (§ 11 Rdn. 14). In der Praxis sind seltener Fachfragen als Fragen der Organisation, der gegenseitigen Information und der Zusammenarbeit im allgemeinen Anlass zu Konflikten (VGH Baden-Württemberg ZfStrVo 1991, 181 ff mit Anm. von Konrad; Rotthaus 1995, 525). Wenn sich die Meinungsverschiedenheiten nicht in Gesprächen – ggf. unter Beteiligung der Fachreferenten oder der Fachberater der Aufsichtsbehörde oder durch Supervision – auflösen lassen, führen sie oft zu einer Emotionalisierung und zur Beendigung der Zusammenarbeit. Der Mitarbeiter scheidet aus dem Dienstverhältnis aus oder – wenn er Schwierigkeiten voraussieht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden – beschränkt seine Tätigkeit auf das unbedingt Notwendige (innere Kündigung). Auskunft verlangen und Anregungen geben (VV Nr. 2 Abs. 2) sind selbstverständliche Elemente guter Zusammenarbeit. Der Anstaltsleiter ist auf die Auskünfte der Mitarbeiter angewiesen, wenn er über das, was in der Anstalt vorgeht, unterrichtet sein will. „In fachlichen Angelegenheiten (. . .), die sich seiner Beurteilung entziehen“, ist ihm der Mund
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nicht verboten. Er kann und muss nachfragen und aus seiner Sicht Stellung nehmen. Das Auskunftsrecht gilt freilich nicht unbeschränkt. Es ist das Beichtgeheimnis (§ 139 Abs. 2 StGB) zu beachten. Außerdem besteht für die in § 203 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StGB genannten Fachkräfte (Ärzte, Zahnärzte und ihre Hilfspersonen, Diplom-Psychologen, Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Sozialpädagogen) auch dem Anstaltsleiter gegenüber Schweigepflicht für das ihnen von einem Gefangenen als Geheimnis Anvertraute, soweit nicht § 182 Abs. 2 Satz 2 oder 3 ausnahmsweise die Offenbarung des Geheimnisses gebieten oder erlauben. 8. Die mit Entkleidung verbundene Durchsuchung des Gefangenen (§ 84 Abs. 2), 14 besondere Sicherungsmaßnahmen (§ 88) und Disziplinarmaßnahmen (§ 103) greifen tief in die Persönlichkeitsrechte des Gefangenen ein. Außerdem sind sie Anzeichen für Krisen im geordneten Zusammenleben in der Anstalt. Die Befugnis zur Anordnung, die auch generell auf einen anderen Justizbediensteten übertragen werden kann (LG Hildesheim LS 18.12.2006 – 23 StVK 566/06) darf deshalb insoweit nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen werden. Diese Zustimmung kann abstrakt vorab erteilt werden (LG Hildesheim aaO). Gleiches gilt für die Anordnung von Einzelhaft (§ 90), da es sich hier um einen Qualifizierungstatbestand zu § 88 Abs. 2 Satz 3 handelt (OLG Hamm ZfStrVo 2000, 179f). So wird sichergestellt, dass ein leitender Beamter der Anstalt, neben dem Anstaltsleiter kommt dessen Vertreter oder ein Abteilungsleiter in Betracht, über die Vorfälle unterrichtet wird und die Verantwortung übernehmen kann.
III. Beispiele Erfahrungen mit der Aufgabenübertragung Im Allgemeinen ist das Mandat (VV Nr. 2 Abs. 1) das geeignete und ausreichende Instru- 15 ment, um Entscheidungszuständigkeiten nach unten zu verlagern. Bei größeren Anstalten sollte der Abteilungsleiter oder Teilanstaltsleiter für alle Entscheidungen zu Fragen der Behandlung der Gefangenen bis hin zum Urlaub und zur Stellungnahme wegen der vorzeitigen Entlassung zuständig sein. Dann verändert sich für die Gefangenen wie für das Personal das Klima der Anstalt grundlegend, weil ein „Anstaltsleiter zum Anfassen“ da ist, den man täglich sieht und ansprechen kann. Die skeptischen Ausführungen von Feldmann (1985, 68 f) dürften damit zusammenhängen, dass der Abteilungsleiter dort nicht selbst entscheiden konnte, sondern dem Anstaltsleiter lediglich zuarbeitete. Das ist weder Mandat noch Delegation (für die heutige Mandatierung in Nordrhein-Westfalen: Salewski Vollzugsabteilungen in NRW Justiz intern Nr. 3/1997, 2). Die Delegation von Entscheidungszuständigkeit und Verantwortung ist dort sinn- 16 voll und hat sich bewährt, wo Fachkunde besondere Geltung beanspruchen kann: im Einweisungsverfahren (§ 152 Rdn. 14), in sozialtherapeutischen Anstalten (OLG Celle ZfStrVo 1984, 168 – Anstaltskommission der JVA Gandersheim; Rotthaus 1981, 324 – Behandlungskonferenz) und in einem Justizvollzugskrankenhaus (Organisationsstatut für das Justizvollzugskrankenhaus NRW in Fröndenberg – AV des JM vom 5.7.1985 JMBl. NW S. 170). Eine solche Regelung sollte dann aber, wie in Nr. 4.3 aaO geschehen, auf die gesetzliche Ausnahmeregelung Bezug nehmen und die „anderen Vollzugsbediensteten“ (Ärztlicher Direktor, Leitender Arzt einer Krankenabteilung) ebenso benennen wie diejenigen, die an Stelle des Behördenleiters die Dienstaufsicht übernehmen (Nr. 2.1 aaO: Justizministerium, Präsident des Justizvollzugsamts durch die Medizinalreferenten).
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Art. 177 BayVollzG ist mit § 156 StVollG bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung identisch. 2. Hamburg
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§ 104 HmbVollzG entspricht in den Absätzen 1 bis 3 vollinhaltlich bis auf redaktionelle Anpassungen § 156 StVollzG. Abs. 4 übernimmt die Regelung der VV Nummer 1 zu § 156 mit redaktionellen Anpassungen in das Gesetz. 3. Niedersachsen
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§ 176 NJVollzG entspricht im Wesentlichen § 156 StVollzG; er ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 Satz 1 entspricht inhaltlich § 156 Abs. 2 StVollzG, ist aber redaktionell neu gefasst: „Die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter trägt die Verantwortung für den gesamten Vollzug in der Anstalt, vertritt die Anstalt in den ihr als Vollzugsbehörde obliegenden Angelegenheiten nach außen und regelt die Geschäftsverteilung innerhalb der Anstalt“. Abs. 1 Satz 2 ist bis auf geschlechtsspezifische Änderungen inhaltsgleich mit § 156 Abs. 3 StVollzG. Abs. 2 ist neu gefasst und lautet: „Die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter und ihre oder seine Vertreterinnen oder Vertreter müssen hauptamtlich tätig sein und in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Land stehen. Sie werden vom Fachministerium bestellt“. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, S. 210) heißt es u. a.: „. . . Der Entwurf stellt klar, dass auch eine Übertragung der Aufgabenwahrnehmung auf öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen (§ 178 des Entwurfs) die Gesamtverantwortung der Anstaltsleitung nicht berührt. Folgerichtig wurde auch die Möglichkeit einer verantwortungsverschiebenden Übertragung von Aufgabenbereichen innerhalb des Vollzugs fallen gelassen, da sie mit erheblichen Folgeproblemen verknüpft ist (vgl. Schwind/Böhm/Jehle aaO, § 156 Rdn. 6) . . . § 176 Abs. 1 Satz 2 des Entwurfs ist Ausfluss der parlamentarischen Verantwortung der Ministerin oder des Ministers . . . § 176 Abs. 2 des Entwurfs betont die Stellung der Anstaltsleitung als weisungsgebundener Teil der Landesverwaltung. Wegen der besonderen hoheitlichen Befugnisse der Anstaltsleitung sieht der Entwurf vor, dass nur Angehörige des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, hiermit betraut werden können (Art. 33 Abs. 4 GG). Auf den statusrechtlichen Begriff des Beamten im engeren Sinn ist nicht abzustellen.“ Eine Übernahme der Formulierung des § 156 Abs. 1 StVollzG wird als unnötig abgelehnt. „Nach der Entwurfsregelung bestellt das Fachministerium die Mitglieder der Anstaltsleitung. Das Fachministerium wird in der Lage sein, auf eine hinreichende Qualifikation der betreffenden Personen zum achten; insoweit gilt Art. 33 Abs. 2 GG. Die Regelung in Abs. 2 ist lediglich im Hinblick auf Art. 33 Abs. 4 GG geboten“.
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§ 157 Seelsorge (1) Seelsorger werden im Einvernehmen mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hauptamt bestellt oder vertraglich verpflichtet. (2) Wenn die geringe Zahl der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine Seelsorge nach Absatz 1 nicht rechtfertigt, ist die seelsorgerliche Betreuung auf andere Weise zuzulassen. (3) Mit Zustimmung des Anstaltsleiters dürfen die Anstaltsseelsorger sich freier Seelsorgehelfer bedienen und für Gottesdienste sowie für andere religiöse Veranstaltungen Seelsorger von außen zuziehen. Schrifttum: s. Vor § 53; Schäfer Das Verhältnis von Staat und Kirche am Beispiel der Gefängnisseelsorge in Hessen, in Wever/Faber/Lösch (Hrsg.) 2008; Heusel Freie Seelsorge. Zum Verständnis von § 157 Abs. 3 Strafvollzugsgesetz, in: ZfStrVo 1981, 364 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . 1. Organisatorische Grundlagen 2. Anzahl der Seelsorger . . . . 3. Räume . . . . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Seelsorger und Mitarbeiter . . 2. Sonderstellung innerhalb der Vollzugsanstalt . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
1–5 1–3 4 5 6–23 6–12
Rdn. 3. Tätigkeit des Seelsorgers 4. Schweigerecht . . . . . III. Beispiele . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
. . . . . . .
. 17–20 . 21–23 . 24 . 25–27 . 25 . 26 . 27
. . 13–16
I. Allgemeine Hinweise 1. Die Vorschrift regelt die organisatorischen Grundlagen für die Seelsorge in den 1 Justizvollzugsanstalten (BT-Drucks. 7/918, 97). Besteht vom Verfassungsrecht her (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV) nur die Verpflichtung, Seelsorge zuzulassen, geht § 157 insoweit darüber hinaus, als ausdrücklich die Bestellung von Seelsorgern vorgesehen ist. Dabei überlässt die bundesrechtliche Regelung den Ländern für die Art und Weise, wie die Seelsorge in die Organisation der Vollzugsanstalt einbezogen wird, einen gewissen Spielraum. Die institutionelle Einbindung des Anstaltsseelsorgers kann durch Beamtenrecht oder durch (z. B. Angestellten-)Vertrag gestaltet sein oder auch auf der Grundlage eines Gestellungsvertrages zwischen Staat und Kirche beruhen. Die vollzugsorganisatorische Zuordnung von Seelsorgern, die im Einvernehmen mit dem Staat von einer Kirche in den Dienst der Gefängnisseelsorge berufen sind, begründet sich in einem Dienstverhältnis, dessen wesentliche Merkmale in Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche festgelegt sind. (Ausführlich Eick-Wildgans 1993, 175 ff; vgl. auch vor § 53 Rdn. 6). Es herrscht heute weitgehend Übereinstimmung, dass eine Verbeamtung im Sinne des staatlichen Rechts die Auslieferung des kirchlichen Dienstes an sachfremde Gesichtspunkte darstellen und zu einer Verfälschung des kirchlichen Auftrags führen würde, während eine ehrlichere Lösung darin liegt, die Anstaltsseelsorger in kirchlichen Diensten zu belassen und ihr Rechtsverhältnis zum Staat als ein Rechtsverhältnis besonderer Art, d. h. in einvernehmlicher Regelung unter Berücksichtigung der spezifisch kirchlichen und spezifisch staatlichen Belange, zu qualifizieren (EickWildgans 1993, 187 f).
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Unabhängig davon, ob der Seelsorger in einem staatlichen oder kirchlichen Dienstverhältnis steht, kennzeichnet die Möglichkeit der Heranziehung anderer Seelsorger und Seelsorgehelfer neben dem Anstaltsseelsorger (vgl. Rdn. 9 und 10) die Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten prinzipiell als eine Aufgabe der Kirchen und nicht lediglich als Sache eines abgeordneten Amtsträgers, der eine staatliche Aufgabe unterstützt (Pirson 1989, 32). 3 Die eventuell vorzeitige Abberufung eines Seelsorgers richtet sich nach den Modalitäten seines Anstellungsverhältnisses. Auch im Interesse des Rechtsschutzes eines Seelsorgers in kirchlichem Dienstverhältnis sollte seine Kirche über eine genaue Kenntnis des Arbeitsfeldes und der situationsangemessenen Seelsorgepraxis verfügen. Es erscheint in diesem Zusammenhang unangemessen, dass dem betroffenen Seelsorger nur in wenigen Ländervereinbarungen ausdrücklich das Recht auf Anhörung vor einer Entscheidung sowohl kirchlicher- wie staatlicherseits gewährt wird.
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2. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, für jede Anstalt entsprechend ihrer Aufgabe auch die erforderliche Anzahl von Seelsorgern vorzusehen (§ 155 Abs. 2). Wie viele Seelsorger in jedem Fall benötigt werden, ist mehr von der jeweiligen Besonderheit der einzelnen Vollzugsanstalt als von Schlüsselzahlen abhängig. Für je 250 Gefangene sollte aber in der Regel ein hauptamtlicher Seelsorger zur Verfügung stehen, forderte schon 1970 der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands e.V. in seiner Denkschrift zur inneren Reform des Strafvollzuges; heute wird man diese Zahl wegen der differenzierteren Aufgabenstellung nach Inkrafttreten des StVollzG und der faktischen Gegebenheiten und Möglichkeiten auch für die Seelsorge jedenfalls nicht niedriger anzusetzen haben. In einer Jugendstrafanstalt sollte ein Seelsorger in der Regel nicht mehr als 100 Angehörige seiner Konfession betreuen müssen (SchlussB, 41). In der Bundesrepublik Deutschland sind jeweils annähernd 300 evangelische und katholische Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Vollzugsanstalten tätig. Angehörige anderer Konfessionen und nichtchristlicher Religionsgemeinschaften werden im Einzelfall durch ihren Seelsorger betreut. Dem hohen Anteil muslimischer Gefangener wird zunehmend durch den Einsatz von Imamen als Seelsorger Rechnung getragen (Kamann 2002 Rdn. 627 unter Berufung auf eine Notiz in ZfStrVo 1999, 40).
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3. Die Bereitstellung zweckdienlich eingerichteter Räume (§ 145) gehört mit zu den organisatorischen Grundlagen für die Seelsorge. Der Seelsorger hat Anspruch auf ein geeignetes Dienstzimmer zur ungehinderten Führung seelsorgerlicher Gespräche (§ 53) und auf die Zuteilung geeigneter Räume für Gottesdienste und für seine anderen Gemeinschaftsveranstaltungen (§ 54). Vereinbarungen auf Landesebene sehen z. T. vor, dass die Planung, Gestaltung und Einrichtung von Gottesdiensträumen in einer Vollzugsanstalt durch das Land im Einvernehmen mit der Kirche erfolgt (etwa Hessen, Saarland, Sachsen, Thüringen). Trotz eindeutiger Regelungen und immer wieder bekundeten Verständnisses der Vollzugsbehörden bestand und besteht für die Anstaltsseelsorge zuweilen Veranlassung, auf ihren diesbezüglichen Anspruch und auf die Einholung des Einvernehmens hinzuweisen. So wurden in Zeiten der Überbelegung Kirchenräume für die Gemeinschaftsunterbringung von Gefangenen zweckentfremdet. Gottesdienste sollten in Sporthallen bzw. Mehrzweckräumen oder in abgelegenen und engen Kellerräumen stattfinden.
II. Erläuterungen 6
1. Die Seelsorge in Vollzugsanstalten wird von haupt- oder nebenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern wahrgenommen, denen wie in den Kirchengemeinden haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Seite stehen. Das StVollzG trägt dem durch die Vorschriften der §§ 157 und 154 Abs. 2 Rechnung.
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Seelsorge
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a) In größeren Vollzugsanstalten sind in der Regel voll- oder teilzeitbeschäftigte Seel- 7 sorger im Hauptamt tätig (Abs. 1). Ihre dienstrechtliche Stellung ist unterschiedlich geregelt (s. Rdn. 1). b) In kleineren Vollzugsanstalten (etwa bis zu 200 Haftplätzen) wird die Seelsorge im 8 Allgemeinen durch vertraglich verpflichtete nebenamtliche Seelsorger ausgeübt, die im Übrigen einen Auftrag in einer Kirchengemeinde oder in einer anderen kirchlichen Tätigkeit wahrnehmen. Wo die geringe Zahl der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine haupt- oder nebenamtliche Seelsorge nicht rechtfertigt, kann sie von Fall zu Fall auch ehrenamtlich geleistet werden (Abs. 2). c) Für Gottesdienste und andere religiöse Veranstaltungen besteht die Möglichkeit der 9 Hinzuziehung weiterer Seelsorger von außen; dazu ist die Zustimmung des Anstaltsleiters erforderlich (Abs. 3). Darüber hinaus ist es üblich, z. B. Chöre und andere Gruppen von außen an Gottesdiensten in den Vollzugsanstalten zu beteiligen. Das Erfordernis der Zustimmung des Anstaltsleiters gilt hierbei in gleicher Weise. d) Die Anstaltsseelsorger dürfen sich ebenso mit Zustimmung des Anstaltsleiters freier 10 Seelsorgehelfer bedienen (Abs. 3). Die Bezeichnung des Seelsorgehelfers als „frei“ weist aus, dass sich der Seelsorgehelfer im Unterschied zum Anstaltsseelsorger nicht in einem Dienstverhältnis zur Justizbehörde befindet, sondern von außen kommt. Es handelt sich hierbei um Mitarbeiter der betreffenden Kirche mit ausreichender Qualifikation, die im Gesamtbereich der Anstaltsseelsorge (evtl. mit individuellen Schwerpunkten) in Absprache mit dem Anstaltsseelsorger tätig sind. Die Berufung erfolgt auf Vorschlag des Seelsorgers mit Zustimmung des Anstaltsleiters durch die Kirche unter förmlicher Zuordnung zum Anstaltsseelsorger. Pflichten und Rechte des freien Seelsorgehelfers entsprechen gemäß dieser Einbindung in den kirchlichen Bereich denen des im Hauptamt bestellten bzw. vertraglich verpflichteten Seelsorgers unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er ihm zugeordnet ist (vgl. zum Ganzen Heusel ZfStrVo 1981, 364 ff; zum Schweigerecht s. Rdn. 21). e) Ein subjektives Recht von einzelnen Kirchenangehörigen auf Beteiligung an der Seel- 11 sorge unabhängig vom Anstaltsgeistlichen besteht nach § 157 nicht (vgl. Pirson 1989, 32). Mitglieder der Religionsgemeinschaften können gem. § 154 Abs. 2 als ehrenamtliche Mitarbeiter (Vollzugshelfer) mit der Vollzugsanstalt und dem hier tätigen Seelsorger zusammenarbeiten. Die näheren Bestimmungen sind in Verwaltungsvorschriften der Länder geregelt (s. die Loseblattsammlung von Rassow 1976). Auf das Recht zur seelsorgerlichen Verschwiegenheit können sie – anders als die Seelsorgehelfer (Rdn. 10) – sich nicht berufen (vgl. Rdn. 21). f) Die Zusammenarbeit des Seelsorgers mit den vielfältigen Arbeitszweigen und Dienst- 12 stellen der Kirche und ihrer Diakonie, z. B. mit kirchlichen Sozialarbeitern, mit den Fachkräften kirchlicher Jugend-, Ehe- und Familienberatungsstellen, der Suchtkrankenhilfe, mit Mitarbeitern kirchlicher Bildungseinrichtungen ist nach § 154 Abs. 2 möglich. 2. Die Sonderstellung, die der Seelsorger innerhalb der Vollzugsanstalt einnimmt, 13 entspricht der staatskirchenrechtlichen „Doppelstellung“ (C/MD 2008 Rdn. 2). Selbst wenn er in einem staatlichen Dienstverhältnis steht, ist er stets durch die Ordination an den Auftrag der Kirche bzw. durch eine adäquate Verpflichtung an den einer Religionsgemeinschaft gebunden und hat pastorale Aufgaben zu erfüllen. Der Anstaltsleiter kann dem Geistlichen für Verkündigung und Seelsorge keine Weisungen erteilen und hat auch nicht das Recht, den Seelsorger gegen kirchliches Selbstverständnis von Seelsorge zur Mitwirkung im Vollzug zu veranlassen (Kirchenkanzlei 1979, 18). Dem steht die Auskunftspflicht des Seelsorgers
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gegenüber dem Anstaltsleiter in fachlichen Angelegenheiten seines Dienstes (VV zu § 156 Nr. 2 Abs. 2) nicht entgegen. Sie bezieht sich nicht auf Angelegenheiten, die unter die Schweigeverpflichtung des Seelsorgers (Rdn. 21, 22) fallen. Die umfassende Verantwortung des Anstaltsleiters für den gesamten Vollzug (§ 156 Abs. 2) kann er hinsichtlich der Seelsorge nur als Rechtsaufsicht in Gestalt einer allgemeinen Aufsicht über die Dienstführung bezüglich der Einhaltung der Sicherheits- und Ordnungsvorschriften ausüben (Walter 1999 Rdn. 193). Folge dieser Sonderstellung ist die Rundverfügung der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt/M vom 7.12.1983 (Geschäftszeichen 410-476) aufgrund des Erlasses des Hessischen Ministers der Justiz vom 17.11.1983 (4104-III/2-825/83). So wurden die nachgeordneten Staatsanwaltschaften gebeten, bei Zwangsmaßnahmen im Rahmen von Ermittlungsverfahren gegen Geistliche mit der gebotenen Behutsamkeit vorzugehen. Dazu gehört zum Beispiel, dass der ermittelnde Staatsanwalt selbst (und nicht die Kriminalpolizei allein) die Vollstreckung eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses, der sich auf die Dienst- und Wohnräume des Beschuldigten bezieht, leitet. Dazu kann auch gehören, dass dem Beschuldigten, der von einer solchen Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung betroffen ist, Gelegenheit gegeben wird, sich zu Beginn mit seiner kirchlichen Dienststelle in Verbindung zu setzen. Den Vertretern der Kirchenbehörde kann anschließend auch gestattet werden, bei der Durchführung der Durchsuchung anwesend zu sein, selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass der Durchsuchungszweck nicht gefährdet wird. 14 Der Seelsorger gehört auf der anderen Seite zum Kreis der Vollzugsbediensteten (§ 155 Abs. 2), unabhängig davon, in welchem Anstellungsverhältnis er zur Vollzugsanstalt steht. Er ist verpflichtet, mit den anderen Vollzugsbediensteten zusammenzuarbeiten und daran mitzuwirken, die Aufgaben des Vollzuges zu erfüllen (§ 154 Abs. 1). Das schließt ihn an den Informations- und Interaktionskreislauf in der Vollzugsanstalt an und beinhaltet auch die Teilnahme an Konferenzen (Kirchenkanzlei 1979, 18). So ist die Anstaltspfarrerin oder der Anstaltspfarrer insbesondere unverzüglich über besondere Vorkommnisse (z. B. Selbstmordversuch; Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum pp.) zu informieren (so z. B. Ziff. 6d der Dienstordnung für die evangelischen und katholischen Anstaltspfarrer, die das Hessische Ministerium der Justiz im Einvernehmen mit den Kirchen und Bistümern erlassen hat – JMBl. 1977, 719). Er hat jedoch keine hoheitsrechtlichen Befugnisse, wenn er als Geistlicher von seiner Religionsgemeinschaft im Einvernehmen mit der Justizbehörde in die Gefängnisseelsorge berufen und damit kein Landesbeamter ist. Der Anstaltspfarrer verkörpert (nur) insofern die Vollzugsbehörde (KG NStZ 1987, 295), als der Gefangene davon ausgehen kann, dass der Seelsorger nichts im Vollzug Unerlaubtes tut (Böhm in: Konferenz der katholischen Seelsorger bei den JVA in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Seelsorge im Strafvollzug. Bd. 12, Münzenberg 1994, 28). Der Seelsorger kann erwarten, dass die Vollzugsbehörde ihn von der Aufnahme eines Angehörigen seiner Konfession durch Übermittlung eines eingeschränkten Datensatzes verständigt (Art. 136 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG, vgl. § 53 Rdn. 12), sofern der Gefangene der Weitergabe nicht widersprochen hat. Das Recht auf Übermittlung von Daten und Einsicht in die Personalakten ist für den Seelsorger auf seinen Wirkungsbereich beschränkt. Soweit personenbezogene Daten zur Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben oder, über die eigene begrenzte Zuständigkeit hinaus, für die Zusammenarbeit nach § 154 Abs. 1 erforderlich sind, hat der Seelsorger das Recht, sich diese in dem hierzu notwendigen Umfang zu verschaffen (§ 183 Abs. 1). Gefangene können diesem Recht durch Verweigerungserklärung bzw. Kirchenaustritt die Grundlage entziehen (AK-Huchting/Koch Rdn. 11) oder es auch durch Einwilligungserklärung ausdrücklich und ggf. extensiv feststellen. Gefängnisseelsorge wird sich freilich essentiell weniger an einer umfassenden Datenfülle über den Gefan-
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genen als an der Einsicht orientieren, dass ein Mensch mehr ist als die Summe seiner Taten und erst recht etwas anderes als die Summe seiner Daten (Stein ZevKR 1996, 38). Bei der Inpflichtnahme des Seelsorgers geht das StVollzG von einer gleichgerichteten 15 Zielsetzung von staatlichem Vollzug und Anstaltsseelsorge im Sinne der Resozialisierung aus; dem Geistlichen muss jedoch für seine Seelsorgepraxis Freiheit zu eigener Beurteilung bleiben (vgl. Rdn. 19, auch § 53 Rdn. 4). Die durch § 154 begründete generelle Pflicht des Seelsorgers zur Mitwirkung an den Aufgaben des Vollzugs kann im Interesse kirchlicher Selbständigkeit nur als Pflicht zur Koordination der kirchlichen mit der staatlichen Tätigkeit verstanden werden (vgl. Pirson 1989, 32). Die Seelsorge trägt auf die ihr eigene Weise bei zur Befähigung des Gefangenen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel), und sie respektiert, dass der Vollzug der Freiheitsstrafe auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten gilt (vgl. § 2). Hinsichtlich des Vollzugsziels in diesem Sinne kann der Staat davon ausgehen, dass der Seelsorger dem nicht entgegenarbeitet, auch wenn Rechtsgrundlagen, Inhalt und Grenzen der Loyalitätspflicht des Anstaltsgeistlichen nicht klar erkennbar sind (vgl. Pirson 1989, 26 ff). Zu den legitimen Aufgaben des Seelsorgers gehört die Öffentlichkeitsarbeit, etwa mit 16 der Zielsetzung der „Charta für Gefängnisseelsorger“, verabschiedet von der Internationalen Kommission der Landesvorsitzenden der katholischen Gefängnispfarrer (1985): „Er sollte dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung auf die besonderen Probleme der Gefängnisse aufmerksam gemacht wird.“ So haben auch die Empfehlungen der EKD zur Seelsorge in Justizvollzugsanstalten (Kirchenkanzlei 1979, 10 ff) und noch umfassender die Denkschrift der EKD zum Strafvollzug (Kirchenamt 1990, 40, 45 ff) den kirchlichen Auftrag deutlich gemacht, öffentlich für die Belange eines behandlungsorientierten Strafvollzugs einzutreten Auf dieser Grundlage hat auch die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland immer wieder ihre Stimme erhoben (im einzelnen Schäfer 2004, 89 ff; Böhm 2002, 34 ff). Papst Johannes Paul II hat im Rahmen des Heiligen Jahrs zur „Feier des Jubiläums in den Gefängnissen“ am 9. Juli 2000 eine entsprechende Botschaft an die Regierungen übersandt. Bei allen, insbesondere kritischen Äußerungen muss der Seelsorger die möglichen Auswirkungen auf das Vollzugsgeschehen mitbedenken (Kirchenkanzlei 1979, 10). Öffentliche Äußerungen von Anstaltsseelsorgerinnen und -seelsorgern fallen nicht immer zur Freude der Verantwortlichen in den Justizvollzugsanstalten und Landesjustizverwaltungen aus (z. B. Greifenstein Mitteilungsblatt 1999, 22, 23; zu der Vielzahl der Konflikte zwischen Anstaltsseelsorge und Anstaltsleitung bzw. Ausübung der Religionsfreiheit und Seelsorge auf der einen und staatlichen Maßnahmen auf der anderen Seite vgl. Böhm 2002, 41; Müller-Dietz NStZ 1987, 525, 526 m. w. N., z. B. auf Kleinert 1977). Im Hinblick auf die der Seelsorge garantierte Verkündigungsfreiheit und auf die in Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche enthaltene Aufgabe der Mitwirkung der Seelsorge bei der Öffentlichkeitsarbeit in Gesellschaft und Kirche erfordert die Behandlung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten besondere Sensibilität bei allen Beteiligten (Schäfer 2004, 90, 91). 3. Zur Tätigkeit des Seelsorgers haben einige Bundesländer mit den Kirchen Verein- 17 barungen (vgl. Vor § 53 Rdn. 6) abgeschlossen, die Einzelheiten und wesentliche Aufgaben der Seelsorge (§ 53 Rdn. 3) auflisten (z. B. Berlin, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen). a) Bei dem umfassenden Verständnis von Seelsorge (s. § 53 Rdn. 2 und 3; § 54 Rdn. 14– 18 16) und selbst bei formaler Trennung von – theologisch als Einheit verstandenem – seelsorgerlichem und diakonischem Handeln kann man nicht von „berufsfremden“ Aufgaben des Seelsorgers sprechen, wenn seine Tätigkeit in der Praxis sich mit der anderer Berufsgruppen in der Vollzugsanstalt berührt oder überschneidet (Goudsmit Delinquenz und Ge-
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sellschaft, Göttingen 1986, 202 ff). Der Seelsorger muss jedoch seine eigene Rolle und Tätigkeit transparent machen (können), und zwar einschließlich der Frage, welches der eigene Beitrag der Seelsorge bei der Mitwirkung an der Erfüllung von Vollzugsaufgaben ist. Undeutlichkeit und Unsicherheit wirken sich hier konfliktfördernd aus; dagegen wird eine klare, eindeutige Beschreibung der Seelsorgetätigkeit Konflikte auf das sachlich notwendige Maß beschränken. Ganz problemlos wird das Verhältnis zwischen Seelsorge und Vollzug nicht sein können, weil sich der Seelsorger zu Recht an der Seite gerade des Gefangenen steht, der auch in der Anstalt Außenseiter ist, und dadurch zu Missverständnissen Anlass bietet (Böhm 2003 Rdn. 102). Es gehört zu den Aufgaben beider Seiten, Seelsorger wie Vollzugsmitarbeiter, diese Spannungen als von der Aufgabenstellung her notwendig zu verstehen und immer wieder nach Wegen zu suchen, konstruktiv mit ihnen umzugehen (Kirchenamt 1990, 95).
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b) Der eigene Beitrag der Seelsorge zu dem vom StVollzG geforderten behandlungsorientierten Vollzug darf sich nicht in (negativen) Abgrenzungen erschöpfen. Dass Gefängnisseelsorge sich nicht mit dem Strafgeschehen identifiziert, jedoch hilft, es zu verarbeiten, und den Behandlungsvollzug bejaht, ohne in ihm aufzugehen (Kirchenkanzlei 1979, 12 und 14), muss in der Praxis positiv und verstehbar gefüllt werden. Geht es Seelsorge um das Heilwerden (Stubbe in: Diestel/Rassow/Schäfer/Stubbe 1980, 166), kann der Seelsorger das in der Vollzugsanstalt etwa dadurch deutlich machen, dass er bei Gefangenen wie Vollzugsbediensteten die Fragestellung nach Lebenssinn, Werten und Verantwortlichkeit offen hält, ihnen die Gewissheit gibt, als Person angenommen zu sein, und Gemeinschaft zwischen ihnen in unterschiedlichen Formen modellhaft anbietet und herstellt.
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c) Der Seelsorger kann sich hierbei in der Regel auf ein besonderes Maß an Vertrauen stützen, das in seiner von den übrigen Vollzugsbediensteten unterschiedlichen Stellung und seiner berufsbezogenen Schweigepflicht begründet ist. Diesen Vertrauensbonus muss der Seelsorger aber in seiner täglichen Praxis einlösen. So wird er z. B. zu überlegen haben, ob er sich nach seinem Seelsorgeverständnis an personalen Vollzugsentscheidungen beteiligt, etwa inwieweit er an Konferenzen gem. § 159 mitarbeitet. Es liegt zwar nahe, das Urteil des Seelsorgers für die Entscheidungsfindung nutzbar zu machen. Gleichwohl könnte dadurch für den Seelsorger eine nicht unproblematische Akzentverschiebung in seiner seelsorgerlichen Funktion durch Beeinträchtigung seiner Vertrauensstellung eintreten. Denn es ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das effektive Wirken im Sinne des kirchlichen Auftrags, dass sich der Seelsorger trotz jener erwünschten Mitwirkung eine Position erhalten kann, die seine Eigenschaft als unabhängiger Sachwalter innerhalb des Systems glaubhaft macht und erhält (Pirson 1989, 28 f). Vertragliche Vereinbarungen über die Mitwirkungspflicht des Seelsorgers bei der Persönlichkeitserforschung der Gefangenen sind rechtlich problematisch, sofern der Seelsorger dabei Angelegenheiten preisgeben müsste, die ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden sind; im Rechtssinn unbedenklich können sie lediglich als eine Erlaubnis verstanden werden.
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4. Die singuläre Rechtsposition des Seelsorgers innerhalb des Vollzugspersonals drückt sich auch in seinem Schweigerecht (vgl. § 53 Rdn. 9, 19 und § 54 Rdn. 23–24) aus. Der Seelsorger ist nach kirchenrechtlichen Vorschriften verpflichtet, das Beicht- und Seelsorgegeheimnis zu wahren. Das staatliche Recht räumt dem Geistlichen ein Zeugnisverweigerungsrecht über das ein, was ihm in seiner Eigenschaft „als Seelsorger“ anvertraut oder bekannt geworden ist (vgl. § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO; § 139 Abs. 2 StGB; § 383 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Dagegen fällt nicht unter dieses Recht, was er etwa in ausschließlich administrativer, karitativer, erzieherischer oder fürsorgerischer Tätigkeit erfährt (BGH 15.11.2006 – StB 15/06; LR-Dahs § 53 Rdn. 20–26; vgl. Stein ZevKR 1974, 138 ff; ders. ZevKR 1998, 387 ff). Im Zwei-
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felsfall kommt der Gewissensentscheidung des Seelsorgers für die Zeugnisverweigerung wesentliche Bedeutung bei der Beurteilung zu (BGHSt 37, 138, 140; BGH NJW 1990, 3283). Nach überwiegender Meinung fallen Diakone, Gemeindereferenten und Pastoralreferenten unter den Begriff des Geistlichen gem. § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO, sofern ihr kirchlicher Auftrag das Seelsorgegespräch einschließt (vgl. Ling GA 2001, 325). Ausschlaggebend ist, dass im Rahmen der (hauptamtlichen) Tätigkeit als Anstaltsseelsorger im Auftrag der Kirche selbständig Aufgaben wahrgenommen werden, die zum unmittelbaren Bereich der seelsorgerischer Tätigkeit gehören. Dazu gehört nicht die Recherche von Internetadressen von Versicherungen für einen Gefangenen (BVerfG ZevKR 2007, 221 ff; BGH vom 15.11.2006 unter Bestätigung einer Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 19.9.2006 – III-VI 10/05). Dagegen haben Seelsorgehelfer als „Gehilfen“ des Geistlichen nur ein abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53a StPO; vgl. Stein ZevKR 1976, 418 ff), ehrenamtliche Mitarbeiter gem. § 154 Abs. 2 Satz 2 jedoch nicht. Neben der allgemeinen staatlichen Regelung der Strafprozessordnung enthalten zahlreiche, insbesondere die neueren, Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche (vgl. Vor § 53 Rdn. 6) die Garantie des seelsorgerlichen Schweigerechts. Von der Offenbarungspflicht gegenüber dem Anstaltsleiter gem. § 182 Abs. 2 Satz 2 werden die Seelsorger nicht erfasst (vgl. § 182 Rdn. 6). Bei extrem gelagerten Ausnahmefällen (Beispiel s. Arloth 2008 § 182 Rdn. 4) kann sich die Frage nach möglichen Grenzen seelsorgerlichen Schweigens stellen (hierzu Stein Evangelisches Kirchenrecht, 3. Aufl. Neuwied/Kriftel/Berlin 1992, 72 f; Rassow ZfStrVo 1988, 128; Lies Reader Gefängnisseelsorge 2/1994, 13). Der Geistliche muss – soweit nicht das Kirchenrecht, wie das katholische in seinem kategorischen Schweigebefehl, keinen Raum für Ausnahmen in Grenzfällen lässt – im Einzelfall entscheiden, ob im Rahmen der Seelsorge bekannt gewordene Tatsachen unter keinen Umständen offenbart werden dürfen oder ob und in welchem Maße er, unter Abwägung aller Gesichtspunkte und ohne dass dabei der Seelsorgebefohlene hintergangen oder geschädigt wird, sein Wissen offenbart. Verletzt er bei einer solchen Offenbarung seine Verschwiegenheitspflicht nach dem Pfarrerdienstgesetz, kommen disziplinarrechtliche Maßnahmen der Kirche in Betracht. Wegen seines Schweigerechts gehört der Seelsorger zu dem Personenkreis, bei deren dienstlichen Telefongesprächen eine Aufzeichnung/Speicherung der Rufnummer des angewählten Teilnehmers durch die Vollzugsanstalt unterbleiben muss (vgl. auch BAG NJW 1987, 1509). Das Seelsorgegeheimnis wäre auch verletzt, wenn im Rahmen einer allgemeinen Anstaltsregelung zur Durchführung von Telefonaten mit Kartentelefonen Anstaltsseelsorgerinnen und -seelsorger verpflichtet würden, bei über die Regelzahl hinausgehenden Telefonaten eine Begründung mit Angabe der Rufnummer zu liefern. Es reicht aus, dass die Anstaltsseelsorge darauf verweist, dass das Gespräch aus seelsorgerlichen Gründen geboten erscheint. Der seelsorgerlichen Verschwiegenheit kommt in der Vollzugsanstalt besondere Be- 22 deutung zu. Gerade für Menschen, die oft nicht in stabilen vertrauenswürdigen Verhältnissen leben und sich gegenwärtig in einer Situation befinden, wo scheinbar alle gegen sie sind, hilft sie mit ihrer Schutzfunktion, sich aussprechen und anvertrauen zu können. Das kann auch der Aufgeschlossenheit dienen, zu größerer Kommunikationsfähigkeit führen und der Abgeschlossenheit entgegenwirken, also ein Beitrag zur Gesundung und Sozialisation sein (vgl. Dobbelaer in: Rassow (Hrsg.), Seelsorgerliche Verschwiegenheit – Chance und Last des Gefängnispfarrers, Hannover 1982, 12, 16). Begründen Schweigerecht und Schweigepflicht des Seelsorgers auf der einen Seite Vertrauen, muss andererseits auch gesehen werden, dass sie seiner Einbindung in das Team der Fachdienste und einer vorbehaltlosen Mitwirkung in Vollzugsangelegenheiten Grenzen setzen (Rdn. 20). Eine Einbeziehung des Seelsorgers in ein alle Vollzugsbedienstete umfassendes Perso- 23 nensicherungssystem kann seine Vertrauensstellung in der Anstalt gefährden. Das Tragen
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eines Personenschutzgerätes, das technisch ohne Zutun und Wissen der Person, die das Gerät bei sich hat, ein Mithören und Aufzeichnen von Gesprächen erlaubt, ist geeignet, hinsichtlich der Schweigepficht des Seelsorgers eine Misstrauenssituation zu schaffen. Wird der Seelsorger nicht vom Tragen des Gerätes ausgenommen, erfordert die zentrale Bedeutung des Seelsorgegespräches (s. § 53 Rdn. 9) Vorkehrungen, die deutlich ausschließen, dass das Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen durch Maßnahmen akustischer Überwachung unterlaufen werden kann. Denn „für die Tätigkeit des Anstaltsseelsorgers ist die Garantie seines Rechts zu schweigen unverzichtbar“ (Eick-Wildgans 1993, 210).
III. Beispiel 24
Ein Gefangener ist von einem ihm gewährten Urlaub nicht in die Vollzugsanstalt zurückgekehrt. Mitgefangene lassen den Anstaltsleiter wissen, dass er in der letzten Zeit Pläne zu einer neuen Straftat geäußert habe. Um diesem Verdacht nachzugehen, wird eine Durchsuchung des Haftraums durchgeführt und dabei auch ein an den Anstaltsgeistlichen adressierter verschlossener Brief gefunden. Er wird sofort geöffnet und am nächsten Tag dem Pfarrer mit einer entsprechenden Erklärung unter Hinweis auf die in der Vollzugsanstalt allgemein übliche Überwachung des Briefverkehrs ausgehändigt. Der Seelsorger sieht in der Öffnung des an ihn gerichteten Briefes eine Verletzung seines Schweigerechts. Jegliche Form einer Mitteilung, die der Gefangene dem Pfarrer in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraue, unterliege dem Seelsorgegeheimnis. Wenn man ihn telefonisch benachrichtigt hätte, wäre er ungesäumt in die Anstalt gekommen, um den Brief zu öffnen und dann selbst zu entscheiden, ob sein Inhalt unter die seelsorgerliche Verschwiegenheit falle. Die Aufsichtsbehörde nimmt den Einzelfall später zum Anlass folgender Feststellungen: – Für eine Überwachung des Inhalts eines anstaltsinternen Briefes an den Seelsorger gibt es keine Rechtsgrundlage. – Der Seelsorger hat als Vollzugsbediensteter (§ 155 Abs. 2) die Pflicht zur Prüfung, ob die briefliche Mitteilung unter das Seelsorgegeheimnis fällt. Dabei ist die Aussage des Geistlichen regelmäßig zu respektieren. Bereits das Reichsgericht war der Auffassung (RGSt 54, 39, 40), dass für den Geistlichen schon der Hinweis auf sein Amt genügt. – Betrifft der Briefinhalt nicht die seelsorgerliche Schweigepflicht und enthält er wesentliche vollzugserhebliche Mitteilungen, sind diese dem Anstaltsleiter zur Kenntnis zu bringen. Probleme könnten sich ergeben, wenn Briefe oder Pakete in der JVA eingehen, die an die Anstaltsseelsorgerin oder den -seelsorger adressiert, erkennbar aber für einen Gefangenen bestimmt sind. Auch in diesen Fällen dürfte es im Sinne der Wahrung eines Seelsorgegeheimnisses liegen, die Frage der Kontrolle von Brief oder Paket im Einvernehmen mit der Seelsorgerin oder dem Seelsorger zu klären.
IV. Landesgesetze 1. Bayern
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Art. 178 BayStVollzG entspricht in den Abs. 1–3 inhaltlich (redaktionell wird in Abs. 3 die geschlechtergerechte Vorschriftensprache verwandt) § 157 StVollzG. In einem Abs. 4 werden beispielhaft („insbesondere“) die Aufgaben der Seelsorger gesetzlich formuliert, die bisher wie auch in den übrigen Bundesländern in Verwaltungsvorschriften (oder in Vereinbarungen mit den Kirchen und Bistümern) geregelt waren.
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Ärztliche Versorgung
2. Hamburg § 106 HmbStVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen (geschlechtergerechte 26 Vorschriftensprache und Anpassungen in Abs. 3) § 157 StVollzG. 3. Niedersachsen § 179 NJVollzG übernimmt bis auf redaktionelle Änderungen in den Abs. 1 und 3 27 (geschlechtergerechte Vorschriftensprache) im Wesentlichen die Regelungen von § 157 StVollzG.
§ 158 Ärztliche Versorgung (1) Die ärztliche Versorgung ist durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen. Sie kann aus besonderen Gründen nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden. (2) Die Pflege der Kranken soll von Personen ausgeübt werden, die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Solange Personen im Sinne von Satz 1 nicht zur Verfügung stehen, können auch Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden, die eine sonstige Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben. Schrifttum: Feest Rechtliche Grundlagen, in: Keppler/Stöver (Hrsg.) Gefängnismedizin, Stuttgart 2009, 29–43; Handke/Lehmann Jugendvollzug, in Keppler/Stöver 2009 aaO, 138–143; Hillenkanp Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.) Intramurale Medizin, Heidelberg. 2005, 11–30; Keppler Besonderheiten der Anstaltsmedizin, in: Deutsche AIDS-Hilfe (Hg.) Betreuung im Strafvollzug. Ein Handbuch, Berlin. 2008, 46–70; Keppler Überlegungen zu einem Curriculum für die ärztliche Arbeit im Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 305–310; Lehmann Medizinische Dokumentation im deutschen Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 272–276; Meier Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprimzip und Ressourcenknappheit, in: Hillenkamp/Tag 2005 aaO, 35–55; Neumann Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes, Hamburg 2004; Neumann Strafrechtliche Risiken für den Anstaltsarzt, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 44–48; Pont Ethische Grundlagen, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 20–28; Weyl Krankenpflege im Justizvollzug, in: Keppler/Stöver 2009 aaO, 91–95.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Die „Bifunktionalität“ des Arztes 2. Die Personalsituation im ärztlichen Bereich . . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Der Arzt . . . . . . . . . . . . 2. Der Sanitätsbedienstete . . . .
.
1–2 1
. . . .
2 3–7 3–6 7
Rdn. III. Beispiel: Die Sprechstunde IV. Landesgesetze . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . .
Wolfgang Riekenbrauck/Karlheinz Keppler
. . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. 8–10 . 11–13 . 11 . 12 . 13
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die „Bifunktionalität“ des Arztes Im inneren Aufbau einer Justizvollzugsanstalt spielt sich die Tätigkeit eines Anstaltsarztes in einem organisatorisch abgegrenzten Bereich ab. Sie unterscheidet sich dadurch erheblich von der Tätigkeit anderer Fachdienste, z. B. Psychologen, Sozialarbeitern und Pädagogen, die je nach Erfordernis in Bereichen oder Abteilungen des Vollzuges tätig werden (z. T. als Vollzugsabteilungsleiter) und so mehr in das allgemeine Vollzugsgeschehen eingebettet sind. Der Anstaltsarzt wird dagegen entweder im Medizinbereich der Anstalt oder in einer besonderen Krankeneinrichtung des Vollzuges (z. B. Anstaltskrankenhaus) tätig. Der Gesetzgeber trägt zudem der ärztlichen Versorgung im inneren Aufbau der Justizvollzugsanstalt durch eine besondere gesetzliche Regelung Rechnung. Daher formuliert Kerner: „Der Einfluss des Arztes ist relativ groß, da er eine nahezu autonome Stellung hat und vom Anstaltsleiter, jedenfalls in medizinischen Fragen, unabhängig ist“ (K/K/S-Kerner 1992 § 16 Rdn. 40). Dennoch bleibt die Rolle des Anstaltsarztes labil, da er sich in einem ausschließlich vollzuglich und rechtlich ausgestalteten Raum bewegt, nur begrenzte Rechtskenntnisse hat und als Einzelperson dem gesamten hierarchisch gegliederten Aufbau einer Justizvollzugsanstalt gegenübersteht. Als Verhaltenstechnik des Arztes beschreibt Walter zwei gegensätzliche, nicht optimale Varianten, nämlich die Überidentifikation mit der Justiz und auf der anderen Seite die reine Absicherungs- und Rückversicherungsmedizin (Walter 1999 Rdn. 232). Beides, sowohl die Überidentifikation als auch die Absicherungsmedizin, sind im Grunde vollzugsorientierte Verhaltensweisen. Die Patientenorientierung ist hier völlig außer Acht gelassen. Der Anstaltsarzt steht aber zwischen den Polen Vollzugsund Patientenorientierung. Insofern hat er die Möglichkeit primär vollzugsorientiert und sekundär patientenorientiert oder primär patientenorientiert und sekundär vollzugsorientiert zu arbeiten. Unbestritten ist mittlerweile das Primat der Medizin (Keppler 2008, Hillenkanp 2005, Feest 2009, Pont 2009 und viele andere): also primär patientenorientiert zu arbeiten und sekundär die vollzuglichen Belange nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichwohl ist und bleibt die „Bifunktionalität“ (Hillenkamp 2005, 23) einer der Grundsätze wenn nicht sogar Dilemmata der vollzugsärztlichen Tätigkeit.
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2. Die Personalsituation im ärztlichen Bereich Aufgrund des Vergleiches der Zahl der Anstaltsärzte und der Zahl der Ärzte im allgemeinen Gesundheitswesen ergibt sich die Einschätzung, dass die ärztliche Versorgung im Strafvollzug nicht schlechter ist als in der Bevölkerung (Meier 2005). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Ärzte im Vollzug neben der medizinischen Versorgung für eine Reihe anderer Tätigkeiten zuständig sind, was bedeutet, dass im Strafvollzug ein höherer Bedarf an Ärzten besteht als im allgemeinen Gesundheitswesen. Die aus Stellenplanübersichten entnommenen Zahlen und Berechnungen (vgl. etwa Walter 1999 Rdn. 195 und 196; Meier 2009) erfassen die tatsächliche Versorgung nur unvollständig. Nicht alle vorhandenen Stellen können besetzt werden. Auf der anderen Seite wird die ärztliche Versorgung in weitem, von Land zu Land unterschiedlichem Umfang durch nebenamtliche oder vertraglich gebundene Ärzte sichergestellt (was nicht unproblematisch ist: Rdn. 3; Böhm 2003 Rdn. 100). Unter den Insassen der JVAen sind zwar ältere Menschen, die üblicherweise ärztliche Hilfe in besonders starkem Umfang in Anspruch nehmen, weniger vertreten, dennoch sind die Insassen im Durchschnitt stärker mit Krankheiten belastet, also deutlich kranker als die nicht inhaftierte Bevölkerung. Wider Erwarten gilt das sogar für den Jugendvollzug (Handke/Lehmann 2009). Die nachgewiesen höheren Erkrankungshäufigkeiten für Sucht-
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Ärztliche Versorgung
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erkrankungen, Hepatitis- und HIV-Infektionen, Tuberkulose und psychiatrische Erkrankungen sind Beispiele dafür. Hinzu kommen Verwahrlosungsphänomene, falsche Ernährung, Nikotin. Bisher existieren keine breiten oder gar umfassenden Diagnosenstatistiken. Das wird sich in Zukunft mit der Einführung der elektronischen Gesundheitsakte (Lehmann 2009) ändern.
II. Erläuterungen 3
1. Der Arzt
Die Bestimmung schreibt vor, dass die ärztliche Versorgung durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen ist. Es kann sich dabei sowohl um beamtete als auch um angestellte Ärzte handeln. Die Verpflichtung nebenamtlich oder vertraglich gebundener Ärzte soll eigentlich nur in Sonderfällen erfolgen (Abs. 1 Satz 2). Aufgrund der Schwierigkeit, Ärzte für den Dienst in JVAen zu gewinnen, nimmt diese Ausnahmeregelung aber immer breiteren Raum ein. Ein Curriculum für neue Ärzte im Justizvollzug wäre in vielerlei Hinsicht hilfreich, um bei der „Bifunktionalität“ die nötige Klarheit zu schaffen, die Abgrenzung vom Vollzug zu ermöglichen und das Primat der Medizin umzusetzen. Zudem würde es grundsätzlich helfen, durch die „Pflege“ des Mitarbeiters und die erlangte Verhaltenssicherheit den Beruf Anstaltsarzt attraktiver und den Arzt zufriedener zu machen (vgl. Keppler 2009). Die hauptamtliche Tätigkeit des Anstaltsarztes erscheint wegen seiner zentralen allge- 4 mein sozialen Dienstfunktion im Justizvollzug erforderlich, da er nach § 2 einen besonderen Behandlungsauftrag hat (C/MD 2008 Rdn. 1). Diese Forderung findet sich immer dann besonders bestätigt, wenn größere Justizvollzugsanstalten Vertragsärzte verpflichten. Da diese ihre Tätigkeit für die Justizvollzugsanstalten im Nebenberuf ausüben, ist zwar die ärztliche Versorgung der Gefangenen gewährleistet, soweit sie sich eng begrenzt auf Gesundheitsfürsorge und insbesondere Krankenpflege bezieht. Zusätzliche Belange des Behandlungsvollzuges wie Mitwirkung des Arztes in Konferenzen, hygienische Überwachung, Überwachung des Essens, Mitarbeit in Behandlungsabteilungen mit sozialtherapeutischem Charakter, enge Zusammenarbeit mit anderen Fachdiensten im Hinblick auf Persönlichkeitserforschung des Gefangenen und besondere Behandlungsaufgaben müssen in der Regel aus Zeitmangel unterbleiben. Auch die Übernahme von Verwaltungsaufgaben gestaltet sich ebenso problematisch wie die Zusammenarbeit mit dem bzw. die Abgrenzung vom Vollzug. Nicht problematisch dagegen ist die Verpflichtung von vertraglich gebundenen Fachärzten, da diese einen speziellen Wirkungsbereich haben. Nicht möglich ist die Beschäftigung eines Strafgefangenen in seinem erlernten Beruf als 5 Arzt oder Zahnarzt (Hoffmann Jura 2001, 618). Das OLG Nürnberg (NStZ 1981, 200) weist zutreffend darauf hin, dass nur bei hauptamtlichen oder vertraglich gebundenen Ärzten z. B. klare haftungsrechtliche Verhältnisse bestehen und eine Ausnutzung durch Mitgefangene bezüglich des Einsichtsrechtes in Gesundheitsakten ausgeschlossen ist (s. hierzu auch § 56 Rdn. 26–28). Nach der Berufsordnung der Ärztekammer hat ein Anstaltsarzt über das, was ihm in 6 seiner Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist, zu schweigen. Auch im innerbehördlichen Verkehr besteht die ärztliche Schweigepflicht weiter (§ 182 Abs. 2 Satz 1). Aus der Gesamtverantwortung der Vollzugsbehörde für die gesundheitliche Betreuung der Strafgefangenen kann im Einzelfall ein Recht des Arztes zur Offenlegung der Tatsachen folgcn, die ihm bei der Behandlung der Strafgefangenen bekannt geworden oder anvertraut worden sind (OLG Karlsruhe NStZ 1994, 378 = ZfStrVo 1993, 246 ff; vgl. § 182 Abs. 2 Satz 3; § 182 Rdn. 12–14).
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In der Praxis entwickeln sich nicht selten Konflikte bzgl. des Ausmaßes der Informationsweitergabe. Die Formulierung in der Rechtsprechung, dass der Anstaltsleiter diejenigen Informationen erhält, die für seine Verantwortungswahrnehmung unerlässlich sind, lässt Ermessenspielräume. Gesetzlich verankert (§ 156 Abs. 2 StVollzG) trägt der Anstaltsleiter zwar „die Verantwortung für den gesamten Vollzug,“, allerdings nur „soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verantwortung anderer . . . übertragen sind.“ Da die Medizin im Vollzug sicher das klassische Beispiel für diese bestimmten, anderen übertragenen Aufgabenbereiche ist, trägt der Anstaltsleiter hier keine Verantwortung. Zudem hat er hier keine Anordnungsbefugnis. Der Arzt versucht vernünftigerweise den Informationsgrad im Interesse eines ungestörten Arzt-Patienten-Verhältnisses, kleiner zu halten (s. auch § 56 Rdn. 8). Zudem versucht er so auch seine strafrechtlichen Risiken zu minimieren (vgl. Neumann 2004 und 2009), sodass es also nicht nur um eine rechtliche Absicherung des Arztes zum Zwecke der Offenlegung eines Geheimnisses nach § 203 StGB und § 182 StVollzG geht.
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2. Der Sanitätsbedienstete Der Anstaltsarzt wird bei seiner Tätigkeit durch Sanitätsbedienstete unterstützt (vgl. auch §58 Rdn. 6). Nach den in Abs. 2 festgelegten Bestimmungen sollen die zur Krankenpflege eingesetzten Personen bei Ausübung ihrer Tätigkeit im Besitz einer Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz sein. Es handelt sich hierbei um eine Sollbestimmung, da der Gesetzgeber wusste, dass diese Forderung nicht kurzfristig umgesetzt werden konnte (finanzielle Gründe, mangelndes Angebot auf dem Arbeitsmarkt). Er hat daher bestimmt, dass auch Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden können, die eine sonstige Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben. Aus Sicht medizinischer Fachleute aus dem ärztlichen und pflegewissenschaftlichen Bereich ist dies ein Anachronismus. Angesichts des Zwangsverhältnisses und der tatsächlich geforderten Fähigkeiten (vgl. Weyl 2009) müsste die fachliche Qualität des Krankenpflegepersonals eigentlich überdurchschnittlich sein. Das Problem im Sinne des Gesetzes qualifiziertes Krankenpflegepersonal für den Dienst im Justizvollzug zu gewinnen, besteht auch aktuell fort. Der im Gesetz genannte Begriff „sonstige Ausbildung in der Krankenpflege“ ist zumindest unglücklich. Die Ausbildungen in der Krankenpflege sind im Krankenpflegegesetz und in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (= KrPflAPrV) normiert. Die einzigen Berufe, die das Krankenpflegegesetz und die KrPflAPrV kennen, sind Gesundheits-/Krankenpflegerinnen, Gesundheits-/Krankenpfleger, Kindergesundheits-/Kinderkrankenpflegerinnen oder Kindergesundheits-/Kinderkrankenpfleger. Vom Gesetzgeber offensichtlich gemeint und in der Realität auch eingesetzt sind Mitarbeiter mit sonstigen Ausbildungen im medizinischen Bereich: Arzthelferin, Medizinisch-technische Assistenten, Physiotherapeuten, Rettungssanitäter/-assistenten etc. Auf solche Mitarbeiter mit sonstigen medizinischen Ausbildungen wird vermehrt zurückgegriffen, da es zunehmend schwer fällt, auch auf dem Hintergrund der neuen Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst, qualifiziertes Krankenpflegepersonal für den Dienst in JVAen zu gewinnen.
III. Beispiel 8
Die Sprechstunde Der in der ärztlichen Ambulanz eingesetzte Sanitätsbeamte wird bereits vor Beginn der eigentlichen anstaltsärztlichen Sprechstunde tätig. Er bestellt Patienten ein, die sich in die Sprechstunde gemeldet haben und legt die Gesundheitsakten für den Arzt bereit. Beginnt
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die Sprechstunde, so ruft der Sanitätsbedienstete die Patienten auf, ist in der Sprechstunde präsent und nimmt die Behandlungsanweisungen des Arztes entgegen. Er gibt z. B. Medikamente aus, legt Verbände an, händigt den Gefangenen Behandlungskarten für später erfolgende Maßnahmen aus – so für Bestrahlungen, medizinische Bäder, Massagen oder Inhalationen – und führt die Krankenstatistik. Er hat auch dafür Sorge zu tragen, dass längerfristig durch den Arzt verordnete Medikamente notiert und verabreicht werden und ist für Apothekenbestellungen verantwortlich. Sind ihm beispielsweise aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst zusätzliche Informationen über den Patienten bekannt, so teilt er sie dem Arzt mit. Durch ihn erfährt der Arzt z. B., dass ein an Krücken gehender, schmerzgepeinigter Patient auf der Station ein völlig normales Bewegungsmuster zeigt oder dass ein anderer Gefangener, der anführt, die ihm zugewiesene Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht ausführen zu können, seine Arbeitsstellen in den letzten Monaten schon mehrmals gewechselt hat. Bei größerem Andrang in der Sprechstunde müssen oft mehrere Sanitätsbeamte tätig werden (vgl. auch § 56 Rdn. 29). Nach Ende der Sprechstunde führt der Sanitätsbeamte oft noch viele zusätzliche Behandlungen durch. So werden banale Verletzungen, wie Hautabschürfungen, Splitterverletzungen an Fingern, Prellungen oder Verstauchungen nach sportlicher Betätigung der Gefangenen, von ihm versorgt. Häufig ist er auch erste Anlaufstelle für gesundheitliche Ängste und Nöte der Patienten, die er vielfach auch auf ihren Hafträumen aufsucht. So geht er Meldungen von Vollzugsbediensteten über gesundheitliche Auffälligkeiten bei Gefangenen nach und verständigt den Arzt, wenn sofortige oder ärztliche Hilfe notwendig ist. Häufig braucht der Sanitätsbedienstete viel Stehvermögen und Geduld (vgl. Weyl 2009), besonders wenn er nicht der Wunscherfüllung des Patienten genügen kann und mit Querulanzhaltung der Gefangenen fertig werden muss (vgl. auch § 58 Rdn. 6). Auf ärztliche Anweisung führt der Beamte auch delegierbare Behandlungen (z. B. intra- 9 muskuläre Injektionen oder Blutentnahmen) durch, nachdem der Arzt sich von der Sachkunde des Beamten überzeugt hat. Der Sanitätsbeamte handelt hierbei im Auftrag des Arztes, der auch die volle Verantwortung hierfür zu tragen hat. In jüngerer Zeit wuchs den Krankenpflegern durch die Vergabe von Methadon an Drogenkranke auf ärztliche Anweisung eine neue Verantwortung zu. Bei der Vergabe von Substitutionsmitteln handelt es sich nicht nur um die reine Abgabe. Es muss bei jeder Abgabe beurteilt werden, ob der Patient sich nicht in einer Verfassung befindet (z. B. Intoxikation), die eine Abgabe des Substitutionsmittels verbietet. In Notfällen kann der Beamte auch ohne entsprechende ärztliche Anweisung Hilfe leis- 10 ten, dabei darf er aber nicht über den Bereich des von ihm Erlernten hinausgehen und nur dann tätig werden, wenn ohne Gefahr für Leib und Leben oder Gesundheit das Eingreifen des Arztes nicht abgewartet werden kann, so z. B. bei starken Blutungen infolge von Unfallverletzungen, bei Strangulationen und allen Situationen, die lebensrettende Sofortmaßnahmen erfordern, über die er eine gute Kenntnis besitzen muss.
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 179 (Ärztliche Versorgung) BayStVollzG entspricht § 158 StVollzG. Er lautet: „(1) Die 11 ärztliche Versorgung ist durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen. Sie kann aus besonderen Gründen nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden. (2) Die Pflege der Kranken soll von Personen ausgeübt werden, die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Solange Personen im Sinn von Satz 1 nicht zur Verfü-
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gung stehen, können auch Bedienstete eingesetzt werden, die eine sonstige Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben. (3) Den Ärzten obliegt insbesondere die Gesundheitsfürsorge für die Gefangenen, die Überwachung der gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse in der Anstalt, die ärztliche Überwachung der Anstaltsverpflegung und die Durchführung von Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge. Sie wirken ferner mit bei der Behandlungsuntersuchung der Gefangenen, bei der Aufstellung, Durchführung und Änderung des Vollzugsplans, bei der Beurteilung der Gefangenen, bei der Anordnung und beim Vollzug besonderer Sicherungsmaßnahmen und von Disziplinarmaßnahmen in dem vorgesehenen Umfang sowie bei der Aus- und Fortbildung der Vollzugsbediensteten.“ Art. 179 BayStVollzG entspricht in Absatz 1 und 2 dem § 158 StVollzG. Neu ist in Abs. 3 eine detaillierte Aufgabenbeschreibung, die zuvor in der BayVV zu § 158 StVollzG fixiert war. Wie § 158 StVollzG bildet Art. 179 die Grundlage für die Organisation der ärztlichen und krankenpflegerischen Versorgung. 2. Hamburg
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Eine direkte Entsprechung zu § 158 StVollzG findet sich im HmbStVollzG nicht mehr. Vielmehr sind die ärztlichen Pflichten an verschiedenen Stellen im Gesetz geregelt (z. B. § 6 Abs. 1 Aufnahmeuntersuchung, § 24 Überwachung der Verpflegung, § 25 Abs. 4 Einkauf, §§ 57–67 Gesundheitsfürsorge, § 76 Ärztliche Überwachung bei Zwangsmaßnahmen, § 84 Zwangsmaßnahmen, § 90 Mitwirkung bei Disziplinarmaßnahmen). 3. Niedersachsen
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§ 180 (Ärztliche Versorgung) NJVollzG entspricht bis auf redaktionelle Änderungen dem § 158 StVollzG. Er lautet: „(1) Die ärztliche Versorgung ist in der Regel durch hauptberuflich in der Anstalt tätige Ärztinnen und Ärzte sicherzustellen. (2) Die Pflege der Kranken soll von Personen ausgeübt werden, die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Solange solche Personen nicht zur Verfügung stehen, können auch Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden, die anderweitig in der Krankenpflege ausgebildet sind.“ Der Satz 2 in § 158 Abs. 1 StVollzG ist weggefallen. Der intendierte Sinn (Regel: hauptberuflicher Arzt – Ausnahme: nebenamtlicher Arzt) ist aber durch die Ergänzung in § 180 Abs. 1 NJVollzG „in der Regel“ erhalten geblieben.
§ 159 Konferenzen Zur Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplanes und zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen im Vollzug führt der Anstaltsleiter Konferenzen mit an der Behandlung maßgeblich Beteiligten durch. VV Weitere Dienstbesprechungen auch mit den anderen Vollzugsbediensteten der Anstalt finden in regelmäßigen Abständen statt.
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Konferenzen
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . 1. Aufgabe der Konferenzen . . . 2. Konferenzen als Entscheidungsorgane und Beratungsorgane . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. Mitwirkender Teilnehmerkreis 2. Arten von Konferenzen . . . . 3. Behandlungskonferenz . . . . 4. Organisationskonferenz . . . .
. .
1–2 1
. . . . . .
2 3–10 3 4 5 6
Rdn. 5. Beteiligung der Gefangenen . . 6. Niederschriften . . . . . . . . 7. Dienstbesprechung mit anderen Vollzugsbediensteten . . . . . 8. Krisenstab . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . .
. .
7 8
. 9 . 10 . 11–13 . 11 . 12 . 13
I. Allgemeine Hinweise 1. Für die effektive Arbeit einer Vollzugsanstalt sind Konferenzen von großer Bedeu- 1 tung. Sie haben eine doppelte Aufgabe: einmal dienen sie der Verbesserung der Entscheidungsqualität. Die Fülle der den Mitarbeitern zur Verfügung stehenden Informationen lässt sich am ehesten in einer Konferenz zusammentragen und im Hinblick auf die zu entscheidende Frage gewichten. Zum anderen sind Konferenzen notwendig, um die harmonische Zusammenarbeit des Personals zu gewährleisten. Alle Mitarbeiter einer Vollzugsanstalt müssen über alles Wesentliche, was in der Anstalt vorgeht, wenigstens in groben Zügen unterrichtet sein. Nur wenn sie die Zusammenhänge der gemeinsamen Arbeit verstehen, können sie die Behandlung der Gefangenen – im weitesten Sinne des Wortes – mittragen und mitverantworten. Nur wenn jeder Mitarbeiter in der Lage ist, das Handeln der Anstalt im Gespräch mit Gefangenen und Außenstehenden zu vertreten, ist die Glaubwürdigkeit der Anstalt gewährleistet. Die Konferenzen haben also mit Leitung (§ 156) und mit Zusammenarbeit (§ 154) zu tun, so dass auf die Erläuterung zu diesen Bestimmungen Bezug genommen werden kann. Dagegen dienen Konferenzen nicht der Verwirklichung von Demokratie am Arbeitsplatz. Die Vollzugsanstalt ist keine Selbstverwaltungskörperschaft wie eine Gemeinde oder eine Universität. Es entspricht den verfassungsrechtlichen Grundsätzen (z. B. Art. 55 Abs. 2 LV NRW), dass das Personal der Vollzugsanstalt im Auftrag des Ressortministers als Teil der unmittelbaren Staatsverwaltung den im Parlament demokratisch gebildeten Willen in die Wirklichkeit umsetzt (§ 151 Rdn. 4). Die monokratische Verwaltungsstruktur lässt dieses Verfassungsprinzip sogar klarer hervortreten als eine auf Konferenzen beruhende Entscheidungsfindung. Doch rechtfertigt die Notwendigkeit, das Fachwissen des interdisziplinären Teams zu nutzen und die Fülle der Informationen auszuwerten, in Vollzugsanstalten gewisse Einschränkungen des hierarchischen Behördenaufbaus (Böhm 2003 Rdn. 88). 2. Die Frage, ob Konferenzen Entscheidungsorgane sein müssen und ob Beratungs- 2 konferenzen überhaupt sinnvoll arbeiten können (Sagebiel Zur Sicherung einer therapeutisch orientierten Organisationsstruktur für sozialtherapeutische Anstalten, Göttingen 1980), ist – in der Praxis noch mehr als in der Literatur – leidenschaftlich erörtert worden. Die Frage lässt sich in befriedigender Weise nicht allgemein beantworten. Die Unterschiede in den einzelnen Konferenzen, in ihrer jeweiligen Zielsetzung und in der Zahl ihrer Teilnehmer, führen zu unterschiedlichen Antworten. Konferenzen mit Entscheidungscharakter sind nach der Gesetzeslage nicht nur denkbar, sondern gelegentlich auch wichtig und funktional (Koepsel ZfStrVo 1982, 195). Konferenzen mit Beratungsfunktion erfüllen aber in vielen Fällen die Forderung, dass das Fachwissen der interdisziplinär zusammengesetzten Bediensteten und die Fülle der über sie verfügbaren Informationen für die fälligen EntBernhard Wydra
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scheidungen nutzbar gemacht werden. Rotthaus schildert eindrucksvoll, wie ein wirklich zuhörender Anstaltsleiter die Motivation von Mitarbeitern in Konferenzen nutzen kann (3. Auflage, Rdn. 2).
II. Erläuterungen 3
1. Die knappe Vorschrift enthält in der Form des beschreibenden Präsens den Gesetzesbefehl, Konferenzen durchzuführen. An diesen Konferenzen nehmen die „an der Behandlung maßgeblich Beteiligten“ teil: wahrlich eine vage Beschreibung des Teilnehmerkreises. Mit dem Wortlaut des Gesetzes wäre es deshalb zu vereinbaren, dass sich der Anstaltsleiter darauf beschränkt, die traditionellen Dienstbesprechungen mit den Beamten des höheren und des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes, den Angehörigen der Fachdienste und den Leitern des allgemeinen Vollzugsdienstes und des Werkdienstes fortzusetzen. Dem Sinn der Vorschrift aber würde es nicht entsprechen, wenn in einer Anstalt ausschließlich solche „Honoratiorenkonferenzen“ durchgeführt werden. Insbesondere die dem Gebot der Zusammenarbeit (§ 154) zugrunde liegenden Überlegungen gebieten eine breite Beteiligung aller Mitarbeiter. Unter „maßgeblich beteiligt“ ist nicht nur die „leitende“ Beteiligung zu verstehen, sondern auch die unmittelbare und ständige Mitwirkung an der Behandlung, wie sie vom allgemeinen Vollzugsdienst geleistet wird. Er ist deshalb an den Konferenzen zu beteiligen (C/MD 2008 Rdn. 2; Arloth 2008 Rdn. 1).
4
2. Das Gesetz unterscheidet – wenn auch unscharf – zwei Arten von Konferenzen, solche zur „Aufstellung und Überprüfung des Vollzugsplanes“ und andere „zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen im Vollzuge“. Der erste Typ von Konferenz hat mit der Behandlung (§ 4 Rdn. 6) der einzelnen Gefangenen zu tun (Rdn. 5). Hier ist die Bestimmung so eindeutig, dass mit Grunau/Tiesler (1982 Rdn. 4) von einer konstitutiven Bedeutung der Mitwirkung der Konferenz auszugehen ist und ein ohne Beteiligung einer Konferenz zustande gekommener Vollzugsplan an einem „wesentlichen Mangel“ leidet (KG ZfStrVo 1990, 119), ebenso seine Änderung ohne Beteiligung einer Konferenz (OLG Karlsruhe StraFo 2004, 363); unterlässt ein Anstaltsleiter die Beteiligung einer Konferenz bei Einschränkungen konkreter Einzelmaßnahmen aus dem Vollzugsplan wegen Personalknappheit, dann liegt darin ein Rechtsfehler bei der Ausübung des Anstaltsermessens (OLG Karlsruhe StraFo 2004, 362–363 = ZfStrVo 2005,125 = NStZ 2005, 53–54). Es bedarf einer gemeinsamen Beratung. Daher ist den gesetzlichen Anforderungen „nicht genügt, wenn ein Vollzugsbediensteter den Plan entwirft und die Dienstvorgesetzten sich auf eine Überprüfung des Entwurfs beschränken“ (KG NStZ 1995, 360). Marksteine der Fortschreibung des Vollzugsplanes (§ 7 Rdn. 8) sind neben der Festlegung anderer Behandlungsmaßnahmen (§ 7 Rdn. 7 ff) besonders die Entscheidungen über die im Zuge des Vollzuges möglichen Lockerungen. Beispiele für die Gefangenen mit lebenslanger Strafe nennen die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften (Nr. 4 Abs. 2 Satz 1 zu § 10; Nr. 5 Abs. 1 Satz 1 zu § 11; Nr. 7 Abs. 3 Satz 1 zu § 13). Deshalb erscheint es zweifelhaft, ob dem KG (ZfStrVo 1990, 119) auch darin zu folgen ist, dass ein selbständig gestellter Antrag auf Vollzugslockerungen ohne Beteiligung der Konferenz beschieden werden kann. Sachgemäß wäre es, einen solchen Antrag i. S. des Gefangenen in einen Antrag auf Fortschreibung des Vollzugsplanes umzudeuten, selbst wenn dieser – wie im entschiedenen Fall – anwaltlich vertreten ist. Manche Länderverwaltungsvorschriften schreiben die Beteiligung von Konferenzen in weiteren Fällen vor. Konferenzen, die sich mit Fragen der Behandlung einzelner Gefangener befassen, kann man als Behandlungs- oder als Vollzugsplankonferenzen bezeichnen. Der andere Typ von Konferenzen hat grundsätzliche Entscheidungen der Vollzugs-
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gestaltung zum Gegenstand. Die Arbeitszeit der Gefangenen, die Gestaltung der Gefangenenbesuche und ihre Überwachung, die Organisation eines Arbeitsbetriebs und der Ablauf der Freizeit der Gefangenen sind Regelungsbereiche, die das Gemeinte beispielhaft verdeutlichen können. Demgemäß kann man diese Konferenzen als Organisationskonferenzen (Rdn. 6) bezeichnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich hier die Beteiligung auf die Leiter, die Organisatoren, beschränken könne. Da organisatorische Entscheidungen sich unmittelbar auf die Basis auswirken, müssen alle Mitarbeiter auch hier Gelegenheit zur Mitwirkung an der Entscheidungsfindung haben (C/MD 2008 Rdn. 3). – Diese gesetzlichen Vorgaben für eine Konferenzverfassung sind, wie zuzugeben ist, dürftig. Weitere gesetzliche Regelungen sind jedoch kaum möglich, weil die Justizvollzugsanstalten nach Vollzugsauftrag (Freiheitsstrafe, Untersuchungshaftvollzug), Sicherheitsgrad (offener, geschlossener Vollzug), Größe, Gliederung, Behandlungsangeboten, Personalausstattung und noch weiteren Merkmalen so unterschiedlich sind, dass die erforderlichen Konferenzen sehr unterschiedlich zusammengesetzt sein müssen. Für jede Anstalt muss – gewissermaßen nach Maß – eine ihren Bedürfnissen entsprechende Konferenzverfassung entwickelt werden. 3. Behandlungskonferenz: Grundlage für die Aufstellung des Vollzugsplanes und für 5 seine Fortschreibung mit den sich anschließenden Einzelentscheidungen muss eine umfassende Sammlung der beim Personal vorhandenen Informationen über den Gefangenen sein. Aus diesem Grund kommt der in § 159 vorgesehenen gemeinsamen Beratung aller an der Behandlung eines Gefangenen maßgeblich beteiligten Personen – die nicht durch ein ausschließlich schriftliches, auf den Austausch entsprechender Aktenvermerke beschränktes Verfahren ersetzt werden darf (KG 20.2.1995 – 5 Ws 471/94 Vollz.; Arloth 2008 Rdn. 2) – große Bedeutung zu (BVerfG JR 2007, 470 = FS 2007, 39–43 = StraFo 2006, 512–514). Der allgemeine Vollzugsdienst hat dabei, weil er den Gefangenen im Alltag erlebt, einen wichtigen Beitrag zu leisten, selbstverständlich aber auch die Angehörigen der Fachdienste, soweit sie den Gefangenen kennen. Der Einzeltherapeut eines Gefangenen gehört zu den maßgeblich an der Behandlung Beteiligten; seine Nichtteilnahme an der Vollzugskonferenz führt grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit der im Vollzugsplan enthaltenen Einzelmaßnahmen (OLG Frankfurt LS 1.3.2007 – 3 Ws 1051/06). Wer dagegen den Gefangenen nicht kennt und deshalb zur Informationssammlung nicht beitragen kann, sollte an dieser Konferenz nicht beteiligt werden. Schon unter dem Gesichtspunkt der zweckmäßigen Nutzung der Arbeitskraft der Mitarbeiter sind bei Konferenzen Statisten unerwünscht. Ob die Vollzugsplankonferenzen vom Anstaltsleiter selbst geleitet werden müssen, ist fraglich (Böhm 2003 Rdn. 109 mit gewichtigen Argumenten bejahend, zumindest für die Aufstellung des Vollzugsplanes). In der Praxis stellt sich eine Leitung der Vollzugsplankonferenzen durch den Anstaltsleiter selbst häufig als Überforderung dar, etwa wenn in Regelvollzugsanstalten mit relativ kurzer Haftdauer für eine Vielzahl von Gefangenen Vollzugspläne aufzustellen und fortzuschreiben sind. Die Möglichkeit der Beauftragung eines anderen Vollzugsbediensteten gem. § 156 Abs. 2 StVollzG bejaht beiläufig OLG Hamburg (StraFo 2007, 392). Zur Sammlung von Informationen müssen sich die Konferenzen – nach Zusammensetzung und Zeitpunkt – flexibel treffen, um den im Schichtdienst tätigen Angehörigen des allgemeinen Vollzugsdienstes die Teilnahme zu ermöglichen. Die Konferenz ist gewissermaßen von unten her zu organisieren. Nach der Zusammenstellung der Informationen können auch andere Mitarbeiter und die Leiter beteiligt werden. Fachleute können dann an die Informationsträger Ergänzungsfragen richten und die Informationen gewichten und deuten. Doch ist es in der Praxis oft schwierig, Spitze und Basis zusammenzubringen. Es hat sich bewährt, die Entscheidungen auf der unteren Ebene vorzubereiten und Entschei-
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dungsvorschläge durch zwei oder drei Vertreter bei einer Kernkonferenz, bestehend aus dem Anstaltsleiter und dessen engsten Beratern aus den Fachdiensten, aber auch aus dem allgemeinen Vollzugsdienst, vortragen zu lassen. Diese Überlegungen können allerdings nur für beratende Konferenzen gelten, wo eine bestimmte Zusammensetzung nicht gefordert werden kann. Soll die Konferenz Beschlussorgan sein, so sollte sie eher einem Ausschuss als einem Parlament gleichen. – Doch mag über den Kreis der an der Entscheidung so Beteiligten hinaus in der Anstalt ein Bedürfnis nach Information über das Ergebnis des Entscheidungsprozesses bestehen. Das gilt insbesondere dann, wenn ein Einzelfall als besonderes Vorkommnis nicht nur die an der Behandlung unmittelbar Beteiligten emotional erfasst hat. Es muss dann ein größeres Gremium vorhanden sein, in dem solche Entscheidungen bekannt gegeben und erläutert werden können. Zur Vollzugsplankonferenz vgl. auch § 7 Rdn. 6.
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4. Organisationskonferenz: Die Vorbereitung und Planung organisatorischer Veränderungen in der Anstalt erfordert eine umfassende Beteiligung der Mitarbeiter. Doch empfiehlt es sich nicht, den Kreis der mit der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen Betrauten zu weit zu fassen. Eine Konferenz von mehr als 20 Teilnehmern ist nicht mehr arbeitsfähig. Hier kann ein Repräsentativ-System (Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Vorschläge zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 2. Aufl., Bonn – Bad Godesberg 1974, 150 ff) zweckmäßig sein, damit jede Mitarbeitergruppe die Gewissheit hat, von Anfang an bei den Beratungen beteiligt zu sein. Oft bewährt es sich, nach einer Sammlung der Informationen und einer grundsätzlichen Diskussion der möglichen Lösungsvorschläge eine kleine Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung der Einzelregelungen zu beauftragen. Zum Schluss müssen dann in einer umfassenden Konferenz der oder die Lösungsvorschläge diskutiert und die Frage – sei es durch Beschluss der Konferenz oder durch Verfügung des Anstaltsleiters (beachte § 156 Rdn. 2) – entschieden werden. Die Vorbereitung der Entscheidung in kleinen Gruppen ist aus arbeitsökonomischen Gründen wichtig. Sie ist aber auch das einzige Mittel, um dem mittleren Dienst eine ausreichende Chance zur Mitwirkung zu geben. Erfahrungsgemäß äußern sich die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes unbefangen nur in Kleingruppen. Andererseits darf durch die Einrichtung solcher Gruppen nicht der Eindruck der Geheimpolitik entstehen. Alle Mitarbeiter sollten deshalb den Arbeitsauftrag dieser Gruppen kennen. Am Ende des Entscheidungsprozesses ist wiederum eine umfassende Information aller Mitarbeiter notwendig.
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5. Vollzugsplankonferenzen sind in erster Linie Dienstbesprechungen von Vollzugsmitarbeitern (KG LS FS 2007, 280 f). Eine Beteiligung von Personen, die nicht Vollzugsmitarbeiter sind, insbesondere von Gefangenen, an den Konferenzen ist vom Gesetz nicht vorgesehen, sie ist aber – wie Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 4 mit Recht bemerken – „nirgendwo untersagt“; sie kann vielmehr zweckmäßig sein (vgl. auch § 6 Rdn. 25). Es steht im pflichtgemäßen Ermessen des Anstaltsleiters, mit welchem Teilnehmerkreis er die Konferenzen durchführt, ob er also einen externen Therapeuten (KG aaO) oder einen Gefangenen und seinen Rechtsanwalt an der Vollzugsplankonferenz beteiligt (OLG Stuttgart BlStV 3/2001; a. A. Arloth 2008 § 159 Rdn. 1, der eine Beteiligung von Gefangenen mit Sinn und Zweck der Konferenz als Vollzugskonferenz schwerlich vereinbar hält). Ein Anwesenheitsrecht des Gefangenen oder seines Rechtsanwalts scheidet aus; es ist auch nicht aus einer analogen Anwendung des § 14 Abs. 4 VwVfG herzuleiten (OLG Stuttgart aaO; AK-Feest/Joester 2006 § 7 Rdn. 4). Bei Organisationskonferenzen gilt ebenfalls, dass eine Beteiligung von Gefangenen im Einzelfall zweckmäßig sein kann. Ausgeschlossen ist ihre Beteiligung jedoch in den Bereichen, die Fragen der Sicherheit der Anstalt, Personalfragen und Fragen, die die Behandlung einzelner Gefangener berühren (§ 160 Rdn. 11).
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6. Es empfiehlt sich, über alle Konferenzen Niederschriften zu fertigen, mit denen der 8 Informationsfluss zwischen den Beteiligten hergestellt oder verbessert wird (C/MD 2008 Rdn. 3); anderenfalls geraten die Beratungsergebnisse in Vergessenheit und gehen so verloren. Ob ein gesondertes Konferenzprotokoll angefertigt werden muss (so Arloth 2008 Rdn. 2), kann dahinstehen (BVerfG JR 2007, 470 = FS 2007, 468–471 = StraFo 2006, 512– 514); jedenfalls müssen die für den Gefangenen einsehbaren Unterlagen eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Person des Betroffenen im Rahmen der seiner Vollzugsplanung gewidmeten Konferenz erkennen lassen (BVerfG aaO) Leider stehen den Anstalten für die Fertigung von Niederschriften spezifisch vorgebildete Mitarbeiter nicht zur Verfügung. In der Praxis findet sich etwa die Lösung, dass im Wechsel jeweils ein Teilnehmer das Protokoll für eine Konferenz übernimmt. 7. Die VV schreibt außer den Konferenzen Dienstbesprechungen mit den anderen 9 Mitarbeitern vor, soweit diese also nicht an der Behandlung maßgeblich beteiligt sind. Diese Dienstbesprechungen werden in sehr unterschiedlicher Weise durchgeführt. Bei ihnen steht die Information der Mitarbeiter an erster Stelle. Sie haben im Strafvollzug Tradition und hießen in vielen Anstalten „Beamtenbelehrungen“, an denen aber nur die Beamten des „Aufsichtsdienstes“ teilzunehmen hatten, als wenn nur sie Information oder Belehrung nötig hätten. Diese Dienstbesprechungen verliefen deshalb meist in der Weise, dass ein Vorgesetzter vortrug und sich abschließend nach weiteren Fragen erkundigte. Solche Besprechungen haben wenig Sinn. Es empfiehlt sich, die Mitarbeiter zur Erfüllung dieses Auftrags in kleinen Gruppen zusammenzufassen und mit ihnen das zu diskutieren, was der Leitung, aber auch was den Mitarbeitern erörterungswürdig erscheint. 8. Für die seltenen Fälle, „in denen es auf kühles klares Kommandieren ankommt“ und 10 in denen schnelle Entscheidungen notwendig sind, sollte in der Anstalt eine kleine interdisziplinäre Arbeitsgruppe bestehen, die als Krisenstab zusammengerufen werden kann.
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 183 BayStVollzG ist bis auf die geschlechtliche Differenzierung mit § 159 StVollG 11 identisch. 2. Hamburg § 108 HmbStVollzG ist bis auf redaktionelle Anpassungen („die Anstaltsleitung“ statt 12 „der Anstaltsleiter“ und „Behandlung oder Erziehung“ statt Behandlung“) wortgleich mit § 159 StVollzG. 3. Niedersachsen § 9 Abs. 4 NJVollzG entspricht inhaltlich § 159 StVollzG, soweit sich dieser auf die Auf- 13 stellung und Überprüfung des Vollzugplans bezieht; ist aber redaktionell neu gefasst; er lautet: „Zur Vorbereitung der Aufstellung und Fortschreibung des Vollzugsplans werden Konferenzen mit den nach Auffassung der Vollzugsbehörde an der Vollzugsgestaltung maßgeblich Beteiligten durchgeführt“.
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§ 160 Gefangenenmitverantwortung Den Gefangenen und Untergebrachten soll ermöglicht werden, an der Verantwortung für Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse teilzunehmen, die sich ihrer Eigenart und der Aufgabe der Anstalt nach für ihre Mitwirkung eignen. Schrifttum: Anonym Verein für Kriminalreform Nordrhein-Westfalen, in: KrimJ 1981, 291 f; Baumann Einige Modelle zum Strafvollzug, Bielefeld 1979; Bulczak Erziehung und Behandlung in der Jugendanstalt Hameln, Hameln 1979; Egg Synopse der sozialtherapeutischen Einrichtungen. Teil 18, Interessenvertretung der Insassen, in: Egg (Hrsg.), Sozialtherapie in den 90er Jahren, Wiesbaden 1993, 170f; Geitner Gefangenenmitverantwortung – Mitarbeit im Vollzug zwischen Frust, Problemen und (Schein-)Erfolgen, in: ZfStrVo 2004, 330–333; Hötter Beobachtungen aus der Praxis zu § 160 StVollzG (Gefangenen-Mitverantwortung), in ZfStrVo 1997, 319); Klein Gefangenenpresse, Bonn 1992; Koepsel Gefangenenmitverantwortung, in: Schwind/Blau 1988, 308 ff; Lesting/Feest Zensur von Gefangenenzeitschriften, in: Klein/Koch (Hrsg.), Gefangenenliteratur, Hagen 1988; Müller-Dietz Klausur 7. Gefangenenmitverantwortung, in: Müller-Dietz/Kaiser/Kerner, Einführung und Fälle zum Strafvollzug, Heidelberg 1985, 177 ff; Nix Die Vereinigungsfreiheit im Strafvollzug, Gießen 1990; Nix/Schürrhoff Gefangenenvertretungen in Hessen und Rheinland-Pfalz, in: MschrKrim 1991, 113 ff; Rotthaus Sozialtherapie in der JVA Gelsenkirchen, in: ZfStrVo 1981, 325 ff; ders. Meinungsfreihheit für Gefangenenzeitungen, in: ZfStrVo 2001, 171 ff; Vollmer Gefangenenzeitschriften – Eine Analyse ihrer Funktion in den nordrheinwestfälischen Haftanstalten, Bochum 1980.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . 1. GMV und Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters . . . . . . . . . 2. Sollvorschrift . . . . . . . . . a) Grundsätzlich ist GMV einzurichten . . . . . . . . . . b) Grenzen der Mitwirkung Außenstehender . . . . . . c) Antragsbefugnisse der GMV nach § 109 . . . . . . . . . d) Verkehr der GMV mit der Außenwelt . . . . . . . . .
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3. Möglichkeiten der Ausgestaltung der GMV . . . . . . . . . . . . . 9–10 4. Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse . . . . . . . . . 11 5. Erfahrungen . . . . . . . . . . . 12 III. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 13 IV. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 14–16 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 15 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . 16
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I. Allgemeine Hinweise 1
Die Gefangenenmitverantwortung (GMV) ist das notwendige Gegenstück zu dem Anspruch des Gefangenen auf Beteiligung an seiner Behandlung (§ 4 Abs. 1, § 6 Abs. 3). Das Gesetz verpflichtet die Vollzugsbehörde zum partnerschaftlichen Umgang nicht nur mit dem einzelnen Gefangenen, sondern auch mit den Insassen als Gruppe. Es stellt einen – sicherlich bescheidenen – Fortschritt im Vergleich zu früheren Auffassungen dar, die den Gefangenen jegliche Koalitionsfreiheit absprachen. So kann man die Vorschrift vielleicht mit Grunau (1. Aufl., 1977, zu § 160) als Grundlage für die „therapeutische Einübung von Demokratieverständnis als Keimling einer Art von Gefangenenvertretungsgesetz“ verstehen.
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Die Notwendigkeit der GMV lässt sich auch aus der Erkenntnis ableiten, dass das Vollzugsziel nur durch soziales Lernen erreicht werden kann (§ 2 Rdn. 13 f). Nur wer als Mitglied einer Gruppe mit anderen sinnvoll umgehen kann, wird „in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten führen“ können. Der Gefangene braucht soziale Bezüge. Daher wird GMV am ehesten dort gelingen, wo die Idee der therapeutischen Gemeinschaft – wie in der Sozialtherapie und wie sonst im Wohngruppenvollzug – wenigstens ansatzweise verwirklicht ist (vgl. hierzu §§ 19, 20, 26 AE StVollzG; Böhm 2003 Rdn. 119; Rotthaus 1981, 325). „Erst in einem veränderten Vollzugsklima, in dem sich Gefangene und Bedienstete nicht mehr frontal gegenüberstehen, ist Gefangenenmitverantwortung, die diesen Namen verdient, möglich“ (Dertinger Anm. zu OLG Hamm, NStZ 1981, 118 ff). Es gibt aber eine Reihe von Gründen, die die praktische Umsetzung der Vorschrift 2 schwierig machen. In geschlossenen Anstalten (§ 141 Rdn. 16) mit geringer Bewegungsfreiheit ist der Wunsch nach Mitwirkung bei den Insassen am stärksten ausgeprägt. Dort leiden sie unter dem Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins an die Subkultur (§ 3 Rdn. 11), unter den wild wuchernden Gerüchten, die eine sachgemäße Information ersetzen. Andererseits: „Es scheint nach aller Erfahrung ein Trugschluss zu sein, dass Gefangene ein erhöhtes Maß an Solidarität kennen und praktizieren. Das Gegenteil ist eher der Fall: der vitale Lebensinteressen einschränkende Druck des Gefängnissystems führt zu einem egozentrischen Verhalten, zur vorrangigen Verfolgung eigener Interessen. Gemeinsames Handeln und Fordern tritt in den Hintergrund“ (Anonym 1981). In den offenen Anstalten dagegen gleicht sich die Lage im Guten wie im Schlechten an das Leben in der Freiheit an. Sachliche Information – die Grundlage aller Mitwirkung und Mitbestimmung – kann sich der Gefangene dort selbst verschaffen. Damit ist ein menschliches Grundbedürfnis abgesättigt. Im übrigen aber wenden sich die Interessen der Insassen nach draußen. Ihnen sind ihr Arbeitsplatz und ihre Kontakte zu Angehörigen und Freunden wichtig. Es schwindet die Motivation, sich um „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“ zu kümmern. Gerade da, wo die Chancen für eine Gefangenenmitverantwortung von der Struktur der Anstalt her günstig sind, fehlt es häufig am Engagement der Insassen. Sie verhalten sich allerdings nicht anders als freie Mitbürger, die von ihren Mitwirkungsrechten im öffentlichen Leben ebenfalls oft keinen Gebrauch machen. So gibt es nicht einmal in allen sozialtherapeutischen Anstalten eine GMV (Egg 1993, 170).
II. Erläuterungen 1. GMV und Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters: Wenn eine GMV besteht, min- 3 dert sich dadurch nicht die Verantwortung des Anstaltsleiters für den gesamten Vollzug (§ 156 Abs. 2 Satz 2). Aufgabe des Anstaltsleiters ist es, sämtliche Aspekte des Anstaltslebens zu berücksichtigen, während die GMV in erster Linie die Interessen der Insassen vertreten wird. Deshalb heißt sie im NJVollzG (§ 182) Interessensvertretung. Neben den Notwendigkeiten von Ordnung und Sicherheit (§ 81 Rdn. 7) wird die Leitung vor allem auch die Bedürfnisse des Personals berücksichtigen müssen. Die GMV ist auch dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie zwar – vorübergehend – Erfolge erzielt, sich damit aber in einen dauernden Gegensatz zu den Mitarbeitern und zum Personalrat setzt. Bei realistischer Einschätzung ist der Spielraum für GMV begrenzt. Trotzdem zwingt diese Erkenntnis nicht zu der Feststellung, von Mitverantwortung könne keine Rede sein. Auch wer an Entscheidungen nur beratend mitwirkt, trägt eine Mitverantwortung am Ergebnis des Entscheidungsprozesses (vgl. auch Rdn. 11). Das Gesetz räumt der GMV jedoch keinen Vorrang vor den Individualrechten der einzelnen Gefangenen ein. „Dem Anspruch des Gefangenen auf ein ausgewogenes Programm i. S.
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des § 69 Abs. 1 Satz 2“ (für den Hörfunk oder den gemeinschaftlichen Fernsehempfang) „wird nicht schon dadurch genügt, dass die Programmauswahl der gemeinschaftlichen Verantwortung der GMV übertragen wird. Zur Gewährleistung eines ausgewogenen Programms verbleibt die Entscheidung über die Programmauswahl letztlich der Vollzugsbehörde“ (OLG Celle ZfStrVo 1982, 183; 1983, 382 f; § 69 Rdn. 6).
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2. Bedeutung der Sollvorschrift: Die recht unbestimmt gefasste Sollvorschrift wird von den Gerichten unterschiedlich ausgelegt. Folgende grundsätzlichen, miteinander in engem Zusammenhang stehenden Fragen waren bisher zu entscheiden: a) Hat die Anstaltsleitung bei der Ausgestaltung der GMV volle Dispositionsfreiheit, die sie auch in der Weise der Nichteinführung einer GMV ausüben kann (OLG Frankfurt ZfStrVo 1981, 254; OLG Koblenz NStZ 1981, 160), oder muss sie nach pflichtgemäßem, gerichtlich nachprüfbarem Ermessen handeln (C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Feest 2006 Rdn. 2)? b) Kann eine aus Insassen einer bestimmten Anstalt gebildete Personenvereinigung, die sich das Ziel gesetzt hat, in der Anstalt GMV zu verwirklichen, § 160 als Plattform zur Verwirklichung ihrer Absicht nutzen (das BayOLG NStZ 1982, 84 ff m. krit. Anm. von Seebode hat die Eintragung eines solchen Vereins in das Vereinsregister abgelehnt)? c) Ist die GMV berechtigt, einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG zu stellen (bejahend OLG Hamm mit abl. Anm. von Dertinger NStZ 1981, 118 ff; wohl auch OLG Celle NStZ 1981, 495; abl. OLG Frankfurt aaO; KG NStZ 1981, 366; neuerdings jedoch bejahend KG NStZ 1993, 427 B; OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 181 f)? d) Kann die GMV die Aushändigung von an sie gerichteten Postsendungen verlangen (verneinend: OLG Koblenz aaO)? Darf sie Postsendungen absenden?
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Zu a) Dispositionsfreiheit der Anstaltsleitung? Die Sollvorschrift des § 160 ist ein Gesetzesbefehl, der die Anstaltsleitung im Regelfall zum Handeln verpflichtet. Ausnahmen sind denkbar, dürften in der Praxis aber selten sein. Zwar gibt es völlig gemeinschaftsunfähige Gefangene und hochgefährliche Insassen, denen der für eine Beteiligung an der GMV erforderliche Spielraum nicht eröffnet werden kann. Niemand wird jedoch Anstalten ausschließlich mit solchen Gefangenen belegen. Auf dem Hintergrund der einzelnen Anstalt und ihrer Belegung muss die Anstaltsleitung entscheiden, wie sie das gesetzliche Gebot in die Wirklichkeit umsetzen kann. Bei größeren Anstalten liegt es nahe, ein die ganze Anstalt umfassendes Repräsentantensystem einzuführen. Das ist jedoch nicht immer möglich, im Übrigen aber auch nicht ausreichend. In Anstalten, in denen überwiegend Untersuchungsgefangene und Strafgefangene mit sehr kurzen Strafen untergebracht sind, lässt sich ein Repräsentantensystem nicht sinnvoll einrichten. Möglich und auch neben einem Repräsentantensystem notwendig ist die Einräumung von Mitverantwortung an der Basis im Rahmen einer Wohngruppe, einer Abteilung, eines Arbeitsbetriebs, einer Freizeitgruppe. Diese Art der Mitbestimmung setzt freilich die Gliederung der Anstalt – wie in § 143 Abs. 2 vorgesehen – in überschaubare Gruppen voraus. Dann können aktuelle Fragen im kleinen Kreis diskutiert werden, so dass auch weniger selbstbewusste Gefangene – das ist die Mehrzahl – an ihrer Beratung teilnehmen können. Diese Erfahrung ist wichtiger als die einer geschlossenen Willensbildung aller Insassen der Gesamtanstalt (C/MD 2008 Rdn. 3; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 97). Ein „Repräsentantensystem“ kann allenfalls eine Übergangslösung darstellen, da es die Gefahr beinhaltet, dass subkulturelle Hierarchien entstehen (C/MD 2008 Rdn. 3; Hötter 1997, 319 berichtet dazu, dass Unruhestifter sich in die GMV aufnehmen lassen). Darüber hinaus verfehlt es die Zielsetzung des auf soziales Lernen ausgerichteten Behandlungsvollzuges, die das Gesetz mit der GMV beabsichtigt: es sollen die Interessengegensätze zwischen Gefangenen und den Vollzugsbehörden geebnet werden, aber nicht durch institu-
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tionelle Konfrontation, sondern durch institutionelle Kooperation (C/MD 2008 Rdn. 5). Das Gesetz erlaubt freies Experimentieren, aber keine Untätigkeit. So hat das KG festgestellt, dass ein Anstaltsleiter dem Grundgedanken der GMV nicht gerecht wird, wenn er es ablehnt, sich mit Vorschlägen einer Interessenvertretung zur Gestaltung einer Tätigkeit auch nur zu befassen und zu ihnen Stellung zu nehmen (KG NStZ 1993, 427 B). Das HmbStVollzG hat in § 110 die Einführung der GMV als Pflichtaufgabe der Anstalt ausgestaltet. Eine gerichtliche Nachprüfung der Ausgestaltung der GMV ist demgemäß möglich, doch muss das Gericht die örtlichen Verhältnisse berücksichtigen und der Anstalt Raum lassen, die für sie angemessene Form der GMV durch versuchsweise Lösungen herauszufinden. Zur Ermessensüberprüfung durch das Gericht § 115 Rdn. 19 ff. Zu b) GMV im Wege der „Gefangeneninitiative“? Die Vorschrift begründet Pflichten 6 für die Anstaltsleitung. Wenn sie ihrem Auftrag nachkommt und die Gefangenen an ihrer Verantwortung teilnehmen lässt, so gibt sie damit ein – kleines – Stück ihrer eigenen Verantwortung ab. Die Insassen, denen Mitverantwortung ermöglicht ist, sind Träger dieser Mitverantwortung aus abgeleitetem Recht (K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 101); ein originäres, unmittelbar aus § 160 folgendes Mitbestimmungsrecht besteht nicht (C/MD 2008 Rdn. 5). Deshalb ist es nicht möglich, dass eine „Gefangeneninitiative“, die sich irgendwie unabhängig von der Anstaltsleitung gebildet hat, unter Berufung auf § 160 Mitverantwortungsrechte beansprucht. Dabei ist es gleichgültig, ob der Verein nur aus Gefangenen oder ob er teilweise aus Außenstehenden besteht, wenn der Vereinszweck auf Ausübung der GMV gerichtet ist (BayObLG NStZ 1982, 84 mit abl. Anm. Seebode; BVerfG NStZ 1983, 331; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 527 f). Zwar ist der Kritik von Seebode insofern zuzustimmen, als § 160 das verfassungsmäßig garantierte Recht der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) nicht einzuschränken vermag, wie die genannten, die Vereinseintragung ablehnenden Entscheidungen meinen (Müller-Dietz 1985, 186). Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit unterliegt im Vollzug nur den Einschränkungen, die sich aus den vom StVollzG gedeckten Beschränkungen der Bewegungsfreiheit der Gefangenen und ihrer Kommunikation untereinander ergeben. Auch ist Seebodes Forderung zuzustimmen, dass die Anstalt Ansätze fördern solle, „die Gefangene von sich aus unternehmen, um Mitverantwortung zu üben und zu tragen“, und dass die Entstehungsgeschichte der Norm nichts darüber besagt, „dass auf diesem Gebiet ausschließlich die Anstaltsleitung agieren und eine Gefangenengruppe sich nicht um Mitverantwortung bemühen dürfe“ (aaO 88). In den beiden zu entscheidenden Fällen setzte sich der Verein jedoch mit seinem „Alleinvertretungsanspruch“ in Widerspruch zu dem Gesetz. Dadurch wurde nämlich der irreführende Anschein erweckt, als sei der Verein die repräsentative Vertretung aller Gefangenen der Anstalt. Zwar mag der Anstaltleiter zu dem Ergebnis kommen, dass es zweckmäßig ist, mit einer solchen „Gefangeneninitiative“ das Gespräch und die Auseinandersetzung zu beginnen. Doch muss der Verein dann seinen Zweck dahin ändern, dass er z. B. Kandidaten für die GMV aufstellt und für sie wirbt. Er kann dann freilich diese Aktivitäten nur im Rahmen der für alle Gefangenen eingeräumten Bewegungsfreiheit entwickeln. Sonderrechte aus § 160 kann er nicht ableiten, eben so wenig aus § 154 Abs. 2 Satz 2 (vgl. § 154 Rdn. 8). Beharrt der Verein aber bei seinem unerlaubten Zweck, so kann der Anstaltsleiter seine Betätigung verbieten. Das gilt besonders auch für den Verkehr mit der Außenwelt (§§ 23 ff). Zu c) „Prozessfähigkeit“ der Gefangenenmitverantwortung? Die Frage, ob die GMV 7 berechtigt ist, Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 zu stellen, ist strittig (§ 109 Rdn. 27); sie wird in der neueren Rechtsprechung bejaht, und zwar auch für ein einzelnes Mitglied der GMV (OLG Hamburg ZfStrVo 2002, 181f). Das Recht ergibt sich also nicht unmittelbar aus dem Gesetz (so auch Dertinger aaO), ist aber aus der Erwägung heraus anzuer-
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kennen, dass sowohl die GMV wie auch ein einzelnes Mitglied der GMV die Möglichkeit haben muss, Maßnahmen überprüfen zu lassen, die die Tätigkeit der GMV oder des Mitglieds einschränken; damit soll der Gefahr der Rechtlosstellung der GMV und des Mitglieds und einer Entwertung des Instituts der GMV begegnet werden (OLG Hamburg aaO). Die GMV ist nur berechtigt, ihre eigenen Rechte gerichtlich zu verfolgen; dazu gehören ihre Art, ihr Umfang und das Verfahren der Teilnahme an der GMV, insbesondere die Wahlen (C/MD 2008 Rdn. 6); die Rechte können auch durch Verwaltungsvorschriften der Landesjustizverwaltungen oder durch örtliche Vorschriften begründet werden. Die Anfechtung der Wahl zur GMV ist – im Rechtsweg nach § 109 – zulässig, wenn eine schwerwiegende Wahlmanipulation oder ein sonstiger, ähnlich gewichtiger Fehler in Rede steht und der Antragsteller einen solchen Fehler sowie die Tatsachen substantiiert vorträgt, die für die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Fehler und Mandatsinhaberschaft relevant sind (OLG Hamburg vom 15.10.2001 – 3 Vollz (Ws) 78/01). Eine Wohngruppe dagegen kann nicht Träger von Rechten und Pflichten sein, der Wohngruppensprecher kann für die Wohngruppe keine Rechte gerichtlich geltend machen (OLG Hamm NStZ 1993, 512). Der einzelne Gefangene hat keinen Anspruch auf kollektive Mitwirkung an Angelegenheiten von allgemeinem Interesse oder auf eine bestimmte organisatorische Ausgestaltung der GMV (KG NStZ 1990, 208B) Zu dem Recht der GMV aus § 108 (Rdn. 14); zur Problematik der Antragsberechtigung bei § 109 Rdn. 29.
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Zu d) Die GMV als Empfänger und Absender von Postsendungen: Die Entscheidung der Fragen hängt von der Realverfassung der GMV ab. Voraussetzung ist, dass ein Insassensprecher oder ein Gremium von Insassen gewählt oder auch bestellt ist, um die Gesamtheit der Insassen zu vertreten; sonst fehlt es an einem Empfänger oder Absender. Doch gelten für die GMV nicht die Vorschriften über den Verkehr der Gefangenen mit der Außenwelt (§§ 23–34; OLG Koblenz NStZ 1981, 160; § 28 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 6; a. A. AK-Joester/Wegner 2006 § 28 Rdn. 2; AK-Feest 2006 Rdn. 9; vgl. auch OLG Nürnberg NStZ 1986, 286 für den von Gefangenen einer Anstalt gebildeten Ortsverband einer Partei). Eine andere Regelung würde dem Recht und der Pflicht des Anstaltsleiters zuwiderlaufen, die Anstalt nach außen allein zu vertreten (§ 156 Abs. 2 Satz 1). Dieser Grundsatz ist jedoch insoweit eingeschränkt, als die GMV ihre Teilhaberechte gerichtlich (Rdn. 7) oder durch Eingaben und Beschwerden zur Geltung bringen will. Auch ist der Anstaltsleiter nicht gehindert, die GMV am Verkehr mit der Außenwelt teilnehmen zu lassen. Er kann insoweit nach pflichtmäßigem Ermessen entscheiden. In der Praxis ermöglichen Anstaltsleiter der GMV, besonders den bei der Gestaltung einer Gefangenenzeitung mitwirkenden Insassen, nicht selten persönliche und schriftliche Kontakte mit der Außenwelt. Das LG Hamburg (NStZ 1987, 383) hat den Ermessensspielraum des Anstaltsleiters bei der Herausgabe einer Anstaltszeitung ausführlich dargestellt. Danach bedarf „sowohl die Herausgabe einer in der JVA verfassten und redigierten Anstaltszeitung als auch die Mitwirkung der Insassen an der Herausgabe und inhaltlichen Gestaltung . . . der Zulassung durch die Anstaltsleitung, die sich in ihrer Ermessensausübung an den Vollzugszielen zu orientieren hat“. „Es ist demnach in das Ermessen der Vollzugsbehörde gestellt, ob, in welcher Form und mit welchen Mitteln sie eine Mitwirkung des Gefangenenkollektivs an der Verwirklichung des Vollzugsziels auch durch Einrichtung einer Haus- bzw. Anstaltszeitung ermöglicht“ (vgl. Rdn. 13).
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3. Die Möglichkeiten der praktischen Ausgestaltung von GMV sind so vielfältig, dass sie hier nur angedeutet werden können. Ein interessantes Beispiel bildet etwa die Leitung der wöchentlichen Sprecherkonferenz durch einen Externen (Geitner, ZfStrVo 2002, 330–333). Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn in geschlossenen Anstalten Insas-
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senvertreter gewählt werden sollen. Die dort bestehenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Gefangenen erschweren eine angemessene Bildung des Wählerwillens. Die vielfach geäußerte Befürchtung, subkulturelle Machtstrukturen könnten durch die GMV legitimiert werden (C/MD 2008 Rdn. 3), scheint unbegründet zu sein, wohl weil die „starken“ Gefangenen die vertrauten Wege der Machtausübung für wirksamer halten. Eher wird GMV dadurch behindert und gestört, dass ihre Mitglieder eigennützige Interessen verfolgen (K/S-Kerner 2002 § 13 Rdn. 32). Erfolgreiche GMV setzt ein Mindestmaß von Vertrauen unter den Partnern voraus. Da 10 die Mitwirkung der GMV auf von der Anstaltsleitung abgeleiteten Recht (Rdn. 6) beruht, ist diese befugt, Kandidaten für die GMV von der Wahl und Mitglieder der GMV von der weiteren Mitwirkung auszuschließen (OLG Koblenz NStZ 1991, 511 mit zustimmender Anm. von Rotthaus und ablehnender Anm. von Nix NStZ 1992, 304; OLG Nürnberg ZfStrVo 2002, 243). Die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme müssen jedoch eng und klar umschrieben sein, damit nicht der Eindruck eines willkürlichen Eingriffs in die GMV entsteht. In Rheinland-Pfalz gilt heute das Rundschreiben vom 9.9.1999 (JBl. 1999, 219). Danach kann die Anstaltsleitung einen Gefangenen von der Wahl oder von der Mitwirkung bei der GMV ausschließen, wenn es die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erfordert, es aus Gründen seiner Behandlung notwendig oder wenn zu befürchten ist, dass die Teilnahme dieses Gefangenen an der GMV einen negativen Einfluss auf andere Gefangene ausüben oder die Erreichung des Vollzugsziels für ihn selbst oder andere gefährden würde. Ähnliche Regelungen haben andere Bundesländer, in denen die aufgeführten Ausschließungsgründe konkretisiert sind. Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte für die genannten Gründe vorliegen (OLG Hamm ZfStrVo 2002, 243 f). Hierbei handelt es sich um überprüfbare Begriffe, wie sie auch sonst im Gesetz Verwendung finden (z. B. § 17 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3; § 70 Abs. 2 Nr. 2). Sehen die Statuten der GMV einer Anstalt vor, dass von einer Kandidatur für die GMV oder von ihrer Mitwirkung an ihr solche Strafgefangene ausgeschlossen werden, die schuldhaft ohne Arbeit sind, so reicht die bloße Ablösung eines Strafgefangenen von seinem Arbeitsplatz hierfür nicht aus, wenn die für die Ablösung ursächliche Verfehlung aufgrund ihrer Schwere nicht die Verhängung von Arrest rechtfertigen kann (OLG Karlsruhe LS ZfStrVo 2005, 124 f = NStZ 2005, 292; zust. Arloth 2008 Rdn. 2 mit Vorbehalt gegen die Forderung, dass die Schwere der Verfehlung Arrest rechtfertigen solle). Eine verständige Anstaltsleitung wird von ihrem Eingriffsrecht nur im Notfall Gebrauch machen. Es darf nicht der Anschein entstehen, die Leitung wolle sich der Auseinandersetzung mit ihr unangenehmem Vorbringen entziehen. 4. Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse, die sich für die GMV eignen, sind 11 zum Beispiel die Gestaltung des Speiseplanes und die Organisation der Freizeit im weitesten Sinne. Dazu gehören etwa auch Vereinbarungen, sich nur so viel Brot aushändigen zu lassen wie man benötigt. Damit wird ermöglicht, dass für das eingesparte Geld besondere Zusatznahrungsmittel für die Gefangenen beschafft werden können – und verhindert, dass das überschüssige Brot durch das Fenster geworfen wird (eine solche Vereinbarung hat sich in der Justizvollzugsanstalt Straubing bereits bewährt). In vielen Anstalten gibt es bereits eine lange Tradition aus der Zeit vor dem StVollzG zur GMV. Die Teilnahme an GMV-Sitzungen während der Arbeitszeit begründet einen Anspruch auf Arbeitsentgelt (LG Mannheim NStZ 1985, 239) Ein Negativkatalog von Gegenständen, die für die GMV nicht in Betracht kommen, besteht regelmäßig für Personalangelegenheiten, Fragen der Behandlung einzelner Gefangener und alles, was mit der Anstaltssicherheit zusammenhängt. Doch darf dieser an sich sachgemäße Katalog nicht dahin missverstanden werden, dass die Anstaltsleitung zu diesen Themen auch nicht informierend Stellung nehmen dürfte. Geheimhaltung
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ist in Anstalten aller Art, nicht nur in Vollzugsanstalten, äußerst schwierig. Eine freimütige Information ist besser als ein Wuchernlassen der Gerüchte. Um ein hochempfindliches Beispiel zu wählen: auch für den betroffenen Mitarbeiter kann es besser sein, wenn er über sein Fehlverhalten und die Reaktion der Anstaltsleitung darauf informiert wird, als wenn diese Information gerüchteweise durchs Haus läuft. Natürlich muss sich der Anstaltsleiter in diesem Fall mit dem Mitarbeiter abstimmen. Falsch wäre es nur, wenn die Anstalt sich durch den Negativkatalog gehindert sähe, in solchen Fällen in die brodelnde Gerüchteküche klärend einzugreifen. Diese Überlegungen gelten für Einzelfragen der Behandlung von Gefangenen und selbst für Fragen der Anstaltssicherheit entsprechend. Zur Beteiligung der Gefangenen an Konferenzen § 159 Rdn. 7.
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5. Seit dem Inkrafttreten des StVollzG konnten Erfahrungen mit der GMV gewonnen werden. Vielfach ist festzustellen, dass sich „nur sehr kümmerliche Formen der GMV durchgesetzt haben“ (Koepsel 1988, 309; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 103; Nix 1990). In den Ländern Hessen und Rheinland-Pfalz hat es, wie Nix/Schürrhoff (1991, 113 ff) festgestellt haben, im Jahre 1990 in 37 % der Anstalten noch nie eine GMV gegeben. Ob dieses erschreckende Defizit, wie Nix/Schürrhoff meinen, auf der restriktiven Rechtsprechung zu § 160 beruht, muss bezweifelt werden. Mitbestimmung ist ein schwieriges Geschäft – nicht nur im Strafvollzug. Dort wird es erschwert durch die Strukturen der oft viel zu großen Anstalten und ihre Belegung z. B. mit einem hohen Anteil von Untersuchungsgefangenen und Kurzstrafern. Doch ist einzuräumen, dass manche Anstaltsleiter nicht besonders betrübt sind, wenn GMV nicht zustande kommt. Andere Anstaltsleiter bemühen sich aber redlich, „ihre“ GMV zu stützen und anzuregen. Gegen die einseitige Schuldzuweisung von Nix/ Schürrhoff spricht vor allem, dass nicht einmal unter den außergewöhnlich günstigen Bedingungen der Sozialtherapie GMV in jedem Falle gelingt (vgl. Rdn. 2). Als positive Beispiele referiert Kerner (aaO) die Erfahrungen mit GMV in der Jugendanstalt Hameln (Bulczak 1979) und in Berlin (Baumann 1979). Beiden Beispielen ist gemeinsam, dass es sich nicht um bloße Repräsentantensysteme handelt, sondern dass die Mitwirkung an überschaubaren Bereichen der Anstalten ansetzt. Durch Formalisierung kann das Interesse erlahmen. Ein „Vierteljahresgespräch“, in dem der Anstaltsleiter die Anfragen der GMV entgegennimmt, um sie schriftlich zu beantworten, wird den Bedürfnissen der Gefangenen nicht gerecht.
III. Beispiel 13
Ein anschauliches Beispiel für die Möglichkeiten, die § 160 eröffnet, sind die Gefangenenzeitungen (Vollmer 1980; Klein 1992). In vielen Anstalten erscheinen solche Hauszeitungen. Sie vermitteln ein lebendiges Bild vom Leben in der Anstalt. An ihrer Herausgabe entzünden sich jedoch oft Konflikte zwischen der Anstaltsleitung und den Mitarbeitern der Zeitung (Lesting/Feest 1988). Wenn der Anstaltsleiter, wie regelmäßig, Herausgeber der Zeitung ist, hat er das Recht, und wegen seiner Gesamtverantwortung nach § 156 Abs. 2 die Pflicht, auf den Inhalt der Gefangenenzeitung Einfluss zu nehmen. Diese Einflussnahme ist keine Zensur, die nach Art. 5 Abs. 1 GG verboten ist. Der Anstaltsleiter und Herausgeber darf einen Redakteur unter den engen oben umschriebenen Voraussetzungen (Rdn. 10) von der weiteren Mitarbeit ausschließen (LG Hamburg NStZ 1987, 383; KG NStZ 1989, 429 B). Bei dieser Organisationsform hat die Redaktion der Gefangenenzeitung keinen presserechtlichen Auskunftsanspruch über Angelegenheiten der Vollzugsanstalt der Vollzugsbehörde gegenüber (OLG Hamburg ZfStrVo 1991, 134). Rotthaus sieht jedoch, angeregt durch die Forschungsarbeit von Vomberg (hinter Schloss und Riegel – Gefangenenzeitungen aus Nord-
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rhein-Westfalen und Brandenburg zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Mönchengladbach 2000) Entwicklungsmöglichkeiten bei den Gefangenenzeitungen; einen vorsichtigen Kompromiss könne er darin finden, dass der Anstaltsleiter Herausgeber bleibt, sich den Redakteuren gegenüber aber festlegt, nur in bestimmten Grenzfällen einzugreifen, z. B. bei Gefahr für Sicherheit und Ordnung der Anstalt, um Gefangenen-Redakteure vor Strafverfolgung zu bewahren, Schadensersatzansprüche gegen das Land zu vermeiden und Beamte und Gefangene zu schützen (Rotthaus 2001, 175).
IV. Landesgesetze 1. Bayern Art. 116 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG ist mit Ausnahme der Worte „und Untergebrachten“ 14 wortgleich mit § 160 StVollzG. Abs. 1 Satz 2 sowie Abs. 2 sind neu und lauten: „Eine weitgehende Übernahme der Mitverantwortung für die alltäglichen Abläufe wird angestrebt. Die Einrichtung von Mitwirkungsgremien wird von den Anstalten gefördert und begleitet. Den Gefangenen soll insbesondere ermöglicht werden, Vertreter zu wählen, die die gemeinsamen Interessen an den Anstaltsleiter oder die Anstaltsleiterin und den Beirat herantragen können.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, S. 71) heißt es u. a.: „Für Sicherungsverwahrte gilt [. . .] Art 160. Die Bestimmung stellt das Pendant zur individuellen Mitwirkungsnotwendigkeit gemäß Art 6 Abs. 1 auf kollektiver Ebene dar. Eine Gefangenenmitverantwortung ist deshalb wünschenswert, weil sie soziales Lernen ermöglicht; wer als Mitglied einer Gruppe mit anderen sinnvoll umgehen kann, wird eher in soziale Verantwortung ein Leben ohne Straftaten führen können [. . .]“. 2. Hamburg § 109 HmbStVollzG beginnt mit den Worten „Den Gefangenen wird ermöglicht,“ – es 15 folgt dann der weitere Wortlaut des § 160 StVollzG; die Worte „und Untergebrachte“ entfallen. Die Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Drucks. 18/6490, S. 50) lautet: „Die Vorschrift lehnt sich an § 160 StVollzG an, macht darüber hinaus aber deutlich, dass die Mitwirkung der Gefangenenen der Verantwortung für bestimmte Angelegenheiten nicht nur ermöglicht werden soll, sondern wird.“ 3. Niedersachsen § 182 NJVollzG ist neu gefasst und lautet: „Den Gefangenen und Sicherungsverwahrten 16 soll ermöglicht werden, Vertretungen zu wählen. Diese können in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse, die sich ihrer Eigenart und Zweckbestimmung der Anstalt nach für eine Mitwirkung eignen, Vorschläge und Anregungen an die Vollzugsbehörde herantragen. Die Vorschläge und Anregungen sollen mit der Vertretung erörtert werden.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, S. 213) heißt es: „Die Vorschrift des Entwurfs entspricht § 160 StVollzG, ersetzt dabei aber den missverständlichen Begriff der „Gefangenenmitverwaltung“ durch den der „Interessenvertretung“. Dies entspricht dem tatsächlichen Regelungsgehalt der Norm.“
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§ 161
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
§ 161 Hausordnung 1) Der Anstaltsleiter erlässt eine Hausordnung. Sie bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. (2) In die Hausordnung sind namentlich die Anordnungen aufzunehmen über 1. die Besuchszeiten, Häufigkeit und Dauer der Besuche, 2. die Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit sowie 3. die Gelegenheit, Anträge und Beschwerden anzubringen, oder sich an einen Vertreter der Aufsichtsbehörde zu wenden. (3) Ein Abdruck der Hausordnung ist in jedem Haftraum auszulegen.
I. Allgemeine Hinweise 1
Das StVollzG kann die Rechte und Pflichten der Gefangenen nur in Grundzügen regeln. Die vom Gesetz gebotene Differenzierung (§ 141) wird dazu führen, dass sich die Vollzugsanstalten künftig noch weiter auseinander entwickeln, als das bis heute schon geschehen ist. Im Zuge dieser Entwicklung kommt örtlichen Regelungen zunehmend größere Bedeutung zu. Die wesentlichen in einer Anstalt geltenden Sondervorschriften sind in einer Hausordnung zusammenzufassen. Die Ermächtigungsgrundlage für diese Vorschriften enthält § 161 Abs. 1. Man kann diese Normen mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vergleichen, die – für einen Teilbereich des Wirtschaftslebens – die Normen des Gesetzes ergänzen. Hausordnungen waren früher in trockenem Verwaltungsstil mit dem Schwergewicht auf den Geboten und Verboten abgefasst. Heute bemühen sich viele Anstalten, die Rechtsnormen einfühlsam und für Laien verständlich zu formulieren, auf die Rechte der Gefangenen hinzuweisen und damit Ratschläge für ihre Verwirklichung zu verbinden. Trotzdem teilen die Hausordnungen auch heute noch das Schicksal alles „Kleingedruckten“; sie werden von den meisten Gefangenen nicht gelesen. Stattdessen informieren sich die Insassen lieber durch Nachfrage bei ihren Mitgefangenen, welche Regeln sie in der für sie neuen Anstalt beachten müssen. Diese Art der Weitergabe von Information birgt erhebliche Fehlerquellen in sich. Eine negativ geprägte Subkultur hat hier ein gefährliches Betätigungsfeld. Diese Sachlage muss die Anstaltsleitung berücksichtigen. Es hat sich bewährt, dem Bedürfnis der Gefangenen nach mündlicher Vermittlung der notwendigen Informationen Rechnung zu tragen. Das kann in der Weise geschehen, dass die Zugänge möglichst unmittelbar nach der Aufnahme in kleinen Gruppen zusammengefasst und mit den wichtigsten Vorschriften der Hausordnung vertraut gemacht werden. Die Anstalt hat die Möglichkeit, bei solchen Gruppengesprächen zugleich die Gründe der Regelung zu erläutern und für die Einhaltung der Normen zu werben. Zur Unterrichtung im Aufnahmeverfahren § 5 Rdn. 6.
II. Erläuterungen 2
Die Hausordnung kann im Wege der Selbstbindung der Verwaltung Ansprüche des Gefangenen, die im Gesetz nicht enthalten sind, neu begründen. Umgekehrt kann sie über das Gesetz hinausgehende Pflichten nicht festsetzen, insbesondere keine neuen Eingriffsbefugnisse für die Vollzugsbehörde schaffen. Legt die Hausordnung z. B. die monatliche Mindestbesuchszeit, über § 24 Abs. 1 Satz 2 hinausgehend, auf drei Stunden fest, so hat jeder Gefangene Anspruch auf Besuch in diesem Umfang (§ 24 Rdn. 9 ff). Die gesetzliche Arbeitspflicht dagegen (§ 41) kann in der Hausordnung nur näher konkretisiert werden.
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Hausordnung
§ 161
Die Hausordnung kann also bestimmen, wann und wo die Arbeitspflicht zu erfüllen ist (§ 82 Abs. 1 Satz 1, § 161 Abs. 2 Nr. 2). „Eine Verlängerung der Arbeitszeit liegt bis zur Länge der in der freien Wirtschaft und im öffentlichen Dienst geltenden Arbeitszeit im pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörde“ (§ 3 Abs. 1, VV Nr. 4 Abs. 1 Satz 1 zu § 37 – KG NStZ 1989, 445). Die Problematik einer fast lückenlosen Reglementierung des Zeitbudgets eines Gefangenen durch die Hausordnung zeigt Böhm auf: sie erleichtert zwar die Arbeit der Bediensteten und gibt den Gefangenen Verhaltenssicherheit, sie verlangt aber keine eigenen Entscheidungen (Böhm 2003 Rdn. 335) und steht damit einer Entwicklung zur Eigenverantwortlichkeit im Sinne des Vollzugsziels entgegen. Nach Abs. 3 ist in jedem Haftraum ein Abdruck der Hausordnung auszulegen. Die 3 Vorschrift konkretisiert die allgemeine Verpflichtung der Anstalt, den Gefangenen „über seine Rechte und Pflichten zu unterrichten“ (§ 5 Rdn. 6). Diese Information ist auch deshalb geboten, weil wegen schuldhafter Verletzung der Pflichten, die dem Gefangenen auf Grund des StVollzG durch die Hausordnung auferlegt werden, Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden können (§ 102 Rdn. 8). Besondere Bedeutung hat die Vorschrift des Abs. 3 bei Ausländern; denn die erforderlichen Informationen werden nach Möglichkeit in ihrer Landessprache ausgelegt. Einen Gesetzestext erhält der Gefangene dagegen nicht ohne weiteres, er muss ihm aber auf Verlangen ausgehändigt werden (OLG Celle NStZ 1987, 44 f). Die von den Landesjustizverwaltungen herausgegebenen „Informationen zum Strafvollzugsgesetz“, die stattdessen ausgegeben werden, sind kein geeigneter Ersatz. Bei einem maßvollen Kritiker wie Diepenbruck (Rechtsmittel im Strafvollzug, Göttingen 1981, 218) haben sie den Eindruck erweckt, sie seien selektiv abgefasst, „um die Gefangenen möglichst dumm zu halten“. Selbst auf die Gefahr von Missverständnissen (§ 5 Rdn. 6) ist es angebracht, jedem Gefangenen einen Gesetzestext und die dazu erlassenen bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zu überlassen (Diepenbruck aaO, 116). Unverständlicherweise gibt es aber bis heute keinen preiswerten Abdruck von Gesetz und VV. In den Textausgaben des StVollzG sind die VV StVollzG nicht enthalten. Zwar hat der „Lichtblick“ seiner Ausgabe 7, 8/1996 einen Abdruck des StVollzG beigefügt, die VV fehlen aber auch dort. Es bleibt der entweder kostspielige oder umständliche Weg der Einsicht in die Kommentare zum StVollzG. Für weitere Einzelheiten: Rotthaus ZfStrVo 1996, 357 ff. Die Hausordnung ist eine Sammlung von Rechtsvorschriften, keine „Maßnahme zur Re- 4 gelung einzelner Angelegenheiten“ (§ 109 Abs. 1 Satz 1). Deshalb ist ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit dem Ziel der Aufhebung der Hausordnung unzulässig (OLG Hamm NStZ 1985, 354 F). Anfechtbar aber ist der Verwaltungsakt, der sich auf die in der Hausordnung enthaltene Rechtsvorschrift stützt (C/MD 2008 aaO). Ausnahmsweise sind einzelne in Hausordnungen enthaltene Normen anfechtbar, wenn diese nach Art einer Allgemeinverfügung unmittelbar in den Rechtskreis des Gefangenen eingreifen (OLG Celle NStZ 90, 427 B; KG NStZ 1997, 429 M für den Fall der Vorverlegung des Abendeinschlusses). In zweifelhaften Fällen stellt jedoch der Betroffene – es kann auch ein Außenstehender sein – vorsorglich einen Antrag, die in der Hausordnung enthaltene Regelung nicht auf ihn anzuwenden, und ficht die daraufhin ergehende Entscheidung an (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1987, 383).
III. Beispiel Ein Beispiel für die Konkretisierung einer sehr allgemeinen Norm war Gegenstand ver- 5 fassungsgerichtlicher Überprüfung (BVerfG NStZ 1998, 103 f). Es ging um das in der Hausordnung festgelegte Verbot, Mitgefangene in Rechtssachen zu beraten. Im zu entscheidenden Fall hatte der Gefangene „regelmäßig und in bedeutendem Umfang Strafgefangene
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Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
rechtlich beraten und deren schriftliche Geschäftsbesorgung übernommen“. Für seine Tätigkeit hatte er Gegenleistungen in Form von Lebensmitteln, Tabak oder Briefmarken angenommen. In Übereinstimmung mit der Strafvollstreckungskammer hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Verhalten einen Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz (§ 1 Abs. 1), aber zugleich auch eine Störung des Zusammenlebens in der Anstalt gesehen. „Nach § 82 Abs. 1 Satz 2 StVollzG darf ein Strafgefangener durch sein Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben in der Anstalt nicht stören. Welche spezifischen Verhaltenspflichten den Strafgefangenen insofern auferlegt sind, bestimmt auf der Grundlage des § 161 StVollzG die jeweilige Hausordnung, sofern nicht das Strafvollzugsgesetz selbst, wie z. B. in § 83 StVollzG die Verhaltenspflichten bereichspezifisch und insofern abschließend normiert hat (vgl. hierzu BVerfG StV 1996, 499 f)“.
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Art. 184 BayStVollzG entspricht im Wesentlichen § 161 StVollzG; im Einzelnen ist er wie folgt gefasst: Abs. 1 ist bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung identisch mit § 161 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 nimmt – neben einer redaktionellen Änderung: „insbesondere“ statt „namentlich“ – in Nr. 3 neu auf: „auf der Grundlage dieses Gesetzes besonders auferlegte Pflichten“; Nr. 4 übernimmt vollinhaltlich die Nr. 3 StVollzG. Abs. 3 ist neu formuliert und lautet: „Gefangene erhalten einen Abdruck der Hausordnung“. In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, S. 90) heißt es u. a.: „Neu wurde klarstellend Nr. 3 (in Abs. 2) aufgenommen; Verhaltenspflichten (z. B. Alkoholverbot und Rauchverbot in bestimmten Bereichen der Anstalt) sind ein wichtiger Bestandteil der Hausordnung. Nach Abs. 3 erhalten die Gefangenen einen Abdruck der Hausordnung, damit sie sich entsprechend Art. 7 Abs. 2 über ihre Rechte und Pflichten informieren können. Die Regelung in § 161 Abs. 3 StVollzG, nach der in jedem Haftraum ein Abdruck der Hausordnung auszulegen ist, hat sich in der Praxis nicht bewährt, da die ursprünglich ausgelegten Exemplare häufig beschädigt oder beseitigt wurden.“ 2. Hamburg
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§ 110 HmbStVollzG ist in Abs. 1 bis auf eine redaktionelle Änderung („Anstaltsleitung“ statt „Anstaltsleiter“) identisch mit § 161 Abs. 1 StVollzG, in Abs. 2 wortgleich mit § 161 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 ist neu gefasst und lautet: „Gefangene erhalten einen Abdruck der Hausordnung“. In der Gesetzesbegründung (Bürgerschafts-Druck 18/6490, S. 50) heißt es: „Die Vorschrift entspricht bis auf redaktionelle Anpassungen § 161 StVollzG. Abs. 3 stellt klar, dass die Gefangenen einen Abdruck der Hausordnung erhalten.“ 3. Niedersachsen
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§ 183 NJVollzG übernimmt im Wesentlichen unverändert § 161 StVollzG. Abs. 1 ist bis auf die geschlechtspezifische Differenzierung identisch mit § 161 Abs. 1 Satz 1 StVollzG; Satz 2 der letzteren Vorschrift ist nicht übernommen worden.
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Anstaltsbeiräte
§§ 162–165
Abs. 2 ist wortgleich mit § 161 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 ist neu gefasst und lautet: „Ein Abdruck der Hausordnung ist allgemein zugänglich auszuhängen und auf Verlangen auszuhändigen.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, S. 213) heißt es u. a.: „Einer gesonderten Zustimmung des Fachministeriums bedarf es nicht mehr. Die Anstaltsleitung trägt die abschließende Verantwortung und unterliegt insoweit der allgemeinen Aufsicht durch das Fachministerium.“
VIERTER TITEL
Anstaltsbeiräte § 162 Bildung der Beiräte (1) Bei den Justizvollzugsanstalten sind Beiräte zu bilden. (2) Vollzugsbedienstete dürfen nicht Mitglieder der Beiräte sein. (3) Das Nähere regeln die Länder.
§ 163 Aufgaben der Beiräte Die Mitglieder des Beirats wirken bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen mit. Sie unterstützen den Anstaltsleiter durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge und helfen bei der Eingliederung der Gefangenen nach der Entlassung.
§ 164 Befugnisse (1) Die Mitglieder des Beirats können namentlich Wünsche, Anregungen und Beanstandungen entgegennehmen. Sie können sich über die Unterbringung, Beschäftigung, berufliche Bildung, Verpflegung, ärztliche Versorgung und Behandlung unterrichten sowie die Anstalt und ihre Einrichtungen besichtigen. (2) Die Mitglieder des Beirats können die Gefangenen und Untergebrachten in ihren Räumen aufsuchen. Aussprache und Schriftwechsel werden nicht überwacht.
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Anstaltsbeiräte
§§ 162–165
Abs. 2 ist wortgleich mit § 161 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 ist neu gefasst und lautet: „Ein Abdruck der Hausordnung ist allgemein zugänglich auszuhängen und auf Verlangen auszuhändigen.“ In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/3565, S. 213) heißt es u. a.: „Einer gesonderten Zustimmung des Fachministeriums bedarf es nicht mehr. Die Anstaltsleitung trägt die abschließende Verantwortung und unterliegt insoweit der allgemeinen Aufsicht durch das Fachministerium.“
VIERTER TITEL
Anstaltsbeiräte § 162 Bildung der Beiräte (1) Bei den Justizvollzugsanstalten sind Beiräte zu bilden. (2) Vollzugsbedienstete dürfen nicht Mitglieder der Beiräte sein. (3) Das Nähere regeln die Länder.
§ 163 Aufgaben der Beiräte Die Mitglieder des Beirats wirken bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen mit. Sie unterstützen den Anstaltsleiter durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge und helfen bei der Eingliederung der Gefangenen nach der Entlassung.
§ 164 Befugnisse (1) Die Mitglieder des Beirats können namentlich Wünsche, Anregungen und Beanstandungen entgegennehmen. Sie können sich über die Unterbringung, Beschäftigung, berufliche Bildung, Verpflegung, ärztliche Versorgung und Behandlung unterrichten sowie die Anstalt und ihre Einrichtungen besichtigen. (2) Die Mitglieder des Beirats können die Gefangenen und Untergebrachten in ihren Räumen aufsuchen. Aussprache und Schriftwechsel werden nicht überwacht.
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§§ 162–165
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
§ 165 Pflicht zur Verschwiegenheit Die Mitglieder des Beirats sind verpflichtet, außerhalb ihres Amtes über alle Angelegenheiten, die ihrer Natur nach vertraulich sind, besonders über Namen und Persönlichkeit der Gefangenen und Untergebrachten, Verschwiegenheit zu bewahren. Dies gilt auch nach Beendigung ihres Amtes. Schrifttum: Dürr Anstaltsbeiräte – Vertreter der Öffentlichkeit ohne Wirkung auf die Öffentlichkeit, in: Soziale Arbeit 1983, 57 ff; Felix u. a. Tätigkeitsbericht des Anstaltsbeirats der Jugendstrafanstalt Plötzensee, in: KrimJ 1979, 296 ff; Gandela Anstaltsbeiräte, in: Schwind/Blau 1988, 229 ff; Gerken Anstaltsbeiräte: Erwartungen an die Beteiligung in der Öffentlichkeit am Strafvollzug und praktische Erfahrungen in Hamburg – eine empirische Studie, Frankfurt 1986; Hager Der Anstaltsbeirat, in: Soziale Arbeit 1988, 42 ff; Kleinert Strukturen und Tendenzen legen uns lahm – über die Schwierigkeit, heutzutage Anstaltsbeirat im Strafvollzug zu bleiben, in: Neue Praxis 1981, 70 ff; Münchbach Strafvollzug und Öffentlichkeit mit besonderer Berücksichtigung der Anstaltsbeiräte, Stuttgart 1973; Sandiford Boards of Visitors, in: Prison Service Journal, May 1998, 39 ff; Schäfer Anstaltsbeiräte – die institutionalisierte Öffentlichkeit? Eine empirische Untersuchung über die Tätigkeit der Anstaltsbeiräte an den hessischen Vollzugsanstalten, Heidelberg 1987; ders. Anstaltsbeiräte und parlamentarische Kontrolle im hessischen Justizvollzug, in: Busch/Edel/Müller-Dietz (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft, Pfaffenweiler 1994, 196 ff; Schibol/Senff Anstaltsbeiräte – Aufgaben und Funktion, in: ZfStrVo 1986, 202 ff; Schmid Landesbeirat für Strafvollzug und Kriminologie in Rheinland-Pfalz, in: ZfStrVo 1994, 85 ff; Vagg/Maguire Out of sight, out of mind? Prison Staff and Boards of Visitors, in: Prison Service Journal, July 1985, 15 ff; Wagner Die Länderregelungen zur Ernennung, Entlassung und Suspendierung von Anstaltsbeiräten gemäß § 162 III StVollzG, in: ZfStrVo 1986, 340 ff.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinwesenarbeit und nicht ausschließlich Einzelfallhilfe . . 2. Regelungen für Anstaltsbeiräte in Nordrhein-Westfalen und Bayern 3. Informationsrecht des Beirates, § 164 . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verschwiegenheitspflicht, § 165 . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. § 162 StVollzG . . . . . . . . . . a) Bayern . . . . . . . . . . . . . b) Hamburg . . . . . . . . . . . c) Niedersachsen . . . . . . . . .
1 2–8 2–4 5–6 7 8 9–20 9–11 9 10 11
Rdn. 2. § 163 StVollzG . a) Bayern . . . . b) Hamburg . . c) Niedersachsen 3. § 164 StVollzG . a) Bayern . . . . b) Hamburg . . c) Niedersachsen 4. § 165 StVollzG . a) Bayern . . . . b) Hamburg . . c) Niedersachsen
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. 12–14 . 12 . 13 . 14 . 15–17 . 15 . 16 . 17 . 18–20 . 18 . 19 . 20
I. Allgemeine Hinweise 1
Die Anstaltsbeiräte, zu deren Bildung die Vollzugsbehörden verpflichtet sind, haben eine doppelte Aufgabe. Die eine ist auf die Öffentlichkeit gerichtet. Der Strafvollzug muss sich, um seine Sicherungsfunktion (§ 2 Satz 2) zu erfüllen (§ 2 Rdn. 17 ff), aber auch um die Gefangenen nicht bloßzustellen, von der Außenwelt abschließen. Die Beiräte sollen ein Stück Öffentlichkeit herstellen, die Vollzugsarbeit in den Anstalten kontrollieren und dem
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Anstaltsbeiräte
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Misstrauen vieler Mitbürger dem Vollzug gegenüber entgegenwirken. Der zweite Tätigkeitsbereich betrifft das Leben in der Anstalt. Hier haben die Beiräte „bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen“ mitzuwirken. In der Praxis ist es für die Beiräte nicht leicht, ihr Tätigkeitsgebiet zu finden und den Zielsetzungen des Gesetzes entsprechend abzugrenzen. Der Gesetzgeber hat sich auch hier auf wenige Grundregeln beschränken müssen, um bewährte Länderentwicklungen nicht zu stören oder Ländern, die durch das Gesetz verpflichtet werden, Anstaltsbeiräte erstmals einzuführen, Spielraum für Experimente zu lassen (ausführlich hierzu Kerner Anm. zu OLG Hamm NStZ 1981, 277, 280). Deshalb ist die Möglichkeit, den Beiräten gesetzlich Mitbestimmungsrechte zuzuweisen, nicht erwogen worden. Die Folge ist, dass die Anstalten auch ohne die Arbeit des Beirats „laufen“ und auf diesen nicht angewiesen sind. Es gibt deshalb Anstalten, wo in einer „Kaffeestunde“ lediglich ein unverbindlicher Meinungsaustausch zwischen Anstaltsleiter und Beirat stattfindet. Auf eine Aufnahme in den Anstaltsbeirat besteht kein Rechtsanspruch (OLG Stuttgart NStZ 1986, 37; Arloth 2008 § 162).
II. Erläuterungen 1. Ein Missverständnis der Aufgaben des Anstaltsbeirats liegt vor, wenn sich seine 2 Arbeit in der Beschäftigung mit Einzelsachen erschöpft, einerlei, ob es sich mehr um die Überprüfung von Beschwerden oder um soziale Einzelfallhilfe handelt. Doch ist es für die Beiratsmitglieder schwer, sich den Erwartungen der Gefangenen zu entziehen, gerade wenn in der Anstalt Missstände, insbesondere Mangel an Betreuungskräften, die sachgemäße Vollzugsgestaltung behindern. Andererseits gibt es auch Einzelfälle, bei deren Behandlung wichtige Erkenntnisse über strukturelle Mängel der Anstalt und über Möglichkeiten zur Fortentwicklung des Vollzuges zu gewinnen sind. Der Beirat würde sich deshalb einer wichtigen Wirkungsmöglichkeit verschließen, wenn er die Beschäftigung mit Einzelfällen ausnahmslos ablehnte. Ein Beirat jedoch, der sich in erster Linie als (zusätzliche) Beschwerdeinstanz oder als „Feuerwehr“ auf dem Gebiet der sozialen Einzelfallhilfe versteht, verfehlt seinen Auftrag. Gefordert ist in erster Linie eine Art von Gemeinwesenarbeit. Sie ist einmal auf das Le- 3 ben innerhalb der Anstaltsmauern gerichtet. Dabei muss sich der Beirat auch um das Wohl des Personals kümmern. Das Gesetz äußert sich allerdings nicht zu der Betreuung der Mitarbeiter, doch lassen sich die Interessen und Bedürfnisse der Insassen und ihrer Behandler nicht voneinander trennen. Gerade weil Verbesserungsvorschläge für die Behandlung und Betreuung der Gefangenen oft zusätzliche Aufgaben für das Personal bedeuten, muss der Beirat, um nicht in die Rolle des Gegners der Beamten zu geraten, sich auch für diese einsetzen. Möglichkeiten dazu ergeben sich besonders, wenn die Anstalt oder einzelne ihrer Mitarbeiter in der Öffentlichkeit angegriffen werden. Der Beirat wird sich aber auch für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter interessieren und Vorschläge für ihre Verbesserung machen dürfen. Außerdem geht es bei der Gemeinwesenarbeit darum, die Anstalt in ihr soziales Umfeld einzubeziehen. Die Beiratsmitglieder sollen also Kontakte zu öffentlichen und privaten Einrichtungen herstellen, damit den Gefangenen deren Angebote (Stadtbücherei, Sportplätze, Jugendzentren) zugänglich werden. Im Hinblick auf die Entlassungsvorbereitung sind Kontakte zu Arbeitgebern und zu Stellen, die Wohnraum zu vergeben haben, von Bedeutung. Die Aufgaben und die Möglichkeiten der Betätigung für Anstaltsbeiräte sind groß 4 (vgl. auch Münchbach 1973); die Regelung in § 163 ist nicht abschließend (AK-Bamman/Feest 2006 § 163 Rdn. 2; Arloth 2008 § 163 Rdn. 1). Die Mitglieder der Anstaltsbeiräte sind deshalb mitverantwortlich für die Verhältnisse in der Anstalt, bei der sie bestellt sind. Sie tragen oft
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schwer an dieser Verantwortung und sind enttäuscht, wenn ihre Bemühungen an den harten Realitäten des Vollzuges, vor allem an Überbelegung, Personalmangel und am Fehlen zusätzlicher Haushaltsmittel, wenn nicht scheitern, so doch ihre Grenze finden. Inzwischen liegt eine Reihe (weiterer) Untersuchungen und Arbeiten vor, die ein anschauliches Bild vermitteln (Dürr 1983; Gandela 1988; Gerken 1986; Schäfer 1987, 1994; Schibol/Senff 1986; Vagg/ Maguire 1985). Die Beiräte sind überall zu einer festen Institution im Strafvollzug geworden. Sie funktionieren zumindest so, dass der gesetzliche Auftrag als befolgt erscheint. Die hohen in sie gesetzten Erwartungen erfüllen sie indessen meist nicht, wobei sich die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten und das beschränkte Zeitbudget der oft mit mehreren Ehrenämtern belasteten Beiratsmitglieder negativ – auch auf das Engagement – auswirken können. Will ein Beirat grundlegende Veränderungen erreichen, kommt es regelmäßig zu Konflikten mit Vollzugsbediensteten, Anstaltsleitung und Aufsichtsbehörde. „Am Ende steht dann im Extrem entweder gegenseitiges Blockieren oder der offene Eklat, gegebenenfalls mit Rücktritt des Beirates“ (K/S-Schöch 2002 § 4 Rdn. 43). Da viele Schwierigkeiten der Anstalten (Überbelegung, Personalmangel, Bausachen) nur überörtlich durch die Aufsichtsbehörden behoben werden können, könnte man an einen Landesbeirat denken (AK-Bammann/Feest 2006 § 162 Rdn. 3), der vom Gesetz nicht vorgesehen ist, den es aber z. B. in Berlin (Gesamtberliner Vollzugsbeirat) gibt (Schibol/Senff 1986, 203 f). In England gibt es das National Advisory Council, dessen Geschäftsführer zugleich zum Stab des Staatsministers für die Gefängnisse gehört (Sandiford 1998, 39 ff). Obwohl auf dem Gebiet des Strafvollzugs tätig, ist ein Ausschuss von Fachleuten, der die Landesjustizverwaltung in Vollzugsangelegenheiten berät, kein Anstaltsbeirat i. S. des Gesetzes. Ein solcher „Landesbeirat für Strafvollzug und Kriminologie“ besteht seit 25 Jahren im Lande Rheinland-Pfalz (Schmid 1994). Es gehören ihm sechs Mitglieder an, Wissenschaftler mit praktischer Erfahrung aus dem Strafvollzug, darunter zwei ehemalige Anstaltsleiter, oder aus einer Tätigkeit auf benachbarten Gebieten. Der Landesbeirat berät das Justizministerium in grundsätzlichen Fragen des Strafvollzugs und der Strafrechtspflege. Er unterstützt das Ministerium bei der Entwicklung und Erprobung neuer Vollzugsformen und bei der Vorbereitung von Richtlinien für die Vollzugsgestaltung und die Ausbildung und Fortbildung des Vollzugspersonals. Durch Anstaltsbesichtungen und durch Teilnahme an Dienstbesprechungen kann sich der Landesbeirat einen unmittelbaren Eindruck von der Lage in den Vollzugseinrichtungen des Landes verschaffen.
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2. Das Land Nordrhein-Westfalen, um ein Beispiel zu nennen, hat nach Abs. 3 zu § 162 „das Nähere“ in der Allgemeinen Verfügung des Justizministers vom 24.8.1998, JMBl. NW 1998, 262, auf etwa vier Druckseiten geregelt. Die Allgemeine Verfügung enthält Vorschriften über die Größe (vier bis acht Mitglieder), die Zusammensetzung der Beiräte und, wie deren Angehörige im Zusammenwirken von Anstalt, Rat der Stadt oder Kreistag, von der Aufsichtsbehörde bestellt werden. Dem Beirat sollen möglichst ein Landtagsabgeordneter, je ein Vertreter einer Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisation und eine auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätige Person angehören. Er soll einmal monatlich zusammentreten. Die Namen der Mitglieder sind den Gefangenen – z. B. durch Aushang oder in einer Anlage zur Hausordnung – zusammen mit dem Hinweis bekannt zu geben, dass sie sich mit Wünschen, Anregungen und Beanstandungen an diese wenden können. Weiter regelt die Vorschrift die Verpflichtung des Anstaltsleiters, den Beirat bei seiner Arbeit zu unterstützen, insbesondere die erforderlichen Auskünfte zu erteilen und ihn auf Verlangen an den Sitzungen und Anstaltsbesichtigungen teilnehmen zu lassen. Der Beirat ist nicht berechtigt, die Gefangenenpersonalakten einzusehen, doch dürfen ihm aus diesen Akten mit Zustimmung des Gefangenen Mitteilungen gemacht werden, soweit sie nicht Einzelheiten aus anhängi-
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Anstaltsbeiräte
§§ 162–165
gen Strafverfahren betreffen. Zur Gefangenenpersonalakte vgl. auch § 115 Rdn. 6; § 180. Die Einschränkung des letzten Halbsatzes ist erforderlich, weil sich die Beiräte auch um die Vollzugsangelegenheiten der Untersuchungsgefangenen (z. B. Unterbringung, Verpflegung, ärztliche Versorgung) kümmern, eine Regelung, die zwar über den Rahmen des Gesetzes hinausgeht, jedoch aus Gründen des Sachzusammenhangs (in der Mehrzahl der Justizvollzugsanstalten des Landes NW sind sowohl Strafgefangene wie Untersuchungsgefangene untergebracht) sinnvoll ist. Aus der Öffentlichkeitsorientierung der Arbeit des Beirats (Rdn. 1, 3) ergeben sich Mitteilungs- und Berichtspflichten. So ist der Beiratsvorsitzende über „besondere Vorkommnisse“ wie Sterbefälle von Gefangenen und Entweichungen aus dem geschlossenen Bereich der Anstalt zu unterrichten. Der Beirat „berichtet, soweit er Anlass dazu sieht“ der Aufsichtsbehörde jährlich über seine Arbeit und wird vom Anstaltsleiter an den Pressekonferenzen beteiligt, die ebenfalls mindestens einmal jährlich, aber auch aus besonderen Anlässen durchgeführt werden (§ 156 Rdn. 5). Bei den Aufsichtsbehörden (dem Justizvollzugsamt und dem Justizministerium) werden keine Beiräte gebildet, einen gewissen Ersatz stellen die Besprechungen dar, die der Präsident des Justizvollzugsamtes wenigstens einmal im Jahr mit den Vorsitzenden der Beiräte durchführt. Weiter erwähnt die Vorschrift, dass die Bestellung eines Beirats aus wichtigem Grund, besonders wegen Verletzung gesetzlicher Pflichten, zurückgenommen werden kann. Schließlich finden sich Hinweise auf die finanzielle Stellung der Beiratsmitglieder. Sie werden nach einem Landesgesetz über die Entschädigung der ehrenamtlichen Mitglieder von Ausschüssen entschädigt und sind gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO bei ihrer Tätigkeit unfallversichert. Bayern hatte nach dem Zweiten Weltkrieg als erstes Bundesland (wieder) Anstalts- 6 beiräte, vor dem Inkrafttreten von § 162 Abs. 1 (1.1.1980) jedoch nur bei den großen Vollzugsanstalten. Unter den Mitgliedern mussten sich je zwei Abgeordnete des für Eingaben und Beschwerden zuständigen Landtagsausschusses befinden. Diese Regelung hatte sich gut bewährt, weil der Petitionsausschuss, der sich zu einem erheblichen Teil seiner Arbeitskraft mit Eingaben von Gefangenen zu befassen hat, auf diese Weise über die Entwicklung des Vollzuges aus eigener Anschauung informiert war. Inzwischen sieht die Regelung des Art. 185 Abs. 2 BayStVollzG vor, dass der Vorsitzende des Anstaltsbeirates und sein Vertreter Abgeordnete des Bayerischen LT sind. Sie werden vom Bayerischen LT gewählt. Diese Regelung gewährleistet, dass die Gesellschaft durch ihre Repräsentanten Einblick in die verschlossene Welt des Vollzugs erhält, um bei dessen Gestaltung mitwirken zu können (so die Begründung zum Entwurf des Gesetzes, s. u. III). Im Übrigen ähnelt die jetzige Regelung der von Nordrhein-Westfalen. Weder in Bayern noch in Nordrhein-Westfalen hat die Bestellung von Landespolitikern zu einer Politisierung der Arbeit dieser Einrichtung geführt (vgl. jedoch die Warnung bei AK-Bammann/Feest 2006 § 162 Rdn. 7). Umgekehrt lässt sich sagen, dass Personen ohne jeden Einfluss in der Öffentlichkeit kaum Chancen haben, ihre anregende und kontrollierende Aufgabe wirksam zu erfüllen (C/MD 2008 § 163 Rdn. 2). Ein Überblick über die Verwaltungsvorschriften der Länder findet sich bei Wagner 1986, 341, der eingehend darlegt, dass das Nähere (§ 162 Abs. 3), insbesondere die Ermächtigungsgrundlage für die Ernennung der Beiräte, von den Ländern durch Gesetz geregelt werden müsse (aaO 343 f). Die Länder Bayern, Hamburg und Niedersachsen haben inzwischen eine gesetzliche Regelung der Ernennung der Beiräte (s. u. III). Die mangelnde gesetzliche Grundlage ist vom OLG Stuttgart, das sich mit der „Konkurrentenklage“ eines nicht berücksichtigten Bewerbers für einen Beirat zu beschäftigen hatte (NStZ 1986, 382 ff), nicht beanstandet worden. Der Beschluss und die kritische Anmerkung von Dertinger befassen sich ausschließlich mit Fragen der Rechtsschutzgewährung für den übergangenen Bewerber und den ihn stützenden Verein.
Bernhard Wydra
1053
§§ 162–165
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
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3. Die Befugnisse des Beirats bestehen in einem umfassenden Informationsrecht (§ 164). Der Beirat kann sich frei in der Vollzugsanstalt bewegen – schon aus praktischen Gründen nicht „zu jeder Tageszeit“, wie Bammann/Feest meinen (AK-Bammann/Feest 2006 § 164 Rdn. 1) – und sich unüberwacht mit den Gefangenen und selbstverständlich auch mit den Mitarbeitern unterhalten (§ 24 Rdn. 6). „Diese Befugnis steht auch jedem einzelnen Mitglied des Beirats zu, ohne dass es dazu eines Mehrheitsbeschlusses des Beirats oder der besonderen Erlaubnis des Anstaltsleiters bedarf“ (OLG Hamm NStZ 1981, 277 ff mit zust. Anm. Kerner); sie kann mit Verpflichtungsklage nach § 109 StVollzG geltend gemacht werden (OLG Hamm aaO; Arloth 2008 § 164 Rdn 2). Das betreffende Mitglied aber hat die Verpflichtung, die übrigen Mitglieder über den Inhalt der Aussprachen zu unterrichten. Die Befugnisse nach § 164 können nicht durch eine Regelung nach § 162 Abs. 3 beschränkt werden (OLG Hamm aaO). Das Recht zu originärer, selbständiger Information wird ergänzt durch ein ebenfalls weit gefasstes Recht auf sekundäre Information durch die Anstalt (C/MD 2008 § 164 Rdn. 2). Die erwähnte Allgemeine Verfügung des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen (Rdn. 5) hat dieses Informationsrecht konkretisiert. Danach hat der Anstaltsleiter bestimmte Vorfälle, die voraussichtlich besonderes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregen werden, von sich aus dem Beiratsvorsitzenden mitzuteilen, während er im Übrigen verpflichtet ist, dem Beirat Auskunft zu erteilen und zum Gespräch zur Verfügung zu stehen. Streitig war in diesem Zusammenhang, wieweit der Beirat Anspruch auf Auskunft über die ärztliche Behandlung eines Gefangenen und auf Einsicht in die Krankenakten hat. Da dem Beirat nicht die Aufgabe der Dienstaufsicht übertragen ist, hat das OLG Frankfurt (NJW 1978, 2351 f) einen solchen Anspruch verneint. Diese Beschränkung ist sachgemäß, weil der Schwerpunkt der Arbeit des Beirats auf dem Gebiet der Verbesserung der Ausgestaltung des Vollzuges liegt und ein zu häufiges und zu weitgehendes Eingehen auf Einzelfälle den Beirat von seinen eigentlichen Aufgaben ablenkt (Rdn. 2; für ein Recht auf Akteneinsicht – mit Zustimmung des Gefangenen auch der Krankenblätter – nur AK-Bammann/Feest 2006 § 164 Rdn. 2). Zum Schriftverkehr mit dem Anstaltsbeirat § 29 Rdn. 13.
8
4. Den umfassenden Informationsbefugnissen entspricht eine ebenso umfassende Verschwiegenheitspflicht (§ 165), deren Verletzung gem. § 203 Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbewährt ist (Arloth 2008 Rdn. 2). Doch hat diese Verschwiegenheitspflicht ihre Grenzen. Wenn der Beirat nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten bestimmte schwerwiegende Missstände nicht abstellen konnte, so kann eine Güterabwägung bei § 34 StGB im Einzelfall zu dem Ergebnis führen, dass die Verschwiegenheitspflicht zurückzutreten hat (C/MD 2008 zu § 165; AK-Bammann/Feest 2006 § 165 Rdn. 1, die in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hinweisen, im Regelfall auch die Datenschutzbestimmungen zu beachten).
III. Landesgesetze 1. § 162 StVollzG, Bildung der Beiräte a) Bayern
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Art. 185 BayStVollzG entspricht § 162 StVollzG mit folgenden Besonderheiten: Abs. 1 ist wortgleich mit § 162 StVollzG. Abs. 2 Satz 1 ist neu und lautet: „Der oder die Vorsitzende und deren Vertreter werden aus der Mitte des Bayerischen Landtages gewählt“. Satz 2 ist wortgleich mit § 162 Abs. 2 StVollzG. Abs. 3 ist neu und lautet: „Die Mitglieder der Beiräte arbeiten ehrenamtlich“. § 162 Abs. 3 StVollzG wurde nicht übernommen.
1054
Bernhard Wydra
Anstaltsbeiräte
§§ 162–165
In der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 15/8101, S. 90) heißt es u. a.: „Dass Abgeordnete des Bayerischen Landtages dem Beirat vorsitzen, hat sich bewährt und gewährleistet, dass die Gesellschaft durch ihre Repräsentanten Einblick in die verschlossene Welt des Vollzugs erhält, um bei dessen Gestaltung mitwirken zu können.“ b) Hamburg § 114 Abs. 1 HmbStVollzG entspricht bis auf eine redaktionelle Änderung („Anstalten“ 10 statt „Justizvollzugsanstalten“) vollinhaltlich § 162 StVollzG, ebenso Abs. 2 dem § 162 Abs. 2 StVollzG („Bedienstete“ statt „Vollzugsbedienstete“). Abs. 3 ist neu und lautet: „Das Nähere regelt die Aufsichtsbehörde“; er ersetzt § 162 Abs. 3 StVollzG. c) Niedersachsen § 186 Abs. 1 NJVollzG ist bis auf eine redaktionelle Änderung („Anstalten“ statt „Justiz- 11 vollzugsanstalten“ wortgleich mit § 162 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 ist neu gefasst und lautet: „Das Nähere regelt das Fachministerium durch Verordnung. Die Verordnung enthält insbesondere Regelungen zur Anzahl der Beiratsmitglieder sowie über deren Berufung und Abberufung. Justizbedienstete sowie Bedienstete des Fachministeriums dürfen nicht Mitglied eines Beirats sein.“ Er ersetzt § 162 Abs. 2 und 3 StVollzG. 2. § 163 StVollzG, Aufgabe der Beiräte a) Bayern Art. 186 BayStVollzG ist bis auf die geschlechtsspezifische Differenzierung wortgleich 12 mit § 163 StVollG. b) Hamburg § 115 HmbStVollzG ist bis auf eine redaktionelle Änderung („Anstaltsleitung“ statt „An- 13 staltsleiter“) wortgleich mit § 163 StVollzG. c) Niedersachsen § 187 NJVollzG fasst die Vorschriften der §§ 163 und 164 StVollzG ohne wesentliche Än- 14 derungen zusammen, allerdings mit Neuformulierungen und unter Einbeziehung der Untersuchungshaft. Im Einzelnen ist er wie folgt aufgebaut: Abs. 1 lautet: „Der Beirat wirkt bei der Gestaltung des Vollzuges durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge mit. Er kann Gefangene und Sicherungsverwahrte unterstützen, soweit dies mit den Zielen des Vollzuges (. . . ausgelassen Untersuchungshaft) im Einklang steht; er kann Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten bei der Eingliederung nach der Entlassung helfen.“ Abs. 2 entspricht bis auf redaktionelle Änderungen („Der Beirat“ statt „Die Mitglieder des Beirats“; „und Sicherungsverwahrte“) und der Erweiterung der Aufzählung („Förderung oder Therapie der Gefangenen und Sicherungsverwahrten“) voll § 164 Abs. 1 StVollzG. Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 sind bis auf redaktionelle Änderungen („Beirat“; „Sicherungsverwahrte“ statt „Untergebrachte“ identisch mit § 164 Abs. 2 StVollzG (Satz 3 und Satz 4 beziehen sich auf Untersuchungsgefangene).
Bernhard Wydra
1055
§ 166
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
3. § 164 StVollzG, Befugnisse a) Bayern
15
Art. 187 BayVollzG ist bis auf die Streichung von „und Untergebrachten“ wortgleich mit § 165 StVollzG. b) Hamburg
16
§ 116 Abs. 1 HmbVollzG ist wortgleich mit § 164 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 übernimmt die Formulierung des § 164 Abs. 2 Satz 1 StVollzG mit dem Zusatz „ohne Überwachung“. § 164 Abs. 2 Satz 2 StVollzG wurde nicht übernommen. c) Niedersachsen
17
Siehe Rdn. 14 (§ 187 NJVollzG zu § 163 StVollzG). 4. § 165 StVollzG, Pflicht zur Verschwiegenheit a) Bayern
18
Art. 188 BayVollzG ist wortgleich mit § 165 StVollzG. b) Hamburg
19
§ 117 HmbVollzG ist wortgleich mit § 165 StVollzG. c) Niedersachsen
20
§ 188 NJVollzG ist bis auf redaktionelle Änderungen („Tätigkeit“ statt „Amtes“) wortgleich mit § 164 StVollG.
FÜNFTER TITEL
Kriminologische Forschung im Strafvollzug § 166 (1) Dem kriminologischen Dienst obliegt es, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen. (2) Die Vorschriften des § 186 gelten entsprechend. Schrifttum: Bereswill/Greve (Hrsg.) Forschungsthema Strafvollzug, Baden-Banden 2001; Böhm Probleme der Strafvollzugsforschung, in: Kury (Hrsg.), Kriminologische Forschung in der Diskussion, Köln 1985, 575 ff; ders. Vollzugsberatung. Dargestellt am Beispiel des Landesbeirats für Strafvollzug und Kriminologie bei dem Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz, in: Busch (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft, GS Krebs, Pfaffenweiler 1994, 230 ff; Böhm/Erhard Strafrestaussetzung und
1056
Jörg-Martin Jehle
§ 166
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
3. § 164 StVollzG, Befugnisse a) Bayern
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Art. 187 BayVollzG ist bis auf die Streichung von „und Untergebrachten“ wortgleich mit § 165 StVollzG. b) Hamburg
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§ 116 Abs. 1 HmbVollzG ist wortgleich mit § 164 Abs. 1 StVollzG. Abs. 2 übernimmt die Formulierung des § 164 Abs. 2 Satz 1 StVollzG mit dem Zusatz „ohne Überwachung“. § 164 Abs. 2 Satz 2 StVollzG wurde nicht übernommen. c) Niedersachsen
17
Siehe Rdn. 14 (§ 187 NJVollzG zu § 163 StVollzG). 4. § 165 StVollzG, Pflicht zur Verschwiegenheit a) Bayern
18
Art. 188 BayVollzG ist wortgleich mit § 165 StVollzG. b) Hamburg
19
§ 117 HmbVollzG ist wortgleich mit § 165 StVollzG. c) Niedersachsen
20
§ 188 NJVollzG ist bis auf redaktionelle Änderungen („Tätigkeit“ statt „Amtes“) wortgleich mit § 164 StVollG.
FÜNFTER TITEL
Kriminologische Forschung im Strafvollzug § 166 (1) Dem kriminologischen Dienst obliegt es, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen. (2) Die Vorschriften des § 186 gelten entsprechend. Schrifttum: Bereswill/Greve (Hrsg.) Forschungsthema Strafvollzug, Baden-Banden 2001; Böhm Probleme der Strafvollzugsforschung, in: Kury (Hrsg.), Kriminologische Forschung in der Diskussion, Köln 1985, 575 ff; ders. Vollzugsberatung. Dargestellt am Beispiel des Landesbeirats für Strafvollzug und Kriminologie bei dem Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz, in: Busch (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft, GS Krebs, Pfaffenweiler 1994, 230 ff; Böhm/Erhard Strafrestaussetzung und
1056
Jörg-Martin Jehle
Kriminologische Forschung im Strafvollzug
§ 166
Legalbewährung. Ergänzungsuntersuchung, Wiesbaden 1991; Bölter Verlauf von Lockerungen im Langstrafenvollzug. Kriminologische Befunde und vollzugspraktische Folgerungen, in: ZfStrVo 1991, 71 ff; Dolde Wissenschaftliche Begleitung des Strafvollzugs unter besonderer Berücksichtigung des Kriminologischen Dienstes, in: ZfStrVo 1987, 16 ff; dies. Die Arbeitsunzufriedenheit des allgemeinen Vollzugsdienstes und Werkdienstes im Langstrafenvollzug – ein Problem für die Vollzugsorganisation, in: ZfStrVo 1990, 350 ff; dies. Zehn Jahre Erfahrung mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe ohne soziale Desintegration, in: ZfStrVo 1992, 24 ff; dies. Drogengefährdete und Drogenabhängige im Justizvollzug, in: Dessecker/Egg (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Rechtliche, empirische und praktische Aspekte, Wiesbaden 1995, 93 ff; dies. Alkoholauffällige Täter im Strafvollzug: Ein Sonderprogramm für Straßenverkehrstäter, in BewHi 1996, 117 ff; Dolde/Grübl Jugendstrafvollzug in Baden-Württemberg – Untersuchungen zur Biographie, zum Vollzugsverlauf und zur Rückfälligkeit von ehemaligen Jugendstrafgefangenen, in: Kerner/Dolde/Mey 1996, 219 ff; Dünkel Empirische Forschung im Strafvollzug. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Bonn 1996; Egg Der Streitfall Sozialtherapie. Praxis und Ergebnisse behandlungsorientierter Einrichtungen im Strafvollzug, in: Müller-Dietz/Walter (Hrsg.), Strafvollzug in den 90er Jahren. Festgabe für Rotthaus, Pfaffenweiler 1995, 55 ff; ders. Die Behandlung von Sexualstraftätern in sozialtherapeutischen Anstalten, in: Egg (Hrsg.) Behandlung von Sexualstraftätern im Justizvollzug, Wiesbaden 2000, 75 ff; Fischer-Jehle Frauen im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung über Lebensentwicklung und Delinquenz strafgefangener Frauen, Bonn 1991; Hagemann Leistungsgerechte Entlohnung im Strafvollzug: das Hamburger Modell, in: MschrKrim 1995, 341 ff; Huchzermeier/Goth/Köhler/Hinrichs/Aldenhoff Psychopathie und Persönlichkeitsstörungen. Beziehungen der „Psychopathie-Checkliste“ nach Hare zu der Klassifikation der DSM-IV bei Gewaltstraftätern, in: MschrKrim 2003, 206 ff; Hürlimann Führer und Einflußfaktoren in der Subkultur des Strafvollzugs, Pfaffenweiler 1993; Jehle (Hrsg.), Datenzugang und Datenschutz in der kriminologischen Forschung, Wiesbaden 1987; ders. Der Kriminologische Dienst in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bestandsaufnahme im Jahre 1987, Wiesbaden 1988; ders. Arbeit und Entlohnung von Strafgefangenen, in: ZfStrVo 1994, 259 ff; ders. Strafvollzug und Empirie, in: Feuerhelm u. a. (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin 1999a, 235 ff; ders. in: Hamm/Möller (Hrsg.), Datenschutz und Forschung, Forum Datenschutz Bd. 7, Baden-Baden 1999b, 69 ff; ders. (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989; Kaiser Kriminologie. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., Heidelberg 1996; Kerner/Dolde/Mey (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung, Bonn 1996; Klose Deskriptive Darstellung der subjektiv empfundenen Haftsituation männlicher türkischer Inhaftierter im geschlossenen Justizvollzug in NordrheinWestfalen, Frankfurt 2002; Maelicke Ist Frauenstrafvollzug Männersache? Eine kritische Bestanaufnahme des Frauenstrafvollzuges in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1995; Mey/Wirth Veränderte Vollzugspopulationen und kontinuierliche Vollzugsforschung: Der Jugendstrafvollzug im Blick des Kriminologischen Dienstes, in: Feurhelm u. a. (Hrsg.), FS für Alexander Böhm, Berlin 1999, 581 ff; Müller-Dietz Empirische Forschung und Strafvollzug, Frankfurt 1976; Neu Betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, Berlin 1995; Nowara Stationäre Behandlungsmöglichkeiten im Maßregelvollzug nach § 63 StGB und der Einsatz von Lockerungen als therapeutisches Instrument, in: MschrKrim 1997, 116 ff; Oberthür Kriminologie in der Strafrechtspraxis. Kriminologischer Dienst und Zentralinstitut für Kriminologie, Stuttgart 1976; Rehder/Wischka Behandlung von Sexulastraftätern: Meta-Evaluationsergebnisse und Folgerungen für die Entwicklung von Behandlungskonzepten, in: KrimPäd 2002, 70 ff; Rehn/Wischka/Lösel/Walter (Hrsg.) Behandlung „gefährlicher Straftäter“. Grundlagen, Konzepte, Ergebnisse, Herbolzheim 2001; Riemenschneider Bemerkungen zum Aufbau eines Kriminologischen Dienstes in der Bundesrepublik, in: MschrKrim 1961, 85 ff; Schmitt Inhaftierte Sexualstraftäter, in: BewHi 1996, 3 ff; Schramke Alte Menschen im Strafvollzug. Empirische Untersuchung und kriminalpolitische Überlegungen, Bonn 1996; Schwind Kriminologische Forschung und Kriminalpolitik, in: Kury (Hrsg.), Perspektiven und Probleme kriminologischer Forschung, Köln u. a. 1981, 80 ff; Steinhilper, G. Der Kriminologische Dienst (§ 166 StVollzG) – Anspruch und Wirklichkeit, in: Kerner/Göppinger/Streng (Hrsg.); Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht (FS für Leferenz zum 70.Geb.), Heidelberg 1983, 91 ff; ders. Der Kriminologische Dienst: Eine Herausforderung für Wissenschaft und Praxis, in: Brusten/Häußling/Malinowski (Hrsg.), Kriminologie im Spannungsfeld von Kriminalpolitik und Kriminalpraxis, Stuttgart 1986, 61 ff; ders. Der Kriminologische Dienst, in: Schwind/Blau 1988, 189 ff); Weidner/Wolters Aggression und Delinquenz. Ein spezialpräventives Training für gewalttätige Wiederholungstäter, in: MschrKrim 1991, 210 ff; Wirth
Jörg-Martin Jehle
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§ 166
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
Untersuchungen zum Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen, in: Kerner/Dolde/Mey 1996, 97 ff; ders. Legalbewährung nach Jugendstrafvollzug: Probleme und Chancen von Aktenanalyse, Wirkungsanalyse und Bedingungsanalyse, in: Kerner/Dolde/Mey 1996, 467 ff; ders. Der kriminologische Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen: Praxisorientierte Forschung und mehr, in: BewHi 2008, 344 ff.
Übersicht Rdn.
Rdn.
I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–4 1. Entstehung des Kriminologischen Dienstes . . . . . . . . . . . . . 1 2. Kriminologischer Dienst nicht Pflichtaufgabe . . . . . . . . . . 2 3. Bisheriger Ausbaustand des Kriminologischen Dienstes . . . . . . 3–4 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 5–19 1. Defizit an wissenschaftlicher Grundlegung des Strafvollzugs und der Kriminalpolitik . . . . . 5 2. Praxisorientierte Bedarfsforschung 6 3. Aufgaben und Arbeitsmöglichkeiten des Kriminologischen Dienstes . . . . . . . . . . . . . 7–12
a) Kriminologische Eigenforschung . . . . . . . . . . . 8 b) Auftragsforschung und Veranlassung von Fremdforschung 9 c) Unterstützung von Fremdforschung . . . . . . . . . . . 10 d) Praxisbegleitung . . . . . . . 11 e) Wissensvermittlung und Modellerprobung . . . . . . . 12 Arbeitsmethoden . . . . . . . . 13 Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . 14 Schwerpunkte vollzugsbezogener Forschung . . . . . . . . . . . . 15–16 Datenschutzfragen (§ 166 Abs. 2) 17–19
4. 5. 6. 7.
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Die Notwendigkeit eines Kriminologischen Dienstes stand für den Gesetzgeber zunächst außer Frage; eine entsprechende Organisation war daher ausdrücklich gefordert worden (zuletzt der RegE 1973, § 152 – BT-Drucks. 7/918, 98). Auch die Alternativprofessoren hatten eine selbständige und einflussreiche Organisation gewollt, die Wissenschaft und Forschung eine deutliche Gestaltungsmöglichkeit verschafft hätte, um den Strafvollzug grundlegend zu verbessern (§§ 37 bis 39 AE-StVollzG, mit Begründung 97 ff; vgl. auch Deutscher Juristentag 1970, Teil N, Beschluss 8). Der Gedanke des Kriminologischen Dienstes knüpft an Überlegungen und Formen schon aus dem vergangenen Jahrhundert an (zu Begriff, Geschichte, Zielen und bisherigen Organisationsformen und Erfolgen des Kriminologischen Dienstes vor dem StVollzG Oberthür 1976, 3–54 m. w. N. und Riemenschneider 1961; grundlegend zu empirischer Forschung und Strafvollzug Müller-Dietz 1976).
2
2. Allerdings ist es nicht gelungen, den Kriminologischen Dienst als Pflichtaufgabe zu verankern (a. A. AK-Bammann/Feest 2006 Rdn. 4), vielmehr überlässt es die Vorschrift den einzelnen Justizverwaltungen, einen solchen Dienst nach ihren jeweiligen finanziellen, personellen und auch organisatorischen Möglichkeiten einzurichten (BT-Drucks. 7/3998, 47). Auch Aufgaben und Zielsetzungen des Kriminologischen Dienstes sind gesetzlich nicht näher umschrieben.
3
3. In den einzelnen Bundesländern ist der Kriminologische Dienst daher sehr unterschiedlich organisiert und ausgebaut (zum früheren Ausbaustand Steinhilper 1983, 96 f; ders. 1988, 189 ff; s. auch Dolde 1987 und Erstauflage dieses Kommentars). Den ambitioniertesten Versuch hatte Niedersachsen unternommen; dort hatte die Referatsgruppe „Planung und Forschung“ Aufgaben des Kriminologischen Dienstes seit 1979 wahrgenommen und dabei auch übergreifend Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung in den Blick genommen (vgl. Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und
1058
Jörg-Martin Jehle
Kriminologische Forschung im Strafvollzug
§ 166
Resozialisierung, Heidelberg 1982 m. w. N.). Ende der 80er Jahre wurde die Referatsgruppe jedoch aufgelöst und die Referenten in die Vollzugsabteilung des Justizministeriums integriert. Nach früheren Bestandsaufnahmen (s. Jehle 1988 und unveröffentlichtes Manuskript der Kriminologischen Zentralstelle 1996) und derzeitigem Kenntnisstand (Umfrage des Strafvollzugsarchivs an der Universität Bremen, zit. nach AK-Baumann/Feest 2006 Rdn. 11) besteht ein eigenständiger Apparat an wissenschaftlichem Personal und Sachmitteln lediglich in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen (dazu Wirth 2008) und seit einigen Jahren in Niedersachsen, was sich im Übrigen auch am Ausmaß eigener Forschungsaktivitäten zeigt. Einige andere Länder haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet (Bayern) oder einen Angehörigen des Fachdienstes in einer Vollzugsanstalt mit einem Teil oder der vollen Arbeitszeit (so in Hessen) mit entsprechenden Aufgaben betraut. Darüber hinaus besteht in Rheinland-Pfalz – seit einiger Zeit auch in Thüringen und in Brandenburg – ein Landesbeirat, der sachkundig das Justizministerium in Vollzugsfragen berät und auch einschlägige Forschungen anregt (s. Böhm 1994, 230 ff). Im Übrigen werden die Aufgaben von einem Referenten in der Landesjustizverwaltung mit wahrgenommen, wobei durchaus auch Auftragsforschungen an Dritte vergeben werden. c) Die personelle und finanzielle Ausstattung des Kriminologischen Dienstes, seine ge- 4 dankliche Verankerung in den Ministerien und in der Strafvollzugspraxis ist nach wie vor dürftig. Eine kritische Bilanz ergibt: Die Chance des Kriminologischen Dienstes ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend genutzt. § 166 ist daher nach wie vor überwiegend Programm geblieben (Böhm 2003 Rdn. 56; kritisch und skeptisch auch K/S-Schöch 2002 § 11 Rdn. 28; Laubenthal 2008 Rdn. 298). Immerhin wird man infolge des BVerfG-Urteils zum Jugendstrafvollzug (s. dazu § 1 Rdn. 2) erwarten dürfen, dass jedenfalls im Jugendstrafvollzug eine Struktur für systematische Evaluationen geschaffen wird. In vorbildhafter Weise zeigt sich dies in Niedersachsen, wo abgeleitet vom BVerfG-Urteil (NJW 2006, 2093) nicht nur für den Jugendstrafvollzug, sondern für den gesamten Justizvollzug eine gesetzliche Verpflichtung geschaffen wurde, die spezialpräventive Wirksamkeit von Vollzugsmaßnahmen wissenschaftlich zu überprüfen und die Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Zugleich werden die Vollzugsbehörden verpflichtet, für diesen Zweck aussagekräftige Daten zu erheben (Rdn. 23).
II. Erläuterungen 1. Grundgedanke des Kriminologischen Dienstes ist es, den Strafvollzug fortzuent- 5 wickeln. Der Kriminologische Dienst bezweckt die wissenschaftliche Grundlegung der Strafvollzugspraxis. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, die Praxis sollte sich in ihren Entscheidungen nicht nach subjektiven, jederzeit wandelbaren Eindrücken und Erkenntnissen, nach nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelerfahrungen, Alltagstheorien oder auch einseitigen politischen Vorgaben richten, sondern auf empirisch gesicherte, objektive Befunde stützen. Dasselbe gilt für den ambulanten Teil der Straffälligenhilfe. Notwendig ist daher in erster Linie verlässliches Wissen über die Wirklichkeit, d. h. all jene Faktoren, die die Strafvollzugspraxis tatsächlich beeinflussen. Die kriminologische Forschung ist zwar vor allem in den 1980er Jahren stark ausgebaut worden (vgl. statt aller Kaiser/Kury/Albrecht (Hrsg.); Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, Freiburg 1988 m. w. N.), für die Strafvollzugspraxis besteht jedoch nach wie vor ein erhebliches Defizit. Besonders offenkundig ist der Mangel an gesichertem Wissen über die Wirkung von Kriminalsanktionen; empirische Befunde zur Strafwirkung gibt es nur wenige (vgl. auch dazu die einzelnen Beiträge in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung, Wiesbaden 1992).
Jörg-Martin Jehle
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§ 166
Vierter Abschnitt. Vollzugsbehörden
Auch an einer wissenschaftlichen Grundlegung der Kriminalpolitik fehlt es weitgehend (zum Zusammenhang zwischen kriminologischer Forschung und Kriminalpolitik s. eingehend Schwind 1981; ferner Kaiser Kriminalpolitik ohne kriminologische Grundlage? in: GS für Horst Schröder, München 1978, 481 ff).
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2. Hauptaufgabe des Kriminologischen Dienstes ist eine praxisorientierte Bedarfsforschung (insbesondere rechtstatsächliche Fundierung von Reformen in Legislative und Exekutive). Drängende Fragen der Praxis, die von der Praxis mangels Methodenkenntnissen und wegen des Entscheidungs- und Handlungszwanges im Alltag nicht über den Einzelfall hinaus geklärt werden können, sollten vom Kriminologischen Dienst aufgegriffen, wissenschaftlich geklärt und mit Umsetzungsvorschlägen versehen werden. Bedarfsforschung dieser Art hat sich an den Mängeln der Praxis und ihren Reform- und Verbesserungswünschen zu orientieren; sie darf dabei nicht theorielos und einseitig sein in dem Sinne, dass eine bestehende Praxis lediglich (pseudowissenschaftlich) bestätigt wird. Ihre Methoden müssen sich an wissenschaftlichen Standards ausrichten. Darüber hinausgehend erscheint besonders wichtig, dass der Kriminologische Dienst nicht nur Forschungsergebnisse erzielt, sondern auch Vorschläge unterbreitet zur Umsetzung der Erkenntnisse im Sinne der Verbesserung des Strafvollzugs.
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3. Der Kriminologische Dienst hat mehrere Aufgabenfelder (Steinhilper 1983, 99 ff; ders. 1986, 61 ff; ferner Dolde 1987; Kaiser 1996, 922 f; K/S-Schöch 2002 § 10 Rdn. 28; teilweise zu weitgehend AK-Bammann/Feest 2006 Rdn. 12 ff; zu den Schwierigkeiten der Gewinnung und Umsetzung kriminologischer Erkenntnisse im Justizbereich s. auch Steinhilper Glanz und Elend justizinterner kriminologischer Forschung, in: Jehle (Hrsg.), 1987, 351 ff).
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a) Er sollte bei einer entsprechenden personellen und finanziellen Ausstattung Forschung auch selbst betreiben (kriminologische Eigenforschung). Praxisrelevante Fragen sind in engem Kontakt mit der Strafvollzugspraxis festzulegen; danach ist ein Forschungsplan zu erstellen, die erforderlichen Daten sind zu erheben und auszuwerten, die Ergebnisse zu bewerten und mit Vorschlägen für die Praxis zu versehen. Inhaltlich kann sich der Kriminologische Dienst dabei nahezu mit allen Fragen in und um den Strafvollzug befassen (bis hin zu Untersuchungen zu Alternativen zum Strafvollzug). Vorrangig, wenn auch besonders schwierig, ist dabei die Beurteilung des Erfolges (der Wirksamkeit) einzelner Maßnahmen im Strafvollzug. Kosten-Nutzen-Gesichtspunkte sollten dabei nicht außer Acht gelassen werden (dazu näher Dünkel Kosten-Nutzen-Analyse in der Kriminalpolitik, Freiburg 1987 sowie speziell hinsichtlich Arbeitsproduktivität und Gefangenenentlohnung Neu 1995).
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b) Weder personell, organisatorisch noch finanziell wird der Kriminologische Dienst in absehbarer Zeit in der Lage sein, alle klärungsbedürftigen Fragen der Strafvollzugspraxis selbst wissenschaftlich zu untersuchen. Es liegt daher nahe, Untersuchungsaufträge an Dritte zu vergeben (Auftragsforschung) oder praxiserhebliche Fragen an die Wissenschaft heranzutragen, damit sie systematisch untersucht werden können (Veranlassung von Fremdforschung). In Betracht kommen Universitäten und vergleichbare Einrichtungen. Die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert Motivationsarbeit: zum einen müssen die richtigen Ansprechpartner gefunden werden; darüber hinaus ist die Aufgabenstellung so zu fassen, dass sie auch für Wissenschaftler attraktiv ist. Es ist darauf zu achten, dass sich eine ursprünglich praxisrelevante Frage im Laufe der Untersuchung nicht zu einem eher abstrakt-theoretischen Problem wegentwickelt, dessen Lösung für die Praxis bedeutungslos ist.
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Kriminologische Forschung im Strafvollzug
§ 166
c) Soweit praxisrelevante Forschungsfragen von außerhalb an den Kriminologischen 10 Dienst bzw. die Strafvollzugspraxis herangetragen werden, ist es Aufgabe des Kriminologischen Dienstes, diese Anliegen zu unterstützen. Durch den Kriminologischen Dienst können der Zugang zum Untersuchungsfeld erleichtert, Datenerhebungen gefördert, die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis abgebaut werden. Praktiker, die durch Datenerhebungen Mehrbelastungen für den Strafvollzug und auch Störungen befürchten, zeigen in der Regel wenig Verständnis für solche Erhebungen, insbesondere, wenn sie nach der Unterstützung eines Forschungsprojektes von den Ergebnissen später nie mehr etwas gehört haben oder wenn der spätere Forschungsbericht zu abstrakt, unverständlich oder so überinterpretiert war, dass sich die Praxis in dem Text kaum wiedererkennen kann. Dem Kriminologischen Dienst eröffnet sich hierbei die Chance, zwischen den Forschungsanliegen der Universitäten und den Bedürfnissen der Praktiker zu vermitteln. d) Seit jeher wird gefordert, Maßnahmen im, neben und auch nach dem Strafvollzug 11 auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen (grundlegend schon Müller-Dietz 1976; vgl. auch Jehle 1999a). Häufig werden jedoch Behandlungskonzepte, organisatorische und strukturelle Änderungen im Strafvollzug ohne wissenschaftliche Begleitung begonnen. Vergleiche zwischen dem Stand vor und nach der neuen Vollzugsmaßnahme sind daher nicht möglich, Erfolge lassen sich nur schwer beurteilen. e) Die Kriminologie hat zwar zahlreiche Erkenntnisse erbracht, die Strafvollzugspraxis 12 jedoch nicht in dem gewünschten Umfang beeinflussen können. Dies hängt damit zusammen, dass die Ergebnisse in der Regel nicht so aufbereitet sind, dass sie von den Praktikern des Strafvollzuges (Sachbearbeitern, Führungspersonal oder politisch-administrativen Entscheidungsträgern) verstanden und umgesetzt werden könnten. Im Sinne einer Mittlerfunktion ist es daher Aufgabe des kriminologischen Dienstes, die Erträge kriminologischer Forschung daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie in der Vorbereitung von Gesetzen, in der praktischen Ausführung des StVollzG oder auch für Modellerprobungen genutzt werden können. Solche Modellerprobungen haben den Vorteil, dass sich Fehler und Risiken zunächst (etwa zeitlich oder räumlich) vor einer jeweils landesweiten Umsetzung eines Programms begrenzen lassen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit Modellerprobungen ist darauf zu achten, dass nicht von Ausnahmesituationen ausgegangen wird, da die Ergebnisse später flächendeckend auch für „Normalsituationen“ umsetzbar sein müssen. 4. Die Arbeitsmethoden des Kriminologischen Dienstes richten sich nach den jeweili- 13 gen Aufgaben und Projekten. Zu warnen ist vor einem unstrukturierten Sammeln von kriminologischen Daten etwa über Tat, Täter und Vollzugsmaßnahmen auf Vorrat (krit. auch Kaiser 1996, 10 f). Erfolgversprechender ist es, projektbezogen nach Vorgabe von Auswertungskonzepten gezielt Informationen zu erheben. Gleichwohl ist es angezeigt, ein Minimum an flächendeckenden Daten nach einheitlichem Muster zu erheben, wie es mit der Strafvollzugsstatistik geschieht. Hier sollte sich der Kriminologische Dienst nicht nur als Nutzer und Anwender der statistischen Daten verstehen, sondern auch Anregungen für die verbesserte statistische Erfassung des Strafvollzugs geben. Zu denken ist darüber hinaus an den Aufbau einer Basisdokumentation (vgl. Koch/Suhling Basisdokumentation im Frauenvollzug, in MschrKrim 2006, 93 ff) für jeden Gefangenen, die als Datenbank der Vollzugsplanung, aber auch Forschungszwecken dienen kann. 5. a) Nach dem Gesetzestext und aus der Sache heraus muss der Kriminologische Dienst 14 mit Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten, die sich mit Kriminalitätsbekämpfung (Erforschung der Kriminalitätsursachen und der Vorbeugungsmöglichkeiten) befas-
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sen. In Betracht kommen nicht nur Universitäten (insbesondere Lehrstühle für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie, Strafvollzug, Soziologie, Psychologie, Pädagogik usw.), das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen“ (KFN), sondern auch behördeninterne Forschungseinrichtungen wie das „Kriminalistische Institut beim BKA“, die „Kriminologische Forschungsgruppe“ beim Bayerischen LKA und die „Polizeiführungsakademie“ (PFA, die ihren Forschungsauftrag noch immer kaum wahrnimmt). Eine Sonderstellung in der Kooperation nimmt die „Kriminologische Zentralstelle“ ein (zur Konzeption s. Roth Das Projekt der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern, in: KrimGegfr. Bd. 11, Stuttgart 1974, 201 ff; zu Programm und Organisation Jehle/Egg Die Kriminologische Zentralstelle. Programm und Projekte, Wiesbaden 1995). Sie soll insbesondere mit dem Kriminologischen Dienst im Strafvollzug (§ 166 StVollzG) zusammenarbeiten. Ihr kommt als länderübergreifende Einrichtung eine koordinierende Funktion zu, die sie sich wahrzunehmen bemüht.
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6. Wenn auch der Kriminologische Dienst als Einrichtung der Justizverwaltung nur in wenigen Bundesländern über personelle und materielle Forschungskapazitäten verfügt, so hat doch in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Reihe beachtlicher Forschungen zum Strafvollzug stattgefunden, als Eigenforschung oder durch unabhängige Forschungseinrichtungen im Auftrag der Landesjustizverwaltungen oder von diesen initiiert bzw. ideell unterstützt. Einen deutlichen Aufschwung hat die Vollzugsforschung im Zusammenhang mit der großen Strafrechtsreform Ende der 1960er Jahre und mit den nachfolgenden legislatorischen Bemühungen um ein Strafvollzugsgesetz Mitte der 1970er Jahre erfahren. Neben Bestandsaufnahmen (vgl. dazu und zur Strafvollzugsforschung generell Dünkel 1996, Jehle 1999) wurden zunächst Fragen erforscht, die mit dem zentralen Vollzugsziel, der Resozialisierung, zusammenhängen. Paradigmatisch wandte sich das Forschungsinteresse der Gestaltung und dem Erfolg der sozialtherapeutischen Einrichtungen zu (vgl. hierzu resümierend Egg 1995; s. auch § 9 Rdn. 4). Freilich sorgten bald eine zunehmende Skepsis hinsichtlich der individualpräventiven Wirksamkeit stationärer Behandlung und zugleich der eher bescheidene, wissenschaftlich nachweisbare Ertrag der Sozialtherapie dafür, dass sich die kriminologische Forschung zunehmend auf den Bereich der ambulanten Sanktionen verlagerte. Damit konnte eine breite und systematische Erforschung der Vollzugswirklichkeit nicht stattfinden. Dennoch wurden zu unterschiedlichen Gebieten einzelne oder mehrere Forschungen durchgeführt, die einen erheblichen Erkenntnisgewinn mit sich brachten (vgl. den Überblick bei Dünkel 1996): Eine Reihe von Untersuchungen gruppierte sich um Fragen des Erfolgs bzw. der Rückfälligkeit bei Vollzugslockerungen (siehe z. B. Bölter 1991; Dolde 1992; vgl. auch für den Jugendstrafvollzug Stelly/Walter Vollzugslockerungen im Jugendstrafvollzug – am Beispiel der JVA Adelsheim, in MschrKrim 2008, 269 ff) und bei Strafrestaussetzung (vor allem Böhm/Erhard 1991). Andere Untersuchungen richteten sich auf besondere Alters- bzw. Geschlechtsgruppen: junge Strafgefangene (vgl. den Überblick bei Kerner/Dolde/Mey 1996, darin besonders Dolde/Grübl 1996, 219 ff, sowie Wirth 1996, 133 ff, 467 ff; Höynck/Hosser Jugendstrafvollzugsgesetzgebung im „empirischen Blindflug“?, in BewHi 2007, 387 ff), ältere Insassen (vgl. vor allem Schramke 1996) und Frauen (siehe hierzu Fischer-Jehle 1991; Maelicke 1995; Cummerow Chancengleichheit? Frauen und Männer im Strafvollzug, in BewHi 2006, 153 ff; Kestermann Inhaftierte Frauen in Europa – Aktuelle Situation und gesundheitliche Problemlagen, in Praxis der Rechtspsychologie 2007, 285 ff; Koch/Suhling Basisdokumentation im Frauenvollzug, in MschrKrim 2005, 93 ff), sowie Nichtdeutsche und Aussiedler (z. B. Walter/Grübl 1999), junge Türken im geschlossenen
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Strafvollzug (Klose 2002) oder rechtsextreme Gefangene (Öszöz Hasskriminalität. Auswirkungen von Hafterfahrungen auf fremdenfeindliche jugendliche Gewalttäter, in: Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Strafrecht (Hrsg.): Forschung aktuell – Research in Brief (Nr. 40), Freiburg 2008) oder konzentrierten sich auf spezifische Straftäter und ihre Behandlung: Sexualstraftäter (siehe vor allem Schmitt 1996; vgl. Sammelband von Egg 2000; Rehder/Suhling Rückfälligkeit haftentlassener Sexualstraftäter, in MschrKrim 2008, 250 ff), Gewalttäter (siehe insbesondere Weidner/Wolters 1991) sowie Drogenabhängige (hierzu vor allem Dolde 1995), Alkoholabhängige (Dolde 1996) sowie psychisch Auffällige (Bennefeld-Kersten Psychologisch auffällige Menschen im Gefängnis – eine Erhebung im Niedersächsischen Strafvollzug, in BewHi 2005, 30 ff). Im Hinblick auf „gefährliche“ Straftäter geht es zunehmend um prognostische Fragen (vgl. z. B. Huchzermeier u. a. 2003, Nowara 2000, Rehder/ Wischka 2002, Rehn u. a. (Hrsg.) 2001). Ein anderer Schwerpunkt lag auf den Vollzugsbedingungen und der daraus entstehenden Subkultur unter den Gefangenen (Hürlimann 1993), der Arbeits(un)zufriedenheit der Bediensteten (Dolde 1990; Lehmann Belastungen und Stress bei Bediesteten im Justizvollzug, in Praxis der Rechtspsychologie 2007, 345 ff) und schließlich den ökonomischen Voraussetzungen für Arbeitsbetriebe und den damit zusammenhängenden Fragen bezüglich der Entlohnung der Strafgefangenen (Neu 1995; vgl. dazu auch Jehle 1994 und Hagemann 1995). In jüngerer Zeit sind (wieder) verstärkt Untersuchungen zur Evaluierung von Vollzugsmaßnahmen und zur Gewalt in den Vollzugsanstalten ins Blickfeld gerückt (Heinrich Gewalt im Gefängnis. Eine Untersuchung der Entwicklung von Gewalt im hessischen Justizvollzug (1989–1998), in BewHi 2002, 369 ff; Wirth Gewalt unter Gefangenen. Kernbefunde einer empirischen Studie im Strafvollzug des Landes NordrheinWestfalen, in BewHi 2007, 185 ff; Neubacher Gewalt unter Gefangenen, in NStZ 2008, 361 ff). Diese und eine Reihe von anderen Forschungen sorgten dafür, dass der Vollzug in empi- 16 rischer Hinsicht keine weiße Landkarte mehr darstellt; allerdings sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse durchaus ergänzungsbedürftig und vor allem im Hinblick auf die neueren Entwicklungen aktualisierungsbedürftig. Neue Forschungen sind umso nötiger, als sich die Rahmenbedingungen des Strafvollzugs seit Erlass des StVollzG entscheidend verändert haben. Die Anteile der Drogenabhängigen und der Nichtdeutschen bzw. Migranten an der Vollzugsklientel sind stark gewachsen; insgesamt ist die Zahl der Vollzugsinsassen in den letzten Jahren so stark angestiegen, dass es wieder – wie zu Beginn der 1980er Jahre – partiell zu Überbelegungssituationen kommt. Ferner hat sich die öffentliche Wahrnehmung der Strafgefangenen von den sozial gefährdeten Rückfalldieben auf die gefährlichen Sexual- und Gewalttäter verlagert, die im übrigen zunehmend die Klientel der Sozialtherapie bilden (§ 9 Rdn. 1 ff). Gerade im Hinblick auf diese Vollzugsklientel zeigt die derzeitige kriminalpolitische Debatte, dass die Gesellschaft zunehmend weniger bereit ist, Risiken im Zusammenhang mit Vollzugslockerungen und der Aussetzung des Strafrests in Kauf zu nehmen. Auch wenn die Forschungen nicht stets zu eindeutigen Ergebnissen gelangen und schon gar nicht ganz bestimmte kriminalpolitische Schlussfolgerungen erlauben, wie sich am „Streitfall Sozialtherapie“ (Egg 1995) deutlich erweisen lässt, so besitzt doch nach wie vor – und angesichts der heutigen Herausforderungen jetzt erst recht – die Erkenntnis des Gesetzgebers und des BVerfG Gültigkeit, dass Vollzugsforschung not tut, solange sich der Strafvollzug als zweckgerichtete staatliche Einrichtung versteht. Hierfür hat der Kriminologische Dienst die entscheidenden Bedingungen – als Initiator oder als Durchführender von Forschungsvorhaben – zu schaffen. 7. Seit dem Urteil des BVerfG vom 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1 ff) haben sich die recht- 17 lichen Bedingungen für den Zugang zu kriminologischen Daten verändert. Die Ent-
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scheidung des Gerichts betraf in ihrem Kern zunächst zwar die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber staatlicher Eingriffsverwaltung; sie begrenzt jedoch auch die Forschungsfreiheit durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das von dem Grundsatz der Freiwilligkeit der Preisgabe personenbezogener Daten ausgeht. Die Einwilligung des Betroffenen oder eine gesetzliche Grundlage für die Erhebung, Speicherung, Auswertung und Weitergabe personenbezogener Daten für kriminologische Forschung sind daher erforderlich. An der Einwilligung der Betroffenen (überwiegend Täter oder Opfer) wird es bei empirischen kriminologischen Untersuchungen in der Regel fehlen. 18 Bereichsspezifische gesetzliche Grundlagen, welche die Erhebung personenbezogener kriminologischer Daten ohne Einwilligung des Betroffenen ermöglichen, fehlten lange Zeit. Dieser Missstand wurde für den Strafvollzug durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 26. August 1998 (4. StVollzGÄndG, BGBl. I 1998, S. 2461 ff) behoben. Es führt in das StVollzG mit den §§ 179–187 Datenschutzregelungen ein. Dem § 166 StVollzG a. F. wurde ein Abs. 2 angefügt, nach dem der neue § 186 StVollzG („Auskunft und Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke“) für den Kriminologischen Dienst entsprechend gilt. Insoweit kann hier allgemein auf die Erläuterungen zu § 186 StVollzG verwiesen werden. Allerdings sind die Besonderheiten des Kriminologischen Dienstes zu beachten. Zum einen können die §§ 166 Abs. 2, 186 StVollzG selbstverständlich nur Anwendung finden, soweit es um die Erhebung von Strafvollzugsdaten durch den Kriminologischen Dienst geht. Wenn der Kriminologische Dienst darüber hinaus Daten erhebt, z. B. Strafakten oder Zentralregisterauszüge heranzieht, sind andere Ermächtigungsgrundlagen zu suchen. Eine bereichsspezifische Datenschutzregelung ist neben den §§ 166 Abs. 2, 186 StVollzG in § 42a BZRG bezüglich der Einträge im Bundeszentalregister und in § 476 StPO bezüglich der Strafverfahrensakten zu finden. Ansonsten sind die allgemeinen Datenschutzregelungen heranzuziehen (z. B. die Vorschrift des § 40 BDSG über „Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch Forschungseinrichtungen“ und § 14 Abs. 2 Nr. 9 BDSG, der die Möglichkeit, amtlich erhobene Daten nach Maßgabe des § 14 Abs. 2 Nr. 9 BDSG „zur Durchführung wissenschaftlicher Forschung“ zu nutzen, eröffnet, bzw. die entsprechenden Vorschriften der Landesdatenschutzgesetze). Speziell für die Einsicht in Strafakten zu Forschungszwecken (zur früheren Diskussion s. die Beiträge von Hobe, Schöch und Jehle in: Jehle 1989, 287 ff, 299 ff, 321 ff, jeweils m. w. N.) ist nach der mit § 476 StPO geschaffenen Datenschutzregelung (s. dazu allgemein KK-Gieg zu § 476) „erheblich überwiegendes öffentliches Interesses an der Forschung“ (vgl. § 186 Abs. 1 Nr. 3 StVollzG; § 476 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO) erforderlich. Immerhin hat der Gesetzgeber in § 476 Abs. 1 Satz 2 StPO statuiert, dass bei der Abwägung „das wissenschaftliche Interesse an dem Forschungsvorhaben besonders zu berücksichtigen“ sei. Das OLG Hamm (JR 1997, 170 ff) stellte in einem Urteil, welches sich anhand einer Regelung des LDSG NRW als erstes mit der Auslegung des Begriffes „erheblich überwiegendes wissenschaftliches Interesse an der Forschung“ zu befassen hatte, fest, dass sich der Gesetzgeber für einen grundsätzlichen Vorrang des Persönlichkeitsrechts und der Selbstbestimmung des einzelnen entschieden habe. Ein erheblich überwiegendes wissenschaftliches Interesse an der Forschung sah das Gericht beispielsweise bei bestimmten medizinischen Forschungsprojekten, nicht aber bei dem in Frage stehenden Forschungsprojekt im Bereich der Strafrechtspflege als gegeben an. Die Entscheidung hätte aufgrund der nun bestehenden bereichsspezifischen Datenschutzregelung so nicht getroffen werden können, da eine solche Norm bereits die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers zur Zulassung von Forschung in dem geregelten Bereich enthält (vgl. Jehle 1999b, 69 ff). 19 Ein weiteres spezifisches Problem liegt in der Abschottung der vom Kriminologischen Dienst erhobenen Daten vom Verwaltungsvollzug. Unabhängige Forschung ist aus Rechts-
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gründen seit der Entscheidung des BVerfG von der Verwaltung klar zu trennen; man spricht insoweit von der informationellen Gewaltenteilung (dazu Berg Informationelle Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit, in: Jehle (Hrsg.) 1987, 45 und Simitis Datenschutz und kriminologische Forschung, in: Jehle (Hrsg.) 1987, 52 f). Dem ist bei der Auslegung der §§ 166 Abs. 2, 186 Abs. 5 Rechnung zu tragen (vgl. § 186 Rdn. 10). Daten aus dem Forschungsbereich können demnach nicht in den Verwaltungsbereich für andere Zwecke überführt werden. Die Forschung des Kriminologischen Dienstes unterliegt im Übrigen denselben Datenschutzbedingungen wie externe Forschung (z. B. Datensicherung bei der forschenden Stelle, Aufbewahrungsfristen, Anonymisierungspflicht bei personenbezogenen Daten, Verbot der unzulässigen Weitergabe; vgl. zu diesen Problemen § 186 Rdn. 6 ff).
III. Landesgesetze 1. Bayern Art. 189 Abs. 1 ist identisch mit § 166 Abs. 1. Der Kriminologische Dienst ist derzeit als 20 Arbeitsgruppe „Kriminologischer Dienst im bayrischen Justizvollzug“ organisiert. Als wesentliche Aufgaben werden bezeichnet: Information über Forschungsprojekte, Sichtung und Nutzbarmachung von Forschungsergebnissen, Anregung und Durchführung von Forschungsprojekten, Kontaktpflege zu Forschungseinrichtungen, Beratung der Aufsichtsbehörde (LT-Drucks. 15/8101, 91). 2. Hamburg § 113 HmbStVollzG lautet: „(1) Behandlungsprogramme für die Gefangenen sind auf 21 der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu konzipieren, zu standardisieren und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. (2) Der Vollzug, insbesondere seine Aufgabenerfüllung und Gestaltung, die Umsetzung seiner Leitlinien sowie die Behandlungsprogramme und deren Wirkungen auf das Vollzugsziel, soll regelmäßig durch den kriminologischen Dienst, durch eine Hochschule oder durch eine andere Stelle wissenschaftlich begleitet und erforscht werden. § 476 der Strafprozessordnung gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass auch elektronisch gespeicherte personenbezogene Daten übermittelt werden können.“ In der Gesetzesbegründung heißt es zu § 113: „Die Bestimmung regelt die Erfordernisse von Evaluation und kriminologischer Forschung neu.“ Das Bundesverfassungsgericht (NJW 2006, 2093, 2097) verpflichtet die Länder zur Erhebung aussagefähiger, auf Vergleichbarkeit angelegter Daten insbesondere zur Rückfallhäufigkeit. Diese muss nach wissenschaftlich fundierter, anerkannter Methodik und interessenunabhängig erfolgen. Hierfür ist in besonderer Weise der kriminologische Dienst berufen. Die wissenschaftliche Begleitung und Erforschung kann aber auch durch eine Hochschule oder durch eine andere geeignete Stelle, die wissenschaftliche Forschung betreibt, erfolgen. Für die Fortentwicklung des Vollzugs ist dessen wissenschaftliche Auswertung notwendig. Betroffen sind insbesondere seine Aufgabenerfüllung und Gestaltung, die Umsetzung seiner Leitlinien sowie die Behandlungsprogramme und deren Wirkungen auf das Vollzugsziel“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 61f). 3. Niedersachsen Mit § 189 NJVollzG wird abgeleitet vom BVerfG-Urteil (NJW 2006, 2093) nicht nur für 22 den Jugendstrafvollzug, sondern für den gesamten Justizvollzug eine gesetzliche Verpflich-
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tung geschaffen, die spezialpräventive Wirksamkeit von Vollzugsmaßnahmen wissenschaftlich zu überprüfen und die Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Zugleich werden die Vollzugsbehörden verpflichtet, für diesen Zweck aussagekräftige Daten zu erheben. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Die im Entwurf vorgesehene Regelung knüpft zunächst an die Vorschriften über die kriminologische Forschung im Strafvollzug in § 166 StVollzG an, verzichtet aber darauf, diese Aufgabe konkret dem Kriminologischen Dienst zuzuweisen. Auf diese Weise wird eine flexiblere Ausgestaltung und Organisation der zu leistenden Forschungsaufgaben in der Praxis ermöglicht. [. . .] Die Landesregierung beabsichtigt nicht, den Kriminologischen Dienst abzuschaffen. [. . .] Darüber hinaus greift die Entwurfsvorschrift die Forderungen des BVerfG aus seinem Urteil vom 31. Mai 2006 auf, die Entwicklungen des Jugendstrafvollzuges zu beobachten und aus festgestellten Mängeln Konsequenzen zu ziehen. Diese unmittelbar nur an den für den Jugendstrafvollzug zuständigen Gesetzgeber gerichtete Forderung des BVerfG gilt indes nicht nur für den Jugendstrafvollzug, sondern gleichermaßen für den gesamten Strafvollzug und den Untersuchungshaftvollzug, und auch nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Landesjustizverwaltung. Die durchzuführende Evaluation dient schließlich auch dazu, die Wirksamkeit von Maßnahmen im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs festzustellen und diese fortzuentwickeln“ (LT- Drucks. 15/3565, 215).
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FÜNFTER ABSCHNITT
Vollzug weiterer freiheitsentziehender Maßnahmen in Justizvollzugsanstalten, Datenschutz, Sozialund Arbeitslosenversicherung, Schlussvorschriften ERSTER TITEL
Vollzug des Strafarrests in Justizvollzugsanstalten § 167 Grundsatz Für den Vollzug des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 2 bis 122, 179 bis 187) entsprechend, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist. § 50 findet nur in den Fällen einer in § 39 erwähnten Beschäftigung Anwendung.
§ 168 Unterbringung, Besuche und Schriftverkehr (1) Eine gemeinsame Unterbringung während der Arbeit, Freizeit und Ruhezeit (§§ 17 und 18) ist nur mit Einwilligung des Gefangenen zulässig. Dies gilt nicht, wenn Strafarrest in Unterbrechung einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzuge einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (2) Dem Gefangenen soll gestattet werden, einmal wöchentlich Besuch zu empfangen. (3) Besuche und Schriftwechsel dürfen nur untersagt oder überwacht werden, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt notwendig ist.
§ 169 Kleidung, Wäsche und Bettzeug Der Gefangene darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt.
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§§ 167–170
Fünfter Abschnitt. Weitere freiheitsentziehende Maßnahmen, Datenschutz u. a.
§ 170 Einkauf Der Gefangene darf Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt auf eigene Kosten erwerben.
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Im Zuge der Föderalismusreform ist die Gesetzgebungskompetenz für die Regelung des Vollzugs des Strafarrests auf die Länder übergegangen. Von dieser Gesetzgebungszuständigkeit hat bisher einzig Bayern Gebrauch gemacht und den Vollzug des Strafarrests in Art. 190–194 BayStVollzG neu geregelt (s. Rdn. 4). Strafarrest, § 9 WStG, wird gegen Soldaten verhängt, die eine Straftat während der Ausübung des Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begangen haben. Wird in solchen Fällen gegen Soldaten Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen verhängt, so ist die Ersatzfreiheitsstrafe immer Strafarrest (§ 11 WStG). Hier ersetzt der Strafarrest die – den Zivilisten treffende – Freiheitsstrafe. Als kurzfristige Strafe (2 Wochen bis 6 Monate) wird der Strafarrest dann verhängt, wenn eine Geldstrafe (auch) deshalb nicht in Betracht kommt, weil die Disziplin die Verhängung einer Freiheitsstrafe gebietet (§§ 10, 12 WStG). Dieser Strafarrest wird nach § 14a WStG zur Bewährung ausgesetzt, wenn die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB vorliegen und nicht die Wahrung der Disziplin die Vollstreckung gebietet. Dem Strafarrest können sowohl allgemeine Vergehen und Verbrechen wie militärische Straftaten (§§ 15 ff WStG) zugrunde liegen. Der Strafarrest wird von Behörden der Bundeswehr vollzogen (Art. 5 Einführungsgesetz WStG). Ist der mit Strafarrest bestrafte Soldat aber aus dem Wehrdienst ausgeschieden, so findet der Vollzug in den zivilen Justizvollzugsanstalten statt.
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2. Jährlich werden etwa 30 Personen (2006 : 31; nur Männer) zu Strafarrest verurteilt. Bei etwa 87 % von ihnen wurde die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die meisten Verurteilungen (etwa 84 %) ergingen wegen Straftaten nach dem Wehrstrafgesetz. In den letzten Jahren befanden sich ständig zwischen 3 und 10 zu Strafarrest verurteilte Personen in Justizvollzugsanstalten. Rechnet man mit einer Durchschnittsverbüßungsdauer von 3 Monaten, dann dürften im Verlauf eines Jahres 30–40 Personen zur Verbüßung von Strafarrest in Justizvollzugsanstalten aufgenommen werden. Es wird sich überwiegend um Verurteilte handeln, bei denen die Bewährung nach der Entlassung aus der Bundeswehr widerrufen werden musste (ebenso Grunau/Tiesler 1982 zu § 167).
II. Erläuterungen 3
Der Strafarrest ist eine echte Kriminalstrafe. Deshalb ist in seinem Vollzug auch das Vollzugsziel (§ 2) zu verwirklichen (§ 2 Rdn. 10 ff). Es besteht Arbeitspflicht, und auch im Übrigen gelten die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes. Allerdings ist der Strafarrest eine „mildere Strafart“ als die Freiheitsstrafe (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 2; C/MD 2008 zu § 167). Deshalb soll der Gefangene häufiger Besuch empfangen dürfen (§ 168 Abs. 2), dürfen Briefe und Schriftverkehr aus Behandlungsgründen weder untersagt noch überwacht werden (§ 168 Abs. 3), dürfen die Gefangenen eigene Kleidung, Wäsche und Bettzeug benutzen (§ 169) und auch vom Eigengeld – wie Untersuchungsgefangene – einkaufen. Sie können Einzelunterbringung während Arbeit, Freizeit und Ruhezeit verlangen (§ 168 Abs. 1), es sei denn (§ 168 Abs. 1 Satz 2), dass Strafarrest in Unterbrechung einer Strafhaft oder einer
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Unterbringung vollzogen wird. Dann wird nach §§ 17 und 18 verfahren. In diesen Fällen ist die gemeinsame Unterbringung nicht nur mit anderen Strafarrest verbüßenden Gefangenen zulässig, sondern auch mit zu Freiheitsstrafe Verurteilten bzw. Untergebrachten. Zur Einschränkung des Schusswaffengebrauchs zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung eines Strafarrest verbüßenden Gefangenen s. § 178 Abs. 3.
III. Landesgesetze 1. Bayern Bayern hat den Vollzug des Strafarrests in Art. 190–194 BayStVollzG neu geregelt. Die 4 Vorschriften über die grundsätzliche Ausgestaltung (Art. 190, der den § 167 ersetzt), die Unterbringung, Besuche und Schriftverkehr (Art. 191, der den § 168 ersetzt), Kleidung, Wäsche und Bettzeug (Art. 192, der im Plural formuliert ist, aber § 169 entspricht) und Einkauf (Art. 193, der den § 170 ersetzt) lehnen sich an die einschlägigen Regelungen des StVollzG an. 2. Hamburg
5
§ 130 Nr. 5 HmbStVollzG verweist auf die Regelungen des StVollzG. 3. Niedersachsen
Das NJVollzG enthält keine Regelung zum Strafarrest; es gilt mithin das StVollzG fort 6 (Art. 125a Abs. 1 GG). In der Begründung zum NJVollzG heißt es: „Kein Anlass für eine landesgesetzliche Neuregelung besteht [. . .] für den Vollzug [. . .] des Strafarrestes nach dem Wehrstrafgesetz (WStG)“ (LT-Drs. 15/3565, 65).
ZWEITER TITEL
Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangsund Erzwingungshaft § 171 Grundsatz Für den Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3 bis 49, 51 bis 122, 179 bis 187) entsprechend, soweit nicht Eigenart und Zweck der Haft entgegenstehen oder im folgenden etwas anderes bestimmt ist. VV 1 Im Vollzug der Zivilhaft dürfen über den bloßen Freiheitsentzug hinausgehende Beschränkungen nur angeordnet werden, soweit dies zur Abwendung einer Gefahr für Sicherheit oder Ordnung der Anstalt Alexander Böhm/Jörg-Martin Jehle
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Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft
§§ 171–175
Unterbringung vollzogen wird. Dann wird nach §§ 17 und 18 verfahren. In diesen Fällen ist die gemeinsame Unterbringung nicht nur mit anderen Strafarrest verbüßenden Gefangenen zulässig, sondern auch mit zu Freiheitsstrafe Verurteilten bzw. Untergebrachten. Zur Einschränkung des Schusswaffengebrauchs zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung eines Strafarrest verbüßenden Gefangenen s. § 178 Abs. 3.
III. Landesgesetze 1. Bayern Bayern hat den Vollzug des Strafarrests in Art. 190–194 BayStVollzG neu geregelt. Die 4 Vorschriften über die grundsätzliche Ausgestaltung (Art. 190, der den § 167 ersetzt), die Unterbringung, Besuche und Schriftverkehr (Art. 191, der den § 168 ersetzt), Kleidung, Wäsche und Bettzeug (Art. 192, der im Plural formuliert ist, aber § 169 entspricht) und Einkauf (Art. 193, der den § 170 ersetzt) lehnen sich an die einschlägigen Regelungen des StVollzG an. 2. Hamburg
5
§ 130 Nr. 5 HmbStVollzG verweist auf die Regelungen des StVollzG. 3. Niedersachsen
Das NJVollzG enthält keine Regelung zum Strafarrest; es gilt mithin das StVollzG fort 6 (Art. 125a Abs. 1 GG). In der Begründung zum NJVollzG heißt es: „Kein Anlass für eine landesgesetzliche Neuregelung besteht [. . .] für den Vollzug [. . .] des Strafarrestes nach dem Wehrstrafgesetz (WStG)“ (LT-Drs. 15/3565, 65).
ZWEITER TITEL
Vollzug von Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangsund Erzwingungshaft § 171 Grundsatz Für den Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft gelten die Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§§ 3 bis 49, 51 bis 122, 179 bis 187) entsprechend, soweit nicht Eigenart und Zweck der Haft entgegenstehen oder im folgenden etwas anderes bestimmt ist. VV 1 Im Vollzug der Zivilhaft dürfen über den bloßen Freiheitsentzug hinausgehende Beschränkungen nur angeordnet werden, soweit dies zur Abwendung einer Gefahr für Sicherheit oder Ordnung der Anstalt Alexander Böhm/Jörg-Martin Jehle
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erforderlich ist. Dies gilt nicht, wenn Zivilhaft in Unterbrechung einer Untersuchungshaft, einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzuge einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. 2 (1) Bei der Aufnahme und der Entlassung wird der Gefangene vom Anstaltsarzt untersucht. (2) Der Anstaltsleiter kann in den Fällen der Nummer 1 Satz 1 ausnahmsweise gestatten, dass der Gefangene sich auf eigene Kosten innerhalb der Anstalt von einem Arzt seiner Wahl behandeln lässt. 3 (1) Beantragt der Gefangene seine Ausführung zum Gericht, um die Handlung vorzunehmen oder die Erklärung abzugeben, zu deren Erzwingung, Erwirkung oder Erreichung die Haft angeordnet wurde, so ist der Antrag unverzüglich dem zuständigen Gericht zu übermitteln. (2) Die Ausführung des Gefangenen bedarf der Zustimmung des Gerichts, das die Haft angeordnet hat. In Eilfällen ist die Zustimmung des Gerichts telefonisch einzuholen. Die Kosten der Ausführung trägt der Gefangene. 4 Nummern 1 bis 3 finden keine Anwendung, wenn Abschiebungshaft im Wege der Amtshilfe vollzogen wird.
§ 172 Unterbringung Eine gemeinsame Unterbringung während der Arbeit, Freizeit und Ruhezeit (§§ 17 und 18) ist nur mit Einwilligung des Gefangenen zulässig. Dies gilt nicht, wenn Ordnungshaft in Unterbrechung einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzuge einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird.
§ 173 Kleidung, Wäsche und Bettzeug Der Gefangene darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen, wenn Gründe der Sicherheit nicht entgegenstehen und der Gefangene für Reinigung, Instandsetzung und regelmäßigen Wechsel auf eigene Kosten sorgt.
§ 174 Einkauf Der Gefangene darf Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege in angemessenem Umfang durch Vermittlung der Anstalt auf eigene Kosten erwerben.
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§§ 171–175
§ 175 Arbeit Der Gefangene ist zu einer Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit nicht verpflichtet. Schrifttum: Winter Vollzug der Zivilhaft, Heidelberg 1987; ders. Der Vollzug der Untersuchungsund Zivilhaft, in: Schwind/Blau 1988, 82 ff; Heinhold (Hrsg.) Abschiebungshaft in Deutschland: die rechtlichen Voraussetzungen und der Vollzug, 2. Aufl. Karlsruhe 2004; Horstkotte Realität und notwendige Grenzen der Abschiebehaft, in: NK 1999, 31 ff; Marx Abschiebungshaft und Abschiebung aus rechtlicher Sicht, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Baden-Baden 2007, S. 259 ff.
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Fortgeltung nach der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Vollzug von „Zivilhaft“ in Justizvollzugsanstalten . . . . . . 3. Verschiedene Haftarten . . . . . . 4. Abschiebungshaft . . . . . . . . . 5. Anzahl der unter diese Regelungen fallenden Personen . . . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . .
Rdn.
Rdn.
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1. Unzureichende gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2. Einzelbestimmungen . . . . . . . 7 3. Besonderheiten bei Abschiebungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . 8 III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 9–11 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 10 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . . 11
1 2 3 4 5 6–8
I. Allgemeine Hinweise 1. Die §§ 171–175 schaffen für den Vollzug der sog. Zivilhaft – die nach den verschiede- 1 nen Vorschriften aus StPO, GVG, ZPO und anderen Gesetzen verhängt wird – eine gesetzliche Grundlage. Da das gerichtliche Verfahren (StPO, GVG, ZPO) sowie das bürgerliche Recht auch nach der Föderalismusreform Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sind, gelten die Bestimmungen auch in den Ländern fort, die bereits eigene Gesetze zum Vollzug der Freiheitsstrafe erlassen haben (Bayern, Hamburg, Niedersachsen). 2. Es entspricht der Tradition, dass Zivilhaft in Justizvollzugsanstalten vollzogen 2 wird. Da die Anlässe, die zur Anordnung von Zivilhaft führen, niemals Verurteilungen wegen Straftaten sind, den Haftgefangenen die Verübung strafbaren Unrechts nicht vorgeworfen wird, erscheint die Einbeziehung dieser Haft in das StVollzG und die Haftverbüßung in den normalen Justizvollzugsanstalten unangemessen (wenn auch „praktisch“ und „billig“). Eine völlige Trennung, sowohl gesetzlich wie in der praktischen Durchführung, wäre – etwa der Sonderstellung des Jugendarrestes entsprechend – angebracht.
3 3. Jede Art der Zivilhaft beruht auf einer richterlichen Entscheidung. Ordnungshaft (bis zu einer Woche) kann das Gericht wegen ungebührlichen Verhaltens gegen in einer Gerichtssitzung als Beteiligte oder Zuhörer anwesende Personen verhängen (§ 178 GVG). Bis zu 6 Wochen kann die Ordnungshaft dauern, die das Gericht verhängt, wenn ein Zeuge, der unentschuldigt dem Termin fernbleibt, obwohl er ordnungsgemäß geladen ist, oder der im Termin grundlos die Aussage oder deren Beeidigung verweigert, das deshalb gegen ihn verhängte Ordnungsgeld nicht bezahlt (Art. 6 EGStGB, §§ 51, 77 Abs. 2 StPO; §§ 380 Abs. 1, 390 Abs. 1 ZPO). Alexander Böhm/Jörg-Martin Jehle
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Sicherungshaft (bis zu höchstens 6 Monaten: § 913 ZPO) ordnet das Gericht auf Antrag des Gläubigers an, wenn dies erforderlich ist, um die gefährdete Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners zu sichern (§§ 916, 918, 933 ZPO). Zur Frage der Zuständigkeit bei Anträgen oder Beschwerden des Sicherungshäftlings vgl. LG Hamburg MDR 1982, 605. Der Ausdruck „Sicherungshaft“ ist insoweit unglücklich gewählt, weil auch die nach § 453c StPO vom Richter angeordnete Haft, um sich eines unter Bewährungsaufsicht stehenden, zu Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe Verurteilten zur Prüfung der Frage des Widerrufs der Strafaussetzung zu versichern, als „Sicherungshaft“ bezeichnet wird; die Vollstreckung eines solchen Sicherungshaftbefehls nach § 453c Abs. 2 StPO wird nicht von § 171 erfasst. Diese Sicherungshaft wird wie Untersuchungshaft durchgeführt (BT-Drs. 7/3998, 48; C/MD 2008 Rdn. 1). Zwangshaft ist die Haft, die das Gericht im Straf- oder Zivilverfahren gegen Zeugen anordnet, um das grundlos verweigerte Zeugnis zu erzwingen (bis zu höchstens 6 Monaten: § 70 Abs. 2 StPO, § 390 Abs. 2 ZPO). Zwangshaft ist auch die Haft, die angeordnet werden kann, wenn ein zu einer nur durch ihn vorzunehmenden („unvertretbaren“) Handlung Verurteilter diese Handlung nicht vornimmt (§ 888 ZPO) oder ein Schuldner die eidesstattliche Versicherung über seinen Vermögensstand nach fruchtloser Pfändung verweigert (§§ 807, 883 Abs. 2, 901 ZPO). Auch diese Zwangshaft darf nicht länger als 6 Monate dauern (§ 913 ZPO). Erzwingungshaft verhängt das Gericht, wenn die in einem nach dem OWiG durchgeführten Verfahren verhängte Geldbuße nicht gezahlt wird. Sie darf 6 Wochen, bei wegen mehrerer in einer Bußgeldentscheidung festgesetzten Geldbußen 3 Monate, nicht übersteigen (§ 96 OWiG). Die Darstellung der Zivilhaftfälle ist nicht abschließend (vgl. etwa „Ersatzzwangshaft“ in § 334 Abgabenordnung oder in § 16 Abs. 1 VwVfG).
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4. Wird Abschiebungshaft (§ 62 AufenthG) – Haft gegen Ausländer, die im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verlassen sollen – im Wege der Amtshilfe in Justizvollzugsanstalten vollzogen, so gelten die §§ 171, 173–175 und 178 Abs. 3 entsprechend (§ 8 Abs. 2 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen). Dies gilt nicht, wenn sie im Polizeigewahrsam stattfindet. Die Abschiebungshaft soll als „Vorbereitungshaft“ sechs Wochen nicht überschreiten, wenn sie zur Vorbereitung der Entscheidung über die Ausweisung erforderlich ist (§ 62 Abs. 1 AufenthG). Sechs Monate kann die Abschiebungshaft dauern, die zur Sicherung der vollziehbaren Abschiebung notwendig wird. Verhindert der Ausländer seine Abschiebung, so kann diese „Sicherungshaft“ um höchstens zwölf Monate verlängert werden (§ 62 Abs. 3 AufenthG). Die Abschiebungshaft – meistens „Sicherungshaft“ – hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und bereitet den Vollzugsbehörden – z. B. auch wegen der Sprachprobleme und weil die Insassen nicht selten die Abschiebung etwa durch Selbstverletzungen verhindern wollen – große Schwierigkeiten (hierzu K/S-Kaiser 2002 § 3 Rdn. 45; Laubenthal 2008 Rdn. 927; Horstkotte 1999). Teilweise wird die Abschiebungshaft deshalb in besonderen Anstalten vollzogen. In NRW gibt es seit 1994 eine eigene Abschiebungshaftanstalt in Büren mit 384 Haftplätzen für männliche Abschiebungshaftgefangene ab 16 Jahren. Der größere Teil der Bediensteten besteht aus Mitarbeitern einer privaten Firma, zu ihnen gehören auch Ausländer, die infolge ihres Sprachvermögens, ihrer Religionszugehörigkeit und ihrer Kulturkenntnisse besseren Kontakt zu den Gefangenen aufbauen können (vgl. auch Bongartz ZfStrVo 2004, 345 ff). In Niedersachsen wird die Abschiebungshaft in einer besonderen Abteilung (einer angemieteten Kaserne in Flughafennähe) der JVA Hannover, mit
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einer Belegungskapazität von maximal 171 Haftplätzen für weibliche und männliche Gefangene, vollzogen. In den vergangenen fünf Jahren haben sich – jeweils am 31. März – durchschnittlich 700–1500 in Abschiebungshaft befindliche Personen (davon mehr als 10 % Frauen) in den Justizvollzugsanstalten aufgehalten. Insgesamt befinden sich aber noch mehr Personen in Abschiebungshaft; denn sie wird in einigen Bundesländern vollständig oder zum Teil in Einrichtungen der Innenverwaltung durchgeführt (vgl. auch § 109 Rdn. 2; eine Auflistung der Länder bei Laubenthal 2008 Rdn. 928). 5. Die anderen Fälle der Zivilhaft werden in den Belegungsstatistiken nicht gesondert 5 ausgewiesen. Es handelt sich um eine Teilmenge der unter „sonstige Freiheitsentziehung“ (abzüglich Strafarrest und Abschiebungshaft) verbuchten Gefangenen. Das waren in den letzten fünf Jahren jeweils am 31. März etwa 1200 Personen (davon 4–5 % Frauen). Zu ihnen werden aber auch andere Gefangenengruppen gerechnet, über deren Größe nichts bekannt ist (AK-Kellermann/Köhne 2006 § 171 Rdn. 1; Winter 1987, 170). Darunter die Auslieferungshaft, die gegen Ausländer auf Betreiben ausländischer Behörden, die die Auslieferung des Verhafteten zum Zwecke der Strafverbüßung begehren, angeordnete Haft (§§ 24, 25, 27 IRG), die wie Untersuchungshaft durchgeführt wird (Grunau/Tiesler 1982 Rdn. 3 zu § 171; C/MD 2008 Rdn. 1; Laubenthal 2008 Rdn. 929–932).
II. Erläuterungen 1. Nach § 171 gelten für den Vollzug der Zivilhaft die §§ 3 bis 49, 51 bis 122, 179 bis 187 6 entsprechend, soweit nicht Eigenart und Zweck der Haft entgegenstehen. Diese Regelung ist sehr undeutlich. Mit ihr ist der Gesetzgeber nicht seiner Verpflichtung nachgekommen, eine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Vollzug zu schaffen (AK-Kellermann/ Köhne 2006 Rdn. 2). Das BVerfG hat es als verfassungswidrig angesehen, an die Stelle der entsprechenden Anwendung der Vorschriften des StVollzG Vorschriften aus anderen Gesetzen zu setzen (Kontrolle des Verkehrs mit der Außenwelt bei Ordnungshaft durch den Ermittlungsrichter des BGH, NJW 2000, 273). Die Vorbehaltsklausel („soweit nicht Eigenart und Zweck der Haft entgegenstehen oder in §§ 172–175 StVollzG etwas anderes bestimmt ist“) erlaube es nur, gewisse Vorschriften des StVollzG (ganz oder teilweise) nicht anzuwenden. Ausführlich zur (Nicht-)Anwendbarkeit der Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe auf die Zivilhaft AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 10 f). Da die Zivilhaftgefangenen nicht strafbares Unrecht begangen haben, gelten die Aufgaben des Freiheitsstrafvollzugs (§ 2) für sie nicht (§ 2 Rdn. 12 ff). Weder müssen sie befähigt werden, ein Leben ohne Straftaten zu führen, noch muss die Allgemeinheit vor ihrem strafbaren Tun bewahrt werden. Gleichwohl dürfen sie sich der Haft nicht entziehen und können somit durch Sicherungsmaßnahmen festgehalten werden. Zur Fluchthinderung ist Schusswaffengebrauch (wenn die Zivilhaft nicht in Unterbrechung von Untersuchungshaft, Strafhaft oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird) unzulässig (§ 178 Abs. 3). Besondere Bedeutung haben die Vollzugsgrundsätze des § 3. Bedenklich erscheint es, dass Disziplinarmaßnahmen gem. §§ 102 ff verhängt werden können. Insoweit hätte es nähergelegen, die Zivilhaftgefangenen den von der Unschuldsvermutung geprägten und damit die Rechte der Inhaftierten stärker beachtenden Regeln der Untersuchungshaft zu unterwerfen. 2. §§ 172 bis 174 stellen die Zivilhaftgefangenen hinsichtlich der Unterbringung, 7 der Benutzung eigener Kleidung, Wäsche und eigenen Bettzeugs, sowie des Einkaufs den im Strafarrest befindlichen Gefangenen gleich. Nach § 175 ist der Zivilhaftgefangene nicht
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zur Arbeit verpflichtet. Aus § 172 Satz 1 folgt aber, dass der Zivilhaftgefangene das Recht hat, im Rahmen der Möglichkeiten die Arbeits-, Ausbildungs-, Beschäftigungs-, Unterrichts- und Freizeitangebote der Anstalt zu nutzen. Da die Regelungen über das Arbeitsentgelt (§ 42: Freistellung von der Arbeit, § 46: Taschengeld, Aufteilung der Bezüge in Hausgeld gem. § 47 und Überbrückungsgeld gem. § 51) auf der Arbeitspflicht beruhen (§ 41) und die Erhöhung der Bezüge sowie die nicht monetären Ersatzleistungen (§ 43 Abs. 6–11) auf Grund der Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Pflichtarbeit, in der das für Zivilhaftgefangene gerade nicht geltende Resozialisierungsgebot eine tragende Rolle spielt, eingeführt worden sind, wäre es allein konsequent gewesen, wenn es auch hinsichtlich des Arbeitsentgelts bei der vor 2000 geltenden Regelung geblieben wäre und eine Freistellung gem. § 42 nicht stattfände. Da § 171 aber eine analoge Anwendung von § 177, die angemessen wäre, nicht vorsieht, gilt die Arbeitsentgeltregelung des § 43 Abs. 2 auch für Zivilhaftgefangene. Der Betrag wird dem Eigengeld gutgeschrieben. Die Freistellung nach § 42 – ein solcher Fall wird praktisch kaum eintreten – kommt den Zivilhaftgefangenen nach Nr. 8 VV zu § 42 zugute. Die Entgeltregelungen der Abs. 6–11 des § 43 sollen für sie indessen nicht gelten (§ 43 Rdn. 18). Einem arbeitswilligen Zivilhaftgefangenen, dem keine Arbeit zugewiesen werden kann, wird auch kein Taschengeld gewährt (vgl. auch Winter 1987, 127–134). Dafür haben bedürftige Zivilhaftgefangene einen Taschengeldanspruch gegen den Sozialhilfeträger (AK-Kellermann/Köhne 2006 Rdn. 11). Vgl. auch § 177 Rdn. 2. Vollzugslockerungen können dem Zivilhaftgefangenen ebenso wie anderen gewährt werden. Wegen der kurzen Haftzeiten wird Regelurlaub (§ 13) kaum je in Betracht kommen. Urlaub, Ausgang und Ausführung aus wichtigem Anlass (§ 35) sind aber sicher häufiger zu gewähren. Verlegung in den offenen Vollzug wäre häufiger angebracht (Winter 1988, 86, 87).
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3. Für Abschiebungsgefangene gelten die in den VV zu § 171 genannten Privilegien und §172 nicht. Sie können daher auch ohne ihre Zustimmung in der Ruhe- und in der Freizeit gemeinsam untergebracht werden. Ihre gemeinschaftliche Unterbringung in der Ruhezeit in Anstalten, die nicht mehr der Ausnahmevorschrift des § 201 Nr. 3 unterfallen, ist aber mit ihrer Zustimmung (ebenso wie nach § 172 Abs. 1) zulässig. Diese Abweichung von § 18 Abs. 1 Satz 1 folgt aus § 171, weil die nächtliche Einzelunterbringung als für den Gefangenen verbindlicher Vollzugsgrundsatz auf § 2 beruht. Statt Taschengeld vom Sozialhilfeträger erhält der Abschiebungsgefangene nach § 3 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens einen Geldbetrag von monatlich etwa 30 Euro. Angesichts der oft bestehenden Fluchtgefahr kommen Vollzugslockerungen oder Unterbringung im offenen Vollzug in der Regel nicht in Betracht.
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Das NJVollzG enthält keine Regelung zur Zivilhaft; es gilt mithin das StVollzG. In der Begründung zum NJVollzG heißt es: „Nicht geregelt werden können schließlich die Gebiete, für die das Gesetzgebungsrecht des Landes durch die Verfassungsänderung
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Jugendstrafanstalten
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nicht eröffnet worden ist, wie z. B. die Abschiebungshaft nach § 62 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), die gerichtlich angeordnete Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft (sog. Zivilhaft; vgl. §§ 171 bis 175 StVollzG) [. . .]“ (LT-Drs. 15/3565, 65).
DRITTER TITEL
Arbeitsentgelt in Jugendstrafanstalten und im Vollzug der Untersuchungshaft § 176 Jugendstrafanstalten (1) Übt ein Gefangener in einer Jugendstrafanstalt eine ihm zugewiesene Arbeit aus, so erhält er unbeschadet der Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes über die Akkord- und Fließarbeit ein nach § 43 Abs. 2 und 3 zu bemessendes Arbeitsentgelt. Übt er eine sonstige zugewiesene Beschäftigung oder Hilfstätigkeit aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt nach Satz 1, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. § 43 Abs. 5 bis 11 gilt entsprechend. (2)* Arbeitsfähige Gefangene, denen aus Gründen, die nicht in ihrer Person liegen, Arbeit nicht zugewiesen werden kann, erkrankte Gefangene, bei denen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 vorliegen, und werdende Mütter, die eine Arbeit nicht verrichten, erhalten eine Ausfallentschädigung. Höhe und Dauer der Ausfallentschädigung sind nach § 45 Abs. 3 bis 6 zu bestimmen. (3)* Gefangene, die wegen Gebrechlichkeit nicht arbeiten oder denen eine Ausfallentschädigung nicht oder nicht mehr gewährt wird, erhalten ein angemessenes Taschengeld, falls sie bedürftig sind. Gleiches gilt für Gefangene, die für eine Beschäftigung oder Hilfstätigkeit nach Absatz 1 Satz 2 kein Arbeitsentgelt erhalten. (4) Im übrigen gelten § 44 und die §§ 49 bis 52 entsprechend. * § 176 Abs. 2 und 3 treten durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3); bis dahin gilt Abs. 3 in der folgenden Fassung des § 199 Abs. 1 Nr. 5:
(3) Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist. VV 1 (1) Das Arbeitsentgelt eines noch nicht achtzehn Jahre alten Gefangenen wird in der Form des Zeitlohnes ermittelt. (2) Für eine sonstige zugewiesene Beschäftigung wird ein Arbeitsentgelt gewährt, wenn ihr Ergebnis wirtschaftlich verwertbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. (3) Im übrigen gelten die VV zu § 43 entsprechend.
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Jugendstrafanstalten
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nicht eröffnet worden ist, wie z. B. die Abschiebungshaft nach § 62 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), die gerichtlich angeordnete Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft (sog. Zivilhaft; vgl. §§ 171 bis 175 StVollzG) [. . .]“ (LT-Drs. 15/3565, 65).
DRITTER TITEL
Arbeitsentgelt in Jugendstrafanstalten und im Vollzug der Untersuchungshaft § 176 Jugendstrafanstalten (1) Übt ein Gefangener in einer Jugendstrafanstalt eine ihm zugewiesene Arbeit aus, so erhält er unbeschadet der Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes über die Akkord- und Fließarbeit ein nach § 43 Abs. 2 und 3 zu bemessendes Arbeitsentgelt. Übt er eine sonstige zugewiesene Beschäftigung oder Hilfstätigkeit aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt nach Satz 1, soweit dies der Art seiner Beschäftigung und seiner Arbeitsleistung entspricht. § 43 Abs. 5 bis 11 gilt entsprechend. (2)* Arbeitsfähige Gefangene, denen aus Gründen, die nicht in ihrer Person liegen, Arbeit nicht zugewiesen werden kann, erkrankte Gefangene, bei denen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 vorliegen, und werdende Mütter, die eine Arbeit nicht verrichten, erhalten eine Ausfallentschädigung. Höhe und Dauer der Ausfallentschädigung sind nach § 45 Abs. 3 bis 6 zu bestimmen. (3)* Gefangene, die wegen Gebrechlichkeit nicht arbeiten oder denen eine Ausfallentschädigung nicht oder nicht mehr gewährt wird, erhalten ein angemessenes Taschengeld, falls sie bedürftig sind. Gleiches gilt für Gefangene, die für eine Beschäftigung oder Hilfstätigkeit nach Absatz 1 Satz 2 kein Arbeitsentgelt erhalten. (4) Im übrigen gelten § 44 und die §§ 49 bis 52 entsprechend. * § 176 Abs. 2 und 3 treten durch besonderes Bundesgesetz in Kraft (§ 198 Abs. 3); bis dahin gilt Abs. 3 in der folgenden Fassung des § 199 Abs. 1 Nr. 5:
(3) Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungsbeihilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist. VV 1 (1) Das Arbeitsentgelt eines noch nicht achtzehn Jahre alten Gefangenen wird in der Form des Zeitlohnes ermittelt. (2) Für eine sonstige zugewiesene Beschäftigung wird ein Arbeitsentgelt gewährt, wenn ihr Ergebnis wirtschaftlich verwertbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. (3) Im übrigen gelten die VV zu § 43 entsprechend.
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§ 176
Fünfter Abschnitt. Weitere freiheitsentziehende Maßnahmen, Datenschutz u. a.
2 Für das Taschengeld gelten die VV zu § 46 entsprechend. 3 Für das Hausgeld gelten § 47 StVollzG (in der Fassung des § 199 Abs. 1 Nr. 2) und die VV hierzu entsprechend. 4 (1) Nummer 2 der VV zu § 39 gilt entsprechend, soweit dem Gefangenen das Eingehen eines freien Beschäftigungsverhältnisses gestattet ist. Die Rechte des gesetzlichen Vertreters sind zu beachten. (2) Die VV zu §§ 50 und 51 gelten entsprechend.
I. Allgemeine Hinweise 1
Der § 176 regelte bisher das Arbeitsentgelt für Gefangene in Jugendstrafanstalten. Inzwischen ist die Vorschrift jedoch weitgehend hinfällig, da die Gesetzgebungskompetenz für den Jugendstrafvollzug den Ländern zusteht und diese, der Vorgabe des BVerfG entsprechend, mit Wirkung vom 1.1.2008 eigene Ländergesetze zum Jugendstrafvollzug erlassen haben (s. näher § 1 Rdn. 2), die selbstverständlich Regelungen zum Arbeitsentgelt enthalten. § 176 Abs. 2 sollte ohnehin erst durch ein besonderes Bundesgesetz nach § 198 Abs. 3 in Kraft treten; Abs. 3 galt bis zum Inkrafttreten durch ein besonderes Bundesgesetz nur in der Übergangsfassung nach § 199 Abs. 1 Nr. 5. Abs. 4, der regelt, dass im Übrigen § 44 und die §§ 49–52 entsprechend gelten, behält dagegen insoweit Gültigkeit, als bundesgesetzlich geregelte Materien betroffen sind (s. Rdn. 4).
II. Erläuterungen 2
1. Da die Landesjugendstrafvollzugsgesetze weitgehend die Regelungen des § 176 und der dazugehörigen VV übernommen haben, seien diese nur knapp erörtert und im Übrigen auf die Fortgeltung bundesgesetzlicher Bestimmungen aufmerksam gemacht. Abs. 1 Satz 1 verbot den Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes entsprechend eine Bemessung des Arbeitsentgelts in Form von Akkord- oder Stücklohn. Dem trug VV Nr. 1 Abs. 1 Rechnung. Die Regelung galt nur für die noch nicht achtzehn Jahre alten Gefangenen. Abs. 1 Satz 2 i. V. mit VV Nr. 1 Abs. 2 stellte keine Verschlechterung gegenüber dem Entgelt dar, das der Freiheitsstrafe verbüßende Gefangene erhält. Die Regelung entsprach vielmehr § 37 Abs. 4 i. V. mit VV Nr. 2. Abs. 3 entsprach § 46. Gem. VV Nr. 3 sollte auch im Jugendstrafvollzug die Aufteilung des Arbeitsentgeltes in Hausgeld (§ 47 Rdn. 2) und Überbrückungsgeld (§ 51 Rdn. 3, 6) so vorgenommen werden, wie das in § 47 und den dazu ergangenen VV geregelt ist.
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2. Nr. 34 VVJug hatte für den Jugendstrafvollzug auch § 39 nebst den hierzu ergangenen VV übernommen. Allerdings sollte nach § 39 dem Gefangenen das freie Beschäftigungsverhältnis (§ 39 Rdn. 3) bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gestattet werden, (ebenso § 22 Abs. 3 des Entwurfs, Rdn. 1), während Nr. 34 VVJug der Vollzugsbehörde insoweit aus erzieherischen Gründen ein freieres Ermessen („kann“) einräumte. Da auch unter achtzehn Jahre alten Gefangenen das Eingehen eines freien Beschäftigungsverhältnisses gestattet werden konnte, waren insoweit – vor allem aber auch hinsichtlich der Verwendung des nicht für in Zusammenhang mit der Beschäftigung notwendige Auslagen,
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Untersuchungshaft
§ 177
Hausgeld, Überbrückungsgeld und Haftkostenbeitrag (§ 50 Rdn. 3) in Anspruch genommenen Entgelts – die Rechte der gesetzlichen Vertreter des jungen Gefangenen zu beachten (VV Nr. 4 Abs. 1). 3. Während Abs. 1 bis 3 durch die neuen landesgesetzlichen Regelungen obsolet gewor- 4 den sind, behalten die Verweise auf §§ 44, 49 bis 52 in Abs. 4 teilweise Gültigkeit, nämlich soweit anderweitig bundesgesetzlich geregelte Materien davon betroffen sind: Bezüglich der Ausbildungsbeihilfe (§ 44) betrifft dies den Vorrang anderweitiger Leistungen insbesondere nach AFG (§ 44 Rdn. 4), und den Nachrang der Sozialhilfe (§ 44 Rdn. 5); bezüglich des Haftkostenbeitrags (§ 50 Rdn. 10) und des Überbrückungsgeldes (§ 52 Rdn. 17) die Regelungen zur Berücksichtigungsfähigkeit der nach ZPO unpfändbaren Bezüge bzw. der Unpfändbarkeit des Überbrückungsgeldes.
III. Landesgesetze Die seit dem 1.1.2008 in Kraft getretenen Landesgesetze haben sich mit ihren Bestim- 5 mungen zur Arbeit der Jugendgefangenen auf § 176 und die dazugehörige VV gestützt. Auf die einschlägige Literatur kann verwiesen werden (Laubenthal 2008 Rdn. 856 ff; Ostendorf (Hrsg.) Jugendstrafvollzugsrecht: eine kommentierende Darstellung der einzelnen Jugendstrafvollzugsgesetze, Baden-Baden 2009; Saußner Jugendstrafvollzug und Gesetzgebung: das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kontext aktueller Entwicklungen und dessen gesetzgeberische Umsetzung, Diss. Hamburg 2009). In Bezug auf die Ausbildungsbeihilfe gehen die Landesgesetze zum Teil über das bisherige bundesgesetzlich Geltende hinaus; so sieht Bayern die Möglichkeit vor, einen jungen Gefangenen auch dann Ausbildungsbeihilfe zu gewähren, wenn er an therapeutischen Maßnahmen teilnimmt (Art. 149 Abs. 2 BayStVollzG).
§ 177 Untersuchungshaft Übt der Untersuchungsgefangene eine ihm zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit aus, so erhält er ein nach § 43 Abs. 2 bis 5 zu bemessendes und bekannt zu gebendes Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts ist abweichend von § 200 fünf von Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen (Eckvergütung). § 43 Abs. 6 bis 11 findet keine Anwendung. Für junge und heranwachsende Untersuchungsgefangene gilt § 176 Abs. 1 Satz 1 und 2 entsprechend. VV (1) Für eine zugewiesene Beschäftigung wird ein Arbeitsentgelt gewährt, wenn ihr Ergebnis wirtschaftlich verwertbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. (2) Im übrigen gelten Nummern 1 bis 3 der VV zu § 43 entsprechend. Schrifttum: Keck Zum Taschengeldanspruch in Untersuchungshaft, in: ZfStrVo 1990, 18 ff; Münchhalffen/Gatzweiler Das Recht der Untersuchungshaft, 2. Aufl., Münschen 2002; Perwein „Taschengeld“ für Untersuchungs- und Abschiebegefangene, in: ZfStrVo 1994, 349 ff; Piel/Püschel/Tsambikakis/Wallau Der Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes NRW – Ein rechtliches und politisches Ärgernis, in ZRP 2009, 33 ff.
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I. Allgemeine Hinweise 1
1. Infolge des Übergangs der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder (s. § 1 Rdn. 2) sind diese dabei, Vollzugsgesetze zur UHaft zu erarbeiten. Niedersachen hat als einziges Bundesland bislang innerhalb seines am 1.1.2008 in Kraft getretenen Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz landesrechtliche Regelungen zum UHaftvollzug getroffen. Mit der Eingliederung des UHaftvollzugs in das NJVollzG treten für alle in Niedersachsen in Untersuchungshaft befindlichen Personen an die Stelle des § 119 Abs. 1 bis 5 Satz 1, Abs. 6, der §§ 93, 110 JGG und der UVollzO die Vorschriften der §§ 133 ff NJVollzG (KK-Schultheis 2008 § 119, Rdn. 1a). Das Gesetz ist allerdings insoweit novelliert worden, als es kompetenzrechtliche und praktische Probleme hinsichtlich der Differenzierung nach verfahrens- und vollzugsrechtlichen Aspekten, z. B. bei der Briefkontrolle (vgl. dazu OLG Oldenburg Beschl. v. 12.2.2008 – 1 Ws 87/08), aufgeworfen hatte. Diese Änderungen, die v.a. den nach § 117 StPO zuständigen Haftrichter auch für Vollzugsfragen für zuständig erklären, sind zum 1.3.2009 in Kraft getreten (vgl. zu dieser Problematik Winzer/Hupka Das neue niedersächsische Justizvollzugsgesetz: Vom Haftrichter zum Vollzugsrichter im Untersuchungshaftvollzug, in Dt. Richterzeitung 2008, 146 ff). Unter der Federführung von Berlin und Thüringen haben außerdem insgesamt 12 Bundesländer den Entwurf eines UHaftvollzugsgesetzes erarbeitet. Damit sollen auch Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden. Vorgelegt wurde ein in sich geschlossenes UHaftvollzugsgesetz, das den Besonderheiten dieses Vollzuges Rechnung trägt und auch den Vollzug der UHaft an jungen Gefangenen einbezieht. Als besondere inhaltliche Herausforderung erweist sich die – in Niedersachsen zunächst nicht gelungene – Grenzziehung zwischen Strafverfahren und Vollzug, da der Landesgesetzgeber nur bezüglich des UHaftvollzugsrechts die Gesetzgebungsbefungnis besitzt. Der Entwurf wird nun in die Gesetzgebungsverfahren der einzelnen Länder eingebracht und soll jeweils Anfang 2010 in Kraft treten. Solange es noch keine UHaftvollzugsgesetze gibt, ist es zu begrüßen, dass ein gesetzlicher Anspruch auf Arbeitsentgelt für Untersuchungsgefangene im StVollzG verbrieft ist.
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2. Während in der bis 2000 geltenden Fassung der Vorschrift das Arbeitsentgelt für Straf- und Untersuchungsgefangene gleich bemessen sein sollte, schließt die Neuregelung den erwachsenen Untersuchungsgefangenen von der Verbesserung des Entgelts aus, die in der Folge der Umsetzung des Urteils des BVerfG (BVerfGE 98, 169, § 43 Rdn. 2–4) vorgenommen wurde. Da das BVerfG seine Entscheidung ausdrücklich auf die Pflichtarbeit bezieht und vornehmlich mit dem Resozialisierungsgebot begründet, die bei der Gestaltung der UHaft keine Rolle spielen (dürfen), erscheint es vordergründig richtig, dass es bei dem seitherigen Entgelt (5 vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV) für die Untersuchungsgefangenen bleibt (OLG Celle ZfStrVo 2001, 362; OLG Stuttgart NStZ 2004, 230; darin liegt jedenfalls kein Verfassungsverstoß: BVerfG NStZ 2004, 514 f mit krit. Anm. Rotthaus; vgl. auch Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1). Indessen ist die Unschuldsvermutung – der Gestaltungsgrundsatz für die UHaft – kein schlechterer Rechtstitel als das Resozialisierungsgebot. Ihm zufolge muss die UHaft weniger belastend ausgestaltet sein als die Strafhaft, weshalb auch keine Arbeitspflicht besteht. Deshalb sollte aber auch für hieran interessierte Untersuchungsgefangene angemessene Arbeit und Beschäftigung zur Verfügung stehen, sollte Berufs- oder Weiterbildung ermöglicht werden. Die Entgeltregelungen müssten eher günstiger, dürften jedenfalls nicht ungünstiger sein als die für Strafgefangene jeweils vorgesehenen. Dem trägt Nr. 96 EuStVollzGrds Rechnung. Gegenwärtig ist keine Gelegenheit zu schulischer und beruflicher Bildung vorgesehen (Nr. 43 UVollzO), dem-
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Untersuchungshaft
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gemäß fehlt ein Anspruch auf Ausbildungsvergütung. Bezahlter Arbeitsurlaub steht Untersuchungsgefangenen nicht zu (OLG Hamm NStZ 1987, 478). Angesichts der schon lange bestehenden Schwierigkeiten, Arbeit für Gefangene zu beschaffen, können auch arbeitswillige Untersuchungsgefangene oft keine Arbeit erhalten. Auch insoweit werden in der Praxis aus Gründen der Resozialisierung Strafgefangene bevorzugt. 3. Die jugendlichen und heranwachsenden Untersuchungsgefangenen erhalten 3 dasselbe Arbeitsentgelt wie die zu Jugendstrafe Verurteilten (§ 176). Der Gesetzgeber trägt damit dem Umstand Rechnung, dass sie aus erzieherischen Gründen zur Arbeit verpflichtet sind. Ob dies zutrifft (so Brunner/Dölling 2008 § 93 Rdn. 5; K/S-Schöch 2002 § 5 Rdn. 119; OLG Stuttgart NJW 1974, 789) oder eine Arbeitspflicht nach geltendem Recht nicht besteht (Eisenberg 2009 § 93 Rdn. 18; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 2; AG Hamburg NStZ 1985, 288), ist für die Geltung der Vorschrift unerheblich, da sie die Position des jungen Untersuchungsgefangenen nur verbessert. Niedersachsen hat in den §§ 157–166 NJVollzG Sonderregelungen für junge Gefangene getroffen.
II. Erläuterungen 1. Zwischen einem Untersuchungsgefangenen und dem durch die Justizvollzugsanstalt 4 vertretenen Land bestehen keine bürgerlich-rechtlichen Beziehungen, denn er erbringt seine, freilich freiwillige, Arbeitsleistung unter Bedingungen, die einseitig von der Anstalt festgelegt werden (BAG ZfStrVo SH 1979, 131). Arbeitsentgelt wird dem Untersuchungsgefangenen nur für zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit gewährt. Dass die Teilnahme an arbeitstherapeutischer Beschäftigung, Berufsausbildung, Umschulung, beruflicher Fortbildung oder an einem Unterricht und deren Vergütung durch Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe nicht in den Blick genommen worden ist, muss bedauert werden. Vor allem bei lange dauernder UHaft und bei jungen Untersuchungsgefangenen wären solche Angebote, und zwar gerade auch in der den Strafgefangenen ermöglichten finanziellen Ausgestaltung, angebracht. Auch Taschengeld für einen arbeitswilligen Untersuchungsgefangenen, dem keine Arbeit oder Beschäftigung zugewiesen werden kann, ist nicht vorgesehen (vgl. hierzu Keck 1990, 18 ff; OLG Schleswig ZfStrVo 1992, 72; OLG Hamm BlStV 1/1994, 3; OLG Stuttgart ZfStrVo 1994, 247, 248). Mittellose Untersuchungshaftgefangene haben aber einen Anspruch auf „Taschengeld“ gegen den Sozialhilfeträger (BVerwG DVBl. 1994, 425; OLG Celle NStZ-RR 1998, 89), wobei eine Höhe von etwa 15 % vom Regelsatz des Haushaltsvorstandes für angemessen gehalten wird (Perwein 1994, 349; VG Berlin ZfStrVo 1995, 115 mit krit. Anm. Heischel; 30 %: AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 6). In der Praxis ist die Durchsetzung dieser Ansprüche schwierig (Bundesvereinigung der Anstaltsleiter ZfStrVo 1997, 228, 230). Auch deshalb sollte eine dem § 46 entsprechende Regelung in den UHaftvollzugsgesetzen erfolgen. Selbstbeschäftigung (§ 39 Rdn. 13) kann natürlich auch dem Untersuchungsgefangenen erlaubt werden (Nr. 44 UHaftVollzO). VV Nr. 1 bedeutet keine Schlechterstellung des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Freiheitsstrafe verbüßenden Gefangenen (wie AK-Feest/Köhne 2006 Rdn. 5 offenbar annehmen). Denn auch nach § 37 ist eine „angemessene Beschäftigung“, die den Anspruch auf Arbeitsentgelt nach § 43 Abs. 1 auslöst, nur eine solche, deren „Ergebnis wirtschaftlich vertretbar ist und in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht“ (VV Nr. 2 zu § 37). Selbstverständlich werden Hilfstätigkeiten gem. § 41 Abs. 1 Satz 2 ebenso wie bei Strafgefangenen vergütet (ebenso Arloth 2008 Rdn. 2; unrichtig AK-Feest/Köhne Rdn. 5). Dazu auch § 37 Rdn. 25, 26. 2. Das Arbeitsentgelt wird dem Untersuchungsgefangenen als Eigengeld (§ 52 Rdn. 1) 5 gutgeschrieben. Fühlt der Untersuchungsgefangene sich durch falsche Berechnung etwa in
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seinen Rechten verletzt, kann er nach §§ 23 ff EGGVG vorgehen (Arloth 2008 Rdn. 4; AKFeest/Köhner 2006 Rdn. 8; § 109 Rdn. 3).
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3. „Junge“ Untersuchungsgefangene sind nach Nr. 1 Abs. 4 UHaftVollzO Gefangene unter 21 Jahren. Der Gesetzgeber wird in Satz 4 aber „jugendliche“ gemeint haben, wofür die Gegenüberstellung mit „heranwachsenden“ spricht. Damit wird auf den Sprachgebrauch des JGG (§§ 1, 93, 110) verwiesen. Es kommt danach darauf an, wie alt der Gefangene war, als er die Tat, derentwegen UHaft angeordnet worden ist, begangen haben soll. Eine obere Altersgrenze, wie in § 110 Abs. 2 JGG für die erzieherische Ausgestaltung der UHaft bestimmt (24 Jahre), enthält die Vorschrift nicht. Eine gesetzliche Klarstellung (etwa: „Jugendliche und heranwachsende Untersuchungsgefangene bis zur Erreichung des 21. – oder 24. – Lebensjahres“) wäre notwendig. § 157 Satz 2 NJVollzG definiert junge Gefangene als „zur Tatzeit Jugendliche und Heranwachsende im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sowie zur Tatzeit Heranwachsende, die 21, aber noch nicht 24 Jahre alt sind und für die nach den Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes der Vollzug der Untersuchungshaft nach den für den Vollzug an Jugendlichen geltenden Vorschriften angeordnet worden ist.“ Dass jugendliche und heranwachsende Untersuchungsgefangene gem. Nr. 80 Abs. 2 Satz 2 UVollzO in der Verfügung über ihr Arbeitsentgelt insoweit beschränkt sind, als ein Überbrückungsgeld aus vier Siebteln des Entgelts gebildet wird (§ 176 Abs. 4 i. V. m. § 51), erscheint bedenklich. Auch wenn aus erzieherischen Gründen für junge Untersuchungsgefangene eine Arbeitspflicht bestehen sollte, ist es nicht zwingend (sondern unangemessen), auch noch eine Verfügungsbeschränkung über das Arbeitsentgelt vorzusehen.
III. Landesgesetze 7
Bislang hat Niedersachsen als einziges Bundesland den UHaftvollzug gesetzlich geregelt: § 152 Abs. 3 NJVollzG ist an § 177 StVollzG angelehnt und lautet: „Für die Ausübung einer angebotenen Arbeit oder angemessenen Beschäftigung erhält die oder der Gefangene ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung sind fünf vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchszugrunde zu legen (Eckvergütung). § 40 Abs. 2 und 4 sowie die §§ 42 und 44 gelten entsprechend.“ In der Begründung heißt es dazu: „Dabei sieht der Entwurf davon ab, Strafgefangenen und Untersuchungsgefangenen den gleichen Lohn zukommen zu lassen, sondern beschränkt letztere auf eine Bemessungsgröße von 5 Prozent der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV. Diese Unterscheidung entspricht der bisherigen Rechtslage, die vom Bundesverfassungsgericht (NJW 2004, 3030) für verfassungsgemäß erklärt worden ist und ihre Berechtigung in der unterschiedlichen Zielsetzung von Strafhaft und Untersuchungshaft findet“ (LT-Drucks. 15/3565, 193 f).
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VIERTER TITEL
Unmittelbarer Zwang in Justizvollzugsanstalten § 178 (1) Die §§ 94 bis 101 über den unmittelbaren Zwang gelten nach Maßgabe der folgenden Absätze auch für Justizvollzugsbedienstete außerhalb des Anwendungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes (§ 1). (2) Beim Vollzug der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbringung nach § 126a der Strafprozessordnung bleibt § 119 Abs. 5 und 6 der Strafprozessordnung unberührt. (3) Beim Vollzug des Jugendarrestes, des Strafarrestes sowie der Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft dürfen zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung (§ 100 Abs. 1 Nr. 3) keine Schusswaffen gebraucht werden. Dies gilt nicht, wenn Strafarrest oder Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- oder Erzwingungshaft in Unterbrechung einer Untersuchungshaft, einer Strafhaft oder einer Unterbringung im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (4) Das Landesrecht kann, namentlich beim Vollzug der Jugendstrafe, weitere Einschränkungen des Rechtes zum Schusswaffengebrauch vorsehen.
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise Der Anwendungsbereich der Vorschrift 1 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 2–5 1. Anwendung unmittelbaren Zwanges während der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . 2 2. Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Vollstreckung von Jugendarrest, Strafarrest und Haft . . . . 3
Rdn. 3. Anwendung von unmittelbarem Zwang im Bereich des Jugendstrafvollzuges . . . . . . . . . . . . . 4. Unmittelbarer Zwang gegen Haftunerfahrene . . . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . . . 1. Bayern . . . . . . . . . . . . . . 2. Hamburg . . . . . . . . . . . . . 3. Niedersachsen . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeine Hinweise § 178 erklärt die Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwanges für Justiz- 1 vollzugsbedienstete auch dann für anwendbar, wenn die Bediensteten zwar in Justizvollzugsanstalten tätig sind, aber gegenüber Inhaftierten Maßnahmen ergreifen müssen, für die das Strafvollzugsgesetz (§ 1) nicht gilt (z. B. KG ZfStrVo 2002 , 248 f). Vgl. auch § 1 Rdn. 6 ff.
II. Erläuterungen 1. Für den Vollzug der Untersuchungshaft gelten die Grundsätze über die Anwen- 2 dung unmittelbaren Zwanges in vollem Umfang. Der Gesetzgeber weist für den Fall der Untersuchungshaft und der gemäß § 126a StPO angeordneten einstweiligen Unterbrin-
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gung von Untersuchungsgefangenen zu Untersuchungszwecken in Krankenhäusern ausdrücklich darauf hin, dass bei der Anwendung des unmittelbaren Zwanges die Voraussetzungen, die in § 119 Abs. 5 StPO für Fesselungen aufgeführt sind, zu beachten sind und dass die Einhaltung des in § 119 Abs. 6 StPO vorgeschriebenen Anordnungsweges erforderlich ist. Für die Praxis des Vollzuges gelten aber bei Untersuchungsgefangenen im Wesentlichen alle zu den §§ 94–101 angeführten Gesichtspunkte. Sollten die geplanten Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder in absehbarer Zeit in Kraft treten, ist mit gesonderten Vorschriften, die inhaltlich den §§ 94–101 entsprechen werden, zu rechnen (vgl. die §§ 54–59 des gemeinsamen Entwurfs eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen). Niedersachsen hat in §§ 156 Abs. 1 NJVollzG für den Bereich der Untersuchungshaft ausdrücklich die entsprechende Anwendung der für den Strafvollzug des Landes geltenden Vorschriften (§§ 87–93) festgelegt. Bayern hat für den Bereich der Untersuchungshaft die Fortgeltung der Regelung in § 178 in § 208 BayStVollzG festgelegt. Diese bisher in Hamburg gemäß § 130 Ziff. 7 HmbStVollzG geltende Verweisung auf § 178 wird durch das neue im Verbund mit 10 anderen Bundesländern geplante Gesetz ersetzt werden (vgl. dazu die Aussagen des neuen Justizsenators Steffen in Forum Strafvollzug 4/2008, 185 f). Welchen Weg Hessen gehen wird, bleibt abzuwarten. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, die wahrscheinlich eigene Untersuchungshaftvollzugsgesetze verabschieden werden, düften für den Bereich des unmittelbaren Zwanges vermutlich inhaltlich den §§ 94–101 StVollzG entsprechende Regelungen in ihre Untersuchungshaftvollzugsgesetze aufnehmen.
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2. In Abs. 3 regelt der Gesetzgeber die Anwendung unmittelbaren Zwanges in den besonderen Formen von Jugendarrest, Strafarrest und Haft, die in Justizvollzugsanstalten vollstreckt werden können. Abweichend vom allgemeinen Strafvollzug dürfen Schusswaffen zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung nicht verwendet werden. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht, wenn der Strafarrest, die Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- oder Erzwingungshaft in Unterbrechung einer Untersuchungshaft, einer Freiheitsstrafe oder einer Unterbringung im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. In diesen Fällen gelten die in §§ 94 bis 101 geregelten Grundsätze in vollem Umfang. Besondere Bedeutung erhält die Vorschrift gegenwärtig für den Bereich der Abschiebungshaft (vgl. zu den Zahlen und Aufgaben Eschenbacher Nordrhein-Westfalen begeht neue Wege im Bereich der Abschiebungshaft, in: ZfStrVo 1994, 158 ff), welche in den meisten Bundesländern in Justizvollzugsanstalten vollstreckt wird. Schusswaffen dürfen nicht angewendet werden. Allerdings gilt dies bei Meutereien von Abschiebungsgefangenen, welche mehrfach vorgekommen sind, dann nicht, wenn zur Abwendung schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Sicherheit ein Schusswaffengebrauch notwendig ist. Werden einzelne, besonders fluchtverdächtige oder betragensauffällige Abschiebungsgefangene in Untersuchungshaftanstalten untergebracht, so ist der Schusswaffengebrauch dann nicht zu verhindern, wenn die beteiligten Beamten bei Ausbruchsversuchen nicht wissen, dass es sich um einen Abschiebungsgefangenen handelt. Gleiches gilt bei Transporten von Abschiebungsgefangenen in Gefangenentransportfahrzeugen, in denen sich auch Untersuchungs- und Strafgefangene befinden. Das Strafvollzugsgesetz verpflichtet die Landesjustizverwaltungen nicht, die in Abs. 3 genannten Gefangenengruppen in gesonderten Anstalten unterzubringen oder äußerlich besonders kenntlich zu machen.
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3. In Abs. 4 wird der Landesgesetzgeber der einzelnen Bundesländer ermächtigt, insbesondere für den Vollzug der Jugendstrafe, hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs abweichende Regelungen zu treffen. Von dieser Ermächtigung ist bisher kein Gebrauch ge-
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macht worden. Allerdings ist die Vorschrift durch die inzwischen zum Jugenstrafvollzugsrecht ergangenen Landesgesetze bedeutungslos geworden. Die meisten Länder haben die Befugnisse zur Anwendung unmittelbaren Zwanges in ähnlicher Weise geregelt, wie sie sich in den §§ 94–101 StVollzG finden (vgl. Laubenthal 2008 Rdn. 879 letzter Absatz). Eine detaillierte Kommentierung des Jugendstrafvollzuges kann hier nicht erfolgen, zu Bayern, Hamburg und Niedersachsen s. u. Rdn. 6. Im Bereich der Untersuchungshaft und in Jugendstrafanstalten kommen die gesetz- 5 lichen Regelungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges häufiger als im Strafvollzug der Erwachsenen auch gegenüber solchen Inhaftierten zur Anwendung, die sich aufgrund ihrer Unerfahrenheit im Vollzug oder infolge ihres Verstörtseins durch die erste Inhaftierung den Anordnungen der Bediensteten widersetzen. Deshalb ist es gerade für die genannten Bereiche wichtig, vor der Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Gespräche oder eindringliche Androhung von Zwangsmaßnahmen (§ 98) auf die Gefangenen einzuwirken (ähnlich AK-Brühl/Walter 2006 § 94 Rdn. 7).
III. Landesgesetze Inzwischen haben alle Bundesländer Jugendstrafvollzugsgesetze erhalten, welche die 6 jeweiligen Landesvorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwanges in Anlehnung an die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes formuliert haben (Rdn. 4). Ähnliches ist für die zur Zeit vorbereiteten Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder zu erwarten (Rdn. 2). Infolge der Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder wird nach Inkrafttreten der Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder die bisherige Regelung in § 178 StVollzG weitgehend überflüssig werden. 1. Bayern Bayern hat die dem StVollzG entsprechenden Vorschriften des Erwachsenenvollzuges 7 (Art. 101–107 BayStVollzG) auch für den Bereich des Jugendstrafvollzuges uneingeschränkt übernommen (Art. 154 BayStVollzG), von der Möglichkeit des § 178 Abs. 4 StVollzG demgemäß keinen Gebrauch gemacht. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Entscheidung des bayrischen Gesetzgebers lassen sich nicht stichhaltig begründen (so auch Arloth 2008 Rdn. 2 zu Art. 1154 BayStVollzG). Für alle anderen in § 178 StVollzG angesprochenen Vollzugsarten gilt die bisherige Regelung, wenn man von der Sonderregelung für den Strafarrest in Art. 194 BayStVollzG absieht, wonach zur Vereitelung einer Flucht oder zur Wiederergreifung keine Schusswaffen gebraucht werden dürfen. 2. Hamburg Hamburg hat in § 83 HmbStVollzG den Schusswaffengebrauch für den Bereich des 8 Jugendstrafvollzuges bei Flucht und Wiederergreifung der Sache nach nicht mehr für zulässig erklärt, ansonsten die Weitergeltung des § 178 StVollzG in § 130 HmbStVollzG (Ziff. 7) ausdrücklich anerkannt. 3. Niedersachsen In Niedersachsen werden die für den Erwachsenenvollzug (einschließlich U-Haft) gel- 9 tenden Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwanges, die im Wesentlichen dem StVollzG entsprechen, für den Bereich des Jugendstrafvollzuges in § 129 NJVollzG dahingehend modifiziert, dass Schusswaffen nur zur Abwehr einer durch Benutzung einer
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Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs verursachten gegenwärtigen Gefahr für Leben oder Gesundheit gebraucht werden dürfen. Für alle übrigen Vollzugsbereiche gilt § 178 StVollzG weiterhin.
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Datenschutz Vorbemerkungen Schrifttum: Adt Schweigepflicht und die Entbindung von der Schweigepflicht, in: ZfStrVo 1998, 328 ff; Arloth Aktuelle Fragen und neuere Entwicklungen im Strafvollzug – zugleich eine Besprechung der Werke von Böhm, Kaiser/Schöch und Laubenthal, in: GA 2003, 693 ff; ders. Grundfragen und aktuelle Probleme des Strafvollzug, in: JuS 2003a, 1041 ff; Bast Die Schweigepflicht der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Strafvollzug – Eine Untersuchung der innerbehördlichen Schweigepflicht nach §§ 182 StVollzG, 203 StGB, Hamburg 2003; Baumann Die Entwicklung des öffentlichen Rechts. Stellungnahme zu den Auswirkungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983 zum Volkszählungsgesetz 1983, in: DVBl. 1984, 612 ff; Benfer Verdeckte Ermittlungen durch Polizeibeamte, in: MDR 1994, 12 f; Berg Informationelle Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit. Zum Spannungsverhältnis zwischen zwei in der Verfassung verankerten Rechten, in: Jehle (Hrsg.), Datenzugang und Datenschutz in der kriminologischen Forschung, Wiesbaden 1987, 30 ff; Böllinger Offenbarungspflicht der Therapeuten im Strafvollzug: ein Schlag gegen die forensische Psychotherapie, in: MschrKrim 2000, 11 ff; Bruns Aids und Strafvollzug, in: StV 1987, 504 ff; Busch Datenschutz im Strafvollzug – Orientierungshilfe und Checkliste, herausgegeben vom Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen, Hannover 2000 a; ders. Die Schweigepflicht des Anstaltsarztes gegenüber dem Anstaltsleiter und der Aufsichtsbehörde, in: ZfStrVo 2000b, 344 ff; Dammann Das Dateistatut nach § 18 Abs. 2 BDSG, in: DuD 1993, 547 ff; Dargel Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener, in: NStZ 1989, 207 ff; ders. Die rechtliche Zulässigkeit der Bekanntgabe von HTLV III-Infektionen oder AIDSErkrankungen der Gefangenen durch die Vollzugsbehörde, in: ZfStrVo 1987, 156 ff; Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung Stellungnahme zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1999, 239 f = MschrKrim 1999a, 340 f = Rechtsmedizin 1999b, 239f; Dörr Die Folgen einer Nichtbeachtung der Pflichten aus § 4 Abs. 2 BDSG, in: RDV 1992, 167 ff; Graalmann-Scheerer Zur Zulässigkeit der Einwilligung in die Entnahme von Körperzellen (§§ 81a Abs. 3, 81a Abs. 2 StPO, § 2 DNAIdentitätsfeststellungsgesetz) und in die molekulargenetische Untersuchung (§§ 81g Abs. 3, 81 f Abs. 1 StPO, § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz), in: JR 1999, 453 ff; Harrendorf Die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die Schweigepflicht des Therapeuten im Strafvollzug, in: JR 2007, 18 ff; Hartmann Zu den Rahmenbedingungen von Psychotherapie mit (Sexual-)Straftätern im Regelstrafvollzug: auch eine Replik auf R. Wulf in R&P 4/98, in: R&P 1999, 70 ff; ders. Paradigmenwechsel im Strafvollzug!?, in: ZfStrVo 2000, 204 ff; Heischel Anm. zu BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des 2. Senats v. 21.1. 2003 – 2 BvR 406/02, in: StV 2003, 409 f; Hilger Neues Strafverfahrensrecht durch das OrgKG – 1. Teil, in: NStZ 1992, 457 ff; Hildebrandt Schweigepflicht im Behandlungsvollzug – Zur Neuregelung des § 182 Abs. 2 StVollzG, Frankfurt am Main 2004; Hobe Auskunft aus Akten sowie Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke. Die Regelung im Entwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes (StVÄG) 1988, in: Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Nutzbarkeit für Kriminologie und Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989, 287 ff; Jehle Diskussion der künftigen Regelung der Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke, in: Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Nutzbarkeit für Kriminologie und Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989, 321 ff; Joester Anm. zu LG Braunschweig, Beschl. v. 21.1.1980 – 50 StVK 701/79; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 7.2.1980 – 3 Ws 318/79; OLG Koblenz, Beschl. v. 28.3.1980 – 2 Vollz (Ws) 7/80; OLG Celle, Beschl.v. 8.5.1980 – 3 Ws
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Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs verursachten gegenwärtigen Gefahr für Leben oder Gesundheit gebraucht werden dürfen. Für alle übrigen Vollzugsbereiche gilt § 178 StVollzG weiterhin.
FÜNFTER TITEL
Datenschutz Vorbemerkungen Schrifttum: Adt Schweigepflicht und die Entbindung von der Schweigepflicht, in: ZfStrVo 1998, 328 ff; Arloth Aktuelle Fragen und neuere Entwicklungen im Strafvollzug – zugleich eine Besprechung der Werke von Böhm, Kaiser/Schöch und Laubenthal, in: GA 2003, 693 ff; ders. Grundfragen und aktuelle Probleme des Strafvollzug, in: JuS 2003a, 1041 ff; Bast Die Schweigepflicht der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Strafvollzug – Eine Untersuchung der innerbehördlichen Schweigepflicht nach §§ 182 StVollzG, 203 StGB, Hamburg 2003; Baumann Die Entwicklung des öffentlichen Rechts. Stellungnahme zu den Auswirkungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983 zum Volkszählungsgesetz 1983, in: DVBl. 1984, 612 ff; Benfer Verdeckte Ermittlungen durch Polizeibeamte, in: MDR 1994, 12 f; Berg Informationelle Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit. Zum Spannungsverhältnis zwischen zwei in der Verfassung verankerten Rechten, in: Jehle (Hrsg.), Datenzugang und Datenschutz in der kriminologischen Forschung, Wiesbaden 1987, 30 ff; Böllinger Offenbarungspflicht der Therapeuten im Strafvollzug: ein Schlag gegen die forensische Psychotherapie, in: MschrKrim 2000, 11 ff; Bruns Aids und Strafvollzug, in: StV 1987, 504 ff; Busch Datenschutz im Strafvollzug – Orientierungshilfe und Checkliste, herausgegeben vom Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen, Hannover 2000 a; ders. Die Schweigepflicht des Anstaltsarztes gegenüber dem Anstaltsleiter und der Aufsichtsbehörde, in: ZfStrVo 2000b, 344 ff; Dammann Das Dateistatut nach § 18 Abs. 2 BDSG, in: DuD 1993, 547 ff; Dargel Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener, in: NStZ 1989, 207 ff; ders. Die rechtliche Zulässigkeit der Bekanntgabe von HTLV III-Infektionen oder AIDSErkrankungen der Gefangenen durch die Vollzugsbehörde, in: ZfStrVo 1987, 156 ff; Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung Stellungnahme zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1999, 239 f = MschrKrim 1999a, 340 f = Rechtsmedizin 1999b, 239f; Dörr Die Folgen einer Nichtbeachtung der Pflichten aus § 4 Abs. 2 BDSG, in: RDV 1992, 167 ff; Graalmann-Scheerer Zur Zulässigkeit der Einwilligung in die Entnahme von Körperzellen (§§ 81a Abs. 3, 81a Abs. 2 StPO, § 2 DNAIdentitätsfeststellungsgesetz) und in die molekulargenetische Untersuchung (§§ 81g Abs. 3, 81 f Abs. 1 StPO, § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz), in: JR 1999, 453 ff; Harrendorf Die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die Schweigepflicht des Therapeuten im Strafvollzug, in: JR 2007, 18 ff; Hartmann Zu den Rahmenbedingungen von Psychotherapie mit (Sexual-)Straftätern im Regelstrafvollzug: auch eine Replik auf R. Wulf in R&P 4/98, in: R&P 1999, 70 ff; ders. Paradigmenwechsel im Strafvollzug!?, in: ZfStrVo 2000, 204 ff; Heischel Anm. zu BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des 2. Senats v. 21.1. 2003 – 2 BvR 406/02, in: StV 2003, 409 f; Hilger Neues Strafverfahrensrecht durch das OrgKG – 1. Teil, in: NStZ 1992, 457 ff; Hildebrandt Schweigepflicht im Behandlungsvollzug – Zur Neuregelung des § 182 Abs. 2 StVollzG, Frankfurt am Main 2004; Hobe Auskunft aus Akten sowie Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke. Die Regelung im Entwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes (StVÄG) 1988, in: Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Nutzbarkeit für Kriminologie und Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989, 287 ff; Jehle Diskussion der künftigen Regelung der Akteneinsicht für wissenschaftliche Zwecke, in: Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Nutzbarkeit für Kriminologie und Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989, 321 ff; Joester Anm. zu LG Braunschweig, Beschl. v. 21.1.1980 – 50 StVK 701/79; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 7.2.1980 – 3 Ws 318/79; OLG Koblenz, Beschl. v. 28.3.1980 – 2 Vollz (Ws) 7/80; OLG Celle, Beschl.v. 8.5.1980 – 3 Ws
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142/80 (StVollz), in: StV 1981, 80 f; Kamann Datenschutz im Strafvollzug – Verfassungsgebot und Wirklichkeit, in: ZfStrVo 2000, 84 ff; Klatt Anm. zu BVerfG, Kammerbeschl. v. 9.1.2006 – 2 BvR 443/02, in: JZ 2007, 95 ff; Knemeyer Auskunftsanspruch und behördliche Auskunftsverweigerung – Ermessen oder Abwägung. Zur neuen Informanten-Rechtsprechung des BVerwG v. 3.9.1991, in: JZ 1992, 348 ff; Körner-Dammann Weitergabe von Patientendaten an ärztliche Verrechnungsstellen, in: NJW 1992, 729 ff; Lennartz Verarbeitung personenbezogener Daten zu wissenschaftlichen Zwecken, in: RDV 1988, 132 ff; Linkhorst Das Akteneinsichtsrecht des Strafgefangenen nach § 185 StVollzG – Die Akteneinsicht durch den Strafgefangenen – praktische Bedeutung, rechtliche Normierung und Auslegung im Lichte des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung, Aachen 2005; Linkhorst Anm. zu KG, Beschl. v. 9.5. 2006 – 5 Ws 232/06, in: StV 2008, 312 f; Lübbe-Wolff/Geisler Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft – Bericht mit Hinweisen zu einigen häufig übersehenen Erfolgsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde, in: NStZ 2004, 478 ff; Poppenhäger Informationelle Gewaltenteilung. Zulässigkeit und Grenzen der Nutzung personenbezogener Daten für statistische Zwecke und Zwecke des Verwaltungsvollzuges, in: NVwZ 1992, 149 ff; Preusker/Rosemeier Umfang und Grenzen der Schweigepflicht von Psychotherapeuten im Justizvollzug nach dem 4. Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, in: ZfStrVo 1998, 323 ff; Rixen Neues Datenschutzrecht für den Strafvollzug, in: DuD 2000, 640 ff; Romkopf Psychologische Behandlungsmaßnahmen im deutschen Strafvollzug, – ihre Durchführung in geschlossenen Anstalten unter Berücksichtigung der Schweigepflicht, in: Fabian (Hrsg.), Praxisfelder der Rechtspsychologie, Bd. 1, Münster 2002, 177 ff; Rösch Schweigepflicht – Offenbarungspflicht der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Strafvollzug, in: BlStV 2/2000, 1 ff; Rosenau Tendenzen und Gründe der Reform des Sexualstrafrechts, in: StV 1999, 388 ff; Rotthaus Zum praktischen Umgang mit dem therapeutischen Geheimnis im Strafvollzug – Das Dilemma von Schweigen und Offenbaren, in: ZfStrVo 2000, 280 ff; Schneider Repressive Kriminalpolitik im Gewande der „neuen Verwaltungssteuerung“ – Über unbedachte und kontraproduktive Folgen verkürzten Effektivitätsdenkens im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2004, 139 ff; Schöch Datenschutzrechtliche Voraussetzungen der Akteneinsicht für kriminologische Forschungsvorhaben. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes (Stand 3.11.1988), in: Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Nutzbarkeit für Kriminologie und Strafrechtspflege, Wiesbaden 1989, 299 ff; ders. Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justizvollzug gemäß § 182 II StVollzG, in: ZfStrVo 1999, 259 ff und in: Egg (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern im Justizvollzug – Folgerungen aus den Gesetzesänderungen, Wiesbaden 2000, 271 ff; Seebode Einsicht in Personalakten Strafgefangener, in: NJW 1997a, 1754 ff; Simitis/Fuckner Informationelle Selbstbestimmung und „staatliches Geheimhaltungsinteresse“, in: NJW 1990, 2713 ff; Sprenger-Fischer Zur Erforderlichkeit der richterlichen Anordnung von DNA-Analysen, in: NJW 1999, 1830 ff; Tag Das Arztgeheimnis im Strafvollzug, in: Hillenkamp/Tag (Hrsg.), Intramurale Medizin-Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug, Heidelberg 2005, 89 ff; Thorwart Juristische und ethische Grenzen der Offenbarung von Geheimnissen: Anmerkungen zur aktuellen Gesetzgebung und zu juristischen sowie beziehungsdynamischen Aspekten der innerinstitutionellen Schweigepflicht, in: R&P 1999, 10 ff; Tiedemann Datenübermittlung als Straftatbestand, in: NJW 1981, 945 ff; Tinnefeld Persönlichkeitsrecht und Modalitäten der Datenerhebung im Bundesdatenschutzgesetz, in: NJW 1993, 1117 ff; Vassilaki Personenbezogene Informationen in der Strafverfolgung: Potential zur Repression, Resozialisierung oder Gefahrenabwehr?, in: BewHi 1999, 141 ff; Volckart Schweigen und Offenbaren der Therapeuten im Strafvollzug gesetzlich geregelt, in: R&P 1998, 192 ff; Volle § 9 BDSG als irrealer Maßstab für PC’s, in: CR 1992, 500 ff; Weichert Akteneinsicht im Strafvollzug, in: ZfStrVo 2000, 88 f; Wollweber Datenschutz in der Untersuchungshaft, in: ZRP 1999, 405 ff; Wulf Innerbehördliche Offenbarungsund Schweigepflichten psychotherapeutischer Fachkräfte im Strafvollzug, in: R&P 1998, 185 ff; Zieger Vernachlässigte Tätigkeitsfelder der Verteidigung, insbesondere Vollstreckung und Vollzug, in: StV 2006, 375 ff.
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Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . 2. Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . 3. Datenschutz im Strafvollzug . . . 4. Datenschutz außerhalb des StVollzG
1–7 1 2 3–5 6–7
Rdn. II. Landesgesetze . . . . . . . . . . . 1. Justizvollzugsdatenschutzgesetz (JVollzDSG) Baden-Württemberg 2. Aufgabe und Anwendungsbereich des JVollzDSG . . . . . . . . . . 3. Übrige Landesgesetze . . . . . .
. 8–10 .
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. .
9 10
I. Allgemeine Hinweise 1
1. Der fünfte Titel enthält bereichsspezifische datenschutzrechtliche Vorschriften für den Vollzug der Freiheitsstrafe. Die Bestimmungen gelten gemäß §§ 130, 167 und 171 für den Vollzug der Sicherungsverwahrung, des Strafarrestes in Justizvollzugsanstalten und für den Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft, soweit in diesen Vorschriften keine Ausnahmen vorgesehen sind. Gleiches gilt, soweit Zurückweisungshaft oder Abschiebungshaft in Justizvollzugsanstalten vollzogen wird (§§ 8 Abs. 2 FreihEntzG i. V. m. 171). Baden-Württemberg hat speziell für die datenschutzrechtlichen Belange im Justizvollzug, Jugendstrafvollzug und in der Untersuchungshaft das Gesetz über den Datenschutz im Justizvollzug in Baden-Württemberg (Justizvollzugsdatenschutzgesetz – JVollzDSG) vom 27.6.2007 (BWGVBl. S. 320) erlassen (s. Rdn. 8).
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2. Das BVerfG (BVerfGE 65, 1 f = NJW 1984, 419 f) hat aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG das Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet. Das Grundrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Der Betroffene muss in der Lage sein zu erkennen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß (BVerfG NJW 1984, 419, 422). Es kommt nicht darauf an, ob sich dieses Wissen aus Dateien oder aus Akten oder aus sonstigen Unterlagen ergibt (Baumann 1984, 613). Zur Frage, ob die Verwendung von Namensschildern an den Haftraumtüren überhaupt als Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht angesehen wird, s. § 182 Rdn. 5. Der Umgang mit personenbezogenen Daten unterliegt einem strikten Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Letzterer kann sich – außer aus der Einwilligung des Betroffenen – nur aus einer Rechtsnorm ergeben, die nachfolgende Anforderungen erfüllt. Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung müssen nur im überwiegenden Allgemeininteresse hingenommen werden und bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die Voraussetzung und Umfang der Beschränkungen regelt (BVerfGE 65, 1, 43 f; DVBl. 1988, 530; NJW 1990, 563; BVerwG NJW 1988, 1863; NJW 1990, 2768). Der Gesetzgeber muss somit den Verwendungszweck für die erhobenen personenbezogenen Daten bereichsspezifisch und präzise bestimmen (Grundsatz der Normenklarheit). Daneben ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (BVerfGE 65, 1, 46; 67, 100, 143; 67, 157, 173; BVerwGE 59, 319, 323). Alle Stellen, die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten sammeln und verwerten, müssen sich auf das zur Zweckerreichung notwendige Minimum beschränken. Es genügt nicht, dass die Verwendung von Daten nur nützlich ist (C/MD 2008 § 179 Rdn. 2). Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber behördlichen Eingriffen, sondern gibt dem Betroffenen auch Einfluss- und Mitgestaltungsmöglichkeiten und trägt seinem Informationsbedürfnis Rechnung, indem er über
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seine datenschutzrechtlichen Betroffenenrechte belehrt wird (AK-Weichert 2006 Rdn. 4, s. auch § 179 Rdn. 11). Übermittlungs- und Verwertungsverbote sollen vor Zweckentfremdung sichern, Aufklärungs- und Auskunftspflichten für Transparenz sorgen und Aufbewahrungsfristen und Löschungspflichten den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung begrenzen (C/MD 2008 § 179 Rdn. 2). 3. Als Grundrechtsträger brauchen Gefangene ebenso wie andere Bürger Beschränkun- 3 gen ihres informationellen Selbstbestimmungsrechts prinzipiell nur hinzunehmen aufgrund eines Gesetzes, das den Erfordernissen der Verhältnismäßigkeit und Normenklarheit entspricht (BVerfGE 65, 1, 44). Am 28.8.1998 (BGBl. I, 2461 f) wurde das Vierte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (4. StVollzGÄndG) verkündet. Es ist am 1.12.1998 in Kraft getreten (Art. 4 des 4. StVollzGÄndG). Eine Anpassung an die Veränderungen des Bundesdatenschutzgesetzes erfuhren die §§ 179 Abs. 2 Satz 2, 184 Abs. 5 und 187 Satz 1 durch das Gesetz zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes und anderer Gesetze vom 18.5.2001 (BGBl. I, 904, 927 f: BDSÄndG); § 186 ist durch das StVÄG v. 2.8.2000 (BGBl. I, 1253, 1261) neu gefasst worden. Das 6. StVollzÄndG vom 5.10.2002 (BGBl. I, 3954) hat eine gesetzliche Grundlage zur elektronischen Speicherung von Lichtbildern von Gefangenen (§ 86a) und zur Übermittlung an die Finanzbehörden (§ 180 Abs. 4 Nr. 8) geschaffen. Zur Gesetzgebungsgeschichte C/MD 2008 § 179 Rdn. 3 f; AK-Weichert 2006 Rdn. 15. Dieses Gesetz verfolgt in erster Linie das Ziel, das Strafvollzugsgesetz um bereichsspezifische Rechtsgrundlagen für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten zu ergänzen. Es bestehen keine Bedenken, die §§ 179 ff bis zum Inkrafttreten von entsprechenden gesetzlichen Regelungen für die Untersuchungshaft im Bereich der Untersuchungshaft entsprechend anzuwenden (Brandenburgisches OLG Beschl. v. 12.2.2008, – 2 VAs 7/07 – (für § 185); Arloth 2008 Rdn. 2; Meyer-Goßner 2008 § 119 Rdn. 2; Wollweber 1999, 405 ff); dies sah auch der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung der Untersuchungshaft (GVU) des Bundesjustizministeriums vom 22.9.2004 vor. Ob die Regelungen des 5. Titels im Einzelnen den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen, denen das Bundesverfassungsgericht Ausdruck verliehen hat, wird durchaus kritisch bewertet (z. B. AK-Weichert 2006 Rdn. 16; Kamann 2000, 84; Rixen 2000, 645). Gerade hinsichtlich der Offenbarungspflicht gemäß § 182 Abs. 2 Satz 2 gehen die Meinungen weit auseinander (s. hierzu § 182 Rdn. 12; C/MD 2008 § 179 Rdn. 9 m. w. N.). Als Standort für diese datenschutzrechtlichen Ergänzungen wählte der Gesetzgeber den neugefassten und nunmehr die Überschrift „Datenschutz“ tragenden Fünften Titel des Fünften Abschnitts. Nur aufgrund der bundesweiten Geltung dieser Regelungen und der damit verbundenen einheitlichen Handhabung in der Praxis kann vermieden werden, dass es zu Schwierigkeiten beim Datenaustausch kommt, etwa bei länderübergreifenden Verlegungen von Gefangenen (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 14). Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften bestehen nicht. Nach den Regelungen über die zentralen Befugnisnormen für die Datenerhebung 4 (§ 179) und Verarbeitung und Nutzung (§ 180) durch die Vollzugsbehörde folgen Bestimmungen über die Zweckbindung bei übermittelten personenbezogenen Daten (§ 181), den Schutz besonders sensibler Daten (§ 182), den Schutz der in Akten und Dateien gespeicherten Daten (§ 183), die Berichtigung, Löschung und Sperrung (§ 184), die Auskunft insbesondere an betroffene Gefangene und deren Akteneinsichtsrecht (§ 185) und die Datenverarbeitung für wissenschaftliche Zwecke (§ 186). Für Bereiche ohne eigenen bereichsspezifischen
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Fünfter Abschnitt. Weitere freiheitsentziehende Maßnahmen, Datenschutz u. a.
Regelungsbedarf wird Bezug genommen auf Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes (§ 187). Die Besonderheiten der Inhaftierung finden hier ebenso Berücksichtigung wie die Aufgaben des Vollzuges gemäß § 2. Der 5. Titel bildet zwar den Schwerpunktbereich datenschutzrechtlicher Bestimmungen im Strafvollzug, er wird jedoch durch eine Vielzahl von Spezialregelungen im Strafvollzugsgesetz ergänzt (s. § 179 Rdn. 1). Denn die Wahrnehmung der Vollzugsaufgaben (§ 2) macht es notwendig, Informationen über Gefangene aus den verschiedensten Gründen zu erheben, zu verarbeiten und zu nutzen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Wahrnehmung des informationellen Selbstbestimmungsrechts und der Wahrnehmung der Vollzugsaufgaben (§ 2), insbesondere dem Auftrag, auf die Erreichung des Vollzugsziels hinzuwirken, wird vor allem im Rahmen der Behandlungsuntersuchung (§ 6) und des auf ihrer Grundlage erstellten Vollzugsplans (§ 7) deutlich (C/MD 2008 § 179 Rdn. 8). Soweit nicht das Strafvollzugsgesetz einschlägig ist, folgen die verwendeten Fachbegriffe dem Bundesdatenschutzgesetz. So umfasst der Begriff „Vollzugsbehörde“ die Justizvollzugsanstalten (§ 139) und die Aufsichtsbehörden des Strafvollzuges (§ 151). Spezifische datenschutzrechtliche Bezeichnungen sind die Begriffe „personenbezogene Daten“ (§ 187 Rdn. 7), „Datei“ (§ 183 Rdn. 4), „Erheben“ (§ 179 Rdn. 6), „Nutzen“ (§ 180 Rdn. 9) und „Verarbeitung“ (§ 180 Rdn. 4) mit den Unterbegriffen „speichern“ (§ 180 Rdn. 5), „verändern“ (§ 180 Rdn. 6), „übermitteln“ (§ 180 Rdn. 7), „sperren“ (§ 184 Rdn. 8) und „löschen“ (§ 184 Rdn. 2). In § 3 Abs. 6a BDSG findet sich außerdem der Begriff „Pseudonymisieren“, also das Ersetzen des Namens und anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren. 5 Trifft die Vollzugsbehörde eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten aufgrund dieser datenschutzrechtlichen Bestimmungen, unterliegt sie der Überprüfung nach den §§ 109 ff (§ 109 Rdn. 10; BVerfG NStZ 2000, 55 = ZfStrVo 374, 375; Arloth 2008 Rdn. 5; C/MD 2008 § 179 Rdn. 10; AK-Weichert 2006 Rdn. 21; Kamann 2000, 87). Jeder Gefangene, aber auch Dritte, die in eigenen Rechten betroffen sind, können einen gerichtlichen Antrag nach §§109 ff stellen. Dies gilt aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 179 Abs. 3 auch für die Datenerhebung bei Dritten im Rahmen der Überwachung des Kontaktes zu einem Gefangenen (Arloth 2008 Rdn. 5; AK-Weichert 2006 Rdn. 22; a. A. VGH Mannheim DÖV 1997, 470 f).
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4. Das Strafvollzugsgesetz normiert abschließende Regelungen für den Umgang mit personenbezogenen Daten nur im Anwendungsbereich dieses Gesetzes (§ 187 Rdn. 28; AKWeichert 2006 Rdn. 5, 19). Das informationelle Selbstbestimmungsrecht Gefangener kann auch jenseits der Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes tangiert sein. Die in Art. 5 Abs. 1 GG im Interesse öffentlicher Meinungsbildung garantierte Presseund Rundfunkfreiheit ist hier in besonderer Weise zu beachten. Hierbei hat in jedem Fall eine Abwägung zwischen dem in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu erfolgen (AK-Weichert 2006 Rdn. 5, 2). Das Informationsinteresse bezüglich einer aktuellen Berichterstattung über Straftaten beansprucht zumindest bei schweren Straftaten im Allgemeinen den Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht des Täters aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Mit der zeitlichen Distanz zur Straftat und zum Strafverfahren gewinnt auch bei schweren Straftaten das Recht des Täters, allein gelassen zu werden, zunehmend an Bedeutung (BVerfG NJW 1973, 1226, 1230; BVerfG AfP 1993, 478, 479; BVerfG NJW 2000, 1859, 1860; BVerfG NVwZ 2008, 306, 307; OLG Hamburg AfP 1994, 232, 233f; LG Berlin ZfStrVo 1995,
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Vorbemerkungen
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375, 376; LG Mainz, Beschl. v. 23.12.1997 – 1 O 531/96). Dieses Recht erwirbt der Täter nicht automatisch mit der Verbüßung der Strafhaft. Er hat keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr mit der Tat konfrontiert zu werden (BVerfG NJW 2000, 1859, 1860). Eine Berichterstattung ist jedoch unzulässig, wenn sie geeignet ist, die Resozialisierung des Täters wesentlich zu erschweren (BVerfG NVwZ 2008, 306, 307). Dies ist anzunehmen, wenn eine den Täter identifizierende Sendung über eine schwere Straftat nach seiner Entlassung oder in zeitlicher Nähe zu der bevorstehenden Entlassung ausgestrahlt wird (BVerfG aaO; K/S-Schöch 2002 § 7 Rdn. 218). Die Erlaubnis zu Filmaufnahmen (Drehgenehmigung) durch den Anstaltsleiter ist 7 keine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs. Sie ist dem Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und der Ausübung des Hausrechts gegenüber Dritten zuzuordnen, weshalb der Rechtsweg nach §§ 109 ff nicht eröffnet ist (§ 109 Rdn. 9; OLG Koblenz NStZ 1994, 380 f B; a. A. OVG Schleswig NJW 1994, 1299; AK-Weichert 2006 Rdn. 21; differenzierend Arloth 2008 § 109 Rdn. 2).
II. Landesgesetze 1. Baden-Württemberg hat bisher als einziges Bundesland ein eigenständiges Gesetz 8 über den Datenschutz im Justizvollzug (s. Rdn. 1) erlassen. Laut der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 14/1241, 26) soll die Verarbeitung personenbezogener Daten im Justizvollzug des Landes Baden-Württemberg auf eine einheitliche rechtliche Grundlage gestellt und den Bedürfnissen an ein modernes Informationsmanagement angepasst werden. Das JVollzDSG orientiere sich – so die Gesetzesbegründung LTDrucks. 14/1241, 26 – in weiten Teilen an den §§ 179 ff und schreibe sie, mit Anpassungen an berechtigte Bedürfnisse der Praxis und neue technologische Entwicklungen der elektronischen Datenverarbeitung fort. 2. a) Die in § 1 Abs. 1 JVollzDSG Baden-Württemberg genannten Aufgaben sind bei 9 der Anwendung des JVollzDSG, insbesondere bei den immer wieder vorzunehmenden Abwägungen z. B. über die Angemessenheit von Schutzmaßnahmen, die Schutzwürdigkeit der Interessen der Gefangenen oder bei Ermessensentscheidungen im Rahmen von Übermittlungsbefugnissen zu berücksichtigen. Der Gesetzeszweck „effiziente Aufgabenerfüllung der Verwaltung“ ermöglicht die Berücksichtigung von verwaltungsökonomischen und fiskalischen Argumenten. b) Nach Abs. 2 Satz 1 findet das Gesetz Anwendung auf den Vollzug der Strafhaft und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, der Jugendstrafhaft, der Untersuchungshaft, der Sicherungshaft nach § 453c StPO sowie der Unterbringung nach § 275a StPO. Ferner gelten die Vorschriften dieses Gesetzes unmittelbar für den Vollzug einer gerichtlich angeordneten Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft, des Strafarrestes, der Auslieferungs- und Durchlieferungshaft, der Abschiebungshaft sowie für den Vollzug sonstiger gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen im Wege der Amtshilfe, soweit diese in Justizvollzugsbehörden vollzogen werden. Der Begriff der Justizvollzugsbehörde umfasst in diesem Zusammenhang die Justizvollzugsanstalten, die Jugendstrafanstalten, die Sozialtherapeutische Anstalt sowie das Justizvollzugskrankenhaus. Auf den Jugendarrest finden die Vorschriften entsprechende Anwendung (Abs. 2 Satz 2) mit Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 5 (Biometrie), § 6 (Videotechnik) und § 7 (RFIDTechnik). Damit ist der Anwendungsbereich wesentlich umfassender als bei den datenschutzrechtlichen Vorschriften im Strafvollzugsgesetz (s. Rdn. 1).
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Für die Vollziehung der Jugendstrafe in freien Formen in dafür zugelassenen Einrichtungen (wie dem Projekt Chance e.V.) richtet sich die Verarbeitung von personenbezogenen Daten dagegen nach den für diese Einrichtungen geltenden Vorschriften zum Schutz der Sozialdaten (§§ 61 bis 68 SGB VIII, § 35 SGB I und §§ 67 bis 85a SGB X). c) Die in Abs. 3 genannten Übermittlungsbefugnisse sind beim Vollzug von Abschiebungs-, Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft sowie bei dem Vollzug von Polizeigewahrsam in Amtshilfe nicht anwendbar, wenn die Betroffenen ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung haben.
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3. Da die Bundesländer Bayern, Hamburg und Niedersachsen den Vollzug der Freiheitsstrafe teilweise abweichend vom Strafvollzugsgesetz geregelt haben und Niedersachsen darüber hinaus auch eine Regelung zum Untersuchungshaftvollzug in das dortige Gesetz aufgenommen hat, gelten auch für den Datenschutz die jeweils hierzu in den entsprechenden Landesgesetzen getroffenen Vorschriften.
§ 179 Datenerhebung (1) Die Vollzugsbehörde darf personenbezogene Daten erheben, soweit deren Kenntnis für den ihr nach diesem Gesetz aufgegebenen Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten sind bei dem Betroffenen zu erheben. Für die Erhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen, die Erhebung bei anderen Personen oder Stellen und für die Hinweis- und Aufklärungspflichten gilt § 4 Abs. 2 und 3 und § 13 Abs. 1a des Bundesdatenschutzgesetzes. (3) Daten über Personen, die nicht Gefangene sind, dürfen ohne ihre Mitwirkung bei Personen oder Stellen außerhalb der Vollzugsbehörde nur erhoben werden, wenn sie für die Behandlung eines Gefangenen, die Sicherheit der Anstalt oder die Sicherung des Vollzuges einer Freiheitsstrafe unerlässlich sind und die Art der Erhebung schutzwürdige Interessen der Betroffenen nicht beeinträchtigt. (4) Über eine ohne seine Kenntnis vorgenommene Erhebung personenbezogener Daten wird der Betroffene unter Angabe dieser Daten unterrichtet, soweit der in Absatz 1 genannte Zweck dadurch nicht gefährdet wird. Sind die Daten bei anderen Personen oder Stellen erhoben worden, kann die Unterrichtung unterbleiben, wenn 1. die Daten nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, namentlich wegen des überwiegenden berechtigten Interesses eines Dritten, geheimgehalten werden müssen oder 2. der Aufwand der Unterrichtung außer Verhältnis zum Schutzzweck steht und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden. Schrifttum: s. Vor § 179
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§ 179
Datenerhebung
Übersicht Rdn. I. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . 1–3 II. Erläuterungen . . . . . . . . . . . 4–25 1. Erhebung personenbezogener Daten (Abs. 1) . . . . . . . . . . . 4–8 a) Erfordernis für den Vollzug der Freiheitsstrafe . . . . . . . . . 4–5 b) Begriff „Erhebung“ . . . . . . 6 c) Einsatz von Videokameras . . . 7–8 aa) Videoüberwachung im Strafvollzug . . . . . . . . . . 7 bb) Eigenständige Regelung . 8 2. Art der Erhebung (Abs. 2) . . . . 9–18 a) beim Betroffenen . . . . . . . 9 b) ohne Mitwirkung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . 10–13 c) Hinweis- und Aufklärungspflichten . . . . . . . . . . . 14–18 3. Erhebung über Dritte außerhalb der JVA (Abs. 3) . . . . . . . . . . 19–20
Rdn. 4. Nachträgliche Unterrichtung (Abs. 4) . . . . . . . . . . . III. Beispiel . . . . . . . . . . . . IV. Landesgesetze . . . . . . . . . 1. Baden-Württemberg . . . . a) § 5 JVollzDSG . . . . . . b) §§ 6, 7 JVollzDSG . . . . c) § 6 JVollzDSG . . . . . . d) § 7 JVollzDSG . . . . . . 2. Bayern . . . . . . . . . . . a) Art. 196 BayStVollzG . . b) Art. 205 BayStVollzG, 21a BayDSG . . . . . . . 3. Hamburg . . . . . . . . . . a) § 118 HmbStVollzG . . . b) § 119 HmbStVollzG . . . 4. Niedersachsen . . . . . . .
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21–25 26 27–34 27–30 27 28 29 30 31–32 31
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. 32 . 33–34 . 33 . 34 . 35
I. Allgemeine Hinweise § 179 stellt für den Bereich der Datenerhebung durch die Vollzugsbehörde eine be- 1 reichsspezifische, abschließende Regelung dar, soweit nicht in bestimmten Bereichen spezielle Regelungen des Strafvollzugsgesetzes vorgehen. Spezielle Regelungen enthalten etwa § 6 (s. § 6 Rdn. 15), § 27 Abs. 1 (s. § 27 Rdn. 4), § 29 Abs. 2 und 3 (s. § 29 Rdn. 1, 17 f), § 32 Satz 3 und 4, § 86 Abs. 2 (§ 86 Rdn. 3), § 86a, § 87 Abs. 2, § 154 und § 166 (§ 166 Rdn. 17, 18). § 5 Abs. 1 Satz 2 JVollzDSG Baden-Württemberg stellt demgegenüber klar, dass die Erhebung erkennungsdienstlicher Maßnahmen keine über die allgemeine Erhebungsregelung hinausgehenden Voraussetzungen benötigt. Keinen Unterschied macht es, ob die Erhebung personenbezogener Daten eine zwangs- 2 weise (unfreiwillige) Auskunft des Betroffenen (§ 187 Rdn. 8) voraussetzt (Abs. 2 Satz 1) oder geheim, also ohne dessen Wissen (Abs. 2 Satz 2) geschieht. Eine zwangsweise Auskunft wird verlangt, wenn die Auskunft des Betroffenen auf einer gesetzlichen Verpflichtung beruht (zur Mitwirkungsverpflichtung des Gefangenen s. auch § 4 Rdn. 4, 10 und § 6 Rdn. 13) oder eine Obliegenheit darstellt, von deren Erfüllung Vorteile abhängig sind, die den Betroffenen faktisch zur Auskunft zwingen (Baumann 1984, 615). In allen vorgenannten Fällen beruht die Preisgabe und Verwendung der Daten nicht auf einer selbstbestimmten Entscheidung des Betroffenen (C/MD 2008 Rdn. 14; Baumann 1984, 615). Die geheime Datenerhebung nach Abs. 2 Satz 2 schränkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in gleicher Weise ein wie die zwangsweise Erhebung von Daten beim Betroffenen selbst (BVerwG, 20.2.1990 – BVerwG 1 C 29/86 –; Baumann 1984, 615). Das gilt auch für die Erhebung personenbezogener Daten bei anderen Personen oder Stellen (Rdn. 10–13). Deshalb dürfen ohne deren Mitwirkung personenbezogene Daten über Betroffene – zumeist Gefangene – nur unter den engen Voraussetzungen von Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BDSG erhoben werden. Werden Daten über andere Personen als Gefangene ohne deren Mitwirkung bei Personen oder Stellen außerhalb des Vollzuges erhoben, gilt Abs. 3 (Rdn. 19–20). Gabriele Schmid
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Jede sonstige Datenerhebung im Rahmen des Strafvollzugsgesetzes ist nur mit Einwilligung des Betroffenen zulässig (Arloth 2008 Vor § 179 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 16; AK-Weichert 2006 Rdn. 8). Einholung und Form der Einwilligung richten sich nach § 187 Satz 1 i. V. m. § 4a Abs. 1 und 2 BDSG (zu den Einzelheiten § 187 Rdn. 10–16).
II. Erläuterungen 4
1. Abs. 1 konkretisiert die Voraussetzungen, unter denen die Vollzugsbehörde personenbezogene Daten erheben darf.
a) Eine Erhebung personenbezogener Daten ist nur zulässig, soweit deren Kenntnisnahme für den Vollzug der Freiheitsstrafe oder dieser gleichgestellten Haftarten (Vor § 179 Rdn. 1) erforderlich ist. Zur Erreichung des Vollzugsziels nach § 2 muss die Vollzugsbehörde im Rahmen von vollzugsrelevanten Einzelfallentscheidungen häufig personenbezogene Daten erheben. Zum Begriff „personenbezogene Daten“ vgl. § 187 Rdn. 7. Die Aufnahme des Gefangenen (§ 5) beginnt auf der Vollzugsgeschäftsstelle mit der Feststellung seiner Personalien. In die Behandlungsuntersuchung (§ 6) und in die Vollzugsplanung (§ 7) fließen Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse von Gefangenen ein. Während der gesamten Inhaftierung ist für eine Vielzahl weiterer Entscheidungen (z. B. Gewährung von Außenkontakten, Gesundheitsfürsorge, Soziale Hilfe, Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt) die Kenntnis personenbezogener Daten erforderlich. Eine Datenerhebung ist während der Inhaftierung im Vorfeld nahezu jeder Einzelfallentscheidung für eine sachgerechte Ermessensausübung notwendig (Arloth 2008 Rdn. 2; Laubenthal 2008 Rdn. 947; krit. Kamann 2000, 85; Vassilaki 1999, 146). Die von Kamann aaO, 87 vorgeschlagene einschränkende Auslegung unter Hinzuziehung der Kriterien des Vollzugsplanes kann wegen der Vielgestaltigkeit der Fälle nicht akzeptiert werden. Werden Daten im Rahmen eines beruflichen Vertrauensverhältnisses erhoben, ist § 182 Abs. 2–4 zu beachten. 5 Die Kenntnis der erhobenen personenbezogenen Daten ist für den Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich, wenn die Vollzugsbehörde ohne die Informationen ihre Aufgabe nicht sachgerecht, d. h. rechtmäßig, vollständig und in angemessener Zeit wahrnehmen kann; dass die Daten zur Aufgabenerfüllung geeignet oder zweckmäßig sind, genügt nicht (C/MD 2008 Rdn. 11; AK-Weichert 2006 Rdn. 4). Werden besonders schutzwürdige Daten aus dem medizinischen Bereich erhoben und liegt darin zugleich ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, bedarf es einer zusätzlichen Rechtsgrundlage. So dürfen Bluttests von Gefangenen zur Feststellung einer HIV-Infektion grundsätzlich nur mit Einwilligung der betroffenen Gefangenen durchgeführt werden (§ 56 Rdn. 9; C/MD 2008 § 56 Rdn. 10; AKWeichert 2006 Rdn. 21). Zur Erhebung besonderer Arten personenbezogener Daten s. § 187 Rdn. 7. Nur die zur aktuellen Aufgabenerfüllung benötigten Daten dürfen erhoben werden und nur in dem Umfang, wie es die Aufgabenerfüllung gerade in Bezug auf den Betroffenen erfordert. Regelmäßig unzulässig ist es, personenbezogene Daten unabhängig von einem konkreten Erhebungszweck für möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt wahrzunehmende Aufgaben zu erheben (BVerfG NJW 1984, 422; Gola/Schomerus 2007, § 13 Rdn. 4; Vassilaki 1999, 146). Derartige Vorratserhebungen lassen die Betroffenen im Unklaren darüber, zu welchen konkreten Zwecken ihre Daten letztendlich verwendet werden (Baumann 1984, 616). So hat das OLG Frankfurt (NStZ-RR 2003, 219) das Aufzeichnen aller Telefonate
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von Gefangenen, um sie später auswerten zu können, als nicht zulässig angesehen. Die Datenschutzvorschriften des Strafvollzugsgesetzes erlauben nicht das unterschiedslose Speichern und Aufbewahren quasi auf Vorrat für den Fall, dass irgendwann einmal die gespeicherten Daten zur Aufklärung strafrechtlich relevanter Vorgänge bedeutsam sein könnten. Anders ist es, wenn die Verwaltungsaufgabe gerade darin besteht, diese Daten für verschiedene Zwecke vorzuhalten (BVerwG, 20.2.1990 – 1 C 30/86), z. B. Erfassen von Daten in der Gefangenenstammdatei. b) Der Begriff Erhebung ist in § 3 Abs. 3 BDSG (s. § 187 Satz 1) definiert als „das Be- 6 schaffen von Daten über den Betroffenen“. Notwendig ist ein zielgerichtetes Handeln, durch das die erhebende Stelle willentlich Kenntnis von den Daten erhält oder die Verfügungsmöglichkeit über diese begründet (s. Rdn. 26). Daran fehlt es bei einer unaufgeforderten Zuleitung von Daten (sog. aufgedrängte Erhebung wie z. B. die anonyme Mitteilung, dass ein Gefangener während eines Ausgangs eine Straftat begangen hat) oder wenn Tatsachen und Informationen zufällig wahrgenommen werden (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 12; Laubenthal 2006 Rdn. 946; Tinnefeld 1993, 1117). Keine Erhebung ist außerdem das Auswerten von Daten aus vorhandenen Unterlagen oder das Auswerten von Daten aus allgemein zugänglichen Quellen (z. B. Medien, Telefonbücher) (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 12; Tinnefeld 1993, 1117; a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 2). Für das Erheben kommt es nicht auf den Anlass der Datenbeschaffung, ihren Zweck und die beabsichtigte oder tatsächliche Verwendung der erhaltenen Informationen an (Simitis-Dammann 2006 § 3 Rdn. 105). Personenbezogene Daten können beschafft werden durch: Erfragen (mündlich oder schriftlich), Aktenanforderung, aktives Übernehmen von Datenträgern oder Unterlagen mit personenbezogenen Daten, Beobachten (z. B. Besuchsüberwachung), Erfassen von Verbindungsdaten in der Telekommunikation, Messungen, Untersuchungen, Tests, Ärztliche Anamnese und Diagnose, Feststellung persönlicher Sachverhalte bei Begutachtung und Behandlung (z. B. durch Anstaltspsychologen), Fotografieren, Filmen, Tonaufnahmen, Lesen von Briefen und Unterlagen, die personenbezogene Angaben enthalten (Arloth 2008 Rdn. 3; C/MD 2008 Rdn. 12). Die Durchführung von Buchungen auf dem Anstaltskonto eines Gefangenen ist keine Datenerhebung, weil lediglich – ähnlich der Tätigkeit einer Bank – Buchungsaufträge ausgeführt und damit Informationen bearbeitet werden, die ohne aktives Zutun an die Anstalt herangetragen werden bzw. – z. B. bei Daueraufträgen – bereits vorhanden sind (OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 316). Deshalb hat ein Gefangener keinen Anspruch auf automatische Erteilung eines Kontoauszuges nach Buchung auf seinen Vollzugskonten (z. B. Eigengeldkonto) (OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 316; Arloth 2008 Rdn. 3; § 185 Rdn. 6). c) Der Einsatz von Videokameras und anderen optischen oder akustischen elektroni- 7 schen Datenerhebungsmethoden im Vollzug ist, soweit nicht § 88 Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 4 Abs. 2 Satz 2 einschlägig sind, nicht uneingeschränkt zulässig (Arloth 2008 Rdn. 6; AK-Weichert 2006 Rdn. 22 und § 180 Rdn. 7). Zu den Löschungsfristen s. § 184 Rdn. 20. aa) Offen angebrachte Kameras in sicherheitsrelevanten Bereichen (wie z. B. in Besuchsräumen) sind zulässig, während die vollständige Überwachung aller Gemeinschaftsräume oder der einzelnen Hafträume nicht mehr statthaft wäre. Außer in einzeln zu begründenden kurzfristigen Ausnahmen ist der Einsatz von versteckten Kameras, insbesondere in Gemeinschaftsräumen unzulässig (AK-Weichert 2006 Rdn. 22). Hierzu trifft § 190 Abs. 2 Satz 4 NJVollzG eine ausdrückliche Regelung. Danach dürfen unter eng begrenzten Voraussetzungen kurzzeitig Bild- und Tonaufzeichnungen gemeinschaftlich genutzter Räume der Anstalt, also nicht der Hafträume, verdeckt angefertigt werden.
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Wegen des abschließenden Charakters des § 179 und im Hinblick auf die speziellen Bestimmungen der §§ 86, 86a kann auch auf sonstige Regelungen im Landesrecht (etwa Polizeirecht) oder Bundesrecht nicht zurückgegriffen werden (AK-Weichert 2006 Rdn. 22).
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bb) Wegen der besonderen Qualität des Eingriffs sollten die Voraussetzungen einer allgemeinen Videoüberwachung im Vollzug sinnvollerweise in einer eigenständigen Vorschrift geregelt werden (so auch AK-Weichert 2006 § 179 Rdn. 22 und § 180 Rdn. 7). In § 6 JVollzDSG Baden-Württemberg und Art. 205 BayStVollzG i. V. m. Art. 21a BayDSG ist dies realisiert worden, s. hierzu Rdn. 28 f, 32.
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2. a) Die Regelung, dass personenbezogene Daten beim Betroffenen (§ 187 Rdn. 8) zu erheben sind (Abs. 2 Satz 1), ist unmittelbarer Ausfluss des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Der Betroffene soll wissen, wer was wann über ihn an Daten sammelt, speichert und verarbeitet (Vor § 179 Rdn. 2). Er wirkt entweder aktiv mit, indem er selbst informiert oder bei der Informationsaufnahme hilft oder passiv, also durch ausdrückliche bewusste Duldung; dann nimmt er die Erhebung freiwillig hin (Simitis-Sokol 2006 § 4 Rdn. 23). Werden Daten zwar technisch beim Betroffenen, aber ohne seine bewusste Mitwirkung erhoben z. B. Entnahme einer Blutprobe bei einem bewusstlosen Gefangenen, muss dieser unverzüglich unterrichtet werden, sobald er zur Entgegennahme der Information in der Lage ist (Simitis-Sokol 2006 § 4 Rdn. 24). Die Mitwirkung fehlt, wenn die Daten von vorneherein auch für einen anderen als den angegebenen Zweck verwendet werden sollen. Dies ist z. B. der Fall bei einer Blutentnahme, die ohne Wissen des Betroffenen für einen AIDS-Test dienen soll (vgl. OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 182, 183). Werden solche Daten in einer Datei gespeichert, gilt § 184 Abs. 5 i. V. m. § 20 Abs. 2 BDSG (§ 184 Rdn. 19 f), bei Speicherung in einer Akte s. § 184 Rdn. 10 und 27.
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b) Abs. 2 Satz 2 ermöglicht der Anstalt, unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 BDSG vom Grundsatz der Erhebung bei dem Betroffenen abzuweichen; wenn Daten über Personen, die nicht Gefangene sind, ohne deren Mitwirkung bei Personen oder Stellen außerhalb der Vollzugsbehörde erhoben werden, gilt statt § 4 Abs. 2 Satz 2 BDSG § 179 Abs. 3. aa) Ohne Mitwirkung des Betroffenen dürfen personenbezogene Daten über ihn nach Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG dann erhoben werden, wenn eine Rechtsvorschrift dies vorsieht oder die Erhebung zwingend voraussetzt. Rechtsvorschriften sind Rechtsnormen im materiellen Sinne, nicht dagegen interne Regelungen wie Verwaltungsvorschriften oder Rundschreiben (Auernhammer 1993 § 13 Rdn. 14 und § 4 Rdn. 6). Erlaubt ist danach z. B. die Erhebung personenbezogener Daten bei der unvermuteten Durchsuchung des Haftraumes in Abwesenheit des Gefangenen gemäß § 84. Die zweite Alternative kommt nur zur Anwendung, wenn die Vollzugsbehörde ihrer gesetzlichen Pflicht nicht mit den bereits vorhandenen oder anderweitig rechtmäßig zugänglichen Daten nachkommen kann; außerdem muss nach dem Gesetzeszweck die Kenntnis des Betroffenen von dieser Datenerhebung ausgeschlossen sein. Dies ist z. B. der Fall bei einer nach §§ 100a ff StPO angeordneten geheimen Telefonüberwachung oder beim Einsatz technischer Mittel nach §§ 100c ff StPO im Besuchs- oder Haftraum (Arloth 2008 Rdn. 6).
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bb) Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe a) BDSG ermöglicht die Datenerhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen auch dann, wenn die zu erfüllende Verwaltungsaufgabe ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich macht. Das ist zu bejahen, wenn entsprechende Informationen bei dem Gefangenen
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selbst nicht zu erhalten sind (wegen Unkenntnis, weil er sich weigert) oder die Anstalt die Richtigkeit seiner Angaben anzweifelt (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19; AK-Weichert 2006 Rdn. 18). Das Strafvollzugsgesetz regelt zwar Duldungspflichten des Gefangenen, kennt aber keine allgemeine Mitwirkungspflicht (s. Rdn. 15 a. E.; § 187 Rdn. 10). Zur Vorbereitung von Vollzugsentscheidungen oder aus Sicherheitsgründen kann die Einholung von Informationen bei anderen Personen geboten sein z. B. Auskünfte über die Wahrnehmungen von Bediensteten, Auskünfte von Bezugspersonen über die sozialen Verhältnisse des Gefangenen (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19). Erfährt z. B. ein Sozialarbeiter nach Verneinen durch die Gefangene selbst von deren Schwester, dass die Gefangene Auslandskontakte hat und im Ausland ein Konto unterhält, ist diese Erhebung zulässig, um die Fluchtgefahr der Gefangenen im Rahmen von anstehenden Vollzugslockerungen beurteilen zu können (Höflich/ Schriever 2003, 95). Eine Weiterleitung und Beratung dieser erhobenen Daten in der Vollzugsplankonferenz wäre als behördeninterne Nutzung (s. § 180 Rdn. 7 u. 9) i. S. v. § 180 Abs. 1 zulässig. Eine Anfrage beim Bundeszentralregister wegen Vorverurteilungen eines Gefangenen dient dazu, der Anstalt die zur Erreichung des Vollzugszieles (§§ 2, 3) notwendige Kenntnis von der früheren Lebensführung des Gefangenen zu verschaffen. Eine nach diesen Bestimmungen zulässige Erhebung ist auch die Beschaffung bestimmter Vollstreckungsunterlagen wie Strafurteil, Auszüge aus Gutachten (z. B. im Rahmen des Strafverfahrens erstattete Sachverständigengutachten über den Gefangenen), Unterlagen über weitere Strafverfahren, Bericht des Jugendamtes u. ä. Diese Unterlagen werden als sog. Vollstreckungsunterlagen in der zweiten Heftnadel der Gefangenenpersonalakte abgeheftet (Böhm 2003 Rdn. 161), also gespeichert (§ 180 Rdn. 5) und dürfen unter den Voraussetzungen des § 180 Abs. 1 Satz 1 ausgewertet, d. h. genutzt (§ 180 Rdn. 9) werden. cc) § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe b) BDSG ist einschlägig, wenn die Erhebung 12 beim Betroffenen selbst einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde. An den unbestimmten Rechtsbegriff „unverhältnismäßiger Aufwand“ sind besonders hohe Anforderungen zu stellen. Hierbei sind zu berücksichtigen die Art der zu erhebenden Daten, der Zeit- und Kostenaufwand der Informationsbeschaffung bei dem Betroffenen oder einem Dritten (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 28), weshalb dieser Fall eher selten sein wird (Arloth 2008 Rdn. 6). dd) Zusätzlich dürfen in den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a) und b) BDSG (Rdn. 11 13 u. 12) keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch die beabsichtigte Erhebung überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden. Die Vollzugsbehörde muss sich vergewissern, dass kein erheblicher, augenfälliger Umstand vorliegt, der auf eine solche Beeinträchtigung hinweist. Es genügt eine summarische Abwägung (C/MD 2008 Rdn. 15) zwischen dem Interesse der Vollzugsbehörde an der Erhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen und dessen möglichen entgegenstehenden Interessen. Aus der Art der zu erhebenden Daten oder aus der Zweckbestimmung, für die sie benötigt werden, können u. U. Anhaltspunkte für ein entgegenstehendes Interesse des Betroffenen hergeleitet werden, etwa bei besonders sensiblen Daten wie über Gesundheit, Vorstrafen u. ä. Wird die zu treffende Entscheidung durch die zu erhebenden Daten maßgeblich beeinflusst und kann sie u. U. auch negativ oder nachteilig für den Betroffenen ausfallen, kann dies dafür sprechen, die Daten bei dem Betroffenen selbst zu erheben. Hat z. B. die Vollzugsbehörde zu prüfen, ob eine vollziehbare Ausweisungsverfügung der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegensteht, muss sie zunächst versuchen, die erforderlichen Informationen durch Vorlage der Ausweisungsverfügung bei dem betroffenen Gefangenen selbst einzuholen, auch wenn die Erteilung der Lockerungen nur im Beneh-
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men mit der zuständigen Ausländerbehörde zulässig ist (Nr. 6 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1c) der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zu § 11).
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c) Aufklärungs- und Belehrungspflichten stellen sicher, dass die Betroffenen ihre Rechte bei der Datenerhebung erkennen (BVerfG NJW 1984, 419, 425).
aa) Demgemäß verweist Abs. 2 Satz 2 für den Fall, dass die Daten beim Betroffenen selbst (mit seiner Kenntnis) erhoben werden, auf § 4 Abs. 3 BDSG. Zur Hinweispflicht s. Rdn. 26. 15 Werden personenbezogene Daten ohne Kenntnis des Betroffenen erhoben oder bei anderen Personen oder Stellen, ist Abs. 4 (Rdn. 21 f) zu beachten. Weitere Hinweispflichten folgen aus §§ 32 Satz 4 (s. § 32 Rdn. 3), 180 Abs. 5 Satz 3 (s. § 180 Rdn. 37), 182 Abs. 2 Satz 5 (s. § 182 Rdn. 18) und § 187 i. V. m. § 4a Abs. 1 Satz 2 BDSG (s. § 187 Rdn. 12). (1) Die Vollzugsbehörde treffen nach Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 3 BDSG folgende Hinweispflichten, falls der Gefangene nicht bereits auf andere Weise von den erhobenen personenbezogenen Daten Kenntnis erhalten hat: – Sie muss neben der Identität der verantwortlichen Stelle (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BDSG) durch Angabe von Namen und Anschrift (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 30) die Zweckbestimmungen der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung mitteilen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BDSG). Ein Hinweis auf den Datenempfänger ist nur notwendig, soweit der Gefangene nach den Umständen des Einzelfalls nicht mit der Weitergabe der Daten an diesen rechnen muss (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BDSG). Werden die Daten für verschiedene Zwecke benötigt, ist der Betroffene auf alle hinzuweisen. Der Hinweis muss in verständlicher Form erfolgen. Bei mündlicher Befragung genügt ein mündlicher Hinweis (Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 17; enger AK-Weichert 2006 Rdn. 20). Ein Hinweis auf die ermächtigende Rechtsvorschrift reicht nicht aus, wenn sich daraus der Erhebungszweck nicht eindeutig ergibt (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 31). – Sie muss den Betroffenen auf eine bestehende Auskunftsverpflichtung, die durch eine Rechtsvorschrift begründet wird, hinweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 2 BDSG). – Sie muss ggf. darauf hinweisen, dass die Auskunft Voraussetzung für die Gewährung von Rechtsvorteilen ist (§ 4 Abs. 3 Satz 2 BDSG). Entsprechendes gilt, wenn die Verweigerung von Angaben zu Rechtsnachteilen führen würde (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 43). Beantragt ein Gefangener Taschengeld, lehnt aber die Auskunft über den Kontostand eines externen Kontos ab, muss die Anstalt darauf hinweisen, dass die fehlende Mitwirkung des Gefangenen eine abschließende Prüfung des Antrages auf Taschengeld nicht ermöglicht (s. OLG Koblenz NStZ 1995, 462, 463). Zum Fehlen dieses Hinweises s. Rdn. 16. – In den übrigen Fällen muss sie den Betroffenen auf die Freiwilligkeit seiner Angaben hinweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 2 BDSG). – Soweit nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich oder auf Verlangen des Betroffenen kommen noch hinzu: die Aufklärung über die Rechtsvorschrift, die zur Auskunft verpflichtet oder die die Freiwilligkeit enthält und über die Folgen der Verweigerung (§ 4 Abs. 3 Satz 3 BDSG). Diese Hinweise müssen im Interesse des Betroffenen rechtzeitig gegeben werden, also bevor dieser sich geäußert hat (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 29; Simitis-Sokol 2006 § 4 Rdn. 56). Diese Hinweispflicht besteht bereits während des Aufnahmeverfahrens nach § 5 Abs. 2. Dass das Stravollzugsgesetz nunmehr nur hinsichtlich „Hinweis- und Aufklärungspflichten“ auf § 4 Abs. 3 BDSG verweist, weshalb eine Unterrichtungspflicht bei engem Ver-
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ständnis hiervon nicht erfasst wäre, ist unschädlich. In § 179 sollte ausweislich der Materialien (BT-Drucks. 14/5793, 67) nur die Verweisung angepasst, nicht aber eine inhaltliche Neuerung eingeführt werden (Laubenthal 2008 Rdn. 970). Im Allgemeinen wird den Anforderungen an die Aufklärung und Belehrung nach Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 3 BDSG, aber auch nach § 182 Abs. 2 Satz 5 (§ 182 Rdn. 18) folgende Verfahrensweise genügen: Bei der Aufnahme wird eine schriftliche Pauschalbelehrung mit nachfolgendem Inhalt erteilt: „Alles, was Sie über sich (im Gespräch, aufgrund von Tests oder Verhaltensbeobachtungen) gegenüber Vollzugsbediensteten preisgeben, wird, soweit es für Ihre Behandlung (insbesondere gemäß § 6 und § 7 StVollzG) oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt nach § 81 StVollzG notwendig ist, aktenkundig oder anderweitig verarbeitet und verwertet. Ihre Angaben sind freiwillig. Mangelnde Bereitschaft, an der Resozialisierung mitzuwirken, kann jedoch negativen Einfluss auf die zu treffenden Vollzugsentscheidungen haben. Auch was Sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit Bediensteten der Fachdienste mit Ausnahme der Seelsorgerinnen und Seelsorger mitteilen, muss von diesen, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Anstalt oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben erforderlich ist, offenbart werden. Der ärztliche Dienst ist hierzu nicht verpflichtet, aber befugt, wenn ihm im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge Geheimnisse bekannt geworden sind und dies für die Aufgabenerfüllung der Anstalt unerlässlich oder zur Abwehr erheblicher Gefahren für Leib oder Leben erforderlich ist.“ Die Belehrung wird von dem aufnehmenden Beamten mündlich erläutert, in die Akte genommen und eine Durchschrift bei dem Gefangenen belassen. Bei Besonderheiten im Einzelfall (wie Auskunftsverpflichtung aufgrund Rechtsvorschrift) müssten zusätzliche Belehrungen erfolgen. Mit einer solchen Belehrung wird auch berücksichtigt, dass ein Gefangener zwar zur Duldung der Behandlungsuntersuchung nach § 6 verpflichtet ist, nicht jedoch zur aktiven Mitwirkung (§ 4 Rdn. 8 f; § 6 Rdn. 12; Rdn. 11; Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 § 6 Rdn. 1 und § 179 Rdn. 14). (2) Eine Verletzung der Hinweis- und Aufklärungspflichten ist als Amtspflichtver- 16 letzung zu bewerten, die bei schuldhafter Verletzung und Eintritt eines Schadens einen Anspruch aus Art. 34 GG, § 839 BGB begründen kann (Auernhammer 1993 § 13 Rdn. 24; Schaffland/Wiltfang Lieferung 2/2008, 5001 § 13 Rdn. 20). Hinsichtlich weiterer Rechtsfolgen ist zu differenzieren: Das Fehlen der Hinweise nach § 4 Abs. 3 Satz 1 BDSG hat auf die Zulässigkeit der Erhebung und anschließenden Speicherung zunächst keinen Einfluss, solange und soweit die Zweckbestimmung der Erhebung selbst rechtlich nicht zu beanstanden ist (Gola/Schomerus 2007 § 4 Rdn. 46). Gleiches gilt, wenn der Hinweis auf die zur Auskunft verpflichtende Rechtsvorschrift unterbleibt, sofern die Datenerhebung im übrigen zulässig war. Die Information kann nachträglich erfolgen. Wird der Hinweis auf die Gewährung von Rechtsvorteilen unterlassen, muss die Behörde dafür sorgen, dass der Betroffene diese Vorteile nicht verliert oder sie zumindest nachträglich erhält (C/MD 2008 Rdn. 18; AK-Weichert 2006 Rdn. 20), um ggf. einen Schadensersatzanspruch zu vermeiden (Arloth 2008 Rdn. 7 und Rdn. 11). Der Antrag des Betroffenen darf nicht etwa wegen unvollständiger Angaben zurückgewiesen werden, der Hinweis muss nachgeholt werden (Simitis-Sokol 2006 § 4 Rdn. 59). Wird ein Gefangener, der Taschengeld beantragt, nicht darauf hingewiesen, dass er verpflichtet ist, externe Kontostände anzugeben, darf der Antrag nicht wegen fehlender Mitwirkung des Gefangenen abgelehnt werden.
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Ist dagegen der Hinweis auf die Freiwilligkeit unterblieben und macht der Betroffene geltend, er hätte bei Kenntnis der Freiwilligkeit die Daten nicht preisgegeben, ist die Erhebung und die weitere Speicherung der Daten wegen Unwirksamkeit der Einwilligung unzulässig (Arloth 2008 Rdn. 11; AK-Weichert 2006 Rdn. 20 Schaffland/Wiltfang Lieferung 2/2008, 5001 § 13 Rdn. 26; a. A. Auernhammer 1993 § 13 Rdn. 24: Heilungsmöglichkeit entsprechend § 45 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG).
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bb) Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 13 Abs. 1a BDSG begründet eine Hinweispflicht gegenüber nicht-öffentlichen Stellen. Danach ist die nicht-öffentliche Stelle (§ 187 Rdn. 5), bei der personenbezogene Daten erhoben werden, auf die Rechtsvorschrift, die zur Auskunft verpflichtet, sonst auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. Überprüft die Anstalt eine Privatperson daraufhin, ob sie geeignet ist, dass der Gefangene bei ihr seinen Urlaub verbringt, ist ein Hinweis auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben geboten. Aus einem Verstoß gegen die Hinweispflicht kann der Gefangene keine Rechte herleiten, sofern nicht geltend gemacht wird, die Norm habe drittschützenden Charakter (Arloth 2008 Rdn. 8).
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cc) Für die Erhebung bei öffentlichen Stellen bedarf es keiner Hinweispflicht (Arloth 2008 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 19).
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3. Abs. 3 schränkt die Erhebungsbefugnis ein für Daten über Personen, die nicht Gefangene sind, wenn diese Daten ohne Mitwirkung der Betroffenen bei Personen oder Stellen außerhalb der Justizvollzugsanstalten und der Aufsichtsbehörden erhoben werden sollen. Bei der Verarbeitung dieser Daten ist die besonders enge Zweckbindung nach § 180 Abs. 9 (s. § 180 Rdn. 48) zu beachten. Da eine Erhebung im Sinne von Abs. 3 bei Personen außerhalb der Vollzugsbehörde erfolgen muss und ohne Mitwirkung der Betroffenen, gehört die Beobachtung des Verhaltens des Gefangenen durch den Begleitbeamten bei der Ausführung zu einem Familienfest oder des Besuchsbeamten beim Besuch (nicht die Gesprächsüberwachung) nicht in den Anwendungsbereich der Vorschrift. Das gilt auch, wenn der Beamte die Familienangehörigen gezielt nach ihren persönlichen Daten befragt. Hier werden Daten unter Mitwirkung der Betroffenen (Gefangene, Familienangehörige oder Besucher) durch die begleitenden Beamten nach §§ 179 Abs. 1 und 2, 183 Abs. 1 erhoben. Anders wäre es dann, wenn etwa bei der Ausführung zu einem Familienfest der Begleitbeamte die Ehefrau des Gefangenen nach der familiären Situation von dessen Mutter befragen würde. Eine solche Befragung wäre nur unter den Voraussetzungen von Abs. 3 i. V. m. § 183 Abs. 1 zulässig. Berichtet der Beamte über die so gewonnenen Erkenntnisse, richtet sich die Zulässigkeit dieser Nutzung (§ 180 Rdn. 9) nach § 180 Abs. 1. Insbesondere in den Vollstreckungsunterlagen können Daten von Dritten (Mittätern, Opfern, Geschädigten und Zeugen) enthalten sein; über die Vollzugsrelevanz einzelner Unterlagen gibt die Strafvollstreckungsordnung Auskunft (Busch 2000a, 11 f). a) Die Daten müssen für die Behandlung eines Gefangenen (s. § 4 Rdn. 6; § 27 Rdn. 8), die Sicherheit der Anstalt (s. § 81 Rdn. 7) oder die Sicherung des Vollzuges einer Freiheitsstrafe (s. § 86 Rdn. 2) unerlässlich (s. § 4 Rdn. 3; § 68 Rdn. 2) sein. In § 5 Abs. 4 JVollzDSG Baden-Württemberg genügt die Erforderlichkeit der Datenerhebung (s. Rdn. 5) statt der restriktiveren Erhebungsvoraussetzung der „Unerlässlichkeit“. Zur Behandlung eines Gefangenen werden solche Daten beispielsweise benötigt und können etwa bei der Polizei angefragt werden, wenn Ungewissheit über eine vom Gefangenen angegebene Urlaubsadresse, die Verhältnisse der Besuchsadresse oder den Leumund der Bezugsperson besteht, aber auch wenn Erkenntnisse über die familiären Verhältnisse eines Gefangenen unverzichtbar sind und wenn diese weder zuverlässig beim Gefangenen
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Datenerhebung
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selbst noch bei Angehörigen zu gewinnen sind (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19). Die Überprüfung der sozialen Verhältnisse durch Einholen von Auskünften bei Sozialbehörden ist nunmehr unter erleichterten Voraussetzungen möglich. Denn nach § 68 SGB X ist zur Erfüllung von Aufgaben der Justizvollzugsanstalten auch die Übermittlung von bestimmten, dort genannten Sozialdaten auf ein entsprechendes Ersuchen auch ohne Einwilligung zulässig (Arloth 2008 Rdn. 9; AK-Weichert 2006 Rdn. 27: allerdings sei dies regelmäßig nicht sachdienlich). Die Sicherheit der Anstalt gebietet Datenerhebungen nach Abs. 3 etwa dann, wenn Dritte mit dem Gefangenen durch Besuche oder Schriftwechsel Kontakt aufnehmen wollen und über die Zulassung des Besuchs oder Schriftwechsels nach §§ 25, 28 Abs. 2 entschieden werden muss (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19). Das ausnahmslose Kopieren der Personalausweise von Besuchern ist nicht erforderlich. Im Regelfall genügt eine optische Ausweiskontrolle und der Abgleich mit den angemeldeten Besucherpersonalien (AK-Weichert 2006 Rdn. 28). Die Besucherüberprüfung kann auch mittels eines standardisierten Formblattes erfolgen (AK-Weichert 2006 Rdn. 26); dieses muss dann die notwendigen Hinweise gemäß Rdn. 15 enthalten (Arloth 2008 Rdn. 9). Die Sicherung des Vollzuges einer Freiheitsstrafe wird dadurch beeinträchtigt, dass sich ein Gefangener diesem entzieht. Die Einholung eines unbeschränkten Bundeszentralregisterauszuges bei der Überprüfung von ehrenamtlichen und freien Mitarbeitern im Strafvollzug (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 1 BZRG) dient regelmäßig der Sicherheit der Anstalt, ihre Erhebung ist jedoch ohne Mitwirkung der Betroffenen aus diesem Grund nicht zwingend notwendig (AK-Weichert 2006 Rdn. 30; a. A. Arloth 2008 Rdn. 9). Stimmt dieser der Einholung des Zentralregisterauszuges nicht zu, kann seine Zulassung wegen Zweifeln an seiner Eignung abgelehnt werden. § 5 Abs. 4 JVollzDSG Baden-Württemberg sieht als weitere Erhebungszwecke die „Ordnung der Anstalt“ (s. § 81 Rdn. 7) und „Hilfsmaßnahmen für Angehörige“ vor (vgl. hierzu Rdn. 27). b) Die Art der Erhebung darf schutzwürdige Interessen des Betroffenen, also der ex- 20 ternen Person, nicht beeinträchtigen. Im Rahmen einer Einzelfallprüfung ist letztlich abzuwägen zwischen den berechtigten Interessen der Vollzugsbehörde an der Erhebung und den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen. Schutzwürdige Interessen des Betroffenen werden z. B. beeinträchtigt, wenn durch die Erhebung schwere berufliche Nachteile drohen oder diese zu einer Rufschädigung im persönlichen Umfeld oder zum Auslösen eines belastenden behördlichen Verfahrens z. B. bei der Ausländerbehörde, Polizei führen kann (Arloth 2008 Rdn. 9; C/MD 2008 Rdn. 20; enger AK-Weichert 2006 Rdn. 25). 4. Nach Maßgabe des Abs. 4 werden Gefangene und andere Betroffene über die zulässi- 21 gerweise ohne ihre Kenntnis erhobenen personenbezogenen Daten unterrichtet. Diese Regelung ermöglicht einem Betroffenen Kenntnis von den über ihn erhobenen Daten zu erhalten, um ggf. seine Rechte aus § 185 wahrnehmen zu können (C/MD 2008 Rdn. 21; AK-Weichert 2006 Rdn. 31). Zum Anspruch eines Gefangenen auf automatische schriftliche Unterrichtung über jede von der Anstalt vorgenommene Buchung auf seinem Anstaltskonto s. Rdn. 6 und § 185 Rdn. 7. a) Der Schutz des Einzelnen vor Eingriffen in seine Intimsphäre durch verdeckte 22 Datenerhebung erfordert es, dass gemäß Abs. 4 Satz 1 eine anschließende Unterrichtung nur dann unterbleiben darf, wenn durch die Mitteilung der Erhebungszweck nach Abs. 1 gefährdet wäre. Findet z. B. die Anstalt bei einer Haftraumkontrolle einen Kassiber mit Plä-
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nen zur Übergabe von Drogen bei einem der nächsten Besuche des Gefangenen, können Sicherheitsgründe einer Unterrichtung des Gefangenen entgegenstehen.
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b) Werden personenbezogene Daten Betroffener zwar nicht verdeckt, aber bei anderen Personen oder Stellen erhoben, sind weitere Ausnahmen nach Abs. 4 Satz 2 zulässig, weil hier die Intimsphäre der Betroffenen weniger gravierend tangiert wird, dafür aber schutzwürdige Persönlichkeitsrechte Dritter Bedeutung erlangen (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19).
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aa) Nach Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 hindern Rechtsvorschriften, die Geheimhaltungspflichten gegenüber dem Betroffenen bezüglich seiner eigenen Daten enthalten, die Auskunft an den Betroffenen. Die Vorschriften über die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit zählen nicht dazu (C/MD 2008 Rdn. 21). Eine Auskunft braucht auch dann nicht erteilt zu werden, wenn die erhobenen Daten ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, insbesondere wenn überwiegende berechtigte Interessen eines Dritten die Geheimhaltung gebieten. Bedeutung erlangt dies etwa in den Fällen, in denen die Auskunft personenbezogene Daten mit Doppelbezug zum Gegenstand hat (§ 185 Rdn. 4), z. B. wenn ein Gefangener auf Befragung mitteilt, dass sein Zellennachbar ihn mehrmals geschlagen und für den Fall, dass er die Wahrheit sagt, bedroht habe.
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bb) Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 orientiert sich inhaltlich an der Wertung in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe b BDSG (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 19), vgl. hierzu Rdn. 12 und 13.
III. Beispiel 26
In dem Urteil über den Gefangenen A steht, dass sein Vater Hans A Alkoholiker sei und ihn oft geschlagen habe. Im Rahmen der Behandlungsuntersuchung spricht A über seinen Lebensweg und beklagt sich darüber, dass sein Vater ihn in alkoholisiertem Zustand oft geschlagen habe. Dann kommt sein Vater zu Besuch. Der Sozialarbeiter spricht mit ihm und macht darüber eine Aktennotiz. Das Bild entspricht weder dem aus den Akten noch den Angaben des Gefangenen. Der Sozialarbeiter spricht darüber mit dem Gefangenen A und notiert diesen Vorgang. Anschließend überlegt er, ob und in welchem Umfang hier eine Hinweispflicht erforderlich gewesen wäre. Eine Unterrichtung des Gefangenen A über die Beschaffung des Urteils zu vollzuglichen Zwecken kann nach § 179 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 unterbleiben. Soweit in dem Urteil über A ausschließlich Angaben zu seinem Vater Hans A enthalten sind, sind diese Daten nicht von der Vollzugsbehörde erhoben worden. Ihr ging es bei der Beschaffung des Urteils allein um die Person des Gefangenen A und nicht dritter Personen. Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens ist A nach § 179 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 3 BDSG zu belehren (Rdn. 15). Befragt der die Behandlungsuntersuchung leitende Sozialarbeiter den A nach persönlichen Verhältnissen des Vaters, richtet sich die Zulässigkeit der Datenerhebung nach § 179 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BDSG, eine eventuelle Unterrichtung des Vaters würde sich nach § 179 Abs. 4 beurteilen, dürfte aber nach § 179 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 unterbleiben. Spricht der Sozialarbeiter mit dem Vater beim Besuch, erhebt er Daten nach § 179 Abs. 2 Satz 1. Er muss den Vater nach § 179 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 4 Abs. 3 BDSG auf den Erhebungszweck und die Freiwilligkeit der Angaben hinweisen. Das weitere Gespräch mit dem Gefangenen stellt keine Erhebung personenbezogener Daten dar, sondern die Verarbeitung bereits erhobener Daten gemäß § 180.
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Datenerhebung
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IV. Landesgesetze 1. Baden-Württemberg a) Die Regelungen zur Erhebung von Daten beginnen im JVollzDSG mit einem § 5, der 27 wie folgt aufgebaut ist: Abs. 1 Satz 1 ist inhaltsgleich mit § 179 Abs. 1 StVollzG. In Abs. 1 Satz 2 haben die bisher in den §§ 86, 86a StVollzG enthaltenen Ermächtigungen zur Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen ihren Platz gefunden. Hinzu gekommen ist die Ermächtigung zur Erfassung biometrischer Daten. Laut der Gesetzesbegründung sei dieser Regelungsort innerhalb der datenschutzrechtlichen Bestimmungen aus systematischen Gründen zu bevorzugen (LT-Drucks. 14/ 1241, 30). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf Rdn. 1 verwiesen. Abs. 3 Satz 1 entspricht inhaltlich § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe a) BDSG. Abs. 3 Satz 2 ist inhaltsgleich mit § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG i. V. m. § 13 Abs. 1a BDSG. Abs. 4 unterscheidet sich von § 179 Abs. 3 StVollzG durch eine geschlechtsgerechte sprachliche Anpassung. Die Erhebungszwecke wurden ergänzt durch „Hilfsmaßnahmen für Angehörige der Gefangenen“ und „die Ordnung der Anstalt“. Die restriktivere Erhebungsvoraussetzung der „Unerlässlichkeit“ wurde ersetzt; nunmehr genügt die „Erforderlichkeit“ der Datenerhebung. Die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen müssen „überwiegen“. Abs. 5 ist bis auf die geschlechtsgerechte Differenzierung und den Passus in Satz 1 „sofern sie nicht bereits auf andere Weise Kenntnis erlangt haben“ wortgleich mit § 179 Abs. 4 StVollzG. b) Die nachfolgenden §§ 6 JVollzDSG (Datenerhebung und Datenverarbeitung durch 28 Videotechnik) und 7 JVollzDSG (Datenerhebung durch Radio-Frequenz-Identifikation [RFID]) haben im Strafvollzugsgesetz keine Entsprechung. c) § 6 JVollzDSG lautet: „(1) Die Justizvollzugsbehörde kann das Anstaltsgelände sowie das Innere des Anstalts- 29 gebäudes offen mittels Videotechnik beobachten. Die Anfertigung von Aufzeichnungen hiervon sowie die Beobachtung der unmittelbaren Anstaltsumgebung ist zulässig, sofern dies zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt, zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhinderung oder Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, durch welche die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet wird, erforderlich ist. (2) Die Beobachtung von Hafträumen mittels Videotechnik ist nur auf Anordnung der Anstaltsleitung und zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben von Gefangenen oder Dritten sowie zur Verhinderung und Verfolgung von erheblichen Straftaten zulässig. Die Anstaltsleitung kann allgemein anordnen, dass besonders gesicherte Hafträume mittels Videotechnik zu beobachten sind. Die Anfertigung von Videoaufzeichnungen ist im Einzelfall zulässig. Sofern in Hafträumen eine Beobachtung über einen Zeitraum von aufeinanderfolgend mehr als zwei Wochen erfolgt, bedarf sie der Zustimmung der Aufsichtsbehörde. (3) In hierfür besonders eingerichteten Hafträumen des Justizvollzugskrankenhauses ist auf Anordnung eines Arztes eine optische und akustische Beobachtung von Gefangenen mittels Videotechnik zulässig, sofern zureichende Anhaltspunkte für Fremd- oder Eigen-
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verletzungen vorliegen oder dies aus therapeutischen Gründen angezeigt ist. Absatz 2 Satz 3 und 4 gilt entsprechend. (4) Die Überwachung mittels Videotechnik und die Anfertigung von Videoaufzeichnungen dürfen auch durchgeführt werden, wenn Personen, hinsichtlich derer die Voraussetzungen der Datenerhebung nicht vorliegen, unvermeidbar betroffen werden. Für die Dauer der seelsorgerischen Betreuung ist die Überwachung auf Verlangen des Seelsorgers auszusetzen. Die Videoüberwachung und -aufzeichnung ist durch geeignete Hinweise erkennbar zu machen, soweit nicht der Zweck der Maßnahme vereitelt wird. (5) Werden die durch Videotechnik erhobenen Daten einer bestimmten Person zugeordnet, so ist diese über eine weitere Verarbeitung zu benachrichtigen, soweit sie nicht auf andere Weise Kenntnis von der weiteren Verarbeitung erlangt oder die Unterrichtung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert. Die Unterrichtung darf unterbleiben, solange durch sie der Zweck der Maßnahme vereitelt oder soweit die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde gefährdet würde.“ § 6 JVollzDSG sieht aus Verhältnismäßigkeitsgründen ein abgestuftes System der Videoüberwachung vor (Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 14/1241, 31). Dieses ist abhängig vom Einsatzort der Videotechnik und differenziert danach, ob eine Beobachtung in Echtzeit oder eine Aufzeichnung bzw. eine Speicherung des Videomaterials erfolgt.
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d) § 7 JVollzDSG betrifft die Datenerhebung durch Radio-Frequenz-Identifikation (RFID) und hat folgenden Wortlaut: „(1) Aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt oder zur Überwachung des Aufenthaltsortes von Gefangenen auf dem Anstaltsgelände kann die Justizvollzugsbehörde Daten über den Aufenthaltsort und den Zeitpunkt der Datenerhebung mittels RFID-Transponder durch Empfangsgeräte automatisiert erheben. (2) Mit Einwilligung des Gefangenen kann ein RFID-Transponder zur automatisierten Identifikation und Lokalisierung so mit dessen Körper verbunden werden, dass eine ordnungsgemäße Trennung nur durch die Justizvollzugsbehörde erfolgen kann. Von der Einwilligung können die Rücknahme besonderer Sicherungsmaßnahmen oder die Einteilung des Gefangenen zu einer in bestimmten Bereichen auf dem Anstaltsgelände zu leistenden Arbeit abhängig gemacht werden.“ Die Gesetzesbegründung lautet: „Die Radio-Frequenz Identifikation (RFID) ermöglicht eine automatische Identifizierung (Funkerkennung) und Lokalisierung von Objekten. Ein RFID-System umfasst einen RFID-Transponder (auch RFID-Etikett oder Funketikett genannt), ein oder mehrere Lesegeräte (auch Reader genannt) sowie deren Integration in eine Datenverarbeitungsanlage. RFID-Transponder an oder in Objekten speichern Daten, die berührungslos und ohne Sichtkontakt gelesen werden können – je nach Ausführung (passiv/ aktiv), benutztem Frequenzband, Sendeleistung und Umwelteinflüssen auf Entfernungen zwischen wenigen Zentimetern und mehr als einem Kilometer. Außerhalb des Justizvollzuges ist der Einsatz der RFID-Technik bereits weit verbreitet. So sind RFID-Transponder bereits im Einsatz in allen seit dem 1.11.2005 ausgestellten deutschen Reisepässen, [. . .]. Nunmehr soll die Technik der Radio-Frequenz Identifikation (RFID) auch im Justizvollzug einer Regelung zugeführt werden“ (LT-Drucks. 14/1241, 33 f). 2. Bayern
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a) Art. 196 BayStVollzG ist bis auf geschlechtsspezifische und sprachliche Differenzierungen weitgehend mit § 179 StVollzG identisch. Neu ist in Abs. 1 und Abs. 3 die Nennung der Anstalt statt der Vollzugsbehörde (s. vor § 179 Rdn. 4).
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Datenerhebung
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Abs. 2 Satz 2 verweist statt auf § 4 Abs. 2 und 3 und § 13 Abs. 1a Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) auf die entsprechenden Regelungen des Art. 16 Abs. 2 bis 4 Bayerisches Datenschutzgesetz (BayDSG). b) Nach Art. 205 BayStVollzG findet Art. 21a BayDSG im Strafvollzug Anwendung. Da- 32 mit ist unter den dort genannten Voraussetzungen eine Erhebung personenbezogener Daten und anschließende Speicherung in Form von Videobeobachtung und -aufzeichnung zulässig. Eine entsprechende Bestimmung findet sich im Strafvollzugsgesetz nicht. Art. 21a BayDSG erlaubt mit Hilfe von optisch-elektronischen Einrichtungen die Erhebung (Videobeobachtung) und die Speicherung (Videoaufzeichnung) personenbezogener Daten, wenn dies im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben oder in Ausübung des Hausrechts insbesondere zum Schutz von Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum von Personen erforderlich ist. 3. Hamburg a) Die allgemeine Datenerhebung ist in § 118 HmbStVollzG geregelt. Die Vorschrift ent- 33 spricht im Wesentlichen § 179 StVollzG. b) Neu ist § 119 HmbStVollzG, der die Datenerhebung durch optisch-elektronische Ein- 34 richtungen regelt. Er bezieht sich auf das Gelände und das Gebäude der Anstalt einschließlich des Gebäudeinneren sowie die unmittelbare Anstaltsumgebung. Dagegen ist nach Abs. 3 der Einsatz von optisch-elektronischen Einrichtungen zur Überwachung in Hafträumen grundsätzlich ausgeschlossen. Die Begründung führt zu Abs. 3 aus: „Hafträume sollen zur Wahrung der Intimsphäre der Gefangenen grundsätzlich nicht videoüberwacht werden können. Einen solchen Ausnahmetatbestand enthält nur § 74 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2, nach dem der Einsatz von optisch-elektronischen Einrichtungen bei der Beobachtung von Gefangenen in besonderen Hafträumen als besondere Sicherungsmaßnahme zulässig ist. Die Regelung wird durch die besondere Eingriffsintensität von Videoüberwachungen in Hafträumen gerechtfertigt“ (Bürgerschaft-Drucks. 19/2533, 3 und 62). 4. Niedersachsen In Niedersachsen beginnen die Datenschutzregelungen mit einem § 190, der gegenüber 35 § 179 StVollzG Erweiterungen bringt. In der Begründung heißt es hierzu: „Absatz 1 Satz 1 [. . .] soll in Anlehnung an § 9 Abs. 1 des Niedersächsischen Datenschutzgesetzes (NDSG) erweiternd so formuliert werden, dass er nicht nur für die Vollzugsbehörden, sondern für sämtliche öffentliche Stellen Anwendung finden kann, die für Aufgaben nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes [. . .] Daten verarbeiten müssen.“ Zu Satz 2 führt die Begründung weiterhin aus, dass es sich „im Ergebnis eher um einen Fall der Amtshilfe handele. Allerdings soll die Datenerhebung auch ohne ausdrückliches Ersuchen der anderen Vollzugsbehörde möglich sein, da es [. . .] Fälle geben kann, in denen die erhebende Behörde selbst die Erforderlichkeit der Datenerhebung feststellt“ (LT-Drucks. 15/4325, 68). Abs. 2 Sätze 1 und 2 entsprechen mit redaktionellen Anpassungen § 179 Abs. 2 StVollzG. Die Begründung führt zu den Sätzen 4 und 5 aus: „Dementsprechend stellt der neue Satz 4 klar, dass die verdeckte Datenerhebung durch den Einsatz technischer Mittel, die nach dem NDSG unzulässig wäre und wegen des damit verbundenen intensiven Grundrechtseingriffs auch zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nur unter strengen Voraussetzungen eingesetzt werden darf, grundsätzlich unzulässig ist. Dies gilt insbesondere für
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die Hafträume; die kurzzeitige Beobachtung von Gemeinschaftsräumen wird in Ausnahmefällen für zulässig erachtet und soll deshalb ausdrücklich ermöglicht werden. Der neue Absatz 2 Satz 5 enthält in Anlehnung an § 17 Abs. 2 NDSG eine verkürzte Löschungsfrist für die nach Satz 4 erhobenen Daten, um auch damit der besonderen Grundrechtsrelevanz des mit der verdeckten Datenerhebung verbundenen Eingriffs Rechnung zu tragen. [. . .] Das kann die erhebende Vollzugsbehörde sein, aber auch eine andere Behörde, der die Daten rechtmäßig [. . .] übermittelt worden sind“ (LT-Drucks. 15/4325, 68). Zur Datenerhebung durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel s. Rdn. 7. Abs. 3 entspricht bis auf redaktionelle Anpassungen, die Ersetzung des Begriffs „Vollzugsbehörde“ durch „Anstalt“ sowie die Nennung des Begriffs „für Gefangene oder Sicherungsverwahrte betreffende Maßnahmen“ statt „die Behandlung eines Gefangenen“ § 179 Abs. 3 StVollzG. Abs. 4 entspricht inhaltlich § 179 Abs. 4 StVollzG. Abs. 5 lautet: „Für die Aufklärungs- und Hinweispflichten gilt § 9 Abs. 2 und 3 NDSG.“ Die Vorschrift entspricht, soweit sie auf § 9 Abs. 2 NDSG Bezug nimmt, inhaltlich § 179 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz StVollzG i. V. m.§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 und 3 BDSG. Die Bezugnahme auf § 9 Abs. 3 NDSG ist inhaltsgleich mit § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG i. V. m. § 13 Abs. 1a BDSG. Die Begründung führt hierzu aus: „Absatz 5 soll aus systematischen Gründen [. . .] hierher verlagert werden. Auskunftspflichten enthalten die in Bezug genommenen Vorschriften allerdings nicht“ (LT-Drucks. 15/4325, 69).
§ 180 Verarbeitung und Nutzung (1) Die Vollzugsbehörde darf personenbezogene Daten verarbeiten und nutzen, soweit dies für den ihr nach diesem Gesetz aufgegebenen Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich ist. Die Vollzugsbehörde kann einen Gefangenen verpflichten, einen Lichtbildausweis mit sich zu führen, wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt erforderlich ist. (2) Die Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für andere Zwecke ist zulässig, soweit dies 1. zur Abwehr von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder von Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen a) gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, b) eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder c) auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 2. zur Abwehr erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, 3. zur Abwehr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechte einer anderen Person,
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Verarbeitung und Nutzung
§ 180
4. zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhinderung oder Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, durch welche die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet werden, oder 5. für Maßnahmen der Strafvollstreckung oder strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen erforderlich ist. (3) Eine Verarbeitung oder Nutzung für andere Zwecke liegt nicht vor, soweit sie dem gerichtlichen Rechtsschutz nach den §§ 109 bis 121 oder den in § 14 Abs. 3 des Bundesdatenschutzgesetzes genannten Zwecken dient. (4) Über die in den Absätzen 1 und 2 geregelten Zwecke hinaus dürfen zuständigen öffentlichen Stellen personenbezogene Daten übermittelt werden, soweit dies für 1. Maßnahmen der Gerichtshilfe, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht, 2. Entscheidungen in Gnadensachen, 3. gesetzlich angeordnete Statistiken der Rechtspflege, 4. Entscheidungen über Leistungen, die mit der Aufnahme in einer Justizvollzugsanstalt entfallen oder sich mindern, 5. die Einleitung von Hilfsmaßnahmen für Angehörige (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs) des Gefangenen, 6. dienstliche Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Aufnahme und Entlassung von Soldaten, 7. ausländerrechtliche Maßnahmen oder 8. die Durchführung der Besteuerung erforderlich ist. Eine Übermittlung für andere Zwecke ist auch zulässig, soweit eine andere gesetzliche Vorschrift dies vorsieht und sich dabei ausdrücklich auf personenbezogene Daten über Gefangene bezieht. (5) Öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen darf die Vollzugsbehörde auf schriftlichen Antrag mitteilen, ob sich eine Person in Haft befindet sowie ob und wann ihre Entlassung voraussichtlich innerhalb eines Jahres bevorsteht, soweit 1. die Mitteilung zur Erfüllung der in der Zuständigkeit der öffentlichen Stelle liegenden Aufgaben erforderlich ist oder 2. von nicht-öffentlichen Stellen ein berechtigtes Interesse an dieser Mitteilung glaubhaft dargelegt wird und der Gefangene kein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung hat. Dem Verletzten einer Straftat können darüber hinaus auf schriftlichen Antrag Auskünfte über die Entlassungsadresse oder die Vermögensverhältnisse des Gefangenen erteilt werden, wenn die Erteilung zur Feststellung oder Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit der Straftat erforderlich ist. Der Gefangene wird vor der Mitteilung gehört, es sei denn, es ist zu besorgen, dass dadurch die Verfolgung des Interesses des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, und eine Abwägung ergibt, dass dieses Interesse des Antragstellers das Interesse des Gefangenen an seiner vorherigen Anhörung überwiegt. Ist die Anhörung unterblieben, wird der betroffene Gefangene über die Mitteilung der Vollzugsbehörde nachträglich unterrichtet. (6) Akten mit personenbezogenen Daten dürfen nur anderen Vollzugsbehörden, den zur Dienst- oder Fachaufsicht oder zu dienstlichen Weisungen befugten Stellen, den für strafvollzugs-, strafvollstreckungs- und strafrechtliche Entscheidungen zuständigen Gerichten sowie den Strafvollstreckungs- und Strafverfolgungsbehörden überlassen werden; die Überlassung an andere öffentliche Stellen ist zulässig, soweit
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die Erteilung einer Auskunft einen unvertretbaren Aufwand erfordert oder nach Darlegung der Akteneinsicht begehrenden Stellen für die Erfüllung der Aufgabe nicht ausreicht. Entsprechendes gilt für die Überlassung von Akten an die von der Vollzugsbehörde mit Gutachten beauftragten Stellen. (7) Sind mit personenbezogenen Daten, die nach den Absätzen 1, 2 oder 4 übermittelt werden dürfen, weitere personenbezogene Daten des Betroffenen oder eines Dritten in Akten so verbunden, dass eine Trennung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist, so ist die Übermittlung auch dieser Daten zulässig, soweit nicht berechtigte Interessen des Betroffenen oder eines Dritten an deren Geheimhaltung offensichtlich überwiegen; eine Verarbeitung oder Nutzung dieser Daten durch den Empfänger ist unzulässig. (8) Bei der Überwachung der Besuche oder des Schriftwechsels sowie bei der Überwachung des Inhaltes von Paketen bekannt gewordene personenbezogene Daten dürfen nur für die in Absatz 2 aufgeführten Zwecke, für das gerichtliche Verfahren nach den §§ 109 bis 121, zur Wahrung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder nach Anhörung des Gefangenen für Zwecke der Behandlung verarbeitet und genutzt werden. (9) Personenbezogene Daten, die gemäß § 179 Abs. 3 über Personen, die nicht Gefangene sind, erhoben worden sind, dürfen nur zur Erfüllung des Erhebungszweckes, für die in Absatz 2 Nr. 1 bis 3 geregelten Zwecke oder zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung verarbeitet oder genutzt werden. (10) Die Übermittlung von personenbezogenen Daten unterbleibt, soweit die in § 182 Abs. 2, § 184 Abs. 2 und 4 geregelten Einschränkungen oder besondere gesetzliche Verwendungsregelungen entgegenstehen. (11) Die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung trägt die Vollzugsbehörde. Erfolgt die Übermittlung auf Ersuchen einer öffentlichen Stelle, trägt diese die Verantwortung. In diesem Fall prüft die Vollzugsbehörde nur, ob das Übermittlungsersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt und die Absätze 8 bis 10 der Übermittlung nicht entgegenstehen, es sei denn, dass besonderer Anlass zur Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung besteht. Schrifttum: s. Vor § 179
Übersicht I. Allgemeine Hinweise . . . . . . II. Erläuterungen . . . . . . . . . 1. Verarbeitung und Nutzung für vollzugliche Zwecke (Abs. 1) . a) Verarbeitung und Nutzung b) Lichtbildausweis . . . . . 2. Verarbeitung und Nutzung für vollzugsfremde Zwecke (Abs. 2) a) Rechtsgüter gemäß § 18 BVerfSchG . . . . . . b) Schutz der Öffentlichkeit . c) Rechte einer anderen Person aa) Übermittlung von Daten an Dritte . . . . . . . .
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Rdn.
Rdn.
. . . .
1–2 3–53
. . . . . .
3–10 3–9 10
bb) § 406d Abs. 2 StPO . . . . . 16 cc) § 13 Abs. 5 JVollzDSG Baden-Württemberg . . . 17 d) Präventive und repressive Zwecke 18 e) Strafvollstreckung . . . . . . 19 3. Verarbeitung, Nutzung für vollzugsgleiche Zwecke (Abs. 3) . . . 20–23 a) Äußerung vor Gericht . . . . . 22 b) Aufsichts-, Kontrollbefugnisse (§ 14 Abs. 3 BDSG) . . . . . . . 23 4. Verarbeitung und Nutzung für sonstige Zwecke (Abs. 4) . . . . . 24–34 a) Übermittlung an öffentliche Stellen . . . . . . . . . . . . . 24–33
. 11–19 . . . . . .
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. .
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Verarbeitung und Nutzung Rdn.
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9.
10. 11.
b) Übermittlung außerhalb des Strafvollzugsgesetzes . . . 34 Rechtliche Interessen Dritter (Abs. 5) . . . . . . . . . . . . . 35–38 a) Auskunft über Inhaftierung 35 b) Rechte des Verletzten . . . 36 c) Anhörung des Gefangenen 37 d) Mitteilung innerhalb allgemeiner Zweckbestimmung . . 38 Übermittlung von Akten (Abs. 6) 39–41 a) ohne besondere Anforderungen 40 b) nach besonderer Prüfung . . 41 Akten mit untrennbar verbundenen Daten (Abs. 7) . . . . . . 42–43 Besondere Verwendungsbeschränkungen (Abs. 8) . . . . . . . . . 44–47 a) vollzugliche Zwecke . . . . 45 b) vollzugsfremde Zwecke . . 46 c) Kenntnisse aus der Überwachung des Schriftverkehrs 47 Verarbeitung, Nutzung von Daten gemäß § 179 Abs. 3 (Abs. 9) . . . 48 a) Voraussetzungen der Zweckdurchbrechung . . . . . . . 48 b) Landesgesetze . . . . . . . 48 Spezielle Verwendungsverbote (Abs. 10) . . . . . . . . . . . . 49 Verantwortung für die Übermittlung (Abs. 11) . . . . . . . . . . 50–52
Rdn. 12. Anstaltsübergreifende Datenverarbeitung, Automatisierte Übermittlungs- und Abrufverfahren . . . . . . . . . . III. Landesgesetze . . . . . . . . . . 1. Baden-Württemberg . . . . a) § 8 JVollzDSG . . . . . . b) § 9 JVollzDSG . . . . . . c) § 10 JVollzDSG . . . . . d) § 11 JVollzDSG . . . . . e) § 12 JVollzDSG . . . . . f) § 13 JVollzDSG . . . . . g) § 17 JVollzDSG . . . . . h) § 18 JVollzDSG . . . . . i) § 19 JVollzDSG . . . . . j) § 25 JVollzDSG . . . . . k) § 26 JVollzDSG . . . . . l) § 27 JVollzDSG . . . . . m) § 28 JVollzDSG . . . . . 2. Bayern . . . . . . . . . . . a) Art. 197 BayStVollzG . . b) Art. 198 BayStVollzG . . 3. Hamburg . . . . . . . . . . a) § 120 HmbStVollzG . . b) § 121 HmbStVollzG . . 4. Niedersachsen . . . . . . . a) § 191 NJVollzG . . . . . b) § 192 NJVollzG . . . . . c) § 193 NJVollzG . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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53 54–73 54–66 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67–68 67 68 69–70 69 70 71–73 71 72 73
I. Allgemeine Hinweise Für die Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten (§ 187 Rdn. 7) im Jus- 1 tizvollzug ist § 180 die zentrale Vorschrift (Arloth 2008 Rdn. 1; C/MD 2008 Rdn. 1; AK-Weichert 2006 Rdn. 4). Bestehen spezielle Regelungen über die Datenverarbeitung, wie etwa §§ 86, 86a oder § 27 ff bei der Kommunikationsüberwachung, findet § 180 keine Anwendung (AK-Weichert 2006 Rdn. 7). Hierbei wäre es wünschenswert, die Voraussetzungen für biometrische Zutrittsysteme in § 86 detailliert vorzugeben oder für erkennungsdienstliche Maßnahmen Regelungen entsprechend dem Justizvollzugsdatenschutzgesetz Baden-Württemberg zu schaffen. Zur Person jedes Gefangenen führen die Justizvollzugsanstalten Unterlagen in manueller und vermehrt automatisierter Form (s. § 183 Rdn. 6). Hierzu gehören die Gefangenenpersonalakte, die Gesundheitsakte, das Buchwerk der Vollzugsgeschäftsstelle, die Besucherkartei, die Gefangenenstammdatei, Zellenbelegungsdateien und vieles mehr. Für diese Speichermedien mit personenbezogenen Daten wird nunmehr eine normenklare Rechtsgrundlage geschaffen. Abs. 1 regelt die Befugnis zur Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für vollzugliche Zwecke. In Abs. 3 wird mitgeteilt, welche weiteren Zwecke diesen gleichgestellt sind. Darüber hinaus findet die Verarbeitung und Nutzung für vollzugsfremde Zwecke (Abs. 2 und 4) ebenso ihren gesetzlichen Niederschlag wie die sonstige Übermittlung an öffentliche und nicht-öffentliche Stellen (Abs. 5).
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§ 180
Fünfter Abschnitt. Weitere freiheitsentziehende Maßnahmen, Datenschutz u. a.
Die Übermittlung von in Akten enthaltenen Daten ist Gegenstand der Absätze 6 und 7. 2 Die bei der Besuchsüberwachung, der Überwachung des Schriftwechsels oder bei der Paketüberwachung bekannt gewordenen personenbezogenen Daten dürfen nur nach Abs. 8 verwendet werden. Weitere Verwendungseinschränkungen finden sich in Abs. 9 für nach § 179 Abs. 3 erhobene Daten über Personen, die nicht Gefangene sind und in Abs. 10, soweit das Strafvollzugsgesetz selbst entsprechende Restriktionen vorsieht. Die Verantwortung für die Zulässigkeit einer Übermittlung ist in Abs. 11 normiert. Da die Übermittlungsbefugnisse hier eine abschließende Regelung erfahren, sind nicht von dieser Vorschrift erfasste Übermittlungen nur zulässig, wenn eine wirksame Einwilligung des Betroffenen vorliegt. So ist es nicht erlaubt, zur Vorbereitung eines islamischen Festes einem Gefangenen eine Liste mit den Namen aller moslemischer Gefangener ohne deren Einwilligung auszuhändigen.
II. Erläuterungen 3
1. a) Die Voraussetzung für die in Abs. 1 Satz 1 geregelte Befugnis zur Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für vollzugliche Zwecke ist identisch mit dem Erhebungszweck des § 179 Abs. 1 (s. § 179 Rdn. 4–5). Nur rechtmäßig erhobene Daten dürfen verarbeitet werden (OLG Koblenz ZfStrVo 1989, 182, 183). Die Speicherung von Telefonverbindungsdaten und Gesprächsinhalten für den Fall, dass sich irgendwann einmal der Verdacht strafrechtlich relevanter Vorgänge ergibt, für deren Abklärung diese Daten von Bedeutung sein könnten, ist mangels Erforderlichkeit unzulässig (s. § 179 Rdn. 5), zumal hierdurch die abschließende Regelung in §§ 100a ff StPO ausgehebelt und unterlaufen würde (OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 219, 221 = StV 2005, 230). Nach § 180 Abs. 1 Satz 1 darf die Justizvollzugsanstalt z. B. die Meldebehörde über unrichtige Meldedaten unterrichten, wenn im Rahmen der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen einen inzwischen entlassenen Gefangenen ein Schreiben nicht an die der Anstalt bekannte Adresse zugestellt werden kann (a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 4). Die Begriffe „Verarbeiten“ und „Nutzen“ entsprechen den Begriffsbestimmungen in § 3 Abs. 4 und 5 BDSG (§ 187 Satz 1).
4
aa) Verarbeiten umfasst das Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren und Löschen personenbezogener Daten (§ 3 Abs. 4 Satz 1 BDSG). 5 Speichern wird definiert als das Erfassen, Aufnehmen oder Aufbewahren personenbezogener Daten auf einem Datenträger zum Zweck ihrer weiteren Verarbeitung oder Nutzung (§ 3 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BDSG), wobei diese drei Alternativen kaum eigenständige Bedeutung haben, zumal sie häufig zusammenfallen (Auernhammer 1993 § 3 Rdn. 29). Die „nachlesbare“ Fixierung von personenbezogenen Daten in Akten (§ 183 Rdn. 3) oder automatisierten und nicht-automatisierten Dateien (§ 183 Rdn. 4) erfüllt diese Kriterien. Gleiches gilt, wenn die Daten mit Aufnahmetechniken (z. B. Tonband, Video) fixiert (Aufnehmen) oder bereits auf einem Datenträger zur Verfügung gestellt wurden und nunmehr von der speichernden Stelle vorrätig gehalten werden (Aufbewahren) (Gola/Schomerus 2007 § 3 Rdn. 27). Die Zweckbestimmung der weiteren Verwendung ist im Regelfall unproblematisch; Daten werden normalerweise nicht gespeichert, wenn sie nicht anschließend verarbeitet oder genutzt werden sollen. Datenträger ist jedes Medium, das zum Aufnehmen personenbezogener Daten geeignet ist, d. h. auf dem Informationen für eine spätere Wahrnehmung festgehalten werden können (Gola/Schomerus 2007 § 3 Rdn. 26).
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Verarbeitung und Nutzung
§ 180
Eine automatisierte langdauernde Speicherung von sensiblen Gefangenendaten zur Persönlichkeitsentwicklung und zu persönlichen Umständen (wie z. B. regelmäßiger Alkohol-, Drogen-, Medikamentenkonsum, Spielsucht, Krankheiten, psychische Störungen) ist nur zulässig, wenn sie tatsächlich zur Erfüllung des angestrebten vollzuglichen Zwecks erforderlich ist. Die Differenzierung zwischen dem Erheben von Information gemäß § 179 und der Speicherung hat in der Praxis keine besondere Bedeutung, da die Daten meist in einem Zuge beschafft und aufgezeichnet werden. Verändern ist das inhaltliche Umgestalten gespeicherter personenbezogener Daten (§ 3 6 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BDSG). Nur das inhaltliche Umgestalten, nicht bereits das Verändern der äußeren Form erfüllt diesen Tatbestand (Gola/Schomerus 2007 § 3 Rdn. 30). In Betracht kommen hierfür das Entfernen oder Hinzufügen von Datenbestandteilen, das Verknüpfen von Daten aus verschiedenen Dateien, wodurch ein neuer Kontext entsteht, sowie die Berichtigung von Daten (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2). Führt die Vollzugsbehörde Buchungen auf dem anstaltseigenen Konto eines Gefangenen durch, stellt sich dies als Datenverarbeitung (durch Speichern und Verändern von Daten) bzw. als Datennutzung dar (OLG Frankfurt 3 Ws 420–422/04 (StVollz)). Übermitteln ist in § 3 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 BDSG definiert als das Bekanntgeben gespei- 7 cherter oder durch Datenverarbeitung gewonnener personenbezogener Daten an einen Dritten (Empfänger) in der Weise, dass die Daten durch die speichernde Stelle an den Empfänger weitergegeben werden oder der Empfänger von der speichernden Stelle zur Einsicht oder zum Abruf bereitgehaltene Daten einsieht oder abruft. Der Übermittlungsbegriff umfasst sowohl seitens der Vollzugsbehörde für erforderlich erachtete Übermittlungen („Spontanübermittlungen“) als auch Übermittlungen, die aufgrund eines Ersuchens (s. Rdn. 52), z. B. nach § 18 Absatz 3 BVerfSchG, erfolgen (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 20). Daten, um deren Übermittlung ersucht wird, müssen bei der Vollzugsbehörde vorhanden sein. Es gehört nicht zu deren Aufgabe, Daten für Übermittlungszwecke Dritter, u.U. unter großem Aufwand erst zu erheben (AK-Weichert 2006 Rdn.1). In welcher Form die Übermittlung erfolgt (schriftlich oder mündlich, per Telefax, durch Weitergabe des Datenträgers selbst) ist unerheblich. Sie setzt jedoch ein zielgerichtetes Handeln voraus (Arloth 2008 Rdn. 2; C/MD 2008 Rdn. 2). Bekanntmachen von Informationen gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen; z. B. das Veröffentlichen durch die Presse ist eine Bekanntgabe i. S. v. § 3 Abs. 4 Nr. 3 BDSG und damit eine Übermittlung (BVerfG NVwZ 1990, 1162; AK-Weichert 2006 § 180 Rdn. 1; a. A. Nutzung: Arloth 2008 Rdn. 2; Auernhammer 1993 § 3 Rdn. 34; C/MD 2008 Rdn. 2; Dörr/Schmidt 1997 § 3 Rdn. 24; Laubenthal 2008 Rdn. 937). Werden die Daten an eine Stelle, die die Daten im Auftrag verarbeitet (z. B. externer Gutachter), weitergegeben, liegt keine Übermittlung, sondern die Nutzung von Daten vor (Auernhammer 1993 § 3 Rdn. 34; a. A. AK-Weichert 2006 § 182 Rdn. 60). Dass in das Strafvollzugsgesetz keine Regelung zur Datenverarbeitung im Auftrag ähnlich § 11 BDSG aufgenommen wurde, bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber diese Art der Datenverarbeitung nicht zulassen wollte (a. A. AK-Weichert 2006 § 187 Rdn. 12: diese Form der Organisation der Datenverarbeitung im Strafvollzug ist nicht erlaubt). Denn die datenschutzrechtlichen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes kennen auch die Auftragsdatenverarbeitung (s. § 182 Abs. 4). Es wäre jedoch wünschenswert, wenn der Gesetzgeber für eine über den Anwendungsbereich des § 182 Abs. 4 hinausgehende Auftragsdatenverarbeitung eine klarere Regelung in Anlehnung an § 11 BDSG treffen würde. Keine Übermittlung ist auch die Weitergabe der Daten an Personen, die der Vollzugsbehörde angehören und an den Betroffenen, da dieser nicht Dritter ist.
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Der besonderen Situation bei der Übermittlung von in Akten enthaltenen untrennbar miteinander verbundenen Daten trägt Absatz 7 Rechnung. 8 Zu den Begriffen Sperren und Löschen s. § 184 Rdn. 2 und 8.
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bb) Nutzen ist jede sonstige Verwendung personenbezogener Daten, die nicht Verarbeitung ist (§§ 187 Satz 1, 3 Abs. 5 BDSG); dieser Auffangtatbestand greift, wenn die Verwendung der Daten keiner der Datenverarbeitungsphasen zugewiesen werden kann. Ein Nutzen gespeicherter Daten liegt immer dann vor, wenn die Daten mit einer bestimmten Zweckbestimmung ausgewertet, zusammengestellt, abgerufen oder auch nur zielgerichtet zur Kenntnis genommen werden sollen (Gola/Schomerus 2007 § 3 Rdn. 42). Die Kontaktaufnahme der Vollzugsbehörde zu außenstehenden Firmen zur Kontrolle der Bezahlung einer Warenlieferung durch den Gefangenen kann eine zulässige Nutzung von Gefangenendaten darstellen (OLG Hamm NStZ 1988, 525, 526; C/MD 2008 Rdn. 2; a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 1: Übermittlung). Zulässig ist die Einführung einer personenbezogenen Kostkarte zur Ermittlung des täglichen Bedarfs an Essensportionen in den unterschiedlichen Kostformen für die Mittagskost aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung (KG NStZ 1989, 358 B). Problematisch ist demgegenüber die Kennzeichnung von Paketmarken mit persönlichen Vermerken wie „Geburtstag“, „Ramadan 5kg“ oder ähnlichen Informationen, um eine schnellere Aushändigung von Paketen mit verderblichem Inhalt zu ermöglichen (a. A. Arloth 2008 Rdn. 2). Zulässig sind dagegen neutrale Kennzeichnungen (unterschiedliche Farbmarkierungen), die für Außenstehende nicht identifizierbar sind (so auch C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Weichert 2006 Rdn. 53). Zur Verwendung der Anstaltsadresse bei Briefen s. AK-Weichert 2006 § 180 Rdn. 48.
10
b) Gemäß Abs. 1 Satz 2 können Gefangene verpflichtet werden, aus Gründen der Sicherheit und Ordnung insbesondere im Freizeitbereich einen Lichtbildausweis mitzuführen. Diese Art des Identitätsnachweises dürfte durch die Neueinführung des § 86a und eine zunehmende Technisierung der Anstalten in einigen Jahren obsolet werden. § 180 Abs. 1 Satz 2 erlaubt auch für diese Ausweise Lichtbildaufnahmen herzustellen, wenn der Gefangene kein geeignetes Bild zur Verfügung stellt (Stellungnahme des Bundesrates zum RegE, BT-Drucks. 13/10245, 33). Da es in der Regel nicht erforderlich ist, den Lichtbildausweis offen zu tragen, ist der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verhältnismäßig gering und insbesondere eine Kenntnisnahme personenbezogener Daten durch Mitgefangene im Regelfall ausgeschlossen. Jedoch können Sicherheitsgründe das offene Tragen erfordern, was zu begründen ist (Arloth 2008 Rdn. 3; a. A. C/MD 2008 Rdn. 2; AK-Weichert 2006 Rdn. 16). In Baden-Württemberg ist § 8 Abs. 4 JVollzDSG zu beachten.
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2. Abs. 2 regelt die Befugnis zur Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für nachfolgende vollzugsfremde Zwecke: Abwehr von Gefahren für höherrangige Rechtsgüter (Nr. 1–3), Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (Nr. 4) und Zwecke der Strafvollstreckung (Nr. 5). Lässt sich der andere Zweck auch mit anonymisierten Daten erreichen, so ist eine personenbezogene Datennutzung unzulässig (AK-Weichert 2006 Rdn. 18). Für die in Abs. 2 genannten Zwecke mit Ausnahme strafvollstreckungsrechtlicher Entscheidungen oder Maßnahmen erlaubt § 10 Abs. 1 JVollzDSG Baden-Württemberg auch die Übermittlung erkennungsdienstlicher Unterlagen (s. § 12 Abs. 1 Nr. 1 JVollzDSG). Auch wenn Absatz 2 allgemein von Verarbeitung und Nutzung spricht, wird in der Praxis die Zulässigkeit der Übermittlung personenbezogener Daten im Vordergrund stehen. 12 Im Rahmen der von der Vollzugsbehörde vorzunehmenden Prüfung, ob eine Übermittlung nach Abs. 2 erforderlich ist, hat die Vollzugsbehörde (auch ohne ausdrückliche Rege-
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Verarbeitung und Nutzung
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lung) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 65, 1, 46; 67, 100, 143; 67, 157, 173; BVerwGE 59, 319, 323; BVerwG NJW 1990, 2761, 2763; NJW 1994, 2499). Die Zulässigkeit ist im Einzelfall nur gegeben, wenn kein höherrangiges Interesse eines Betroffenen entgegensteht. Für den Empfänger ist in § 181 ausdrücklich die Bindung an den Übermittlungszweck vorgesehen. a) Abs. 2 Nr. 1 betrifft die Abwehr von sicherheitsgefährdenden, geheimdienstlichen 13 Tätigkeiten oder von Gewaltanwendung, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, die Sicherheit des Staates, die Amtsführung der Verfassungsorgane oder die auswärtigen Belange Deutschlands richten. Die hier geregelte Übermittlungsbefugnis entspricht der Zweckbestimmung des § 18 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 BVerfSchG. Bestrebungen gegen die unter Ziff. a) genannten Werte sind in § 4 Abs. 1 BVerfSchG näher definiert. Was Gegenstand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in diesem Sinne ist, erläutert § 4 Abs. 2 BVerfSchG. Ziff. b) ist etwa dann erfüllt, wenn die Bestrebungen eine Straftat gemäß §§ 105 und 106 StGB zum Ziel haben. Auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gemäß Ziff. c) werden dann gefährdet, wenn Privatpersonen von Deutschland aus Gewalttaten gegen die politischen Verhältnisse in anderen Staaten durchführen oder vorbereiten (Werthebach/Droste in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, Lieferungstand 04/2009 Art. 73 Nr. 10 Rdn. 205–209). Empfänger einer nach Abs. 2 Nr. 1 zulässigen Übermittlung sind in der Regel die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Wird die Vollzugsbehörde nach § 18 Abs. 3 BVerfSchG oder aufgrund entsprechender Bestimmungen der Landesverfassungsschutzgesetze von den Verfassungsschutzbehörden um die Übermittlung personenbezogener Daten ersucht, darf sie diese Daten nur unter den Voraussetzungen des § 180 übermitteln. Die Strafvollzugsbehörde ist jedoch nach Art. 35 Abs. 1 GG grundsätzlich verpflichtet, dem Ersuchen stattzugeben, wenn die Verfassungsschutzgesetze das Ersuchen decken und zugleich die gesetzlichen Voraussetzungen für die Übermittlung nach § 180 Abs. 2 Nr. 1 erfüllt sind. b) Abs. 2 Nr. 2 erlaubt eine Zweckänderung im öffentlichen Interesse. Die Vorschrift 14 dient dem Schutz der Öffentlichkeit. Deshalb dürfen zur Abwehr erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl von der Vollzugsbehörde personenbezogene Daten verarbeitet und genutzt werden, wenn nur so diese erheblichen Nachteile behoben oder verhindert werden können. Das Gemeinwohl ist nicht erst dann berührt, wenn dem Staatsganzen Nachteile drohen (Gola/Schomerus 2007 § 14 Rdn. 20). Bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist eine zweckändernde Verarbeitung und Nutzung zur Abwehr dieser Gefahr nach den gleichen Kriterien zulässig. Die Gefahrenschwelle ist bei der 2. Alternative nicht so hoch wie bei der ersten; es genügt bereits eine generell bestehende Gefahr. Bei der öffentlichen Sicherheit steht im Unterschied zum Gemeinwohl die auf das Individuum bezogene Gefahrenabwehr im Vordergrund, sie umfasst den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, wesentliche Schutzgüter der Bürger, aber auch die Rechtsordnung generell (C/MD 2008 Rdn. 3). So dürfen auch von den Fachdiensten erhobene Daten im Anordnungsverfahren der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 182 Abs. 2 und 3 übermittelt werden (s. auch § 182 Rdn. 11). c) Zu den Rechten einer anderen Person (nicht des Betroffenen) im Sinne von Abs. 2 15 Nr. 3, deren mögliche Beeinträchtigung im Einzelfall eine Verarbeitung zulassen, gehören nicht nur die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte, sondern auch alle gesetzlich
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geschützten Rechtspositionen. Die zu schützenden Rechte sind u. a. das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, der Schutz des Eigentums und vergleichbare Rechtsgüter. Für eine schwere Beeinträchtigung dieser Rechte müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Diese Norm entspricht § 17 Nr. 3 und 4 EGGVG. Die zulässigen Zweckänderungen nach Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 betreffen eine Vielzahl von nicht näher eingrenzbaren Sachverhalten. Als zulässige Übermittlungsadressaten kommen daher alle zur Abwehr der jeweiligen Gefahrenlage zuständigen Behörden in Betracht, im Regelfall die Polizeibehörden, aber auch andere öffentliche Stellen wie z. B. die Gesundheitsbehörden (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 20; Arloth 2008 Rdn. 4 und 6). aa) Die Vorschrift ermöglicht auch die Übermittlung von Daten an das Jugendamt oder an Dritte, so z. B. die Mitteilung an das Opfer einer Straftat oder die Eltern eines missbrauchten Kindes, dass der Gefangene Vollzugslockerungen oder Hafturlaub enthält oder entlassen wird; im letzteren Fall findet ggf. auch Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Anwendung (Arloth 2008 Rdn. 4 und Rdn. 7). Eine schwerwiegende Beeinträchtigung ist bereits darin zu sehen, dass Opfer oder Angehörige dem Straftäter unerwartet begegnen und dadurch psychisch belastet werden; bei einer konkreten Gefährdung wäre ohnehin Abs. 2 Nr. 4 einschlägig (Arloth 2008 Rdn. 4; a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 22).
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bb) Eine entsprechende Regelung enthält auch § 406d Abs. 2 StPO; diese Vorschrift wurde durch das Opferrechtsreformgesetz vom 24.6.2004, BGBl. I, 2004, 1354 eingefügt. Die Vorschrift wendet sich an die Vollstreckungsbehörden und lässt im Unterschied zu § 192 Abs. 4 Satz 2 NJVollzG nur eine Auskunft über die erstmalige Gewährung von Lockerungen und Urlaub zu. In der Praxis bedarf es daher zumindest eindeutiger Verwaltungsvorschriften hinsichtlich eines einheitlichen Vorgehens (Arloth 2008 § 192 NJVollzG Erläuterungen).
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cc) Für Baden-Württemberg ist § 13 Abs. 5 JVollzDSG zu berücksichtigen. Empfangsaddressat können die Staatsanwaltschaft oder das mit der Sache befasste Gericht sein.
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d) Abs. 2 Nr. 4 berücksichtigt präventive und repressive Interessen (Verhinderung und Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten) und lässt die hierfür erforderliche Zweckänderung zu. Ordnungswidrigkeiten werden nur insoweit in die Vorschrift einbezogen, soweit sie Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden (s. hierzu auch OLG Dresden NStZ 1998, 535). Erhält ein Gefangener von einem Besucher Geld oder von einem Rechtsanwalt ein Handy ohne Erlaubnis der Anstalt, muss der Anstalt eine Anzeige nach § 115 OWiG möglich sein. Dies gilt auch bei anderen Ordnungswidrigkeiten aus der Haft heraus, wenn dadurch Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet werden. Dazu gehören jedenfalls solche, die von erheblicher Gemeinschädlichkeit sind oder deren Begehung zu einem erheblichen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil führen kann. Ordnungswidrigkeiten, welche nicht in Zusammenhang mit der Vollzugsanstalt stehen (wie Verkehrsordnungswidrigkeiten Dritter), bleiben unberücksichtigt. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Eingrenzung neben den datenschutzrechtlichen Belangen Betroffener auch dem Umstand Rechnung tragen, dass die vorhandenen personellen und sachlichen Mittel ökonomisch eingesetzt werden (Stellungnahme des Rechtsausschusses des BT, 13/11016, 26–27). Zulässige Übermittlungsempfänger sind die Polizeibehörden, die Staatsanwaltschaften und die Strafgerichte (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 20).
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e) Für Maßnahmen der Strafvollstreckung oder strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen trifft Abs. 2 Nr. 5 eine bereichsspezifische Regelung. Die Staatsanwaltschaften als
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Strafvollstreckungsbehörden sind ebenso wie die zuständigen Strafvollstreckungskammern auf die Übermittlung personenbezogener Daten (z. B. Aufnahme, Verlegung, Entweichung, durchgeführte vollzugliche Behandlungsmaßnahmen) zur sachgemäßen Aufgabenerfüllung und Entscheidung angewiesen. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes nach §§ 57 StGB, 454 StPO. 3. Abs. 3 stellt eine Ergänzung zu Abs. 1 dar; die Zweckbindung des Absatzes 1 wird in 20 sachlicher Hinsicht durch eine Fiktion erweitert (KG, Beschl. v. 8.7.2008 2 Ws 145/08 Vollz). Die hier aufgeführten Zwecke werden diesen vollzuglichen Zwecken gleichgestellt. Mithin ist eine Verarbeitung und Nutzung unter den Voraussetzungen des Abs. 3 unabhängig vom ursprünglichen Erhebungs- und Speicherungszweck zulässig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass personenbezogene Daten nur in dem Umfang verarbeitet und genutzt werden dürfen, wie es zur Erfüllung der in Abs. 3 genannten Zwecke erforderlich ist. Abs. 3 enthält keine eigenständige Regelung der Verarbeitung und Nutzung perso- 21 nenbezogener Daten für interne statistische Zwecke der Vollzugsbehörde. Die Vorschrift bezieht sich ausdrücklich nur auf bestimmte Zwecke der Verwaltungsorganisation (Rdn. 23). Daher wäre eine Interpretation dahingehend, dass damit zugleich der völlig anders geartete Zweck der internen Statistik miterfasst wird, eine unzulässige Vermischung, die gegen das Gebot der Normenklarheit verstoßen würde (BVerfGE 65, 1, 64 f; Baumann 1984, 616; Poppenhäger 1992, 149 ff). Geschäftsstatistiken dürfen daher nur geführt werden, wenn sie die Voraussetzungen des Abs. 1 oder des Abs. 4 Nr. 3 (s. Rdn. 28) erfüllen. a) Die Regelung betrifft zunächst die Äußerungen und Stellungnahmen der Vollzugs- 22 behörde, welche in Verfahren vor den Strafvollstreckungskammern und in Rechtsbeschwerdeverfahren vor den Strafsenaten der Oberlandesgerichte (§§ 109 ff) erfolgen. Es ist zweifelhaft, ob Abs. 3 die Übermittlung von personenbezogenen Daten eines Gefangenen für gerichtliche Verfahren erlaubt, die andere Gefangene als der Betroffene gegen die Vollzugsbehörde führen (KG, Beschl. v. 8.7.2008 2 Ws 145/08 Vollz). Das ist zu verneinen, wenn der betroffene Gefangene die fraglichen Informationen vertraulich der Vollzugsbehörde zugeleitet hat und er nunmehr durch die Bekanntgabe gefährdet wird (KG aaO.) Hier muss er mit der Offenbarung auf keinen Fall rechnen. Gegen die Auffassung, § 180 Abs. 3 berechtige zur Verarbeitung personenbezogener Daten auch in Rechtsstreitigkeiten fremder Gefangener, spricht, dass der Gefangene als nicht Verfahrensbeteiligter von der Verarbeitung im Regelfall nichts erfährt (KG aaO). Eine nachfolgende Hinweis- oder Informationspflicht ist § 180 Abs. 3 nicht zu entnehmen, entgegen der entsprechenden Verpflichtung bei Erhebung von Daten ohne Mitwirkung des Betroffenen (s. § 179 Abs. 4). Verwendet die Anstalt bei ihren Stellungnahmen zur Angabe der erforderlichen persönlichen und Vollstreckungsdaten des Gefangenen den sog. A-Bogen der Gefangenenpersonalakte, sind die nicht für das gerichtliche Verfahren erforderlichen Daten unkenntlich zu machen. b) Infolge der Verweisung auf § 14 Abs. 3 BDSG stellt auch eine Verarbeitung und Nut- 23 zung personenbezogener Daten zur Wahrnehmung von Aufsichts- und Kontrollbefugnissen durch vorgesetzte Dienststellen und zur Durchführung der Rechnungsprüfung oder von Organisationsuntersuchungen für die speichernde Vollzugsbehörde keine Zweckänderung dar. Gleiches gilt für die Verarbeitung oder Nutzung zu Ausbildungsund Prüfungszwecken, soweit nicht überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen entgegenstehen. Zweck dieser Regelung ist das öffentliche Interesse an einer funktionsfähigen Verwaltung (Gola/Schomerus 2007 § 14 Rdn. 24).
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Aufsicht ist die Dienst- und Fachaufsicht durch die übergeordnete Stelle gemäß § 151. Hinzu kommt die Rechnungsprüfung. Die Fachaufsicht erstreckt sich auch auf Unterlagen, die personenbezogene Daten enthalten, die einem Berufsgeheimnis oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten; nur die für die Durchführung der Fachaufsicht erforderlichen Daten dürfen bei der innerdienstlichen Berichterstattung vorgelegt werden. Bei Daten gemäß § 182 Abs. 2 sind die dortigen Voraussetzungen zu beachten (s. Rdn. 49; § 182 Rdn. 6 ff). Empfangsberechtigt sind nur die mit der Aufsicht betrauten Fachkräfte der Aufsichtsbehörde (Gola/Schomerus 2007 § 14 Rdn. 24). Zu berücksichtigen ist, dass den Aufsichts- und Rechnungsprüfungsbehörden umfassend das Recht eingeräumt ist, die für die Prüfung benötigten Informationen selbst festzulegen (vgl. BVerfG RDV 1996, 184; BVerwG RDV 1990, 87, 88). Gegenstand von Organisationsuntersuchungen, die auch von Externen durchgeführt werden können, ist die Art und Weise der Verwaltungsorganisation, die Frage der Zweckmäßigkeit von Zuständigkeitsabgrenzungen und die Einführung neuer Arbeitsablaufformen (Gola/Schomerus 2007 § 14 Rdn. 25). § 14 Abs. 3 BDSG findet auch Anwendung bei der Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten für den vollzugsinternen Bereich der Ausbildungs- und Prüfungszwecke, soweit nicht überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen entgegenstehen. Einer Überlassung von Akten und sonstigen personenbezogenen Unterlagen innerhalb der Anstalt an einzelne Auszubildende zu Ausbildungszwecken stehen überwiegende schutzwürdige Interessen der Betroffenen regelmäßig nicht entgegen, zumal Justizvollzugsanwärterinnen und -anwärter als Beamte auf Widerruf zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Beim Einsatz von Praktikanten muss ggf. im Ausbildungsvertrag die Verpflichtung zur Verschwiegenheit erfolgen (AK-Weichert 2006 Rdn. 29). Bei Nutzung der entsprechenden Unterlagen durch eine Vielzahl von Auszubildenden oder bei Übermittlung an die Justizvollzugsschule sind die Angaben über natürliche Personen in den jeweiligen Unterlagen unkenntlich zu machen, so auch § 9 Abs. 2 Satz 2 JVollzDSG Baden-Württemberg. Wenn eine umfassende Anonymisierung nicht gewährleistet ist, sollte bei besonders sensiblen Daten auf eine Verwendung für Ausbildungs- und Prüfungszwecke verzichtet werden (vgl. Hartig, Klinik, Eiermann Landesdatenschutzgesetz Rheinland-Pfalz, Wiesbaden 1. Aufl. 2009, § 13 Ziff. 7.5.).
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4. Abs. 4 regelt wie Abs. 2 die Befugnis zur Verarbeitung und Nutzung für vollzugsfremde Zwecke (Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Weichert 2006 Rdn. 30). Es ist im Einzelfall durchaus möglich, dass die Verarbeitung und Nutzung zugleich vollzuglichen Zwecken dient.
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a) Die in Abs. 4 Satz 1 aufgeführten öffentlichen Stellen sind in besonderem Maße auf die Übermittlung personenbezogener Daten durch die Vollzugsbehörde angewiesen. Es sind die in der Praxis am häufigsten anzutreffenden Übermittlungswege. Schon bei der Neuaufnahme von Gefangenen werden i. d. R. unterrichtet: Einweisungsbehörde, Polizeibehörde, ggf. das Jugendamt und ggf. die Ausländerbehörde (Busch 2000 a, 12). Übermittlung und anschließende Verarbeitung und Nutzung (vgl. § 181) werden begrenzt durch den in der Vorschrift genannten Zweck und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. So dürfen z. B. die sog. „A-Bögen“ ausländischer Gefangener nicht undifferenziert an die Ausländerbehörde weitergegeben werden (AK-Weichert 2006 Rdn. 30). Haftmitteilungen an die Polizeidienststellen sind ebenfalls auf die erforderlichen Informationen aus den Personalbögen (A-Bögen) zu beschränken. Die Verantwortlichkeit für die Übermittlung richtet sich gemäß Abs. 11 danach, ob die Übermittlung von Amts wegen oder auf Ersuchen erfolgt.
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aa) Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 enthält eine Übermittlungsbefugnis an die Gerichtshilfe, Ju- 26 gendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und Führungsaufsichtsstelle, damit diese Stellen notwendige Maßnahmen sachgerecht treffen können. Im Rahmen der Führungsaufsicht erweitert diese Regelung die ohnehin bestehende Auskunftspflicht nach § 463a StPO, die sich auf die Überwachung des Verurteilten oder die Erfüllung von Weisungen bezieht, um Mitteilungen zur Hilfe oder Betreuung des Probanden (§ 68a Abs. 2 StGB). Vgl. hierzu auch § 11 JVollzDSG Baden-Württemberg, Rdn. 57. bb) Abs 4 Satz 1 Nr. 2 erlaubt die Mitteilung von vollzuglichen Erkenntnissen an die 27 Gnadenbehörden und Träger des Begnadigungsrechts, soweit diese für Entscheidungen in Gnadensachen erforderlich sind. Dies gilt z. B. für die regelmäßigen Berichte, die in der Gnadenordnung vorgesehen sind und im Vorfeld der eigentlichen Gnadenentscheidung abgegeben werden. Soweit diesen Stellungnahmen der Anstaltspsychologen zugrunde liegen, ist dies nach § 180 Abs. 10 i. V. m. § 182 Abs. 2 zulässig (wegen Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde: Verpflichtung zur Abgabe einer Stellungnahme gegenüber Gnadenbehörde). Bei der Weiterverarbeitung von psychologischen Daten ist außerdem § 182 Abs. 3 zu beachten. cc) Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 erfasst gesetzlich angeordnete Statistiken der Rechtspflege, die 28 über die nach Abs. 1 erlaubten, vollzuglichen Zwecken dienenden Geschäftsstatistiken hinausgehen. Von Art. 197 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BayStVollzG werden auch Statistiken erfasst, die nicht gesetzlich angeordnet sind. dd) Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 betrifft Entscheidungen über Leistungen, die mit der Aufnahme 29 in einer Justizvollzugsanstalt entfallen oder sich mindern. (1) Dies gilt für die Gewährung von Leistungen der Sozialversicherung (z. B. Arbeitsförderung nach SGB II oder Sozialhilfe nach SGB XII) Hier darf die Vollzugsbehörde Mitteilungen, zu denen ein Gefangener aufgrund gesetzlicher Bestimmungen (z. B. § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB I) verpflichtet ist, an seiner Stelle vornehmen, wenn der Gefangene selbst seiner originären Meldepflicht nicht nachkommt (Arloth 2008 Rdn. 6; C/MD 2008 Rdn. 5; AK-Weichert 2006 Rdn. 34), so auch § 12 Abs. 3 JVollzDSG Baden-Württemberg. Bezieht ein Gefangener mit Freigängerstatus nach § 11 Abs. 1 Nr. 1, der im Rahmen seiner fortbestehenden Arbeitspflicht Gefangenenarbeit verrichtet, zu Unrecht eine finanzielle Unterstützung (BSG, AZ: – BZAL 32/97 R –), darf die Anstalt die zuständige Arbeitsagentur hierüber unterrichten. Sowohl die Sozialhilfeverwaltung als auch die Arbeitsverwaltung haben ein berechtigtes Interesse daran, bei der Beantragung von Leistungen durch einen entlassenen Gefangenen auch die von der Justizvollzugsbehörde an ihn ausgehändigten Geldbeträge zu erfahren. Da der Entlassungsschein dem Gefangenen bei der Entlassung in die Freiheit persönlich ausgehändigt wird (Nr. 45 Abs. 1 VGO), ist die Angabe der ausgehändigten Geldbeträge auf dem Entlassungsschein keine Datenübermittlung. (2) § 12 Abs. 1 Nr. 4 JVollzDSG Baden-Württemberg und Art. 197 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 BayStVollzG enthalten als Anknüpfungspunkt für eine Übermittlungsbefugnis den umfassenderen Begriff „sozialrechtliche Maßnahmen“. Im Zusammenhang mit einer Inhaftierung sind eine Vielzahl sozialrechtlicher Entscheidungen zu treffen. Neben den oben genannten Leistungen werden auch Mitteilungen zur Ergreifung nichtpekuniärer sozialrechtlicher Maßnahmen in Form von Beratungsleistungen, Hilfeleistungen und Maßnahmen zur Wahrnehmung von Aufsichts-, Kontroll- und Schutzbefugnissen vor, während und nach der Inhaftierung erfasst. Teilt beispielsweise die Justizvollzugsbehörde die Inhaftie-
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rung oder Entlassung von Eltern an das Jugendamt als öffentlichem Jugendhilfeträger nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) mit, kann dieses weitere Maßnahmen koordinieren, die durch die Inhaftierung oder Haftentlassung veranlasst sind wie Beratung bei der Kindererziehung, bei Unterhaltsstreitigkeiten sowie bei Sorge- und Umgangsrechten. Auch dürfen Jugendämter ggf. eine Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durchführen (§ 42 SGB VIII), wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist (Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch).
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ee) Nach Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 darf die Anstalt die Hilfsbedürftigkeit von Angehörigen eines Gefangenen i. S. v. § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB den für die Hilfeleistung zuständigen Behörden mitteilen, wenn der betreffende Personenkreis nicht in der Lage ist, die notwendigen Mitteilungen selbst vorzunehmen, um etwa in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen.
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ff) Abs. 4 Satz 1 Nr. 6 ermöglicht der Anstalt die Mitteilung insbesondere der Aufnahme in eine JVA oder der Entlassung an Stellen der Bundeswehr.
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gg) Der Ausländerbehörde dürfen gemäß Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 personenbezogene Daten übermittelt werden, die für ausländerrechtliche Maßnahmen wie Abschiebung oder Ausweisung benötigt werden. Nach § 99 Abs. 1 Nr. 14 AufenthG i. V. m. § 74 AufenthVO haben die Vollzugsbehörden den Ausländerbehörden den Antritt der Auslieferungs-, Untersuchungs- und Strafhaft, die Verlegung in eine andere Vollzugsanstalt und den vorgesehenen und festgesetzten Entlassungstermin mitzuteilen. Weitergehende Angaben (z. B. gerichtliche Aktenzeichen, Angaben zu Tatvorwurf, Tatbeteiligte, Beruf, Bekenntnis) dürfen ohne ein konkretes Ersuchen zur Aufgabenerfüllung der Ausländerbehörde im Einzelfall nicht mitgeteilt werden (AK-Weichert 2006 Rdn. 37).
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hh) Bisher erhielt die Finanzverwaltung mangels Rechtsgrundlage keine Auskünfte über die Entlassungsadresse oder über personenbezogene Besteuerungsunterlagen wie die Vermögensverhältnisse des Gefangenen. Dies war angesichts des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung einer gleichmäßigen Besteuerung sachlich nicht gerechtfertigt. In Abs. 4 Satz 1 wurde deshalb durch das 6. StVollzÄndG (BGBl. I, 2002, 3954) eine Nr. 8 „Durchführung der Besteuerung“ eingefügt. Die Anregung des Bundesrates (BR-Drucks. 331/02), eine Ermächtigungsgrundlage für die Datenübermittlung zur Beitreibung sonstiger Geldforderungen des Staates (z. B. Anfragen der Finanzbehörden, ob bei Gefangenen pfändbare Sachen oder Eigengeld vorhanden sind) zu schaffen, wurde dagegen im Bundestag wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit verworfen (krit. zur Neuregelung AK-Weichert 2006 Rdn. 38). Baden-Württemberg ist in § 12 Abs. 1 Nr. 6 JVollzDSG der Anregung des Bundesrates gefolgt und hat eine entsprechende Rechtsgrundlage für sonstige Forderungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts geschaffen.
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b) Abs. 4 Satz 2 ermöglicht als Auffangtatbestand, dass in anderen Gesetzen vorgesehene Übermittlungen neben die Regelungen im Strafvollzugsgesetz treten. Damit sollen Vorschriften in anderen Gesetzen, die sich ausdrücklich auf Gefangene beziehen, auf Grund des abschließenden Charakters des § 180 nicht ausgeschlossen werden (Arloth 2008 Rdn. 6; AK-Weichert 2006 Rdn. 41, s. auch § 187 Rdn. 28). Zu den gesetzlichen Bestimmungen außerhalb des Strafvollzugsgesetzes, die ausdrücklich die Vollzugsbehörde ermächtigen oder verpflichten, bestimmte, im Vollzug angefallene Daten über Gefangene zur Aufgabenerfüllung dort jeweils benannter Adressaten zu übermitteln, gehören z. B. §§ 20, 30 Abs. 1 Personenstandsgesetz (Anzeigepflicht bei Geburt und Sterbefällen in einer JVA) und 13 Abs. 1 Satz 3 Bundeskriminalamtsgesetz. An Stelle des in § 13 Abs. 1 Satz 3 BKAG genannten Landeskriminalamtes benennt § 10 Abs. 2 JVollzDSG Baden-Württemberg die zuständigen Dienststellen der Polizei als Übermittlungsempfänger, s. hierzu Rdn. 56.
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Das parlamentarische Kontrollrecht ermöglicht als übergeordneter Verfassungsgrundsatz, der den einfachen Gesetzen auch des Bundes vorgeht, eine Unterrichtung des Parlaments, auch wenn die einschlägigen Regelungen des Landesverfassungsrechts sich nicht ausdrücklich auf Daten von Gefangenen beziehen, z. B. Art. 89a LVerf Rheinland-Pfalz (AK-Weichert 2006 Rdn. 41). Auch das Auskunftsrecht des Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) gemäß Art. 8 Abs. 2d des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe fällt hierunter; Akteneinsicht darf der Ausschuss nur nach Maßgabe von Art. 8 Abs. 6 geltend machen. 5. a) Auskunft über die Inhaftierung einer Person und den Zeitpunkt der Entlas- 35 sung darf die Vollzugsbehörde an öffentliche und nicht-öffentliche Stellen auf schriftlichen Antrag erteilen, wenn die Voraussetzungen des Abs. 5 Satz 1 erfüllt sind. Die Rechte des Gefangenen nach Abs. 5 Satz 3 und 4 sind zu beachten. aa) Mitteilungsadressaten sind Stellen und Personen außerhalb des Vollzugs (Arloth 2008 Rdn. 7). Dies sind nicht Mitgefangene (Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 6; a. A. AKWeichert 2006 Rdn. 42). Auch ehrenamtliche Vollzugshelfer sind keine Adressaten i. d. S. (Arloth 2008 Rdn. 7; differenzierend C/MD 2008 Rdn. 6; a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 43). Gleiches gilt für Verteidiger und Rechtsanwälte im Rahmen ihrer Vollmacht und für Private, die für Aufgaben der Vollzugsverwaltung eingesetzt werden, z. B. als externe Ausbilder gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 (AK-Weichert 2006 Rdn. 43). Anders ist es bei Übertragung von Vollzugsaufgaben auf Private z. B. bei privaten Sicherheitsdiensten (Arloth 2008 Rdn. 7; AK-Weichert 2006 Rdn. 44). Auch Vertragskaufleuten dürfen die für ihre Tätigkeit relevanten Daten nur gemäß Abs. 5 oder nach Vorliegen einer wirksamen Einwilligung mitgeteilt werden (AKWeichert 2006 Rdn. 43). Die Tatsache der Inhaftierung kann auch die Tatsache der Gewährung von Vollzugslockerungen umfassen (Arloth 2008 Rdn. 7; AK-Weichert 2006 Rdn. 45). Bei öffentlichen Stellen muss die Mitteilung zur Erfüllung einer Aufgabe dieser öffentlichen Stelle erforderlich sein (Abs. 5 Satz 1 Nr. 1). bb) Bei der Übermittlung an nicht-öffentliche Stellen muss der Empfänger ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der zu übermittelnden Daten glaubhaft darlegen und der Gefangene darf kein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung haben (Abs. 5 Satz 1 Nr. 2). Die Vollzugsbehörde muss in jedem Einzelfall die Interessen des Empfängers mit denen des betroffenen Gefangenen abwägen (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1989, 186, 187). Berechtigt ist jedes ideelle, soziale und wirtschaftliche Interesse, das auf sachlichen Erwägungen beruht und mit der Rechtsordnung in Einklang steht (Auernhammer 1993 § 16 Rdn. 13; Schaffland/Wiltfang Lieferung 2/2008, 5001, § 16 Rdn. 13). Ein rechtliches Interesse, bei dem ein unmittelbarer Zusammenhang mit Rechtsverhältnissen des Interessenten besteht, fällt noch stärker ins Gewicht. Dem Opfer einer Straftat oder den Angehörigen kann daher auf schriftlichen Antrag der Zeitpunkt der Entlassung eines Gefangenen mitgeteilt werden. Bei der Vorführung eines Gefangenen zum externen Facharzt können sich die anderen Patienten dagegen nicht auf ein berechtigtes Auskunftsinteresse berufen (AK-Weichert 2006 Rdn. 48). Bei Gläubigern, deren Seriosität offensichtlich ist und die über eine titulierte Forderung verfügen, wird ein derart höherwertiges Interesse an der Auskunft im Regelfall gegeben sein (OLG Celle NStZ 1985, 44 = ZfStrVo 1985, 60, 61; OLG Hamm NStZ 1988, 381, 382; Höflich/Schriever 2003, 94 f). Gläubigern, auf die Ansprüche des Verletzten kraft Gesetzes oder auf Grund rechtsgeschäftlicher Forderungsübertragung übergegangen sind, darf zudem mitgeteilt werden, ob der Gefangene pfändbare Geldmittel oder wert-
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volle Habe besitzt. (Rdn. 36; a. A. Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 6; AK-Weichert 2006 Rdn. 57). Der Gläubiger ist nicht auf die allgemeinen Möglichkeiten der Zwangsvollstreckung angewiesen. Bezüglich der Entlassungsanschrift ist auf die Meldebehörde zu verweisen (AK-Weichert 2006 Rdn. 50), es sei denn die Voraussetzungen des Abs. 5 Satz 2 liegen vor. Betrifft eine Anfrage einen entlassenen Gefangenen, hat die Vollzugsbehörde wegen fehlender Zuständigkeit die Auskunft abzulehnen (AK-Weichert 2006 Rdn. 49). Wird die Veröffentlichung eines Gerichtsurteils beabsichtigt, müssen vor Weitergabe an die Medien die im Urteil enthaltenen personenbezogenen Daten anonymisiert werden (AK-Weichert 2006 Rdn. 48). Die Vollzugsbehörde muss den nicht-öffentlichen Empfänger auf die Zweckbindung der zu übermittelnden Daten hinweisen (§ 181 Satz 3).
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b) Abs. 5 Satz 2 soll dem Verletzten einer Straftat die Feststellung und Durchsetzung seiner Schadensersatzansprüche wegen dieser Straftat erleichtern. Die Regelung berücksichtigt sowohl das Interesse des Verletzten an einer erleichterten Durchsetzbarkeit seiner Schadensersatzansprüche als auch die datenschutzrechtlichen Belange des Gefangenen. Der Verletzte kann, ohne erst einen (u.U. kostenträchtigen) Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirken zu müssen, Auskunft über das pfändbare Vermögen des Gefangenen erhalten. aa) Unklar ist der Begriff des Verletzten. Zu eng erscheint die Auslegung, dass nur die unmittelbar durch die Straftat verletzte Person den Auskunftsanspruch geltend machen kann. Wegen der gleichgelagerten Zielrichtung sind auch mittelbar Geschädigte, denen ein Anspruch unmittelbar aus der Straftat erwächst, Verletzte im Sinne der Vorschrift (z. B. der durch Brandstiftung mittelbar geschädigte Mieter oder Pächter eines Wohnhauses neben dem Eigentümer, der durch Falschaussage benachteiligte Prozessbeteiligte, Gesellschafter einer durch Untreue geschädigten GmbH). Ob darüber hinaus bei Übergang eines Anspruchs auf einen neuen Gläubiger im Wege des gesetzlichen oder vertraglichen Forderungsübergangs (z. B. auf Versicherungen nach § 67 VVG, Pfändungsgläubiger oder auf eine andere Person, der die Forderung des Verletzten abgetreten wurde) ein Auskunftsrecht des neuen Gläubigers besteht, ist umstritten (dagegen LG Karlsruhe ZfStrVo 2001, 371, 372 = NStZ 2002, 532 M; Arloth 2008 Rdn. 7; C/MD 2008 Rdn. 6; AK-Weichert 2006 Rdn. 57; dafür LG Dresden Beschl. v. 9.3.2001 – StVK 43/2001; LG Karlsruhe NStZ 2003, 596 M; Höflich/ Schriever 2003, 95). Nach der ersten Auffassung sollte das Schutzbedürfnis des Strafgefangenen durch die Neuregelung gerade gestärkt werden. Deshalb verbiete sich eine ausufernde Beteiligungs- und Informationsmöglichkeit eines nur mittelbar berührten Dritten. Mit dem Übergang des Anspruchs gehe die Verletzteneigenschaft nicht über. Demgegenüber besteht nach der überzeugenden Gegenansicht (LG Dresden aaO; LG Karlsruhe NStZ 2003, 596 M; Höflich/ Schriever 2003, 95) der Normzweck auch nach Forderungsübergang. Die Möglichkeit des Forderungsübergangs verstärkt noch die der Auskunftsbefugnis zukommende Schadenswiedergutmachungs- und damit Resozialisierungsfunktion. Gerade der Übergang einer Forderung auf einen anderen Gläubiger kann dazu führen, dass dem Opfer einer Straftat die ihm entstandenen Schäden einfacher und sicherer ersetzt werden. Die Auskunftsbefugnis des Abs. 5 Satz 2 soll die Durchsetzung des Hauptanspruches sichern. Diesem Zweck dient auch der im Zivilrecht anerkannte Grundsatz der analogen Anwendung von § 401 BGB, wonach mit der Abtretung einer Forderung auch Hilfsrechte wie etwa Auskunftsansprüche auf den neuen Gläubiger übergehen. Die Wertung dieser Vorschrift, dass auch die Auskunftserteilung an Zessionare gerade dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Normzweck entspricht, ist daher bei der Auslegung von Abs. 5 Satz 2 zu berücksichtigen. Der Einwand, dass dann eher die Regelungen über das Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff
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StPO heranzuziehen seien, die auch den Zweck verfolgten, dem Verletzten einer Straftat eine erleichterte Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche zu ermöglichen, geht hier fehl. Während das Adhäsionsverfahren die vollständige Durchsetzung einer zivilrechtlichen Forderung im wesensfremden Strafprozess zum Gegenstand hat, geht es bei der Auskunftsbefugnis nach Abs. 5 Satz 2 nur um die Sicherung der Durchsetzbarkeit einer Forderung. Diese unterschiedliche Schutzfunktion spricht dafür, den Begriff des Verletzten hier weiter auszulegen als in § 403 StPO. Verletzter ist nicht der Rechtsanwalt, der eine Honorarforderung gegen den Gefangenen geltend machen will (Arloth 2008 Rdn. 7). Die Anstalt besitzt einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Mitteilungsbefugnis. Sie ist daher nicht verpflichtet, die erbetenen Angaben (mit erheblichem Aufwand) zu ermitteln, soweit sie ihr im Einzelfall nicht bekannt sind. Darüber hinausgehende Auskünfte werden Privaten nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Gefangenen erteilt (wenn z. B. eine Frau, die Kontakt zu einem Gefangenen hat, oder deren Angehörige in der Anstalt fragen, wegen welcher Straftaten dieser Gefangene verurteilt ist) (Böhm 2003 Rdn. 167). c) Der betroffene Gefangene ist grundsätzlich vor der Mitteilung anzuhören (Abs. 5 37 Satz 3). Art. 197 Abs. 5 Satz 3 BayStVollzG verzichtet auf eine Interessenabwägung, da eine solche ohnehin im Rahmen der Ermessensentscheidung stattfindet. Ist die Anhörung ausnahmsweise aus den in Satz 3 aufgeführten Gründen unterblieben, wird der Gefangene nachträglich informiert (Abs. 5 Satz 4). d) Die speziellen Bestimmungen des Abs. 5 finden nach dem Willen des Gesetzgebers 38 keine Anwendung, wenn die Mitteilung der Inhaftierung und des voraussichtlichen Entlassungszeitpunktes im Rahmen einer Datenübermittlung durch die Vollzugsbehörde erfolgt, zu der sie nach denjenigen Vorschriften befugt ist, in denen spezielle Zweckbestimmungen genannt sind (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 21). Dazu gehören insbesondere Übermittlungen nach § 180 Abs. 2 und 4; hier ist die Tatsache der Inhaftierung im Regelfall zwangsläufiger Übermittlungsinhalt. Zur möglichen Identifizierung von Gefangenen anlässlich der Führung von Besuchern durch die Anstalt s. § 182 Rdn. 56. 6. Abs. 6 stellt zusätzliche Anforderungen an die Übermittlung von Akten mit perso- 39 nenbezogenen Daten (s. für die elektronische Akte § 17 Abs. 3 Satz 1 JVollzDSG BadenWürttemberg). Bei der Herausgabe von Originalunterlagen aus einer Anstalt besteht die Gefahr des Verlustes nichtreproduzierbaren Materials. Diese Vorschrift soll auch verhindern, dass es wegen der Vielzahl der in einer Akte enthaltenen personenbezogenen Daten zu teilweise unbeabsichtigten Übermittlungen kommt (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 21 f). a) Akten mit personenbezogenen Daten dürfen daher grundsätzlich nur überlassen 40 werden an andere Vollzugsbehörden, zur Dienst- oder Fachaufsicht oder zu dienstlichen Weisungen befugte Stellen (§ 151), an die für strafvollzugs-, strafvollstreckungs- und strafrechtliche Entscheidungen zuständigen Gerichte und die Strafvollstreckungs- und Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaften und Polizei). Hier sind keine zusätzlichen Anforderungen erforderlich (so auch Arloth 2008 Rdn. 8; C/MD 2008 Rdn. 7; a. A. AK-Weichert 2006 Rdn. 59: nur Übersendung der notwendigen Aktenteile). Davon unberührt bleibt die Offenbarung besonders geschützter Daten (s. Rdn. 22, 44 und § 182 Rdn. 8). b) Anderen öffentlichen Stellen oder von der Anstalt mit Gutachten beauftragten Stel- 41 len dürfen solche Akten nur dann übermittelt werden, wenn die Erteilung einer Auskunft
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einen unvertretbaren Aufwand erfordert oder nach Darlegung der Akteneinsicht begehrenden Stelle für die Erfüllung der Aufgabe nicht ausreicht. Vgl. hierzu § 17 Abs. 1 JVollzDSG Baden-Württemberg, Rdn. 60.
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7. Befinden sich personenbezogene Daten, die nach § 180 Abs. 1, 2 oder 4 übermittelt werden dürfen, in Akten oder Aktenauszügen (Ablichtungen), sind sie häufig untrennbar mit anderen personenbezogenen Daten dieser oder einer anderen Person verbunden. Die an sich gebotene isolierte Übermittlung der erforderlichen Daten ist nicht möglich, weil der Informationszusammenhang zerstört bzw. durch das Herausnehmen aus dem Kontext der Sinngehalt völlig verändert würde. Hier können Belange des Persönlichkeitsschutzes nicht mit denselben Methoden verwirklicht werden, wie dies bei der Verarbeitung in Dateien technisch möglich ist (Dörr/Schmidt 1997 § 15 Rdn. 9). Abs. 7 erlaubt in solchen Fällen die Übermittlung auch solcher Daten, die der Empfänger zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht benötigt, wenn dadurch offensichtlich überwiegende berechtigte Interessen des Betroffenen oder eines Dritten an der Geheimhaltung dieser überschießenden Daten nicht beeinträchtigt werden. Bei der insoweit vorzunehmenden Abwägung sind im einzelnen die Art und der Umfang der nicht erforderlichen personenbezogenen Daten, die empfangende Stelle und der für die Zusammenstellung eines Auszugs aus der entsprechenden Akte erforderliche Verwaltungsaufwand zu berücksichtigen. Aus dem Zusatz „offensichtlich“ ergibt sich ferner, dass das Überwiegen des berechtigten Interesses des Betroffenen so klar sein muss, dass eine andere Entscheidung praktisch nicht möglich ist (Gola/Schomerus 2007 § 15 Rdn. 28). Bei Überwiegen der Geheimhaltungsinteressen darf die Akte dennoch übermittelt werden, wenn zuvor die Angaben, auf die sich das Interesse bezieht, unkenntlich gemacht oder aus der Akte entfernt worden sind (Gola/Schomerus 2007 § 15 Rdn. 28). Nach AK-Weichert 2006 Rdn. 59 müssen demgegenüber die nicht übermittlungsbedürftigen personenbezogenen Daten grundsätzlich geschwärzt werden. 43 Dem Grundsatz der Zweckbindung wird durch ein Verarbeitungs- und Nutzungsverbot Rechnung getragen (2. HS.). Damit ist klargestellt, dass dem Empfänger lediglich das erlaubt ist, was mit der Übermittlung zwangsläufig verbunden ist, nämlich die Entgegennahme und Aufbewahrung auch der überschießenden personenbezogenen Daten. Der Empfänger ist nicht verpflichtet, die überschießenden Daten von den übrigen Daten zu trennen und zu löschen. Dies würde dem oben genannten Sinn der Regelung widersprechen. Der Empfänger hat jedoch nur eine Speicherbefugnis, die nicht auf den Zweck der weiteren Verarbeitung oder Nutzung ausgerichtet ist. Die überschießenden Daten dürfen nur insoweit aufbewahrt werden, als sie zum Verständnis der relevanten Daten erforderlich sind. Unzulässig ist eine Weiterübermittlung der überschießenden Daten ihrerseits wiederum als überschießende Daten (s. Abs. 7, 2. HS.).
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8. Abs. 8 schränkt die Verarbeitungs- und Nutzungsbefugnis personenbezogener Daten, die bei der Überwachung des Besuchs (§ 27 Abs. 1), des Schriftwechsels (§ 29 Abs. 3) oder des Inhaltes von Paketen (§ 33 Abs. 2 und 4) bekannt geworden sind, ein. Dies gilt gemäß § 32 Satz 2 auch bei der Überwachung von Ferngesprächen und Telegrammen. Die Vorschrift soll, wie es in der Begründung des RegE (BT-Drucks. 13/10245, 22) heißt, diesen von Vertraulichkeit geprägten Bereichen und dem daraus resultierenden hohen Schutzbedürfnis Rechnung tragen. Die Ausnahmefälle werden abschließend aufgezählt (s. auch Rdn. 46). Zu unterscheiden sind die vollzuglichen Zwecke Sicherheit, Ordnung und Behandlung, die in § 180 Abs. 2 genannten vollzugsfremden Zwecke und der den vollzuglichen Zwecken gleichgestellte
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Zweck der Verarbeitung und Nutzung für das gerichtliche Verfahren nach den §§ 109 bis 121. a) Eine Weitergabe aus Sicherheitsgründen (§ 81 Rdn. 7) ist dann notwendig, wenn 45 z. B. Einzelheiten über Befreiungs-, Fluchtaktionen, Meutereien, Geiselnahmen oder Rauschgiftgeschäfte bekannt werden. Die Ordnung in der Anstalt (§ 81 Rdn. 7) ist beispielsweise gefährdet, wenn links- oder rechtsextremistische Organisationen Mitgliederwerbung durch Zusendung extremistischen Schriftgutes an Gefangene betreiben (AK-Weichert 2006 Rdn. 63) oder wenn ansteckende Krankheiten von Gefangenen bekannt werden. Sollen Kenntnisse für Zwecke sachgerechter Behandlung (§ 4 Rdn. 6) (günstige Schlüsse oder belastende Maßnahmen: Grunau/Tiesler 1982 § 34 Rdn. 2) verwendet werden, so ist der Gefangene vorher zu hören, weil nur so eine sachgerechte und vom betroffenen Gefangenen möglichst akzeptierte Berücksichtigung denkbar ist (RegE, BT-Drucks. 13/10245, 22; Arloth 2008 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 9). Akten oder Aktenbestandteile in Kopie können in einem gerichtlichen Verfahren auch von einer anderen Anstalt übersandt werden, soweit sie für das gerichtliche Verfahren relevant sind (Arloth 2008 Rdn. 10). b) Die Verarbeitung und Nutzung zu vollzugsfremden Zwecken beschränkt sich aus- 46 drücklich auf die in Abs. 2 Nr. 1 bis 5 abschließend aufgeführten Zwecke. Im Interesse einer wirksamen Behandlung darf nicht mehr als unbedingt notwendig in die Intim- und Privatsphäre eines Gefangenen eingegriffen werden; bei den in Abs. 2 aufgeführten Rechtsgütern muss das Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedoch zurückstehen. c) Das Gesetz erlaubt ausdrücklich die Verarbeitung und Nutzung. Anstelle der Nieder- 47 legung eigener schriftlicher Vermerke oder Aussagen von Zensurbeamten dürfen Fotokopien von Schreiben des Gefangenen als wesentlich zuverlässigeres Beweismittel gefertigt und durch Abheften in den Gefangenenpersonalakten den zuständigen Personen oder Stellen zur Kenntnis gebracht werden (vgl. OLG Frankfurt ZfStrVo SH 1979, 51, 53; OLG Nürnberg, Beschl. vom 3.12.1999 Ws – 1235/99). Dieser Vorgang stellt sich als Speichern personenbezogener Daten dar. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass nicht mehr Text abgelichtet wird als unbedingt notwendig (vgl. OLG Celle ZfStrVo SH 1979, 54, 55 f), weil die Kopien der ganzen Briefe nicht immer aus den genannten gesetzlichen Gründen erforderlich sind und die Gefahr besteht, dass außer dem zensierenden Beamten ein größerer Personenkreis vom Inhalt der Post Kenntnis erhält (z. B. Geschäftsstellen, Mitarbeiter, Wachtmeister, Referendare) und diese Kenntnisse unter Umständen zum Nachteil des Gefangenen verwertet werden können (OLG Frankfurt aaO, 53). Denkbar ist, eine gesonderte Akte zu führen, die (wie die Krankenakte) unter Verschluss gehalten wird, Umkehrschluss aus § 183 Abs. 2 Satz 2 (Arloth 2008 Rdn. 10). In der Praxis bewährt hat sich das Verfahren, die Briefpassagen in einem verschlossenen, versiegelten Umschlag in der Gefangenenpersonalakte zu belassen mit einem Vermerk, der die Öffnungsbefugnis regelt (s. auch § 183 Rdn. 9). Der Betroffene (Gefangener, Briefpartner) erhält Mitteilung über die Fertigung von Ablichtungen der ein- und ausgehenden Post nach Maßgabe von § 185 i. V. m. § 19 BDSG. Der Kreis der zulässigen Empfangsadressaten, an die Kenntnisse übermittelt werden dürfen, ist nicht aufgelistet, ergibt sich jedoch aus der Zweckbestimmung der Übermittlung, der Zuständigkeit der empfangenden Stelle und dem Erforderlichkeitsgesichtspunkt. Als Adressaten kommen z. B. Polizeibehörden, Gerichte und Staatsanwaltschaften in Betracht (C/MD 2008 Rdn. 9). Sind letztere als Vollstreckungsbehörden tätig, wird eine Übermittlung nach Abs. 8 in der Regel nicht erforderlich sein.
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Der Einschränkung des Kreises der Vollzugsbediensteten, die auch bei der Verarbeitung und Nutzung innerhalb der Anstalt von personenbezogenen Daten Kenntnis erlangen, auf das erforderliche Maß, trägt nunmehr ausdrücklich § 183 Abs. 1 Rechnung. Zu den Kenntnissen aus der Überwachung des Schriftverkehrs gehört auch die Kenntnis darüber, wer mit welchem Gefangenen Kontakt aufnimmt und/oder unterhält (OLG Hamm BlStV 6/1980, 14 f). Teilt eine Justizvollzugsanstalt dem Landeskriminalamt den Namen einer Person mit, die mit einem bestimmten Gefangenen im Briefwechsel steht, handelt es sich um eine Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift, die nur unter den Voraussetzungen des Abs. 8 zulässig ist (vgl. OLG Hamm ZfStrVo 1979, 252 f). Die Anordnung, dass alle für einen Gefangenen eingehenden und alle von ihm stammenden ausgehenden Briefe einem Beamten der Kriminalpolizei zur eigenständigen Auswertung unter kriminalpolizeilichen Gesichtspunkten zugeleitet werden, ist hingegen mit den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes nicht vereinbar (OLG Celle aaO, 55; Arloth 2008 Rdn. 10; C/MD 2008 Rdn. 9). Allerdings darf das LKA im Einzelfall als Sachverständiger gehört werden, ob ein Brief zu beanstanden ist (OLG Frankfurt StV 1986, 349, 350). Die Weitergabe von Informationen im Sinne von Abs. 8 stellt eine nach § 109 anfechtbare Vollzugsmaßnahme dar (vgl. OLG Hamm BlStV 6/1980, 14 f; LS ZfStrVo 1979, 252 f; C/MD 2008 Rdn. 9).
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9. Abs. 9 trifft eine abschließende Regelung über die Verarbeitung und Nutzung von nach § 179 Abs. 3 erhobenen Daten über Personen, die nicht Gefangene sind. Grundsätzlich sind diese Datenverarbeitungsvorgänge nur bei strenger Zweckbindung, also zur Erfüllung des Erhebungszwecks nach § 179 Abs. 3 erlaubt. a) Eine Zweckdurchbrechung ist zulässig, wenn die Datenverwendung der Abwehr von in § 180 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 aufgeführten Gefahren (Rdn. 13–15) oder zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung dient. Straftaten von erheblicher Bedeutung sind solche Taten, die mindestens dem mittleren Kriminalitätsbereich zuzuordnen sind, den Rechtsfrieden empfindlich stören oder geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (Meyer-Goßner 2008 § 98a Rdn. 5; Hilger 1992, 462; Rixen 2000, 642; AK-Weichert 2006 Rdn. 67 kritisiert Unbestimmtheit des Gesetzesbegriffes). Verbrechen sind regelmäßig erhebliche Delikte, Vergehen jedenfalls dann, wenn sie serienmäßig oder gewerbs-, gewohnheits- bzw. bandenmäßig begangen werden (C/MD 2008 Rdn. 10; Benfer 1994, 12) oder soweit sie einen Bezug zur Sicherheit oder Ordnung der Anstalt haben, z. B. §§ 120, 121 StGB (Arloth 2008 Rdn. 11). Bagatelldelikte scheiden aus (Meyer-Goßner 2008 § 98a Rdn. 5). Insbesondere bei Erhebungen, die die Sicherheit der Anstalt betreffen und auf die Vermeidung von Ausbrüchen, Entweichungen oder schweren Personen- oder Sachschäden gerichtet sind, kann sich der Verdacht von Straftaten dritter Personen ergeben. Erfährt die Anstalt beispielsweise bei Überprüfung einer Urlaubsadresse, dass derjenige, bei dem der Gefangene seinen Urlaub verbringen will, mit diesem zusammen einen Raubüberfall plant, darf die Anstalt diese Information an die zuständigen Behörden weiterleiten. Für das Rechtsbewusstsein wäre eine andere Lösung nicht erträglich. b) In § 19 Abs. 2 JVollzDSG Baden-Württemberg und Art. 197 Abs. 9 BayStVollzG werden, anders als in § 180 Abs. 9, eine großzügige Durchbrechung des Zweckbindungsgrundsatzes ermöglicht. Vgl. hierzu Rdn. 62, 67.
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10. Die Übermittlung nach § 180 Abs. 1 bis 9 ist immer dann verboten, wenn die in Abs. 10 genannten speziellen Einschränkungen bestehen. Personenbezogene Daten, die unter § 182 Abs. 2 fallen (Privatgeheimnisse, die den Trägern medizinischer Berufe, Berufspsychologen sowie staatlich anerkannten Sozialarbeitern
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und Sozialpädagogen im Rahmen ihrer Berufsausübung bekannt geworden sind), dürfen nur übermittelt werden, wenn eine Offenbarungsbefugnis im Sinne dieser Vorschrift (§ 182 Rdn. 6 f) besteht, s. hierzu auch Rdn. 14 und 25. Daten in Akten dürfen nach Ablauf von zwei Jahren nach der Entlassung nur unter den Voraussetzungen des § 184 Abs. 2 übermittelt werden (§ 184 Rdn. 5 f). Wenn bekannt ist, dass Daten unrichtig sind, besteht gemäß § 184 Abs. 4 ein Übermittlungsverbot (§ 184 Rdn. 15). § 18 Abs. 2 JVollzDSG Baden-Württemberg lässt eine Verwendungsbeschränkung von Akten erst fünf Jahre nach der Entlassung eines Gefangenen wirksam werden. Zu den besonderen gesetzlichen Verwendungsregelungen gehören abschließende gesetzliche Zweckbindungsregelungen wie z. B. § 186 Abs. 4, das Verwertungsverbot nach den §§ 51, 52, 63 Abs. 4 BZRG, die Datenschutzkontrolle gemäß § 14 Abs. 4 BDSG oder entsprechendes Landesrecht, aber auch gesetzliche Berufs- oder besondere Amtsgeheimnisse. Hat die Vollzugsanstalt Kenntnis von Daten, die dem Sozialgeheimnis nach § 35 SGB I unterliegen, ist sie wie die Sozialleistungsträger zur Verschwiegenheit nach § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB X verpflichtet (s. aber § 68 SGB X und § 179 Rdn. 19); die Vollzugsanstalt ist an den Übermittlungszweck gebunden. 11. Abs. 11 regelt, ob die Vollzugsbehörde oder die empfangende öffentliche Stelle die 50 Verantwortung für die Prüfung der Zulässigkeit von Übermittlungen trägt. Die Vorschrift entspricht § 15 Abs. 2 BDSG. Übermittelt die Vollzugsbehörde von sich aus (in Erfüllung der ihr obliegenden Aufga- 51 ben) personenbezogene Daten (Abs. 11 Satz 1), muss sie sich davon überzeugen, dass die Voraussetzungen einer zulässigen Übermittlung vorliegen und dass keine Hinderungsgründe entgegenstehen. Bei falschem Sachverhalt kann sie sich dem Betroffenen gegenüber nicht auf ihr zugegangene ungeprüfte Informationen berufen. Die empfangende öffentliche Stelle trägt die Verantwortung für die auf ihr Ersuchen 52 übermittelten personenbezogenen Daten (Abs. 11 Satz 2). Ersuchen ist jede Äußerung der Empfängerin, mit der sie ein Interesse an der Übermittlung zum Ausdruck bringt. Die Bitte um Unterrichtung bei Eintritt bestimmter Umstände oder in regelmäßigen Abständen genügt. Entscheidend ist, dass die empfangende Stelle die Daten zur Erfüllung ihrer Aufgaben begehrt; weist sie die übermittelnde Vollzugsbehörde nur auf ihre Aufgabe, die Daten zu übermitteln, hin, ist Satz 1 erfüllt (vgl. Simitis-Dammann 2006 § 15 Rdn. 22). Das Übermittlungsersuchen muss präzise Angaben zur Identifizierung des Betroffenen und zur Aufgabe, zu deren Erfüllung Daten erbeten werden, enthalten. Der ersuchten Vollzugsbehörde obliegt dann nur noch zu prüfen, ob das Ersuchen im Rahmen der Aufgaben der Empfängerin liegt, ob diese zur Erfüllung der Aufgabe, für die sie die Daten benötigt, örtlich und sachlich zuständig ist. In der Regel genügt die Bitte um Benennung der Rechtsgrundlage für die Übermittlung, wobei die Pflicht zur Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG keine Rechtsgrundlage für die Übermittlung enthält (Arloth 2008 Rdn. 13). Die Vollzugsbehörde trägt außerdem noch die Verantwortung hinsichtlich etwaiger Übermittlungsverbote nach den Absätzen 8 bis 10 (Abs. 11 Satz 3). Soweit sich die sachliche Zuständigkeit nicht aus der gesetzlich geregelten Aufgabe ergibt, muss die anfragende Stelle ihre Zuständigkeit ggf. begründen, sinnvollerweise gleichzeitig mit der Anfrage. Hat die Vollzugsbehörde im Einzelfall besonderen Anlass, z. B. begründete Zweifel an Rechtmäßigkeit und Erforderlichkeit, muss sie ihre Prüfung auch darauf erstrecken (Abs. 11 Satz 3 letzter HS.). Das kann der Fall sein, wenn zwischen der angegebenen Verwaltungsaufgabe und den erbetenen Daten kein Sachzusammenhang erkennbar ist oder das Ersuchen in sich widersprüchliche oder unverständliche Ausführungen oder andere Auffäl-
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ligkeiten enthält. Ansonsten darf die Anstalt nicht, soweit sie nicht im Sinne von Abs. 11 verantwortlich ist, die Darlegung entsprechender Tatsachen zur Bedingung einer Übermittlung machen; sie würde damit ihre Verpflichtung zur Leistung von Amtshilfe verletzen (vgl. Simitis-Dammann 2006 § 15 Rdn. 20).
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12. Für eine zentrale Vollzugsdatei, die zudem ein automatisiertes Abrufverfahren ermöglicht, ist eine eigene Rechtsgrundlage wünschenswert, aber nicht zwingend (Arloth 2008 § 187 Rdn. 1, a. A. AK-Weichert 2006 § 187 Rdn. 12). Die Landesgesetzgeber haben hierzu in §§ 25, 26 JVollzDSG Baden-Württemberg, 121 HmbStVollzG, 193 NJVollzG und Art. 198 BayStVollzG Regelungen getroffen, vgl. Rdn. 63, 64, 68, 70, 73.
III. Landesgesetze 1. Baden-Württemberg
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a) § 8 JVollzDSG betrifft die Übermittlung, Veränderung und Speicherung von Daten zu Vollzugszwecken. Die Vorschrift ist wie folgt aufgebaut: Abs. 1 entspricht zwar dem Wortlaut des § 180 Abs. 1 Satz 1 StVollzG, enthält aber durch die Ausweitung der Datenerhebungsbefugnisse nach §§ 2 Abs. 2, 5 Abs. 1 Nr. 5, 6 und 7 JVollzDSG eine Ausweitung von Datenverarbeitungsbefugnissen. Abs. 2 Satz 1 lautet: „Die erhobenen personenbezogenen Daten können zu den Gefangenenpersonalakten genommen sowie elektronisch in Dateien gespeichert werden.“ Satz 2 wiederholt den Wortlaut von § 86 Abs. 2 Satz 2 StVollzG. Abs. 3 entspricht weitgehend § 180 Abs. 1 Satz 2. Abs. 4 ist neu: „Sofern es aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt oder zur Überwachung des Aufenthaltsortes von Gefangenen in der Anstalt erforderlich ist, kann die Justizvollzugsbehörde Ausweise mit einem RFID-Transponder ausstatten und anordnen, dass diese offen zu tragen sind.“
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b) § 9 JVollzDSG regelt die Übermittlung, Nutzung, Veränderung und Speicherung von personenbezogenen Daten zu vollzugsbegleitenden Zwecken. Abs. 1 übernimmt den Inhalt von § 180 Abs. 3 StVollzG i. V. m. § 14 Abs. 3 Satz 1 BDSG textlich, hebt allerdings die Beschränkung der Datenverwendung in gerichtlichen Verfahren nach §§ 109–121 StVollzG auf: „Eine Übermittlung, Nutzung, Veränderung und Speicherung personenbezogener Daten zu vollzugsbegleitenden Zwecken ist der Verarbeitung zu Vollzugszwecken gleichgestellt, soweit sie gerichtlichen Verfahren sowie deren außergerichtlichen Bearbeitung, der Wahrnehmung von Aufsichts- und Kontrollbefugnissen, der Rechnungsprüfung oder der Durchführung von Organisationsuntersuchungen für die verantwortliche Stelle dient.“ Weitere Erläuterungen finden sich in Rdn. 23. Abs. 2 bezieht über den Inhalt von § 180 Abs. 3 StVollzG i. V. m. § 14 Abs. 3 Satz 2 BDSG hinaus wissenschaftliche Forschung durch den Kriminologischen Dienst des Landes BadenWürttemberg in die den vollzuglichen Zwecken gleichgestellte Zwecke mit ein. Abs. 3 regelt die Datenübermittlungsbefugnisse an die Anstaltsbeiräte.
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c) § 10 JVollzDSG betrifft die Verarbeitung und Nutzung von Daten zum Schutz der Allgemeinheit. Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4 ist weitgehend inhaltsgleich und wortgleich mit § 180 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 StVollzG, soweit nicht die Übermittlung erkennungsdienstlicher Unterlagen betroffen ist, s. Rdn. 11. Abs. 1 Nr. 5 übernimmt inhaltlich den Regelungsgehalt von § 87 Abs. 2 StVollzG.
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Abs. 1 Nr. 6 entspricht inhaltlich weitgehend § 180 Abs. 4 Nr. 7 StVollzG. Er ermöglicht jedoch darüber hinaus, der Ausländerbehörde auch Lichtbilder sowie ggf. erforderliche biometrische Daten für die Beschaffung von Reisepässen, Ausweispapieren oder sonstigen Reisedokumenten zur Vorbereitung der Abschiebung zu übermitteln. Abs. 2 erweitert die gesetzliche Ermächtigung zur anlassunabhängigen Übermittlung von Gefangenendaten an die Polizei in § 180 Abs. 4 Satz 2 StVollzG i. V. m. § 13 Abs. 1 Satz 3 BKAG: „Die Justizvollzugsbehörde darf den für die Eingabe von Daten in das polizeiliche Informations- und Auskunftssystem zuständigen Polizeidienststellen den Beginn, die Unterbrechung und die Beendigung von Freiheitsentziehungen, die wegen des Verdachts oder des Nachweises einer rechtswidrigen Tat von einem Richter angeordnet worden sind, Verlegungen in eine andere Justizvollzugsbehörde, die Gewährung von Lockerungen des Vollzuges und Urlaub aus der Haft, die Entlassungsadresse sowie die zur Identifizierung der Gefangenen erforderlichen personenbezogenen Daten auch anlassunabhängig übermitteln.“ Der in § 10 JVollzDSG zulässige Übermittlungsumfang entspricht dem Zweck der polizeilichen Haftdatei. Deren Ziel ist die aktuelle Information über Personen, die sich auf Grund richterlich angeordneter Freiheitsentziehung in behördlichem Gewahrsam befinden, um – durch einen Vergleich mit dem Fahndungsbestand – Ausschreibungen einsitzender Personen zu vermeiden, Alibiüberprüfungen auf Grund von Inhaftierungszeiten vornehmen zu können und Informationen über bevorstehende Haftentlassungen und Entlassanschriften zu haben. d) § 11 JVollzDSG ermöglicht die Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen 57 Daten zu vollzugsunterstützenden Zwecken. Die Verarbeitungsbefugnisse nach Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 entsprechen in Teilbereichen den Übermittlungsbefugnissen nach § 180 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5 StVollzG. Ganz neu ist die Generalklausel für die Datenübermittlung zum Zwecke aller sonstigen resozialisierenden Maßnahmen einschließlich der Entlassungsvorbereitung und Nachsorge an zuständige öffentliche und geeignete nichtöffentliche Stellen, wie Bundesagentur für Arbeit, Berufsschulen, Schuldnerberatungen, Einrichtungen der Straffälligenhilfe, kirchliche und karitative Einrichtungen, Ausbildungsbetriebe, Bildungsträger etc., in Abs. 1 Nr. 3. Die Regelung in Abs. 1 Nr. 3 dient nach der Gesetzesbegründung der Erkenntnis, dass zur nachhaltigen Resozialisierung von Gefangenen während der Zeit des Vollzuges und insbesondere in der Übergangsphase in die Freiheit ein Netzwerk von unterschiedlichen Einrichtungen mit dem Gefangenen zu befassen ist (LT-Drucks. 14/1241, 39). Abs. 2 „stellt klar, dass der Zweck der Übermittlungen in die Zukunft reichen kann und somit Datenübermittlungen erlaubt, die erst in der Zeit nach Beendigung der Freiheitsentziehung relevant werden. Durch diese zeitlich gestreckte Übermittlungsbefugnis können nunmehr alle für ein wirksames Übergangsmanagement erforderlichen Daten übermittelt werden. Dieses sog. Übergangsmanagement hat seine Rechtsgrundlage in § 74 Satz 3 StVollzG, wonach es zu den gesetzlichen Aufgaben des Justizvollzuges gehört, den Gefangenen auch für die Zeit nach der Haftentlassung Angebote zu machen“ (so die Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 14/1241, 40). Abs. 2 lautet: „Die Befugnisse nach Absatz 1 finden auch auf die Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen Anwendung, die erst nach der Haftentlassung zum Tragen kommen und der Eingliederung der Gefangenen in ein soziales und berufliches Umfeld dienen.“
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e) § 12 JVollzDSG betrifft die Datenübermittlung zu vollzugsfremden Zwecken.
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Abs. 1 orientiert sich hinsichtlich Nr. 1 an § 180 Abs. 2 Nr. 5 StVollzG, hinsichtlich Nr. 2 bis Nr. 6 an § 180 Abs. 4 Nr. 2 bis Nr. 6 und Abs. 4 Nr. 8 StVollzG. Zu § 12 Abs. 1 Nr. 4 wird auf Rdn. 29 und zu Abs. 1 Nr. 6 wird auf Rdn. 33 Bezug genommen. In Abs. 2 neu eingeführt wurde die Befugnis zur Datenübermittlung, soweit dies das Meldewesen erfordert. Abs. 3 statuiert eine flankierende Ermächtigung der Justizvollzugsbehörde zur Datenübermittlung zum Zweck der Sicherung eigener Mitteilungspflichten der Gefangenen.
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f) § 13 JVollzDSG enthält Regelungen zur Datenübermittlung zum Zwecke des Gläubiger- und Opferschutzes. Abs. 1 Satz 1 ist wortgleich mit § 180 Abs. 5 Satz 1 StVollzG. [Satz 2: ausgelassene Regelung zur Untersuchungshaft] Neu ist Abs. 2, wonach auch in der Vergangenheit liegende Haftdaten mitgeteilt werden können, soweit die Mitteilung zur Erfüllung der in der Zuständigkeit der öffentlichen Stelle liegenden Aufgaben erforderlich ist. Abs. 3 erwähnt aus Klarstellungsgründen neben dem Verletzten den sonst aus einer Straftat Anspruchsberechtigten und ist im Übrigen inhaltsgleich mit § 180 Abs. 5 StVollzG. Abs. 4 ist inhaltsgleich mit § 180 Abs. 5 Satz 3 und 4 StVollzG. Abs. 5 ist neu (s. hierzu Rdn. 17) und schafft eine Befugnis zur Übermittlung derjenigen Daten an die zuständige Behörde, die diese für die Auskunftserteilung nach § 406d Abs. 2 StPO benötigt.
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g) § 17 JVollzDSG enthält Regelungen zur Aktenüberlassung. Abs. 1 Sätze 1 und 2 sind weitgehend inhaltsgleich mit § 180 Abs. 6 StVollzG. Neu ist Abs. 1 Satz 3, der die für Maßnahmen der Gerichtshilfe, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und Führungsaufsicht zuständigen Stellen nochmals gesondert neben den öffentlichen Stellen erwähnt. Abs. 2 ist weitgehend inhaltsgleich mit § 180 Abs. 7 StVollzG, soweit nicht die Übermittlungsbefugnisse bei Untersuchungsgefangenen und jungen Gefangenen durch Bezugnahme in die Vorschrift miteinbezogen worden sind. Neu ist Abs. 3, der eine eigenständige Regelung für elektronische Akten trifft: „Für die elektronische Versendung einer Gesamtheit von Dateien über einen Gefangenen (elektronische Akte) gelten Absatz 1 und 2 entsprechend. Die Art der Versendung wird durch Verwaltungsvorschrift geregelt.“ Für die elektronische Akte ist auch § 183 Abs. 2 zu beachten.
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h) § 18 JVollzDSG enthält besondere Einschränkungen der Verarbeitungsbefugnis und der Übermittlungsverantwortung. Abs. 1 lehnt sich an die in § 180 Abs. 8 StVollzG enthaltene Regelung an, erweitert allerdings die Zwecke bspw. im Hinblick auf das Ausländerrecht. Abs. 2 entspricht im Grundsatz § 180 Abs. 10 StVollzG, wobei die Verwendungsbeschränkung bei den in Akten enthalten Daten nicht schon nach zwei Jahren, wie in § 184 Abs. 2, sondern erst fünf Jahre nach der Entlassung des betroffenen Gefangenen eintritt, s. Rdn. 49. Abs. 3 ist inhaltsgleich mit § 180 Abs. 11 StVollzG.
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i) § 19 JVollzDSG ist in Abs. 1 beinahe inhaltsgleich und nahezu wortgleich mit § 181 StVollzG. Abweichend von § 181 Satz 2 StVollzG muss die Vollzugsbehörde einen nichtöffentlichen Empfänger auch auf die Geltung des Datengeheimnisses gemäß § 20 Abs. 1 JVollzDSG hinweisen.
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§ 19 Abs. 2 JVollzDSG entspricht weitgehend dem Regelungsgehalt des § 180 Abs. 9 StVollzG, erweitert jedoch die erhebungszweckunabhängige Verarbeitungsbefugnis durch die zusätzliche Verweisung auf § 10 Abs. 1 Nr. 4 und § 11 Abs. 1 JVollzDSG über den Anwendungsbereich von § 180 Abs. 9 StVollzG hinaus. Der Gesetzgeber bevorzugte aus systematischen Gründen als Regelungsort die Zweckbindung und ihre Ausnahmen (s. Gesetzesbegründung LT-Drucks. 14/1241, 47). j) § 25 JVollzDSG enthält eine eigene Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung über 63 die Grenzen einer Justizvollzugsbehörde hinweg. Abs. 1 und Abs. 2 treffen eigenständige Regelungen für eine zentrale Vollzugsdatei. Nach Abs. 3 hat die Aufsichtsbehörde im Rahmen ihrer Aufsichtsbefugnisse oder wenn sie im Wege des Selbsteintritts Aufgaben einer Vollzugsbehörde übernimmt, die gleichen Befugnisse wie die nachgeordneten Behörden (s. hierzu auch Rdn. 23). Abs. 4 schafft eine Ermächtigungsnorm für die Datenverarbeitung der beteiligten Justizvollzugsbehörden nebst Aufsichtsbehörden für die Aufgabenerfüllung in länderübergreifenden Vollzugsgemeinschaften (z. B. nach § 150 StVollzG). k) § 26 JVollzDSG begründet eine Rechtsgrundlage für automatisierte Übermittlungs- 64 und Abrufverfahren. Die Vorschrift enthält keine Entsprechung im Strafvollzugsgesetz. Die Absätze 1 bis 3 treffen Regelungen zur Zulässigkeit der Einrichtung eines automatisierten Übermittlungs- und Abrufverfahrens. Die Zulässigkeit einzelner Übermittlungen und Abrufe beurteilt sich nach Abs. 4. l) § 27 JVollzDSG schafft eine vollzugsspezifische spezielle Regelung für eine Daten- 65 verarbeitung im Auftrag. Auch diese Vorschrift hat keine ausdrückliche Entsprechung im StVollzG. m) § 28 JVollzDSG erlaubt die erforderliche Übermittlung von personenbezogenen 66 Daten (einschließlich der erkennungsdienstlichen Unterlagen) bei der Übertragung von Vollzugsaufgaben an öffentliche oder private Stellen innerhalb oder außerhalb des räumlichen und organisatorischen Bereichs der Justizvollzugsbehörden, soweit die hoheitlichen Aufgaben gem. § 155 StVollzG übertragen worden sind. 2. Bayern
67 a) Die Verarbeitung und Nutzung von Daten ist in Art. 197 BayStVollzG geregelt. Die Abs. 1 und 2 sind im Wesentlichen inhaltsgleich mit § 180 Abs. 1 StVollzG. Abs. 3 verweist statt auf § 14 Abs. 3 BDSG auf die im Wesentlichen entsprechende Regelung des Art. 17 Abs. 3 BayDSG. In dieser Vorschrift wird im Unterschied zum BDSG explizit die Prüfung oder Wartung automatisierter Verfahren der Datenverarbeitung genannt. „Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 wurde gegenüber der bisher geltenden Fassung auf sämtliche Maßnahmen der Sozialbehörden erweitert, da im Zusammenhang mit einer Inhaftierung eine Vielzahl sozialrechtlicher Entscheidungen getroffen werden muss und eine Schutzbedürftigkeit der Gefangenendaten diesbezüglich nicht erkennbar ist“ (so die Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 15/8101, 92). Im Übrigen ist Abs. 4 inhaltsgleich mit § 180 Abs. 4 StVollzG. In Abs. 5 ist im Vergleich zu § 180 Abs. 5 StVollzG die zeitliche Beschränkung entfallen. Auskunftsberechtigte sollen nicht zu jährlich wiederkehrenden Anfragen gezwungen werden. Darüber hinaus wird in Abs. 5 Satz 3 auf eine Interessenabwägung verzichtet, da eine solche ohnehin im Rahmen der Ermessensentscheidung stattfindet (Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 15/8101, 92). Gabriele Schmid
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Abs. 6 bis 8 sind im Wesentlichen identisch mit § 180 Abs. 6 bis 8 StVollzG. Abs. 9 weitet die Verarbeitungs- und Nutzungszwecke auf Art. 197 Abs. 2 Nr. 4 aus. Eine Beschränkung auf die in Abs. 2 Nr. 1 bis 3 genannten Zwecke, wie sie § 180 Abs. 9 StVollzG vornimmt, findet nicht statt. Abs. 10 und 11 sind im Wesentlichen inhaltsgleich mit § 180 Abs. 10 und 11 StVollzG.
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b) Als Rechtsgrundlage für eine zentrale Vollzugsdatei mit automatisierter Übermittlungs- und Abrufmöglichkeit dient Art. 198 BayStVollzG. Der Gesetzgeber wollte für diese zentrale Datei und für etwaige künftige Datensammlungen zur Klarstellung eine eigene Regelung schaffen (Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 15/8101, 92). 3. Hamburg
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a) § 120 HmbStVollzG regelt die „Verarbeitung“ von Daten. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 des HmbDSG ist das Nutzen von Daten ein Unterfall der Datenverarbeitung. Abs. 1 bis 3 entsprechen im Wesentlichen § 180 Abs. 1 bis 3 StVollzG. Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 wurde gegenüber der bisher geltenden Fassung in § 180 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 StVollzG auf sämtliche Maßnahmen der Sozialbehörden erweitert. Abs. 4 Satz 2 wurde wie folgt erweitert: „Eine Übermittlung für andere Zwecke ist auch zulässig, soweit [. . .] 2. die Daten auf eine fortbestehende erhebliche Gefährlichkeit der Gefangenen für die Allgemeinheit hinweisen und daher Maßnahmen der Polizei zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich machen können.“ In Abs. 5 Satz 1 ist auf die zeitliche Befristung der Nennung des Entlassungstermins „innerhalb eines Jahres“ verzichtet worden. Außerdem darf den dort genannten Stellen und nicht nur – wie in § 180 Abs. 5 Satz 2 StVollzG formuliert – dem Verletzten die Entlassungsadresse mitgeteilt werden. Satz 2 wurde neu gefasst und Satz 3 neu eingefügt. Sie beziehen sich auf Auskünfte gegenüber Opfern von Straftaten oder ihren Hinterbliebenen oder den infolge eines Forderungsübergangs zuständigen öffentlichen Stellen. Die Vorschriften stellen unzweifelhaft klar, dass die dort genannten Personen zum Empfang der spezifischen Daten berechtigt sind. Satz 4 wurde im Unterschied zu § 180 Abs. 5 Satz 3 StVollzG wie folgt neu gefasst: „Die Gefangenen werden vor der Mitteilung gehört, es sei denn, hierdurch wird der Zweck der Mitteilung vereitelt.“ Nach der Gesetzesbegründung des bisherigen HmbStVollzG habe die in § 180 Abs. 5 Satz 3 StVollzG vorgesehene Abwägung des Interesses des Antragstellers mit dem Interesse des Gefangenen an seiner vorherigen Anhörung keine eigenständige praktische Bedeutung. Eine umfassende Interessenabwägung finde bei der Entscheidung, ob Auskünfte erteilt werden, im Rahmen der Ermessensausübung statt (Bürgerschaft-Drucks. 18/6490, 51). Satz 5 entspricht inhaltlich § 180 Abs. 5 Satz 4 StVollzG. Abs. 6 Satz 1 ist bis auf den Passus „einschließlich der Polizei“ hinter dem Wort „Strafverfolgungsbehörden“ wortgleich mit § 180 Abs. 6 Satz 1 StVollzG. Abs. 6 Satz 2 bis Abs. 11 sind im Übrigen nahezu wort- und inhaltsgleich mit § 180 Abs. 6 bis 11 StVollzG
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b) Auch Hamburg hat eine Rechtsgrundlage für eine zentrale Datei und die Einrichtung eines automatisierten Abrufverfahrens geschaffen: § 121 HmbStVollzG. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Mit Blick auf die Möglichkeit der Vereinbarung eines Datenverbundes mit anderen Ländern und dem Bund (Absatz 5) wird in den
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Verarbeitung und Nutzung
§ 180
Absätzen 1 bis 4 der Wortlaut der einheitlich gefassten Bestimmung aus den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen übernommen“ (Bürgerschafts-Drucks. 19/2533, 62). 4. Niedersachsen a) § 191 NJVollzG ersetzt § 180 Abs. 1 bis 4 StVollzG hinsichtlich Speicherung, Verände- 71 rung und Nutzung der erhobenen Daten. § 191 Abs. 1 Satz 1 entspricht systematisch § 180 Abs. 1 Satz 1 StVollzG. § 191 Abs. 1 Satz 2 entspricht § 10 Abs. 1 Satz 2 NDSG. Abs. 2 regelt in Abgrenzung zu Abs. 1 die Verarbeitung zu anderen vollzuglichen Zwecken (LT-Drucks. 15/4325, 70). Er umfasst auch die in § 180 Abs. 8 StVollzG enthaltenen Regelungen. § 191 Abs. 3 Satz 1 stimmt hinsichtlich der dort genannten Datenverarbeitungstatbestände inhaltlich mit § 180 Ab